Choreografischer Baukasten. Das Buch [1. Aufl.] 9783839431863

The »The Choreographic Toolbox« provides the building blocks for the contemporary practice of choreography. It came into

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German Pages 280 [561] Year 2015

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Table of contents :
Cover Choreografischer Baukasten. Das Buch
Inhalt
Vorwort
Einleitung und Dank
Essay
Gabriele Klein: Zeitgenössische Choreografie
Gebrauchshinweise
Modulhefte
Modulübersicht
Generierung
Formgebung
Spielweisen
Zusammenarbeit
Komposition
Interviews
Martin Nachbar Stückentwicklung
Nik Haffner Bewegungsgenerierung
Jonathan Burrows Komposition
Thomas Kampe Choreografievermittlung
Anna Huber & Hubert Machnik Musik und Choreografie
Jochen Roller Interkulturalität
Verweise
Literatur
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Inhalt
Vorwort
Einleitung und Dank
Essay
Gabriele Klein: Zeitgenössische Choreografie
Gebrauchshinweise
Modulhefte
Modulübersicht
Generierung
Formgebung
Spielweisen
Zusammenarbeit
Komposition
Interviews
Martin Nachbar Stückentwicklung
Nik Haffner Bewegungsgenerierung
Jonathan Burrows Komposition
Thomas Kampe Choreografievermittlung
Anna Huber & Hubert Machnik Musik und Choreografie
Jochen Roller Interkulturalität
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Literatur
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Choreografischer Baukasten. Das Buch [1. Aufl.]
 9783839431863

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Gabriele Klein (Hg.) Choreografischer Baukasten. Das Buch

TanzScripte hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 41

Gabriele Klein (Dr. rer. soc.) ist Professorin für Soziologie mit den Schwerpunkten Bewegung und Tanz an der Universität Hamburg.

Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten. Das Buch

Das Projekt Choreografischer Baukasten wurde gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (bmbf). Die Behörde für Schule und Berufsbildung (bsb) der Freien und Hansestadt Hamburg hat die Durchführung von Pilotstudien unterstützt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ©2015 Gabriele Klein Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung der Herausgeberin urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Gestaltung & Satz: Andreas Brüggmann Lektorat: Gabriele Klein, Gitta Barthel, Esther Wagner Printed in Germany Print-isbn 978-3-8376-3186-9 pdf-isbn 978-3-8394-3186-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort 7 Einleitung und Dank 11 Essay Gabriele Klein: Zeitgenössische Choreografie 17 Gebrauchshinweise 51 Modulhefte Modulübersicht 56 Generierung 59 Formgebung 81 Spielweisen 109 Zusammenarbeit 127 Komposition 155 Interviews Martin Nachbar Stückentwicklung 221 Nik Haffner Bewegungsgenerierung 227 Jonathan Burrows Komposition 233 Thomas Kampe Choreografievermittlung 238 Anna Huber & Hubert Machnik Musik und Choreografie 245 Jochen Roller Interkulturalität 254 Verweise 261 Literatur 267

7

Vorwort Der Choreografische Baukasten, 2011 als innovatives Konzept aus frei kombinierbaren Modulen erschienen, war zwei Jahre später vergriffen. Die Resonanz aus dem In- und Ausland zu dieser Sammlung an Materialien zeitgenössischer Choreografie hat uns ermuntert, den Baukasten in einem kostengünstigen und handlichen Format erneut aufzulegen. Entstanden ist die vorliegende Publikation »Choreografischer Baukasten. Das Buch.« Die im Baukasten in Modulheften, Textband, Praxiskarten und Leporellos angelegte praxisorientierte Umsetzung des in und durch die choreografische Praxis gewonnenen Materials war einerseits als Alternative zu herkömmlichen Publikationsformen wissenschaftlicher Forschung konzipiert. Andererseits sollte der aus handlichen Modulheften bestehende Baukasten in Zeiten digitaler Informations- und Wissenspräsentationen – auch im Tanz – eine haptische und praxisnahe Umsetzung anbieten. Diese Grundidee verfolgt auch dieses Buch. Es versammelt die fünf Modulhefte Generierung, Formgebung, Spielweisen, Zusammenarbeit und Komposition sowie einen Essay und Interviews zu zeitgenössischer Choreografie. Die Pfade und Links, die mit Hilfe der Icons ein rhizomartiges Bewegen durch die Modulhefte ermöglichen, sind auch in dieser Buchfassung angelegt. Die 33 Praxiskarten und der Leporello Bewegungsanalyse, die konkret in einzelnen choreografischen Arbeitsschritten und -situationen anwendbar sind, können kostenlos über die Webseite des Verlages abgerufen und heruntergeladen werden (www.transcript-verlag.de/choreografie). Andreas Brüggmann sei herzlich für die Transformation seiner grafischen Gestaltung des Baukastens in die Buchform, Christian Weller für seine hilfreichen Ratschläge und dem TranscriptVerlag für die Unterstützung bei der Umsetzung gedankt. Hamburg, im Februar 2015 Gabriele Klein

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Gabriele Klein, Gitta Barthel, Esther Wagner: Choreografischer Baukasten (Hg. von Gabriele Klein), transcript: Bielefeld 2011.

10 Einleitung und Dank

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Einleitung Tanz und Choreografie haben seit den 1990er Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen. Nach mehreren historischen »Schüben« in der Geschichte des Modernen Tanzes und der gleichzeitigen Erneuerung des Balletts zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dem Postmodern Dance der 1960er und dem Tanztheater der 1970er sind seit den 1990er Jahren zeitgenössischer Tanz und Choreografie als Kunstform verstärkt Gegenstand theoretischer Reflexion und in künstlerischen Vermittlungsprojekten zugleich Gegenstand kultur- und bildungspolitischer Diskussion geworden. Der zeitgenössische künstlerische Tanz hat sich dabei als ein gesellschaftliches, politisches und ästhetisches Reflexionsmedium par excellence erwiesen: Denn während die neue Aufmerksamkeit auf den Tanz auch darin begründet liegt, dass die flüchtige Kunst des Tanzes zum Symbol einer globalisierten, auf Beschleunigung, Flüchtigkeit, Vergänglichkeit setzenden Mediengesellschaft geworden ist, stellt gerade die zeitgenössische Tanzkunst die Fragen, was Tanz ist, ob und wie er von Bewegung unterscheidbar ist und wie die flüchtige Kunst des Tanzes sich kritisch zu der Flüchtigkeit des Sozialen stellen kann. Anders als noch in den tanzkünstlerischen Auseinandersetzungen des Modernen Tanzes ist diese Frage nach einer Phänomenologie des Tanzes nunmehr in den Kontext einer Reflexion von Choreografie gestellt.1 Choreografie, traditionell verstanden als festgelegte, wiederholbare Bewegungsordnung, die Bewegung regelt, organisiert und vorschreibt, wird nunmehr selbst auf ihre Instabilität, Flüchtigkeit und Performanz befragt. In den Blickpunkt des Interesses rückt die situative Organisation von Bewegungen in Raum und Zeit, die nicht fremdbestimmt, sondern, wie ein Fußgängerverkehr, selbstorganisiert sind. Damit lösen sich nicht nur der enge Zusammenhang von Tanz und Choreografie, die Hierarchie von Choreograf/in und Tänzer/in sowie die Nachrangigkeit der Dramaturgie für die Choreografie auf. Die Vorstellung von Choreografie als permanente Transformation von Bewegungsorganisation provoziert auch eine Reflexion des Werkbegriffs zugunsten performativer Aufführungsformate und Echtzeit-Kompositionen.

12 Einleitung und Dank Mit diesen Transformationen haben sich auch das Verständnis und die Praxis des künstlerischen Prozesses verändert: Offene, kollaborative, an Forschung und Recherche ausgerichtete, interdisziplinäre Praktiken kennzeichnen zunehmend den choreografischen Prozess und haben damit klassische Hierarchien, repetitive und interpretative Arbeitsweisen in Frage gestellt. War dies bereits im Zuge der Demokratisierungs- und Emanzipationswelle seit den 1960er Jahren ein Kennzeichen zeitgenössischer Choreografie, so ist seit den 1990er Jahren der künstlerische Arbeitsprozess selbst zum Untersuchungsgegenstand und zugleich zu einem Experimentierfeld des Sozialen geworden. Choreografie lässt sich als eine spezifische, weil an körperlicher Praxis orientierte gemeinschaftliche Forschung ansehen, die traditionellen Formen der Wissensproduktion eine auf körperlicher Erfahrung beruhende Wissenskultur entgegensetzt. Mit diesen paradigmatischen Transformationen der choreografischen Praxis reflektiert der zeitgenössische Tanz auch den Arbeitsbegriff in der postindustriellen Gesellschaft, die diesen als Wissensgesellschaft verändert und ihn in die Nähe ehemals der Kunst vorbehaltener Praktiken gerückt hat: Charakteristika künstlerischer Arbeit wie Intuition, Kreativität oder Virtuosität werden nicht mehr als gesellschaftliche Nische sondern immer mehr als zentral für Produktionsprozesse des Wissens angesehen. Der Choreografische Baukasten ist eine an der zeitgenössischen choreografischen Praxis orientier te »Werkzeugkiste«. Er reflektiert in seinem Auf bau die Prinzipien der Offenheit, Prozesshaftigkeit, der praktischen Erkenntnis und der forschenden Wissensgenerierung. Seine Architektur bietet ein offenes System praxisorientierter Module zu den Themen Generierung, Formgebung, Spielweisen, Komposition und Zusammenarbeit, die als Instrumentarium zur praktischen und theoretischen Ver mittlung zeitgenössischer Choreografie dienen können. Der Baukasten ist von der Idee getragen, Möglichkeitsräume für eine choreografische Praxis zu schaffen und ein Spektrum von zeitgenössischen Arbeitsweisen anzubieten. Das hier versammelte Material lädt zur Gestaltung choreografischer Prozesse und zu einem spielerischen Umgang mit Bewegung und Tanz in einer choreografischen Praxis ein.

13 Entstehungsprozess Der Choreografische Baukasten beruht auf einem Forschungsprojekt, das von 2008 bis 2011 an der Universität Hamburg, Institut für Bewegungswissenschaft / Performance Studies durchgeführt wurde. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (bmbf) finanziert und von der Behörde für Schule und Berufsbildung der Freien und Hansestadt Hamburg unterstützt. Das empirische Material, das in den Baukasten Eingang fand, entstand in Plattformen und durch Interviews mit international renommierten Choreograf/innen, die ihre künstlerische Praxis reflektierten und Erfahrungen von eigenen choreografischen Projekten einbrachten. Es fanden Plattformen zu den Themen Generierung von Bewegung, Komposition, Vermittlung, choreografische Vermittlungsprozesse, intermediale Arbeitsweisen und Musik statt. In Interviews wurden Choreograf/innen und Theaterschaffende zu ihren Arbeitsweisen befragt. Darüber hinaus wurde für das Thema relevante Literatur verarbeitet. In drei Pilotphasen wurden einzelne Module in der Praxis erprobt. Ausgewählte Künstler/ innen haben schließlich als Mentor/innen die Modulhefte durchgearbeitet. Adressat/innen Der Baukasten richtet sich an Choreograf/innen, Theaterschaffende, Tanzpädagog/innen, Lehrende, die an Universitäten, im Bildungs- und Kulturbereich institutionell oder nicht institutionell gebunden in den Bereichen Choreografie, Tanz, Performance, Bewegung oder ästhetische Bildung tätig sind. Das Material des Baukastens kann entsprechend in der Produktion einer Choreografie, in Lehrveranstaltungen, Workshops, Aus- und Fortbildungen oder in Kursen Anwendung finden. Es kann sowohl in der Arbeit mit Tänzer/innen als auch in Projekten mit Menschen ohne Tanz- und Choreografieerfahrung eingesetzt werden. Erfahrene Choreograf/innen können Anregungen erhalten, ihre künstlerische Praxis zu vertiefen oder zu erweitern. Das Material des Baukastens kann auch bereichernd für Menschen sein, die in der szenischen Kunst (Theater, Performance, Installation) oder auch in therapeutischen Settings mit Gestaltungsprozessen befasst sind. Der Baukasten stellt schließlich Einsteigern, die

14 Einleitung und Dank bislang wenig Erfahrung mit Tanz und Choreografie hatten, aber auf verwandten Feldern tätig sind, ein Handwerkszeug zur Verfügung, um Themen zu entwickeln, Arbeitsweisen zu erproben, den choreografischen Prozess zu gestalten und ihre (Zwischen-)Ergebnisse zu sortieren und zu präzisieren. Dank Die Entwicklung des Choreografischen Baukastens war selbst ein offener und kollaborativer Forschungsprozess, der ohne die großartige Unterstützung vieler Personen und Institutionen nicht durchführbar gewesen wäre. Zunächst sei den Choreograf/innen für ihr großes Interesse und ihre vielfältigen Anregungen herzlich gedankt, die sie in den Interviews und Plattformen eingebracht haben. Mehrstündige Interviews haben wir geführt mit Jonathan Burrows, Jacqueline Fischer, Monika Gintersdorfer, Nik Haffner, Thomas Hauert, Dieter Heitkamp, Anna Huber, Thomas Kampe, Jörg Lensing, Xavier Le Roy, Hubert Machnik, Mieke Matzke, Martin Nachbar, Peter Oswald, Jochen Roller, Steffen Schmidt, Filip van Huffel. Einblicke gewähren die aus Platzgründen ausgewählten kurzen Ausschnitte weniger Interviews, die in diesem Band fokussiert auf die Themen der Modulhefte versammelt sind. An den Plattformen teilgenommen haben: Jenny Beyer, Danielle Brown, Martin Clausen, Jenny Coogan, Kattrin Deufert, Antoine Effroy, Jo Fabian, Christine Gaigg, Angela Guerreiro, Nik Haffner, Victoria Hauke, Helge Musial, Nicole Peisl, Antje Pfundtner, Peter Pleyer, Thomas Plischke, Jochen Roller, Anne Rudelbach, Angela Schubot, Saga Sigurdardottir, André Wenzel, Christoph Winkler. Den Mentor/innen Karl-Heinz Blomann, Kattrin Deufert, Christine Gaigg, Nik Haffner, Thomas Kampe, Bojana Kunst, Martin Nachbar, Thomas Plischke, Steffen Schmidt, Mone Welsche danken wir herzlich für ihre Anregungen bei der Überarbeitung der Module. Unseren Kooperationspartnern K3 – Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg, insb. Kerstin Evert, Matthias Quabbe und Friederike Lampert sowie dem Gymnasium Corveystraße sei gedankt für die organisatorische Unterstützung der Pilotphasen. Besonderer Dank gilt Philipp van der

15 Heijden, Gabriela Wögens und den Studierenden des MasterStudiengangs Performance Studies und der Bewegungswissenschaft, die durch das praktische Erproben einzelner Module zusammen mit den Teilnehmenden des K3-Jugendclubs und den Schüler/innen wichtige Hinweise geliefert haben. Das Forschungsteam dankt auch Heike Lüken für die kooperative Zusammenarbeit, die sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin des ebenfalls an der Universität Hamburg angesiedelten und vom Tanzplan Deutschland finanzierten Projektes »Choreografieren mit Schüler/innen« geleistet hat. Den Studierenden Pauline Schlesier und Alexander Vogt der Bauhaus-Universität Weimar, die unter Leitung von Jens Geelhaar, Professor für Interface Design, erste Versuche unternahmen, den Baukasten digital zu übersetzen, danken wir für ihr Interesse und ihre Einsatzbereitschaft. Ohne eine finanzielle Förderung wäre das Projekt nicht durchführbar gewesen. Deshalb richtet sich der Dank des Forschungsteams besonders an das Bundesministerium für Bildung und Forschung und an Arnim Holewa und Volker Urban für die verwaltungstechnische Unterstützung. Kristin Kröger hat die Finanzverwaltung des Projektes an der Universität Hamburg übernommen und sich immer wieder um kreative Lösungen bemüht. Werner Frömming, Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, hat erste Initiativen einer Kooperation mit dem bmbf und den Hamburger Behörden befördert. Norbert Rosenboom, Leiter des Amts für Bildung der Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg, und Gunter Mieruch, ehemaliger Fachreferent für Darstellendes Spiel am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwick lung Hamburg, sei herzlich für ihre Unterstützung gedankt. Zu dem Forschungsteam gehörten als studentische Hilfskräfte Eva Bernhard, Anne Gelderblom, Nicole Hartmann und Deva Taminga. Sie haben mit ihrer sorgfältigen und motivier ten Arbeit vielfältige Unterstützung geleistet. Andreas Brüggmann zeichnet für das grafische Konzept und das Layout des Baukastens verantwortlich, Christian Weller übernahm die Redaktion und das Lektorat. Beiden sei herzlich für ihr großes Engagement,

16 Einleitung und Dank ihre hohe Professionalität und ihre Sorgfalt gedankt, ohne die der Baukasten in dieser Form nicht hätte umgesetzt werden können. Langebartels Druck in Hamburg hat sich auf das Unternehmen eingelassen, das »Objekt« zu realisieren, und der transcript Verlag, Bielefeld, hat in bewährter Zusammenarbeit den Vertrieb übernommen. Johanna Tönsing und Frau Dr. Karin Werner sei für ihr großes Interesse an dem Projekt herzlich gedankt. Schließlich und in besonderem Maße richtet sich mein Dank an die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Gitta Barthel und Esther Wagner, die während des gesamten Prozesses mit hoher Einsatzbereitschaft, Neugierde, Motivation, Kraft und Ausdauer und einem außergewöhnlichen Teamgeist dabei waren und das Material wesentlich erarbeitet und mitgestaltet haben.

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Gabriele Klein: Zeitgenössische Choreografie

OR g An IZ A Tion Of Move me nt I N Tim And s Pace

Tim Etchells1

E

18 Gabriele Klein: Essay Im Jahr 2007 stellte die Online-Zeitschrift Corpus 52 Künstlern, Wissenschaftlern, Kuratoren und Kritikern die Frage: Was ist Choreografie? Die Ant worten waren erwartungsgemäß vielfältig. Tim Etchells zum Beispiel versteht unter Choreografie die Organisation von Bewegung in Zeit und Raum, Xavier Le Roy sieht sie als »künstlich inszenierte Handlung(en) und / oder Situation(en)« an, Raimund Hoghe deutet Choreografie als »ein Schreiben mit dem Körper«. Jonathan Burrows fokussiert weniger auf die topografische Dimension von Choreografie, sondern eher auf den Handlungsmodus: es gehe darum, »eine Wahl zu treffen, inklusive der Wahl, keine Wahl zu treffen«. Joaõ Fiadeiro thematisiert die subjektive Dimension, wenn er festhält, dass »Choreografie das ist, was immer wir uns entscheiden, Choreografie zu nennen«. 2 Simone Augtherlony will Choreografie als »das Wieder(er)leben, Überarbeiten und Wiederkäuen der Bewegungen« verstanden wissen. Dabei gehe es darum, »alles Wissen, das durch unsere Bewegung entsteht, zu assimilieren und zu synthetisieren, und dadurch eine Art Graphen herzustellen – nicht zu dem Zweck reiner statistischer Auswertung, sondern zum Erlernen und Erproben künftiger Möglichkeiten«. 3 Jan Ritsema wiederum versteht Choreografie als »einen Denk raum über die (zirkuläre und lineare) Organisation von Bewegung oder (greif baren und ungreifbaren) Beziehungen der Bewegung zwischen Objekten und Subjekten in Zeit und Raum auf der Bühne«. 4 Thomas Lehmen interpretiert diesen Denkraum als einen gesellschaftlichen Raum, wenn er behauptet, dass Choreografie als eine Organisation von Raum und Zeit immer auch zeigen muss, »in welcher Konstruk tion von Welt wir diese Organisation vornehmen«.5 Diese ausgewählten Zitate demonstrieren einschlägig das zu Beginn des 21. Jahrhunderts aktuelle Verständnis von Choreografie als Gegenwartskunst. Damit ist zugleich ein historischer Kontext gesetzt und der Terminus als historisch markiert: Zeitgenössische Choreografie meint immer das, was in einem bestimmten Zeitraum von Zeitgenossen produziert und von anderen Zeitgenossen als relevant für die jeweilige Gegenwartskunst des Tanzes wahrgenommen wird. Zeitgenössische Choreografie

19 ist von daher nicht zwangsläufig normativ bestimmt, also keine Festschreibung hinsichtlich eines choreografischen Konzeptes oder eines künstlerischen Stils, einer Tanz- und Bewegungstechnik oder künstlerischen Form. Der Begriff zeitgenössisch wird zwar mit unter verwendet, um die historisch besetzten Begriffe Avantgarde oder Moderne zu umgehen. Er ist aber nicht zwangsläufig an ein bestimmtes Tanzgenre oder mit bestimmten Choreografen oder Tanzkompanien verbunden. Verwendet man den Begriff nicht für einen bestimmten historischen Zeitraum, zum Beispiel die zeitgenössische Choreografie des Barock, sondern bezogen auf die Tanzkunst der Gegenwart, dann versammeln sich unter diesem Begriff derzeit verschiedene Richtungen wie Postmodern Dance, New Dance, Tanztheater, choreografisches Theater, choreografische Oper, Neuer Tanz, Physical Theatre, Konzepttanz. Im 20. Jahrhundert – nach Michel Foucault dem Jahrhundert des Raumes6 – hat sich ein Verständnis von Choreografie durchgesetzt, das diese topografisch als ein Verfahren des Verteilens und Ordnens von Körpern in Raum und Zeit deutet. Der panoptische Blick auf die Bewegung im Raum lässt zwei Dimensionen der Choreografie in den Hintergrund treten, die in der (westlichen) Geschichte der Choreografie von großer Bedeutung waren: zum einen die Praxis, Technik oder Strategie des SichBewegens oder Tanzens, die über viele Jahrhunderte die primäre Perspektive auf eine choreografische Ordnung darstellten. Zum anderen die Tatsache, dass das Schreiben von und über Bewegung und ihre choreografischen Muster über viele Jahrhunderte die Grundlage dafür bildete, dass Choreografie überhaupt als eine räumliche Ordnung wahrgenommen werden konnte. Die topografische Perspektive auf Choreografie ist von daher eng verknüpft mit den technischen Verfahren der Aufzeichnung von Bewegung, haben doch bewegte (und jüngst dreidimensionale) Bilder die räumlichen Muster und die zeitliche Organisation von Körpern in Bewegung erst sichtbar gemacht. Der Begriff Choreografie bezieht sich dementsprechend auf Bewegen und Schreiben. Er setzt sich zusammen aus dem griechischen chorós: Reigenplatz, Tanzplatz, meint also einen gerahmten Aufführungsort, an dem »Tanz« stattfindet, sowie dem

20 Gabriele Klein: Essay griechischen graphós oder graphein: Schreiben, Ritzen. Choreografie ist demnach als Raumschrift zu verstehen und dies in einer doppelten Bedeutung: Als ein »flüchtiges Schreiben« der Körper in den Raum, deren Bewegungen und Figuren Spuren hinterlassen, die nicht greifbar oder sichtbar sind, die aufscheinen und verschwinden. Zum anderen meint Choreografie als Raumschrift die Kunst des Dokumentierens und die Diskurse über die Ordnung der Körper im Raum, die sich entsprechend der jeweils historisch aktuellen Techniken der Aufzeichnung von Bewegung über Schrift, Bild, Fotografie, Film oder digitale Verfahren vollziehen. Durch die enge Beziehung zwischen (Auf-) Schreiben und Bewegen ist Choreografie, verstanden als ProIntermediale zess und als Produkt, immer intermedial.ππ Komposition Die doppelte Bestimmtheit von Choreografie als Bewegen und Schreiben provoziert in den jeweiligen historischen, sozialen Bewegungen und kulturellen Kontexten unterschiedliche Beziehungen von finden und Schreiben, Erfinden, Gestalten und Ordnen der Körperbewegunentwickeln gen. Wie Choreografie bestimmt ist, steht in einem unlösbaren Zusammenhang mit den historischen, konzeptionellen und praktischen Verfahren und den bewegungs- und aufzeichnungstechnischen Möglichkeiten. Choreografie reflektiert aus dieser Perspektive das jeweils historische Verständnis von Bewegungsordnung sowie die jeweiligen politischen Konzepte von gesellschaftlicher Ordnung, deren ästhetische Formen in die Choreografie Eingang finden. Der Begriff Choreografie bezieht sich von daher nicht nur auf eine virtuose und reflektierte Form von Tanzkunst. Choreografie ist als ästhetisches Muster gesellschaftlicher Ordnungen im sozialen Raum allgegenwärtig, zum Beispiel in der Art und Weise der Gestaltung von Gärten und Parkanlagen, der Stadtplanung, der Verkehrsinfrastruktur, in der Architektur, in der Kultivierung von Natur, in der Organisation von Cultural Performances7, zum Beispiel höfischen Festen oder Massenveranstaltungen wie Militärparaden, Parteitagen, Popkonzerten oder Fußballspielen. Als ästhetisches Muster gesellschaftlicher Ordnungen reflektiert Choreografie immer auch Strukturkategorien des Sozialen wie Geschlecht, Klasse, Ethnie sowie die jeweils aktuellen kultur-

21 und theatertheoretischen Konzepte wie Identität, Theater, Aufführung, Performanz. Choreografieren bedeutet demnach, Schreib- und Bewegungsweisen zu entwickeln, durch die Räume gesellschaftlich aufgeladen werden, indem sich die Bewegungsordnungen, die durch die Raumordnungen gerahmt sind, in die Räume einschreiben und sie als sozial distink tive Räume erst hervorbringen, zum Beispiel als Tanz-Räume der höfischen Gesellschaft (der Ballsaal), der bürgerlichen Kultur (der Tanzsaal), der Jugend (Disco, Club), der Populärkultur (Milonga, Salsateca), der avantgardistischen Kunst (Tanzstudio, Tanzlabor). Der Text will zeitgenössische Choreografie in einen historischen Kontext stellen. Er will zum einen zeigen, dass manche Positionen, die zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels als zeitgenössisch charakterisiert werden, historische Vorläufer haben und welche dies sind. Deshalb wird zunächst die historische Genese des Begriffs Choreografie in seiner doppelten Bedeutung von Bewegen und Schreiben reflektiert, um im zweiten Abschnitt zentrale Positionen der Tanzmoderne zu beschreiben. Zum anderen ist der Text von dem Anliegen getragen, aktuelle Diskursfelder zeitgenössischer Choreografie als Gegenwartskunst zu markieren. Dies erfolgt im dritten Abschnitt. Historische Genese des Begriffs Choreografie Der neuzeitliche Diskurs um Choreografie kann auf eine mehr als 400 Jahre alte Geschichte zurückblicken, die vor allem drei historische »Schübe« aufweist: in der Renaissance, dem Barock und der Moderne. Renaissance. Die Entdeckung der Choreografie als Bewegungsschrift Die Überlieferung von Tänzen war bis ins Mittelalter allein eine Angelegenheit der körperlichen Praxis des Tanzes. Sie wurden von Tänzern zu Tänzern weitergegeben. Aufzeichnungen existier ten nicht als Raumschriften, sondern nur in Form ikonografischer Quellen, wie Fresken, Gemälden, Zeichnungen, Buchillustrationen, Reliefs, Statuen, Skulpturen oder Figurinen. Seit dem Aufleben des höfischen Tanzes im 14. Jahrhundert sind die ersten Versuche nachgewiesen, Tanz aufzuzeichnen. Derartige Tanznotationen wurden von den Tanzmeistern im 15. Jahrhundert weiter entwickelt.

22 Gabriele Klein: Essay In Frankreich erschien 1588 die von dem Kanoniker Thoinot Arbeau (1519 – 1595) herausgegebene Schrift Orchésographie et traité en forme de dialogue, par lequel toutes personnes peuvent facilement apprendre et pratiquer l’honnête exercice des danses. 8 Das Buch enthält vielfältige Anweisungen für die zeitgenössischen Renaissancetänze, wie Branle, Galliarde, Pavane, Allemande oder Courante und beschreibt volkstümliche Tänze wie Moriskentanz oder Canario. Die Schrift ist nicht nur die zentrale historische Quelle über den Renaissancetanz, sie ist auch paradigmatisch für die Geschichte der Tanzschreibung in der Neuzeit. Zur Erläuterung der Tänze schreibt Arbeau die fünfzeiligen Notenlinien von oben nach unten anstatt, wie im Notensystem üblich, von links nach rechts. Neben den Noten sind die einzelnen Tanzschritte aufgeführt, die wiederum durch Klammern zu bestimmten Sequenzen wie Simple, Double, Grue zusammengefasst werden. Dabei verwendet Arbeau für die Notierung von Tanzschritten und -figuren Zeichnungen und Wortkürzel, die einer Konventionalisierung der Schritte und Figuren den Weg bereiten. Fast ein Jahrhundert nach Arbeaus wegweisender Tanzschrift, im Jahre 1661, wird die Académie royale de danse gegründet und damit der Tanz in den Status einer akademischen Disziplin erhoben. Zunächst konzentriert auf die Fuß- und Beinbewegungen, werden fortan Tanz und Choreografie reglementiert, kodifiziert und dokumentiert. Die Akademie macht die Kontrolle der Choreografie zu ihrem Arbeitsgebiet: Choreografie wird damit zur Vor-Schrift, zum Notat, das unabhängig von der getanzten Praxis entwickelt wird. Fügen sich Tänzer in diese Vor-Schrift ein, werden sie zu Repräsentanten der absolutistischen Ordnung. Ein Jahr nach der Gründung erscheinen die Lettres Patentes (1662), die erstmalig eine akademische Beweisführung dafür antreten, dass Tanz und Musik unabhängig voneinander zu verstehen seien. Auf klärung. Vom höfischen Tanz zum Handlungsballett Die Trennung des Tanzes von der Musik sowie die Raumordnung der Choreografie in den Tänzen des Barock reflektiert die das 18. Jahrhundert einleitende Tanzschrift, die Notation

23 von Raoul-Auger Feuillet (1653 – 1710) und Pierre Beauchamps (1631 – 1705). 9 Die Chorégraphie ou l’art de décrire la danse, par caractères, figures et signes démonstratifs, 1700 erschienen, fasst das tänzerische Wissen des Barock zusammen. Anders aber als Arbeaus Schrift marginalisiert sie die Beziehung der Bewegung zur Musik und konzentriert sich auf eine formale Dokumentation der Schrittanalyse, indem sie ausschließlich Bodenwege und Figuren dokumentiert. John Weaver (1673–1760), britischer Tänzer, Choreograf und Tanzhistoriker, der 1706 die Feuillet-Beauchamps-Notation unter dem Titel Orchesography ins Englische übersetzt hatte, leitet 1712 mit der Schrift Essay Towards an History of Dancing einen Paradigmenwechsel in der Geschichte des Tanzes ein. Seine Schrift ist paradigmatisch für die Ballettreform im 18. Jahrhundert, die vom ballet de cour, vom höfischen Ballett, dem repräsentativen, dekorativen Barocktanz, zum ballet d’action, zum Handlungsballett, dem »theatralischen« und pantomimischen Tanz führt. Hierbei rückt die Handlung in den Vordergrund, die mit der tänzerischen Aktion, mit Gesten, Posen und Haltungen verbunden ist und durch Aneinanderreihung der Bewegung zu einem linearen Handlungsstrang zusammengeführt wird.10 Vermutlich beeinflusst durch die von Isaac Newton in dem Traktat Philosophiae naturalis principa mathematica von 1687 niedergelegten Raum- und Zeitvorstellungen schreibt Weaver für das Handlungsballett ein neues Bewegungskonzept fest, das er mit Verweis auf die antike Kunst der Pantomime fundiert: Bewegung versteht er in Beziehung zu ihrer zeitlichen Struktur, ihrer Form und räumlichen Ordnung. In den in Raum und Zeit geordneten Bewegungsabläufen – und schließlich auch in der Anatomie und Physiologie des Tänzers11 – kommt demnach die Seele des Tanzes zum Ausdruck. Weaver stellt Tanz als eine selbstständige dramatische Kunstform vor, indem er ihn als »theatralischen« Tanz formuliert, dessen »dramatische Handlung« keine Stimme, keine Sprache benötige. Seiner Ansicht nach zeigt sich der Ausdruck von Gefühl in einer exak ten, präzisen und geordneten Ausführung des Tanzes, die dann gelingt, wenn sie für den Zuschauer im Akt der Aufführung mimetisch nachvollziehbar wird. Für sein 1717 aufgeführtes Ballett »The Loves of Mars and

24 Gabriele Klein: Essay Venus« entwickelt Weaver ein Textbuch, das dem Zuschauer erlauben soll, die Gestensprache und rhythmischen Bewegungen des Tanzes zu dekodieren. Das Textbuch wird hier zu einem Medium, das den Sinn der »stummen Sprache« Tanz dem noch nicht wahrnehmungsgeschulten und im Handlungsballett unerfahrenen Publikum vermitteln soll. John Weaver leitet einen Prozess ein, der im Laufe des 18. Jahrhunderts das Verständnis von Choreografie fundamental verändert. Im Unterschied zum 16. Jahrhundert tritt Choreografie in Distanz zur Musik, sie meint nun die Erfindung und Komposition von Schritten und Figuren, bzw. die Re-Komposition von Schritten, Schrittfragmenten und Gesten.12 Gerade die Geste wird im 18. Jahrhundert zum entscheidenden Stichwort eines philosophischen, politischen und anthropologischen Diskurses, der das Problem des Zusammenhangs von Körper und Seele, Ausdruck und Empfindung, körperlicher Darstellung und innerer Bewegtheit (der Tanzenden und der Zuschauenden) thematisiert. Forciert wird die Ballettreform durch weitere Tanzschriften, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts erscheinen. Ein zentrales Werk ist die Encyclopédie von Denis Diderot (1713–1784) und Jean Baptiste le Rond d’Alembert (1717–1783), in insgesamt 35 Bänden zwischen 1751 und 1780 publiziert. Sie zielt darauf ab, die Wissenschaften, die Künste und das Handwerk entlang der aufklärerischen Prinzipien der Vernunft, Gleichheit und Wahrheit zu erläutern und möglichst exakt und detailgetreu in Karten und Baumstrukturen einzelne Phänomene nachzuzeichnen. Die Encyclopédie gilt als das wichtigste Werk der Aufklärung. Sie enthält über dreißig Beiträge zum Tanz, die zum großen Teil von dem Dramenautor und Librettisten Louis de Cahusac (1706 –1759), Autor der 1754 erschienen Tanzschrift La danse ancienne et moderne ou Traité historique de la danse, verfasst wurden. Diese Tanzschriften verdeutlichen das Anliegen, Tanz und Choreografie anderen Künsten gleichzusetzen und ihn in die (westliche) Geschichte der Künste und ihrer Herleitung aus der griechischen und römischen Antike einzureihen.13 Allerdings führt die Encyclopédie Tanz in der Spalte »Imagination« unter den Künsten nicht als eigenes Stichwort auf. In der Spal-

25 te »Verstand« jedoch finden sich die Stichworte Geste, Pantomime und Deklamation. Denn: »La Danse est l’art des gestes«14 – unter Tanz werden Mimik und gestische Körperbewegungen verstanden, die seelische Empfindungen ausdrücken. Und dazu bedarf es bestimmter physiognomischer Bedingungen der Tanzdarsteller und veränderter Bewegungstechniken. Denn die Grundannahme des Handlungsballetts ist, dass die Geste zwar universell lesbar sei, aber perfekt vorgetragen werden müsse, um ausdrucksstark zu sein. Nur so könne sie ihr Ziel erreichen, das Publikum zu ergreifen. Den entscheidenden Schritt einer Ballettreform vollziehen dann etwa zeitgleich die Tänzer und Choreografen Gasparo Angiolini (1731–1803) und Jean-Georges Noverre (1727 –1810). Noverres Briefe über die Tanzkunst, 1760 erschienen und von Lessing ins Deutsche übersetzt, zählen zu den bedeutendsten theoretischen Schriften über das Ballett. In Auseinandersetzung mit der bereits von Louis de Cahusac angeregten Reform des Bühnentanzes wendet sich Noverre gegen die Künstlichkeit, Oberflächlichkeit und Starrheit des höfischen Balletts. Getragen vom Geist der Aufklärung spricht er sich für einen Naturalismus der Bewegung aus. Sein Plädoyer richtet sich an eine aufklärerische Tradition des Humanismus im Tanz, die er im dramatischen Handlungsballett, in einer expressiven und natürlichen Darstellung, in realitätsnahen Kostümen, die zudem den Tänzern mehr Bewegungsspielraum erlauben, verwirklicht sieht.15 Der pantomimische Ausdruck von Leidenschaft und Affekten, die Darstellung der Sitten und Gebräuche des Volks, eine glaubwürdige, an der Grundstruktur des Dramas orientierte Geschichte sowie die aufklärerischen Prinzipien der Wahrheit und Natürlichkeit sind für ihn die tragenden Komponenten einer Choreografie. Ganz im Sinne der Aufklärung versteht er den Tänzer nicht als eine Figur, sondern als ein »Subjekt«, als einen Künstler, dessen dramatische Darbietung dann gelingen kann, wenn er vielseitig gebildet ist. Vor allem Poesie, Geschichte, Malerei, Geometrie, Musik und Anatomie sieht er als notwendig für die Ausbildung der Tänzer an. Das Verhältnis von Schreiben und Bewegen, das bis dahin den Begriff der Choreografie auszeichnet, verwirft Noverre. Tanz-

26 Gabriele Klein: Essay schrift, so sein Credo, müsse entziffert werden. Dies sei allerdings, anders als bei Texten oder Noten, als spontaner Akt im Tanz nicht möglich. Aber auch ohne Schrift, so seine Vorstellung, würden Choreografien historisch überliefert werden können, indem sie im Repertoire bleiben. Anders als noch zur Zeit der Feuillet-Beauchamps-Notation verliert damit die Notation für die Tradierung der Choreografie an Bedeutung. Dies zeigt sich auch bei dem eher in Vergessenheit geratenen Gasparo Angiolini, der eine Anzahl theoretischer Schriften, aber auch Ballette verfasste, von denen keine Aufzeichnungen der Schrittfolgen überliefert sind. Romantik. Technisierte Natur Schon zu Noverres Lebzeiten kündigte sich mit der romantischen Bewegung – und hier zunächst in Literatur und Malerei – eine neue Sichtweise der Wirklichkeit an. Durch das Scheitern der französischen Revolution und die Etablierung der Napoleonischen Herrschaft macht sich in der sich entfaltenden Industriegesellschaft eine politische Resignation breit, die zugleich ein »romantisches Lebensgefühl« befördert: Empfindung, Poesie, Traum, Phantasie und Seele sind die entscheidenden Stichworte für eine Versöhnung von Mensch und Natur. Der Einfluss der Romantik auf das Ballett zeigt sich spät, in den 1830er Jahren: Mit der bildhaften Umsetzung von träumerischen Sehnsüchten, bedrohlichen Phantasien und männlichen Projektionen von Weiblichkeitsbildern finden die romantischen Ideen in den Balletten eine wichtige Ausdrucksform. Zugleich erhält die Tänzerin als Verkörperung des romantischen Naturbegriffs ihre Vormachtstellung im Ballett zurück, einer Kunst, die mehr als hundert Jahre den Männern vorbehalten war.16 Zeitgleich mit dem Übergang zum romantischen Ballett verändert sich die Balletttechnik. Der Spitzentanz wird erfunden, die Kostüme lassen den Blick frei auf die Beine. Zugleich wird der Bewegungskodex des Balletts festgeschrieben: Carlo Blasis (1797 –1878), italienischer Tänzer, Choreograf und Tanztheoretiker, leistet hierzu einen entscheidenden Beitrag. Seine Schriften, so zum Beispiel Traité élémentaire, théorique, et pratique de l’art de la danse (1820), konzentrieren sich, anders als die Schriften seiner

27 Vorgänger, auf den Bühnentanz. Er gilt nicht nur als Erfinder der attitude, sondern standardisiert das Ballett training, indem er exercices erfindet, die noch heute die Grundlage des Balletttrainings bilden. Mit ihnen zieht nicht nur eine Arbeits- und Körperdisziplin in den Tanz ein, die der des Frühkapitalismus vergleichbar ist. Durch das formalisierte Balletttraining schreibt sich Choreografie in die Körper der Tänzer ein17, wo sie als mikroskopische Ordnung des Sozialen habitualisiert wird. Choreografie – als Bewegen und Schreiben – richtet sich in der Zeit des klassischen Balletts an das Darstellen von Idealen, die in Libretti, aber auch in der Harmonie der Technik und der Raumkomposition des Balletts ihren Niederschlag finden. Das Streben nach Harmonie ruft immer auch den Gegenpol, Disharmonie, auf – und dieses Potenzial einer Destabilisierung kündigt sich Ende des 19. Jahrhunderts an mit der Modernisierung des Balletts durch die Ballets Russes und den sogenannten Modernen Tanz, der sich als Gegensatz zum Ballett positioniert. Nicht zufällig taucht Ende des 19. Jahrhunderts das Wort kinästhetisch auf, das die Wahrnehmung der Bewegung durch die Sinne meint und den Fokus auf die innere Wahr nehmung der sich Bewegenden richtet. Choreografie thematisiert nun Sichtbarkeit des »Inneren« und dessen Wahrnehmung. Individuelle Bewegungen und ihr Neuerfinden sind die Wege, die zu einem Paradigmenwechsel führen und Choreografie neu bestimmen: Das Verhältnis von Ordnung und Bewegung wird neu gestaltet – und es bedarf neuer Techniken, um diese individualisierte Bewegungssprache zu verschriftlichen. Choreografie in der Moderne Der Begriff der Moderne ist in der Tanzgeschichte ebenso schillernd und uneindeutig wie in der Sozialgeschichte und wird ebenfalls sowohl epochal als auch normativ begründet. Wird die soziale Moderne bereits mit der Neuzeit und den damit einhergehenden geistigen, politischen, ökonomischen und sozialen Umwälzungen wie Aufklärung, französischer Revolution und Industrialisierung in Verbindung gebracht, so setzt die ästhetische Moderne auch im Tanz erst um die Wende zum 20. Jahrhundert ein. Meilensteine sind die Ballets Russes mit ihrem Beitrag zur ästhetischen Moder nisie-

28 Gabriele Klein: Essay rung des klassischen Tanzes und der sogenannte Neue Tanz, der in die Tanzgeschichte als Moderner Tanz oder Modern Dance eingegangen ist. Dass vor allem der Ausdruckstanz sich als der moderne Tanz schlechthin einführ te, war auch im Selbstverständnis des Begriffs der Moderne begründet. Bereits die gesellschaftliche Moderne etablierte sich fortschrittsgläubig als prinzipiell offen und kontingent. An die Stelle herrschender Heilsgewissheiten und Sinnbezüge setzte die Moderne die kritisch-krisenhafte Struktur des modernen Subjekts, dessen Konstitution im Zuge der Verflüssigung fester Sinnbezüge im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr in Frage gestellt wurde. Es ist ein spezifisches Thema der Tanzkunst der Moderne, die Fragilität des modernen Subjekts am Körper sichtbar zu machen. Tanz ist das Medium, das auf die, etwa zeitgleich von der Psychoanalyse betonte, enge Verbindung von Subjektkonstitution und Körperlichkeit aufmerksam macht und Fragen der Identitätsstiftung in der modernen Gesellschaft direkt am Körper stellt. Die Thematisierung des Mediums Kör per wiederum provoziert das Reflexivwerden des Tanzes, das, im Sinne einer Reflexion von Körper- und Bewegungstraditionen, zu einem zentralen Kennzeichen des Tanzes im 20. und frühen 21. Jahrhundert wird. Moderner Tanz Die moderne Choreografie reflektiert und ästhetisiert die Problematik der gesellschaftlichen Moderne, indem sie die neuen demokratischen Formen sozialer Ordnung als künstlerische Praktiken erprobt und sie als ästhetische Form in choreografischen Ordnungen in Szene setzt. Und dies erfolgt sowohl epochal wie normativ: So liest sich der Beitrag des Balletts zur Tanzmoderne weniger als ein epochaler Einschnitt, sondern eher als ein permanent fortschreitender Prozess der Modernisierung. Dieser Prozess beginnt mit Vaslav Nijinsky und den Ballets Russes, führt über Vertreter des modernen Balletts wie George Balanchine, John Cranko, Hans van Manen und John Neumeier bis hin zu William Forsythe. Dieser Strang der Tanzmoderne definiert sich nicht in Abgrenzung zur Tradition, sondern als ein Erneuerungsprozess derselben. Modernisierung lässt sich

29 hier als ein Vorgang beschreiben, der von der Symbolisierung des Körpers als stilisierte Natur und der Entsubjektivierung des Tänzers im klassischen Ballett zu einer Reflexion und Neudefinition eines abstrakten Tanzkörpers und des Tänzersubjekts als Kunstfigur führt. In Hinblick auf das Körperkonzept stellt sich Modernisierung dar als ein beständiger Prozess der Entstrukturierung, Destabilisierung und Dynamisierung, der von der Stabilisierung des Torsos und der Zentralisierung der Körperachsen im klassischen Tanz, über deren Destabilisierung und Flexibilisierung im modernen Ballett bis zu einer Dezentralisierung der Zentralachsen und einer Pluralisierung der Körperzentren führt. Im Unterschied zu diesem beständigen, an Tradition gebundenen, wenn auch diese reflektierenden Modernisierungsprozess im Ballett versteht sich der Moderne Tanz als eine neue, mit der Tradition brechende und sie überwindende Kunst. Dieses epochale Verständnis von Moderne, das sich von der Idee einer beständigen Dialektik von Tradition und Moderne abwendet, wie sie für die Modernisierung des Balletts typisch war und ist, konkretisiert sich im Modernen Tanz in einer radikalen Umdeutung des Tanzkörpers: Der Moderne Tanz subjektiviert den Körper. Er ist nicht mehr nur Objekt, sondern wird zum Agens, indem er zum Medium individueller Freiheit, zum Ort der Utopie erklärt und in den Kontext eines Konzeptes der Antimoderne gestellt wird: Der Körper wird als natürlich-authentisch vorgestellt und das Tänzer-Subjekt in Beziehung zu irrationalen Welten des kosmischen Ganzen gesetzt. Nicht mehr der virtuose Körper einer marionettenhaften Tanzfigur, sondern der menschliche Körper, menschliche Empfindungen und als natürlich geltende Bewegungen werden zum primären Medium des Tanzes. Damit verändert sich auch radikal das Verhältnis zur Bewegungsordnung der Choreografie. Als Alternative zu dem stilisierten und in seiner Bewegungssprache fixierten Tanzkörper des Balletts formuliert der Ausdruckstanz das Konzept eines zivilisations- und technikfeindlichen Naturkörpers und bindet dieses an die moderne Idee eines autonomen, individualisierten und authentischen Subjekts, das als ein von sozialer Erfahrung der technisierten Moderne ab-

30 Gabriele Klein: Essay

Bewegungsanalyse

gekoppeltes, mit kosmischen Welten verbundenes Einzelwesen vorgestellt wird. Entsprechend gilt die Sprache des Körpers als offen, variabel, als subjektiv, authentisch und einzigartig, als mehrdeutig und auslegbar. In der Tradition der aufklärerischen Konzepte des 18. Jahrhunderts versteht sich der Moderne Tanz als ein Projekt bürgerlicher Aufklärung und als eine zivilisationskritische, an der Natur orientierte Kunst. Deshalb verändern sich auch die Orte des Choreografierens: der die universalisierte Norm des Balletts symbolisierende Ballettsaal weicht dem Tanzstudio oder Außenraum. Die Kultstätten des Ausdruckstanzes liegen nicht in urbanen Ballungszentren, den Kristallisationsorten der Moderne, sondern, wie der Monte Verità, in zivilisationsfernen Naturräumen. Zur zentralen Darstellungsform wird der Solotanz, und dass es schließlich mit Isadora Duncan, Mary Wigman, Gret Palucca bis hin zu Dore Hoyer vor allem Frauen sind, die das Solo in die Tanzmoderne einführen, ist nicht verwunderlich, ist doch das Solo in besonderer Weise geeignet, das Selbst zu tanzen und sich als geschlechtliches Subjekt, als »Tänzerin der Zukunft« (Duncan) in Szene zu setzen. Diese auf die natürliche und individuelle Bewegung abzielende Tanzphilosophie provoziert ein neues Schreibverfahren, das Rudolf von Laban (1879–1958), Choreograf und Tanztheoretiker des Ausdruckstanzes, entwickelt und das als Labanotation bis heute weltweit für Bewegungsanalysen eingesetzt wird. Die Laban-Bewegungsstudien schaffen eine theoretische Grundlage, um die Qualität und Quantität von Körperbewegungen sowohl in ihrer Gestaltung und Ausführung als auch in der Beobachtung, Beschreibung und Aufzeichnung zu differenzieren.π Die Neu-Symbolisierung des Tanzkörpers als sichtbares Medium der Inszenierung von Subjektivität provoziert einen Wandel in der Tanzsprache. Tanztechniken werden entwickelt, die grundsätzlich andere Zentren, Schwerpunkte und Achsen im Körper definieren als sie das klassische Ballett vorsieht. Isadora Duncan beispielsweise verlagert den Körperschwerpunkt in den Solarplexus und Doris Humphrey entwickelt Techniken wie Fall and Recovery, die ein Spiel mit der Schwerkraft des Körpers erlauben und auf die Beweglichkeit des Torsos zielen.

31 Die Individualisierung des Tanzes und der Choreografie, bei der das subjektive Erleben in einen Bewegungsausdruck transformiert und entsprechend eine symbolisch aufgeladene Bewegungssprache in den Vordergrund rückt auf Kosten der Reproduktion erlernter Tanztechniken und fixierter choreografischer Abläufe, provoziert ein neues Verhältnis zwischen Choreograf/ innen und Tänzer/innen. Die individuelle choreografische Handschrift und Techniken der Bewegungsfindung und -ausführung, die keinen festgeschriebenen Regeln und Mustern mehr folgen wollen, erfordern ein Vertrauensverhältnis und eine Vielzahl von Absprachen zwischen ihnen. Anders als noch im Ballett soll nun die Bewegungssprache und Choreografie ohne ein erlerntes und fixiertes Bewegungsvokabular in den singulären Körper des Tanzenden übertragen werden. Entsprechend müssen dessen Fähigkeiten und Fertigkeiten über ein Training dazu ausgebildet werden, diese individuelle Handschrift sichtbar zu machen. Bewegungslernen wird damit zu einem Vorgang, der zugleich auch immer ein Prozess der Subjektivierung ist. Mit der Individualisierung der choreografischen Handschrift ist ein Bedeutungswandel der Repräsentationsfunktion von Tanz verbunden. Auf Kosten der referenziellen Funktion, die in der Darstellung von Figuren, Handlungen, Beziehungen und Situationen nach einem vorgegebenen Libretto besteht, rückt mit dem Modernen Tanz die per formative Funktion zunehmend in den Vordergrund. Der Tanz wird zum unwiederholbaren Ereignis und die Choreografie wird an die Autorschaft einzelner Choreografen gebunden. Die Einzigartigkeit der Choreografie liegt nunmehr nicht, wie im Ballett, in der besonderen Interpretation einer (musikalischen) Vorlage, sondern in der Erfindung des gesamten komplexen choreografischen Prozesses, von der Bewegungsgenerierung, über Formgebung und Komposition hin zu den spezifischen Formen der Zusammenarbeit sowie in der Singularität der Tanzdarbietung. Diese Unmöglichkeit der Wiederholung scheint vor allem dann gegeben, wenn die Choreografie improvisatorische Passagen hat. Improvisation, die spontane, unvorbereitete, dem Stegreif entnommene praktische Aktion, wird zum zentralen Verfahren, mit dem die Suche nach einer individuellen Bewegungssprache

32 Gabriele Klein: Essay unternommen wird. Es ist deshalb vor allem die Improvisation, ob in der Rhythmusbewegung oder entlang der Bewegungsparameter Labans oder bildhaft oder narrativ motiviert, die einen Paradigmenwechsel in der Geschichte des Tanzes auslöst und Tanz und Choreografie sowohl von der Musik als auch von einem vorgegebenen Libretto trennt. Bewegungsstudien und Geschichten, die im improvisatorischen Prozess entstanden sind, treten nunmehr in den Mittelpunkt. Während, so die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte 18 , im Theater der westlichen Kultur bis weit in die 1950er Jahre hinein die referenzielle Funktion vor der performativen Funktion dominiert, verlagern sich in der Tanzmoderne die Schwerpunkte also bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit der Transformation von der referenziellen zur performativen Funktion entdeckt der Moderne Tanz der 1920er Jahre den Zuschauer. Das Theater, betonte Georg Fuchs bereits 1909, sei ein »dramatisches Erlebnis«, denn es sei »doch tatsächlich der Zuschauer..., in dem sich das dramatische Kunst werk erst erzeugt, indem es erlebt wird – und in jedem einzelnen Zuschauer anders erlebt wird. Das dramatische Kunstwerk entstehe weder auf der Bühne noch gar im Buche, sondern es entsteht in jedem Augenblick neu, in welchem es als räumlich-zeitlich bedingte Bewegungsform erlebt wird.«19 Im Modernen Tanz verlagert sich die Bedeutungszuweisung auf die Zuschauenden, weil der Tanz als eine Zeitkunst, als eine »Augenblicks-Kunst«, als eine rhythmische Kunst verstanden wird, die nur in dem Moment existiert, in dem sie vorgeführt wird. Entsprechend erfolgen Experimente mit dem BühnenAufführung, raum.π So entwirft der Schweizer Adolphe Appia in Anlehnung Ort und Setting an Émile Jaques-Dalcrozes Rhythmische Gymnastik sogenannte »rhythmische Räume«, die er dann 1910 im Bühnenraum von Dalcrozes Bildungsanstalt in Hellerau bei Dresden (heute Festspielhaus Hellerau) realisiert, indem er Bühne und Zuschauerbereich nicht mehr strikt voneinander trennt. Diese Geste an eine demokratische Ordnung wird zum Auslöser für eine das 20. Jahrhundert durchziehende und in dem zeitgenössischen Tanz zu Beginn des 21. Jahrhunderts virulent geführte Debatte über die Rolle des Zuschauers. Bereits die Bühnenarchitektur

33 Appias versetzt ihn in die Lage, nicht mehr passiver Konsument zu sein, sondern sich aktiv am Stück zu beteiligen und damit die Aufführung als reales Ereignis zu erleben. Performanz und Ereignishaftigkeit kennzeichnen vor allem jene Choreografien, für die keine Libretti oder Notationsschriften vorliegen und die deshalb nur schwer rekonstruierbar sind. Zudem widerspricht es dem Körperkonzept des Modernen Tanzes, diesen mit eindeutigen »Botschaften« zu versehen. Dies entlastet die Zuschauenden insofern, als dass sie nicht nach der einen Bedeutung zu suchen haben und ihre Aufgabe nicht primär darin besteht, die in dem Stück formulierten Botschaften zu entschlüsseln. Vielmehr provoziert das Körperkonzept des Modernen Tanzes ein verändertes Wahrnehmungsverhalten: Das Tanzereignis entsteht in der Wahrnehmung der Zuschauenden. Moderner Tanz hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Avantgardekunst etabliert, nicht nur weil er das für die bürgerliche Moderne so zentrale Thema der Konstitution des Subjekts und der Erzeugung von Individualität über den Körper und seine Ausdrucksformen in den Mittelpunkt stellt. Er hat auch den Begriff der Choreografie transformiert, indem Choreografie nun als individueller, einzigartiger, unverwechselbarer Bewegungstext verstanden wird, als eine »Handschrift«, deren erste Leser die Tanzenden selbst sind, die mit ihren Körpern diese Handschrift in den Raum schreiben. Die Problematik der Autorschaft und das Copyright der Bewegungserfindungen werden mit dem Modernen Tanz zu einem zentralen Thema in der Geschichte der Choreografie. Es ist ein Thema, dessen Problematik mit dem sogenannten Konzepttanz seit den 1990er Jahren verstärkt reflektiert wird. Nachmoderner Tanz In den 1960er Jahren beginnt der philosophische Diskurs, das Projekt der Moderne selbst in Frage zu stellen, indem er dessen Geltungsansprüche wie Wahrheit, Allgemeingültigkeit und vernunftgeleitete Aufklärung kritisch durchleuchtet. Zeitgleich ästhetisiert vor allem der zeitgenössische Tanz in den USA die postmoderne Krise des Subjekts. Mit dem Postmodern Dance etabliert sich in New York City in den 1960ern eine neue Tanz-

34 Gabriele Klein: Essay kunst, die einen Bruch mit dem organisch-ganzheitlichen Körperkonzept des Modernen Tanzes vollzieht und die Parameter der Choreografie – Körper, Bewegung, Zeit, Raum – selbst reflektiert. Ausgehend von der Judson-Church-Bewegung, einer infor mellen Gruppe junger Tänzer und Choreografen um Steve Paxton, Trisha Brown, Lucinda Childs, Deborah Hay, Meredith Monk, Yvonne Rainer, die zwischen 1962 und 1964 in der Judson Memorial Church in New York arbeiten, rückt die US-amerikanische Tanzavantgarde die Entideologisierung des Tanzkörpers des Modernen Tanzes in den Blick. Sie formuliert in ihrer ästhetischen Praxis ein abstraktes Körperkonzept, das die Bewegung des Körpers von der Bewegtheit des Subjekts trennt, und stellt damit das einstige Credo des Modernen Tanzes in Frage: den Körper als sichtbaren Ausdruck von Subjektivität aufzufassen. Die Trennung von reiner Bewegung und geistiger, emotionaler oder seelischer Bewegtheit bereitet den Weg für ein neues Verständnis. Wurde der Körper im Modernen Tanz als essenziell und natürlich gedacht und als Repräsentant kultureller Ordnung verstanden, so betritt auch im postmodernen Tanz die Frage der Konstruktion des Körpers die Bühne. Welches Bild vom Tanzkörper vorherrscht und wie sich Subjektivierungsprozesse im Tanz vollziehen, wird nun zu einer zentralen Frage. Zugleich öffnet sich der postmoderne Tanz mit dem Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft für den Umgang mit digitalen Medien. Beide Prozesse verändern die Vorstellung von den Trägern der Bewegung und von Choreografie als Bewegungsorganisation. In den frühen 1960er Jahren finden sowohl in der Computertechnologie als auch in der Tanzkunst folgenreiche Entwicklungen statt, die erneut zu einem Paradigmenwechsel im künstlerischen Tanz führen: Der Tanz wird zur Konzeptkunst. 1962 wird der erste Fachbereich für Informatik gegründet. Bereits zwei Jahre zuvor hatte der Tänzer Robert Dunn in New York mit Unterstützung von John Cage einen Choreografie-Workshop initiiert, in dem gestalterische Prinzipien der Kybernetik wie Zufall und Regelhaftigkeit, Prozessualität und Unbestimmtheit Choreogra- erprobt wurden. Diese aleatorischen Verfahrenπ werden in den fieren als Spiel folgenden Jahren zu einem wichtigen Forschungsgegenstand –› Spielarten der Judson-Church-Bewegung.

35 Die Auseinandersetzungen um die Statik und Dynamik von choreografischen Ordnungen bereiten nicht nur den Weg für den computeranimier ten Tanz, der sich ebenfalls Ende der 1960er Jahre herausbildet, z.B. 1965 die Computeranimation »Computer Generated Ballet« des Wissenschaftlers Michael Noll aus New Jersey oder die sogenannten »Dance making machines« aus den 1970er Jahren von Trisha Brown. Die Kybernetik beeinflusst auch jene Zufallsproduktionen, durch die vor allem Cage und Cunningham berühmt geworden sind: So kann Cunninghams Stück »Variations V« von 1965 als einer der Vorläufer der interaktiven Performances der 1990er Jahre angesehen werden. »Variations V« ist nicht in erster Linie das für Cage und Cunningham typische, unabhängige, lediglich zeitlich und räumlich simultane, aleatorische Generieren von Tanz und Musik. Vielmehr übernehmen die Tanzenden hier die Funktion von Klangproduzenten und inszenieren, in Bindung an die Technologie, die Entsubjektivierung des Tanzenden und ein Konzept des Körpers als Träger von Information: Sämtliche Geräusche und Klänge werden von den Tanzenden während der Performance über Lichtschranken und Bewegungsmeldesysteme ausgelöst und von den Musikern an den elektronischen Geräten ausgesteuert. Dies wiederum aktiviert Kurzwellenradios, die aktuelle Sendungen aus allen Teilen der Welt zum Bestandteil der Performance machen. Die Verwendung neuer aleatorischer und technologischer Verfahren der Bewegungsgenerierung und -komposition geht einher mit der Entwicklung neuer Scores, Spielweisen und der Ent wicklung neuer Techniken der Improvisation. So entwickelt der USamerikanische Choreograf Steve Paxton zu Beginn der 1970er Jahre ein Verfahren der Bewegungsgenierung und -komposition, die Contact Improvisation, bei der zum einen physikalische Gesetze wie Reibung, Schwungkraft, Anziehungskraft und Trägheit genutzt werden, um mit den Beziehungen zwischen Tänzern zu experimentieren. Zum anderen stellt die Contact Improvisation das Verhältnis von Choreografie, als festgefügter, wiederholbarer Ordnung, und Tanz als unwiederholbarer Praxis in Frage, indem interaktive Bewegungsgenerierung und EchtChoreografieren als Spiel zeit-Kompositionπ zusammenfallen.

36 Gabriele Klein: Essay Mit den neuen Verfahren rückt die alltägliche Bewegung in den Mittelpunkt des choreografischen Interesses. Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass sich kulturelle Reproduktion in Tanz und Choreografie über die Verleiblichung von Bewegungen, deren raum-zeitliche Organisation in der Choreografie sowie die Art und Weise, Tanztechnik zu erlernen und Choreografie einzustudieren, vollzieht, erzeugt die Aufnahme von Alltagsbewegungen eine kritische Perspektive auf die kulturelle Vorherrschaft des Tanzes als konventionelle Form sowie auf Choreografie als festgelegte Ordnung. Mit der Entdeckung alltäglicher Bewegungen wird nicht nur die Repräsentationsfunktion von Tanz zur Diskussion gestellt, der Fokus richtet sich auf die Bewegungsaktivitäten, die hinter der virtuosen Technik des Tanzes stehen. Seitdem zieht ein neues, die Körper demokratisierendes Paradigma in die Tanzgeschichte ein: Ob gehen, sitzen, spielen, winken, mit dem Kopf schütteln – jeder Bewegung wohnt demnach eine tänzerische Qualität inne.π Steve Paxton beispielsweise führte bereits 1967 zusammen mit 37 trainierten wie untrainier ten, professionellen wie nicht-professionellen Performern das Stück »Satisfyin’ Lover« auf. 20 Es ist ein Stück, dem nicht viele Proben vorausgehen, das kein WarmSpielmuster Up braucht, keine besonderen Skills, nur einen Scoreπ, eine Handlungsanleitung, die wiederum den Choreografen in den Hintergrund rücken lässt. Das Stück thematisiert »Passanten«, also jene profane Bewegungsart, die bislang aus der Kunst des Tanzes ausgegrenzt war, und stellt diese als eine Mobilisierung verschiedener Aktionen wie gehen, sitzen und stehen vor. Damit wurde erneut – nach dem Modernen Tanz – die tradier te Vorstellung von tänzerischer Bewegung in Frage gestellt und der Unterschied zwischen Bewegung und Tanz, aber auch zwischen Choreografie und alltäglicher Performance zum Thema gemacht. Anders als im Modernen Tanz richtet sich der Blick aber nunmehr nicht auf die Anthropologie der Bewegung und grundlegende Gefühlswelten und Affekte des Menschen, sondern auf den gesellschaftlichen Alltag und seine (Bewegungs-)Ordnung. Paxton verfolgt in diesem Stück die Idee, dass Nicht-Tänzer, frei von dem, was im Tanz als legitim angesehen wird, einen wichtigen Beitrag zu dem Überschreiten von Konventionen in Tanz

37 und Choreografie leisten können. Und so betritt hier mit der Entdeckung der Alltagsbewegungen der untrainierte, »laienhafte« Performer die Bühne. Mit seinem Erscheinen werden die traditionellen Konzepte des Tanzes, wie Virtuosität, Körperdisziplin, Anmut oder Grazie, sowie die enge Verbindung von Tanz und Choreografie in Frage gestellt. Damit verändern sich auch die Identität des Tanzenden, die Autonomie des Choreografen und das Verhältnis von Akteuren und Publikum. Die Choreografie als »Raumschrift«, die sich in dem Verhältnis von Sichtbarkeit und Wahrnehmung erschließt, erfordert demnach weder zwangsläufig einen technisch versierten Tänzer noch den Choreografen als alleinigen Gestalter einer Bewegungsordnung und den Tänzer als Ausführenden. Choreografie wird damit zu einem Akt der Wahrnehmung, in dem Performer wie Publikum gemeinsam Bewegung erleben. Und dieses Erlebnis vollzieht sich nun nicht mehr zwangsläufig in dafür vorgesehenen Aufführungsräumen. Künstlerische Choreografie wird nun – anders als noch bei den zivilisationsfernen Naturräumen des Modernen Tanzes – konfrontiert mit dem Raum des Alltags, den öffentlichen Orten im urbanen Raum der postindustriellen Städte. Tanztheater Auch das Tanztheater der 1970er Jahre vollzieht die Reflexion des Alltags und die Integration von Alltagsbewegungen in die Generierung und Komposition von tänzerischem Bewegungsmaterial. Hinzu kommt mit der Entstehung des Pop in den 1960er Jahren die Aufnahme von populären Stilen in Musik, Mode, Bewegungs- und Tanztechniken, ob HipHop, Tango oder asiatischen Bewegungsformen 21 in die Choreografie. Das Tanztheater reflektiert auf diese Weise die subjektiven Folgewirkungen der sozialen und kulturellen Umbrüche der Moderne, die sich in der Transformation von der modernen zur postmodernen, der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft, des nationalstaatlich organisierten Wohlfahrtstaates zum globalisierten neoliberalen Staat, von der populären Kultur zur Event- und Konsumkultur, in dem Flüssigwerden der für die

38 Gabriele Klein: Essay europäische bürgerliche Kultur noch charakteristischen Grenzen von Hochkultur und populärer Kultur zeigen. Das Tanztheater liefert damit einen besonderen, weil über den Körper formulierten Beitrag zum zeitgenössischen kultur- und sozialkritischen Diskurs, der die Folgewirkungen von Rationalisierung und Technisierung, von Spätkapitalismus und Vereinsamung auf die alltäglichen Lebens- und Erfahrungswelten zum Thema macht. Anders als im US-amerikanischen Postmodern Dance wird hier der Körper zum sichtbaren Ort der Subjektivität. Bewegung und Bewegtheit greifen ineinander, ähnlich wie im Ausdruckstanz und im Handlungsballett, wenn auch in einer anderen Ästhetik und mit anderen Bewegungs- und Tanztechniken. Das vor allem im deutschsprachigen Raum sich etablierende Tanztheater um Choreograf/innen wie Pina Bausch, Reinhild Hoffmann, Susanne Linke, Johann Kresnik oder Gerhard Bohner veralltäglicht den Körper, aber auf eine ganz andere Weise als noch der Ausdruckstanz: Nicht mehr der Körper als Ort des ver meintlich utopischen Potenzials steht nunmehr im Mittelpunkt, sondern der alltägliche Körper wird als Angriffsfläche gesellschaftlicher Macht, von Geschlechterhierarchien, politischer Verfolgung oder gesellschaftlicher Ausgrenzung vorgeführt. Im Unterschied zum Modernen Tanz geht es im Tanztheater nicht um eine Kommunikation zwischen innerer und äußerer Natur, zwischen Chaotisch-Unbewusstem und Kosmisch-Ganzem, sondern um das Verhältnis von Individuen und gesellschaftlichen Kräften. Der Körper ist dementsprechend nicht mehr Medium der Darstellung innerer Erfahrung und Ort der Utopie, sondern wird selbst als Ziel der Macht vorgeführt und als Angriffsfläche sozialer Gewalt in Szene gesetzt. Das Körperkonzept, das der spezifischen Ästhetik des Tanztheaters zu Grunde liegt, stellt den Körper durchweg als gesellschaftlich geformt vor. Entsprechend erscheint das Tänzersubjekt nicht mehr als autonomes Individuum, sondern wird gerade aufgrund seiner Sozialität als fragmentiert und gebrochen vorgeführt. Mit dieser Zurschaustellung von alltäglichen Körpersensationen, Sehnsüchten, Ängsten, Begierden und Träumen thematisiert das Tanztheater auf eine spezifische Weise die körperliche

39 und emotionale Verfasstheit des modernen Subjektes. Die Ästhetisierung von Alltagsbewegungen wird zu einem wesentlichen Mittel, um dessen innere Bewegtheit und körperliche Verfasstheit zu reflek tieren. Gerade indem die Subjektivität der Tanzenden in den Mittelpunkt rückt, verliert sich die Inszenierung der subjektiven Folgewirkungen sozialer Machtverhältnisse nicht in einem eindimensionalen Täter-OpferDiskurs, sondern ihr ist immer auch ein Moment von Subversion und Widerständigkeit beigegeben. Indem das Tanztheater die Krise des Subjekts in der Spätmoderne, die sich in Individualisierung und sozialer Isolierung zeigt, am Körper in Szene setzt und mit dem alltäglichen Körper, seinen Gesten, Mimiken und Bewegungen zu spielen beginnt, wird es wegweisend für einen Richtungswechsel im Theater. Es war neben der Performance-Kunst vor allem das Tanztheater, das dem Schauspiel neue Impulse geben sollte. Entscheidend dafür war nicht nur die ausgefeilte und virtuose Arbeit mit Alltagsbewegungen, die mit Hilfe moderner Tanztechniken übersetzt wurden, sondern auch die Übertragung theatraler Konzepte und dramaturgischer Verfahren auf die Choreografie: Das epische Theater Bertolt Brechts mit den Methoden der Verfremdung und der Montage sowie Aufführungsformate wie die Collageπ standen Pate für ein neues Komposition theatral ausgerichtetes Choreografiekonzept, das an das Tanz- –› Verfahren theaterkonzept des Tänzers, Choreografen und Laban-Schülers Kurt Jooss anknüpfen konnte. Anders als das Handlungsballett ist dies erzählend und nicht handelnd ausgerichtet, es setzt den Menschen und seine Empfindungen weder als bekannt voraus, noch beschreibt es sie als unveränderlich, sondern als veränderbar und veränderungswürdig und macht gerade das Prozesshafte des Subjekts zum Gegenstand der Choreografie. Verbunden mit den neuen Aufführungsformaten ist ein verändertes Raumkonzept, das den perspektivischen Raum zugunsten eines multizentrischen Raumkonzepts, bei dem Mehreres gleichzeitig passieren kann, ersetzt sowie eine veränderte Dramaturgie, die sich nicht mehr einem linearen Komposition Handlungsverlauf verpflichtet fühlt und andere Kompositions–› Tools technikenπ verwendet.

40 Gabriele Klein: Essay Konzepttanz Der Sozialhistoriker Michel Foucault hat in dem von ihm bereits 1966 verkündeten Ende des Subjekts die Chance gesehen, die »Leere des verschwundenen Menschen denken«22 zu können. Dieser Forderung kommt der künstlerische Tanz seit den 1990er Jahren nach, indem er das Verschwinden des tanzenden Subjekts inszeniert. Damit hat der Konzepttanz den bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzenden Prozess des Reflexivwerdens radikalisiert. Tanz als ein physisches, sichtbares performatives Ereignis des Körpers verschwindet zunehmend von der Bühne. Tanz, bislang verstanden als ein Medium der Präsenz, wird unsichtbar. Lange Zeit als flüchtiges Medium, als Augenblickskunst mythologisiert, reflektiert der Tanz nunmehr das Spiel von An- und Abwesenheit, Darstellung und Wahrnehmung, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Es ist vor allem der sogenannte Konzepttanz, zu dessen Vertreter/innen Choreograf/innen wie Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Eszter Salamon, Boris Charmatz, Thomas Lehmen, Jochen Roller gezählt werden (aber sich zum Teil nicht selbst zählen), der die Selbstreflexivität des Mediums zum ästhetischen Konzept erklärt. Bereits in den 1960er Jahren hatte sich die Konzeptkunst als eine Stilrichtung der Bildenden Kunst etabliert, die die Sichtbarkeit, das Grundprinzip der Bildenden Kunst, in Frage stellte. Zugleich hatte die Judson-Church-Bewegung konzeptionelle Ansätze gesucht und entwickelt. Wie Konzeptkunst die Idee vor die Präsentation und das Konzept vor das Werk stellte und der postmoderne Tanz das Verhältnis von Tanz und Choreografie, Akteuren und Zuschauern in Frage stellt, rückt im Konzepttanz an die Stelle des performativen Akts des Tanzens, an die Stelle der Ausführung der Bewegung, die Reflexion der Choreografie. Die performative Übersetzung erfolgt nicht mehr allein durch die tanzenden Körper sondern als intermediales Spiel. Zwangsläufig wird so die bislang unauflösliche Verbindung der Choreografie mit tänzerischer Bewegung und dem tanzenden Subjekt aufgehoben. In den Vordergrund rücken Themen wie das Spiel mit den Konstruktionsmechanismen von Subjektivität und Identität sowie der Präsenz und Repräsentanz.

41 Konzepttanz radikalisiert den Prozess des Reflexivwerdens des Tanzes auf der Ebene der Choreografie. Er intendiert nicht, Tanz als Konzept auf Kosten eines performativen Körperereignisses zu verstehen. Konzepttanz thematisiert eine Trennung von Konzept und Werk, Choreografie und Tanz, Repräsentation und Aufführung, Tänzer und Tanz. Vergleichbar mit dem theatergeschichtlichen Umbruch des frühen 20. Jahrhunderts, als Theateraufführungen von der Interpretation des dramatischen Textes unabhängig wurden und sich das neue Paradigma des Regietheaters bildete, entsteht Choreografie immer unabhängiger vom Tanzen. Dies provoziert eine Transformation der Wahrnehmung: Die Wahrnehmung des Tanzes als ein Körperereignis tritt in den Hintergrund zugunsten der Reflexion der konzeptionellen Thematik des Stückes, die wiederum auf die eigene Erfahrung und das Wissen der Zuschauer verweist. Der Zuschauer wird nun nicht mehr eingeladen, sich in das Stück einzufühlen, sondern aufgefordert, aktiv zu sein, an dem Prozess zu partizipieren. Um die Aufführung zu lesen, muss er fähig sein, die Rahmungen des Stücks zu erkennen und die eigenen Sehgewohnheiten zu reflektieren. Die Unabgeschlossenheit der Stücke provoziert eine Auflösung der traditionellen Grenzen zwischen Kunstproduktion und Kunstrezeption. Mit ihr wird auch die Rolle der Zuschauenden erneut in Frage gestellt, wenn Choreografien einen offenen Raum schaffen, in dem sie die Bewegungen der Performer, das Bühnensetting, Licht, Videobilder, Musik und Sounds und das Publikum zusammenführen. Die 1990er bringen in die Tanzgeschichte die Erkenntnis ein, dass die Zuschauenden Ko-Produzenten der Choreografie sind, schon allein indem sie, wie Jérôme Bel sagt, »Ruhe« erzeugen, wenn ihre Körper zusammen eine ruhige Spannung produzieren, oder wenn sie auf die Performance mit Sound (re)agieren. 23 Zeitgenössische Choreografie zu Beginn des 21. Jahrhunderts Die Wende der Choreografie zu jenem Abschnitt der Tanzgeschichte, der bei Abfassung dieses Essays als zeitgenössisch gilt, wird historisch relevant in dem Moment, in dem das postmoderne Spiel mit Tanzfiguren und Bewegungsmaterial, das

42 Gabriele Klein: Essay noch die 1980er prägte, nicht mehr genügt, um eine konzeptionelle Basis für choreografische Produktion und Praxis bereitzustellen. Stattdessen hat der Konzepttanz einen Prozess initiiert, der choreografische Praxis als Forschungspraxis, diese als eine kollaborative Form und diese wiederum mitunter als eine kritische gesellschaftliche Praxis verstehen will. Choreografie als Forschung Mit dem Konzepttanz rücken seit den 1990er Jahren Tanz und Choreografie in die Nähe von Theorie und Forschung, denen bis dahin von Seiten des Tanzes eher Widerstand entgegengebracht wurde. Theorie wird ein wichtiger Bestandteil choreografischer Praxis und im zeitgenössischen Tanz ein wichtiges Tool, um eine zeitgenössische choreografische Ästhetik von Konzepten des Modernen Tanzes zu unterscheiden. Seitdem vollzieht sich eine Diskursivierung von Tanz und Choreografie, die in der ästhetischen Praxis zunehmend auf aktuelle Diskurse der (politischen) Philosophie, der Theater- oder Sprachtheorie, der Sozial- und Kulturtheorie Bezug nehmen. Damit einher geht ein Wechsel in den Arbeitsweisen und Strategien choreografischer Produktion. Der choreografische Prozess wird zunehmend als Recherche- und Forschungsprozess verstanden und dies Dramaturgie nicht nur in Bezug auf die Themenfindung π, sondern auch im Hinblick auf die Entwicklung von Trainingsverfahren, die Generierung und Komposition von Bewegungsmaterial und die Formen der Zusammenarbeit π, die selbst als experimenteller Prozess verstanden werden. Die Forschungsperspektive auf Choreografie provoziert eine Befragung der traditionellen Rollenverteilung von Tänzer/in, Dramaturg/in oder Choreograf/in sowie deren gesellschaftlichen Status als Künstler/innen. Choreografie als kollaboratives Zusammenspiel Neue Medientechnologien haben Eingang in die zeitgenössische Choreografie gefunden und das Konzept sowie die Wahrnehmung von Choreografie verändert. In der zeitgenössischen Choreografie ist das Medium der Choreografie nicht mehr allein der tanzende Körper. Choreografie erscheint zwar nach wie vor

43 als Ordnung von Bewegung in Zeit und Raum. Bewegung erfolgt jedoch nicht zwangsläufig nur über die Körperbewegungen von Menschen, sondern auch über das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Aktanten. Die Auseinandersetzung mit medialen Techniken und digitalen Verfahren stellt die Frage, wie Choreografie anders als über den Tanzkörper umgesetzt werden kann. Choreografie wird nunmehr nicht allein als eine Bewegung der menschlichen Körper in Raum und Zeit verstanden, sondern als eine Ansammlung und Organisation von heterogenen Materialien konzipiert, als eine inter mediale Anordnung von Körpern, Sprache, Texten, Bildern, Licht, Sound und Objekten. Sie wird zu einem Dispositiv der Bühne, zu einem Score des Performens, das aus verschiedenen Bewegungsaktivitäten besteht: aus Körperbewegungen, sich bewegenden Bildern, aus variierenden Klängen, beweglichen Objekten, wechselnden Lichtstrahlen. Dieses intermediale Zusammenspielπ provoziert, Komposition neue Formen der Wahrnehmung jenseits der klassischen Di- –› Intermediale chotomie von Subjekt und Objekt zu erproben. Und es erlaubt Komposition veränderte Verfahren der Reflexion von Choreografie, die sich Komposition im Spannungsfeld von Repertoire und Reenactmentπ, von digitalem Archiv und körperlicher Erinnerung bewegen, beispiels- –› Verfahren weise digitalisierte, interaktive choreografische Partituren wie »Synchronous Objects« von William Forsythe oder sein auf mehrere Jahre angelegtes choreografisches Forschungsprojekt »Motion Bank« (2010 – 2013). Insofern thematisiert Choreografie auch einen Wechsel von subjektiver, intentionaler Choreografie zu einer transaktionalen Theorie des kollaborativen Zusammenspiels. Choreografie und Dramaturgie Mit der Befragung der epistemologischen Grundlagen des Tanzes und der Choreografie und der Aufmerksamkeit auf kollaborative Prozesse hat Dramaturgie in der zeitgenössischen Choreografie an Bedeutung gewonnen. Spielte Dramaturgie im Theater seit der Hamburgischen Dramaturgie Lessings (1767) 24 eine zentrale Rolle, die sich von der klassischen oder textbezogenen Dramaturgie über die Produktionsdramaturgie Brechts mit neuen Theaterformen seit den 1960er Jahren zur visuellen Drama-

44 Gabriele Klein: Essay turgie wandelt, bei welcher der vorgeschriebene Text nicht mehr Referenzpunkt ist, wird im Tanz Dramaturgie erst in diesem historischen Moment bedeutsam, in einer Zeit also, in der bisherige Gewissheiten über Tanz und Choreografie erneut in Frage stehen. Bereits Vertreter des Tanztheaters wie Kresnik oder Bausch arbeiten in den 1980ern mit Dramaturgen zusammen. Seit den 1990er Jahren aber ändert sich mit der FoDramaturgie kussierung auf den Prozess die Rolle der Dramaturgieπ und Mitwirkende der Dramaturg/innen.π In der zeitgenössischen Tanzdramaturgie geht es weniger darum, die Sinnhaftigkeit von Szenen und Handlungen zu hinterfragen und die Strukturen von Bedeutungen freizulegen, sondern darum, den Arbeitsprozess selbst, die Methoden des Produzierens und die Produktionsbedingungen zu reflektieren. Damit wird die experimentelle Praxis des choreografischen Prozesses selbst als ein politischer Vorgang beschrieben. Mit der Fokussierung auf den Arbeitsprozess ist die Abkehr von einem dramaturgischen Konzept verbunden, das Kausalität, Linearität und psychologische Charaktere fokussiert und von der einen Bedeutung ausgeht, deren Klarheit die Voraussetzung der Kommunikation mit dem Publikum darstellt. Entsprechend der Auffassung, dass Bedeutung nicht empfangen und dekodiert, sondern von den Zuschauern produziert wird, verlagert sich der Fokus der dramaturgischen Fragestellung auf die Frage, wie dem Zuschauer verschiedene Wahrnehmungsweisen eröffnet werden können. Mit diesen Veränderungen zu einer »Emanzipation« des Zuschauers und zu einer Re-Politisierung des Blicks und der Wahrnehmung werden Dramaturg/innen selbst zu einem wichtigen Akteur im künstlerischen Prozess. Sie steuern nicht mehr vornehmlich den »Blick des Außen« bei und gelten nicht mehr als diejenigen, die eine vermeintliche Intention der Bewegung oder choreografischen Ordnung sichtbar machen oder die Choreografie in einen sozialen oder politischen Kontext stellen. Die dramaturgische Arbeit konzentriert sich nicht mehr darauf sichtbar zu machen, was die Choreografie sagt, sondern was sie macht. Damit ist die Grenze zwischen dramaturgischer Arbeit und choreografischer Arbeit durchlässig geworden. Zeitgenös-

45 sische Dramaturgie lässt sich derzeit als ein bestimmter Blickwinkel auf Choreografie beschreiben, der nicht mehr zwangsläufig an einen Dramaturgen oder eine Dramaturgin gebunden ist. Choreografische Praxis als künstlerischer Prozess Die Reflexion von Choreografie als Ordnung von Bewegung in Raum und Zeit zeigt sich in neuen Techniken, Verfahren und Aufführungsformaten: Der Prozess des künstlerischen Schaffens wird, beispielsweise als Lecture-Performance, auf der Bühne präsentiert; der Unterschied zwischen Tanz-Performance und performativer Installation ist dabei mitunter nicht mehr deutlich auszumachen.π Die theatrale Situation wird durch BühnenAufführung settings, kompositorische Entscheidungen, Themenauswahl –› Aufführungsoder dramaturgische Strategien selbst zum Thema gemacht. Das formate sprachphilosophisch geleitete Verfahren der Dekonstruktionπ Komposition und das postmoderne Spiel aller möglichen Kombinationen von –› Verfahren Versatzstücken ohne Verweis auf ihren Referenzrahmen werden zu zentralen choreografischen Verfahren. Die künstlerische Arbeit besteht in einem Re-Formulieren und Neu-Positionieren von Produktions- und Arbeitsweisen. Die Aufführung erscheint in Form von Echtzeit-Kompositionen selbst als Durchführung und zugleich Vorführung künstlerischer Produktionsweisen, die wiederum bestimmte Formen der aktiven Beteiligung und Aufführung Partizipation der Zuschauer erlauben.π Zeitgenössische Choreografie reflektiert derzeit historische –› Publikum Konzepte von Choreografie, indem sie ein Verständnis von Choreografie als essenzieller poetischer Geste in Frage stellt, indem sie in ihren Arbeitsweisen und Aufführungsformaten historische Konzepte und Praktiken der Avantgarde befragt und indem sie mit offenen Konzepten, konzeptionellen Arbeiten und kollaborativen Prozessen das Verhältnis von Kunst und Leben (erneut) zum Thema macht und Perspektiven für ein interdisziplinäres Arbeiten und künstlerisches Forschen aufzeigt. Choreografische Praxis ist damit zu einem Experimentierfeld geworden, das Fragen nach dem gesellschaftlichen Ort der Kunst stellt und zugleich neue experimentelle soziale und

46 Gabriele Klein: Essay kulturelle Praktiken initiiert, exemplifiziert und verleiblicht. »Choreografie heute thematisiert den Wandel vom Tanz zu dem, was um Tanz herum ist«, fasst Jérôme Bel den aktuellen Status zusammen, »das Leben von Tänzern, die Zuschauer, die Geschichte des Tanzes, die Rolle des Autors, Tanz als Kultur und Interkultur, die Regeln des Tanzes und der Choreografie.« 25 Choreografische Praxis als gesellschaftliche Praxis Steht zeitgenössische choreografische Praxis auf der einen Seite in der Tradition der Arbeitsweisen der historischen Avantgarde, so sind ihre Praktiken auf der anderen Seite eng mit den aktuellen Produktionsverhältnissen verknüpft. 26 Wenn die choreografische Praxis seit den 1990ern Arbeitsweisen thematisiert und reflektiert, Formen der Zusammenarbeit erprobt, das Feld des Tanzes in Frage stellt und den Begriff der Choreografie hinterfragt, dann ist dies auch vor dem Hintergrund der Transformationen des gesellschaftlichen Arbeits- und Produktionsbegriffs lesbar. Mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft, zur industriellen Produktion und Technik und zu den Produktionsverhältnissen und Produktionsbildern des Fordismus war die unaufhaltsame, endlose, sich permanent beschleunigende Bewegung 27 zum Credo des Tanzes erhoben und der Choreografie die Funktion zuerteilt worden, den Rahmen bereitzustellen, um die unkontrollierte Bewegung in eine Ordnung zu bringen. Damit wurde Choreografie in den Kontext geopolitischer und biopolitischer Fragen gestellt: Wer darf und kann mobil sein? Wer kann Mobilität wählen?28 Choreografie erscheint hierbei als die Makroebene der Struktur, während Bewegung die Mikroebene der Handlung darstellt. Das Verhältnis von Choreografie und Tanz bestimmt sich dabei als eine Beziehung zwischen Ordnung und Chaos, Regel und Zufall. Mit dem Postfordismus ändert sich der Begriff der Arbeit, es wandeln sich Produktionstechniken und -verfahren. Arbeit meint im Postfordismus nicht mehr reproduktive Tätigkeiten, die von kreativen Handlungen abgrenzbar sind. Vielmehr sind die einst von Kunst und Wissenschaft repräsentierten Eigen-

47 schaften wie Autonomie, Innovation, Kreativität, Interdisziplinarität oder Kollaboration in den Produktionsprozess eingespeist und prägen diesen, getragen von der sogenannten »kreativen Klasse«. Postfordistische Skills sind die Fähigkeit zum Lernen, zur Reflexion, zur Zusammenarbeit. Entsprechend erscheint Choreografie nicht mehr als eine festgefügte Ordnung, die die Bewegungen unter Kontrolle bringt, als Repressionsinstrument einer »kinetischen Politik der Moderne« 29 , als »mächtiger Festsetzungsapparat«30. Sie wird vielmehr als eine ästhetische Praxis verstanden, als ein performatives und konzeptionelles Werkzeug, um Ordnung selbst, ihre Formen, Strategien und Dynamiken zum Thema zu machen. Choreografie in diesem zeitgenössischen Sinn ist nicht mit Machtstruktur gleichzusetzen. Sie wird eher als eine Praxis angesehen, um Machtordnungen auszuprobieren, zu unterlaufen und eine gouvernementale Politik der Selbstregierung zu reflektieren, die das ehemals bürgerlich- auf klärerische Credo der Selbstbestimmung zu einem ökonomischen Zwang der Selbstregulierung umdefiniert hat. Choreografie wird aus dieser Perspektive als ein Feld der Subjektivierung thematisiert, als ein Ort der Vergesellschaftung, der Eingliederung des Einzelnen in eine soziale Praxis, die von den Zuschauern beglaubigt wird. Zeitgenössische choreografische Praxis thematisiert diese Produktion von Subjektivität, wenn sie mit Verfahren und Formen choreografischer Ordnungen experimentiert. Aus dieser Sicht lässt sich zeitgenössische Choreografie nicht nur als ein Regelwerk lesen, dem Folge zu leisten ist, sondern immer auch als ein Möglichkeitsraum von kollektiven Aktionen und partizipativen Prozessen, der performativ erschlossen wird. Im zeitgenössischen Tanzdiskurs wird Choreografie entsprechend als ein performatives Konzept verstanden, das nicht primär Ordnungen repräsentiert, sondern sie in Aktionen erst hervorbringt, sie sichtbar und erfahrbar macht. Choreografie ist hierbei sowohl als ein performativer Rahmen gedacht, der als Spielordnung Bewegung in Zeit und Raum organisiert. Zugleich wird sie als eine Ordnung der Praxis verstanden, die mögliche Verbindungen von Handlung (als gegenwärtige Praxis) und Struktur (als verfestigte Geschichte) aufzeigen kann. Als ein

48 Gabriele Klein: Essay performatives Konzept leistet Choreografie einen zentralen Beitrag zu einer interdisziplinären und intermedialen Performance-Kunst und findet sich nicht zufällig in verschiedenen performativen Kunstgenres wieder, wie der Per formance Art, Aufführung Live Art, Happening, Site Specific, Installationen.π Zeitgenös–› Aufführungs- sische Choreografie ist aus dieser Perspektive lesbar als speformate zifische Wahrnehmungsweise des Sozialen, als Produktion sozialer Realität und zeitgenössischer Subjektivitäten, als eine Weise der Herstellung temporärer Ordnungen, als ästhetisches und räumliches Denken. Choreografie als kritische Praxis Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem kritischen Potenzial von Choreografie. Zeitgenössische choreografische Konzepte wie künstlerische Forschung, offene Arbeitsprozesse, neue Formen der Zusammenarbeit, z.B. Kollaborationen, Netzwerke oder Kollektive, und Aufführungsformate als Work in Progress sind nicht per se als kritische Praxis anzusehen. Vor dem Hintergrund neuer Ökonomien, gouvernementaler Politiken und kultureller Formationen können sie auch affirmativ zu den Verwertungsinteressen des Kapitals stehen, das die hier entwickelten neuen künstlerischen Praktiken absorbiert und für den kapitalistischen Produktionsprozess verwertet. Wie kann sich Choreografie als eine kritische Praxis31 und kritische Aktion, als eine Form des Widerstands etablieren? Wie kann das künstlerische Schaffen selbst sich als eine Gegenwelt darstellen? Wie kann Choreografie es schaffen, körperliche Bewegung als ästhetische Bewegung zu einer sozialen und politischen Bewegung zu transformieren? Kann Choreografie als Modell für politische Formen von Organisation fungieren? Aus Sicht einer kritischen Sozialtheorie und einer politischen Ästhetik ist choreografische Praxis kritisch dann, wenn sie sich als ästhetische Praxis an Ordnungen, Normen und Konvention reibt, sie unterläuft, widerständig ist – und diese auch verändert. Sie ist politisch dann, wenn sie Normen und Konventionen transformiert, nämlich jene, die immer auch distink tiv sind und ein- und ausschließen. Sie lässt sich als eine politische

49 Praxis verstehen, wenn sie eine kritische Differenz zur »kinetischen Realität der Moderne« 32 herstellt. Dies erfolgt auch über eine kritische Theorie und Praxis des Geschlechts, der Körper (der Tanzkörper und Körperkonzepte), der Klassen und der postkolonialen Politik. Und schließlich ist sie politisch, wenn sie nicht nur funktionale Netzwerke, sondern einen Gemein-Sinn ausbildet. Es ist ein Sinn, der Gemeinschaft nicht als Ziel angibt, sondern in den Praktiken selbst voraussetzt.

50 Gebrauchshinweise

51

Gebrauchshinweise für den Choreografischen Baukasten Wie in der Einleitung ausführlicher beschrieben, ist der Baukasten von der Idee getragen, im Rückgriff auf künstlerische Praktiken von Choreografen handwerkliche Prinzipien zeitgenössischer Choreografie zu präsentieren, ohne einer bestimmten Ästhetik zu folgen oder bestimmte Tanztechniken zugrunde zu legen. Er ist nicht pädagogisch ausgerichtet, enthält also keine pädagogischen Leitideen, didaktischen Hinweise oder methodischen Anleitungen. Er versammelt und systematisiert vielmehr Techniken und Verfahren, die in der zeitgenössischen künstlerischen Praxis wichtig sind und lädt dazu ein, einen künstlerischen Prozess zu gestalten und diesen Prozess als ein offenes, ästhetisch geleitetes, an körperlicher Praxis ausgerichtetes Experimentierfeld des Ästhetischen und Sozialen zu sehen, auch wenn dieser im Vermittlungsbereich, in Kultur- und Bildungsinstitutionen stattfindet. Der Baukasten ist als ein offenes, variabel nutzbares System angelegt. Die einzelnen Modulhefte, deren Bausteine und die dort aufgeführten Tools und Verfahren geben keine Reihenfolge vor, auch in der Buchform nicht, obwohl sie hier nacheinander angeordnet sind. Sie sind entsprechend der choreografischen Erfahrung und des Wissens, des Arbeitsstandes des Projektes, der Zusammensetzung der Beteiligten und den spezifischen Rahmen- und Produktionsbedingungen kombinierbar und variabel einsetzbar – abhängig davon, wie sich Anfang und Verlauf des Arbeitsprozesses gestalten. Für den Anfang eines choreografischen Prozesses kann man zum Beispiel verschiedene Modulhefte heranziehen: Möchte die Gruppe sich erst über die Zusammenarbeit Gedanken machen? Über die Art und Weise, wie Bewegungsmaterial generiert werden soll? Oder darüber, wie man über Spiele ein Thema generieren oder die Form der Zusammenarbeit erforschen kann? Ebenso kann man im Verlauf des choreografischen Prozesses gezielt auf Modulhefte zurückgreifen: Soll für eine Szene Bewegungsmaterial generiert werden? Soll Routine durch Anwendung ungewohnter Tools zur Formgebung unterbrochen werden?

52 Gebrauchshinweise Ist angesichts des erarbeiteten choreografischen Materials eine Klärung der dramaturgischen Fragestellung oder des Kompositionsverfahrens sinnvoll? Der Umgang mit den in den Modulheften aufgeführten Tools und Verfahren sowie deren Kombination können den choreografischen Prozess unterstützen. Dieser hängt aber wesentlich von Aspekten ab, die nicht als »Handwerk« beschreibbar sind und deshalb in dem Baukasten nicht thematisiert werden, wie Kreativität, Intuition, Mut, Risiko, Erfahrung, Wissen, künstlerische Handschrift, aber auch Scheitern, Leere und Ideenlosigkeit. Zum Choreografischen Baukasten gehören: π Modulhefte π ein Essay π Interviews π ein Leporello π Praxiskarten Modulhefte

Auf bau der Modulhefte Fünf Modulhefte versammeln zentrale Arbeitsfelder zeitgenössischer Choreografie: Generierung, Formgebung, Spielweisen, Zusammenarbeit und Komposition. Die Modulhefte geben Anregungen, um choreografisches Material zu entwickeln, zu formen, zusammenzustellen und aufzuführen. In der choreografischen Praxis greifen diese Prozesse in unterschiedlicher Weise und in komplexen Formen ineinander. Aus systematischen Gründen sind die Themen in den Modulheften einzeln behandelt, die Modulhefte zur besseren Übersichtlichkeit farblich gekennzeichnet und in einzelne Bausteine gegliedert. Diese sind folgendermaßen aufgebaut: Nach einer kurzen Einführung in das Thema oder einer kurzen Definition folgen orientierende Fragen (kursiv gedruckt), die einen Raum öffnen sollen für eine eigenständige choreografische Praxis. Es folgen Beispiele, die Anregungen dafür liefern können, wie eine Übertragung in eine choreografische Praxis möglich wäre. Sie sind so formuliert, dass sie direkt in der Praxis anwendbar sind, unabhängig von

53 einer spezifischen Ästhetik, einem Stil oder einer Bewegungsund Tanztechnik. Die Beispiele können als Ausgangspunkt dienen, sie können modifiziert werden, durch die Hinzufügung weiterer Ideen und Arbeitsschritte komplexer gestaltet oder durch Beispiele aus anderen Modulheften ergänzt werden. Inhalte der Modulhefte Das Modulheft Zusammenarbeit thematisiert die Rahmenbedingungen von choreografischen Prozessen, die Aufgaben der Mitwirkenden sowie die Möglichkeiten der künstlerischen Zusammenarbeit. Das Modulheft Generierung bietet Aufgaben, um Bewegungen zu finden und zu entwickeln und gibt Anregungen für intermediale Arbeitsprozesse. Das Modulheft Formgebung thematisiert Techniken und Verfahren zur Ausgestaltung von Bewegungsmaterial zu Bewegungssequenzen sowie zu deren Festlegung. Das Modulheft Spielweisen bündelt Ideen für choreografische Spielformen, die dem Stellenwert von Improvisation und der Echtzeit-Komposition in zeitgenössischer Choreografie Rechnung tragen. Das Modulheft Komposition bündelt Fragestellungen zur dramaturgischen Bearbeitung der Choreografie, gibt Hinweise zur Gestaltung der Aufführung, bietet Techniken und Verfahren für die Zusammenführung des choreografischen Materials. Mit choreografischem Material sind improvisierte oder festgelegte Bewegungen und Bewegungssequenzen gemeint sowie Material, das aus anderen Medien wie Bild, Film, Text, Sprache, Stimme, Klang oder Musik generiert wurde, sowie deren Kombinationen. Praxiskarten

Zum Baukasten gehören 33 Praxiskarten, die über die Verlagswebsite kostenlos heruntergeladen werden können. Die Praxiskarten sind wie der Essay und die Interviews weiß gestaltet und damit als modulübergreifend gekennzeichnet. Sie führen Tools auf, die zur Generierung, Formgebung und Komposition angewendet werden können. Die Praxiskarten laden zur praktischen Umsetzung eigener Ideen ein, ob zur Vorbereitung einer Probe oder eines Unterrichts. Sie können einzeln genutzt oder unterschiedlich zusammengestellt werden. Die Praxiskarten sind

54 Gebrauchshinweise zudem einsetzbar als Spielkarten für einen am Spiel orientierten choreografischen Prozess, ob für die Bewegungsgenerierung, Formgebung oder in Kompositionsphasen. Sie sind als Anregungen zu verstehen, die zur selbstständigen Erweiterung der im Choreografischen Baukasten aufgeführten Tools einladen. Die Praxiskarten können kostenlos über die Verlagswebsite heruntergeladen werden (www.transcript-verlag.de/choreografie). Leporello

Der zum Baukasten gehörende Leporello Bewegungsanalyse führt sechs Bewegungsparameter auf, die helfen, Bewegungsaufgaben zu stellen, Bewegung zu beobachten und zu analysieren. Er ist ebenfalls kostenlos über die Verlagswebsite herunterzuladen (www.transcript-verlag.de/choreografie). Essay und Interviews

Ein Essay zur zeitgenössischen Choreografie skizziert deren historische Genese und aktuelle Diskurse und stellt damit den sozialhistorischen und künstlerischen Rahmen für eine zeitgenössische choreografische Praxis bereit. Zudem sind, thematisch in Bezug auf die Modulhefte gebündelt, Ausschnitte aus Interviews mit Choreograf/innen abgedruckt, die in Zusammenhang mit der Erarbeitung des Choreografischen Baukastens geführt wurden. Die Interviews demonstrieren unterschiedliche ästhetische Positionen und künstlerische Strategien sowie individuelle Sichtweisen auf zeitgenössische Choreografie. Eine Literaturliste führt die für die Erarbeitung des Choreografischen Baukastens verwendeten Quellen auf, liefert einen Überblick über deutsch- und englischsprachige Publikationen zu Choreografie und regt zu vertiefter Lektüre einzelner Themen an. Zeichensystem des Baukastens

Markierungen in den Modulheften Wenn in den Beispielen mehrere Arbeitsschritte aufeinander folgen, wird dies mit einem Pfeil (›) markiert. Sind in den einführenden Erläuterungen oder in den Beispielen mehrere Va-

55 rianten oder unterschiedliche Möglichkeiten aufgelistet, werden diese durch einen senkrechten Strich (|) voneinander getrennt. Links Links ( –› Formen ) verweisen auf andere Modulhefte und die Bausteine, die einen Begriff, ein Thema oder Verfahren näher erläutern, auf den Leporello Bewegungsanalyse oder den Essay. Die Links sind farblich gestaltet, die Farbe kennzeichnet das entsprechende Modulheft. Links auf den Leporello Bewegungsanalyse und den Essay sind weiß hinterlegt. Icons verweist auf die Modulhefte und den Essay. verweist auf den Leporello Bewegungsanalyse Quellenangaben

In den Modulheften sind im Text Fußnoten angegeben. Sie sind dann gesetzt, wenn auf zentrale Literatur hingewiesen wird, die für die jeweilige Passage herangezogen wurde. Zum anderen machen sie aufmerksam auf die Choreografien, die dem dort aufgeführten Beispiel zugrunde liegen oder auf Techniken oder Verfahren, für die ein Künstler steht. Die Quellenangaben – auch zum Essay – finden sich am Ende des Buches vor dem Literaturverzeichnis. Anrede

Die Mitwirkenden des choreografischen Prozesses werden als Teilnehmende, Personen oder Akteure bezeichnet. Da sich die choreografischen Praxisbeispiele in diesem Baukasten analog zur zeitgenössischen choreografischen Praxis nicht im engen Sinn, d.h. im Hinblick auf Stile und Techniken, auf Tanz beziehen, sondern den Begriff Bewegung zugrunde legen, wird der Begriff Tänzer/Tänzerin selten eingesetzt. Um den hegemonialen Geschlechtercode zu unterlaufen, findet ein Wechsel zwischen weiblichen und männlichen Bezeichnungen statt.

56 Modulübersicht WARM-UP

BEWEGUNGEN FINDEN

BEWEGUNGEN ENTWICKELN

60 Vorbereiten

65 Formal

73 Formal

61 Wahrnehmen

68 Bild, Film

74 Bild, Film

70 Text, Schrift, Sprache

75 Text, Schrift, Sprache

71 Musik

77 Musik

Generierung FORM GEBEN

83 84 91

Tools Vervielfältigen Variieren Kontextualisieren

Formgebung

FESTLEGEN & ERINNERN

Tools 96 Wiederholen 96 Akkumulieren 96 Imaginieren 97 Präzisieren 97 Zerlegen 97 98 100 100 101 101 102

Spielweisen

103

SPIELMUSTER

111 Spielregeln 112 Spielzeit 112 Scores 115 Re-Formulieren 116 If/then-Methode

Verfahren Bezüge herstellen Bewegungslogik aufbauen Akkumulieren mit Stopp & Go Laban-Bewegungsanalyse Neun-Punkte-Technik Inventarisierung von Bewegung Aufzeichnen CHOREOGRAFIEREN ALS SPIEL

118 118 121 122

Spielarten kompetitiv mimetisch aleatorisch

124 Spiel als EchtzeitKomposition

57

RAHMEN

FORMEN

MITWIRKENDE

128 Projektidee

139 Hierarchie

144 Choreograf/in

129 Finanzierung

140 Kollektiv

145 Tänzer/in

131 Institutionelle Verankerung

141 Kollaboration

148 Dramaturg/in

142 Netzwerk

151 Komponist/in, Musiker/in

134 Zeitorganisation

Zusammenarbeit

135 Probenraum

DRAMATURGIE

158 Thema 159 Arbeitsweise 165 Aufbau 169 Reflexion

KOMPOSITION

173 173 175 176 180 182 184

Tools Auswählen Vervielfältigen Variieren Kombinieren Gewichten Kontextualisieren

187 187 188 190

Verfahren Verfremdung Dekonstruktion Reenactment & Rekonstruktion 191 Collage / Montage 193 Parameter 193 Zeit | Raum | Akteure 197 Intermediale Komposition

AUFFÜHRUNG

204 Ort 206 Setting 209 Publikum 212 Aufführungsformate

Komposition

58

59

Generierung Dieses Modul versammelt Bewegungsaufgaben und Beispiele, die darauf abzielen, Bewegungsmaterial zu finden und zu entwickeln. Der Baustein Warm-Up bietet Anregungen zur Einstimmung in den choreografischen Prozess und zur Wahrnehmungsschulung. WARM-UP

BEWEGUNGEN FINDEN

BEWEGUNGEN ENTWICKELN

60 Vorbereiten

65 Formal

73 Formal

61 Wahrnehmen

68 Bild, Film

74 Bild, Film

70 Text, Schrift, Sprache

75 Text, Schrift, Sprache

71 Musik

77 Musik

Das Finden und Entwickeln von Bewegungsmaterial kann unterschiedlichen Zwecken dienen: der Materialsammlung | der künstlerischen Forschung | der Integration der Bewegungseigenheiten der Beteiligten in die Choreografie | der Vorbereitung oder der Durchführung einer Echtzeit-Kompositionπ, bei der sich Generierung und Komposition von Bewegungsmaterial zeitgleich vollziehen. Bewegungsgenerierung kann mit vielfältigen Arbeitsweisenπ und auf verschiedenen Wegen erfolgen: Eine Person oder mehrere generieren Bewegungsmaterial unter der Anleitung einer Choreo grafin | Ein Choreograf erarbeitet Bewegungsmaterial und führt es in der Choreografie selbst aus oder überträgt es auf andere Personen | Eine Choreografin findet Bewegungsmaterial für eine andere Person und berücksichtigt deren individuelle Fähigkeiten bei der Bewegungsgenerierung. Das in diesem Modul generierte Bewegungsmaterial kann mit Tools zur Formgebung und Komposition weiter bearbeitet werden.

Choreografieren als Spiel

Dramaturgie

60 Generierung

WARM-UP Das Warm-Up dient der Vorbereitung auf die choreografische Arbeit und steht am Anfang einer Probe. Es kann Aufgaben formulieren, die in die Probenarbeit einführen und während der Probe weiter entwickelt werden | aus wiederkehrenden Übungen bestehen | speziell auf die einzelne Probe zugeschnitten sein | Aufgaben stellen, die bereits entwickeltes Material wieder aufgreifen. Das Warm-up kann erfolgen über Verfahren der Körpersensibilisierung (z.B. Body-Mind-Centering, Developmental Movement, Bartenieff Fundamentals, Alexandertechnik, Feldenkrais-Methode, Yoga, Tai Chi, Pilates) | Tanztechniken (z.B. Limontechnik, Cunningham Technik, Jooss-Leeder-Technik, Contact Improvisation, Skinner-Release-Technik) | Verfahren der Bewegungsorganisation (z.B. Laban Bewegungsanalyse, Inventarisierung von Bewegung, Improvisation Technologies) | Spielweisen | speziell für das choreografische Projekt entwickelte Warm-Up-Verfahren. Welches Warm-Up ist sinnvoll für die anschließende Probe, z.B. eine Fokussierung auf Körpersensibilisierung, ein tanztechnisches Training oder eine Spielweise? – Besteht das Warm-Up ausschließlich aus Bewegungsübungen oder fließen z.B. auch Aufgaben mit Stimme oder im Umgang mit Medien oder Materialien ein? – Soll vorgegebenes Übungsmaterial vorkommen? – Sollen Improvisationsaufgaben zum Warm-Up gehören?

Vorbereiten Kennenlernen Alle Teilnehmenden bewegen sich durch den Raum › Zu zweit nebeneinander her gehen und einander den Namen nennen › Partner wechseln und die Aufgabe wiederholen › Verschiedene Bewegungsaufgaben formulieren, z.B.: Alle Beteiligten, deren Vornamen mit A enden, gehen rückwärts, die anderen vorwärts; oder alle, die kurze Haare haben, gehen in einer Gruppe, ohne einander zu berühren, und sagen sich dabei gegenseitig ihre Namen; oder alle, die lange Haare haben, gehen in einer Gruppe, ohne einander zu berühren, und sagen sich dabei gegenseitig ihre Namen › Weitere Kennzeichen der Gruppenbildung finden und mit Bewegungsaufgaben koppeln.

Warm-Up

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Aufwecken Alle Beteiligten legen die Fläche der einen Hand auf ihren Solarplexus, den Handrücken der anderen Hand auf ihr Kreuzbein › Alle gehen durch den Raum und versuchen, einem anderen auf die hintere Hand zu klatschen. Körperkontakt Alle Teilnehmerinnen gehen durch den Raum › Ein Körperteil wird genannt › Auf ein Zeichen berühren diejenigen, die gerade nebeneinander gehen, die andere an dem genannten Körperteil und bewegen sich gemeinsam weiter. Stimme Alle Beteiligten gehen durch den Raum › Auf Zuruf ändern sie die Fortbewegungsarten › Bei den unterschiedlichen Fortbewegungsarten probieren die Teilnehmenden einen unterschiedlichen Umgang mit Stimme aus, z.B. das Summen eines Liedes, das Erzählen einer Geschichte, die Begleitung des Bewegungsrhythmus mit der Stimme. Bewegungsparameterπ Abfolge von Improvisationsaufgaben Bewegungsstellen, z.B. zum Kontakt der Füße am Boden (abrollen, gleiten) analyse › zum Wechsel von längenden und nachgebenden Bewegungen des ganzen Körpers (Spannung aufbauen und loslassen) › zum Einsatz verschiedener Körperteile als Bewegungsauslöser (ein Körperteil bestimmen, das als Bewegungsauslöser dient) › zur Koordination von Armen und Beinen (Körperseiten abwechseln) › zum Umgang mit den Raumlevels (hoch und runter kommen) › zur Fortbewegung (auf unterschiedliche Art gehen und rollen).

Wahrnehmen Wahrnehmungsschulung ist Teil des Warm-up und zentral für den gesamten choreografischen Prozess. Sie ermöglicht das sinnengeleitete Erforschen des eigenen Körpers, verstärkt die synästhetische Wahrnehmung des Partners oder der Gruppe, des Raumes oder des Environments, letzteres z.B. bei ortsspezifischen Projekten. Worauf ist die Wahrnehmung gerichtet, z.B. auf die eigenen Bewegungen, auf Partner, auf die Gruppen- oder Raumsituation? Welche Gewichtung ist als Vorbereitung auf die Probe stimmig? – Geht es um taktile, sensorische, motorische oder kognitive Wahrnehmung? – Auf

62 Generierung welche Art und Weise soll die Wahrnehmungssensibilisierung erfolgen, z.B. als Bewegungsübung, als Vorstellungsbild oder Schreibaufgabe? Körperwahrnehmung zielt ab auf Anatomie, Physiologie, Bewegungsapparat, Flüssigkeitssysteme sowie Körperbilder. Anatomie erforschen Anatomische Potenziale praktisch erproben, z.B.: Wie kann sich ein Bein im Sprung-, Knie- und Hüftgelenk beugen und strecken? | Wie verteilt sich das Körpergewicht? Wie verändern sich die Bewegungsmöglichkeiten bei Gewichtsbelastung? Bewegungsmöglichkeiten erproben Über Berührungen mit der Hand an verschiedenen Körperteilen den Körper in Bewegung bringen, z.B. die Hand an das eigene Becken legen und es zur Seite schieben, die Hand an den Kopf legen und diesen seitlich neigen, mit der Hand den Ellenbogen des anderen Armes nach hinten führen. Vorstellungsbilder Sich vorstellen, mit einem Körperteil, z.B. dem Nacken oder den Knien zu sehen und von dort Bewegungen auslösen | Sich vorstellen, ein Ball rollt durch den Körper, diesem Ball in der Bewegung folgen. Bewegungsanalyse

Antriebselemente benennenπ Bezeichnung eines der acht Antriebselemente laut aussprechen und sich entsprechend bewegen, z.B. kraftvoll › Zwei Antriebselemente auswählen, sie laut benennen und sich entsprechend bewegen, z.B. leicht und plötzlich › Antriebselemente wechseln, z.B. leicht und verzögert. Kinästhetische Wahrnehmung Eine Körperhaltung einnehmen und die Wahrnehmung z.B. auf folgende Fragen lenken: Welche Flächen berühren den Boden? Welche Körperteile tragen das Gewicht? Wie ist die Kraft im Körper verteilt, um in der Haltung zu bleiben? Wo ist der Körper in Spannung oder Entspannung?

Warm-Up

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Raumwahrnehmung Erkundung Teilnehmende gehen durch den Raum und achten auf: Lichtverhältnisse im Raum, Farben, Raumgröße, Raumformen, Bodenbeschaffenheit. Kubus Über Neun-Punkte-Technikπ die Raumwahrnehmung schulen. Orientierung Drei Punkte im Raum auswählen › Sich auf einen der Punkte zu bewegen und dafür eine Fortbewegungsart wählen › Bevor man diesen Punkt erreicht hat, einen anderen Punkt wählen und sich dort hinbewegen › Fortbewegungsarten variieren. Partner- und Gruppenwahrnehmung Bewegungsimpulse geben a legt die Hand für einen Moment auf ein Gelenk von b, b löst daraufhin mit diesem Gelenk eine Bewegung aus › a legt die Hand auf ein anderes Gelenk von b und bringt deren Körper dadurch in Bewegung. b lässt sich führen › Partnerwechsel mit Wechsel der Varianten. Führen – Folgen Eine Teilnehmerin legt eine Hand an die Schulter eines Teilnehmers, die andere Hand an dessen Kreuzbein und führt ihn durch den Raum. Der Geführte kann die Augen schließen. Berührungsflächen Partneraufgabe: Beide sind in Bewegung, berühren sich dabei mit verschiedenen Körperteilen ständig und erforschen, wie sich die Kontaktflächen verändern › Neue Wege ausprobieren, wie die Interaktion der Körper sich durch die unterschiedlichen Berührungsflächen verändert. See the difference Die Teilnehmenden gehen durch den Raum › Aufmerksamkeit auf die anderen Personen im Raum lenken › Wahrnehmen, z.B. die verschiedenen Haarfarben oder unterschiedlichen Gangarten › Neben einer Person mit einer ähnlichen Körpergröße, Haarfarbe, Gangart etc. gehen › Neben einer Person mit einer anderen Körpergröße etc. gehen › Gangarten ändern, z.B. laufen, auf allen Vieren.

Festlegen & Erinnern –› Verfahren

64 Generierung Do – listen – go Die Teilnehmenden gehen bzw. laufen im Kreis › Aktion »Richtungswechsel« wird von der Gruppe gemeinsam ohne Zeichen über Wahrnehmung entschieden: Alle Teilnehmenden versuchen möglichst zeitgleich die Richtung zu wechseln › Aktionen »Stopp« und »Go« werden von Einzelnen ausgelöst. Jeder kann diese Aktion zu einer selbst gewählten Zeit durchführen, indem er stehen bleibt bzw. wieder zu laufen beginnt. Wenn einer stehen bleibt, bleiben alle anderen zeitgleich auch stehen, wenn einer wieder läuft, laufen alle mit › Aktion »Sprung« wird von einer Einzelnen ausgelöst. Jeder kann diese Aktion zu einer selbst gewählten Zeit durchführen. Wenn eine der Teilnehmenden springt, springen die anderen ebenfalls, und alle versuchen, zeitgleich zu landen. Dynamic awareness Teilnehmende bewegen sich im Kreis um eine Person › Sie versuchen, die ausweichende Person im Kreis mit einem Softball zu treffen. Gruppen-Raum Durch den Raum gehen, mit einer ausgewählten Person imaginär eine Linie beim Gehen bilden oder zwei Personen auswählen und mit ihnen beim Gehen ein Dreieck bilden | Sich vorstellen, der Boden sei eine bewegliche Platte, die nur an einer Stelle auf einer Nadelspitze aufliegt. Die Gruppe versucht, sich so im Raum zu verteilen, dass die Platte in Balance bleibt. Alle bleiben dabei ständig in Bewegung.

Bewegungen finden

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BEWEGUNGEN FINDEN Die folgenden Improvisationsaufgaben sollen Anregungen geben, wie man mit Hilfe unterschiedlicher Zugänge und Ansätze Bewegungsmaterial entwickeln kann. Tänzerisches Improvisieren ist eine künstlerische Praxis, in der man ohne Vorbereitung etwas herstellt, das unvorhersehbar und unerwartbar ist, und neue, innovative Bewegungsmuster und -figuren, Raumfigurationen, Dynamiken und Rhythmen erzeugen kann. Improvisation schult zudem die Fähigkeit, kreativ und experimentell z.B. mit Bewegungstechniken, Bewegungsparametern und Aufgabenstellungen umzugehen. Improvisationsaufgaben können formal, bildhaft, schrift-, sprach-, oder musikorientiert gestellt sein. Zielt die Materialsuche auf die individuelle oder kollektive Bewegungsfindung? – Werden Aufgaben allen Beteiligten gestellt oder individuell für jeden Teilnehmenden ausgewählt? – Wird ein anderes Medium in Verbindung mit Bewegung eingesetzt? – Wird Improvisation als Verfahren der Materialsuche verwendet oder in einer Echtzeit-Komposition?

Formale Improvisationsaufgaben thematisieren Bewegungsparameter | die Anatomie und Physiologie des Körpers | physikalische Kräfte. Bewegungsparameterπ Körper Die Wirbelsäule wechselweise nach vorne, zur Seite und nach hinten neigen | Bewegungen des rechten Beines und des linken Arms auf unterschiedliche Art und Weise koordinieren. Raum Sich abwechselnd in allen drei Raumlevels (hoch, mittig, tief) bewegen | Fortbewegungen auf Zick-Zack-Linien vollführen. Antrieb Die Arme leicht und wellenförmig bewegen, dies in Fortbewegung umsetzen | Verschiedene Körperteile plötzlich, kraftvoll und direkt bewegen | Andere Verknüpfungen der Antriebsfaktoren Kraft, Raum, Zeit und Bewegungsfluss ausprobieren, z.B. schwungvolle oder »zackige« Armbewegungen.

Bewegungsanalyse

66 Generierung Form Zwischen verschiedenen runden und eckigen Körperformen wechseln | Im unteren Raumlevel Körperskulpturen bilden und diese in Bewegung setzen. Phrasierung 1 Eine Bewegungssequenz in einzelne Phasen gliedern und diese in Beziehung setzen, z.B. a: eine schnelle Fortbewegung plötzlich stoppen, b: langsam zu Boden sinken, c: in gleichbleibendem Tempo über den Boden rollen und in fließendem Übergang aufstehen und stehen bleiben | Eine Bewegung wiederholen, dabei immer schneller werden lassen, die Bewegung stoppen, schnell wieder aufnehmen und dann Form geben immer langsamer werden lassen | Eine Bewegung scratchen.π –› Tools –› Variieren

Phrasierung 2 Fünf Bewegungen aneinanderreihen und unterschiedlich phrasieren: Variante 3 + 2: die ersten drei Bewegungen ohne Unterbrechung tanzen, die Phrasierung ausklingen lassen und dann die vierte und fünfte Bewegung als Abschluss setzen › Version 1 + 4: Erste Bewegung als Auftakt wählen, eine kurze Pause einbauen, dann alle anderen Bewegungen ohne Unterbrechung aneinander reihen › Andere Phrasierungen ausprobieren.

Beziehung: überschreiben1 In einer zuvor festgelegten Reihenfolge wechseln sich die Teilnehmenden ab › Jedes Solo dauert zwei Minuten. Alle anderen schauen zu › Ein Solo nahtlos in das nächste übergehen lassen › Dabei Bezug auf das Material der Spielmuster vorherigen Personen nehmen und es re-formulierenπ: kopieren, –› Scores variieren, weiter entwickeln › Mehrere Durchläufe machen › Daraus eine gemeinsame Bewegungssprache aufbauen als Fundus für die Choreografieentwicklung. Beziehung: objektbezogen Mit einem Stab verschiedene spiralförmige Spuren in den Raum zeichnen | Die Qualität eines Objekts untersuchen, Stein z.B. ist hart: diese Qualität in die Bewegung aufnehmen und dann transformieren | Einen Tanzteppich auf der Bühne nicht nur funktional nutzen, sondern durch Bewegung Funktion verändern, z.B. unter ihn schlüpfen oder ihn wellenförmig in Bewegung bringen.

Bewegungen finden Anatomie und Physiologie Bewegungsradius aus dem Knochen- und Gelenksystem organisieren Verschiedene Wege finden, um vom aufrechten Stand ins Liegen zu kommen und wieder in den aufrechten Stand und dabei die Gelenke in ihrer Beuge-, Streck- und Drehfunktion einsetzen. Writing2 Sich Achsen vorstellen, die durch ein Gelenk gehen, z.B. eine horizontale Achse durch das Kniegelenk. Dann mit einem anderen Körperteil, z.B. einem Arm, Kreise um diese Linie herum zeichnen | Mit einem Körperteil oder Körperorgan Linien in den Raum zeichnen, z.B. mit der Hüfte eine kreisförmige Spur ziehen | Mehrere Linien in den Raum zeichnen und dabei bei jeder Linie das Körperteil wechseln. Körperkontakte Mindestens zwei Personen bleiben mit einem Körperteil immer in Kontakt und bewegen sich gemeinsam: Beide Personen wählen dasselbe Körperteil, z.B.: Beide berühren sich an ihren Fußsohlen, oder sie wählen unterschiedliche Körperteile, z.B.: a berührt mit ihrer linken Handinnenfläche den Kopf von b, b berührt mit ihrem Rücken den rechten Arm von a. Physikalische Kräfte Schwerkraft Einen Arm heben › Den Arm der Schwerkraft nachgebend fallen lassen › Den dadurch entstehenden Schwung nutzen, um den Arm in die Gegenrichtung hoch zu schwingen und dann auspendeln zu lassen › Bewegungsimpuls für den ganzen Körper nutzen › Dem Pendelrhythmus folgend Impulse in andere Körperteile geben. Gewicht a und b stehen mit dem Rücken zueinander › a lässt sich auf den Rücken von b sinken › b übernimmt das Körpergewicht von a, beugt sich dem Gewicht folgend nach vorne und gibt in den Knien nach | a und b stehen Schulter an Schulter. a gibt Gewicht an b ab und umgekehrt › Beide nutzen die gegenseitigen Gewichtsverlagerungen als Bewegungsimpulse. Fliehkraft Das Becken mit schnellen Impulsen seitlich drehen. Die Arme öffnen sich nacheinander der Fliehkraft folgend und

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68 Generierung kreisen um das Becken › Beckendrehung für eine Beinbewegung einsetzen, die mithilfe der Fliehkraft entsteht.

Bild und Film können in der Bewegungsfindung eingesetzt werden als Arbeit mit Vorstellungsbildern sowie mit technischen und künstlerischen Bildern wie Foto, Film, Fernsehbildern, Video, Bildender Kunst oder Neuen Medien. Das Bild- und Filmmaterial kann dabei in Bewegung übertragen werden, ohne dass es (wieder)erkennbar ist oder sein muss. Vorstellungsbilder Körper spiegeln3 Sich vorstellen, im Spiegel den eigenen Körper zu sehen › Mit der Oberfläche eines Körperteils, z.B. dem Ellenbogen, den Umriss einzelner Körperteile oder des ganzen Körpers nachzeichnen | Sich vorstellen, das Spiegelbild des Körpers liegt vor einem auf dem Boden. Mit einem Körperteil, z.B. mit dem Fuß, die Umrisse nachzeichnen | Sich vorstellen, das Spiegelbild befindet sich hinter dem Körper. Mit rückwärtigen Körperflächen die Umrisse nachzeichnen | Mit der Oberfläche eines Körperteils ein Organ nachzeichnen, z.B. mit den Händen, der Rückenfläche des Handgelenks, dem Kopf oder mit der Wange das Volumen des Herzens, die Form der Lunge, die Lage des Darms. Ideokinese Sich vorstellen, die Hüftgelenke sind Bojen, die auf dem Wasser schwimmen. Sich entsprechend leicht und balanciert bewegen | Sich vorstellen, dass das Becken der Schwerkraft folgend zum Boden fällt und dann wie ein Jojo elastisch wieder hoch federt. Dieses Bild als Bewegungsimpuls nutzen. So-tun-als-ob Wie ein kranker alter Mensch gehen | Wie ein Tier auf der Lauer liegen | Sich um ein imaginäres Möbel, z.B. einen Stuhl, bewegen | Mit der Oberfläche eines Körperteils die Form einer imaginären Skulptur nachzeichnen | Sich so bewegen, dass ein vorgestellter Schmetterling auf der Schulter möglichst nicht davon fliegt | Sich über dünnes Eis bewegen, das nicht brechen soll.

Bewegungen finden Bildgeschichte In ein imaginäres dunkles Haus hinein gehen › Das Haus auf verschiedene, ungewöhnliche Arten betreten, z.B. rückwärts durch ein kleines Kellerfenster › Im Haus Objekte finden, die man mit dem Körper ertastet › In mehreren Räumen suchen › Das Haus wieder verlassen. Gegensätze Auf dem Körper einen Punkt wählen › Dazu den am weitesten entfernt liegenden Punkt bestimmen › Zwischen beiden eine imaginäre Linie ziehen › Beide Punkte wie einen Kaugummi zäh ziehend zueinander hin und voneinander weg bewegen › Ein entgegengesetztes Vorstellungsbild wählen, z.B. die Punkte wie eine flackernde Flamme zueinander hin und voneinander weg bewegen. Bild und Film Stadtkarte Stadtplan aufschlagen, einen Straßenverlauf auswählen, z.B. den Weg vom Bahnhof zu einem Krankenhaus › Diesen Weg als Raumweg auf den Boden übertragen › Diesen Raumweg mit verschiedenen Fortbewegungsarten zurücklegen, z.B. rollen, gleiten, hüpfen, rennen, springen. Bildende Kunst Bild auswählen › In Bezug auf Urheber, Kontext, Thema, Kompositionsstruktur und Wirkung analysieren › Die Informationen in die Bewegungsgenerierung einfließen lassen › Aspekte auswählen, die sich für eine Übertragung in Bewegung anbieten, z.B. Bildaufbau, Bildmotiv › Bildwahrnehmung in Antriebsaktionen übertragen. Cadavre Exquis Mehrere Teilnehmerinnen zeichnen mit der Arbeitsweise Re-Formulieren gemeinsam einen Körper; z.B. die erste den Kopf, die zweite Oberkörper und Arme, die dritte den Unterleib, die vierte die Beine, die nächste die Füße › Jede faltet nach ihrer Zeichnung das Papier, lässt nur die Ansätze für den nächsten Körperabschnitt sichtbar und gibt die Zeichnung an die nächste Person weiter › Das entstandene Körperbild anschauen und aus dem Bild Ideen für Bewegungsaufgaben ableiten, z.B.: Wie bewegen sich die einzelnen Körperteile in unterschiedlichen Antriebsaktionen?

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70 Generierung Videoclip Den Bewegungsverlauf eines Videos detailgetreu nachstellen, z.B. Surfer auf einer Welle, die bricht, oder Rapper, der seinen Rap gestisch untermalt › Über den Wechsel von Antriebsaktionen den Verlauf verändern › Ein Detail weglassen, eine Aktion wiederholen oder in umgekehrter Reihenfolge ausführen.

Text, Schrift, Sprache Ausgangsmaterial zur Bewegungsrecherche kann Text sein, z.B. literarische Vorlagen wie Romane, Theaterstücke oder Texte aus dem Alltag wie Beipackzettel von Medikamenten, Gebrauchsanleitungen | Sprache, z.B. Klang, Stimme, Rhythmus der Sprache, Sprachbilder | Schrift, z.B. Schriftarten, Groß- oder Kleinschreibung. Erzählung übertragen Eine Erzählung auswählen › Textfragmente mit performativen Handlungselementen suchen, z.B.: »Er hastete um die Ecke und konnte sich gerade noch in den Schatten zurückziehen, bevor er entdeckt wurde.« › In eine Bewegungsszene übersetzen. Form geben –› Tools –› Vervielfältigen | Variieren

Worte rhythmisierenπ Ein sinnloses Wort, z.B. »Trumbo«, oder einen Satz loopen und rhythmisch variieren › Einen Rhythmus festlegen, diesen Rhythmus als Grundlage für eine Bewegungsimprovisation nutzen. Beeinflussung a bewegt sich langsam am Boden › b benennt Körperteile, z.B. linker Arm › a versucht, ohne den Fluss der Bewegung zu unterbrechen, mit dem genannten Körperteil den Boden nicht zu berühren › b nennt zwei Körperteile gleichzeitig etc. Imaginäres Solo a und b sitzen einander mit geschlossenen Augen gegenüber › a imaginiert eine Bewegungssequenz und beschreibt den Bewegungsverlauf in ca. einer Minute › b setzt die Bewegungssequenz um, a öffnet die Augen und schaut zu. Körperschreiben Ausdrucksstarke Schrift auswählen › Schrift mit verschiedenen Körperteilen im Raum nachzeichnen.

Bewegungen finden

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Musik Zur Generierung von Bewegungsmaterial können alle Musikgenres verwendet werden, z.B. Unterhaltungsmusik, Ernste Musik, Elektronische Musik, Popmusik oder Klänge und Geräusche. Ausgangspunkt für die Generierung von Bewegungsmaterial kann ein Liedtext, eine Partitur, eine Komposition sein. Musik, die bei der Bewegungsentwicklung Verwendung findet, wird nicht zwangsläufig auch in der Aufführung eingesetzt. Musikwahl Musik auswählen: Weckt die Musik Bewegungsideen, löst sie Bilder aus oder liefert sie Ideen für ein Thema?π › Die Bewegungsaufgaben differenzieren, z.B. formale oder bildhafte Improvisationsaufgaben ausprobieren › Welche Aspekte der Musik sind hilfreich für die choreografische Recherche?

Dramaturgie

Musikstrukturen erkunden Musik auswählen: Welche musikalischen Parameter sind besonders prägnant? › Bewegungsaufgaben zu einem oder mehreren musikalischen Parametern formulieren, z.B. Tondauer: Ein Körperteil acht Noten lang bewegen, ein anderes zwei Noten lang › Tonhöhe: Hohe oder tiefe Töne in Bewegung übersetzen, z.B. durch Wechsel der Raumlevelπ Bewegungs› Harmonie: Einen Akkord als Gruppenbewegung umsetzen, in- analyse dem drei verschiedene Töne auf drei verschiedene Akteure verteilt werden, jeder Akteur einen Ton als Bewegungsauslöser nutzt und alle sich gleichzeitig bewegen › Tonstärke / Dynamik: Lautstärken in Muster von Spannung und Entspannung übertragen. Lautstärkenübergänge wie Crescendo und Decrescendo als Geschwindigkeitshinweise nehmen oder Personenzahl steigern bzw. reduzieren › Klangfarbe: Welche Bilder oder Assoziationen löst die Klangfarbe aus? Wie können diese in Bewegung übertragen werden? Klangbilder Welche Bilder ruft Musik hervor? › Die Bilder mithilfe der Bewegungsanalyse auf ihre Antriebsfaktoren überprüfen, z.B. ein Ton wird als ziehend empfunden: ziehen ist verzögert, direkt, kraftvoll › Oder eine Musik löst das Bild eines Wirbelsturms aus: wirbeln ist plötzlich, kreisend, kraftvoll › Jeweils eine Bewegungsaufgabe formulieren und Bewegungsmaterial sammeln.

72 Generierung Rhythmus Stichworte zu Rhythmus sammeln, z.B. gemeinschaftsbildend, Zeit strukturierend, Wiederholung, Differenz, Rhythmusbewegung › Aus Stichworten Bewegungsaufgaben ableiten, z.B. sich als Gruppe ohne Musik bewegen und mit einzelnen Körperteilen, z.B. Füßen oder Händen, einen gemeinsamen Rhythmus etablieren › Die Bewegungsaufgabe umkehren: Wie kann man sich so bewegen, dass die Füße aus dem Rhythmus sind? Die Hälfte der Gruppe versucht, den etablierten Rhythmus zu unterbrechen | Einen gemeinsamen Rhythmus in viele Rhythmen auflösen. Musik im Körper Geräusche, z.B. Kreissäge oder Papierrascheln, einspielen. Welche Körperteile reagieren auf die Ge- räusche? | Unterschiedliche Instrumente wählen. Welche Be- wegungsqualität entsteht beim gezupften Ton einer Harfe oder beim lang gezogenen Ton des Bogens auf einer Geige? Stimuliert ein elektronisch produzierter Ton andere Bewegungen als ein akustisch hergestellter? Bewegung als sichtbare Musik Bewegung ohne Musik entwickeln: Dem Atem-Rhythmus folgen | Dem Herzschlag folgen | Mithilfe von Phrasierung, Rhythmisierung und Akzentuierung den Bewegungsablauf strukturieren. Fingerspiel Das Fingerspiel und die Koordination des Bewegungsflusses der linken und rechten Hand eines Klavierspielers studieren › Diese Koordination auf die linke und rechte Körperhälfte übertragen und sich in unterschiedlichen Rhythmen und Qualitäten bewegen › Wie lässt sich das Koordinationsspiel der Finger eines Klavierspielers auf einzelne Körperteile übertragen? Z.B. sich vorstellen, eine Partitur zu spielen und einzelne Körperteile sind die Tastatur oder bei einem Akkord z.B. gleichzeitig drei verschiedene Körperteile bewegen. Raum Wie gestaltet Bewegung, wie gestaltet Musik Raum? › Begriffe aus der Musik zum Thema Raum sammeln, z.B. Klangraum, Klangvolumen, voller Klang › Begriffe der Bewegung zu Raum sammeln, z.B. Raumwege, Raumdimensionen, RaumKomposition richtungen, Raumebenenπ › Begriffe zueinander in Beziehung –› Parameter setzen: Welches wäre die begriffliche Analogie im Tanz zum Klangraum? Wie lässt sich ein Klangraum in Bewegung übertragen?

Bewegungen entwickeln

BEWEGUNGEN ENTWICKELN An die Bewegungsrecherche anschließende Aufgaben strukturieren die Bewegungsfindung. Mit ihrer Hilfe können einzelne Bewegungen geformt und mit Tools zur Formgebung zu Bewegungssequenzen zusammengestellt werden. Insofern unterscheiden sie sich von Tools und Verfahren zur Komposition, die auf Zusammenführung des choreografischen Materials abzielen. Aufgaben zur Bewegungsentwicklung können formal, bild- und filmartig, schrift-, sprach- oder musikorientiert gestellt sein. Ist das Ziel die Festlegung einer Bewegungssequenz oder geht es um eine improvisierte Zusammenstellung von Bewegungsmaterial? – Geht es um eine intermediale Auseinandersetzung? Welche Funktion über-nimmt ein Medium und in welcher Art und Weise tritt es in Erscheinung? – Worin liegt das künstlerische Interesse, z.B. in der Übertragung von einem Bild, Film, Text, Musikstück in Bewegung oder in der Interaktion und Beziehung der Medien?

Formal Entwickeln Handgesten Eine bestimmte Anzahl von Gesten festlegen › Teilnehmende wählen davon jeweils die Hälfte aus › Jede entwickelt aus der Zusammenführung der einzelnen Gesten eine Bewegungssequenz. Struktur und Situation Geradlinige Raumwege als Vorwärts- oder Rückwärtsbewegung zurücklegen › Richtungswechsel immer rechtwinklig vornehmen › Fallen und wieder aufstehen › Dabei gilt folgende Regel: die Bewegungsaufgaben immer in unterschiedlicher Reihenfolge zusammenstellen. Algorithmisches Vorgehen Drei Mal zwei Aufgaben abwechseln: Aufgabe a: sich über, unter, neben und um einen Stuhl herum bewegen › Aufgabe b: sich zu einem anderen Stuhl begeben › Den Anfang von Aufgabe a mithilfe der Bewegungsparameter jeweils anders gestalten, z.B. verzögern, beschleunigen › Den Orts- wechsel jeweils unterschiedlich gestalten.

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74 Generierung

Bild und Film Schneespuren Sich so durch den Raum bewegen, als würde man im Schnee Fußabdrücke hinterlassen und möchte diese nicht verwischen › Kleine oder große Schritte vorwärts oder rückwärts machen › Drei der Bewegungen auswählen und festlegen › Diese drei Bewegungen aneinanderreihen.

Form geben –› Tools –› Variieren

Abstrakte Formen Auf ein Papier abstrakte Zeichen oder geometrische Formen zeichnen, z.B. Punkte, Linien, Spiralen, Kreise, Vielecke, Pfeile › Die Zeichnungen auf Bewegung übertragen: z.B. mit verschiedenen Körperteilen in die Luft zeichnen, mit Schritten als Bodenlinien gehen, in plastische Körperformen übersetzen › Bewegungen auf ein anderes Körperteil oder in eine andere Raumebene transponieren.π Medienfoto-Tableau Fotos von unterschiedlichen Personen verschiedener Nationalitäten, unterschiedlichen Alters, Geschlechts, etc. aus Zeitschriften ausschneiden › Ihre Körperhaltungen auf den eigenen Körper übertragen › Zu einem Gruppenbild zusammensetzen, durch Bewegungsübergänge zwischen den einzelnen Posen ein bewegtes Gruppenbild erzeugen › Aus der Haltung einer Person eine passende Antriebsaktion ableiten und damit eine Bewegungssequenz entwickeln. Narration Ein Foto einer alltäglichen Situation wählen, z.B. Einkauf im Supermarkt › Sich vorstellen, welche Szene aus dieser Momentaufnahme entstehen könnte › Die Arbeitsweise Re-Formulieren anwenden: Jeder Teilnehmende schreibt eine Szene auf ein Blatt › Das Blatt im Kreis weiter geben. Die Szenen lesen und den weiteren Verlauf dazu schreiben › Diesen Vorgang mehrmals wiederholen › Jeder Teilnehmende nimmt ein Blatt, liest die entstandene Geschichte und formuliert daraus Bewegungsaufgaben › Anhand der Aufgaben Bewegungsmaterial generieren. Kompositionsverfahren des Films4 Einen Kurzfilm auswählen, in dem tanzende Menschen vorkommen › Dramaturgischen Aufbau und Filmtechnik, z.B. Kameraführung, Filmschnitt analysieren: Werden viele Schnitte verwendet? › Die Zeitraster des Films können als Konzept für die Phrasierung und Dynamik der

Bewegungen entwickeln Choreografie genutzt werden › Filmtechnik: Das Prinzip der Rückblende auf die Bewegungssequenz übertragen: mit dem Ende beginnen › Zurückspulen: Die Bewegungssequenz umkehren › Vorspulen: Teile der Bewegungssequenz auslassen › Kameraund Schnitttechnik: Eine festgelegte Bewegungssequenz auswählen › Schnelle Schnitte: Staccato-Bewegungen › Langsame Kameraführung: Bewegungssequenz in Slow Motion › Standbild: Bewegungssequenz »einfrieren« › Das Schneiden auf den Rhythmus und die Bewegungsqualität übertragen › Die Unterschiedlichkeit und Gemeinsamkeit der Medien reflektieren › Welche Hinweise finden sich zum Umgang mit Raum? Wie können sie choreografisch genutzt werden? Zoomen: Bewegungen größer machen › Weitwinkel: Bewegungen kleiner machen. Fotoschnipsel Fotos sammeln, auf denen man mit Anderen zusammen abgelichtet ist › Sich selbst aus den Fotos ausschneiden › Für jeden Fotoschnipsel eine Bewegungssequenz festlegen, z.B. von der Situation oder der Stimmung inspiriert › Die Fotoschnipsel auf dem Boden verteilen › Sich in die Nähe eines Fotoschnipsels begeben und dort die entsprechende Bewegungssequenz tanzen › An einen anderen Platz wechseln und die zugehörige Bewegungssequenz ausführen. Alltagssituationen Jede Beteiligte filmt ca. 30 Sekunden einzelne Bereiche der eigenen Wohnung, wobei ein Körperteil der Filmenden jeweils im Bild erscheinen soll › Die Filmsequenzen aus allen Wohnbereichen zusammen schneiden › Das Körperteil, das im Bild zu sehen ist, als Bewegungsauslöser einsetzen und eine Bewegung entwickeln › Zu jedem Wohnbereich mit dem zugeordneten Körperteil eine Bewegung festlegen › Die Bewegungen zu einer Sequenz aneinanderhängen.

Text, Schrift, Sprache Sprachbild und Bewegung5 Sprachbilder sammeln, z.B.: Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein – Unter einer Decke stecken – Jemandem Honig um den Mund schmieren. Sprachbilder mit Körperempfindungen sammeln, z.B.: Ich koche innerlich – In mir tobt der Bär – Ich stehe unter Strom – Etwas

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76 Generierung liegt mir im Magen › Ein Sprachbild auswählen › Das Sprachbild in Bewegung umsetzen, in Form eines Tableaus oder mithilfe von Objekten. Imaginierter Körperkontakt Unterschiedliche Möglichkeiten des Körperkontakts eines Paares oder einer Gruppe aufschreiben, z.B. wegschieben, führen, abschleppen, drängeln, aneinander abrutschen › Eine zuvor festgelegte Zahl von Körperkontakten auswählen › Diese zu zweit oder als Gruppe in Bewegung übertragen › Einzelne Körperkontakte miteinander zu einer Bewegungssequenz verbinden. Reportage a bewegt sich im Raum › b beschreibt die Bewegungen wie ein Radiomoderator, der das Bewegungsbild über Sprache vermittelt › Bewegungsbeschreibung wird mit einem Aufnahmegerät aufgenommen › Diese Beschreibung wird vorgespielt und erneut in Bewegung umgesetzt.

Form geben –› Tools –› Variieren

Stadt, Land, Fluss a geht leise das Alphabet durch › b sagt stopp › a nennt den Buchstaben, bei dem sie gerade war › b nennt einen Ort und eine Stadt, die mit dem Buchstaben beginnen, z.B. Park, Peking › a und b entwickeln dazu eine Situation, die speziell an diesem Ort stattfindet › Diese in Bewegung umsetzen, abstrahieren und weiter gestalten.π Tätigkeitsworte Eine Kurzgeschichte erfinden, in der viele Bewegungsaktionen vorkommen, und diese aufschreiben › Alle performativen Handlungen heraussuchen und auflisten, z.B. stolpern, aufstehen, hetzen, zucken, sich umdrehen, rufen › Jedes Verb auf eine Karte schreiben › Die Karten in einer beliebigen Reihenfolge nebeneinander legen › Aus der Abfolge der Verben eine Bewegungssequenz festlegen › Die Reihenfolge der Karten ändern und die sich ergebende Bewegungssequenz an die schon Bestehende anhängen.

Wortlisten6 Liste erstellen mit Worten, die z.B. auf »ung« enden, wie Selbstfindung, Gruppierung, Zellatmung › Für jedes Wort eine performative Umsetzung finden › Diese zu einer Komposition Collageπ zusammensetzen. –› Verfahren

Bewegungen entwickeln

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Text dekonstruierenπ Einen kurzen Text auswählen, z.B. die Komposition Zeile eines Gedichts, den letzten Satz des Refrains eines Pop- –› Verfahren Songs › Diesen Text sprechen, dabei einzelne Silben oder Worte wiederholen und dann den Text weiter sprechen › Einen Satzteil loopen und im Tempo variieren und rhythmisieren › Pausen einbauen › Variieren durch steigern: lauter und schneller sprechenπ Form geben › Die Reihenfolge der Worte verändern, z.B. umkehren › Den Text –› Tools akkumulierend sprechen: erst das erste Wort, dann das erste Festlegen & Wort und das zweite, dann die ersten drei etc.π › Daraus eine Textsequenz festlegen › Die Textsequenz auf eine Bewegungs- Erinnern –› Tools sequenz über tragen, z.B. indem einzelne Worte einzelnen Bewegungen zugeordnet werden. Katagraphisches Theater7 Einen Text auswählen › Textstrukturen herausarbeiten und in Bewegungsstrukturen übertragen, z.B. Satzende dadurch kennzeichnen, dass sich alle Akteure auf den Boden legen und wieder aufstehen | Direkte Rede im Text als Duo umsetzen: Zwei Tänzer stellen sich einander gegenüber und führen die Bewegungssequenz im Kanon aus | Erzählung ohne direkte Anrede als Unisono umsetzen: die Bewegungssequenz im Unisono ausführen | Zeilen umsetzen: Raumwege als seitliche Linien von links nach rechts durchführen | Zeilenwechsel übertragen: Raum in Bahnen aufteilen und sich auf diesen bewegen.

Musik Instrument8 Eine Forschungsfrage zur Beziehung von Musik und Tanz formulieren, z.B.: Was bedeutet »Instrument« für den Tänzer? Er hat seinen Körper als Instrument › Unterschiede in Bezug auf den Umgang von Musikern und Tänzern mit ihrem Instrument herausarbeiten › Bewegungsmuster eines Musikers und eines Tänzers untersuchen › Bewegungssequenzen erarbeiten und in Beziehung zueinander setzen. Klassische Partitur übertragen Verschiedene Formen der Musiknotation als Grundlage für die Choreografieentwicklung nutzen und die Musikpartitur in Bewegung umsetzen: Was kann von einem Notenbild in Bewegung übertragen werden: In der

78 Generierung Partitur sind Bewegungen sichtbar, z.B. das Auf und Ab von Tonhöhen. Dafür eine Übertragungsmethode wählen: die Töne zu einer Linie verbinden und diese Linie in den Raum übertragen | Zu musikalischen Begriffen wie »Forte« oder »Piano« Bewegungsmaterial finden, z.B. leise als langsame Bewegung oder am Platz, laut als schnelle und akzentuierte Bewegung mehrerer Körperteile in Fortbewegung. Klangräume erzeugen Gruppenaufgaben: Beim Gehen möglichst wenig Geräusche verursachen › Beim Gehen möglichst viele unterschiedliche Geräusche verursachen, z.B. stampfende, wischende, klopfende, tippende, gleitende, reibende › Durch Bewegung an einer Wand oder anderen Objekten kratzende, rutschende, aufprallende, abprallende Geräusche verursachen › Durch den Körperkontakt zweier Personen Geräusche verursachen › Den Atem durch die Geschwindigkeit der Bewegung lauter oder leiser werden lassen › Die Geräusche, die beim Ausführen der Bewegung entstehen, aufnehmen › Aufnahme einspielen und Bewegungen kontrapunktisch dagegen setzen › Form geben Die generierten Bewegungen abstrahieren und steigern.π –› Tools –› Variieren

Musik – Score – Bewegung9 Eine Musik einspielen › Während des Musikhörens die Musikwahrnehmung als eine ununterbrochene Linie auf ein Papier übertragen › Diese Spielmuster Zeichnung als Bildvorlage im Sinne eines Scoresπ verwenden › Den Score als Raumweg auf den Boden übertragen und sich auf dem Raumweg mit eingespielter Musik und dann ohne die Musik bewegen.

Bewegungen entwickeln

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Formgebung Dieses Modul thematisiert Tools und Verfahren, um Bewegungsmaterial choreografisch zu gestalten. Durch Präzisieren und Formen können Bewegungssequenzen festgelegt, erinnert und wiederholt werden.

FORM GEBEN

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Tools Vervielfältigen Variieren Kontextualisieren

FESTLEGEN & ERINNERN

96 96 96 97 97 97 98 100 100 101 101 102 103

Tools Wiederholen Akkumulieren Imaginieren Präzisieren Zerlegen Verfahren Bezüge herstellen Bewegungslogik aufbauen Akkumulieren mit Stopp & Go Laban-Bewegungsanalyse Neun-Punkte-Technik Inventarisierung von Bewegung Aufzeichnen

82 Formgebung Der Baustein Form geben hat folgende Einsatzmöglichkeiten: Bewegungsmaterial im Prozess des Generierens zu entwickeln | bereits vorhandenes Bewegungsmaterial zu formen | BeweChoreogra- gungsmaterial in einer Echtzeit-Kompositionπ zu generieren fieren als Spiel und zu gestalten | die individuellen Bewegungsmuster der Beteiligten in die Choreografie zu integrieren | Interaktionsaufgaben zur Formgebung zu nutzen. Der Baustein Festlegen & Erinnern stellt Tools und Verfahren vor, die die Festlegung und das Rekapitulieren von Bewegungsmaterial ermöglichen. Das Festlegen kann die vollständige Bewegungsabfolge umfassen und besteht in der Verfeinerung der Bewegungsausführung und im Erwerb der Fähigkeit, diese präzise zu wiederholen.

Komposition

Das festgelegte Material kann mit Kompositions-Tools und -verfahren zusammengestellt werden.

Form geben

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FORM GEBEN In diesem Baustein sind Tools zur Formgebung von Bewegung Komposition versammelt. Sie können eingesetzt werden im Prozess des Gene- –› Tools rierens oder zur Formung von bereits vorhandenem Bewegungsmaterial. Verfahren der Formgebung implizieren ästhetische Entscheidungen. Die einzelnen Tools sind unter den Oberbegriffen aufgelistet: Vervielfältigen | Variieren | Kontextualisieren.

Vervielfältigen Hierunter werden unterschiedliche Techniken zur Multiplizierung von Bewegungsmaterial verstanden. Vervielfältigen kann auf verschiedene Weisen erfolgen: Kopieren | Spiegeln | Wiederholen | Loopen. Kopieren bezeichnet das Übernehmen von Bewegungsmaterial durch eine andere Person. Es kann eingesetzt werden, um Bewegungsmaterial mehreren Teilnehmenden zu vermitteln oder es festzulegen und erinnerbar zu machen. Kopieren der Bewegungssequenz eines Partners Eine kurze Bewegungssequenz mit verschiedenen Elementen (z.B. Sprung, Drehung ) festlegen › Die Bewegungsparameter in Bezug auf Körper, Raum, Antrieb, Form, Phrasierung präzisierenπ › Partner suchen und die Bewegungssequenz des anderen kopieren. Interferentes Kopieren Beim Kopieren der Bewegungssequenz der Partner nicht auf Genauigkeit der Kopie achten, sondern lediglich die prägnanten Prinzipien oder Aspekte übernehmen: Alle Beteiligten gehen durch den Raum › Eine Person nennt den Namen einer anderen, z.B. a › a zeigt eine Bewegung und vervielfältigt diese › Die anderen Teilnehmenden kopieren die Bewegung und vervielfältigen sie › a nennt den Namen einer anderen Person etc. › Wenn die Gruppe diese Übung kennt, kann eine Person spontan eine Bewegung zeigen und vervielfältigen.

Bewegungsanalyse

84 Formgebung Spiegeln bezeichnet das seitenverkehrte Transponieren einer Bewegung oder Bewegungssequenz.

Bewegungsanalyse

Narziss Zwei Personen bewegen sich voreinander › A gibt die Bewegung vor, B spiegelt sie › A integriert verschiedene Antriebsaktionenπ in die Bewegungssequenz. Drehung Eine Drehung nach rechts und nach links ausführen | Zwei Gruppen bilden › In der ersten Gruppe stehen sich die Teilnehmenden seitlich versetzt gegenüber und spiegeln einander gleichzeitig › Die zweite Gruppe setzt zeitversetzt im Kanon ein. Wiederholen bezeichnet den Vorgang, wenn eine Bewegung oder Bewegungssequenz von derselben Person mehr als einmal ausgeführt wird. Dies kann direkt unmittelbar hintereinander oder nach einer Unterbrechung zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Verkehrt herum Eine zuvor aufrecht ausgeführte Bewegungssequenz auf dem Boden liegend wiederholen. Um die Ecke Eine Bewegungssequenz, die im vorderen Teil des Raumes getanzt wurde, im hinteren Teil wiederholen. Loopen bezeichnet die Wiederholung einer Bewegung oder Bewegungssequenz ohne Unterbrechung, so dass Anfang und Ende fließend ineinander übergehen. Loopen kann durch vollständiges oder interferentes Kopieren erfolgen. Get up Die Teilnehmenden denken sich eine Bewegungssequenz aus, die vom Boden in den Stand und wieder zum Boden führt › Die Bewegungssequenz wird ohne Unterbrechung mehrmals wiederholt › Der Ablauf wird präzisiert.

Variieren Unter Variieren werden Techniken zur Veränderung von vorhandenem Bewegungsmaterial gefasst. Als Techniken des Variierens sind in diesem Modulheft aufgeführt: Bewegungsparameter variieren | Umkehren | Scratchen | Limitieren | Entfernen | Steigern | Transponieren | Abstrahieren | Blickrichtung gestalten.

Form geben

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Bewegungsparameter variierenπ

Bewegungsanalyse

Körper Einen Nachstellschritt einmal mit paralleler Beinstellung und einmal mit auswärts rotierter Beinstellung ausführen | Einen Ausfallschritt einmal mit aufrechtem Oberkörper ausführen und einmal mit Oberkörperneigung und Armbegleitung | Eine Gewichtsverlagerung einmal vom Fuß aus einleiten und einmal vom Becken. Raum Mit einem Körperteil eine geometrische Form oder eine Zahl in den Raum zeichnen, dabei verschiedene Größen wählen | Die Raumrichtung einer Bewegung, z.B. beim Pendeln eines Armes, verändern. BewegungsAntrieb Bei einer Bewegungssequenz die Antriebselemente analyse ändern, z.B. zwischen verzögert und plötzlich, kraftvoll und leicht, direkt und indirekt | Vom Stand zum Boden gleiten und die Bewegung ununterbrochen ausführen ohne Stopp | Vom Stand zum Boden gehen mit einem Stopp auf dem mittleren Raumlevel und einem am Boden.

Zeit Eine Bewegungssequenz loopen und immer schneller werden lassen | Einen Arm zur Seite pendeln mit Blick nach vorn › Mit dem Blick der Bewegung des Armes folgen und die Armbewegung verzögern | Im Wechsel: Vier Schritte langsam gehen, drei schnell, zwei langsam, einen schnell | Einen Zug in letzter Minute erreichen wollen | Durch den Raum gehen › Wenn einer der Teilnehmenden stehen bleibt, bleiben möglichst zeitgleich alle stehen › Wenn einer wieder los geht, gehen alle wieder. Form Verschiedene Haltungen einnehmen, die unterschiedlichen Sitzmöglichkeiten entsprechen, z.B. Sessel, Stuhl, kleiner Hocker › Diese Varianten des Sitzens zu einer Bewegungssequenz miteinander verbinden. Phrasierung Verschiedene Bewegungsbilder entwickeln zu den Themen: es eilig haben, bummeln, stolzieren, schlurfen › Bewegungsbilder zu einer Bewegungssequenz aneinander reihen. Rhythmus Durch den Raum gehen › A klatscht einen Rhythmus mit den Händen › Alle Teilnehmerinnen übernehmen den Klatsch-

86 Formgebung rhythmus › Das Gehen dem Rhythmus des Klatschens anpassen › Neuen Rhythmus klatschen. Rap Einen Satz (z.B. Dada-Gedicht, Rap) rhythmisch sprechen, die Bewegung an den Sprechrhythmus anpassen › Die Bewegungssequenz ohne Sprechen ausführen. Pause I: Rhythmus Im 4/4 Takt gehen. Dabei auf 1, 2, 3 jeweils einen Schritt gehen und auf 4 eine Pause machen › Auf 1, 2 jeweils einen Schritt gehen und auf 3, 4 eine Pause machen › Auf 1 einen Schritt gehen und auf 2, 3, 4 eine Pause machen. Pause II: Unterbrechung Zwei Personen führen eine Bewegungssequenz gleichzeitig aus › Beim Wiederholen baut jede Person an unterschiedlichen Stellen Pausen unterschiedlicher Dauer ein. Pause III: Gewahrwerden Durch den Raum laufen › Das Tempo steigern › Auf ein Zeichen bleiben alle in einem Still › Die Dauer der Pose proportional zur Dauer des Rennens setzen, sodass die vorherige Bewegung nachklingen kann. Beziehung Zwei Teilnehmende sind jeweils durch ein Körperteil miteinander in Kontakt › Die Bewegungssequenz entwickelt sich durch den Druck und Gegendruck beider Berührungspunkte › Die Bewegungssequenz staccato und legato ausführen. Umkehren bezeichnet die Wiederholung einer Bewegung oder Bewegungssequenz verbunden mit einem Richtungswechsel im Raum oder in der Abfolge. Zurück Eine Bewegungssequenz wählen. Diese zeitlich »rückwärts« tanzen | Eine Bewegungssequenz auf einer gewählten Linie durch den Raum festlegen. Diese beschleunigen und beim Umkehren verlangsamen | In einem Duo tanzt eine Person die Bewegungssequenz vorwärts, die andere rückwärts › Diese Se¯ quenzen jeweils unterschiedlich beschleunigen und verlangsamen. Scratchen wird in der Popmusik verstanden als das manuelle rhythmische Hin- und Herbewegen der Schallplatte auf dem

Form geben Plattenteller und bezeichnet in der körperlichen Bewegung eine Verbindung von Loopen, Umkehren und Fragmentieren. Vor-rück1 Eine Bewegung festlegen (also »vorwärts« ausführen) › Diese in der Abfolge und räumlich »rückwärts« ausführen › Diese Hin-und-Her-Bewegung loopen › Die Tempi verändern. Limitieren bezeichnet das Einschränken einer Bewegung oder Bewegungssequenz im Hinblick auf die Bewegungsparameter Körper, Raum, Antrieb, Form, Phrasierung und Beziehung. Limitieren des Raums Eine Bewegungsabfolge für vier Personen auf einer großen Fläche festlegen › Diese Abfolge auf eine wesentlich kleinere Fläche übertragen › Entsprechend das Material räumlich kleiner ausführen. Limitieren der Körperteile Einen großen Armkreis mit Oberkörperneigung auf das Kreisen eines Fingers reduzieren | Bewegungssequenz festlegen, in der immer mehrere Körperteile – außer den Füßen – den Boden berühren | Bewegungssequenz entwickeln, um vom unteren Raumlevel in den mittleren zu kommen und wieder in den unteren, ohne Unterstützung der Arme. Immer an der Wand lang Jede Person führt eine vorhandene Bewegungssequenz aus, indem sie ganz nah an der Wand steht oder sich an einer Wand entlang bewegt. Zeit durch Stoppuhr limitieren a hält mit einer Stoppuhr die Dauer der Bewegungssequenz von b fest › a führt eine Bewegungssequenz in der gleichen Zeitdauer wie b aus › b sagt »Stopp«, wenn die Zeit um ist › Mehrmaliges Wechseln. Entfernen bezeichnet das Herausnehmen von choreografischem Material, z.B. einzelnen Bewegungen oder Objekten. Phantom Ein Duo mit Körperkontakt auf ein Solo reduzieren: Das gleiche Bewegungsmaterial allein tanzen und sich den Partner vorstellen › Notwendige Bewegungsveränderungen vornehmen und mit dem Formgebungs-Tool Abstrahieren weiter gestalten.

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88 Formgebung Ballspiel Die Teilnehmenden spielen mit einem Ball › Der Ball wird aus dem Spiel genommen und das Spiel mit einem imaginären Ball weitergespielt. Brücke Eine Bewegungssequenz mit Sprung festlegen › Den Sprung entfernen › Die Sprungvorbereitung und das Landen tanzen. Prêt-à-porter Ein Kleidungsstück an- und ausziehen › Den Bewegungsablauf ohne Kleidung wiederholen.

Bewegungsanalyse

Steigern bezeichnet die Intensivierung einer Bewegung oder Bewegungssequenz im Hinblick auf: einzelne oder mehrere Bewegungsparameter | die Interpretation der Bewegung | die Formqualität.π Körper Eine Armbewegung steigern durch sukzessives Hinzunehmen anderer Körperteile, z.B. durch eine Rumpf- und Beinbewegung und Gewichtsverlagerung. Zeit Eine Bewegung loopen und im Accelerando verändern. Durch das schneller werdende Tempo die Bewegung verfremden bis sie absurd oder komisch wird. Antrieb Die Energie verdichten durch immer spannungsgeladenere Bewegungsausführung. Eine akzentuierte Armbewegung zum Körperzentrum über eine lange Dauer loopen und rhythmisch variieren, bis sie verzweifelt wirkt. Raum Eine kleine Bewegung in ihrer Amplitude steigern, also immer raumgreifender werden lassen. Beziehung Ein Duo tanzen, in dem anfangs viel Raum zwischen beiden Personen besteht, sich dann beide immer näher an- bzw. umeinander bewegen bis sie sich berühren und in ständigem Körperkontakt aneinander pressen. Transponieren meint die Übertragung einer Bewegung oder Bewegungssequenz auf ein anderes Körperteil oder auf eine andere Raumorientierung, z. B. durch Drehen oder Kippen. Körper Einen Armkreis auf ungewohnte Körperteile übertragen, z.B. auf Achselhöhle oder Ohrläppchen | Eine Bewegung mit

Form geben dem linken Bein auf den rechten Arm übertragen | Mögliche Formen von Sprüngen (auf dasselbe Bein, von einem Bein auf das andere Bein, von beiden Beinen auf ein Bein, von beiden Beinen auf beide Beine, von einem Bein auf beide Beine) auf die Arme übertragen. Wie können die Arme den Sprung darstellen? Raum um 90 Grad nach oben kippen Eine Bewegungssequenz auf dem Boden festlegen › Diese stehend in der senkrechten Achse ausführen. Raum um 90 Grad nach unten kippen Eine Körperhaltung im Stand festlegen › Diese auf den Boden legen. Raum um 90 Grad seitlich kippen Sich vorstellen, auf einem Fahrrad zu sitzen und in die Pedale zu treten › Sich auf die rechte Körperseite legen und die gleiche Bewegung im Liegen ausführen. Buchstaben Einen Buchstaben mit einem Körperteil in den Raum zeichnen › Diesen Buchstaben als Raumweg auf dem Boden gehen. Abstrahieren dient dazu, eine pantomimische, repräsentierende oder theatrale in eine abstrakte Bewegung zu übertragen. Das auslösende Medium (z.B. ein Vorstellungsbild) kann in der resultierenden Bewegung erkennbar sein, muss dies jedoch nicht. Das Abstrahieren kann durch die Anwendung der Bewegungsanalyse erreicht werden, indem die Bewegung in ihrem Antrieb modifiziert wird. Auch Tools zur Formgebung, z.B. Entfernen oder Transponieren, ermöglichen ein Abstrahieren. Vorstellungsbilder Sich bewegen wie eine Luftmatratze, die auf dem Wasser schwimmt › Die Antriebsaktionen einer auf unterschiedlichen Gewässern treibenden Luftmatratze erforschen › Einzelne Antriebselemente heraussuchen und als Bewegungsaufgaben formulieren, z.B. sich leicht und indirekt bewegen. Emotionen Einen Affekt auswählen, z.B. Hass › Welche Antriebselemente lassen sich mit Hass verbinden? › Einzelne heraussuchen und jeweils eine Bewegungsaufgabe formulieren, zum Beispiel kraftvoll, ankämpfend und schnell › Bewegungen zu einer Bewegungssequenz aneinanderreihen.

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90 Formgebung Gesten Eine Geste auswählen, z.B. winken › Die Bewegung der Geste mit der Hand ausführen › Andere Körperteile in die Bewegung mit einbeziehen, z.B.: die Handbewegung durch den Arm ins Schulterblatt bis zum Becken übertragen oder die Handbewegung durch den Arm und in den Torso laufen lassen, in den Knien nachgeben und das Becken zur Gegenseite herausschieben. Objekte Sich ein Möbelstück, z.B. einen Sessel, vorstellen und dieses mit der Hand wie mit einem Stift in den Raum zeichnen › Diese Bewegungsaufgabe auf ein anderes Körperteil transponieren: Dieselbe Aufgabe mit dem rechten Ohr ausführen. Blickrichtung gestalten Die Blickrichtung und ihr Verhältnis zur Bewegung sind zentral für die Bewegungsgestaltung. Das Wohin, Wann und Wie des Blickes kann differenziert gestaltet werden und der Blick-Modus kann während der Bewegung mehrmals verändert werden. Wohin? Räumliches Verhältnis Der Blick und die Bewegung laufen parallel, z.B.: Kreisen der rechten Hüfte und Kreisen des Blicks | Blick und Bewegung sind unabhängig voneinander: Blick auf einen Punkt fixieren und Bewegungen in verschiedene Raumrichtungen ausführen | Blick durch den Raum streifen lassen und Bewegung mit direktem Raumbezug gestalten | Blick und Bewegung erfolgen in Gegenrichtung. Wann? Zeitliches Verhältnis In unterschiedlichen Fortbewegungsarten durch den Raum bewegen › Mit Blick und Bewegung gleichzeitig in eine neue Richtung wechseln | Erst mit dem Blick in eine neue Richtung wechseln und dann den Körper folgen lassen | Erst den Fuß in eine neue Richtung drehen, dann den Körper und als letztes den Kopf und Blick folgen lassen | Erst den Blick neu ausrichten, dann einen Arm in diese Richtung führen | Erst den Arm in eine neue Richtung führen, dann Blick folgen lassen | Blick und Arm gleichzeitig nach oben ziehen. Wie? Objekt als Fixpunkt Die Gruppe geht durch den Raum › Kurze Bewegungssequenz entwickeln, z.B. mit einer Drehung und einem Bodenkontakt › Einen Punkt fixieren, z.B. das Kleidungsstück eines anderen Teilnehmenden oder die Deckenlampe ›

Form geben Bewegungssequenz mit fixiertem Blicks ausführen › Die räumliche Distanz zu dem fokussierten Punkt verändern. Wie? Panoramablick Alle Teilnehmenden gehen durch den Raum mit einem streuenden Blick, das heißt, ohne etwas Spezifisches anzuschauen › Dazu ein Bewegungsbild heranziehen: ein Samurai zu sein, der von allen Seiten von Gegnern umzingelt ist, die ihn im nächsten Moment angreifen könnten › Streuenden Blick beibehalten und dabei eine Bewegungssequenz ausführen › Wiederholen und zwischen fixierendem und streuendem Blick wechseln. Wie? Irrender Blick Gehen und geradeaus schauen › Dabei Richtung und Raumlevels verändern › Gleiche Bewegungssequenz mit »irrendem Blick« ausführen, also ständig die Blickrichtung ändern. Wie? Blick nach innen Beim Bewegungsmaterial eines Solos, das Einsamkeit thematisiert, den Blick nach innen gerichtet halten. Mit unterschiedlichem Blick-Modus Ein und dieselbe Bewegungssequenz mit räumlichen und zeitlichen Blickveränderungen sowie mit unterschiedlichen Blickfixierungen ausführen. Blick bei Drehungen Bei Drehungen vier Techniken ausprobieren, um mit Schwerkraft und Gleichgewicht umzugehen: Punkt fixieren, das heißt, während der Drehung den Fixpunkt so lange wie möglich beibehalten, dann einen Moment lang aufgeben und so schnell wie möglich wieder finden (nur bei Drehungen in senkrechter Mittelachse einsetzbar) | Blick folgt der Bewegungsrichtung | Blick löst die Drehung aus | Drehung löst den Blick aus.

Kontextualisieren Unter Kontextualisieren werden Techniken verstanden, die die Formung des Bewegungsmaterials in einen Rahmen stellen. Zu ihnen zählen: Kontrastieren | Homogenisieren | Pluralisieren | Fragmentieren | Verzerren | Ironisieren | Zitieren | Sampeln | Kommentieren.

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92 Formgebung Kontrastieren Eine Bewegung oder Bewegungssequenz wird in eine gegensätzliche Beziehung zu einer anderen Bewegung bzw. Bewegungsabfolge oder einem anderen Medium gebracht. Zeit- und Stilkontrast Zu klassischer Musik Bewegungsmaterial generieren, das einen Kontrast schafft: rollen, robben, kriechen, aufspringen › Das Bewegungsmaterial nicht im Takt der Musik ausführen sondern in einem autonomen Rhythmus › Das Material wird von mehreren Personen kreuz und quer im Raum verteilt getanzt ohne erkennbare Raumordnung. Homogenisieren bezeichnet die Vereinheitlichung unterschiedlicher Varianten einer Bewegungssequenz bzw. die Zusammenführung von unterschiedlichem Bewegungsmaterial zu einer Bewegungssequenz. Drei Soli homogenisieren Jeder legt eine Bewegungssequenz mit Drehung und Bodenpassage fest › Die Bewegungssequenzen präsentieren › Einzelne Elemente aus allen Bewegungssequenzen auswählen und zu einer neuen Bewegungssequenz zusammensetzen. Dabei mindestens ein Bewegungselement aus jedem Solo verwenden › Zusätzliche Übergänge von einem Element zum anderen einfügen › Diese Bewegungssequenz als Trio in verschiedenen Formationen ausführen, z.B. im Unisono oder als Kanon oder in völlig unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Pluralisieren Festgelegtes Bewegungsmaterial wird neu gestaltet, sodass zwar die zentrale Bewegungsidee erhalten bleibt, aber neue Umsetzungen in der Bewegungsausführung entstehen, bei denen die Vorlage möglicherweise nicht mehr erkennbar ist. Der Pluralisierungs-Effekt ergibt sich dadurch, dass mindestens zwei der Varianten gleichzeitig ausgeführt werden. Pluralisieren verknüpft Kopieren und Variieren . Unterschiedlichkeit Alle kopieren eine festgelegte Bewegungssequenz › Die Einzelnen variieren diese wahlweise mit den Tools Reduzieren, Steigern, Transponieren, Limitieren. Alle tanzen ihre Variante gleichzeitig | Einen Bewegungsablauf mit verschiedenen Bewegungsaktionen (z.B. Fallen, Aufstehen,

Form geben

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Umdrehen und Rennen) gleichzeitig, aber in unterschiedlichen Varianten ausführen. Sprung-Ausprägungen Einen festgelegten Sprung von einem Bein auf das andere ausführen › Sprung loopen und pluralisieren, z.B. durch Varianten im Blick-Modus, in der Höhe oder der Weite. Fragmentieren ist eine Strategie der Dekonstruktionπ durch Zerlegung von vorhandenem Bewegungsmaterial in einzelne Elemente und deren anschließende Neuordnung.

Komposition –› Verfahren

Cut’n’mix Eine festgelegte Bewegungssequenz in einzelne Phasen zerlegen, diese neu zusammensetzen. Körper fragmentieren Mehrere Körperzentren bestimmen und diese isoliert voneinander gleichzeitig zur Bewegungsinitiation einsetzen › Mit zwei Körperteilen gleichzeitig einen ausgewählten Punkt im Raum antanzen › Mit drei Körperteilen gleichzeitig zwei verschiedene Raumpunkte π antanzen. Verzerren Bewegungen oder Bewegungssequenzen werden fragmentiert und durch Übersteigerung verändert. Dieses Tool kann z.B. zur Hinterfragung von Bewegungskonventionen eingesetzt werden. Störfaktoren in Alltagsbewegungen Tics oder Handicaps in Bewegungen einbauen | Das Nesteln an Kleidung und Haaren in kurze Bewegungseinheiten zerlegen, diese in unterschiedlicher Reihenfolge wiederholen und übertreiben, z.B. durch Steigern der Kraft und Geschwindigkeit. Gesten verzerren z.B. die Handhaltung des Betens vergrößern und wiederholen. Ironisieren bezeichnet eine Strategie, zu symbolisch, gestisch oder mimisch aufgeladenen Bewegungen in Distanz zu treten und sie zu kommentieren. Ironisieren kann u.a. durch Steigern, Verfremden oder Verzerren hergestellt werden.

Festlegen und Erinnern –› Verfahren –› NeunPunkte-technik

94 Formgebung Gangarten Das Watscheln von Enten nachahmen, verändern und kommentieren | Gangarten entwickeln, die einen Charakter ironisieren, z.B. Charlie Chaplins Filmfigur. Anspielungen auf konventionelle Zeichensysteme Ein Tänzer trägt ein Tutu, das schmutzig ist, dessen Träger herunterhängt oder dessen Reißverschluss offen ist | In einem Brokatkleid mit dem Schrubber den Boden putzen. Zitieren Vorhandenes Bewegungsmaterial wird übernommen und als »Original« gekennzeichnet. Dies kann z.B. durch die Offenlegung des Unterschiedes zwischen Original und Zitat oder den Kontrast eines unpassenden Kontextes erreicht werden. Auf sich selbst verweisen Eine Bewegungssequenz aus einem eigenen Stück als Zitat in eine neue Choreografie einbauen. Auf einen anderen verweisen a kopiert eine Bewegungssequenz aus einem Stück von b und weist diese als Zitat aus. Durch das Zitieren werden Themen wie Identität, Repräsentation und Autorschaft zur Diskussion gestellt. Zitate als Zeichensysteme 2 Die Akteure wählen Gesten und Bewegungsmuster verschiedener Sozialfiguren aus (z.B. HipHopper, Rocker, Surfer, Freiheitskämpfer, Yuppie) und setzen diese zu einer Bewegungssequenz zusammen. Sampeln ist das Kopieren einer Bewegung in einen anderen Kontext. Anders als beim Zitieren wird die Bewegung neu kontextualisiert; das »Original« bleibt dabei erkennbar. Tanzstil-Sample Aus HipHop-Videoclips B-Boying-Szenen auswählen › Aus Stepptanzfilmen Tanzbewegungen auswählen › Aus künstlerischen Tanzvideos Bewegungen auswählen › Ausgewählte Bewegungen zu einer Sequenz zusammenstellen › Diese scratchen. Kommentieren Über Bewegung oder ein anderes Medium wird zu eigenem oder fremdem Material Stellung genommen. Das Kommentieren setzt eine inhaltliche Auseinandersetzung und eine reflektierende Haltung voraus.

Form geben Intermediales Kommentieren a spricht einen Text als Selbstdarstellung im digitalen Raum und stellt Behauptungen auf wie: ich bin schlank, mache alles sehr fix, habe lange, blonde Haare, einen sportlichen Körperbau, rasiere meine Achselhaare etc. › Die Behauptungen mit Bewegungen kommentieren, die sie betonen, sie kontrastieren bzw. die der Realität der Person entsprechen, so z.B. die fettig-strähnigen Haare hinters Ohr streichen, ungeschickt und schwerfällig eine Stretchbewegung als Joggingvorbereitung ausführen, Arm heben und Verletzungen, die beim Rasieren entstanden sind, zeigen.π

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Komposition –› Intermediale Komposition

96 Formgebung

FESTLEGEN & ERINNERN Dieser Baustein bündelt Tools und Verfahren, die sich zum Festlegen und Erinnern von generiertem oder geformtem Bewegungsmaterial eignen. Diese können in unterschiedlichen Arbeitsphasen eingesetzt werden z.B. zur Bewegungsgenerierung und Formgebung.

Tools Zu den Tools zum Festlegen und Erinnern zählen: Wiederholen | Akkumulieren | Imaginieren | Präzisieren | Zerlegen. Wiederholen Durch Wiederholung wird eine Bewegungssequenz oder Szene körperlich »gespeichert« und erinnerbar. Probe Eine Bewegungssequenz wieder aufnehmen und solange wiederholen, bis alle Details erinnert werden. Akkumulieren meint die Aneinanderreihung von Bewegungsmaterial nach dem Prinzip: Bewegung a ausführen, a wiederholen und Bewegung b hinzufügen, a plus b wiederholen und BeweKomposition gung c hinzufügen etc. –› Tools –› Kombinieren

Koffer packen Eine Fortbewegung festlegen › An die Fortbe-wegung eine Drehung anfügen › Wieder mit der Fortbewegung beginnen, die Drehung daran hängen und einen Sprung anfügen › Fortbewegung, Drehung, Sprung hintereinander ausführen und vierte Bewegung anfügen etc. Imaginieren ist ein Vorgang des geistigen Nachvollziehens von Bewegungen. Dies kann aus der Zuschauerperspektive erfolgen, z.B. indem man die Bewegungen wie durch eine Kamera aufgenommen sieht, oder aus der Perspektive der Eigenwahrnehmung, z.B. indem man sich selbst in der Bewegungsdurchführung erlebt und dabei die Bewegungssequenz markiert. Eigenwahrnehmung Eine Passage aus einer Choreografie auswählen, in der es Unklarheiten gibt › Die Augen schließen und sich selbst imaginär in der Bewegungsdurchführung erleben › Wenn

Festlegen & Erinnern

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unklare Momente auftauchen, Augen öffnen, die Bewegung real ausführen und klären › Wieder Augen schließen und Bewegungsdurchführung imaginieren › Auf diese Weise alle Passagen klären. Präzisieren ist eine Technik zum differenzierten Ausgestalten des Bewegungsmaterials. Dies kann über die Reflexion der Bewegungsparameter erfolgen oder darüber, dass die Bewegungssequenz zerlegt, in allen Ausprägungen ausprobiert, verfeinert und spezifiziert wird und dabei Entscheidungen zur Ausführung getroffen werden.π Unisono Alle führen dieselbe Bewegungssequenz aus › Bewegungsausführung anschauen (über Videoaufnahme oder über Wechsel von Akteur- und Betrachterrolle) › Bewegungsparameter prüfen: Koordinieren alle Beine und Arme auf dieselbe Weise? Initiieren alle die Bewegung mit dem gleichen Körperteil? Haben alle dieselbe Blickrichtung? etc. › Unisono variieren. Zerlegen Eine Bewegungsfolge wird in einzelne Bestandteile aufgeteilt. Dadurch reduziert sich Komplexität, die Einzelteile werden für den Prozess der Festlegung überschaubar. Die detaillierte Bewegungserinnerung fällt leichter. Ablauf Die Bewegungssequenz in einzelne Abschnitte einteilen › Einzelne Abschnitte definieren › Diesen ggf. einen Namen geben zur besseren Erinnerung. Bewegungsparameter prüfen Eine Drehung ausführen › Welcher Körperteil initiiert die Drehbewegung? In welche Richtung? Wie entsteht der Schwung? Wie koordinieren sich Arme und Beine? Wie ist das Gewicht verteilt?

Verfahren Zu den Verfahren zum Festlegen & Erinnern zählen: Bezüge herstellen (Festlegen und Erinnern über: Sprache, Situation, Bilder und Assoziationen, Narration, Körperempfindungen, Musik, Interaktionen) | Bewegungslogik aufbauen | Akkumulieren mit Stopp & Go | Laban-Bewegungsanalyse | Neun-PunkteTechnik | Inventarisierung von Bewegung | Aufzeichnen.

Komposition –› Tools –› Auswählen

98 Formgebung Bezüge herstellen Bei diesem Verfahren wird Bewegung mit prägnanten Erlebnisaspekten gekoppelt, um die Bewegung zu verankern und nachhaltig erinnerbar zu machen. Festlegen und Erinnern über Sprache Markante Bewegungen herausfiltern und benennen, z.B. in Bezug auf die Antriebselemente, die Formqualität oder ihre Beziehung zu anderen Körpern. Die Bewegung mental erfassen und Benennungen an die körperliche Ausführung koppeln. Die Namen dienen zur Verständigung und als Triggerworte, um die Bewegungserinnerung aufzurufen. Wasserschlauch Fließende, »spritzige« Bewegungen ausführen › Diese in Bezug auf den Bewegungsparameter Antrieb analysieren. Kraft/Gewicht: leichte Energie, Bewegungsfluss: frei, Raum: flexibel/indirekt, Zeit: plötzlich, schnell, kurze Bewegungen | Über die Klärung der Bewegungsparameter die Bewegung präzisieren und festlegen › Während der Bewegungsausführung die wichtigsten Antriebsbegriffe mitsprechen. Namedropping Einer Bewegung oder Bewegungssequenz einen Namen geben, z.B. eine spiralige Bewegung »Korkenzieher« nennen oder »hängende Brücke« als Bezeichnung für eine Bewegungssequenz, die vom oberen Raumlevel zum unteren und wieder zum oberen führt. Bewegung labeln Eine Geste oder Pose als wiedererkennbares Zeichen in Bewegung gestalten, z.B. Körperhaltung der New Yorker Freiheitsstatue | »Peace«-Zeichen | gestreckter Daumen als Zeichen für Autostopp. Festlegen und Erinnern über Situation Die konkrete Situation kann das Festlegen und Erinnern von Bewegung motivieren, z.B. Rahmenbedingungen, Personen, Befindlichkeiten, Ereignisse. Panne Der CD-Player funktioniert nicht, die Bewegungssequenz muss ohne Musik generiert werden › Die Bewegungsfindung wird von eigenen Lauten begleitet › Bei der nächsten Probe diese Töne erinnern und Bewegungssequenz wiederholen.

Festlegen & Erinnern Charakter in Bewegung Einen bestimmten Typus in Bewegung übertragen, z.B. aggressive alte Dame, schüchterner Typ › Formqualität herausarbeiten. Politikerrede Gestik, Mimik und Bewegungssprache eines ausgewählten Politikers bei einer Wahlkampfrede studieren › Bewegungssprache imitieren und transformieren wie z.B. bei Charlie Chaplins »Der große Diktator«. Festlegen und Erinnern über Bilder und Assoziationen Vorstellungen oder Begriffe, die mit Bewegungen verbunden werden, erleichtern die Erinnerung an die Bewegung und das Festlegen. Öffnung Brustbein heben und senken › Diese Bewegung mit dem Bild von Öffnen und Schließen koppeln. Gefühl Die gleiche Bewegung mit den Empfindungen von Glück und Trauer koppeln. Vorstellungsbild Eine Kugel durch den Körper rollen lassen und in der Bewegung dem Lauf der Kugel folgen. Festlegen und Erinnern über Narration Das Nachvollziehen der einzelnen Etappen des Verlaufes einer Erzählung wird als Hilfsmittel zum Rekonstruieren eines Bewegungsablaufs eingesetzt. Simulation Eine Bewegungssequenz folgt der Vorstellung des Zu-Bett-Gehens oder Aufstehens › Den Vorgang durchführen › Die einzelnen Bewegungen wiederholen und erinnern. Festlegen und Erinnern über Körperempfindungen Bewegungen können wieder erinnert werden, wenn die dazu gespeicherten Empfindungen wachgerufen werden. Psyche und Soma Das Bewegungsgefühl eines schmerzenden Magens, steifen Nackens, Hexenschusses auf andere Körperteile übertragen. Festlegen und Erinnern mit Hilfe von Musik Prägnante Merkmale von Musikstücken mit bestimmten Bewegungen verbinden.

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100 Formgebung Akzente Musikakzente nutzen, um Bewegungsaufgaben auszulösen › Einzelnen Akzenten eine Bewegungsaufgabe zuordnen, z.B. beim Endakkord einer musikalischen Phrase in Still wechseln, beim Einsatz eines bestimmten Instruments im Refrain ändern alle die Bewegungsrichtung. Wiederholung nutzen Beim Refrain immer dieselbe Bewegungssequenz tanzen. Rhythmus definieren Rhythmus finden, klatschen und mit Tönen untermauern › Synchron dazu eine Bewegungssequenz festlegen › Die Bewegungssequenz ohne Klatschen und Ton ausführen. Festlegen und Erinnern über Interaktionen Die Beziehung zu einer anderen Person (oder zu mehreren Personen) bildet den ausschlaggebenden Aspekt für die Wiederholbarkeit. Körperkontakte Einzelne Körperteile auf einen Zettel schreiben › Jede Teilnehmende zieht eine bestimmte Anzahl von Zetteln › a gibt b einen Bewegungsimpuls über das gezogene Körperteil › b gibt einen entsprechenden Bewegungsimpuls an c etc. Bewegungslogik aufbauen Bei diesem Verfahren wird die Logik einer Bewegungsfolge herausgefiltert bzw. eine solche für bestimmte Sequenzen festgelegt. Auf diese Weise wird der Ablauf einer Choreografie leichter nachvollziehbar. Dem Flow folgen Einen Bewegungsimpuls in einem Körperteil auslösen und der Bewegung folgen › Bevor die Bewegung ausklingt, einen neuen Impuls geben etc. Kettenreaktionen Folgende Aufgaben immer wieder wiederholen: fortbewegen, stehen bleiben, zu Boden gehen, aufstehen, fortbewegen › Dabei die Art und Weise unterschiedlich gestalten. Akkumulieren mit Stopp & Go 3 Mit diesem Verfahren kann Bewegungsmaterial in einer regelgeleiteten Improvisation festgelegt und erinnert werden.

Festlegen & Erinnern

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Interaktion Alle Akteure entwickeln ein Solo und führen dieses aus › Nach der Aufforderung »Stopp«, halten alle inne und imaginieren die Bewegungen, die sie bisher gemacht haben › Bei »Go« beginnen alle wieder von vorn, wiederholen die Bewegungen und fügen weiteres Bewegungsmaterial an › Bei erneutem »Stopp« merken sich alle ihre Bewegungen etc. Laban-Bewegungsanalyse Dieses Verfahren zum Festlegen und Erinnern nutzt die von Rudolf von Laban entwickelte Bewegungsanalyse.

Bewegungsanalyse

Explorieren, Präzisieren, Festlegen Welche Bewegungsparameter kennzeichnen das Bewegungsmaterial? Bewegungssequenz analysieren und Entscheidungen zum Festlegen der Bewegungssequenz treffen › Welcher Körperteil initiiert die Bewegung? Bewegung wiederholen und dabei das Körperteil festlegen › In welche Raumrichtung zielen die einzelnen Bewegungen? Auf welchen Raumlevels vollzieht sich die Sequenz? › Wie ist jeweils das Gewicht verteilt? Die Gewichtsverlagerung bei der ersten Bewegung festlegen, die bei der zweiten etc. › Berührt der Körper eine andere Person oder ein Objekt? Die Berührungsflächen und die Qualität der Berührung festlegen › Ändern sich die Antriebselemente der Bewegung ( z.B. plötzlich–verzögert, direkt–indirekt)? Analysieren und festhalten. Neun-Punkte-Technik Die Neun-Punkte-Technik basiert auf der Laban-Bewegungsanalyse. Sie thematisiert die Organisation von Bewegung im Raum und ist daher auch als Verfahren zum Festlegen und Erinnern nutzbar. Ausgehend von einem kubischen Raummodell wird Bewegung in drei Raumlevels mit jeweils neun Raumpunkten, insgesamt mit Hilfe von 27 Punkten, beschrieben. Der Bewegende imaginiert seinen Körper inmitten des Kubus und bewegt sich in Beziehung zu den definierten Raumpunkten, wobei alle Punkte des Körpers (z.B. eine Hand, Schulter, ein Knie oder der Rücken) zur Bewegungsinitiation und Bewegungsformung genutzt werden. Die Neun-Punkte-Technik basiert auf einem multizentrischen Bewegungsansatz ohne ein festgelegtes Komposition Körperzentrum und auf einem dezentrischen Raumkonzept.π –› Parameter

102 Formgebung 1 2

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Partielle Festlegung Mit den Händen nacheinander verschiedene Raumpunkte antanzen › Mit anderen Körperteilen verschiedene Raumpunkte antanzen › Einen Raumpunkt nicht nur frontal antanzen sondern auch seitlich oder rücklings › Vier Raumpunkte und vier Bewegung initiierende Körperteile auswählen › Je einen Raumpunkt mit einem Körperteil koppeln › Die vier Raumpunkte in immer wieder unterschiedlicher Reihenfolge mit dem jeweils zugeordneten Körperteil antanzen › Den Bewegungsweg von einem Raumpunkt zum anderen immer wieder spontan neu gestalten. Inventarisierung von Bewegung ivb4 dient der Beobachtung, Analyse, Interpretation von Bewegungssequenzen und fungiert zudem als Mittler im Sinne eines Kommunikationsmodells. Als Verfahren zum Festlegen und Erinnern ist dieser Ansatz nutzbar, da er Bewegung als einen komplexen Vorgang motorischer Aktivität begreift: »Mobilisieren« lokalisiert die Bewegung im

Festlegen & Erinnern Körper | »Koordinieren« erläutert die Bewegung der Gelenke | »Belasten« beobachtet die Körperschwere in ihren Auswirkungen auf den Bewegungsapparat | »Regulieren« setzt sich mit Kraft und Zeit auseinander, da diese Aktivität die Tätigkeit der Muskeln im Umgang mit der Körperschwere bzw. die zeitliche Gliederung des Bewegungsvorgangs kontrolliert. Mobilisieren Sich entscheiden, welches Körperteil wann bewegt werden soll, z.B. ob man zunächst nur den linken Ellenbogen bewegt und dann auch die rechte Ferse oder ob man beide Bewegungen gleichzeitig vollzieht. Koordinieren Beobachten, ob sich z.B. beim Beugen beider Beine und beim Zusammenziehen des Rumpfes auch die Arme vor dem Rumpf kreuzen. Belasten Beobachten, wie z.B. das Körpergewicht durch einen Schritt vom linken auf den rechten Fuß übertragen wird. Regulieren Beobachten, über welchen Zeitraum z.B. eine Beschleunigung eines Bewegungsablaufs stattfindet. Erinnern eines Solos mit ivb Die Choreografie eines Solos für eine Wiederaufnahme rekapitulieren › Wie wird mit Mobilisieren, Koordinieren, Belasten und Regulieren in den Bewegungssequenzen umgegangen? Aufzeichnen Aufzeichnungen dienen der Dokumentation einer Probe oder der Choreografie. Sie erfassen die Bewegung weder »objektiv«, da das Aufzeichnungsmedium, z.B. durch Zweidimensionalität, diese verändert, noch »subjektiv«, da die Wahrnehmung oder Interpretation des Ausführenden nicht aufgezeichnet werden kann. Deshalb sind sie nicht vergleichbar mit der direkten Weitergabe choreografischen Materials in einer Face-to-Face-Kommunikation. Aufzeichnungen können eingesetzt werden als: Werkzeug der Erinnerung für Wiederaufnahmen nach Proben- oder Spielpausen | Ausgangspunkt für die Vermittlung einer Choreografie an andere Akteure | Bestandteil oder Konzept der Aufführung | Mittel für

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104 Formgebung Reflexion und Erkenntnis. Die Dokumentationsabsicht verändert die Art der Aufzeichnung, je nachdem, ob sie für die Öffentlichkeit gedacht ist oder nur für die Beteiligten einer Produktion gemacht wird. Die Aufzeichnung kann während des Prozesses erfolgen | inszeniert sein, z.B. als Arbeitstagebuch veröffentlicht werden | zur Archivierung benutzt oder ins Internet gestellt werden. Aufzeichnung durch Notationssysteme Notationen dienen dazu, Bewegung und Choreografie mit Hilfe schriftlicher, grafischer, musikalischer, figuraler und abstrakter Zeichen zu entwickeln, zu dokumentieren, zu analysieren und zu rekonstruieren. Notation übersetzen Eine historische oder zeitgenössische Notation auswählen und das Zeichen- oder Bildsystem in Bewegung und Choreografie übersetzen. Dabei geht es nicht um die Rekonstruktion eines Originals, sondern um eine kreative Umsetzung der Aufzeichnung. Spielmuster

Aufzeichnung mit Hilfe von Scores Scoresπ sind Sets von Anweisungen. Diese können verschriftlicht und in verschiedene – auch selbst erdachte – Zeichensysteme übertragen werden, z.B. mit Stichpunkten, Strichmännchen, Kürzeln. Choreografisches Notizbuch Notizbuch am Anfang der Proben anlegen › Eine eigene Form von Aufzeichnungssystem im Laufe des Prozesses entwickeln › Raumwege, Hinweise zu den Bewegungen und Sonstiges eintragen. Kartografie 5 Eine Aufzeichnung von Raumwegen und Orientierungspunkten einer Bewegungssequenz oder Choreografie wird in Form einer Karte angefertigt › Die Raumwege aller Beteiligten werden aus der Vogelperspektive aufgezeichnet, ebenso andere Raumkoordinaten, z.B. Orte, an denen Objekte stehen › Wichtige Aktionsplätze sind markiert und mit Angaben versehen, unter welchen Bedingungen dort Aktionen ausgeführt werden sollen. Probenprotokoll Im Probenprozess ein Materialbuch anfertigen mit täglichen Probenprotokollen › Darin Verlaufsprotokolle der Szene notieren › Eigene, eventuell intermediale Notationsformen erfinden.

Festlegen & Erinnern

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Score erinnern Einen Score aufzeichnen › Diesen fotografieren bzw. fotokopieren und archivieren oder als Gedächtnisstütze an die Wand des Probenstudios hängen. Medientechnisches Aufzeichnen umfasst Dokumentation und Transformation von Choreografie durch bildtechnische Verfahren wie Fotografie, Video, Film und deren Repräsentation in elektronischen Speichermedien wie dvd, Internet, Webseiten, OpenFormen Source-Plattformen oder Interfaces.π Computergestützte Aufzeichnung erlaubt die digitale Bearbeitung der aufgezeichneten –› Kollektiv Bewegung. Computerprogramme, die Bewegung digital erzeugen, ermöglichen zudem das Schreiben von Bewegung mit Hilfe von grafischen Animationen bzw. interaktivem Mediendesign . Filmdokumentation Eine Szene mit einer Videokamera filmen, anschauen und in Bezug auf Veränderungen auswerten | Eine Generalprobe mit dem Durchlauf des gesamten Stückes filmen, anschauen und in Bezug auf Veränderungen auswerten. Digitale Dokumentation Per Computer mit eingebauter Kamera und der Möglichkeit der Integration von Text an jedem Probentag das choreografische Material eines Solos aufnehmen | Dieses jeden Abend mit einer Mixed-Media-Technik ins Internet stellen. Digitale Erzeugung von Bewegung6 Ein multi-disziplinäres Forschungsprojekt wird mit dem Ziel der Dokumentation und Notation einer künstlerischen Arbeit initiiert | Ein Team von Experten kommt zusammen, z.B. aus den Bereichen Notationssysteme, Kinematografie, Computerbasierte Bewegungsanalyse, Interaktives Mediendesign | Der choreografische Prozess oder die Aufführung der Choreografie kann in unterschiedlichen Formaten dokumentiert werden, z.B. in Form eines Buches, Films, einer interaktiven dvd-rom | Im Buch erscheinen Scores, Probenprotokolle etc. | Auf einer dvd wird die Choreografie festgehalten | Eine interaktive dvd-rom stellt ein Notationssystem zur Verfügung, in dem der Nutzer innerhalb vorgegebener Optionen selbst aktiv die Notationsform mitgestalten kann.

106 Formgebung Motion Capturing7 Am Körper werden Sensoren angebracht, die mittels Motion-Capturing die Raumposition und Ausrichtung von Körperpunkten in einem magnetischen Feld erkennen › Die gelesenen Daten können von einem Computer in Echtzeit z.B. in eine Grafik oder eine Tonfolge übertragen werden.

Festlegen & Erinnern

107

108

109

Spielweisen Choreografische Spiele sind regelgeleitete, strukturierte Improvisationen. Sie bestehen aus einer offenen Interaktionsordnung mit einem nicht planbaren Ausgang, aber mit einem definierten Anfang und Ende. Der Verlauf des Spiels hängt von den Spielregeln und von den Interaktionen zwischen den Spielern sowie den Aktionen einzelner Spieler ab. In jedem Spiel wird das Ver¯ hältnis von Ordnung und Zufall, Struktur und Performanz durch Regeln gerahmt, die entweder vorgegeben oder kollektiv entwickelt werden bzw. im Prozess des Spiels erst entstehen.

SPIELMUSTER

111 Spielregeln 112 Spielzeit

CHOREOGRAFIEREN ALS SPIEL

118 Spielarten 118 kompetitiv 121 mimetisch

112 Scores 115 Re-Formulieren 116 If/then-Methode

122 aleatorisch 124 Spiel als EchtzeitKomposition

110 Spielweisen Spiele lassen sich als choreografisches Werkzeug, Thema, Verfahren oder als Aufführungskonzept verwenden. Hierbei kann das Verhältnis von Spiel und Choreografie selbst reflektiert und zum Thema choreografischen Forschens werden. Damit lassen sich Wahrnehmungen und Gewohnheiten befragen oder Erwartungen in Bezug auf Choreografie thematisieren. Beim Spiel als choreografischem Verfahren werden kultur- und theatertheoretisch relevante Konzepte wie Augenblicklichkeit, Ereignis, Präsenz, die Interaktion von Akteuren und Publikum, Aufführung die Partizipation des Publikumsπ oder die Bühnensituation angesprochen. Spiele können gleichberechtigt oder hierarchisch organisiert sein und auf verschiedenen Formen der ZusammenFormen arbeit π beruhen. Einsatzmöglichkeiten: Zur Sensibilisierung der Beteiligten, z.B. in Bezug auf Gruppenwahrnehmung, Raumwahrnehmung, unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit | zur interaktiven Generierung von Bewegungsmaterial | zur Integration des Bewegungsmaterials Einzelner in die Choreografie | als spezifisches Auf führungskonzept | als choreografisches Verfahren in einer Echtzeit-Komposition | als Mittel zur Reflexion choreografischer Ordnung.

Spielmuster

SPIELMUSTER Um den Aktionsrahmen, innerhalb dessen sich ein Spiel entwickelt, abzustecken, werden Regelwerke gebildet, die einen bestimmten Satz an Entscheidungen festlegen. Diese können vor dem Spiel oder während des Spiels bestimmt und verändert werden. In einer Aufführung kann das Regelwerk des choreografischen Spiels intransparent gehalten oder dem Publikum transparent gemacht werden. Beiden Varianten liegen Entscheidungen zugrunde, z.B. ob beabsichtigt ist, die Regeln von Improvisationen als performativen Ordnungen der Choreografie selbst zum Thema zu machen.

Spielregeln Ein Spiel kann aus einer oder mehreren Regeln bestehen. Regeln können offen, geschlossen, einfach oder komplex formuliert sein. Der Vorgang der Regelfindung im choreografischen Prozess kann den Prinzipien folgen: Thematisieren: Auswählen des Spielthemas (durch Gruppe oder Einzelnen) › Selektieren: Erfinden der Regeln für das Spiel › Explorieren – Generieren: Erforschen des Themas mithilfe von Improvisationsaufgaben im Rahmen der vorgegebenen Regeln › Reflektieren: Auswerten des Spielverlaufs und der Bewegungslösungen und Entwickeln von Vorschlägen zur Veränderung der Spielform › Modifizieren: Nutzen der Erfahrungen des Explorierens und Reflektierens zu eventuellen Änderungen des Spielthemas, der Aufgabenstellungen, der Spielregeln oder der Spieleranzahl › Entscheiden: Festlegen des Regelwerks nach mehrmaligem Ausprobieren und erneutem Variieren. Das Regelverhalten kann über den On- und den Off-Modus erfolgen, die den Akteuren im Spielverlauf eine Rolle zuweisen: Beim On-Modus ist der Akteur aktiv im Spielfeld an der Szene beteiligt, beim Off-Modus ist der Akteur ein Beobachter neben dem Spielfeld. Die Modi können ständig wechseln, z.B.: Alle Akteure im Off-Modus verteilen sich an den beiden Seitenwänden › Die freie Fläche bildet das Spielfeld für den On-Modus ›

111

112 Spielweisen Während der Szene können die Akteure wahlweise ins Spielfeld gehen oder sich an die Seitenwände zurückziehen.

Spielzeit Anfang und Ende des Spiels kann auf verschiedene Weise bestimmt werden, z.B.: Das Erreichen einer Punktezahl bestimmt das Ende des Spiels | Die Spieldauer wird durch ein Zufallsverfahren ermittelt, beispielsweise durch würfeln: die Zahl bestimmt die Minuten | Der Spielbeginn wird von der Choreografin im Vorhinein festgelegt | Ein Zählwerk bestimmt Anfang und Ende, z.B.: Ein Spielleiter bedient einen Wecker, der auf drei Minuten gestellt ist, oder ein Spielleiter gibt per Stoppuhr Anfang und Ende vor.

Scores Scores sind Sets von Anweisungen. Diese können verschriftlicht und in verschiedene – auch selbst erdachte – Zeichensysteme übertragen werden. Die Aufzeichnung von regelgeleiteten Improvisationen oder Spielformen kann z.B. durch Schrift, Text, Karte, Bild, Zeichnung oder Skizzen erfolgen. Ein Score kann unterschiedliche Informationen enthalten, z.B. Angaben für Zeiten, Raumnutzung, Anzahl der Tänzer, Beziehung der Tänzer, Szenenfolgen, Bewegungsausführungen. Die Aufzeichnung eines Scores kann Zeit- und Raumnotationen, Notizen für die Raumwege, sowie Figuren, Icons, Symbole oder Texte enthalten. Scores setzen einen orientierenden Handlungsrahmen. Im Unterschied zu Notationssystemen wie der Kinetografie von Rudolf von Laban oder der Benesh Movement Notation zielen choreografische Partituren nicht darauf ab, die Bewegungsabfolgen zu dokumentieren und eine Choreografie in ihrem Verlauf abzubilden, so dass sie durch die Notation wieder rekonstruierFestlegen & bar ist.π Ein Score kann vor, während oder nach der ChoreograErinnern –› fie erstellt werden, die Aufgabenstellungen für eine Choreografie Verfahren –› organisieren oder Ergebnis einer Choreografie sein. Aufzeichnen

Spielmuster

113

Einsatzmöglichkeiten Als Verfahren zur Generierung von Bewegungsmaterial | als Grundlage einer Echtzeit-Komposition | als Kommunikationsmittel zwischen Choreograf und Akteuren | als Reflexionswerkzeug | als Tool zum Erinnern und Festlegen von Bewegungπ | als Aufzeichnung zum Zweck der Archivierung. Getanzte Typografie Ein Wort im Computer in verschiedenen Schriftarten, z.B. »Wingdings« und »Symbol«, schreiben › Jeder Akteur wählt einen Schrifttyp und verwendet dieses gedruckte Wort als Score › Eine Partitur schreiben, indem man z.B. Zeichen miteinander verbindet, Linien ergänzt, ein Wort hinzufügt oder Buchstaben ausmalt › Diese Zeichnung in Bewegung übersetzen, z.B. als Raumwege und Antriebsaktionen. Score mit Bewegungsparametern Schreibaufgabe: Eine Tabelle mit vier Spalten und fünf Zeilen erstellen und vier Rubriken in der Vertikalen bilden: Körperteile, Zahlen 1 bis 4, Buchstaben a, b, c und Strich oder Kreis: Körperteile

1⁄2⁄3⁄4

a⁄b⁄c

strich/kreis

Erste Spalte ausfüllen: in jede Zeile ein Körperteil schreiben › Zweite Spalte ausfüllen: in jede Zeile je eine Zahl von 1 bis 4 schreiben. Es müssen nicht alle Zahlen verwendet werden. Eine Zahl kann mehrmals verwendet werden › Dritte Spalte ausfüllen: in jede Zeile je einen Buchstaben von a–c schreiben. Es müssen nicht alle Buchstaben verwendet werden. Ein Buchstabe kann mehrmals verwendet werden › Vierte Spalte ausfüllen: in jede Zeile je einen Strich oder Kreis schreiben. Es müssen nicht beide Zeichen verwendet werden. Schreibaufgaben mit Bewegungsaufgaben verknüpfen: Körperteile: mit dem angegebenen Körperteil die Bewegung initiieren › Zahlen: die Zahlen 1 – 4 den vier Himmelsrichtungen zuordnen. Die Bewegung in die durch die Zahl vorgegebene Raumrichtung ausführen › Buchstaben: bei a eine Bewegung im oberen

Festlegen & Erinnern –› Verfahren –› Aufzeichnen

Bewegungsanalyse

114 Spielweisen Raumlevel ausführen, bei b im mittleren, bei c im unteren Raumlevel › Strich oder Kreis: beim Strich einen direkten Bewegungsweg in die Raumrichtung vollziehen, beim Kreis einen Umweg. Kompositionsaufgaben: Jeweils alle Einträge einer Zeile miteinander verknüpfen und daraus eine Bewegung gestalten › Mit dem Tool zur Formgebung »Akkumulieren« die vier Bewegungen in einer festgelegten Bewegungssequenz aneinander hängen. Beispiel eines entstandenen Scores:

körperteile

1⁄2⁄3⁄4

a⁄b⁄c

strich/kreis

nase

1

b

i

linkes knie

1

c

o

rechte ferse

2

c

o

becken

4

a

i

Comic Wie in einem Comic-Heft den Bewegungsverlauf in Einzelbildern zeichnen, z.B.: alle Beteiligten skizzieren, Namen geben, Bewegungsbilder oder Bewegungsmetaphern in Sprechblasen schreiben › Choreografieanweisungen, Notizen unter die Einzelbilder schreiben, Pläne mit Raumwegen einfügen. Fotomontage Ein Fotoportrait von jedem Teilnehmenden erstellen › Während der Proben von jeder Szene ein Foto machen › Zu diesem Foto wichtige Informationen der Szene notieren bzw. zeichnen › Wenn die Szenenabfolge der Choreografie festgelegt ist, können Porträts und Szenenfotos samt der Notizen zu einer choreografischen Partitur zusammengestellt werden (für das Plakat, Programmheft oder als Ausstellung zu der Choreografie). Score transformieren Auf Post-it-Zettel Bezeichnungen für Antriebsaktionen schreiben › Für jedes Post-it eine KompositionsBewegungen aufgabe erfindenπ › Die Post-its auf einem Papierbogen anordnen entwickeln › Diese mit einem Stift miteinander vernetzen und eine Reihenfolge einzeichnen › Den Score mit einer Digitalkamera fotografieren › Die Post-its auf einem neuen Bogen in einer neuen

Spielmuster

115

Anordnung aufkleben › Diese mit einem Stift miteinander vernetzen und eine Reihenfolge einzeichnen › Den Score fotografieren › Beide Reihenfolgen jeweils in eine Bewegungssequenz übertragen und zueinander in Beziehung setzen. Re-Formulieren1 beschreibt eine kollektive Arbeitsweise. Die Materialentwicklung ist ein gemeinschaftlicher Vorgang, der auf mehreren Arbeitsschritten zwischen den Teilnehmenden beruht, die gemeinsam das vorhandene Material immer weiter entwickeln. Bei dem weiterzugebenden Material kann es sich um Bewegung, Text, Bild oder Klang handeln, z.B. entwickeln die Beteiligten gemeinsam Texte, die als choreografische Partituren fungieren. Die Medien können auch während der Weitergabe variieren, z.B. kann ein Musikstück als Text oder ein Bild als Bewegung weitergegeben werden. Das Verfahren kreiert eine gemeinsame Autorschaft. Fortbewegungsarten und Bewegungsqualitäten Alle Beteiligten sitzen im Kreis › Jeder hat ein Blatt Papier und schreibt darauf zwei Fortbewegungsarten als Verb, z.B. schlurfen, stolpern › Alle geben ihre Blätter an die Person links im Kreis weiter › Jeder schreibt auf das neu erhaltene Blatt zwei weitere Fortbewegungsarten › Alle geben ihre Blätter nach links weiter › Jeder schreibt auf das neu erhaltene Blatt zwei Antriebselemente in Adjektivform, z.B. frei, verzögert › Alle geben ihre Blätter nach links weiter › Jeder schreibt auf das neu erhaltene Blatt zwei andere Antriebselemente › Alle geben ihre Blätter nach links weiter › Jeder wählt eine Fortbewegungsart aus und verbindet sie grafisch mit einem Antriebselement, z.B. durch Strich oder Pfeil › Fortfahren, bis alle Fortbewegungsarten mit Antriebselementen verknüpft sind › Alle geben ihre Blätter nach links weiter › Alle wählen gleichzeitig eine Fortbewegungsart mit dem dazugehörigen Antriebselement aus, streichen die Worte auf dem Blatt durch und übersetzen sie in Bewegung › Die Blätter nach links weitergeben, bis alle Wortpaare durchgestrichen sind › Jeder Teilnehmende legt die von ihm gewählten Bewegungen zu einer Bewegungssequenz fest.

Formen

116 Spielweisen Bewegung – Text – Komposition2 Jeder Teilnehmende generiert eine Bewegungssequenz › Jede Bewegungssequenz filmen › Gemeinsam die Bewegungsporträts unter verschiedenen Perspektiven betrachten (z.B. Assoziationen zur Formqualität) › Bewegungsbeschreibung: Alle Beteiligten notieren kurz und prägnant zu Bewegungsporträt a Bemerkungen zur räumlichen Ausprägung der Bewegung › Das Blatt nach links an die nächste Person weitergegeben › Das bereits Notierte um eigene Bemerkungen, z.B. zum Bewegungsausdruck des Bewegungsporträts a, ergänzen › Das Blatt nach links weitergeben › Durch weitere Notizen kollektive Textsammlungen zu jedem Bewegungsporträt anlegen und diese jeweils als Textscore benutzen › Jeder Teilnehmende erhält einen Textscore, der nicht sein eigenes Bewegungsporträt wiedergibt, z.B., indem jeder den eigenen Textscore ein- oder zweimal nach links weitergibt › Der Score wird von jedem einzeln choreografisch umgesetzt, z.B. indem ausgehend vom Text konkrete Bewegungsaufgaben formuliert werden | Variante: Alle Beteiligten setzen einen Textscore um, wobei diejenige, auf deren Bewegungsporträt sich der Score bezieht, als Choreografin das Bewegungsmaterial zu einer Choreografie Komposition zusammenstellt.π Die If/then-Methode3 ist eine als Spiel konzipierte Echtzeit-Komposition, die in der Bewegungsgenerierung, Formgebung, Komposition und Aufführung eingesetzt werden kann. Sie ist interaktiv ausgelegt, formal angelegt und folgt einem temporalen und kausalen Prinzip: »Wenn du x machst, dann mache ich y.« Spielregel: Zwei Personen spielen miteinander, mehrere Paare können gleichzeitig spielen. Zu Beginn legen die Paare eine Anfangsposition fest, einer der beiden gibt die erste Bewegung vor, der zweite antwortet. Mehrere Wenn/dann-Sätze, die aneinander anschließen, bilden Aktionsketten. Besteht die Reaktion in zwei oder mehreren Optionen, ergeben sich mehrdeutige Aktionsketten: »Wenn du x machst, dann mache ich n oder auch z.« Aktionskette Ausgangsposition: A steht, B liegt. »Wenn du dich im mittleren Raumlevel schnell fortbewegst(x), dann bewege ich mich langsam im unteren Raumlevel(y)« – »Wenn ich

Spielmuster eine Pose einnehme(z), bewegst du dich langsam am Platz im mittleren Raumlevel(n) oder langsam im unteren Raumlevel(m)«. › Diese Kettenreaktion kann geloopt werden: »Wenn ich mich wieder im unteren Raumlevel bewege, dann bewegst du dich im mittleren Raumlevel schnell fort« etc. If/then mit On/off-Modus Einzelne Partner können das Spielfeld verlassen, neue kommen ins Spielfeld; es bilden sich neue Paare, die die Aktionskette fortsetzen können. If/then mit Tools zur Formgebung Die Zeit variieren, indem die Bewegungssequenz langsamer oder schneller ausgeführt wird › Den Raumbezug variieren: andere Positionen im Raum, andere Raumlevels wählen. If/then notieren Während des Spielablaufes eine Notation entwickeln, die als Erinnerungshilfe dient › Notation als Grundlage für einen neuen If/then-Prozess verwenden, indem die Wenn/dann-Beziehungen neu hergestellt werden.

117

118 Spielweisen

CHOREOGRAFIEREN ALS SPIEL Dieser Baustein präsentiert spielerische Zugänge vor allem zur Generierung von Bewegungsmaterial. Diese können motivierend für die Bewegungsfindung sein, stimulierend auf die Gruppenarbeit wirken und choreografische Ideen provozieren. Der Baustein versammelt verschiedene Spielarten und thematisiert das Spiel als kompositorisches Prinzip in einer Echtzeit-Komposition.

Spielarten Angeregt durch die Spielforschung weden im Folgenden verschiedene Spielarten von choreografischen Spielen aufgelistet. Diese können kompetitiv | mimetisch | aleatorisch angelegt sein. Kompetitive Spiele Zu den kompetitiven Spielen gehören alle Wettkampf- und Wettbewerbspiele, z.B. Ratespiele, Wissensspiele, Sportspiele. Die Charakteristika dieser Spiele – als Einzel- und Gruppenspiele – werden auf eine choreografische Ordnung übertragen. Kompetitive Spiele können herangezogen werden, um Konkurrenz, Erfolg, Ziel-, Leistungs- und Ergebnisorientierung, die Lust am Extremen oder auch das Bedürfnis, ein Star zu sein, zu thematisieren. Spiele dieser Kategorie fokussieren auf die Intensität und Spannung des Augenblicks, die Ungewissheit des Ausgangs, das Glück des Gelingens aber auch die Gefahr des Scheiterns. Ratespiel Ein Computerspiel wie z.B. »Mario« als Anregung nehmen. Daraus verschiedene Figuren wie die Prinzessin Peach oder das Tier Yoshi auswählen › Für jede Figur eine charak teristische Bewegungssequenz festlegen › Partneraufgabe: a zeigt eine Bewegungssequenz, b errät die Figur. Wenn b richtig geraten hat, zeigt b eine Bewegungssequenz. Wenn b falsch geraten hat, zeigt a eine zweite Bewegungssequenz etc. › Das Quiz als Aufführung, als interaktive Spielform mit Partizipation des Publikums Aufführung einsetzen.π

Choreografieren als Spiel

119

Verhältnis Sportspiel und Choreografie4 Dieses Beispiel zielt darauf ab, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Choreografie und Sportspiel zu erproben. Zunächst Fragestellungen sammeln, z.B.: Worin unterscheiden sich Sportspiel und Choreografie? Was ist ihnen gemeinsam? Welche Funktionen haben Bewegungen in der Choreografie und im Sportspiel? Welche Regeln gelten im Sportspiel oder einer Choreografie? Wann und warum werden Bewegungsaktionen als Sport oder als Tanz wahrgenommen? › Ein Spiel auswählen und dessen Spielregeln auf Choreografie übertragen, z.B. Basketball › Drei Gruppen bilden › Zwei Gruppen spielen Basketball › Gruppe 3 notiert außerhalb des Spielfelds das Interaktionsgeschehen, z.B. Raumverhalten, Inter- aktionen, Dynamik › Spielregel variieren: den Ball entferForm geben –› nen und das Spiel ohne Ball ausführenπ › Gruppe 3 notiert das Interaktionsgeschehen ohne Ball › Bewegungsmuster variieren Tools –› Variieren und dies als Regel für einzelne oder alle Spieler formulieren: sich mit Dribbelbewegungen fortbewegen, diese rhythmisch variieren, Bewegungsablauf langsam oder schnell ausführen, Bewegungspausen einbauen, eine Bewegungsfigur wie den Korbwurf mehrmals hintereinander wiederholen › Bewegungsraum verändern: das Spiel ohne Spielfeldbegrenzung und ohne Körbe spielen › Einige Bewegungsmuster wiederholen und festlegen (z.B. Foul) und in den Spielablauf integrieren › Choreografischen Verlauf analysieren: Gruppe 3 erläutert Notizen, Gruppe 1 und Gruppe 2 ihre Bewegungs- und Spielerfahrungen › Erneuter Durchlauf in wechselnder Gruppenkonstellation mit anschließender Auswertung › Erarbeitete Gemeinsamkeiten und Unterscheide von Choreografie und Spiel als choreografische Idee nutzen. Choreografieren mit Bewegungsmustern eines Sportspiels Vier Bewegungsaktionen aus einem Sportspiel auswählen, z.B. aus dem Fußball: Köpfen, Stoppen, Passen, Dribbeln › Diese Bewegungen in Gruppen ohne Ball ausführen, z.B. mit folgenden Regeln: Jeder wählt eine Aktion aus und kann sie jederzeit ändern | Die Auswahl der Aktionen auf die Aktionen anderer beziehen | Es können beliebig viele Interaktionen gleichzeitig statt-

120 Spielweisen

Form geben –› Tools –› Variieren

finden | Es können beliebig viele imaginäre Bälle im Spiel sein | In das Spiel Bewegungsvarianten aufnehmen, z.B. Slow Motion oder Pose › Bewegungsmuster abstrahierenπ und festlegen. Choreografieren mit Sudoku Ein Sudoku lösen: ein 9-mal9-Raster mit den Zahlen 1 bis 9 füllen, so dass jede Zahl in jeder Spalte, in jeder Zeile und in jedem Block nur einmal vorkommt › Aus dem fertiggestellten Sudoku ein Quadrat mit Zahlen 1 bis 9 auswählen › Dieses Quadrat auf den Boden übertragen, jedes Teilquadrat sollte einen Quadratmeter umfassen › In die neun Felder die Zahlen des Sudokus eintragen › Neun Bewegungssequenzen festlegen, die auf einem Quadratmeter ausführbar sind und diese mit Zahlen von 1 bis 9 bezeichnen › Alle Akteure erlernen alle neun Bewegungssequenzen › Akteure wählen ein Feld aus und führen die der Zahl entsprechende Bewegungssequenz aus | Varianten: Spielregeln des Sudokus übertragen, z.B. zu Beginn jedes Sudokus sind immer bereits mehrere Zahlen vorgegeben. Entsprechend sind immer mindestens drei Akteure im Spielfeld | Jede Zahl kommt im Sudoku mehrmals vor. Analog die Bewegungssequenz loopen oder ein Teilquadrat mit mehreren Akteuren besetzen | Im Sudoku stehen alle Zahlen in Beziehung zueinander. Entsprechend verteilen sich die Spieler auf die Felder | Je nach Spielstand des Sudokus variiert die Anzahl der in die Felder eingetragenen Zahlen. Entsprechend können Akteure wahlweise vom Off- in den On-Modus wechseln. Stille Post Fünf Gruppen bilden › Alle Gruppen stellen sich an einer Seite des Raumes nebeneinander auf › Die Mitglieder einer Gruppe reihen sich hintereinander auf; vorderste Person ist 1, dann 2 etc. › Jede Gruppe führt die Aufgabe unabhängig von den anderen Gruppen aus › Person 1 aus jeder Gruppe durchquert mit einer Bewegungsaufgabe den Raum, z.B.: auf einer geraden Linie verschiedene Fortbewegungsarten wechseln. Danach schließt 1 sich wieder hinten an die Gruppe an › 2 beobachtet 1 und kopiert die Bewegungssequenz. 3 beobachtet 2 und kopiert 2 etc. | Nachdem alle Gruppenmitglieder einen Durchgang absolviert haben, kann die Übung variiert werden, z.B. mit Hilfe von Tools zur Formgebung wie Wiederholen und Akkumulieren: 1 macht bei der Durchquerung des Raumes einen Sprung › 2 kopiert den

Choreografieren als Spiel Sprung von 1, verbindet ihn mit einer Drehung und wiederholt Sprung und Drehung so lange, bis sie den Raum durchquert hat › 3 kopiert Sprung und Drehung von 2, verbindet diese Abfolge mit einer Bodenrolle und wiederholt die Abfolge Sprung, Drehung und Rolle so lange, bis sie den Raum durchquert hat etc. Solitär Zwei Skatspiele verwenden › Einige Karten auswählen › Jeder Karte eine Bewegungsaufgabe zuordnen, z.B. Dame: springen, As: rollen, Sieben: drehen › Regel festlegen: Rote Karten (Herz, Karo) in langsamem Tempo, schwarze Karten (Pik, Kreuz) in schnellem Tempo ausführen › Alle ausgewählten Karten auf einen Stapel legen › Spielleiterin bestimmt das Spielgeschehen: Sie mischt die Karten, deckt sie nacheinander auf › Sie nennt das Bild der jeweiligen Karte und bestimmt einen Akteur, der diese Spielkarte in Bewegung umsetzt › Wenn zwei oder drei Karten mit demselben Bild (z.B. Damen) aufeinanderfolgen, werden Duos oder Trios gebildet. Mimetische Spiele Zu den mimetischen Spielen zählen Verstellungs-, Verwandlungs-, Nachahmungs- und Maskierungsspiele sowie Spiele in virtuellen Räumen. Mimetische Spiele arbeiten mit der Idee der Repräsentation, sie operieren mit dem »So-tun-als-ob«. Mimetische Spiele können als choreografisches Mittel eingesetzt werden, um die Verwandlungsfähigkeit zu schulen und den Umgang mit dem Anderen zu thematisieren. Scharade als Echtzeit-Komposition Zwei Gruppen bilden › Jede Gruppe denkt sich mehrere Worte aus, die jeweils aus zwei Substantiven bestehen, z.B. Schiffs-Rumpf, Tinten-Füller, TelefonHörer, Arm-Leuchter, wobei beide Wortteile etwas Konkretes und Materielles haben sollten › Die Worte auf einen Zettel schreiben › Jeder Spieler zieht einen Zettel und übersetzt das Wort in Bewegung; dabei können die Wortteile auch einzeln und additiv umgesetzt werden › Die Gruppe fügt gemeinsam oder durch einen ausgewählten Choreografen die Bewegungssequenzen einer Gruppe aneinander und komponiert die Raumpositionen der einzelnen Gruppenmitglieder › Das Spiel kann mit dem Erraten der Ur-

121

122 Spielweisen sprungsbegriffe durch die anderen Gruppen oder durch das Publikum enden oder mit der Präsentation eines Bewegungsbilder-Kaleidoskops › Das Spiel kann auch als Aufführung mit Publikumsbeteiligung durchgeführt werden. Kickboxen als Tanz Per Filmaufnahme die Bewegungen eines Kickboxers analysieren: Welche Bewegungsaktionen und -figuren sind charakteristisch? Welche Fertigkeiten braucht ein Kickboxer? › Bewegungsmuster imitieren, z.B. Aufwärts- oder Seithaken und Fußtechniken wie Fußstoß vorwärts (Front-Kick), seitwärts (SideKick), rückwärts (Back-Kick) › Das »Tänzelnde« der BoxbewegunForm geben gen herausfiltern und steigernπ › Sich vorstellen, gegen einen –› Tools –› imaginären Gegner zu boxen › Die Raumorientierung um 90° Variieren kippen und die Bewegungssequenz liegend ausführen. Aleatorische Spiele Zu den Spielen, in denen der Zufall zur Regel erklärt wird, zählen Würfel-, Karten- und Losspiele. Die Aleatorik bezeichnet in Kunst, Musik und Literatur das Erzeugen ästhetischer Formen durch Zufallsoperationen, in der Choreografie analog die Hervorbringung sowohl von choreografischer Ordnung wie von Interaktionsmustern zwischen Akteuren nach dem Zufallsprinzip. Die auf Aleatorik beruhende choreografische Arbeit erlaubt, Strukturen und Gewohnheiten zu unterlaufen und Raum zu öffnen für unvorhersehbare, ungeplante Konfigurationen. Bewegungsgenerierung, Formgebung und Komposition können mit Hilfe aleatorischer Verfahren erfolgen, eine Bewegungssequenz oder eine Choreografie kann über Zufallsverfahren modifiziert werden. Aleatorische Spiele lassen sich auch als Verfahren der DekonKomposition struktion einsetzen.π Der gesamte choreografische Prozess –› Verfahren kann dem Zufallsprinzip folgen (Gesamtaleatorik) oder einzelne Arbeitsschritte verwenden aleatorische Ver fahren (Teilaleatorik), z.B. die Komposition von festgelegtem Bewegungsmaterial. Festlegen und Erinnern –› Verfahren

Raumpunkt und Körperteil miteinander verbinden Raumkonzept der Neun-Punkte-Technikπ wählen › a zählt lautlos im Loop von 1 bis 27 › Die Zahl, bei der b Stopp sagt, definiert den Raumpunkt, der angetanzt wird › a zählt stumm

Choreografieren als Spiel verschiedene Körperteile auf, die frei gewählt oder zuvor auf einer Liste festgehalten werden können, z.B.: Kopf, Ellenbogen, linker Unterarm, rechte Ferse › Das Körperteil, bei dem b stoppt, initiiert die Bewegung in Richtung des Raumpunktes › Spiel mit Wechsel der Spielerrollen ausführen, Bewegungen wiederholen und durch Auszählung aneinanderreihen. Telefonnummern als Entscheidungsgeber Gruppen mit neun Teilnehmenden bilden, jede Gruppe sucht sich eine Telefonnummer aus › Die Zahl bestimmt die Personenzahl der an der Bewegungssequenz Beteiligten: 1 wird ein Solo, 2 ein Duo, 3 ein Trio › Bewegungssequenzen entwickeln und zu einer Choreografie in der Zahlenreihe zusammenfügen. Listen und Zufallszuordnungen Eine Liste mit verschiedenen Bewegungsaufgaben aufstellen, z.B. Aufgabe 1: sich vorstellen in einer Telefonzelle zu stehen in der sich eine Wespe befindet; Aufgabe 2: über den Boden rollen und dabei den Boden mit möglichst vielen Körperflächen berühren; Aufgabe 3: zwei Punkte am Körper definieren und diese aufeinander zu beziehungsweise voneinander weg bewegen › Jeder Akteur wählt eine Aufgabe und legt eine Bewegungssequenz fest, die Reihenfolge der Bewegungssequenzen wird durch Würfelwurf bestimmt. Körperaktionen würfeln Das Spiel umfasst sechs Körperaktionen: Sprung, Drehung, Gewichtsverlagerung, Pose, Bewegung im unteren Raumlevel, Fortbewegung › Die Zahlen 1 bis 6 nach dem Zufallsprinzip einzelnen Körperaktionen zuordnen und in zwei Spalten notieren, z.B. in die erste Spalte die Zahlen 1 bis 6 untereinander schreiben, in die zweite Spalte die Körperaktionen › Jede Akteurin würfelt nach einer zuvor vereinbarten Häufigkeit und notiert die Zahlen. Die Zahl bestimmt die Körperaktion › Die entstandene Reihenfolge zu einer Bewegungssequenz ausarbeiten › Die Bewegungssequenz in verschiedenen Gruppenfigurationen ausführen. Diese jeweils mit einem Zahlenwürfel bestimmen. Fortbewegungsarten würfeln Sechs Fortbewegungsarten auswählen, z.B. Springen, Rollen, Rutschen, Hüpfen, Gehen, Rennen › Die Zahlen 1 bis 6 nach dem Zufallsprinzip einzelnen

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124 Spielweisen Fortbewegungsarten zuordnen › Jeder Akteur würfelt sechs Mal hintereinander und legt damit für sich die Reihenfolge der Körperaktionen fest › Daraus jeweils eine Bewegungssequenz erarbeiten. Spielkarten Körperteile Spielkarten, auf denen jeweils ein Körperteil aufgeführt ist, anlegen, z.B. linker Arm, rechtes Bein, linke Hüfte › Jeder zieht mehrere Karten und legt sie nebeneinander › Mit der Vorstellung eines rollenden Balls durch den Körper die Körperteile nacheinander in Bewegung bringen › Übergänge zwischen den Bewegungen der einzelnen Körperteile finden. Kartenspiel Formgebung Eine Bewegungssequenz festlegen › Vier Spielkarten mit Tools zur Formgebung anlegen, z.B. Steigern, Limitieren, Transponieren, Scratchen › Jeder Akteur zieht eine Karte › a führt eine Bewegungssequenz im Loop aus › b kommt hinzu und variiert die Bewegungssequenz entsprechend des Tools der Spielkarte › Das Spiel im on/off-Modus ausführen, z.B. a geht ins Off und wird ersetzt durch c, dann b durch d; oder: b geht ins Off, a und c sind im Spielfeld.

Spiel als Echtzeit-Komposition

Essay

Bei der Echtzeit-Komposition werden regelgeleitete Improvisationen als Choreografie verstanden. Prozess und Produkt sind nicht trennbar, die performativen Aspekte treten in den Vordergrund. Die Choreografie entsteht im Moment der Aufführung. Dies kann eine künstlerische Aussage oder Ausdruck eines künstlerischen Forschungsprozesses sein, der sich z.B. mit der Frage nach dem Verhältnis von Bewegung und Ordnung befasst. Das Verfahren kann für das Publikum sichtbar und erfahrbar gemacht werden. Bleibt es unsichtbar, wird das Publikum mit der Frage konfrontiert, ob das Gesehene eine Improvisation oder eine festgelegte Choreografie ist. Durch die Unvorhersehbarkeit der sich in Echtzeit entwickelnden Choreografie kommt den situativen Entscheidungen der Akteure grundlegende Bedeutung zu. Die Echtzeit-Komposition schult improvisatorische Fähigkeiten (z.B. Bewegungssequenzen zu gestalten oder die anderen in der Bewegung wahrzunehmen und mit ihnen zu agieren) und choreografisches Denken (die Fähig-

Choreografieren als Spiel

125

keit, die choreografische Ordnung, die Ordnung der Körper in Raum und Zeit zu erfassen und die eigenen Aktionen dramaturgisch sicher zu setzen). Echtzeit-Komposition setzt Prinzipien voraus, z.B.: Es gibt keine Fehler | Keine Aktion ist eine Störung | Nichts kann uns aus dem Konzept bringen | Jeder ist für seine Aktion und seine Bezugnahme auf den anderen selbst verantwortlich. Where is the Hot Spot? a markiert einen »H0t Spot« › a nimmt eine Pose im Raum ein › Weitere Akteure setzen sich dazu akkumulierendπ in Beziehung mit weiteren Posen › NachKomposition –› Tools –› dem alle Spieler eine Pose eingenommen haben, eröffnet b einen neuen »Hot Spot« etc. › Die anderen Akteure können in Kombinieren derselben oder in einer anderen Reihenfolge darauf reagieren. Sich aufeinander beziehen Bewegungssequenz entwickeln › Tools zur Formgebung auswählen, z.B. Kopieren, Wiederholen, Steigern › Jeder Teilnehmende hat drei Tools zur Verfügung › Jeder nutzt ein Tool zur Veränderung der Bewegungssequenz › Die Szene wie eine Gruppendiskussion gestalten. Argumente austauschen Bewegungsmaterial auswählen › a sagt laut ein Tool zur Formgebung bei der Ausführung der Bewegung › b antwortet mit einem anderen oder mit demselben Tool. Choreografisches Denken schulen Den Straßenverkehr an einer Kreuzung als Echtzeit-Komposition analysieren: Wie lässt sich die Choreografie von Fußgängern, Radfahrern, Autos etc. beschreiben? Wie steht die Bewegungsordnung in Beziehung zur Raumordnung, z.B. zu Ampelanlagen, zur Straßenführung? › Beobachtungen auswerten › Einen Score entwickeln und diesen in einer Bewegungsszene umsetzen.

126

127

Zusammenarbeit Choreografische Prozesse finden unter sehr unterschiedlichen Bedingungen statt. Ob als freie Produktion oder Auftragsarbeit, institutionell gebunden oder in der »freien Szene«, mit erfahrenen oder weniger erfahrenen Teilnehmenden, ob in festen Probenräumen und zu fixierten Probenzeiten oder räumlich und im Zeitplan variabel, intensiv innerhalb eines kurzen Zeitraums oder über einen längeren Zeitraum mit kurzen Probenzeiten – der Rahmen entscheidet mit darüber, wie ein solcher Prozess abläuft. Dieses Modul thematisiert die Rahmenbedingungen und die Formen der Zusammenarbeit sowie die Aufgaben und Funktionen der am choreografischen Prozess Mitwirkenden.

RAHMEN

FORMEN

MITWIRKENDE

128 Projektidee

139 Hierarchie

144 Choreograf/in

129 Finanzierung

140 Kollektiv

145 Tänzer/in

131 Institutionelle Verankerung

141 Kollaboration

148 Dramaturg/in

142 Netzwerk

151 Komponist/in, Musiker/in

134 Zeitorganisation 135 Probenraum

128 Zusammenarbeit

RAHMEN Dieser Baustein thematisiert die konzeptionellen, institutionellen, räumlichen, zeitlichen, finanziellen und personellen Rahmungen des choreografischen Prozesses unter folgenden Gesichtspunkten: Projektidee | Finanzierung | Institutionelle Verankerung | Zeitorganisation | Probenraum.

Projektidee Im Verhältnis von Rahmung und Projektidee besteht eine weite Spannbreite: Die Rahmenbedingungen können passend zu einer bestehenden Projektidee gestaltet werden, indem entsprechend Kooperationen, Proben- und Aufführungsraum, Beteiligte etc. ausgesucht werden. Es gibt aber auch die Situation, dass die Projektidee innerhalb und abhängig von einem gegebenen Rahmen entsteht, zum Beispiel bei einer Auftragsarbeit.

Von der Projektidee zur Rahmung Soll das Projekt in einer Institution durchgeführt werden oder in einer unabhängigen Form, z.B. innerhalb der »freien Szene« organisiert werden? – Gibt es potenzielle Geldgeber, die Interesse haben könnten, das Projekt finanziell zu unterstützen, z.B. weil eine bestimmte Zielgruppe angesprochen wird, das Projekt in einem bestimmten Stadtteil stattfinden soll oder das Thema von aktueller gesellschaftlicher und politischer Relevanz ist? – Welche Mitwirkenden, das heißt Tänzer/ innen, Musiker/innen, Dramaturg/innen, Ausstatter/innen etc. werden gebraucht, um die Projektidee umzusetzen? – Wie sind die Beteiligten zeitlich verfügbar? Leben sie alle an einem Ort? Wie können die Proben organisiert werden? – Wie viel Probenzeit braucht das Projekt? Welche Zeitorganisation ist angemessen? – Welche räumlichen Bedingungen benötigt das Projekt? Welche Probenräume werden gebraucht? Welcher Aufführungsort wäre angemessen? Von den Rahmenbedingungen zur Projektidee Der choreografische Prozess vollzieht sich innerhalb gegebener Rahmenbedingungen. Welche Auswirkungen haben diese auf die künstlerische Auseinandersetzung? Sind sie verhandelbar? Welche Rahmenbedin-

Rahmen gungen sind festgelegt, welche können verändert werden? – Welche Proben- und Aufführungsräume sind vorhanden? Wofür sind sie geeignet? – Wie viel Zeit, wie viel Geld stehen dem Projekt zur Verfügung? Sind an die Finanzierung Bedingungen geknüpft, wofür das Geld ausgegeben werden kann? Bedeuten die Rahmenbedingungen Einschränkungen, z.B. in Bezug auf Geld, Raum oder Zeit? Wie beeinflusst das die Ausrichtung der künstlerischen Auseinandersetzung? Wie können diese Bedingungen und Einschränkungen kreativ genutzt werden, um daraus innovative Ideen entstehen zu lassen? – Sind die am choreografischen Prozess Mitwirkenden, z.B. Dramaturg/in, Ausstatter/in, Tanzende, selbst gewählt oder wird die Zusammenarbeit durch die Institution vorgegeben? Wird das Projekt dramaturgisch von der Institution betreut? Stammen z.B. beteiligte Schüler/innen oder Jugendliche aus einem sozialen Brennpunkt? – Wie werden die Rahmenbedingungen, z.B. die Begrenzung der Probezeiten, mit den Beteiligten kommuniziert? – Wie läuft die Kommunikation zwischen Choreograf/in und Vertretern der Institution – vor, in und nach dem Prozess? Gibt es Möglichkeiten, sich gegenseitig zu stützen und Feedback zu geben?

Finanzierung Ein choreografisches Projekt kann finanziert werden u.a. durch: Mittel der initiierenden Institution | einen Mäzen oder Sponsor, z.B. durch Sachmittel | Gewinnen eines Wettbewerbs | Ausführen einer Auftragsarbeit | Teilnehmen an einem Artistin-Residence-Programm | Beiträge der Teilnehmenden | Einwerben von Geldern über einen Antrag bei einer Stiftung, einer Behörde, einem Ministerium | durch eine Kombination dieser Finanzierungsmodelle. Woher erfährt man, welche Ausschreibungen, Wettbewerbe etc. für Kultur- und Bildungsprojekte aktuell sind? Z.B. auf den Internetseiten von Stiftungen, Kulturbehörden, Ministerien und überregionalen Kulturinstitutionen. – Welche Informationen muss ein Antrag enthalten, damit er Aussicht auf Erfolg hat? Z.B. Lebenslauf, Dokumentation des choreografischen Schaffens, Motivation, Konzeptentwurf für die Choreografie. – Wie kann das künstlerische Anliegen adäquat

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130 Zusammenarbeit beschrieben werden? – Wie kann der Finanzplan so aufgestellt werden, dass die Budgetierung Freiräume zulässt, um auf unvorhergesehene Entwicklungen im Probenprozess reagieren zu können? – Wie kann der Finanzplan so gestaltet werden, dass das Projekt auch mit einer geringfügigeren Finanzierung als geplant durchgeführt werden kann? Wie können künstlerische Entscheidungen an das Budget angeglichen werden? Kann mit Einschränkungen kreativ umgegangen werden, z.B. indem man mit weniger Personen arbeitet, weniger aufwendige Technik nutzt, beim Bühnenbild oder den Kostümen einspart. Kann ein Ergänzungsantrag gestellt werden, wenn die Projektkosten aus nachvollziehbaren Gründen höher ausfallen als geplant? – Wer kann Hilfe bei der Erstellung eines Finanzplanes geben, z.B. die kooperierende Institution? – Kann das Schreiben eines Antrags zu mehr dienlich sein als zur Geldakquise, z.B. indem die Projektbeschreibung zur Klärung des künstlerischen Selbstverständnisses genutzt wird? Mittel der initiierenden Institution Eine Choreografin erarbeitet ein Projekt an einer Schule › Ihr Honorar und die Kosten für Kostüme und andere Materialien werden aus einem schuleigenen Budget bezahlt › Die Choreografin kann selbst entscheiden, wie sie das Geld innerhalb des Projekts ausgibt, und muss sämtliche Auslagen belegen. Sponsor In einer Choreografie wird z.B. mit großen Schaumstoffelementen gearbeitet › Die Ausgaben übersteigen die im Finanzierungsplan bewilligte Summe für Materialkosten › Ein am Ort ansässiger Hersteller wird angesprochen › Er unterstützt das Projekt durch das zur Verfügungstellen von Schaumstoff › Er wird bei der Ankündigung des Projekts als Unterstützer genannt. Wettbewerb Eine Institution schreibt einen Wettbewerb zum Thema »Jugend und Stadt« aus › Ein Choreograf, der schon öfter mit Jugendlichen gearbeitet hat, entwickelt eine Projektidee, in der sich Jugendliche performativ mit ihrem Stadtteil und dessen Architektur auseinandersetzen › Er akquiriert eine Schulklasse und findet eine Architektin, mit denen er das Projekt gemeinsam umsetzen möchte › Er verfasst ein Konzept, in dem er seine

Rahmen künstlerische Herangehensweise an das Thema sowie die Mitwirkenden vorstellt, und beteiligt sich mit diesem an dem Wettbewerb. Auftragsarbeit Eine Choreografin wird von einer Institution eingeladen, ein Projekt mit der hauseigenen Kompanie zu erarbeiten › Das Stück soll auf dem Festival der Institution zur Eröffnung der Saison Premiere haben › Die Choreografin hat konkrete Vorgaben bezüglich des Proben- und Aufführungsraums, der Mitwirkenden und des Zeitrahmens › Sie versucht, kreativ mit diesen Vorgaben umzugehen und erprobt eine Zusammenarbeit im Kollektiv, in der auch der Dramaturg und die Haustechniker als Akteure auf der Bühne beteiligt sind › Das Publikum lernt bei den Aufführungen nicht nur die Tanzenden kennen, sondern auch die Mitarbeitenden der Institution, die normalerweise hinter den Kulissen bleiben. Beiträge Eine Choreografin erarbeitet mit Workshop-Teilnehmenden eine Choreografie › Die Bezahlung der Choreografin erfolgt durch Teilnehmerbeiträge › Sie plant eine Aufführung, in der die choreografische Arbeitsweise im Kurs vorgestellt wird › Dadurch können unter Umständen neue Teilnehmende gewonnen werden. »Gustav-Mahler-Jahr« Ein Choreograf setzt sich seit Jahren mit der Musik von Gustav Mahler auseinander › Anlässlich des 100-jährigen Todesjahres des Komponisten schreibt ein Theater Projekte für intermediale Produktionen über Mahler aus › Der Choreograf nutzt das Antragschreiben dazu, seine Arbeit über Mahler auf zeitgenössische Fragen zur Intermedialität von Musik und Tanz zu konkretisieren.

Institutionelle Verankerung Choreografieprojekte können im Rahmen einer Kultureinrichtung oder Ausbildungsstätte stattfinden oder freie Produktionen sein. Kultureinrichtungen sind z.B. Kulturzentren, Stadtteilzentren, Museen, Theater sowie temporäre, mitunter ortsungebundene Projekte wie Festivals, Choreografie-Plattformen oder Tanzmessen.

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132 Zusammenarbeit Welches Profil hat die Kultureinrichtung, in der das choreografische Projekt stattfinden soll? – Welche Unterstützung kann sie anbieten? – Welche Vereinbarungen können getroffen werden? Welche Form ist sinnvoll, z.B. eine mündliche oder schriftliche Vereinbarung oder ein Kooperationsvertrag? – Welche Infrastruktur ist vorhanden, z.B. in Bezug auf Räume oder Projektgelder? – Welche begleitende Arbeit leistet die Institution, z.B. Öffentlichkeitsarbeit, Teilnehmer- und Publikumsakquise, Organisation, technische Unterstützung? – Setzt die Institution Vorgaben für die choreografische Arbeit? Welche? Stellt sie z.B. eine bestimmte Zielgruppe bei den Teilnehmenden oder dem Publikum? Soll das Choreografieprojekt ein Freizeitangebot für Jugendliche sein, eine Auftragsarbeit für ein Festival, ein Projekt innerhalb einer Themenreihe? – Ist das Budget, das der Produktion zur Verfügung steht, frei verfügbar oder gibt es Vorgaben? – Wer sind die Ansprechpartner, z.B. für organisatorische oder technische Belange? Wie können die Ansprechpartner gut über den Prozess informiert oder an diesem beteiligt werden? – Wie können die Wünsche, Interessen, Motivationen und Ziele der Kultureinrichtung und der Projektleitung bzw. der Projektbeteiligten geklärt werden? – Wie kann die Kommunikation zwischen Institution und künstlerischer Leitung sinnvoll hergestellt werden? Wie lassen sich die konkreten Belange des choreografischen Prozesses der Institution vermitteln und nachvollziehbar machen? – Wie kann eine mögliche Diskrepanz zwischen Realisierbarkeit und Anspruch beider Seiten thematisiert und gelöst werden? – Wie gelingt es Choreograf/innen, eine längerfristige Arbeitsverbindung mit einer Institution aufzubauen? Ausbildungsstätten sind z.B. Schulen, Kunsthochschulen, Universitäten oder staatlich anerkannte Tanzschulen. Choreografisches Arbeiten kann Teil der Ausbildung sein oder außerhalb des Lehrplans in der Einrichtung in Form selbstständig organisierter Projekte stattfinden. Gibt es spezielle Anforderungen der Ausbildungsstätte, wenn die choreografische Arbeit innerhalb eines Ausbildungskontextes stattfindet? – Wird die Teilnahme bewertet oder benotet? Welches Bewertungs- und Benotungssystem wird angewendet? Ist das auf die

Rahmen choreografische Arbeit und auf Leistungen im künstlerischen Prozess übertragbar? – Welchen Stellenwert hat choreografisches Arbeiten in der Ausbildungsstätte? Ist es Teil der Ausbildung, z.B. in einem künstlerischen Studium? Findet es, z.B. in der Schule, innerhalb der Kernunterrichtszeit statt, im Nachmittagsunterricht oder als Wahlfachangebot? Was ist dabei zu beachten, z.B. vorher und nachher anschließender Unterricht, zeitliche Übergänge und Pausen? – Welches Publikum wird bei der Aufführung erwartet? Wird die Choreografie Mitschüler/innen beziehungsweise Mitstudierenden gezeigt, Eltern, Freunden und Verwandten, einer Fachöffentlichkeit, z.B. innerhalb einer Kunsthochschule, oder einer breiten Öffentlichkeit, z.B. in einem Theater? – Welche Bedeutung hat die Choreografie für die Außendarstellung der Ausbildungsstätte, dient sie z.B. der Präsentation eines Studiengangs, einer Meisterklasse, des Profils einer Schule? Freie Produktionen finden in einem projektbezogenen Rahmen statt, der sich unabhängig von städtischen, staatlichen oder privaten Trägern über öffentliche Gelder, Stiftungen oder Sponsoren finanziert. In der Regel entstehen diese Choreografien in wechselnden Einrichtungen oder in Institutionen, die ihnen einen Spielstättennachweis erteilt haben, und werden an unterschiedlichen Orten aufgeführt, zumeist verpflichtend an jenen Orten, die sich an der Finanzierung der Produktion beteiligt haben. Wie kann der choreografische Prozess organisiert werden? Welche Rahmungen sind nötig? – Wie kann die anfallende Arbeit auf die Beteiligten verteilt werden? Gibt es z.B. jemanden, der die Organisation übernimmt? – Welche Kooperationen müssen eingegangen werden, z.B. für Probenräume und Aufführungsorte? – Wie werden die Teilnehmenden akquiriert? – Wie finanziert sich das Projekt? Welche potenziellen Geldgeber werden angesprochen? Wie schreibt man erfolgreich einen Finanzierungsantrag, z.B. an Stiftungen, Behörden, Ministerien? Wer kann dabei helfen? – Wie geht man mit dem Honorar um? Wer bekommt wie viel Geld? – Wie ist die finanzielle Beteiligung an den Aufführungen geregelt? Gibt es einen Einnahmenaufteilungsvertrag, bei dem die Kooperationspartner sich bei einer festgelegten Prozentzahl die Einnahmen, z.B. Eintrittsgelder, teilen? – Sind die Beteiligten während der Proben und Aufführungen

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134 Zusammenarbeit versichert? – Wo kann man das Bühnenbild und das Material, z.B. Kostüme oder Requisiten, lagern, zwischen den Proben und nach den Aufführungen?

Zeitorganisation Choreografische Arbeit setzt eine gute Organisation der Probenzeit voraus. Diese ist abhängig zum Beispiel von: den institutionellen Bedingungen | den Mitwirkenden | den Formen der Komposition Zusammenarbeit | der dramaturgischen Herangehensweise.π Probenzeiten können unterschiedlich disponiert werden: Proben finden einmalig mehrstündig statt | Es gibt einen oder mehrere intensive Probenblöcke, zum Beispiel eine Woche lang täglich | Es wird einmal wöchentlich über einen längeren Zeitraum geprobt | Es finden mehrere Intensivprobenphasen mit Pausen dazwischen statt | Der Zeitplan folgt unterschiedlichen Rhythmen: z.B. ein intensiver Probenblock am Wochenende, dann zwei Monate einmal wöchentlich, eine Probenwoche mit täglichen Proben, Probenpause, intensive Endproben vor der Premiere. Wer gibt den Zeitrahmen für das Projekt vor? Ist der Zeitplan durch institutionelle Bedingungen, z.B. die Verfügbarkeit von Räumen, bestimmt? Oder ist das choreografische Projekt unabhängig in Bezug auf die Zeitplanung? – Welches Zeitbudget bringen die Teilnehmenden mit, z.B. Jugendliche im Schulunterricht oder nachmittags nach der Schule, Erwachsene nach der Arbeit in einem Kursangebot, professionelle Tänzer/innen und Performer/innen, die auch in anderen Projekten engagiert sind? – Welche Zeitorganisation lassen die Zeitbudgets der Teilnehmenden zu? Sind z.B. wöchentliche Proben angemessen, um in der Zwischenzeit generiertes Material einzuüben? Wie kann der künstlerische Prozess auf die Zeitbegrenzungen abgestimmt werden? Wie kann das choreografische Konzept optimal im gegebenen Zeitrahmen umgesetzt werden? – Wie lange dauern die einzelnen Probeneinheiten, z.B. eine Schulstunde (45 Minuten), zwei, drei Stunden, einen ganzen Tag? Benötigen die Teilnehmenden Pausen innerhalb einer Probe? – Gibt es Zeitfenster für Gespräche? Wann sind diese sinnvoll? – Ist eine Aufführung geplant? Welche Auswirkungen ergeben sich daraus für die Zeitorganisation? – Wie können Probenzeit und Dauer der Choreografie aufeinander abge-

Rahmen

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stimmt werden? – Wie können Veränderungen der Zeitorganisation zu jeder Zeit klar an alle Teilnehmenden vermittelt werden? Erarbeitung eines Zeitplans Ein Zeitplan ist ein Tool des Projektmanagements und sorgt für die termingerechte Durchführung des Projektes › Arbeitsphasen und -ziele zu Projektbeginn festlegen › Diese auf das geplante Gesamtziel, z.B. abendfüllendes Stück oder Lecture-Performance, zuschneiden › Auf Situation und Gruppe abstimmen: Welche Zeitorganisation brauchen die Teilnehmenden? Brauchen sie mehr Pausen, kürzere Proben, eine längere Probenzeit? Setzt sich die Gruppe neu zusammen oder sind es erfahrene Teilnehmende? › Zeitfenster einbauen, um auf Angebote der Teilnehmenden reagieren zu können › Zeitplan immer wieder auf Umsetzbarkeit überprüfen und › Während der gesamten Arbeitsphase auf den Prozess und die Gruppe reagieren. Erarbeitung eines Probenplans Der Probenplan dient der inhaltlichen Organisation der Probenzeit. Er legt die Arbeitsschritte fest und entscheidet, wer bei den nächsten Proben anwesend sein muss. Er kann für einen kurzen Zeitraum, z.B. für den kommenden Tag, oder einen längeren Zeitraum, z.B. für zwei Wochen, festgelegt werden › Vor Erstellung des Probenplans sollte die Zeitorganisation geklärt sein › Änderungen im Probenplan ergeben sich durch den Probenprozess › Der Probenplan wird an alle Beteiligten, die Institution und die Technik weitergegeben, weil gerade in Endproben die choreografische Arbeit in enger Zusammenarbeit mit allen Beteiligten stattfindet.

Probenraum Ob z.B. in einem Tanzstudio, einem Theaterprobenraum, einer Turnhalle, im öffentlichen Raum geprobt wird, wie groß der Raum ist oder welche Beschaffenheit der Boden auf weist – der Probenraum hat Einfluss auf die Arbeit, ebenso wie der Aufführungsort. Die räumlichen Gegebenheiten sind einerseits eine grundlegende Voraussetzung für die choreografische Arbeit, andererseits können sie auch Impulse setzen und z.B. die Themenwahl bestimmen.π

Dramaturgie

136 Zusammenarbeit Wird in dem Raum geprobt, in dem auch die Aufführung stattfindet? Wenn Proben- und Aufführungsraum nicht identisch sind: Wie können in einer letzten Arbeitsphase die räumlichen Gegebenheiten der Choreografie an das Bühnensetting angepasst werden? – Wie ist der Raum ausgestattet? Hat er z.B. einen Schwingboden, einen Spiegel, Matten oder eine Musikanlage? Ist der Raum warm oder kalt? Wie kann die choreografische Arbeit auf die Ausstattung abgestimmt werden? – Welche Atmosphäre hat der Raum? Wie sind die Lichtverhältnisse? Gibt es Quellen der Ablenkung? Wie kann die Probenarbeit darauf reagieren? – Ist das Verhältnis zwischen der Größe des Raumes und der Anzahl der Beteiligten angemessen? – Soll die choreografische Arbeit an einem eher unüblichen Ort stattfinden, z.B. im öffentlichen Raum? Was ist dabei zu beachten, z.B. Umkleidemöglichkeiten, Materiallagerung, Interaktion mit Zuschauern? – Wird in einem Raum gearbeitet, der allen Beteiligten vertraut ist, oder an einem fremden Ort? – Steht der Raum dem Projekt für die gesamte Probenzeit zur Verfügung? Können z.B. Aufbauten, Bühnenbild, Materialien dort stehen gelassen werden? Oder finden die Proben in unterschiedlichen Räumen statt? Welche Folgen hat dies für die Raumnutzung und den Umgang mit Material? Sind die unterschiedlichen Räume gleich groß? Ist die Bühnenfläche vergleichbar? Ist die Qualität des Bodens ähnlich? Unterscheidet sich die Atmosphäre der Räume? Wie können Einschränkungen beziehungsweise Unterschiede konstruktiv und kreativ genutzt werden? – Welche Auswirkungen ergeben sich aus dem Raum für die Arbeitsweise? Inspiriert z.B. der Raum zu einer bewegungsorientierten Arbeitsweise, indem der Bezug zwischen Körper und Raum oder Komposition die Architektur des Raumes thematisiert werden?π Parameter –› Aufführung

Räume choreografisch nutzen

Sporthalle Als Probenraum steht eine Sporthalle zur Verfügung › Ein Stück zum Thema »Sport und Tanz« konzipieren. Die tänzerischen, choreografischen Elemente in Sportspiel und Tanz erforschen und Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede herausarbeiten › Welche Informationen gibt ein Sportraum? Welches Zeichensystem hat er? Welche architektonischen Komponenten sind besonders auffallend? Welche Materialien stellt er zur Verfügung? › Wie ist der Raum aufgeteilt? Gibt es z.B. unterschied-

Rahmen liche Nutzungszonen? › Die Informationen für die Choreografie nutzbar machen, z.B. Seile, Weichbodenmatten und Kletterwände als Auslöser für eine Auseinandersetzung mit Risiko und Sicherheit nutzen und entsprechend Aufgaben zur Generierung von Bewegungsmaterial formulieren › Löst der Raum spezielle Stimmungen (z.B. Wettkampfatmosphäre), Assoziationen (z.B. Leistungsorientierung, Teamgeist, Konkurrenz) oder Erinnerungen (z.B. an den eigenen Sportunterricht) aus? Wie können diese in die Choreografieentwicklung einbezogen werden? π

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Choreografieren als Spiel

Fabrikhalle Welche Besonderheiten sind in einer Fabrikhalle zu finden? Hat der Raum viele und große Fenster? Wie können diese choreografisch genutzt werden? › Es gibt z.B. zwölf Fenster an zwei Raumseiten › Anzahl der Fenster auf Anzahl der Beteiligten übertragen › Das Raummuster, das von den Fenstern einer Seite gebildet wird, um 90° kippen und auf den Boden transpoForm geben –› nierenπ › Alle choreografischen Räume entwickeln sich entlang Tools –› Variieren dieses Raummusters. Schule als Bühne Welche Räume kann man in einer Schule neben der Turnhalle oder der Theaterbühne für eine Aufführung nutzen, z.B. Toiletten, Schulhof, Treppenhaus, Essensraum etc.? | Symbolische Besetzungen eines Raumes auf einen anderen Raum übertragen und eine Behauptung aufstellen. Z.B.: Der Schulhof wird durch die tanzenden Schüler/innen zur Diskothek. Oder: ein Treppenhaus zur Kirche umdeuten und das Bewegungsverhalten darauf ausrichten.π Die choreografische Idee räumlich umsetzen Orte der Langeweile Die Schüler/innen entscheiden sich, choreografisch zum Thema »Langeweile in der Schule« zu arbeiten › Welcher Schulraum passt zum Thema der choreografischen Arbeit? In welchen Räumen kann eine Recherche zum Thema Langeweile stattfinden? Welche Ausstattung braucht der Raum, um das Thema in der Probenarbeit umzusetzen? Soll dieser Raum sowohl für die Proben als auch für die Aufführung verwendet werden? Wie könnte er für die Aufführung umgewandelt werden?

Aufführung

138 Zusammenarbeit › Einen Schulraum auswählen, der mit Langeweile verbunden wird › Das entsprechende choreografische Material entwickeln › Die Choreografie auf andere Orte übertragen und den ortsspezifischen Bedingungen anpassen, z.B. vom Klassenzimmer ins Wartezimmer eines Arztes, zur Warteschlange bei einer Behörde, zum Warteraum im Bahnhof. Unwirtlich Es soll ein Stück zum Thema »Soziale Ungerechtigkeit« erarbeiten werden › Die Tanzenden arbeiten mit Alltagsbewegungen, die prekären Tätigkeiten, wie putzen, betteln, auf dem Arbeitsamt warten, entlehnt sind › Außerdem verarbeiten sie journalistische Texte, die Armut, Arbeitslosigkeit und UnterKomposition bezahlung thematisierenπ › In welchem sozialen Rahmen soll –› Intermediale die Bewegungsgenerierung stattfinden, z.B. in einer WohnsiedKomposition lung mit Hochhäusern oder einer vorstädtischen Einkaufspassage?

Formen

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FORMEN Zusammenarbeit bezieht sich auf: die Mitwirkenden am choreografischen Prozess | die Interaktion der Akteure auf der Bühne | die Interaktion der Akteure mit dem Publikum. In der zeitgenössischen Choreografie wird der Zusammenarbeit eine hohe Bedeutung beigemessen, da die Choreografie eher als Ensembleleistung und weniger als Werk einer einzelnen Person verstanden wird. Der choreografische Prozess gilt als Experimentierfeld des Sozialen, weil hier Formen der Zusammenarbeit erprobt werden können: wenn in der Probenarbeit die Reflexion des Miteinanders einen zentralen Bestandteil darstellt, wenn das Publikum über Partizipation in die Choreografie einbezogen wird, oder wenn Zusammenarbeit zum Thema des Stückes wird und sich in der Dramaturgie widerspiegelt.π In der choreografischen Praxis mischen sich häufig verschiedene kollaborative Formen.

Hierarchie In der traditionellen Aufgabenverteilung sind Choreograf/innen hauptverantwortlich für den gesamten choreografischen Prozess und als künstlerische Projektleitung die letzte Entscheidungsinstanz. Alle anderen am Produktionsprozess Beteiligten (künstlerisches, organisatorisches und technisches Team: Tänzer/innen, Musiker/innen, Dramaturgie, Ausstattung, Technik, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit) bringen im Rahmen ihres Aufgabengebiets ihre Kompetenzen ein und treffen in Absprache mit den Choreograf/innen Entscheidungen für ihren Bereich. Stellt die Choreografin Improvisations- und Kompositionsaufgaben, aus denen die Akteure Bewegungsmaterial entwickeln? – Entscheidet der Choreograf, wie das Bewegungsmaterial weiter behandelt wird, indem er Angaben zur Formgebung des Materials macht? – Komponiert die Choreografin das Material der Akteure nach ihren eigenen Vorstellungen? – Haben alle Beteiligten festgelegte und klar strukturierte Aufgaben und Funktionen, die dem Choreografen zugeordnet sind? – Fällt die Choreografin sämtliche künstlerischen Entscheidungen und trägt die Hauptverantwortung für das Projekt?

Komposition

140 Zusammenarbeit

Kollektiv In choreografischen Projekten werden zunehmend gleichberechtigte Formen der Zusammenarbeit erprobt. Dazu gehört der Versuch, klassische Hierarchien zwischen den Mitwirkenden im choreografischen Prozess zu hinterfragen. Die Arbeit im Kollektiv zeichnet sich durch Teilhabe aller Beteiligten aus. Die strenge Rollenverteilung von Choreograf/in, Dramaturg/in, Ausstatter/in wird aufgelöst. Die einzelnen Funktionen sind nicht von vornherein festgeschrieben, sie können sich im Arbeitsprozess herausbilden und verändern, sie werden immer wieder neu ausgehandelt. Jeder Mitwirkende hat Einflussmöglichkeit auf den gesamten Probenprozess und wird zum Mit-Autor bei der Entwicklung der Choreografie. Alle sind in gleicher Weise verantwortlich und gehen alle Arbeitsschritte gemeinsam, z.B.: Konzept entwickeln und aufschreiben, erste szenische Aufbauten, Proben, Aufführen. Die Zusammenarbeit ist bestimmt durch Selbststeuerung und Selbstbestimmung der Beteiligten. Kollektive Arbeitsformen werden begleitet von einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser gleichberechtigten Arbeitsweise. Wie werden die Funktionen innerhalb des Produktionsteams verteilt? Werden die Aufgaben von Choreograf/in, Tänzer/in, Dramaturg/ in etc. während des Prozesses von verschiedenen Beteiligten erprobt und erst im Verlauf der Arbeit festgelegt? Werden Funktionen für bestimmte Probenphasen festgelegt? Findet eine Auswertung der Rollenverteilung statt? – Wonach werden Funktionen, z.B. die Verantwortlichkeit für eine Probe, vergeben? – Übernehmen die Tänzer/innen die Mit-Autorenschaft bei der Bewegungsgenerierung? Werden beispielsweise Aufgaben zur Bewegungsgenerierung an einzelnen Probentagen von wechselnden Personen gegeben? – Wird die Idee des Kollektivs als choreografisches Konzept umgesetzt durch die Entwicklung von Spielweisen? Soll das Spiel Prozess und Produkt zugleich sein? Werden die Spielregeln von allen Beteiligten während des Prozesses entwickelt? Übernehmen alle Teilnehmenden eine Verantwortung im Produktionsprozess sowie in der Aufführung der Choreogra- Echtzeit-Komposition?π fieren als Spiel

Formen

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Von kollektiver zu hierarchischer Zusammenarbeit Bei Probenbeginn wird gleichberechtigt an der Arbeitsweise und Themenfindung gearbeitet › In den Endproben trifft die Choreografin zunehmend die Entscheidungen und bündelt den Arbeitsprozess im Sinne der Gruppe zu dem Produkt, das bei der Aufführung gezeigt wird. Funktionsverteilung über Zufallsprinzip Der Zufall entscheidet über die Aufgaben der Beteiligten: den Punkten eines Würfels werden Funktionen zugeordnet, z.B. 1: Person, die Bewegungsaufgaben stellt, 2: Tänzer/in, 3: Dramaturg/in, 4: Person, die über die Auswahl der Musik entscheidet, 5: Person, die über das Raumkonzept entscheidet, 6: Zuschauer/in › Die Funktionen werden für eine Probenphase gewürfelt | In der Echtzeit-Komposition würfelt ein Zuschauer die Funktionen der Beteiligten aus.

Kollaboration bezeichnet die Zusammenarbeit mehrerer Künstler/innen, entweder innerhalb einer Kunstform (z.B. mehrerer Choreograf/innen oder Tänzer/innen) oder im Zusammentreffen mehrerer Kunstformen (z.B. Choreograf/in, Komponist/in, Bildende/r Künstler/ in), sowie die Zusammenarbeit mit Experten/innen aus anderen Feldern (z.B. Wissenschaftler/innen, Politiker/innen, Manager/ innen). Kollaboration bietet die Chance zur Auseinandersetzung mit den Ideen der anderen, indem alle Beteiligten ihr Expertenwissen in Austausch bringen und gemeinsam etwas Neues, Drittes, produzieren. Gemeinschaft wird als Mehrstimmigkeit im Miteinander verstanden, in dem die Besonderheit der einzelnen Beteiligten erhalten bleibt. Die Funktionen der Kollaborierenden im Arbeitsprozess können offen und flexibel oder auch festgelegt und unveränderbar sein, je nach Konzept der Zusammenarbeit. Wirken in einem intermedialen Projekt verschiedene Künstler/innen Choreograzusammen, z.B. Soundkünstlerin, Choreograf, Lichtdesigner, Bühfieren als Spiel nenbildnerin? Arbeiten sie parallel und autonom? Werden ihre –› Spielarten künstlerischen Ergebnisse am Ende zusammengefügt, z.B. durch ein Spielmuster aleatorisches Verfahren?π – Geht die Kollaboration vom Prinzip der Weitergabeπ aus? Zum Beispiel: Ein Dramaturg gibt einen Text –› Scores –› Re-formulieren

142 Zusammenarbeit an eine Komponistin, die daraufhin eine Musikpartitur verfasst; diese gibt sie weiter an einen Choreografen, der damit Bewegungsmaterial generiert. – Wie gehen die Kollaborierenden mit Abhängigkeit und Unabhängigkeit um? – Wie können Abstimmungen stattfinden, wie kann aufeinander eingegangen werden? Choreografin – Komponist Choreografin und Komponist treffen sich vor Probenbeginn und tauschen sich über das Vorhaben, das Forschungsinteresse, die Arbeitsweise und die Form der Zusammenarbeit aus › Sie entscheiden sich für eine gleichberechtigte Zusammenarbeit › Sie kristallisieren eine gemeinsame Forschungsfrage heraus und vermitteln einander die bisher verwendeten Methoden und Arbeitsweisen › Welches Vorgehen ergibt sich daraus? › Material wird entwickelt, gesammelt, in Bildund Tonaufnahmen festgehalten › Beim gemeinsamen Anschauen werden Entscheidungen für den weiteren Fortgang getroffen.

Netzwerk Künstlernetzwerke sind Plattformen für Austausch und Zusammenarbeit. Sie sind häufig von den Beteiligten selbst organisiert. Durch unterschiedlich intensive Beteiligungen und Fluktuationen der Teilnehmenden entstehen Formen der Zusammenarbeit, die ortsübergreifende Zusammenarbeit ermöglichen, aber auch wechselnd und wenig verbindlich sein können. Entstehen in einem Netzwerk choreografische Projekte, geht die Initiative zumeist von Einzelnen aus. Das Internet oder andere Medien können als Plattform dienen, um einen gemeinsamen Prozess zu eröffnen, z.B.: um choreografische Generierungsprozesse oder Arbeitsmethoden vorzustellen und zu reflektieren | als Form der Dokumentation und Aufzeichnung von Arbeitsprozessen | als Kommunikationsforum zur Entwicklung einer choreografischen Dramaturgie Idee.π Open-Source-Projekte sind nicht auf ein festgelegtes Team –› Reflexion beschränkt, sondern öffentlich und jedermann zugänglich. Jeder, der Zugang zum Internet hat, kann etwas zur Idee oder zum Material der choreografischen Arbeit beisteuern, die als ein offener Transformationsprozess verstanden wird. Die Autorschaft ist nicht eindeutig zuzuordnen, das Projekt gehört allen, niemand kann ein Urheberrecht für sich in Anspruch nehmen.

Formen

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Wie kann ein Projekt angelegt werden, in dem Personen von verschiedenen Orten aus zusammenarbeiten? – Bieten sich bestimmte Themen für eine solche Form der Zusammenarbeit an? – Wie soll die ortsübergreifende Zusammenarbeit geregelt werden, z.B. durch Spielregeln, die über eine Open-Source-Plattform kommuniziert werden? Vor welchen Herausforderungen stehen die Beteiligten? Welchen Stellenwert könnte ein Treffen an einem Ort haben, bei dem sich die Beteiligten persönlich kennen lernen? Zu welchem Zeitpunkt ist ein Treffen sinnvoll? – Wie kann in einem demokratischen Prozess eine Struktur gefunden werden, die es allen Beteiligten ermöglicht, gemeinsam ein Projekt zu entwickeln? Netzwerktreffen1 Choreograf/innen und Künstler/innen verschiedener Kunstformen und aus unterschiedlichen Ländern treffen sich in einer Kulturinstitution einer Stadt, um für einen bestimmten Zeitraum miteinander zu leben und zu arbeiten › Grundgedanke des Treffens ist, durch Dialog und Austausch kreative Prozesse zu aktivieren und weiter zu entwickeln › Die Kulturinstitution stellt als Kooperationspartner für das Netzwerktreffen die Infrastruktur zur Verfügung › Künstler/innen vor Ort haben die Möglichkeit, an diesem Netzwerktreffen teilzunehmen › In Showings, Lecture-Performances, Trainings, Laboratorien, Foren und anderen Formatenπ stellen sich die Künstler/innen einander und der Öffentlichkeit vor › Einzelne finden sich zu Gruppen zusammen, die gemeinsam arbeiten. In diesen Projekten kann mit unterschiedlichen Formen der Zusammenarbeit experimentiert werden › Die Zusammenarbeit kann sich auf die Zeitdauer des Netzwerktreffens beschränken oder die Basis für ein eigenes Projekt sein. If/then-Methode online 2 Das choreografische Spiel kann als Open-Source-Projekt im Internet stattfinden, an dem sich jeder beteiligen und vorhandene Scores modifizieren beziehungsweise neue Aufzeichnungen einstellen kann › Die kollaborativ erstellten Aufzeichnungen können als Ausgangspunkt für eine Choreografie dienen, die an unterschiedlichen Orten von verschiedenen Personen – und dadurch in vielfältigen Variationen – umgesetzt wird.

Aufführung

144 Zusammenarbeit

MITWIRKENDE Die Formen der Zusammenarbeit hängen von den Personen ab, die an dem choreografischen Projekt mitwirken, z.B. Choreograf/in, Tänzer/in, Dramaturg/in, Musiker/in, Komponist/in. Die Verteilung von Funktionen innerhalb eines Projekts ergibt sich aus der Form der Zusammenarbeit. Vor Beginn der Zusammenarbeit ist zu klären, ob Erwartungshaltungen, Motivationen und Zielsetzungen aller Beteiligten zusammen passen. Welche Personen sind die passenden, um den choreografischen Prozess zu realisieren? – Ist das Team frei gewählt oder ist es vorgegeben, z.B. von einer Institution? – Kennen sich die Beteiligten aus vorherigen Produktionen oder ist die Zusammensetzung des Produktionsteams neu? – Welche Aufgaben sind zu vergeben? Wie viele Personen braucht die Produktion? – Welche Voraussetzungen müssen die Beteiligten mitbringen? Benötigen sie einen besonderen (Ausbildungs-) Hintergrund oder spezielle künstlerische Interessen? Brauchen sie besondere Fähigkeiten, Fertigkeiten, Vorkenntnisse? Werden sie bezahlt, woher kommt das Honorar? – Wie werden die Aufgabenfelder verteilt? Gibt es z.B. eine Choreografin, einen Assistenten, eine Dramaturgin, einen Techniker, Tänzer und Tänzerinnen? Gibt es Personen für die Organisation, Presse- & Öffentlichkeitsarbeit? – Sollen alle Beteiligten auch als Akteure auf der Bühne stehen? – Welches Konzept der Zusammenarbeit ist geplant? Können und wollen die Personen im Produktionsteam z.B. eigenverantwortlich und selbstständig arbeiten oder setzen sie das Bewegungsmaterial einer Choreografie um? – Welche Bühnenmitarbeiter/innen werden wann in den Produktionsprozess involviert, z.B. Licht- und Tontechniker/innen für die Entwicklung eines Licht- bzw. Tonkonzepts? – Welche anderen Aufgaben sind zu erledigen, z.B. die Aufzeichnung des Probenprozesses beziehungsweise der Aufführung zu Dokumentations- und Werbezwecken?

Choreograf/in In der zeitgenössischen Choreografie hat sich das Selbstverständnis von Choreograf/innen verändert. Sie gelten als Teil der Gruppe, da der choreografische Prozess in enger Zusammenarbeit mit

Mitwirkende den Beteiligten erfolgt und auf Austausch beruht. Choreograf/innen verstehen sich immer auch als suchend, forschend, lernend, vermittelnd und reflektierend.π Während der Planung und Durchführung eines Projekts können Choreograf/innen verschiedene Positionen einnehmen. Entscheidend ist, welche Form der Zusammenarbeit gewählt wurde. Meist verschränken sich mehrere Positionen, und gegebenenfalls werden diese von Projekt zu Projekt immer wieder in Frage gestellt und neu definiert. Folgende Positionen und Funktionen können Choreograf/ innen im Verlauf eines choreografischen Prozesses einnehmen: Choreografin als Leiterin Sie gibt den Rahmen für eine Produktion, leitet den Prozess und fällt die Entscheidungen. Choreograf als Initiator Er setzt einen kollektiven Prozess in Gang, bringt Improvisations- und Kompositionsaufgaben ein oder schlägt Spielweisen vor, entwickelt also gemeinsam mit den Tanzenden die Choreografie und teilt die Entscheidungsgewalt mit allen. Choreografin als Delegierende Sie gibt Aufgabengebiete an verschiedene Personen ab, lässt z.B. das Warm-Up von einem Tänzer anleiten. Choreograf als Berater oder Moderator Er lässt allen Akteuren Freiraum, um selbstständig und selbstbestimmt etwas zu entwickeln, unterstützt diese Arbeit durch sein Wissen und gibt Hilfestellungen, wenn die Akteure Unterstützung brauchen, bzw. greift vermittelnd in die Zusammenarbeit der Beteiligten ein. Choreografin als Lehrende Sie vermittelt Wissen zeitgenössischer Choreografie, z.B. in Form von vorgegebenem Bewegungsmaterial in verschiedenen Tanztechniken. Choreograf als Akteur Er wirkt in der Choreografie als Tänzer mit, z.B. in einem Solo oder als Teil der Gruppe.

Tänzer/in Durch neue Formen der Zusammenarbeit kommen Tänzerinnen und Tänzer in der zeitgenössischen Choreografie andere

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Dramaturgie

146 Zusammenarbeit Rollen zu, die sie stärker an dem choreografischen Prozess partizipieren lassen, indem sie z.B.: ihre Lebenserfahrungen einbringen | ihre körperliche und tänzerische Kompetenz sowie ihre Bewegungserfahrungen einbringen | ihre Biografie zum Thema der choreografischen Arbeit machen und ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse oder Interessen thematisieren | Medien wie Bilder, Texte, Musik beisteuern | mit ihren Fähigkeiten und Vorerfahrungen am Produktionsprozess teilhaben, z.B. in der Technik, in der Programmheftgestaltung | ihr kulturelles Wissen einbringen | die Mit-Autorschaft für die Choreografie Dramaturgie übernehmen.π –› Thema –› Arbeitsweise

Warm-up

Jeder Gruppe ist eine bestimmte Gruppendynamik eigen, die sich ergibt durch die Zusammensetzung der Personen | deren Interessensgebiete (z.B. aktuelle popkulturelle Tanzstile) | die institutionellen Bedingungen und die situative Stimmung (z.B. engagiert, unkonzentriert, aufgedreht). Die Gruppendynamik kann positiv beeinflusst werden z.B. durch: Warm-Up und Kennenlernspiele | Sensibilisierung der Eigen- und Fremdwahrnehmung π | kollektive Spielweisen | einen gemeinsamen Arbeitsraum | eine Arbeitsatmosphäre des gegenseitigen Vertrauens, der Achtsamkeit und des Respekts. Wie setzt sich die Gruppe zusammen? Nehmen die Tanzenden selbstgewählt an dem choreografischen Projekt teil oder sind sie dazu verpflichtet worden, z.B. Schüler/innen im Unterricht, in dem ein Choreografieprojekt durchgeführt wird, oder das Ensemble eines Theaters? – Welche Erfahrung haben die Teilnehmenden in Bezug auf Bewegung und Tanz, Bewegung und Musik, Bewegung und eine inhaltliche Auseinandersetzung mit bestimmten Themen? – Wie können Choreograf/innen damit umgehen, wenn die Tanzenden mit anderen Erwartungshaltungen einsteigen als sie? – Ist die Gruppe tendenziell eher homogen oder heterogen in Bezug auf Alter, Geschlecht, Bewegungs- und Tanzerfahrung sowie kulturellen Hintergrund? – Wie kann das Alter der Teilnehmenden in den choreografischen Prozess eingebunden werden? Welches Potenzial birgt die Zusammenarbeit unterschiedlicher Altersgruppen? Inwieweit wird die Arbeitsweise, die Form der Zusammenarbeit oder das

Mitwirkende

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Bewegungsmaterial durch das Alter geprägt? Welche szenische Fantasie bringen Teilnehmende unterschiedlicher Altersstufen ein? Wie kann altersspezifisches Wissen einbezogen werden? – Inwieweit hat das Geschlecht Auswirkung auf die Bewegungsgenerierung oder auf die Wahrnehmung von Bewegung? Welche Rolle spielen der Umgang mit Sexualität oder geschlechtsspezifische Rollenbildern in der Choreografie? – Wie lässt sich das kulturelle Wissen der Beteiligten für die Choreografie produktiv nutzen, z.B. indem unterschiedliche Muttersprachen in einen Text einfließen, Tanzformen, Gesten und Mimik verschiedener Kulturkreise in einer Choreografie in BezieDramaturgie –› hung gesetzt werden?π – Lässt sich die Dynamik, die zu ProbenArbeitsweisen beginn in der Gruppe vorherrscht, für die choreografische Arbeit nutzen, indem z.B. Aufregung , Überreiztheit in die erste Aufgabenstellung integriert wird? Oder ist es besser, die Atmosphäre zu ändern, indem z.B. eine aufgeregte Gruppe durch Konzentrations- und Partnerübungen beruhigt wird? Lässt sich die Gruppendynamik bündeln, indem Übungen zur Körper- und Gruppenwahrnehmung gemacht werden? Gruppe Gleichaltriger Eine Choreografin arbeitet mit einer Gruppe von pubertierenden Schüler/innen › Sie schlägt ihnen verschiedene Themen vor, die für Jugendliche interessant sein könnten, z.B. Sexualität, Streetdance, Identität, Zukunft › In einer ersten Arbeitsphase werden diese Themen in Diskussionen und mit Bewegungsaufgaben bearbeitet › Ggf. entstehen daraus neue Themen › Es wird gemeinsam entschieden, welches Thema choreografisch bearbeitet werden soll. Altersgemischte Gruppe Eine Szene mit einem zehnjährigen Jungen und einem Zwanzigjährigen entwickeln › Dafür beiden dieselbe Bewegungsaufgabe stellen › Die Unterschiede herausstellen, indem der Zehnjährige seine Bewegungssequenz tanzt und vom Zwanzigjährigen beobachtet wird, dann anders herum Komposition › Kommentierenπ, z.B. indem die Szene im Format eines HipHopBattles angelegt ist › Gesten auswählen und rhythmisch variieren, –› Tools –› die zeigen, ob die Leistung des anderen anerkannt wird oder nicht. Kontextualisieren Typisch weiblich, typisch männlich Durch Improvisation choreografisches Material zum Thema Flirten sammeln › Auf

148 Zusammenarbeit

Form geben

Rollenklischees im Bewegungsverhalten aufmerksam machen und diskutieren, z.B.: Mädchen spielen mit den Haaren, Jungen nehmen Machopose ein › Rollenklischees in Bewegungssequenzen umsetzen › Bewegungsmuster variieren.π Vielfalt in der Einheit Allen Tanzenden dieselbe Bewegungsaufgabe stellen › Jeder Teilnehmende löst die Aufgabe für sich › Die Teilnehmenden präsentieren einander ihre Ergebnisse › Die unterschiedlichen Ergebnisse in ihrer Eigenheit nebeneinander stehen lassen.

Bewegungsanalyse

Kulturell geprägte Assoziationen Ausgangspunkt ist ein abstraktes Bild mit grünen Linien und geometrischen Formen › In der Gruppe reflektieren, welche Assoziationen entstehen. Z.B.: a assoziiert grün mit Frühling, b assoziiert grün mit dem Islam › Die kulturelle Prägung dieser Assoziationen hinterfragen › Reflektieren, welche Bilder entstehen, z.B.: Frühling – empor sprießende Pflanzen, Islam – auf dem Gebetsteppich betende Menschen › Umsetzen der Vorstellungsbilder in Bewegungssequenzen. a erforscht die spezifischen Bewegungsqualitäten einer wachsenden Pflanze anhand der Bewegungsparameter. Daraus eine Bewegungsaufgabe formulieren, z.B.: sich kraftvoll und direkt vom unteren in den oberen Raumlevel bewegen.π Interkulturelles Interview Teilnehmende verfügen über unterschiedliches bewegungskulturelles Wissen, z.B. HipHop, Bauchtanz, Capoeira, Ballett › In einer Interviewsituation befragen sich die Teilnehmenden abwechselnd, was das Spezifische an ihrer Bewegungsform ist. Woher kommt sie? Welche Anforderungen stellt sie an den Körper? Welches Zeichensystem gehört dazu, zum Beispiel Gesten, Mimik? Welche Bewegungsmuster kommen häufig darin vor?

Dramaturg/in Die Funktion und die Art und Weise, wie Dramaturg/innen mit Choreograf/innen oder der Gruppe zusammenarbeiten, kann variieren und hängt von der gewählten Form der Zusammenarbeit ab. Dramaturg/innen bringen sich mit einem spezifischen

Mitwirkende Blickwinkel in den choreografischen Prozess ein. Das dramaturgische Denken reflektiert die Adäquatheit und Stringenz der eingesetzten Mittel und zielt auf die Überprüfung und Hinterfragung von Thema, Arbeitsweise, Aufbau und innerer Logik der Choreografie ab. Die Choreografie wird auf ihre Lesbarkeit befragt, kontextualisiert und reflektiert.π Dramaturgie bezieht sich auf das choreografische Gesamtgeschehen und versucht den Zuschauerblick zu antizipieren. Sie ist nicht zwangsläufig an die Person eines Dramaturgen gebunden. Ein choreografischer Prozess kann auch ohne Dramaturg/innen stattfinden. Folgende Positionen und Funktionen können Dramaturg/innen einnehmen: Dramaturg als Berater Er fungiert als distanzierter Blick von außen, stellt reflektierende Fragen zu kompositorischen Entscheidungen und zur Gestaltung der gesamten Choreografie. Auch Bühnen- und Kostümbild, Licht und der Einsatz anderer Bühnentechniken wie Drehbühne, Bühnennebel etc. sind Gegenstand dramaturgischer Reflexion. Diese Beobachtungen und Überlegungen teilt er mit der Choreografin und berät diese in der choreografischen Arbeit. Der Dramaturg nimmt keine eigenständige Position ein und hat keine Entscheidungskompetenz. Dramaturgin als Mit-Autorin des Konzeptes Sie erarbeitet gemeinsam mit dem Choreografen das Konzept für ein choreografisches Projekt und ist dabei für die theoretisch-wissenschaftliche Reflexion verantwortlich, die den künstlerischen Forschungsprozess rahmt. Sie sorgt ggf. für die Verschriftlichung des Konzepts, z.B. für die Antragstellung zur Finanzierung. Die Dramaturgin vermittelt zusammen mit dem Choreografen die konzeptionellen Überlegungen und ist bei Gesprächen im künstlerischen Team und ersten Explorationsphasen als Beobachterin und FeedbackGeberin anwesend. Dramaturg als Akteur Er ist an dem choreografischen Prozess aktiv beteiligt, d.h. er bringt wie alle Beteiligten spezifisches Material in den Prozess ein, z.B. belletristische oder theoretische Texte, Bild- oder Filmmaterial, oder er arbeitet rein auf der Bewegungsebene und steht ggf. selbst als Tänzer auf der Bühne.

149

Dramaturgie

150 Zusammenarbeit Dramaturgin als Expertin für Medien Sie untersucht die verwendeten Medien auf ihre historischen, aktuellen, sozialen und politischen Kontexte und kommuniziert diese an die Beteiligten. Sie reflektiert die Auswahl und Zusammenstellung der Medien und deren Wirkung als theatrale Zeichen. Dramaturg als Vermittler Während des Produktionsprozesses vermittelt er zwischen künstlerischen Positionen der Beteiligten. Darüber hinaus gestaltet er die dramaturgische Arbeit im Hinblick auf eine Vermittlung der künstlerischen Position in der Öffentlichkeit. Bei Publikumsdiskussionen, Stückvorstellungen etc. schildert er den choreografischen Prozess, berichtet über Arbeitsansatz und Zielsetzung der Choreografie oder moderiert die Diskussion mit dem Publikum. Er formuliert die Pressemitteilungen und das Programmheft. Dramaturgin als Dokumentierende /Archivarin Sie dokumentiert den jeweiligen Probenstand und bewahrt so die Entwicklungen des Probenprozesses. In dieser Funktion hilft sie, den »roten Faden« im Probenprozess nicht aus den Augen zu verlieren. Die Dokumentation kann als eigenständiges Produkt neben der Choreografie veröffentlicht werden. Dramaturg in eigenständiger Position Der Dramaturg arbeitet parallel zur Choreografin an einer eigenen Aufarbeitung des Themas. Dabei bedient er sich seiner eigenen Ausdrucksmittel, z.B. philosophische Abhandlung, Essay, Interviews mit Menschen, die sich auf andere Art und Weise mit dem Thema auseinander gesetzt haben. Neben der Choreografie entsteht ein eigenständiges Produkt, z.B. ein Buch. Welche Position nimmt der Dramaturg in der Beziehung zur Choreografin und den anderen Beteiligten ein? – Entwickeln Choreograf und Dramaturgin gemeinsam ein Konzept für ein choreografisches Projekt, das die Dramaturgin gegebenenfalls verschriftlicht, z.B. für eine Antragstellung bei einer Institution? – Kontextualisiert der Dramaturg die Idee der Choreografin, indem er auf aktuelle gesellschaftspolitische Debatten, auf bestehende Diskurse oder historische Auseinandersetzungen mit dem Thema hinweist? – Helfen die Fragen der Dramaturgin, die konzeptuellen Ideen des Choreo-

Mitwirkende

151

grafen zu schärfen beziehungsweise die Zielsetzung des Projekts zu klären? – Überlegen beide gemeinsam, wer noch an einem Projekt beteiligt sein könnte, z.B. Tanzende mit einem bestimmten tänzerischen Wissen, eine Komponistin für neue Musik, ein Bildender Künstler, der die Ausstattung übernimmt? – Werden die Reflexionen der Dramaturgin über den Probenprozess diskutiert und fließen sie in den weiteren Arbeitsprozess ein? Benennt sie Bewegung und hilft dadurch beim Ordnen und Systematisieren von Bewegungsmaterial? Unterstützt sie die Analyse von Tanz und Textarbeit mit Hilfe ihres theoretischen Wissens? – Begreift der Dramaturg seine Tätigkeit als Zuarbeit für die Choreografin? Bringt er nach Absprache mit der Choreografin recherchiertes Material und wissenschaftlichtheoretisches Wissen (über Tanzgeschichte und aktuelles Tanzschaffen, andere Theater- und Kunstformen, Literatur, Politik, ästhetische Diskurse, das Thema des Stücks etc.) in den Arbeitsprozess ein? – Begleitet die Dramaturgin den gesamten Produktionsprozess, ist sie nur punktuell oder nur in den Endproben beteiligt? – Wirkt der Dramaturg projektbezogen bei der Entwicklung einer Choreografie mit oder begleitet er eine Choreografin über einen längeren Zeitraum? – Ist die Dramaturgin in organisatorischer (Produktion, Koordination), leitender (Management, Festivalleitung), vermittelnder (Moderatorin, Workshop-Leiterin, Vortragende, Pressesprecherin) oder unterstützender (Mentorin, Beraterin) Funktion an einem choreografischen Prozess beteiligt?

Komponist/in, Musiker/in Das Interesse von Choreograf/innen und Komponist/innen bzw. Musiker/innen an einem intermedialen Austausch kann unterschiedlichen Motiven entspringen und verschiedene ForKomposition men annehmen.π Fragen zur Beziehung zwischen Musik und Thema der Choreografie, der Einfluss der Rahmenbedingungen –› Intermediale und der Erscheinungsformen der Musik in der Aufführung, z.B. Komposition durch Live-Musiker, können thematisiert werden. Komponist/ innen beziehungsweise Musiker/innen können verschiedene Positionen im choreografischen Prozess einnehmen, die gegebenenfalls im Laufe des Prozesses in Frage gestellt und modifiziert werden können:

152 Zusammenarbeit

Musik löst Bewegungsentwicklung aus Die Komponistin bietet dem Choreografen eine Vorlage verschiedener musikalischer Sequenzen bzw. eine Musikerin improvisiert mit ihrem Instrument. Zu Musikvorlagen wird choreografisches Material entwickelt, geformt, komponiert. Gegebenenfalls verändert, erweitert, ergänzt die Komponistin bzw. Musikerin ihre musikalische Vorlage im Laufe des künstlerischen Prozesses. Musik wird für bestehendes Bewegungsmaterial komponiert Die Choreografin entwickelt ohne Musik das Bewegungsmaterial. Die Zusammenarbeit mit dem Komponisten setzt erst in der letzten Probenphase ein. Choreografin und Komponist wählen eine Form der Zusammenarbeit und entscheiden, ob die Musik z.B. dramaturgisch, thematisch oder atmosphärisch motiviert sein soll, in welcher Szene die Musik verdichten, kontrastieren oder verfremden soll. Komponistin oder Musikerin als Prozessbegleiterin Der Choreograf und die Musikschaffenden arbeiten gleichzeitig: Die Komponistin oder Musikerin ist während der Bewegungsgenerierung dabei, an der thematischen Auseinandersetzung beteiligt, erlebt in der Probensituation die künstlerische Arbeitsweise und den Generierungsprozess von choreografischem Material. Sie ist unmittelbar an der Choreografieentwicklung beteiligt. Neu komponierte Sequenzen oder die Musikauswahl werden direkt ausprobiert und gegebenfalls modifiziert. Komponist oder Musiker als Mit-Autor Der Komponist oder Musiker und die Choreografin generieren unabhängig voneinander auf der Grundlage gemeinsamer Absprachen ihr Ausgangsmaterial. Die jeweils erarbeiteten Sequenzen werden vorgestellt, diskutiert, reflektiert; gegenseitige Vorschläge zur Überarbeitung führen zu neuen Absprachen. Im prozessualen Austausch wird das musikalische und choreografische Material entwickelt und zusammengeführt. Es werden die Wechselwirkungen untersucht und verschiedene Konstellationen ausprobiert, z.B. welches Bewegungsmaterial mit welchem Musikteil zusammenpasst, ob es Teile in Stille gibt oder Musik ohne Bewe-

Mitwirkende gung etc. Die Bewegungssequenz oder Szene wird auf die Musik beziehungsweise die Musik auf die Bewegung abgestimmt, z.B. in Bezug auf den Rhythmus, die Geschwindigkeit, Phrasierung, Kompositionsstruktur. Musiker/innen als Akteure Musiker/innen gestalten gemeinsam mit Tanzenden die Choreografie, z.B. bei Echtzeit-Kompositionen oder »freien« Improvisationen. Die Echtzeit-Komposition kann z.B. an Aufgaben, Themen oder Scores orientiert sein. Komponist und Choreografin arbeiten autonom Der Komponist erarbeitet unabhängig vom choreografischen Prozess eine musikalische Komposition. Beide Medien werden als zwei unabhängige künstlerische Formate im Moment der Aufführung zusammengeführt. Die Verbindung beider Medien ereignet sich in der Wahrnehmung des Publikums. Welchen organisatorischen, finanziellen und zeitlichen Rahmenbedingungen unterliegt die Zusammenarbeit zwischen Komponist/ in bzw. Musiker/in und Choreograf/in? – Entstehen Choreografie und Musik gleichzeitig, in wechselnden Arbeitsphasen oder nacheinander? Inwieweit beeinflusst die Zeitlichkeit die Arbeitsweise, den Einsatz der Akteure und Musiker sowie das Endprodukt? – Was interessiert beide Künstler/innen an ihrem Austausch, z.B. Ähnlichkeiten oder Unterschiede beider Medien? Welche Fragestellungen ergeben sich daraus? Z.B.: Wie entsteht Musik und wie Bewegung? Was bedeutet »Instrument« in Bezug auf den Körper bzw. das Musikinstrument? Wie wird ein Objekt zum Musikinstrument? Wie wird ein Objekt zum Instrument für Bewegung? – Wie können Kompositionsverfahren wie Verfremdung oder Dekonstruktion in beiden Medien angewendet werden? – Welche Rolle kann der Komponist in der Aufführung haben? Ist die Musikerin sichtbar für den Zuschauer? Oder »nur« hörbar? Ist sie mobil oder hat sie einen festen Platz auf der Bühne? – Was macht der Musiker, wenn er nicht spielt? – Wie verhalten sich Tänzer/innen und Komponist/in bzw. Musiker/ innen zueinander? Gibt es einen direkten Austausch?

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154

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Komposition Das Modul Komposition rahmt die Module Generierung, Formgebung und Spielweisen, die Tools und Verfahren für die Erarbeitung des Materials einer Choreografie anbieten. Der Baustein Dramaturgie thematisiert kompositorische Fragen unter einer auf die gesamte Choreografie zielenden Perspektive. Der Baustein Komposition liefert Hinweise für die Zusammenstellung des erarbeiteten choreografischen Materials. Der Baustein Aufführung zeigt die Spannbreite der Aufführungsformate und Bühnensettings sowie die Möglichkeiten der Beteiligung des Publikums an der Aufführung auf. Kompositorische Tools und Verfahren und dramaturgische Fragestellungen können in verschiedenen Arbeitsphasen und bei unterschiedlichen Prozessen eingesetzt werden, z.B.: zur Ideenfindung und Themenentwicklung | für die künstlerische Recherche und die spezifische Arbeitsweise | zur Konzeptentwicklung | für Entscheidungsfindungen in Bezug auf das Aufführungsformat und Bühnensetting | für Entscheidungsfindungen in Bezug auf das Material der Aufführung und dessen Komposition | zur Verfeinerung, Präzisierung und kritischen Überprüfung des komponierten Materials.

156 Komposition DRAMATURGIE

158 Thema 159 Arbeitsweise 165 Aufbau 169 Reflexion

KOMPOSITION

173 173 175 176 180 182 184

Tools Auswählen Vervielfältigen Variieren Kombinieren Gewichten Kontextualisieren

187 187 188 190

Verfahren Verfremdung Dekonstruktion Reenactment & Rekonstruktion 191 Collage / Montage 193 Parameter 193 Zeit | Raum | Akteure 197 Intermediale Komposition

AUFFÜHRUNG

204 Ort 206 Setting 209 Publikum 212 Aufführungsformate

Dramaturgie

157

DRAMATURGIE In der Dramaturgie einer Choreografie formuliert sich die künstlerische Position. Durch konzeptionelle Arbeitsweisen und performative Aufführungsformate hat die dramaturgische Arbeit in der zeitgenössischen Choreografie an Bedeutung gewonnen und ihren Aufgabenbereich verändert. Sie hinterfragt die künstlerische Umsetzung des Themas, die Intention der Choreografie, den Arbeitsprozess und das Aufführungsformat. Die Art und Weise dramaturgischer Arbeit ist daher eng an den jeweiligen künstlerischen Prozess gebunden, den sie reflexiv begleitet. Dramaturgie vermittelt nicht nur zwischen dem Thema, dem künstlerischen Prozess, der künstlerischen Arbeitsweise sondern auch zwischen dem künstlerischen Produkt und der Öffentlichkeit. Zugleich ist es ihre Aufgabe, Aufmerksamkeit auf den ästhetischen, gesellschaftlichen und politischen Rahmen der künstlerischen Arbeit zu legen und diese in den Kontext der Diskurse zu stellen, an die sie anknüpfen kann und will. Dramaturgische Arbeit kann durch einen Dramaturgen erfolgen oder vom Choreografen oder den anderen am künstlerischen Prozess Beteiligten übernommen werden.π Dramaturgische Fragestellungen können vor und während des choreografischen Prozesses gestellt werden. Dieser Baustein thematisiert die dramaturgischen Perspektiven auf Komposition und Aufführung. Er benennt die Referenzrahmen, auf die sich die Choreografie bezieht: die Entwicklung eines Themas bzw. Forschungsinteresses | die Arbeitsweise, mit der dieses bearbeitet wird | den Aufbau der Choreografie als stimmig wahrgenommenem Ablauf | die Reflexion des Arbeitsprozesses sowie der ästhetischen, politischen und gesellschaftlichen Verortung der Choreografie. Choreografie lesen Tanzdramaturgie beschäftigt sich mit der Lesbarkeit von Bewegung und dem komplexen und mehrdeutigen Zeichensystem einer Choreografie. Sie arbeitet den Sinn, den Inhalt und die Eigenlogik einer Choreografie heraus, die es dem Publikum erlauben,

Mitwirkende

158 Komposition

Bewegungsanalyse

deren Zeichensystem lesbar zu machen und für sie bedeutungsvolle Zusammenhänge herzustellen. Im Kontext zeitgenössischer Choreografie bezieht sich Lesbarkeit auf die Bewegung selbst, z.B. in Bezug auf Raum, Antrieb, Form, Phrasierung und Beziehung,π sowie auf die Verbindung von Bewegung mit anderen Medien wie Text, Bild, Film oder Musik. Es geht dabei weniger um die Bedeutung einzelner Zeichen oder Zeichensysteme sondern um ihre Kombination. Tanz und Choreografie sind nicht eindeutig dekodierbar sondern vielfältig lesbar. Damit ist die Wahrnehmung des Publikums gefragt: hinsehen, zuhören, beobachten, aufnehmen, kontextualisieren. Bewegung und Choreografie in einem symbolisch aufgeladen Sinn zu lesen, ist eine Option des Zuschauers und entspricht nicht zwangsweise einer Intention des Choreografen. Lesbarkeit muss nicht mit Deutbarkeit gekoppelt sein; sie kann auf einer abstrakten Zeichenebene stattfinden. Wie wird Bewegung als Zeichen gesetzt, z.B. als abstrakte oder als symbolische Bewegung? – Wie werden die Zeichensysteme der unterschiedlichen choreografischen Materialien verbunden? – Lässt die Choreografie verschiedene Lesarten zu? – Welches Wissen und welche Seherfahrung sind nötig, damit die Choreografie lesbar wird? – Welche Anregungen bekommt das Publikum, um die Choreografie lesen zu können?

Thema Da Bewegung nicht eindeutig lesbar, der choreografische Prozess ergebnisoffen ist und zudem Choreografie als Arbeitsprozess und als theatrale Aufführung selbst zum Thema werden kann, muss nicht zwangsläufig ein ausgearbeitetes Thema am Anfang der künstlerischen Auseinandersetzung stehen. Ein Thema zu entwickeln ist häufig zentraler Bestandteil choreografischer Arbeit. Ein Arbeitsthema kann sich in der choreografischen Arbeit modifizieren, differenzieren, transformieren, es kann sich auch erst im Arbeitsprozess herausbilden, z.B. während der Generierung von Bewegungsmaterial oder durch eine forschende künstlerische Arbeitsweise.

Dramaturgie

159

Wie ist die Themenwahl motiviert, z.B. persönlich: die eigene Geschichte als Balletttänzerin, oder gesellschaftlich: politische Dissidenten? – Soll das Thema an künstlerische oder theoretische Diskurse anknüpfen, z.B. als Auseinandersetzung mit der Form der Bewegung oder dem Verhältnis von Präsenz und Repräsentation? – Soll das Thema während des Arbeitsprozesses in der Gruppe generiert werden oder ist es von außen vorgegeben, z.B. von einer Institution bei einer Auftragsarbeit? – Welche Rahmenbedingungen braucht die Entwicklung und Bearbeitung eines Themas? Wie viele und welche Akteure sind dazu nötig?

Arbeitsweise Zeitgenössische Choreografie ist häufig durch eine explorative und ergebnisoffene Arbeitsweise geprägt. Instrumente sind die Recherche und künstlerische Forschung.π Diese Aufgabe kann vom Dramaturgen übernommen werden und den gesamten künstlerischen Arbeitsprozess begleiten, indem das Material und die Arbeitsweise immer wieder befragt werden. Im Vordergrund steht dabei die Untersuchung, der Prozess, nicht unbedingt das Endprodukt. An der forschenden Arbeitsweise sind alle Personen, die den choreografischen Prozess gestalten, beteiligt. Auch das Publikum kann zum Partner des Forschungsprozesses werden.

Essay

Die Arbeitsweise steht in direkter Beziehung zu dem gewählten Thema und künstlerischen Forschungsinteresse sowie zu der Anzahl und dem Beziehungsverhältnis der Beteiligten. Sie wird im choreografischen Prozess entwickelt, präzisiert, hinterfragt und ggf. verändert. Die choreografische Arbeitsweise kann unterschiedlich ausgerichtet sein. Idealtypisch lassen sich folgende Arbeitsweisen unterscheiden: bewegungsorientiert | intermedial | narrativ | identitäts- und biografieorientiert | interkulturell | spielorientiert | konzeptionell. In einem Choreograchoreografischen Prozess oder einer Echtzeit-Komposition π kann die Themenbearbeitung mit nur einer oder mit verschie- Fieren als Spiel denen Arbeitsweisen erfolgen.

160 Komposition Bewegungsorientierte Arbeitsweise Die tänzerische Bewegung selbst ist Thema der Choreografie. Wie kann die Beziehung der Körperteile zueinander, der Körper im Raum, der Bewegungsantrieb komponiert werden? – Wie können Funktionssysteme des Körpers zum Ausgangspunkt der Choreografie werden, z.B. Muskelapparat, Gelenkapparat, Herz-Kreislaufsystem Bewegungen oder Organsystem?π – Wie können Alltagsbewegungen choreograFinden –› formal fisch verarbeitet werden, z.B. gehen, sitzen, fangen? – In welchem Verhältnis stehen Bewegungsausführungen zu der sozialen, historischen und kulturellen Konstruktion von Bewegung, z.B. Contact Improvisation zu dem westlichen Bewegungskonzept der 1960er Jahre oder das Prinzip von Führen und Folgen im Tango zu dem Geschlechtercode Argentiniens? Intermediale Arbeitsweise Das Thema einer Choreografie kann in einem anderen Medium, z.B. in einem Musikstück, Text, Bild, Foto oder Film oder auch in der Auseinandersetzung mit digitaler Technologie liegen. Entsprechend kann die Materialgenerierung intermedial erfolgen und das gesammelte choreografische Material aus verschiedenen Medien bestehen, die in der Choreografie zusammengeführt werden. Welches Medium soll als thematischer Ausgangspunkt des choreografischen Prozesses dienen, z.B. der Grundkonflikt eines Romans, die Kompositionsstruktur eines Musikstücks oder der Aufbau eines Bildes? – Wie kann die Übertragung von einem Medium in Bewegung und umgekehrt gestaltet werden, z.B. von einem Text in Bewegung oder von Bewegungsmaterial in ein Bild? Soll der Inhalt oder der formale Aufbau eines Textes übertragen werden? Soll er kompositorisch bearbeitet, z.B. verfremdet werden? – Soll das choreografische Material von den Beteiligten selbst geschrieben, gemalt, fotografiert werden? – Wie soll Bewegungsmaterial mit anderen Materialien, z.B. Bild, Text, Film zusammengeführt werden? – Werden virtuelle und reale Körper in Beziehung gesetzt, z.B. durch Übersetzung in digitale Bewegungen beim Motion Capturing oder durch Übertragung digitaler Choreografieprogramme auf reale Tanzkörper? Wie lässt sich das Verhältnis von Realität und Simulation in einer Choreografie herstellen?

Dramaturgie

161

Narrative Arbeitsweise Zeitgenössische Choreografie hinterfragt den an einem linearen Handlungsverlauf orientierten dramaturgischen Aufbau. Sie expeBewegungs rimentiert mit narrativen Ordnungen, unterläuft diese mitunter. analyse Indem das Zeichensystem einer Choreografie mehrdeutig angelegt ist, verlagert sich die Sinnzuschreibung auf das Publikum. Es geht in zeitgenössischer Choreografie nicht darum, eindeutig kodierte Inhalte zu transportieren, sondern eher darum, Wahrnehmungen zu öffnen und Assoziationsfelder entstehen zu lassen. Entsprechend kommen Kompositionsverfahren der Collage/Montage und Dekonstruktion sowie performative Aufführungsformate zur Anwendung. Wie kann eine lineare Erzählstruktur dramaturgisch gebrochen werden? Wie kann z.B. über Verschiebungen, Überlappungen, Kontraste, Brüche, Montage die Erzählung fragmentiert werden? – Wie kann der dramaturgische Aufbau offen gestaltet werden für verschiedene Lesarten? – Was lässt sich mit einer fragmentierten Erzählweise erzählen? – Welche Auswirkungen hat eine fragmentierte Erzählung auf die Wahrnehmung und Rezeption des Publikums? Welche Fähigkeiten muss das Publikum mitbringen, damit es zum aktiven Rezipienten werden kann? – Was bedeutet eine fragmentierte Erzählung für die Zusammenstellung des choreografischen Materials? – Welche Herangehensweise macht für welche Erzählung Sinn? Wird die »Geschichte« von einem oder von mehreren Akteuren, zeitlich versetzt oder gleichzeitig, »erzählt«? Identitäts- und biografieorientierte Arbeitsweise Thema der Choreografie kann die Identität oder Biografie einer Person oder die Identität einer Gruppe sein, z.B. einer bekannten Persönlichkeit, einer fiktiven Person oder der Beteiligten selbst. Bei einer solchen Herangehensweise wird in der zeitgenössischen Choreografie häufig das Verhältnis von Selbst und Rolle, Authentizität und Inszenierung, Präsenz und Repräsentation befragt. Für den Arbeitsprozess und das Aufführungsformat ist entscheidend, ob dies als Solo oder als Gruppenstück erarbeitet wird.

162 Komposition Welche Aspekte der Biografie werden thematisiert? – Wird das Bewegungsmaterial eines bekannten Tanzes, z.B. des »Moonwalks« von Michael Jackson oder des »Hexentanzes« von Mary Wigman bearbeitet? Oder soll mit den Bewegungsmustern der Beteiligten gearbeitet werden? – Werden die Teilnehmenden als Experten des Alltags in den choreografischen Prozess integriert? Welchen Bezug haben die Biografien zur Gegenwart und dem Kontext der Aufführung? – Wie soll mit dem Verhältnis von Selbst und Rolle, Authentizität und Inszenierung, Präsenz und Repräsentation umgegangen werden? Wie treten die Teilnehmenden auf ? Spielt z.B. eine Akteurin die Rolle ihres Lehrers? Wird die Biografie erzählt? Geschieht dies über Text und Sprache oder werden biografische Aspekte, z.B. eine körperliche Behinderung, bewegungsorientiert bearbeitet? Werden Medien eingesetzt, die, wie Fotos oder Filme, Rückblicke erlauben? – Wie wird die Figur dramaturgisch bearbeitet? Soll sie von mehreren Akteuren dargestellt werden? – Wie setzen sich die Agierenden mit der Biografie auseinander? Welche Recherche ist nötig und sinnvoll? Interkulturelle Arbeitsweise Kulturelle Differenz, kulturelle Hybridität, Diaspora, Migration, der globale kulturelle Transfer von Bewegungs- und Tanzkulturen oder die (Un-)Möglichkeit der kulturellen Übersetzung von Bewegung können als Themen der künstlerischen Recherche gewählt werden. Durch die häufig interkulturell zusammengesetzten Gruppen ist die Auseinandersetzung mit diesen Themen immer wieder auch integraler Bestandteil eines offen angelegten choreografischen Prozesses. Wie zeigen sich kulturelle Identitäten und bewegungs- und tanzkulturelle Traditionen, z.B. in Bewegungserfahrungen, Bewegungstechniken, Körper- oder Geschlechterkonzepten? – Wie wird Interkulturalität thematisiert, welches Konzept von Interkulturalität wird verfolgt, wie soll Interkulturalität ästhetisch umgesetzt werden, z.B. durch das Konfrontieren von indischem Tanz mit Techno-Musik? – Wie kann kulturelle Differenz künstlerisch verwertet werden, z.B. die unterschiedlichen kulturellen Verständnisse, was als zeitgenössischer Tanz bezeichnet wird? – Sollen, unter dem Stichwort kulturelle Hybridität, verschiedene Bewegungs- und tanzkulturelle Traditionen, Techniken oder ästhetische Konzepte miteinander verbunden werden?

Dramaturgie

163

Wie soll die Begegnung von unterschiedlichen kulturellen Identitäten gestaltet werden? Wird kulturelle Identität selbst zum Thema? Übernehmen die Tanzenden die (tanz)kulturellen Praktiken anderer Kulturen? Soll mit kulturellen Differenzen experimentiert werden und etwas Neues, Drittes entstehen? – Sollen kulturelle Unterschiede herausgearbeitet werden, z.B. die unterschiedliche kulturelle Bedeutung von Gesten? Wie wird das Verhältnis von Eigenem und Fremdem thematisiert? Soll dies über unterschiedliche Bewegungstechniken oder -stile erfolgen? Treten die verschiedenen Tanzstile in Widerstreit? – Wird eine Bewegungssequenz oder ein choreografisches Konzept auf Tänzer/innen anderer Kulturen übertragen? Soll über bewegungskulturelle Differenzen wie Körperkonzept, Bewegungssozialisation, Tanztechniken geforscht werden? Sollen Tanzstile auf andere kulturelle Kontexte übertragen werden, z.B. ein höfischer Tanz auf Jugendliche oder Butoh auf Balletttänzerinnen? Wie kann ein westlich geprägter, auf Individualität setzender Tanz von Tanzenden aus Kulturen übersetzt werden, in denen Individualität eine geringere Rolle spielt, wie z.B. in China? Welche Schwierigkeiten treten auf ? Welche neuen Formen werden in Übertragungsprozessen gefunden? Wie schlagen sich diese in der Choreografie nieder? Sollen kulturelle Übertragungen darauf abzielen, tanzästhetische Konventionen und Sehgewohnheiten zu befragen? Spielorientierte Arbeitsweise Die Themengenerierung und -bearbeitung erfolgt über Spiele.π Spiele thematisieren das Verhältnis von Ordnung und Zufall und erlauben einen offenen, auf die unmittelbare Situation bezogenen Forschungsprozess. Wie kann über ein Spiel, z.B. Fußball oder Sudoku, ein Thema generiert, Bewegungsmaterial gewonnen und der künstlerische Prozess gestaltet werden? – Wie können die Prinzipien und Regeln eines Spiels oder sportlichen Wettkampfs auf die Komposition übertragen werden? – Nach welchen Spielregeln können die Beteiligten eine Choreografie erarbeiten? – Soll der dramaturgische Verlauf der Choreografie festgelegt oder durch aleatorische Verfahren oder die Partizipation des Publikums bestimmt werden? – Wie kann mit dem Verhältnis zwischen Akteuren und Publikum gespielt werden? Nimmt

Spielarten

164 Komposition das Publikum an der performativen Handlung teil, indem es mit den Akteuren direkt interagiert? Trifft es Entscheidungen, die das Handeln der Akteure beeinflussen? Wie wird die damit verbundene Unvorhersehbarkeit dramaturgisch umgesetzt? – Soll die Partizipation mit dem Publikum nach Regeln verlaufen? Welche Kompetenzen brauchen die Akteure, um Interaktionen mit dem Publikum gestalten zu können? Konzeptionelle Arbeitsweise In der zeitgenössischen Choreografie stehen häufig die theoretische Kontextualisierung und Reflexion des choreografischen Prozesses und seines gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Kontextes im Zentrum. So kann das Thema der Choreografie entwickelt werden aus der Auseinandersetzung mit Choreografie als Ordnung, mit einem theatertheoretischen Konzept, z.B. der Frage der Aufführung und Darstellung, oder mit einem theoretischphilosophischen Konzept, z.B. der Frage der Repräsentation. Sollen vorherrschende Bewegungstechniken und -ästhetiken sowie Wahrnehmungs- und Rezeptionsmuster kritisch befragt werden? Fließt die Befragung als Methode künstlerischen Forschens in den choreografischen Prozess ein? – Soll das Verhältnis von Ordnung und Zufall, Regel und Spiel in der Choreografie reflektiert und zum Thema choreografischen Forschens werden? – Soll auf eine Auseinandersetzung mit bestehenden Arbeitsweisen und ästhetischen Konzepten anderer Künstler/innen Bezug genommen werden? Wie soll diese Auseinandersetzung stattfinden, als Reenactment? – Sollen die eigenen künstlerischen Mittel hinterfragt werden, z.B. Themen wie Werkcharakter, Autorschaft, Rahmenbedingungen der Kunstproduktion? – Soll die politische Dimension des Ästhetischen zur Diskussion stehen, z.B. über die Thematisierung von Macht oder von Zentrum und Peripherie in der choreografischen Ordnung? – Sind kompositorische Strukturen das Thema der choreografischen Arbeit, z.B. der Umgang mit Systematik, die Übertragung einer Methode von einem Medium auf ein anderes, z.B. von musikalischen Kompositionsprinzipien auf Choreografie, oder von Theorie auf choreografische Praxis, z.B. der Theorie der Repräsentation? – Soll ein am Thema und am choreografischen Prozess orientiertes System des Choreografierens entwickelt und

Dramaturgie

165

im Laufe des Prozesses immer weiter ausdifferenziert werden? – Wie findet in der choreografischen Arbeit eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen, philosophischen, ästhetischen und tanz- bzw. theatertheBewegungs oretischen Diskursen statt, z.B. durch gemeinsames Lesen von Texten, analyse durch Zusammenarbeit mit Theoretikern oder durch Integration von theoretischem Material in die Aufführung?

Aufbau Der dramaturgische Aufbau einer Choreografie wird unter folgenden Aspekten thematisiert: Spannungsverlauf gestalten | Beziehungen komponieren | Übergänge/Brüche herstellen | Anfang und Ende setzen. Spannungsverlauf gestalten Der Spannungsverlauf thematisiert die dynamische Struktur einer Choreografie. In der zeitgenössischen Choreografie wird der dramaturgische Verlauf häufig nicht mehr als ein Spannungsbogen konzipiert, sondern diskontinuierlich gestaltet und ist durch Unterbrechungen, Sprünge oder Fragmentierungen gekennzeichnet. Die Bearbeitung des Spannungsverlaufs wird relevant, wenn das choreografische Material in einem ersten Entwurf zusammengeführt wurde. In dieser Arbeitsphase gewinnt das dramaturgische Denken als kritische Reflexion aus der Außenperspektive an Bedeutung. Welche Erwartungshaltungen werden durch eine spezifische Zusammenführung von choreografischem Material erzeugt bzw. durchkreuzt? Welche Reaktion wird dadurch erzeugt? – Welche Auswirkungen hat der Spannungsverlauf auf die Lesbarkeit von Bewegung und Choreografie? – Welche künstlerischen Arbeitsweisen und Aufführungsformate erfordern welche Spannungsverläufe? – Wie kann man den dramaturgischen Aufbau eines Stückes zeichnen? Wie kann man mit Hilfe dieser Zeichnung den Spannungsaufbau reflektieren? Beziehungen komponieren In einer Choreografie können auf vielfältige Weise Beziehungen zwischen Materialien, Beteiligten und Objekten hergestellt werden:

166 Komposition zwischen verschiedenen choreografischen Materialien, z.B. Bewegung und Bild, Musik, Text | zwischen den Beteiligten, z.B. zwei Soli | zwischen verschiedenen Objekten, z.B. einem Tisch und einem Stuhl. Die Lesbarkeit einer Choreografie hängt davon ab, wie die Beziehungen zwischen choreografischem Material, Objekten und Personen wahrgenommen werden. Eine differenzierte Komposition von Beziehungen eröffnet vielfältige Lesarten. Die Dramaturgie einer Choreografie kann durch die Art der Beziehungen an Spannung bzw. Stärke gewinnen oder verlieren. Beziehungen können dramaturgisch intendiert sein oder auch in der Wahrnehmung des Publikums entstehen. Wenn z.B. zwei oder mehr Tänzer gleichzeitig agieren, kann dies von einem Teil der Zuschauer als bedeutsam wahrgenommen werden, selbst wenn eine Beziehung in der Choreografie nicht bewusst angelegt ist. Beziehungen zwischen choreografischem Material, Objekten oder Personen können idealtypisch vier grundlegende Formen annehmen: Annähernd: Die Beziehung basiert auf einer mehr oder minder starken Ähnlichkeit oder gleichgerichteten Tendenz | Kontrapunktisch: Choreografische Materialien werden dialogisch zusammengeführt. Es fungiert nicht eines als die Interpretation des anderen, sondern beide ergänzen, erweitern die Lesbarkeit des anderen | Kontrastierend: Durch Unterschiedlichkeit bis hin zu Gegensätzlichkeit, durch Brechungen und Widersprüche werden Spannungen erzeugt | Unabhängig: Choreografische Materialien werden strukturell entkoppelt und alternierend oder überlagernd montiert. Unter welchen Aspekten bzw. auf welchen Ebenen werden Beziehungen hergestellt, z.B. auf einer konzeptionellen, kompositorischen, stilistischen, geschichtlichen, sozialen Ebene? – Sollen die Beziehungen annähernd, kontrapunktisch, kontrastierend oder unabhängig angelegt sein? – Wie wirken sich einzelne Beziehungsformen auf den Spannungsverlauf aus? Welche Wirkung hat der Wechsel von unbeabsichtigter zu beabsichtigter Beziehung? – Wie beeinflusst das Beziehungsverhältnis einzelner Szenen die Gesamtkonzeption der Choreografie? – Wie kann bereits eingeführtes mit neuem choreografischem Material in Beziehung gesetzt werden?

Dramaturgie

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Übergänge/Brüche herstellen Einzelne Bewegungssequenzen und Szenen einer Choreografie Bewegungs können auf verschiedene Weise aneinandergereiht werden: durch Übergänge, Brüche, Sprünge, Pausen. Die Gestaltung der Verbin- analyse dungen ist ein wichtiges Instrument im kompositorischen Aufbau. Die Funktion, Dauer und Form einer Verbindung steht in Beziehung zu den Aktionen, die verbunden werden sollen. Sie kann inhaltlich und formal motiviert sein. Ein fließender Übergang z.B. hat andere Auswirkungen auf die folgende Szene und auf die Wahrnehmung der letzten Szene als ein abrupt gestalteter Bruch. In der zeitgenössischen Choreografie finden sich zunehmend Übergänge als Unterbrechungen, Brüche oder Sprünge, z.B. im Verfahren der Collage/Montage, bei Szenenwechseln oder Auf- und Abgängen.

Verbindungsarten Wie sollen die einzelnen Bewegungssequenzen, choreografischen Materialien oder Szenen miteinander verbunden werden? Welcher Form der Narration will die Choreografie folgen? Sind einzelne choreografische Passagen als Fragmente konzipiert, die unabhängig voneinander gezeigt werden sollen? – Szenenwechsel Auf welche Art und Weise finden Szenenwechsel statt und wie können sie variiert werden, z.B. durch veränderte Personenzahl mit Auf- und Abgängen oder durch Musik- oder Lichtwechsel? Soll der Szenenwechsel als abrupte Unterbrechung gestaltet sein, z.B. durch Sprung oder Schnitt, oder durch eine Überleitung, die für das Publikum nachvollziehbar bzw. vorhersehbar ist oder überraschend kommt, oder durch Überlappung von zwei Szenen? Oder findet ein gradueller Übergang als allmähliche Weiterentwicklung in Form einer Transformation statt? – Pausen Soll eine Pause als Unterbrechung angelegt sein, z.B. um dem Publikum Raum zu geben, sich das Kommende vorzustellen? Soll durch eine Pause die Neugier und das Interesse des Publikums geweckt werden? Wird sie als strukturierendes Element eingesetzt, indem systematisch nach jeder Szene eine Pause als Markierung eines Wechsels eingebaut wird? Wie soll die Unterbrechung gestaltet sein, durch Abdunkeln des Raumes oder Vorhang? Wie kann sie Teil der Choreografie werden? – Auf- und Abgänge Welche Auf- und Abgänge sind nötig, wenn z.B. mehrere Personen an einer Szene beteiligt sind? Wie kann der Zeit-Modus

168 Komposition der Auf- und Abgänge gestaltet werden, z.B. überlappend? Wie lassen sich Auf- und Abgänge organisieren? Welche Variationsmöglichkeiten bieten sich an in Bezug auf den Bühnenraum, gibt es z.B. Seitengassen oder nur eine Auf- und Abgangsmöglichkeit? Können die Aufund Abgänge Teil der Szenen sein, z.B. indem die Szene bis ins Off gespielt oder getanzt wird? Anfang und Ende setzen Anfang und Ende sind die zeitlichen Eckpfeiler einer Choreografie. Sie stehen in einem Zusammenhang, bedingen einander und prägen den Spannungsverlauf. Der Anfang trägt maßgeblich dazu bei, Aufmerksamkeit zu wecken und das Publikum in das Stück einzuführen. Diese Setzung, z.B. durch ein Solo, kann im Verlauf der Choreografie weiter verfolgt oder durchbrochen werden. Das Ende markiert den zeitlichen Abschluss der Choreografie, es kann das Thema abrunden. Es kann aber auch als offenes, provokantes, unerwartetes Ende gestaltet sein. Es kann sogar für das Publikum als Schluss gar nicht unmittelbar erkennbar sein. Wie immer das Ende gestaltet wird, es sollte dramaturgisch reflektiert gesetzt sein. Als letzte Setzung bleibt es dem Publikum häufig besonders in Erinnerung.

Themen setzen Wie kann eine Thematik geöffnet werden, z.B. durch das Auffächern verschiedener Facetten und Blickwinkel? Werden am Anfang Materialfragmente angeboten, die keinen Zusammenhang erkennen lassen und erst am Ende in Beziehung gebracht werden? Wird anfangs ein Statement abgegeben, das im Laufe des Stücks dekonstruiert wird? Soll eine Behauptung aufgestellt werden, die in der Folge kritisch hinterfragt, reflektiert und transformiert wird? – Anfang bestimmen Wann beginnt das Stück? Hat es einen indirekten Anfang, z.B. bereits im Foyer des Theaters oder an der Garderobe, sind die Akteure schon auf der Bühne, wenn die Zuschauer in den Theaterraum kommen, oder sind sie anfangs nicht deutlich vom Publikum unterscheidbar, wie z.B. bei Aufführungen im öffentlichen Raum? – Ende markieren Hat das Stück ein eindeutiges Ende z.B. durch einen Vorhang oder das Abtreten der Akteure von der Bühne? Oder ist das Ende nicht deutlich markiert,

Dramaturgie zum Beispiel, wenn die Musik weiterläuft und die Tänzer auf der Bühne bleiben, das Bühnenlicht aber bereits erloschen ist? Soll das Ende unvorhersehbar sein? Steuert das Stück auf ein vorhersehbares Ende zu, wird dann aber mit einer unvorhersehbaren Wendung durchkreuzt? Soll ein Resümee das Ende bilden? Wie würde ein offenes Ende aussehen? Welche anderen Möglichkeiten gibt es für das Ende?

Reflexion Prozess und Produkt reflektieren Reflexion ist ein zentrales Instrument dramaturgischen Denkens und ein Bestandteil der künstlerischen Arbeit selbst. Sie hilft, Themen, choreografisches Material und den Arbeitsprozess zu strukturieren, zu kontextualisieren und zu dokumentieren. Sie dient z.B. der kritischen Befragung der eigenen künstlerischen Vorgehensweise und des erarbeiteten Materials, der choreografischen Entscheidungsfindung, der Frage nach der Wirkung einzelner Szenen oder der gesamten Choreografie sowie der sozialen, politischen, kulturellen, ästhetischen Kontextualisierung von Prozess und Produkt. Dies kann durch Einbeziehung aller Mitwirkenden und von Außenstehenden erfolgen. Die dramaturgische Reflexion kann und sollte in unterschiedlichen Arbeitsphasen angewendet werden, z.B. auf eine einzelne Szene, eine Szenenabfolge oder bei einem Durchlauf der Choreografie kurz vor der Premiere.

Reflexionen der Beteiligten In welchem Kontext soll das kritische Hinterfragen stattfinden? Gibt es Regeln und Zeiten für Reflexionsrunden während der Proben? Wie relevant sind diese Reflexionen für den choreografischen Prozess? – Reflexion mit Gästen Wie kann eine solche Befragung gestaltet werden, z.B. indem jeder Beteiligte einen Gast zu einer Probe einlädt? Welche Fragen sind sinnvoll, um die Choreografie zu reflektieren? Sollten Regeln für den Austausch aufgestellt werden? Welche Rückschlüsse können aus einer Auswertung der Befragungen gezogen werden? Welche Seherfahrungen wurden thematisiert? Entspricht dies den choreografischen

169

Bewegungs analyse

170 Komposition Ideen? Gibt es Hinweise der Gäste, die zur Veränderung der Choreografie dienen können? – Befragung der Zuschauer 1 Wie kann eine Befragung zwischen einer Choreografin und einem Zuschauer gestaltet werden? Z.B. durch einen Perspektivwechsel: Was passiert, wenn die Choreografin zur Fragenden wird, die ihre eigene Choreografie hinterfragt? Welche Fragen kann sie dem Zuschauer stellen? Prozess dokumentieren Ein wichtiger Bestandteil dramaturgischer Arbeit ist die Dokumentation des choreografischen Prozesses. Hierbei können verschiedene Medien zum Einsatz kommen und die Mitwirkenden beteiligt werden. Die Dokumentation des Probenprozesses kann integrativer Bestandteil der Aufführung werden. Dabei stehen nicht die Vollständigkeit oder Genauigkeit der Dokumentation im Vordergrund, sondern die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Prozess und Produkt, Probe und Aufführung, Dokumentation und Inszenierung sowie die Reflexion der (Un-)Möglichkeit der Dokumentation und Archivierung von Bewegung und Prozess.

Festlegen und Erinnern –› Verfahren

Form der Dokumentation Fließt die Dokumentation in ein zukünftiges künstlerisches Projekt ein? Dient sie dazu, Material für Projektanträge zu generieren? Welcher Mittel bedient sich die Dokumentation, z.B. Verschriftlichung, Scores, Fotos, Film, Audioaufnahmen?π Wer übernimmt die dokumentarische Arbeit, z.B. ein Dramaturg, jeder Beteiligte für sich, ein Fotograf ? Soll die Dokumentation als eigenständiges Produkt neben der Choreografie veröffentlicht werden? – Reflexion archivierten Materials Wie können Gedanken, Ideen und Fragen, die während der Probenarbeit oder in Feedback-Gesprächen aufgekommen sind, gesammelt werden? Wie kann diese Sammlung strukturiert und als Vorbereitung für die nächste Probenphase genutzt werden? Wie können Eindrücke während des Probenprozesses archiviert werden, z.B. indem an einer Wand Zettel mit Ideen, Gedanken, Fragestellungen, Eindrücken, Kritiken zusammengestellt werden oder alle Beteiligten Hefte erhalten und diese als choreografische Tagebücher nutzen? – Dokumentation in der Aufführung Wird die choreografische Arbeit dokumentiert, z.B. um verschiedene Schritte des Probenprozesses bzw.

Dramaturgie

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Zwischenergebnisse einer Recherche festzuhalten? Wie kann das Dokumentationsmaterial in der Choreografie eingesetzt werden, z.B., indem dem Publikum während der Aufführung durch Erzählungen, Bewegungs eine Ausstellung, Filme, Projektionen, Tagebuchtexte der Rechercheprozess vermittelt wird?2 Wie kann die Problematik der Unmöglich- analyse keit der Dokumentation des Flüchtigen der Bewegung in der Aufführung reflektiert werden? Choreografie kontextualisieren Eine Choreografie entsteht in der Regel durch eine Bezugnahme auf und eine Auseinandersetzung mit einem bestimmten Kontext. Dieser kann durch das ästhetische, politische, soziale, interkulturelle oder religiöse Feld gerahmt sein. So kann z.B. das Thema in Verbindung mit einem aktuellen gesellschaftspolitischen Ereignis stehen, choreografisches Material diesem Ereignis entstammen, der choreografische Prozess und die Arbeitsweise als Experimentierfeld von neuen Formen der Zusammenarbeit gestaltet sein oder die Aufführung als eine kritische Reflexion des Theaters verstanden werden. Die Kontextualisierung einer Choreografie ist Teil der dramaturgischen Arbeit und kann den gesamten choreografischen Prozess begleiten. Die Choreografie selbst kann durch andere Medien und Formate, z.B. Programmhefte, Interviews, kontextualisiert werden. Worauf will die Choreografie Bezug nehmen? An welche Diskurse oder Ästhetik will sie anknüpfen? Welche Fragestellungen hat sie? – Folgt sie einem ästhetischen, politischen, sozialen, individuellen, biografischen Anspruch? Verfolgt sie ein Ziel? Was will sie transportieren? – Gibt es bereits Choreografien, die sich mit dieser Frage- oder Themenstellung beschäftigt haben? – Wie soll die Choreografie einer Öffentlichkeit präsentiert werden? Wie soll der jeweilige Kontext deutlich gemacht werden, z.B. durch Pressetexte oder Publikumsgespräche? Titel finden Der Titel gibt dem Publikum, den Medien erste Hinweise auf eine mögliche Lesart der Choreografie.

172 Komposition Welcher Titel eignet sich für die Choreografie? Gibt es einen Untertitel? – Soll der Titel das Thema benennen, assoziativ oder metaphorisch sein? – Beschreibt der Titel einen formalen Zugang zu dem Stück, z.B. indem er einen Hinweis zu der Anzahl der Tänzer gibt: »Sextett«, oder den Prozess markiert: »Explorationen«? – Weist der Titel auf eine Folge von Stücken eines Choreografen hin, z.B. wenn die Aufführung als dritter Teil einer Reihe zum Thema Boden »#3 Boden« heißt? – Soll mit dem Titel eine bestimmte Zielgruppe angesprochen werden? Welche Marketinginteressen lassen sich mit einem Stücktitel verbinden? – Stellt der Titel eine Frage und weckt dadurch Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Frage? Soll der Titel eine Irritation erzeugen, die eine veränderte Sichtweise auf die Choreografie ermöglicht? – Lässt der Titel mehrere Lesarten zu? Z.B. könnte »III« die Zahl Drei thematisieren oder drei mal die Zahl Eins, z.B. wenn drei kürzere Tanzstücke an einem Abend gezeigt werden.

Komposition

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KOMPOSITION Dieser Baustein thematisiert Verfahren zur Zusammenführung Bewegungs von choreografischem Material. Mit choreografischem Material sind improvisierte oder festgelegte Bewegungen und Bewegungs- analyse sequenzen gemeint und Material, das aus anderen Medien wie Bild, Film, Text, Sprache, Stimme, Klang oder Musik generiert wurde, sowie deren Kombinationen. Tools, Parameter und Verfahren der Komposition helfen, das choreografische Material zusammenzustellen. Durch die Art und Weise der Zusammenführung werden Sinnzusammenhänge hergestellt, die sich zumeist erst in der Rezeption zeigen und hier sehr unterschiedlich wahrgenommen und mehrdeutig ausgelegt werden können.

Tools Kompositions-Tools sind Techniken zur Auswahl und Zusammenführung des choreografischen Materials. Mit ihrer Hilfe können Bewegungsmaterial, Bewegungssequenzen oder Szenen, intermediale Beziehungen, Interaktionen mit Requisiten oder Objekten choreografisch gestaltet werden. Die folgenden Techniken können auch als Tools zur Formgebung eingesetzt werden. Sie sind hier als Kompositions-Tools unter folgenden Kategorien aufgeführt: Auswählen | Vervielfältigen | Variieren | Kombinieren | Gewichten | Kontextualisieren.

Auswählen Unter Auswählen werden Techniken zur Sichtung und Filterung des choreografischen Materials verstanden: Sortieren | Reduzieren | Präzisieren | das Offensichtliche Tun. Wie kann aus dem Materialcorpus für die Choreografie relevantes Material herausgefiltert werden? – In welchem Zusammenhang steht das ausgewählte Material mit dem ästhetischen Konzept, der Arbeitsweise, dem Thema, den Beteiligten? – Wie kann der Materialcorpus verkleinert werden? Gibt es z.B. Bewegungssequenzen, Szenen, Requisiten, die nicht mehr benötigt werden? – Wo und wie kann das choreografische Material reduziert werden im Sinne einer Präzisierung, Klar-

174 Komposition heit oder Vereinfachung? – Welche Auswirkungen haben diese Veränderungen auf das Folgende sowie auf den Gesamtzusammenhang? Sortieren Das choreografische Material wird danach differenziert, ob es für die Choreografie zentral wichtig, verwendbar oder unbrauchbar ist. Material auswählen Verschiedene Szenen ausprobieren; eine Auswahl treffen › Jeder Szene einen Namen geben und je nach Wichtigkeit eine von drei Farben zuweisen; auf eine Karte schreiben › Die Karten in eine mögliche Reihenfolge bringen. Wie wirken die Szenen in dieser Reihenfolge? Welche Funktion bekommt jede Szene, z.B. die Funktion einer Einleitung oder einer Unterbrechung oder eines Endpunktes? Welche Relevanz hat jede Szene im Gesamtkontext und im Bezug auf das ästhetische Konzept der Choreografie? › Andere Reihenfolge auswählen und erneut prüfen. Reduzieren Für die Choreografie unwichtiges Material wird aussortiert. Einzelne Szenen bearbeiten Eine Szene auswählen › Durchlauf ggf. mit Außenstehenden anschauen › Feedback durch Außenstehende oder Teilnehmende einholen › Welches Bewegungsmaterial wirkt irritierend? Welches choreografische Material lenkt von der künstlerischen Idee oder dem ästhetischen Konzept ab? Wirkt die Szene an manchen Stellen überfrachtet? Bei welcher Personenzahl ist die Ausführung stimmig, klar? Festlegen & Erinnern –› Tools

Präzisierenπ Das choreografische Material wird reflektiert, zerlegt, in verschiedenen Ausprägungen oder Anordnungen ausprobiert, verfeinert und spezifiziert. Dabei werden Entscheidungen zur Ausführung und zur Auswahl getroffen. Verschiedene Musiken ausprobieren Die Zähleinheiten zu einer Bewegungssequenz bestimmen › Betonungen ändern › Dieselbe Bewegungssequenz zu unterschiedlicher Musik tanzen › Verschiedene Bezugnahmen zur Musik ausprobieren, z.B. unterstützend oder kontrastierend › Welche Veränderungen ergeben sich durch die Variation der Zähleinheiten und durch unter-

Komposition

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schiedliche Musik? › Entscheiden, welche Betonungen und welche Musik für die Bewegungssequenz geeignet sind. Das Offensichtliche Tun3 Diese Technik beruht auf den Annahmen, dass durch die Aneinanderreihung des Naheliegenden etwas Anderes entsteht und der Anspruch ausgehebelt wird, nach etwas besonders Originellem suchen zu müssen. Dieses Prinzip ist zur Materialgenerierung, -formgebung und -komposition einsetzbar. Entscheidungen treffen Fortlaufend die Frage stellen: Was soll als Nächstes passieren? › Das Gleiche oder etwas Anderes? › Entscheidungen treffen und darauf vertrauen, dass das Gemachte das Richtige ist. Die internen Bezüge werden sich im Schaffensprozess von selbst ergeben. Je weiter die Stückentwicklung voran schreitet, desto mehr Beziehungen tun sich auf › Die Wahrnehmung und Erinnerung an vorausgegangenes Material für die Art und Weise der Generierung von neuem Material nutzen.

Vervielfältigenπ Unter Vervielfältigen werden Techniken zur Multiplizierung von choreografischem Material, einer Bewegungssequenz oder einer Szene verstanden: Kopieren | Spiegeln | Wiederholen | Loopen. Dies kann durch eine oder mehrere Personen geschehen. Was soll vervielfältigt werden, choreografisches Material, eine Bewegungssequenz oder eine Szene? Auf welche Weise soll dies geschehen? – Wann machen Vervielfältigungen Sinn, z.B. als »roter Faden« der Choreografie? Welche künstlerische Absicht steckt hinter Vervielfältigungen? – Welche Auswirkungen haben Vervielfältigungen in Bezug auf die künstlerische Idee oder das ästhetische Konzept? – Welche Auswirkungen haben Vervielfältigung auf den Ablauf und die Lesbarkeit der Choreografie? An welchen Stellen könnte eine Szene noch einmal auftauchen, z.B. nach der Pause oder am Ende? Ist damit eine bestimmte Aussage verbunden? Kopieren Der Ablauf einer Bewegungssequenz oder Szene wird präzise wieder aufgenommen.

Form geben –› Tools

176 Komposition Bewegungssequenz übernehmen Eine Bewegungssequenz wird von einer Tänzerin ausgeführt › Sie wird im weiteren Verlauf von einem oder mehreren anderen Tänzern genauso übernommen. Welcher künstlerischen Idee folgt die Übernahme? Spiegeln Ein Ablauf wird präzise wieder aufgenommen aber seitenverkehrt ausgeführt. Filmsequenz spiegeln Einen Film mit einem Bewegungsablauf projizieren › Die Tänzerinnen stehen auf der Bühne vor der Leinwand und führen die Bewegungssequenz seitenverkehrt aus. Wie wird die Ausführung im Verhältnis zum Filmbild wahrgenommen? Wiederholen Ein Ablauf wird mehr als einmal ausgeführt; ein Element kehrt wieder. Bewegungssequenz doppeln Ein Tänzer wiederholt eine Bewegungssequenz im Verlauf der Choreografie. Welche Intention steckt hinter der Vervielfältigung, z.B. diese kompositorisch im Sinne eines Refrains einzusetzen? Soll eine Wiederholung dem Wiedererkennen von Material dienen, welches das Publikum schon gesehen hat? Wie kann man durch Wiederholungen mit Vorhersehbarkeiten und Sehgewohnheiten spielen? Loopen Ein Ablauf wird ohne Unterbrechung mehrfach wiederholt, so dass Anfang und Ende fließend ineinander übergehen. Intermedial vervielfältigen Auf der Bühne getanzte, mehrfach wiederholte Bewegungssequenz filmen und in Echtzeit oder zeitversetzt auf eine Leinwand projizieren › Den Vorgang umkehren: Mehrere Tänzer kopieren Bewegungen von einem Video und loopen sie. Welches Zusammenspiel entsteht bei der Verknüpfung von live stattfindender und technisch produzierter Bewegung? Form geben –› Tools

Variierenπ Unter Variieren werden Techniken zur Veränderung und Abwandlung von choreografischem Material gefasst: Bewegungspara-

Komposition

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meter variieren | Themen variieren | Szenen variieren | Homogenisieren | Pluralisieren | Fragmentieren | Umkehren | Scratchen | Limitieren, Entfernen | Abstrahieren. Wie kann choreografisches Material mit Hilfe verschiedener Medien variiert werden? – Wie sollen Variationen komponiert werden, z.B. als fließender Übergang oder als plötzlicher Bruch? – Wie und wann machen Variationen vor dem Hintergrund der künstlerischen Idee oder des kompositorischen Prinzips Sinn? An welcher Stelle einer Szene oder der Choreografie können Variationen des choreografischen Materials einfügt werden? – Wie kann über Variationen das Verhältnis von Wiederholung und Differenz thematisiert werden? Bewegungsparameter variieren Eine Bewegungsabfolge wird in Bezug auf Körper, Raum, Antrieb, Form, Phrasierung oder Beziehung verändert. Die Veränderung kann in einem oder mehreren Bewegungsparametern stattfinden. π Phasenverschiebung4 Das musikalische Strukturprinzip der Phasenverschiebung auf Bewegung übertragen: Zwei Akteure bewegen sich gleichzeitig, aber jeder hat eine Bewegungssequenz von unterschiedlicher Dauer › Beide loopen ihre Bewegung › Beide Akteure beginnen gleichzeitig, da aber die Länge der Bewegungssequenzen unterschiedlich ist, enden sie zeitversetzt | Oder: a und b loopen die gleiche Bewegungssequenz und variieren sie in geringem Umfang, z.B. indem a bei der Drehung die Armbewegungen verändert oder b den Oberkörper neigt › Die jeweilige Variation wieder loopen. Entsteht eine Phasenverschiebung? | Beide bewegen sich im selben Metrum, aber jede Person folgt einer anderen Zählzeit: a führt die Drehung auf sechs Zählzeiten aus, b auf sieben Zählzeiten › Es entsteht eine Phasenverschiebung, bei der die Tanzenden zwischenzeitlich asynchron, dann wieder synchron tanzen. Themen variieren Ein Thema, z.B. ein Bewegungsthema, eine Geste, eine sprachliche oder bildhafte Aussage, wird wieder aufgenommen und verändert. Dies kann einmalig oder, als Leitmotiv, mehrfach erfolgen.

Bewegungsanalyse

178 Komposition Thema und Variation Ähnlich wie in einer musikalischen Komposition ein Leitmotiv entwickeln, das den Stückverlauf durchzieht und in der Wiederholung variiert wird. Die Variationen sollen alle mindestens einen Aspekt des Themas enthalten, z.B. a (Thema), a1 (Variation 1 des Themas), a2 (Variation 2 des Themas), a3 etc. › Die Häufigkeit der Variationen ändern, z.B. a1 zwei Mal wiederholen, a2 sechs Mal, a3 ein Mal › Die Übergänge zwischen den Wiederholungen gestalten: Welche Variationen sind möglich? Szenen variieren Bewegungsabfolgen oder Szenen, die unterschiedlichen Kompositionsmustern folgen, zusammenführen. Rondo, Sonate, Kantate 5 Analog zu musikalischen Kompositionsformen Szenen gestalten: z.B. analog zu Rondo: a, b, a, c, a › Die Szene oder Szenenfolge variieren, z.B. eine Szene vorzeitig beenden oder umkehren oder die Szenenfolge umkehren. Wird die formale Variation als Ordnungsprinzip wahrgenommen? Homogenisieren Heterogenes choreografisches Material wird durch Zusammenführen vereinheitlicht. Angleichen Szenen aneinanderreihen, miteinander vergleichen. Worauf beziehen sich Ähnlichkeiten und Unterscheidungen? Auf einen Bewegungsparameter, auf die Geschwindigkeit, die Anzahl der Akteure oder ihre Beziehung zueinander? Wie lässt sich die Zusammenführung verdichten, z.B. durch Musik oder Text? Pluralisieren Choreografische Abläufe werden so variiert, dass die zentrale Idee oder das Leitmotiv erhalten bleibt, aber neue Ausprägungen entstehen, von denen mindestens zwei Varianten gleichzeitig ausgeführt werden. Heterogenitäten erzeugen Das Material eines Solos als Ausgangspunkt für eine Gruppenszene nehmen: Prägnante Bewegungsmotive auswählen, individuell variieren und als Gruppe gleichzeitig ausführen › Gruppenszene zum Solo in Beziehung setzen. Welche Effekte entstehen?

Komposition

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Fragmentieren Bewegungssequenzen, szenische Abfolgen oder choreografische Abläufe werden in einzelne Elemente zerlegt und neu geordnet. Bewegungs

Szenenteile neu kombinieren Einzelne Szenen in mehrere Phaanalyse sen gliedern, z.B. Anfang, Mittelteil, Ende › Einzelne Phasen der unterschiedlichen Szenen neu zusammensetzen, z.B. aus Szene 1 den Anfang, aus Szene 2 den Mittelteil, aus Szene 3 das Ende. Ergibt sich eine neue Lesart? Umkehren Ein Ablauf einer Bewegungssequenz oder einer Szene wird wiederholt bei Umkehrung der zeitlichen Abfolge oder der Richtung im Raum. Zahlenreihenfolge umkehren Einzelnen Phasen einer Bewegungssequenz oder Szene durchnummerieren › Die Zahlenfolge umdrehen › Die Bewegungssequenz entsprechend rückwärts ausführen. Welche Effekte werden erzielt? Welche Themen kommen zum Vorschein, z.B. die Zeit zurückholen zu wollen, Analogien zum Rückspulen eines Films? Scratchen Ein Ablauf einer Bewegungssequenz oder Szene wird geloopt und dabei in Teilabschnitten zeitlich und/oder räumlich umgekehrt ausgeführt. Brechungen Eine Bewegungssequenz a auswählen › Kurze Bewegungssequenzen b und d durch Fragmentieren, Umkehren etc. aus a entwickeln. Kontrastierende Bewegungssequenz c aus einem anderen Entstehungszusammenhang hinzufügen › a als Grundthema immer in gleicher oder ähnlicher Form wiederkehren lassen, durch die anderen Bewegungssequenzen unterbrechen: abacada … Limitieren, Entfernen Der Ablauf einer Bewegungssequenz oder Szene wird durch Einschränken des Bewegungsmaterials im Hinblick auf einzelne Bewegungsparameter, durch Begrenzung der Anzahl der Beteiligten und/oder das Herausnehmen choreografischer Materialien verändert. Dezimieren als Kompositionsprinzip Eine Szene mit erwartbarer Personenzahl und Handlungsmuster, z.B. ein Duo, ein

180 Komposition Fußballspiel, eine Kleinfamilie im Esszimmer, wieder aufnehmen, aber bei jeder Wiederholung choreografisches Material entfernen, z.B. Personen, Requisiten, Bewegungen, Worte etc. Welcher Effekt entsteht? Abstrahieren Symbolisch aufgeladene Bewegungssequenzen oder Szenen durch Zusammenführungen von ihrer pantomimischen, repräsentierenden oder theatralen Darstellung lösen. Alltagsgesten Verschiedene Begrüßungsformen, z.B. Handschlag, Kuss, Handkuss, Winken in verschiedenen Variationen zusammenführen. Die Unterschiedlichkeit der Begrüßungsformen (Handschlag: distanziert, respektvoll, wenig Körperkontakt, Kuss: vertraut, intim, viel Körperkontakt, Handkuss: konventionell, traditionell, geschlechterrollenfixiert; Winken: vertraut, freundschaftlich, ohne Körperkontakt) in verschiedenen Bewegungssequenzen in einer Szene in Beziehung setzen. Wie löst sich durch verschiedene Arten der Zusammenführung die Symbolik der Geste auf in Richtung einer abstrahierten Bewegung?

Kombinieren Unter Kombinieren werden Techniken verstanden, die einzelne Elemente des choreografischen Materials definieren und diese in eine erkennbare Beziehung bringen. Zu ihnen zählen: Akkumulieren | Verzahnen | Interpolieren | Überlagern. Welche Elemente des choreografischen Materials sollen miteinander in Beziehung gebracht werden, z.B. ähnliche oder unterschiedliche, einzelne Bewegungssequenzen oder ganze Szenen, im Stück bereits verwendetes oder auch neues Material? – Welcher Strategie oder welchen Prinzipien folgt das Kombinieren? Geht es um Differenzierung, Komplexität oder Vereinheitlichung? Ist es sinnvoll, z.B. ein Leitmotiv sichtbar werden zu lassen? – Welche künstlerische Idee steckt hinter den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten? Wird z.B. die Idee von Kontinuität oder Abwechslung verfolgt oder eine andere? –Welche Beziehung soll zwischen den einzelnen Elementen hergestellt werden, z.B. eine für das Publikum nachvollziehbare oder unerwartete? Folgt die Zusammenstellung formalen oder narrativen Mus-

Komposition

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tern? – Welche Auswirkungen auf die Lesbarkeit der Choreografie hat die Kombination? Dient sie z.B. dazu, neue Wahrnehmungen zu erschließen und mit Sehgewohnheiten zu spielen? Wird ein Thema künstlerisch übersetzt, z.B. Wiederholung und Differenz? Akkumulierenπ Choreografisches Material wird aneinandergereiht nach dem Prinzip: a wiederholen und b hinzufügen, a plus b wiederholen und c hinzufügen etc. Beziehungsstress Tänzerin a tanzt ein Solo › Solo wird wiederholt, Duo mit Tänzer B anschließen › Solo a, Duo a / b wiederholen, Duo a / c und Duo b / d anschließen etc. Welche Aussage wird durch das akkumulierende Prinzip generiert? Verzahnen Mindestens zwei unterschiedliche Arten choreografischen Materials, z.B. verschiedene Aktionsstränge, werden miteinander verwoben, so dass sich durch das Ineinanderschieben neue Bewegungssequenzen, Aktionen oder Szenen ergeben. Bewegung und Text verzahnen Szenen a, b, c bestehen aus formalem Bewegungsmaterial, Szenen d, e, f arbeiten mit Textmaterial › Die Bewegungs- und Textszenen nach einem Zufallsverfahren ineinander schachteln. Welche Zuschreibung entsteht durch diese zufälligen Interaktionen? Wie könnte diese präzisiert und weiter gestaltet werden? Interpolieren bedeutet die wiederholte Umgestaltung des Themas oder Grundmotivs einer Bewegungssequenz oder Szene durch Einfügen neuer Elemente. Wiederholung und Abweichung Eine Bewegungssequenz in einer Choreografie als Leitmotiv einsetzen, das in verschiedenen Phasen des choreografischen Verlaufs auftaucht, z.B. als Übergang zwischen einzelnen Szenen, als Erinnerungsmoment › Bewegungssequenz durch zusätzliche Bewegungsmotive erweitern, dabei Wiedererkennbarkeit sicherstellen. Die hinzugefügten Bewegungsmotive können selbst entwickelt oder gesampelt, d.h. anderen Stücken entnommen sein. Welche Lesarten sollen mit der Wiederholung und Abwandlung verbunden werden, z.B.

Festlegen & Erinnern

182 Komposition Automatismus des Handelns, produktiver Lernprozess, zunehmende Entfremdung? Überlagern meint das Übereinanderlegen von choreografischem Material, Bewegungssequenzen oder Szenen, z.B. um Bewegungen zu fragmentieren, Verdichtungen zu erreichen, Sinnzusammenhänge herzustellen, synästhetische Wahrnehmungen zu provozieren. Dieses Tool ist grundlegend für das Kompositionsverfahren der Collage/Montage. Ort und Handlung verschieben Affäre in einem Hotelzimmer vor Ort tänzerisch umsetzen und filmen › Ebenso verfahren mit einem schweigenden Renterpaar in einem Wohnzimmer, ausgelassenen Kindern im Park und einem Junkie in einer öffentlichen Toilette › Einzelne Szenen auf der Bühne tanzen und gleichzeitig jeweils eine andere Filmszene projizieren. Welche Auswirkung hat die Kombination auf die Wahrnehmung der Szenen?

Gewichten Gewichten bezeichnet den Vorgang, ausgewähltes choreografisches Material auf den Gesamtverlauf der Choreografie abzustimmen. Dabei kann man – je nach künstlerischer Idee oder Haltung – mit Rhythmen, Akzenten oder Spannungsverläufen arbeiten. Hier sind die Techniken aufgelistet: Fokussieren | Verdichten | Resümieren. Setzt sich die Choreografie aus verschiedenen Bestandteilen, Techniken oder Stilen zusammen und in welchem Verhältnis stehen diese zueinander? – Wie kann eine stimmige Gewichtung zwischen dem Gesamtzusammenhang und Einzelteilen hergestellt werden? Wäre es sinnvoll, Materialblöcke an andere Plätze zu verschieben? – Wie verändert die Gewichtung einzelner Bewegungssequenzen oder Szenen die Wahrnehmung? Ist dies im Sinne der choreografischen Idee? – Wie kann die Choreografie die Aufmerksamkeit des Publikums bündeln? Soll die Aufmerksamkeit auf eine hierarchische Anordnung von Aktionen oder Szenen gelenkt werden, z.B. durch Vorder- und Hinterbühne? Entspricht ein direkter Bezug zum Publikum, z.B. durch Ansprache oder Blickkontakt, der künstlerischen Auseinandersetzung? – Wie

Komposition kann das choreografische Material intensiver gestaltet werden, z.B. durch Hinzufügen von Material, Erhöhen der Komplexität oder der Personenzahl, durch die Klärung der Beweggründe der Agierenden? Fokussieren Aktionen oder Szenen werden zum Zwecke der Aufmerksamkeitslenkung hervorgehoben, z.B. durch räumliche oder zeitliche Effekte, durch Unterstützung von Medien oder Bühnentechnik. Prioritäten setzen Eine Bewegungssequenz a besteht aus heterogenem und dynamischem Bewegungsmaterial mit viel Fortbewegung, b aus langsamem Bewegungsmaterial am Platz. Durch die Dauer beider Bewegungssequenzen eine Gewichtung herstellen: z.B. kurze Dauer von a, lange von b › dann immer längere Dauer von a und kürzere von b | Durch Raumordnung Gewichtung herstellen: z.B. b auf die Bühnenmitte, a zunehmend am Bühnenrand konzentrieren | Nachwirkung nutzen: b früher beenden › a steigern › Überraschend abbrechen und Bühne verlassen. Verdichten Eine Bewegungssequenz oder Szene wird durch die Verstärkung einzelner Parameter oder die Präzisierung von choreografischem Material intensiviert. Gebärden Das Thema Annäherung – Konflikt über Gebärdensprache entwickeln: Gebärden von Tänzerin a und Tänzer b greifen am Anfang als gegenseitige Berührungen ineinander und werden zu Kampftechniken gesteigert und verzerrt › Verdichten durch Hinzufügen von verstärkendem choreografischem Material: z.B. ein Song geht in Lärm über, ein bedeutungsvolles Objekt zerbricht › Verdichten durch Rahmen und Steigern, z.B. schauen die anderen Akteure vom Bühnenrand aus zu, ergreifen zunehmend Partei und formieren sich zu zwei einander gegenüberstehenden Gruppen, oder nach und nach nehmen die Männer die Gebärden des Tänzers, die Frauen jene der Tänzerin auf. Resümieren Material, das bereits verwendet wurde, wird in der Choreografie an einem dramaturgisch bedeutsamen Punkt zusammengeführt und in einen Sinnzusammenhang gebracht. Dies kann während des Verlaufs oder als Abschluss geschehen.

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184 Komposition Summing up In der letzten Szene einer Choreografie werden ausgewählte Bewegungssequenzen, Interview-Aussagen und Filmausschnitte wiederholt und so komponiert, dass eine neue Lesbarkeit entsteht: Die heterogenen choreografischen Materialien ergänzen einander und verdichten sich gegenseitig. Es entsteht der Eindruck, dass ein zuvor verborgener Zusammenhang hervortritt. Form geben –› Tools

Kontextualisierenπ Unter Kontextualisieren werden Techniken verstanden, die die Gestaltung des choreografischen Materials in einen Rahmen stellen. Zu ihnen zählen: Kontrastieren | Verzerren | Transponieren | Ironisieren | Zitieren | Sampeln | Kommentieren. Welches choreografische Material bedarf einer Kontextualisierung? – Mithilfe welches Mediums soll die Kontextualisierung einer Bewegungssequenz, einer Szene oder der Choreografie erfolgen, durch Bewegung, Bild, Film, Text, Sprache, Musik? – Welches sind die Kontexte: ästhetische Praxis, theoretische Diskurse oder politische und gesellschaftliche Themen? – Geht es um das Hinterfragen von Zusammenhängen, das Reflektieren und Aufbrechen von Konventionen oder die Analyse eines Themas? Kontrastieren Bewegungssequenzen, choreografisches Material oder einzelne Szenen werden in eine gegensätzliche Beziehung zueinander gebracht. Brüche Wie können Spannungen und Gegensätze erzeugt werden, z.B. durch Einfügen einer narrativen Szene in eine formal angelegte Choreografie, durch die Aufeinanderfolge kurzer Gruppenszenen mit sehr heterogenem Bewegungsmaterial, durch eine Kontrastierung von Bewegung und Musik, Text, Sprache, Film? Wie können durch Aufeinandertreffen verschiedener Tanzstile, z.B. Flamenco, HipHop und zeitgenössischer Tanz, deren Charakteristika herausgearbeitet werden? Verzerren Bewegungssequenzen, einzelne Szenen oder choreografische Abläufe werden fragmentiert und durch Übersteigerung verändert.

Komposition Körperkult Idealbilder verzerren: Akteure markieren gegenseitig mit Stiften Falten im Gesicht und am Körper, ziehen die eigene Haut bis zur maximalen Ausdehnung und ziehen sich gegenseitig an den markierten Stellen in die Fortbewegung | Entspannungssituationen verzerren: Massagetechniken bis zur Gewaltanwendung verändern. Welche Wirkung entsteht? Welcher Kontext wird zu der verzerrten Variante assoziiert, z.B. Folterkammer, Marionettentheater? Transponieren Eine Bewegung oder Bewegungssequenz, choreografisches Material, ein Objekt oder eine Szene wird in einen anderen Rahmen übertragen. Alltagshandlung übertragen Eine Bewegungssequenz, die aus einer alltäglichen Körperaktion wie dem Duschen oder Putzen entstanden ist, in einen anderen Kontext stellen, z.B. in einer Telefonzelle ausführen oder einem Beichtstuhl. Wie erscheint die Körperaktion durch diese Übertragung? Ironisieren Bezeichnet eine Strategie, zu symbolisch, gestisch oder mimisch aufgeladenem choreografischem Material in Distanz zu treten und es zu kommentieren. Ironisieren kann u.a. durch Verfremden oder Verzerren hergestellt werden. Blossstellen Bürgerliche Umgangsformen, Hierarchien und Intrigen werden vorgeführt, indem Gesten wie Annähern, Händeschütteln, Schulterklopfen verlangsamt und überdeutlich vollzogen werden. Die Agierenden wenden sich dabei nicht einander sondern dem Publikum zu, um ihre Profilsucht deutlich werden zu lassen | Tänzerinnen führen Soli virtuos aus und buhlen dabei um die Gunst des Publikums, dies z.B. als Spielshow angelegt, ggf. mit Publikumsbeteiligung. Welche Konventionen werden sichtbar? Wie wirkt die ironisierte Passage, z.B. grotesk, amüsant, erhellend? Zitieren Eine Bewegungssequenz oder choreografisches Material wird übernommen und als »Zitat« gekennzeichnet. Hommage Eine Choreografin bedient sich typischer Stilmittel, Bewegungsmotive und Bewegungsabfolgen eines Choreografen

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186 Komposition und weist sie als Zitate aus › Sie setzt ihre künstlerische Formbehauptung dazu in Beziehung | Oder sie gestaltet die Auseinandersetzung mit einem Bild, indem sie Farb- und Formgebung, Thematik, Duktus etc. choreografisch übersetzt. Welche Lesarten ermöglicht der Bezug auf den zitierten Kontext? Wie wirkt die Gegenüberstellung von zitierten und eigenen Elementen? Sampeln Choreografisches Material wird kopiert und in einen anderen Kontext – obwohl erkennbar – eingefügt. Tanzgeschichte sampeln Fragmente aus verschiedenen bekannten Choreografien auswählen und zu einer Choreografie zusammenstellen. Dabei zwischen den Fragmenten Übergänge gestalten, so dass ein Patchwork des Tanzes entsteht. Welche Bewegungssequenzen entstehen durch die Zusammenführungen des heterogenen Materials? Welche Lesarten lassen sie zu? Kommentieren meint Stellung zu nehmen zum choreografischen Material mit künstlerischen Mitteln. Ausschnitte In einer Choreografie werden Ausschnitte aus mehreren Spielfilmen, die eine choreografierte Szene zeigen, projiziert und anschließend von der Akteurin durch eigene Bewegungen analysiert und reflektiert6. Welche Funktion hat die choreografische Szene im Film, über welche Möglichkeiten verfügt die Choreografie, die über die filmischen Mittel hinaus gehen, wie kann z.B. die innere Verfasstheit der Protagonisten zum Ausdruck gebracht und ihr Verhältnis zu sich selbst kommentiert werden? | Ein Choreograf zeigt in einer Lecture-Performance7 festgelegte Bewegungssequenzen und kommentiert diese verbal oder tänzerisch. In welchen Zusammenhängen ist es sinnvoll, über einen Kommentar in Distanz zum eigenen choreografischen Material zu treten? Welche Themen werden damit angesprochen, z.B. konzeptionelle Fragestellungen, gesellschaftliche Hintergründe von Tanz? Verändert sich durch den Kommentar die Wahrnehmung einer Bewegungssequenz oder Szene?

Komposition

Verfahren Kompositionsverfahren sind, anders als Kompositions-Tools, komplexe Vorgänge der Zusammenstellung und Gestaltung von choreografischem Material. Sie stehen in enger Wechselwirkung mit dem ästhetischen Konzept, der künstlerischen Arbeitsweise, den Formen der Zusammenarbeit, dem Thema und der Stückdramaturgie. Spiele, die als Kompositionsverfahren z.B. bei regelgeleiteten Improvisationen oder als ästhetisches Konzept in einer Echtzeit-Komposition eingesetzt werden können, sind im Modulheft Spielweisen thematisiert. Hier werden folgende Kompositionsverfahren aufgelistet: Verfremdung | Dekonstruktion | Reenactment und Rekonstruktion | Collage/Montage. Verfremdung ist ein Kompositionsverfahren, das vor allem durch das Epische Theater nach Bertolt Brecht bekannt wurde, heute aber auch in digitaler Bildbearbeitung Anwendung findet. Der Verfremdungseffekt besteht darin, dem Zuschauer Vertrautes in einem neuen, ungewohnten Kontext erscheinen zu lassen. Auf diese Weise wird eine lineare Erzählstruktur durchbrochen und, so die Brechtsche Theorie, die Widersprüchlichkeit der Realität sichtbar gemacht und der Zuschauer in die Lage versetzt, eine kritische Distanz zum Dargestellten einzunehmen. Verfremden von Bewegungssequenzen oder Szenen bezeichnet den Vorgang, Bewegungskonventionen und Sehgewohnheiten zu unterlaufen oder zu irritieren, z.B., indem alltägliche und profane Bewegungen oder auch Bewegungsmuster des künstlerischen Tanzes aus ihrem Kontext gelöst und neu verortet werden. Wann ist es sinnvoll, Verfremdung als Verfahren anzuwenden? Sollen z.B. narrative Ordnungen, choreografische Konventionen oder politische Ideologien hinterfragt werden? Passt eine solche Haltung zum künstlerischen Konzept? – Was soll verfremdet werden, eine Figur, eine Bewegungssequenz oder Szene, die gesamte Choreografie? – Wie kann Verfremdung ästhetisch umgesetzt werden, z.B. indem Bewegungsmaterial mit Medien wie Text oder Bild bzw. mit Fortbewegungshilfen wie Krücken oder Rollstühlen zusammengeführt wird?

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188 Komposition Verfremden vertrauter Bewegungen Eine Alltagsbewegung auswählen, z.B. das Binden einer Krawatte › Die Alltagsbewegung transformieren, so dass eine neue Situation entsteht, z.B. drangsalieren | Eine Geste auswählen, z.B. das Streicheln einer Wange › die Geste so modifizieren, dass eine neue Geste entsteht, z.B. Schläge. Wie wird die Ausgangsgeste nach ihrer Verfremdung wahrgenommen? Lineare Erzählstruktur durchbrechen Eine Bewegungsszene nach einer narrativen Logik entwickeln › Szene fragmentieren › Einzelne choreografische Materialien neu zusammenführen. Wie verändert sich die Erzählung? Bühnenkonvention nutzen Verfremdung durch Bühnenbild: z.B. gemalte Kulisse für klassisches Ballett mit zeitgenössischer Bewegungsästhetik konfrontieren | Oder: Akteure in Schwimmtrikots auf Startblöcken führen Tanzbewegungen aus bzw. deklamieren politische Parolen oder Gedichtzeilen | Bewegungsmuster verfremden: z.B. zeitgenössischen Tanz in Martial Arts überführen oder Rollenverteilungen umkehren | Akteure einführen, z.B. Musiker, einen Dramaturgen oder Projektleiter, Ankleider und Maske in die Choreografie integrieren | Formate zitieren, z.B. Quiz, Talkshow, Selbsthilfegruppe oder Gottesdienst. Welcher Effekt entsteht? Passt er zum Thema, zum künstlerischen Ansatz? Wie kann er verstärkt, präzisiert werden? Dekonstruktion Ein von dem Philosophen Jacques Derrida geprägter Begriff. Übertragen von Text und Schrift auf Bewegung und Choreografie meint er kein spezifisches regelhaft ablaufendes Kompositionsverfahren, sondern beschreibt choreografische Praktiken, die feststehende Regeln, Verfahren und Techniken von Tanz und Choreografie selbst befragen, z.B. die Kanonisierung der Balletttechnik oder die choreografische Ordnung. Kennzeichnend für die Dekonstruktion ist unter anderem eine Analyse der Begriffe Zeichen, Sinn, Bedeutung, die diese an kontingente Faktoren bindet. So kann z.B. durch Fragmentieren einer Bewegungs- oder Szenenabfolge ihr Sinn und ihre Bedeutung in Frage gestellt und

Komposition die herkömmliche Ordnung des Bewegungsablaufs reflektiert werden. Bei der Reorganisation und Neukombination des Materials liegt die Betonung auf dem Unfertigen, Uneindeutigen; Bewegung wird als diskontinuierlich, als Brechung vorgestellt. Auf welche Ebene bezieht sich die Dekonstruktion: auf eine ästhetische, konzeptionelle, kompositorische, geschichtliche und/oder soziale Ebene? – Welches Verfahren der Dekonstruktion soll angewendet werden, z.B. Aleatorik oder Fragmentierung? – Wie lässt sich das Verhältnis von Signifikat und Signifikant in der Bewegung unterscheiden, z.B. die Geste »Kopfkratzen« und ihre Bedeutung: Unsicherheit, Nachdenken? Welches Spiel lässt sich aufgrund dieser Unterscheidung mit der Ein- bzw. Mehrdeutigkeit des Bewegungsmaterials oder einer Szene spielen? Anagrammieren Ein Anagramm bezeichnet ein Wort, das durch Umstellung der einzelnen Buchstaben oder Silben aus einem anderen Wort gebildet wurde, z.B. Regal aus Lager. Ein Anagramm auswählen › Jeden Buchstaben, der in dem Wort vorkommt, mit einer Bewegung in den Raum zeichnen, diese Bewegung festlegen › Das Bewegungsanagramm durch Umstellen der BuchstabenBewegungen in anderer Reihenfolge erstellen. Dabei müssen alle Bewegungen verwendet werden. Wie wirken die beiden Bewegungssequenzen im Vergleich? Körperkonzepte dekonstruieren Ausgangspunkt ist ein bestimmtes Körperkonzept des Tanzes, z.B. das Körperkonzept des klassischen Tanzes, das eine Achse und ein Bewegungszentrum vorsieht und ein festgelegtes Bewegungsvokabular hat › Arm- und Beinbewegungen des klassischen Tanzes mit einem multizentrischen Körperkonzept, das beliebig viele Zentren im Körper vorsieht, verbinden. Wird die Störung eines vertrauten Ablaufs wahrgenommen oder entsteht eine eigene Ästhetik? Dekonstruieren mit Aleatorik Eine festgelegte Bewegungssequenz, z.B. Mary Wigmans »Hexentanz«, in mehrere Phasen unterteilen und diese mit Zahlen kennzeichnen › Die Zahlen mit einem aleatorischen Verfahren in einer Echtzeit-Komposition in eine neue Reihenfolge bringen. Verändert sich die Lesart? Wird ein Bewegungsmuster kenntlich?

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190 Komposition Choreografische Ordnung dekonstruieren Den Ablauf einer Choreografie, z.B. eines klassischen Balletts oder einer Milonga analysieren und neu zusammenführen, z.B. indem eine Akteurin als Solo die Nebenrolle einer Tänzerin des Corps de Balletts tanzt, ein Pas de deux verdoppelt und gespiegelt wird oder die Tanzenden das Verhältnis von Führen und Folgen im Tango durchbrechen. Werden gesellschaftliche Konventionen und Machtstrukturen sichtbar? Wirkt ihre Durchbrechung irritierend oder befreiend? Reenactment und Rekonstruktion Reenactment meint Wiederaufführung und bezeichnet das Nachstellen bzw. Neuinszenieren historischer Ereignisse. Während dies im Rahmen von Geschichtsdarstellungen möglichst authentisch erfolgen und über die Darstellung und Erfahrung Geschichte verständlich und erlebbar gemacht werden soll, thematisiert Reenactment im Bereich der Choreografie die (Un-)Möglichkeit der Wiederaufführung – der eigenen Choreografien wie der anderer Choreografen. Im Gegensatz zur Rekonstruktion, die prinzipiell auf eine original- und detailgetreue Wiederaufführung abzielt, wird Reenactment als ein Übersetzungsprozess verstanden, der die Differenz zwischen dem historischen Material und der Neukontextualisierung zum Thema macht. Reenactment ist von daher eher eine Strategie der Neukonstruktion und häufig auch der Dekonstruktion. Reenactment und Rekonstruktion arbeiten auf der Grundlage von Materialien wie tänzerischen Notationen, Filmaufzeichnungen, schriftlichen Notizen, Tagebüchern, Skizzen, Fotos, Rezensionen oder Interviews mit Zeitgenossen. Aus welcher Zeit stammt die Choreografie? Welchem Konzept folgt sie? Wie ist sie aufgebaut? Wie geht die Choreografie mit Raum und Zeit um? Aus welchem Kontext stammt sie? Auf welche Art und Weise beeinflussen der lebensweltliche Kontext und das Tanzwissen das Sehverhalten, das Tanzverständnis, die Tanzrezeption, damals und jetzt? – Soll die Rekonstruktion eines historischen Stücks z.B. in Form einer Lecture-Performance gezeigt werden, die den Rekonstruktionsprozess thematisiert?8 Oder durch mimetische Aneignung und möglichst originalgetreue Darbietung der Bewegung? –

Komposition Wie kann der Aneignungsprozess des historischen Bewegungsmaterials für das Publikum transparent gemacht werden? Wie kann die Frage der (Un-)Möglichkeit von Rekonstruktion in der Aufführung reflektiert werden? – Wie kann eine Position zum Bewegungsmaterial formuliert werden, z.B. indem man auf eine Bewegungssequenz ein zeitgenössisches choreografisches Verfahren wie Dekonstruktion anwendet? Tanzgeschichte befragen9 Eine historische Choreografie auswählen › Die Choreografie analysieren, z.B. in Bezug auf den geschichtlichen und politischen Kontext, das Konzept der Choreografie sowie kompositorische und inhaltliche Ebenen, Narrative, Verwendung von Medien wie Bild, Sprache, Text › Das Bewegungsmaterial erlernen. Wie ist Rekonstruktion von Tanz möglich? Wie kann ein Tänzer sich zu dem fremden historischen Material in Beziehung setzen? Zum Beispiel: Einen Filmausschnitt der Originalchoreografie zeigen und das erlernte Bewegungsmaterial dazu in Beziehung setzen, indem dieselbe Passage getanzt wird. Kommentieren, worin sich Original und Interpretation unterscheiden, welche Bewegungen besonders schwierig auszuführen sind und warum manche besonders beliebt sind. Lässt sich eine eigenständige Position zum eigenen und fremden Bewegungsmaterial formulieren? Collage/Montage Collage (frz. coller, dt. kleben) ist ursprünglich sowohl eine Technik der Bildenden Kunst, bei der durch Aufkleben verschiedener Einzelteile auf eine Unterlage etwas Neues geschaffen wird, als auch der Begriff für ein durch diese Technik geschaffenes Kunstwerk. Das Prinzip der Collage hat sich auf andere Künste ausgeweitet, etwa auf die Musik mit Klang-, Ton- oder Musikcollagen. Der Begriff der Montage entstammt der Welt der industriellen Technik. Analog meint er in den Künsten das Zusammenführen einzelner Teile zu einem Ganzen, z.B. die Textmontage, Foto- oder Filmmontage. Choreografische Montage ist ein auf der Collage basierendes Verfahren, bei dem eine Vielzahl unterschiedlicher choreografischer Materialien verwendet wird, die verschiedene Sinne ansprechen und unterschiedliche Inhalte

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192 Komposition transportieren, z.B. Bewegungsmaterial, Texte, Fotos. Durch ihr Zusammenfügen entstehen neue Zusammenhänge, die sich erst in der Rezeption erschließen. Für eine choreografische Montage können v.a. Tools der Verfielfältigung, Kontextualisierung und Kombination sowie Arbeitsweisen der intermedialen Komposition eingesetzt werden. Wie kann das Aneinanderreihen oder Überlagern unterschiedlichen choreografischen Materials Assoziationsräume öffnen für mehrdeutige Zusammenhänge? Welche Lesarten ergeben sich durch diese Zusammenführungen? – Was soll montiert werden, z.B. fremdes und eigenes, zeitgenössisches und historisches Material? Verschiedene Künste, Genres und Formate, unterschiedliche Musik- und Bewegungsstile? – Wie beeinflussen die Wechselwirkungen die Wahrnehmung des jeweiligen Materials, der montierten Choreografie? Fotomontage Familienfotos sammeln und literarische Texte über Familienthemen, z.B. Familienromane, Gedichte, heraussuchen › Figuren zusammenführen, z.B. Romanfiguren und Familienmitglieder › Zu den jeweiligen Charakteren Bewegungssequenzen entwickeln › Aus den Fotos eine Collage entwickeln und mit Textfragmenten und Bewegungsmaterial zusammenführen. Wie verändern sich die Figuren gegenüber dem Familienkontext? Klang- und Bewegungscollage Geräusche von herunter fallenden Objekten, z.B. Wasserfall, zerbrechendes Porzellan, einstürzendes Haus, zu einer Collage zusammenstellen und ggf. mit anderen Musikstilen kombinieren › Bewegungsmaterial mit formalen Aufgaben zum Umgang mit Schwerkraft festlegen › Mithilfe eines Zufallsverfahrens Bewegungsfragmente zu einer Bewegungscollage zusammenführen und mit der Klangcollage verbinden. Wird die Thematik des Stürzens verdichtet oder verfremdet? Produktionsbedingungen10 In einer Choreografie Produktionsbedingungen und Zwänge der Kunstvermarktung thematisieren. Bewegungsmuster der Nebenjobs als Auslöser für Bewegungssequenzen nehmen, z.B. Call Center Agent oder Mitarbeiter eines Escort Service › Ausschnitt aus der Produktion

Komposition präsentieren und gleichzeitig finanzielle Hintergründe darstellen, z.B. aus einem Antrag zitieren oder Arbeitsstunden auf einem Flipchart vorrechnen › Während einer Tanzszene kommentieren, dass für die thematische Auseinandersetzung ein Duo konzipiert war, aus finanziellen Gründen daraus aber ein Solo gemacht werden musste. Das Publikum bitten, sich den fehlenden Partner vorzustellen.

Parameter Eine Choreografie ist eine Ordnung von Körpern in Zeit und Raum. Die Organisation von Zeit und Raum sowie die Akteure, ihre Anzahl, ihre Aufgabe, szenische Zuordnung, Beziehung und Verortung in der Bewegungsordnung der Choreografie sind von daher grundlegende kompositorische Parameter. Zeit Bewegung vollzieht sich in der Zeit. Zeit selbst ist ein historisches Konzept, das kulturell und individuell sehr unterschiedlich gestaltet und wahrgenommen wird. Eine differenzierte Gestaltung der Zeit ist bei der Komposition von Bewegungssequenzen und -szenen grundlegend. Choreografisches Material kann nacheinander, gleichzeitig oder überlappend zusammengestellt werden. Dabei kann ein lineares oder ein rhythmisches Zeitkonzept zur Anwendung kommen. Wie soll die Dauer einer Bewegungssequenz oder Szene strukturiert werden? – In welchem Verhältnis sollen in einer Bewegungssequenz subjektive Zeit, z.B. beim Atemrhythmus, und objektive Zeit, z.B. gemessen durch eine Uhr, stehen? – Welches Zeitkonzept wird zugrunde gelegt? Zeit linear gestalten Lineare Zeit wird als ein Fortschreiten ohne Wiederkehr oder Wiederholung verstanden, z.B. Geschichte, biografisches Altern, Uhr, Takt, Metrum. Zeitmass Bestimmte Zeitdauer verabreden › Nach der verabredeten Minutenzahl z.B. die Bewegungssequenz, die Musik

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194 Komposition oder die Anzahl der Akteure wechseln › Eine Akteurin stoppt jeweils den Ablauf nach der verabredeten Zeit und gibt das Stichwort der nächsten Bewegungssequenz sowie Namen der Tänzer an | Bewegungsgeschwindigkeit auf das Tempo des Metronoms abstimmen. Welche Wirkung ergibt sich für die Qualität der Bewegungen, den Arbeitsprozess, die Lesbarkeit der Choreografie? Zeit rhythmisch gestalten Rhythmische Zeit wird in Zyklen erlebt. Sie kennt Wiederholungen, wie beim Atem, Herzschlag, bei den Jahreszeiten. Zyklische Wiederkehr In gleichbleibenden Abständen ein Intermezzo einfügen nach dem ersten, zweiten und dritten Viertel des Stückes. Das Intermezzo erscheint leicht variiert, bleibt wiedererkennbar und wird nach dem zweiten Auftauchen vom Publikum erwartet | Szene b steht in Resonanz zu Szene a › Szene c wirkt als Echo von Szene b etc. | Eine Szenenfolge nimmt den Atemrhythmus zum Vorbild: Mehrere Szenen folgen einer gleichmäßigen Dauer, wie beim stetigen Ein- und Ausatmen › Einer kurzen Szene, einem hastigen Luftholen entsprechend, folgt eine lange Szenendauer wie ein langes Ausatmen etc. › Diese Orientierung für Generierung und Formgebung nutzen: Der Atemrhythmus gibt den Bewegungsrhythmus vor. Welche Effekte entstehen, wenn ein zyklischer Spannungsverlauf die Phrasierung prägt? Raum Die Gestaltung des Raumes ist grundlegender Bestandteil jeder Choreografie. Raumkonzepte rahmen die Art und Weise, wie die Choreografie räumlich organisiert ist, an welchem Ort sie stattfindet, wie der Aufführungsort gestaltet ist und die Akteure im Raum agieren. Grundsätzlich lassen sich zentrische und dezentrische Raumkonzepte unterscheiden, die Raum in unterschiedlicher Weise segmentieren: Ersteres differenziert den Raum in Zentrum und Peripherie und fokussiert damit auf klare Hierarchisierungen, z.B. wenn Aktionen im Vorder- oder Hintergrund platziert werden, in der Bühnenmitte, auf der linken und rechten Bühnenseite. In einem dezentrischen Raumkonzept organisiert

Komposition sich die choreografische Ordnung um mehrere Raumzentren. Es zeigt sich eine Gleichwertigkeit der Raumnutzungen und verschiedenen Aktionen. Wie wird Raum genutzt? Basiert die Choreografie auf einem zentrischen oder dezentrischen Raumkonzept? – Welchen Raum bekommt eine Szene? – Wie sind die Handlungsräume der einzelnen Akteure konzipiert? Wie sind die Räume der Akteure zueinander und zum Publikum komponiert? Wie ist das Publikum in Bezug auf die Aktion platziert? – Verändern sich das Raumkonzept oder die Anordnung von Bühne und Publikum während der Choreografie? Raumpositionierungen Auf mehreren benutzten Blättern die Unregelmäßigkeiten des Blattes markieren, z.B. kleine Flecken oder Kerben › Alle Unregelmäßigkeiten durchnummerieren und entsprechend im Bühnenraum Plätze unterschiedlicher Größe definieren › Die Plätze mit verschiedenen Bewegungsaufgaben belegen › Die Nummerierungen als Ausgangspunkte für die Tanzenden und dann als Abfolge für die folgenden Raumpositionen wählen › Die Blätter übereinander legen und prüfen, ob sich Markierungen decken. Wo das der Fall ist, gemeinsame Bewegungssequenzen erfinden | Auf der Bühne mehrere Spielfelder definieren und jedem Feld eine festgelegte Gruppenszene zuordnen › Die Tanzenden begeben sich auf ein Feld ihrer Wahl › Ist dort die notwendige Anzahl erreicht, wird die entsprechende Szene getanzt. Raum erproben Alle Bewegungen auf einen Fixpunkt beziehen, um den die Tanzenden wie um einen Planeten kreisen | Bewegungssequenzen in unterschiedlichen Distanzen tanzen, z.B. als Duo, in einer weit verstreuten Gruppe oder durch mehrere Paare, die im Raum verteilt sind. Mobiler Raum11 Durch Raumbegrenzungen den Bühnenraum für jede Bewegungssequenz oder Szene umgestalten und verschiedene räumliche Situationen schaffen › Diese räumlichen Situationen können mit Narrationen verbunden werden, z.B. wenn der Raum wie ein langer Gang gestaltet ist, durch den sich alle Akteure nacheinander wie in einer Prozession hindurch bewegen oder wenn eine Paarszene auf einem immer engeren Raum stattfindet.

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196 Komposition Akteure Anzahl und Aufgabe der Akteure, ihre szenische Zuordnung und Beziehung zueinander, prägen wesentlich die choreografische Ordnung. Zu kompositorischen Entscheidungen gehören Fragen der Anzahl und wie diese Anzahl organisiert ist, z.B. in Soli, Duos, Trios, als Ornament oder Schwarm. Die einzelnen Akteure können als Figuren, in bestimmten Rollen, als Handlungsträger, als Funktionsträger einer Ordnung fungieren oder als Person identifizierbar sein. Sie können auf verschiedene Weise einzelnen Bewegungssequenzen oder Szenen zugeordnet und zueinander in Beziehung gesetzt werden: annähernd, kontrapunktisch, kontrastierend, unabhängig, narrativ oder formal. Welche Anzahl an Akteuren erfordert das choreografische Projekt? Welchen Einsatz erfordert das künstlerische Konzept? – Welche Möglichkeiten entstehen durch das Spiel der Akteure und welcher dramaturgischen Idee folgen sie? Lässt sich z.B. durch Wechsel von annähernder zu kontrapunktischer Beziehung ein Aktionsstrang präzisieren? – Welche Eigendynamik produziert z.B. ein Solo, Duo oder Trio? Verändert sich die Interaktion einer Gruppe beim Wechsel von einer geraden zu einer ungeraden Personenzahl? – Welches narrative Potential steckt in verschiedenen Gruppierungen? Wie könnte ein formaler Umgang mit diesen Konstellationen gestaltet werden? – Wie kann der Spannungsverlauf durch die Art und Weise des Einsatzes oder die Zahl der Akteure beeinflusst werden? Mit Akteuren variieren Wie kann man eine Bewegungssequenz durch den Wechsel der Akteure verändern? Z.B. durch Weitergeben: a tanzt den ersten Teil eines Solos › b führt das Solo von a fort › c das Solo von b › d und c kommen hinzu und tanzen das Solo überlappend etc. | Drei gleichzeitige Bewegungssequenzen so komponieren, dass sie nicht als Trio wahrgenommen werden, sondern als eigenständige Soli, z.B. Version 1: Die Soli bestehen aus unterschiedlichem Material und sind räumlich so weit voneinander entfernt, dass sie nicht alle gleichzeitig gesehen werden können. Version 2: Alle drei Soli bestehen aus denselben Elementen, z.B. Sprung, einer Drehung und einer

Komposition

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Bodenbewegung, aber in sehr unterschiedlichen Ausprägungen und unterschiedlicher Reihenfolge. Wie und durch welche räumliche Anordnung werden Beziehungen zwischen den Soli wahrgenommen? | Aus einem Solo ein Duo, Quartett, eine Gruppenszene entwickeln und schrittweise wieder zum Solo zurückführen. Lassen sich unterschiedliche Wirkungen differenzieren? Welche führen den choreografischen Prozess weiter? Schwarm Schwärme sind Gruppen, die selbstorganisiert ohne eine zentrale steuernde Instanz im Kollektivπ agieren. Sie sind in der Lage, sich zu organisieren und zu formieren, und sind dabei flexibel, koordiniert und zielgerichtet. Das Prinzip der Informationsweitergabe durch körperliche Nähe gehört zu den wichtigsten Grundsätzen der Schwarmlogik. Der Schwarm als choreografisches Prinzip kann unter anderem als Spielweise zur Gruppenwahrnehmung, als Echtzeit-Komposition oder als interaktives Spiel mit Beteiligung des Publikums eingesetzt werden, z.B.: In körperlicher Nähe zu der gesamten Gruppe bleiben › Immer in Bewegung bleiben › Dem Bewegungsfluss der Gruppe folgen.

Intermediale Komposition Ähnlich wie choreografische Arbeitsprozesse intermedial angelegt sein können, z.B. die Bewegungsgenerierung oder -formgebung, sind zeitgenössische Choreografien oft intermedial komponiert, indem Bewegung mit Medien wie Bild, Film, Text, Musik oder digitalen Medien zusammengeführt wird.12 Das Zusammenwirken verschiedener Medien in einer Choreografie ermöglicht eine vielschichtige, inhaltliche, formale und ästhetische Gestaltung. Im Folgenden sind Fragen und Beispiele für intermediale Beziehungen zwischen Bewegung bzw. Choreografie und Text, Schrift, Sprache, Bild und Film sowie Musik aufgeführt.

Medienauswahl Wann und warum werden welche Medien gewählt? Bieten Medien andere Perspektiven an, um ein Thema zu beleuchten? Wie kann ein künstlerisches Werk, z.B. ein Gemälde, ein Gedicht oder Musikstück, für die Choreografie verwendet werden?

Formen

198 Komposition Welche Themen wirft es auf ? Welche Kompositionsprinzipien liegen ihm zu Grunde? Wie ist die Rezeptionsgeschichte des Werkes? Gibt es bereits choreografische Umsetzungen? – Bewegung und Medium Wie können Medien ins Verhältnis zur Bewegung gesetzt werden? Sollen verschiedene Medien einander ergänzen, verstärken oder kontrastieren? Verhalten sie sich annährend, kontrapunktisch oder unabhängig zueinander? Soll durch Überlagerung mehrerer Medien kommentiert oder Komplexität erzeugt werden? – Medienwahrnehmung Sollen durch den Einsatz verschiedener Medien unterschiedliche szenische Aktionsstränge aufgebaut werden? Welche Spannungsverläufe entstehen, wenn die Bezugnahme zwischen Medien zeitversetzt, parallel oder überlappend erfolgt? Welches Wahrnehmungsspektrum öffnet sich, wenn Medien auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden werden? Welche kompositorischen Entscheidungen zieht das nach sich? Wie nimmt die Art und Weise der Zusammenstellung Einfluss auf die Wahrnehmung der Szene? Text, Schrift, Sprache Wie werden Sprache und Bewegung als Zeichensysteme wahrgenommen, z.B. eindeutig / mehrdeutig, lesbar / nicht lesbar? – Wie können Sprache und Bewegung ins Verhältnis gesetzt werden? Wie kann ein Bewegungsdialog komponiert werden? – Wie wird Sprache in Szene gesetzt? Wird sie z.B. live gesprochen oder über ein Aufnahmegerät eingespielt? Ist ihre Funktion auf Informationsvermittlung ausgerichtet oder darauf, eine Situation zu etablieren, Sinnzusammenhänge in Frage zu stellen, Bedeutung zu dekonstruieren? – Wie werden Text oder Schrift in die Choreografie eingebaut? Wie können sie mit der Bewegung formal komponiert werden? Wird Text gesprochen, gelesen oder im Moment der Aufführung geschrieben, tritt er z.B. auf Zetteln, Plakaten, Bildern oder Bühnenbild in Erscheinung, als geschriebener Text, der projiziert wird? Sprechen und Bewegen Eine Bewegungssequenz wird verbal angekündigt, z.B. indem ein Akteur dem Publikum mitteilt: Ich widme diesen Tanz Lola Montez; ich zeige jetzt Teil 1; ich habe gelernt, mich auf den Boden zu werfen, ohne mir weh zu tun | Über Sprache wird etwas behauptet, das über Bewegung plausibel

Komposition gemacht wird, z.B. über Selbstbeschreibungen: Ich bin Bruder; ich bin Leistungssportlerin, Student, Einzelkind, Schulsprecher; ich bin in Spanien geboren; 22 Jahre alt; ich bin die Beste im Schwimmen › Die Selbstbeschreibung mit einer formalen Bewegung verknüpfen › Selbstbeschreibung und Bewegung neu zuordnen, z.B. die Bewegung zu der Aussage »Ich bin Studentin« mit der Bewegung der Aussage »Ich bin 22 Jahre alt« koppeln › Die Ausführung von Sprechen und Bewegen variieren und steigern und umkehren. Wie verändert sich die Wirkung der Sätze, der Bewegungssequenzen? Geschichten erzählen Eine Geschichte erfinden, in der z.B. ein Hund, ein Mädchen und ein Steinbruch vorkommen › Zu Hund, Mädchen und Steinbruch Bewegungsmaterial generieren › Das Material zu einer Montage verbinden, die nicht den Handlungsverlauf der Geschichte wiedergibt › Versatzstücke des Textes kontrapunktisch zur Bewegung an die Rückwand schreiben und ins Publikum sprechen. Wo entstehen Momente der Verdichtung? Sollen diese verstärkt oder aufgelöst werden? Alphasystem13 Das grafische Zeichensystem des Alphabets in ein Bewegungsalphabet übertragen: Einen Text über Choreografie auswählen › Anhand der Struktur und des Inhaltes des Textes Entscheidungen über die Entstehung des Bewegungsmaterials treffen: Aus dem Text einen Satz auswählen › Die ersten sechs Buchstaben des Alphabets auswählen › Für jeden der Buchstaben eine Bewegungssequenz festgelegen › Die Wörter des Satzes Buchstabe für Buchstabe als Bewegungssequenzen ausführen. Buchstaben, denen keine Bewegungssequenz zugeordnet wurde, überspringen › Wenn eine Bewegungssequenz eine Drehung enthält, verändert sich entsprechend die Bewegungsrichtung. Bild und Film Welches Zusammenspiel entsteht bei der Verknüpfung von live stattfindender und technisch reproduzierter Bewegung? – Auf welche Art von Bildern oder Filmen will man Bezug nehmen, z.B. historisch oder persönlich bedeutsame Fotos, Werke der Bildenden Kunst, Gedankenbilder, Dokumentar- oder Spielfilme? Wie kann deren Realität im Rahmen einer Choreografie befragt werden? –

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200 Komposition Auf welche Art und Weise kann Bild- und Filmmaterial zusätzliche Perspektiven einer Erzählung öffnen? Wie lassen sich mit Hilfe von Montage oder Zeitversetzung Brüche herstellen? Duplizieren14 Mit einer Videokamera eine Tänzerin in einer Echtzeit-Komposition aufnehmen und zeitgleich oder zeitversetzt projizieren › Vorgang umkehren: Mehrere Tänzerinnen kopieren Bewegungssequenzen vom Videobild und variieren sie auf der Bühne. Welches Bewegungsmaterial entsteht? Welche Gesamtwirkung? Episodengeschichte a überträgt Bilder aus einem Comic oder Manga in Bewegung und entwickelt daraus durch AbstraForm geben hieren ein Soloπ › Die ausgewählten Bilder vergrößern und –› Tools –› auf der Bühne stapeln › b präsentiert die Bilder vom Stapel dem Variieren Publikum und heftet sie an verschiedene Stellwände › Bilderaktion und Solochoreografie zu wechselnden Verknüpfungen ineinander flechten, z.B. nimmt a durch Ortswechsel Bezug auf bestimmte Bilder oder a und b treten in Dialog. Autobiografie Eine Akteurin erzählt dem Publikum Schlüsselmomente ihres Lebens und überträgt diese in getanzte Bewegungen und mit Hilfe von drei auf der Bühne verteilten Laptops in mediale Präsentationen › Laptop 1 projiziert Bilder, Laptop 2 Texte, Laptop 3 Tonmaterial › Bild,- Text- und Tonmaterial werden mit festgelegten Bewegungssequenzen und dem Bewegen zwischen den Laptops zu einer Collage in Echtzeit zusammengeführt. Wie lässt sich die Bedienung der Apparate künstlerisch integrieren? Wie entstehen Verdichtungen? Musik

Musikauswahl Was macht ein Musikstück interessant für eine künstlerische Auseinandersetzung, z.B. ein konzeptioneller Ansatz, wie die Übertragung einer musikkompositorischen Methode in eine choreografische? Was motiviert die Musikauswahl, z.B. das Thema, der Komponist, die Vorliebe für einen Musikstil? Stellt die Musik Fragen, z.B. Geräusche, bei denen nicht rückführbar ist, welches Instrument sie erzeugt hat? Gibt es eine Zusammenarbeit mit einem Komponisten?

Komposition Bedarf eine Choreografie mehrerer Musiken? In welcher Hinsicht beziehen diese sich aufeinander: kompositorisch, thematisch oder musiktheoretisch? Musikrecherche Aus welchem historischen, sozialen, politischen, ethnischen und kulturellen Kontext stammt die Musik? Auf welche Art und Weise beeinflusst der lebensweltliche Kontext und die damit verbundene Sozialwelt das Hörverhalten, die Musikrezeption? Wie lässt sich die Komposition in einem veränderten historischen, gesellschaftlichen sowie kunsthistorischen Kontext lesen? Musikanalyse Gibt es musikalische Einheiten und Wiederholungen, z.B. eine Strophen- oder Refrainstruktur? Wie sind Aufbau und Spannungsführung gestaltet? Welchen Klangraum, welche Klangdynamik erzeugt die Musik? Ist sie staccato oder legato (Artikulation)? Welche Klangfarbe kommt zum Ausdruck? Wirkt der Klang z.B. schwer durch seine tiefe Lage, ein langsames Tempo und hohe Klangdichte? Welche Instrumente werden verwendet (Streich-, Tasten-, Blas-, Schlaginstrumente etc.)? Was charakterisiert ihr Zusammenspiel? Welchem Konzept folgt die Musik? Opernmusik z.B. folgt einem narrativen Konzept, Ballettmusik einem Bewegungskonzept, autonome Musik einem formalen Konzept. Wie werden Themen vermittelt, über Sprache, über die Kompositionsstruktur, über Bildassoziationen, die durch die Musik ausgelöst werden? Musik in Choreografie übersetzen Wie können Liedtexte in einer Choreografie verarbeitet werden, z.B. thematisch, als Collage, als Gesang oder performativ, indem die Texte in Bewegung übersetzt werden? Wie transportiert Musik Emotionen, Dramatik oder Tragik, z.B. in einem Popsong oder in Barockmusik? Wie kann sich die Choreografie dazu verhalten? Wie können Klänge choreografisch genutzt werden? Welche Kompositionsverfahren können genutzt werden, um Klang zusammenzustellen, z.B. Montage? Beziehungen zwischen Musik und Choreografie herstellen Soll die Musik z.B. die Bewegung kontrastieren, verdichten oder Brüche erzeugen? Welche Gewichtung zwischen einer annähernden, kontrapunktischen und kontrastierenden Beziehungsform ist möglich und wie kann sie realisiert werden? Wie kann das Musik- und Bewegungsmaterial mithilfe von Kompositions-Tools und -Verfahren zusammengeführt werden? Wie kann choreografisches und musikalisches Material unabhängig voneinander entwickelt und in der Auf-

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202 Komposition führung zusammengeführt werden? Wie verändert sich die Wirkung, z.B. wenn Klangregister kontrastierten, Bewegungsakzente gesetzt werden, die nicht aus der Musik motiviert sind, Bewegungsund musikalische Rhythmen unterschiedlich zueinander ins Verhältnis gesetzt werden? Welche Möglichkeiten der Bezugnahme ergeben sich beim Aneinanderreihen, Überlagern oder Überlappen von Musik und Bewegung? Musiker/in und Tänzer/in Soll eine Auseinandersetzung mit Improvisation, z.B. in Form von Echtzeit-Komposition und Livemusik stattfinden? Wie kann ein Dialog als Echtzeit-Komposition komponiert werden, z.B. indem ein Musiker mit Livemusik kontrastierend oder annähernd auf eine Tänzerin reagiert oder indem ein Tänzer Kontraste herstellt, Stills einbaut, sich auf seine Improvisationen konzentriert, unabhängig davon, ob die Musikerin annäMitwirkende hernd oder kontrapunktisch zum Bewegungsmaterial spielt?π Musik in der Aufführung Wie soll Musik in das Stück eingearbeitet werden, z.B. als Livemusik oder vom Band eingespielt? Wie soll das Verhältnis von Musik und Bewegung in der Aufführung gestaltet werden, z.B. in einer Echtzeit-Komposition? Sollen die Musiker/innen, wenn sie live spielen, auf der Bühne sein, im Orchestergraben oder im Zuschauerraum? Oder soll die Musik als Übertragung eines Konzertes projiziert werden? Musik und Bewegung scratchen und mixen Ein Musikstück auf dem Plattenteller scratchen › Bewegungssequenz zu dem Musikstück festlegen und diese ebenfalls scratchen › Musik und Bewegungssequenz zusammenführen, Musik in Originalgeschwindigkeit mit gescratchter Bewegung koppeln und umgekehrt. Verbinden sich die Medien in der Wahrnehmung durch die angewandte Technik? Digitale Bearbeitung von Soundscapes15 Die Geräuschkulisse in verschiedenen öffentlichen Räumen aufnehmen: Aufnahmegerät in einem Supermarkt an der Kasse, an einer BlindenVerkehrs-Ampel und auf dem Gleis eines Bahnhofs aufstellen › Aus dem Material der drei Orte Zwei-Sekunden-Ausschnitte als Momentaufnahmen erstellen › Durch Aneinanderreihen der Ausschnitte einen Rhythmus erzeugen, z.B. nach dem Ticken der Blindenampel das Piepen der Supermarktkasse beim Ein-

Komposition scannen, gefolgt vom Aufbrausen eines Motors › Mit einer OpenSource-Software die Audiodateien mischen und elektronisch bearbeiten, z.B. die Abfolge loopen, im Tempo variieren, übereinander lagern › Soundscape und Choreografie parallel laufen lassen. Welche Impulse gibt die Klangkulisse für die Lesart der Choreografie? Spielform mit Musik-Score Ein Musikstück auswählen und während der Wiedergabe auf mehrere große Blätter abstrakte Zeichen, z.B. Bleistiftzeichnungen mit fein verästelten Linien, zeichnen, die als Reaktion auf die Musik entstehen › Diese Zeichnungen als grafische Partitur für die Bewegungsentwicklung einsetzen › Regeln für die Umsetzung der Zeichnung in Bewegung festlegen › Die Blätter an eine Wand hängen › Jede Tänzerin wählt eine Zeichnung aus › Diesen Ausschnitt wie eine Partitur lesen und im Raum die in der Zeichnung enthaltenen Informationen mithilfe des Regelwerks in Bewegung umsetzen › Danach eine andere Zeichnung zum Anlass für die Bewegungsimprovisation nehmen › Währenddessen wird die Musik eingespielt, die zu den Zeichnungen geführt hat.

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204 Komposition

AUFFÜHRUNG Aufführung bezeichnet in der szenischen Kunst die Darbietung eines Bühnenstücks vor einem Publikum. Sie ist ein momentanes, dynamisches künstlerisches Geschehen, das sich in unmittelbarer Präsenz auf der Bühne, medial übertragen oder als Aufzeichnung, z.B. durch Film vollzieht. Die Darbietung kann an verschiedenen Orten stattfinden, sie kann festgelegt und wiederholbar sein oder aber als offenes, performatives Format konzipiert sein, wie bei Echtzeit-Kompositionen oder bei Aufführungen mit Publikumsbeteiligung. Aufführungen stellen immer auch die Frage nach dem Verhältnis von Theatralität und Realität, Inszenierung und Authentizität. Den theatralen Rahmen der Aufführung bilden: Aufführungsort | Bühnensetting | Publikum | Aufführungsformate.

Ort Choreografie setzt eine Auseinandersetzung mit dem Aufführungsort voraus. Der Ort bestimmt die Möglichkeiten der Choreografie. Choreografien können in etablierten Bühnen- oder Theaterräumen aufgeführt werden aber auch an Orten, die für eine andere Nutzung vorgesehen sind, wie der öffentliche Raum, z.B. Bahnhöfe, Parkanlagen, Parkplätze, oder teilöffentliche Räume, z.B. Sozialämter, Schulhöfe, Fußballstadien. Eine Choreografie dort aufzuführen, bedeutet, sich mit diesen Räumen als Aufführungsort zu beschäftigen.

Rahmen –› Probenraum

Welche Kriterien führen zur Wahl eines Aufführungsortes? Spielen Überlegungen zur Neustrukturierung von Publikums- und Aktionsraum dabei eine Rolle? Welche Motive und Intentionen führen zu einer Auseinandersetzung mit ungewöhnlichen Aufführungsorten? Welche Orte inspirieren zu einer Choreografie? – In welchem Verhältnis steht der Ort zum choreografischen Arbeitsansatz: Wird aufgrund eines choreografischen Themas ein passender Aufführungsort gewählt oder bestimmt die Vorgabe eines Aufführungsortes das choreografische Thema?π – Wie erfolgt die Raumaneignung im choreografischen Prozess und in der Aufführung? – Wie kann das Verhältnis von Schauen und Zeigen in Auseinandersetzung mit dem Raum neu

Aufführung gefunden und definiert werden? Wie kann die Wahrnehmung eines vorgefundenen Ortes durch die Choreografie neu geprägt werden? Soll für die Aufführung in die Raumsituation eingegriffen werden? Ortserkundungen In welchem Raum soll die Choreografie aufgeführt werden, z.B. Sporthalle, Straße, Klassenraum, Aula, Schulhof, Museum, Einkaufspassage, Theater? Wie kann während des Probenprozesses eine Auseinandersetzung mit dem Raum erfolgen? Charakteristika des Raums erfassen: Gibt es Elemente, die nur in diesem Raum vorhanden sind? Welche Themen ruft er auf? Wie kann dies choreografisch genutzt werden, z.B. für die Generierung von Bewegungsmaterial? Gibt es Aktionen, die nur hier realisierbar sind? › Die Struktur des Raumes erfassen: Größenverhältnisse, Beschaffenheit, Materialien etc. › Aus den Informationen Bewegungsideen ableiten, z.B. Linien, Richtungen, Spannungsverhältnisse für die Choreografie übernehmen. Welche Erwartungen sind an die Örtlichkeit gebunden, können diese weiter entwickelt oder sollen sie eher unterlaufen werden? Aufführungsort definieren Ein öffentlicher Raum wird durch eine choreografische Aktion in einen Bühnenraum umgewandelt, z.B. indem auf dem Vorplatz einer Einkaufspassage Akteure Handzettel verteilen mit verschiedenen Definitionen von Tanz und der Frage, wann und wo das letzte Mal eine Tanzaufführung gesehen wurde › Die Tänzer/innen verteilen die Zettel nach einer festgelegten Choreografie › Nach und nach bleiben immer mehr Passanten stehen, lesen den Zettel und beobachten das Geschehen › Wie kann die Beteiligung des Publikums dazu beitragen, die Aktion als Kunstaktion zu inszenieren? Welche räumlichen Strukturen fokussieren die Aktion? Wie kann über die Choreografie eine Spielfläche etabliert werden, deren Ränder durch die Passanten markiert werden? Wohnungen Eine Aufführung findet in einer Wohnung statt: Diese füllt sich nach und nach mit Menschen, ohne dass zunächst Zuschauende und Akteure unterschieden werden können. Welche Interaktionen führen zur Rollenklärung, z.B. für das Publikum nachvollziehbare Wiederholungen, Übereinstimmungen, Verabredungen und Spielregeln? Wie können die Anwesenden

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206 Komposition durch ihr Raum- und Bewegungsverhalten den privaten Raum in einen Aufführungsraum transformieren und diese Veränderung thematisieren? Wird die Rolle und Funktion von Zuschauer und Akteur als Thema der Choreografie inszeniert und hinterfragt? Museum Die Auseinandersetzung mit der Gestik von Skulpturen wird zu einer Choreografie gestaltet. Diese wird vor Ort im Museum aufgeführt: Die Zuschauenden werden nach und nach durch die verschiedenen Ausstellungsräume geleitet, dies kann z.B. durch die Tänzer/innen geschehen und durch Klanginstallationen unterstützt werden › In jedem Raum wird ein auf die Ausstellungsobjekte und die räumlichen Gegebenheiten bezogener Teil der Choreografie dargeboten. Das Gruppenverhalten des Publikums gestaltet die Spielfläche, z.B. indem dieses einen Kreis um die Tanzenden bildet › Übergänge zwischen den Räumen und Szenen choreografisch gestalten. Welche Auswirkungen hat die performative Nutzung auf das Verhalten des Publikums in einem Museum? Architekturspezifisches Projekt16 Welche architektonischen Besonderheiten fordern zu einer choreografischen Auseinandersetzung heraus? Welche Themen bietet die Architektur der Bewegung an, z.B. eine Baustelle eines öffentlichen Gebäudes? Wie kann das Thema der Choreografie dazu in Beziehung gesetzt werden, z.B. der Wunsch nach einem Zuhause, sich niederzulassen, einzurichten? Wie kann diese Idee auf den Körper als Heimat bezogen werden, z.B. in Bezug auf die Physiologie und die funktionalen Bewegungsmöglichkeiten einzelner Körperteile? Wie können Baumaterialien zum Ausgangspunkt der Bewegungsgenerierung werden, z.B. Stein, Beton, Holz, Metall, Glas?

Setting Die Bühne ist der Ort, an dem die Aufführung sich ereignet. Die jeweiligen architektonischen Vorgaben fordern zur Erkundung und eventuell zur Umgestaltung heraus, z.B., wenn in einem Theater Zuschauer auf der Bühne sitzen, die Aufführung auch im Zuschauerraum stattfindet oder das Setting als ein Labor angelegt ist. Zeitgenössische Aufführungskonzepte thematisieren

Aufführung häufig die Rolle des Publikums, z.B. indem sie die Zuschauer durch spezifische Aufführungsformate am choreografischen Prozess teilhaben lassen. Zuschauerbeteiligung, Bühnenerweiterung sowie Auf- und Abgänge in den Zuschauerraum oder gleichzeitige Handlungen an mehreren Spielorten sind Möglichkeiten, mit der Bühne umzugehen. Über die Gestaltung des Bühnen- und Zuschauerraumes lassen sich herkömmliche Sehgewohnheiten und Rezeptionsroutinen hinterfragen. Welche Bühnenraumgestaltung braucht die Aufführung? Ist das Stück z.B. auf eine Front konzipiert, arbeitet die Choreografie mit Publikumsbeteiligung, sodass eine besondere Anordnung des Publikums um die Akteure herum sinnvoll ist? – Wie ist der Bühnenraum gestaltet, z.B. mit fest installierten Kulissen? Wie wird der Raum begrenzt, z.B. durch Stellwände oder die Außenmauern des Gebäudes? Werden sie als Bühnenausstattung, Kulisse genutzt oder umgestaltet, z.B. durch Vorhänge? Wird der gesamte Bühnenraum genutzt oder nur ein Teil? Wird die Spielfläche besonders ausgewiesen, z.B. durch ein Podest, eine Bodenmarkierung oder nur durch die choreografische Aktion? – Lassen die architektonischen und technischen Gegebenheiten des Raumes variable Nutzungen zu? Kann z.B. die Ausrichtung der Bühne in verschiedene Richtungen gewählt werden? – Befinden sich Akteure und Publikum auf gleicher Raumhöhe oder sitzt z.B. das Publikum auf den Rängen? Befinden die Zuschauer sich frontal von der Bühne abgetrennt in einem eigenen Raum oder kreisförmig, im Halbkreis, in zwei gegenübersitzenden Gruppen angeordnet auf der Bühne? – Welche Auswirkung haben unterschiedliche Bühnenräume auf den Umgang mit Raumordnungen? Wie wird das Bewegungsverhalten der Tanzenden bei der Aufführung z.B. bei einer offenen Bühne oder bei einer Guckkastenbühne geprägt? Welche Erwartungshaltungen werden beim Publikum abgerufen? Wie können diese außer Kraft gesetzt werden, z.B. indem die Tanzenden für das Publikum nicht sichtbar, nur hörbar sind? – Wird die Bühnensituation vor Probenbeginn geklärt oder entscheidet sie sich im Probenverlauf ? Welche Auswirkungen hat dies auf den choreografischen Ansatz, die Dramaturgie und die Lesbarkeit der Choreografie? – Welche Wechselwirkungen entstehen zwischen Bühne, choreografischem Material und Aufführungsformat?

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208 Komposition Arena-Bühne erforschen Was sind die Eigenheiten dieses Bühnensettings? Welche Auswirkungen ergeben sich auf die Sichtmöglichkeiten des Publikums und damit auf dessen Sehverhalten? Wie reagiert die räumliche Komposition des choreografischen Materials darauf? Welche Ansätze für eine inhaltliche Auseinandersetzung lassen sich daraus ableiten, z.B. eine theorieorientierte geschichtliche Verarbeitung der Bedeutung der Arena-Bühne im antiken griechischen Theater und ihre Übertragung auf Raumordnungen zeitgenössischer Choreografie? Wie kann die kreisförmige Einfassung des Publikums choreografisch genutzt werden, als Eingrenzung oder Verdichtung? Mobile Zuschauer Wie können die Zuschauer während der Aufführung in Bewegung gebracht werden, z.B. indem in einer leerstehenden Fabrikhalle mehrere choreografische Aktionen gleichzeitig stattfinden? Wie können Bühnen- und Zuschauerraum fließend ineinander übergehen, z.B. indem keine Stuhlreihen aufgestellt sind, sondern mitnehmbare Klappstühle zur Verfügung gestellt werden und jeder Zuschauer entscheidet, welcher Aktion er wann und wo zuschaut? Wie kann ein Parcours choreografisch gestaltet werden, z.B. indem Verdichtungen und Steigerungen in verschiedenen gleichzeitig stattfindenden Choreografien zeitversetzt komponiert werden und die Zuschauer auf diese Art von Raum zu Raum gelockt werden? Soziale Choreografie Wie lässt sich die Choreografie der Fußgänger und Fahrzeuge auf einer Straßenkreuzung beschreiben und als künstlerische Aktion umsetzen? Die Akteure können durch ihr Bewegungsverhalten in die choreografische Ordnung des Straßenverkehrs eingreifen und sie mitgestalten, durch Verdichten: z.B. kopiert bei der Grünphase jeder Performer einen Passanten in dessen Schritttempo und Gangart | Irritieren: z.B. indem im Fußgängerstrom Ausweichmanöver und Zusammenstöße provoziert werden | Verfremden: z.B. indem Akteure Passanten zum Walzer auf der Verkehrsinsel einladen. Wie kann eine solche Intervention in eine Alltagssituation als soziale Choreografie gestaltet werden? Was unterscheidet sie von einer Bühnenchoreografie, das Geschehen selbst, der Kontext oder der Blickwinkel auf das Geschehen?

Aufführung

Publikum Ein zentraler Bestandteil zeitgenössischer Aufführungsformate ist die Auseinandersetzung mit dem Publikum und seiner traditionell passiven Rolle während der Aufführung, z.B. indem Tanzende und Publikum die Aufführung interaktiv gestalten. Interaktion und Partizipation sind ästhetische Entscheidungen, die im Gesamtkontext des Stückes und des dramaturgischen Konzeptes stehen. Auf diese Weise können z.B. Machtverhältnisse wie die Hierarchie von Agierenden und Publikum thematisiert, Gemeinschaftsprozesse zwischen Publikum und Darstellern erzeugt und hinterfragt werden. Die Beteiligung des Publikums kann sehr unterschiedliche Formen annehmen, z.B. als Mit-Autor, als Teilnehmer eines Spiels, als Interview- oder Gesprächspartner. Gelingen und Scheitern von Publikumsbeteiligungen hängen von den vorgegebenen Rahmen und Regeln ab, aber auch davon, welche theatralen Konventionen und Seherfahrungen vorherrschen und welche Stimmung in der Aufführungssituation entsteht. In welchem Bezug steht die Publikumsbeteiligung zum Gesamtkontext und zur thematischen Auseinandersetzung des Stückes? Soll die Bühne Schauplatz eines sozialen Experiments sein, z.B. indem Aufführungen des Alltags thematisiert werden? Wird die Choreografie vollständig über Publikumsbeteiligung organisiert oder in Teilen? Wie ist diese in das Stück eingebettet? Soll bereits der choreografische Prozess durch Interaktion geprägt sein, z.B. über interaktive Medien wie eine Open-Source-Website oder einen Chat-Room? – In welcher Funktion wird das Publikum in die Aufführung einbezogen, z.B. als Akteur, Entscheidungsinstanz, Interview- oder Gesprächspartner? Agieren die Tänzer/innen mit dem gesamten Publikum oder mit einem einzelnen Zuschauer? Wie werden die Zuschauer zur Partizipation eingeladen? Wovon hängt die Bereitschaft zur Partizipation ab? Inwieweit beeinflussen der kulturelle Kontext und die Sehgewohnheiten die Interaktion? – Wie unterstützt die Anordnung von Bühnen- und Zuschauerraum die Partizipation? Befindet sich das Publikum mit den Agierenden im selben Raum oder sind Bühnen- und Publikumsbereich getrennt? – Soll die Publikumsbeteiligung in einer Echtzeit-Komposition erfolgen, bei der die Aktionen des Publikums die Choreografie zentral mitbestimmen? Werden für dieses offene Aufführungsformat im

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210 Komposition Vorhinein Regeln festgelegt oder nicht? – Welche Auswirkungen hat das Risiko der Unvorhersehbarkeit für die Akteure im Moment der Aufführung? Was bedeutet das für die Dramaturgie des Stücks? Welche Regeln sind für die Interaktion hilfreich? Wie können im Vorfeld mögliche Reaktionen des Publikums mit eingeplant und geprobt werden? Sollen Teile der Choreografie mit Publikumsbeteiligung in Showings ausprobiert werden? Spielshow17 Wie kann die Aufführung als Show gestaltet werden? Zum Beispiel: Die Akteure werden zu Spielkandidaten erklärt, die Zuschauer zur Entscheidungsinstanz. Ein Showmaster gibt die zeitliche Struktur der Spielsequenzen vor › Ziel des Spiels ist, dass jeder Akteur eine eigene Bewegungssequenz entwickelt › Verschiedene Objekte werden bereitgestellt, z.B. Tutu, FlamencoFächer, Tangoschuhe, Sneakers › In verschiedenen WettkampfChoreogra- varianten können die Kandidaten diese Objekte gewinnenπ › fieren als Spiel Das Publikum stimmt durch Handheben ab, welcher Akteur –› Spielarten überzeugender und einfallsreicher war und das Objekt bekommt › Nach Verteilung aller Objekte kreiert jeder Akteur eine Bewegungssequenz, die sich mit dem Objekt auseinandersetzt › Die Choreografien werden präsentiert und vom Publikum bewertet | Spielleiterin und Publikum können auch mit Zufallsverfahren auf die Verteilung der Objekte Einfluss nehmen, z.B. durch Ziehen eines Loses. Interaktions-Karten18 Wie kann das Publikum über aleatorische Verfahren zum Akteur werden? Zum Beispiel: Beim Einlass Interaktions-Karten verteilen. Darauf steht eine Bewegungsaufgabe, die die betreffende Person umsetzen soll und die eine Bezugnahme zu anderen Personen enthält. Die Aufgaben sind einfach und alltagsbezogen, mit oder ohne Körperkontakt und können von jeder Person ausgeführt werden. Das Karten-Set umfasst mehrere Bewegungsaufgaben, die je nach Gruppengröße vervielfältigt werden › Alle Zuschauer auf das Spielfeld bitten › Dort improvisieren die Zuschauer untereinander mit ihren Bewegungsaufgaben. Welche Dynamik entwickelt sich? Wie kann man sie steuern und in Gang halten, z.B. indem sich Tänzerinnen unter die Menge mischen? Kartenbeispiele: Durchkreuzen Sie

Aufführung das Spielfeld diagonal, in geraden Linien und zielsicher. Wechseln Sie plötzlich Ihre Richtung. Vermeiden Sie Zusammenstöße | Gehen Sie durch den Raum und versuchen Sie, möglichst vielen Menschen in die Augen zu sehen. Berühren Sie niemanden | Steigen Sie auf einen Stuhl, setzen Sie sich darauf, gehen Sie weiter | Suchen Sie sich einen Platz aus und bewegen Sie Ihre Hände, Arme und Schultern auf möglichst unterschiedliche Art und Weise. Suchen Sie nach einer Weile einen neuen Platz | Laufen Sie neben einer Person Ihrer Wahl her ohne sie zu berühren. Sie können die Person wechseln, wann immer Sie möchten | Stellen Sie sich vor, Sie seien auf der Flucht. Gehen Sie schnell und leise. Vermeiden Sie Zusammenstöße. Bleiben Sie zwischendurch stehen, um sich umzuschauen, ob Ihnen jemand folgt | Verfolgen Sie unauffällig eine Person Ihrer Wahl. Versuchen Sie, deren Gangart zu übernehmen. Vermeiden Sie Zusammenstöße | Legen Sie Ihre Handinnenfläche an die Handinnenfläche einer anderen Person. Behalten Sie für eine Minute diesen Körperkontakt bei und tanzen Sie ein Duo mit der anderen Person. Laden Sie die Person höflich dazu ein. Schwarm als interaktive Spielform Wie können choreografische Formationen mit Publikumsbeteiligung erzeugt werden? Zum Beispiel: Vor Spielbeginn werden an ungefähr ein Achtel der Zuschauer Karten verteilt. Darauf stehen eine Zahl und eine Bewegungsaufgabe › Ein Akteur erklärt die Spielregeln des Schwarmprinzips und der Karten › Spielbeginn: das Publikum wird aktiv und kreiert eine Schwarmbewegung › Der Moderator bestimmt durch Nennung von Zahlen parallele Aktionen zur Schwarmbewegung: Kartenbesitzer der genannten Zahl verlassen den Schwarm und wechseln in die Bewegungsaufgabe der Karte. Die Zuschauer ohne Karten bleiben in der Schwarmbewegung. Bei nochmaliger Nennung ihrer Zahl gliedern sich die Kartenbesitzer wieder in das Schwarmprinzip ein. Kartenbeispiele: 1 – sich in Zeitlupe bewegen, 2 – stehen bleiben, 3 – sich hinsetzen, 4 – sich nur noch an der Peripherie des Raumes entlang bewegen. Tanzende Zuschauer19 Wie kann ein Tanzabend als Aufführung gestaltet werden? Zum Beispiel: Eine GesellschaftstanzVeranstaltung als Choreografie inszenieren: das Bühnensetting

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212 Komposition entsprechend als Clubraum, Ballsaal, Milonga oder Salsateca konzipieren, in dem sich die Performenden befinden und das Publikum an Tischen im Raum verteilt sitzt › Eine Choreografie wird getanzt › Zwischendurch fordern die Tänzer/innen einzelne Zuschauer zum Tanz auf und tanzen mit ihnen. Der Bühnenraum wird doppelt besetzt als Aufführungs- und Tanzraum. Die Zuschauenden sind zugleich in der Rolle des Theaterzuschauers und des Tänzers.

Aufführungsformate

Formen

In der zeitgenössischen Choreografie wird mit unterschiedlichen Aufführungsformaten gearbeitet, die jeweils eigene Anforderungen an Komposition und Dramaturgie stellen. Im Unterschied zu festgelegten Choreografien mit einem traditionellen Werkverständnis stellen performative Formate den Arbeitsprozess in der Aufführung dar. Choreografie kann dabei verstanden werden als kritische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Prozess und Werk, mit der Frage der Reproduktion und der Rolle des Publikums. Dies kann sich verbinden mit einem veränderten Selbstverständnis des Choreografen, der sich nicht nur als Autor, sondern auch als Initiator oder Forscher sieht, der in Zusammenarbeitπ mit anderen die eigene Arbeit hinterfragt und diesen Prozess mit dem Publikum teilt. Aufführungsformate sind wiederholbare Werke oder performative Formate wie Installation | Aktion | Lecture-Performance | Show | Dialog | Labor, Versuchsanordnung | Projektreihe. Das wiederholbare Werk Bei diesem Aufführungsformat ist die Bühnenform der Choreografie von Anfang bis Ende festgelegt. Thema, Dramaturgie und Ästhetik von wiederholbaren Werken können sehr unterschiedlich, z.B. bewegungsorientiert und formal oder narrativ angelegt sein. Es kann sich um klassisches oder modernes Ballett, eine abstrakte Choreografie, ein Tanztheaterstück oder Ausdruckstanz handeln. Diese können in einer hierarchischen oder einer kollektiven Zusammenarbeit entstehen und an unterschiedlichen Orten stattfinden, z.B. auf einer Bühne, in einem Kulturbetrieb

Aufführung oder im öffentlichen Raum. Es können Medien wie Musik, Film, Text und auch unterschiedliche Tanzstile und -techniken zum Einsatz kommen. Soll die Choreografie als wiederholbares Werk gestaltet werden? – Wie kann die Wiederholbarkeit gewährleistet werden? – Soll die Choreografie auf einer klassischen Theaterbühne gezeigt werden? – Soll das Publikum im Zuschauerraum sitzen? – Wie muss die Choreografie gestaltet sein, dass sie auch auf anderen Bühnen spielbar ist? Installation Eine performative Installation ist ein raumgreifendes, orts- oder situationsgebundenes Ereignis, das unter Verwendung von Zeit, Licht, Klang, Text und Bewegung und mitunter über eine Interaktion mit dem Publikum in Erscheinung tritt: z.B. indem eine Choreografie im Umgang mit einer Installation gestaltet wird | die Installation performativ in Anwesenheit des Publikums hergestellt wird | das Publikum an der Herstellung beteiligt wird | die Installation über Medien während der Aufführung präsentiert wird. Für welche Themen kann eine Installation sinnvoll sein? – Welche Medien eignen sich für eine Installation? – In welche Beziehung können die Materialien der Installation, wie Objekte, Texte, etc., zu den Aktionen der Tänzer/innen und den Bewegungen des Publikums gebracht werden? Wie werden Medien wie Licht, Klang, Text, Bewegung aufeinander bezogen? – Welche Möglichkeiten der Interaktion zwischen Performenden und Zuschauern gibt es, z.B. indem Zuschauende und Performer eine Installation herstellen, die später als Partitur in Bewegung umgesetzt wird? Welche choreografische Ordnung entsteht durch das Ineinanderwirken der Beteiligten mit den Materialien und Medien der Installation? Welchen Stellenwert hat das Unvorhersehbare? Wie wird über die Interaktion ein Thema generiert?20 – Welche räumliche Situation muss geschaffen werden, damit eine performative Installation funktioniert? – Welche Wechselwirkung entsteht zwischen Choreografie und Installation, wenn z.B. die Fotos einer Installation während der Aufführung erstellt und projiziert werden? Was bedeutet es für das Verhältnis

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214 Komposition zwischen Akteuren und Publikum, wenn z.B. die Installation bereits im Vorfeld fertiggestellt wird? Aktion meint eine künstlerische Strategie, die regelgeleitet oder regelfrei in bestehende Zusammenhänge eingreift, sie unterläuft oder hinterfragt. Sie steht zumeist mit Strategien der Intervention in Verbindung. Welche Themen eignen sich für eine performative Aktion? Welche Fragestellungen sollen geklärt werden? Soll die Performance eine gezielte Wirkung haben, z.B. Passanten mit einem bestimmten Thema konfrontieren? – Wie kann eine Dramaturgie der Intervention aussehen? – Welche Anforderungen sind bei performativen Aktionen an die Akteure gestellt, z.B. agieren in Echtzeit-Komposition, auf Unvorhergesehenes reagieren, mit widrigen Umständen klarkommen wie schlechtem Wetter, Protest der Passanten, Einsatz der Polizei? Lecture-Performance Der Begriff der Lecture-Performance ist entstanden an der Schnittstelle von Vortrag und Aufführung. Er vermischt auf kreative Weise Performance und Vermittlung. In dieser besonderen Inszenierung des Erzählens über künstlerische Arbeit können die Schritte des künstlerischen Prozesses integriert und dargestellt bzw. zum Vortrag selbst gemacht werden. Die Lecture-Performance setzt sich aus Aktion, Bild und Sprache zusammen, ist auf räumlicher Ebene zwischen Bühnen- und Bildraum und auf zeitlicher Ebene zwischen Aufführungszeit, Lese- bzw. Erzählzeit und erzählter Zeit angesiedelt. Wie kann ein Inhalt, z.B. ein gesellschaftliches Thema oder Forschungsergebnis, als Performance inszeniert werden? – Sollen Grundzüge des Prozesses der künstlerischen Auseinandersetzung präsentiert werden? – Soll ein Zwischenstand des choreografischen Prozesses vorgestellt und das Publikum z.B. mit noch offenen Fragen konfrontiert werden? Wie soll das geschehen, z.B. indem

Aufführung verschiedene Beteiligte ihre persönliche Kritik etc. am aktuellen Stand äußern? Oder indem z.B. ein Performer Stichpunkte, Aufgaben und Themen für die nächste Probe während der Aufführung entwickelt und das Publikum teilnehmen lässt am Prozess des Erfindens, Überlegens, Verwerfens, Korrigierens, Strukturierens?21 – Welche Vortragsmedien bieten sich für die Präsentation an, z.B. Diaprojektionen, Flipcharts, eine Power-Point-Präsentation, welche Vortagsarten, z.B. ein abgelesener Vortrag, ein Videoclip? Sollen sie kombiniert werden? Show Eine Show ist ein Ereignis mit Unterhaltungs- und mitunter mit Informationscharakter. Sie findet in der Regel vor Publikum statt und wird, wenn die Unterhaltung überwiegt, von einem Showmaster, wenn der Informationsanteil wichtiger ist, von einem Moderator geleitet. Formen der Show sind z.B. die Spielshow, die Musikshow, die Talkshow. Eine Show kann mit festgelegten Rollen organisiert sein, z.B. Moderator, Kandidatin, Personen, die einen Gastauftritt haben. In einer als Show angelegten Aufführung dient die dramaturgische Struktur einer Show als Gerüst der Choreografie. In der Übertragung der Show auf ein künstlerisches Aufführungsformat sollte der Aspekt des Entertainments kritisch reflektiert und ästhetisch verarbeitet werden. Welches Showformat ist das passende für das Projekt, z.B. Quiz, Casting, Wettkampf, Gewinnspiel, Glücksspiel, Talkrunde? – Welche Folgen ergeben sich für Komposition und Dramaturgie? In einer Spielshow z.B. müssen Kandidaten Aufgaben nach festliegenden Regeln in einer finalen Struktur erfüllen. Wettbewerb und spielerische Haltung bestimmen die Aktionsweise, Spielregeln bestimmen die Handlungsabläufe. Eine Spielshow hat einen offenen Ausgang. Wer tritt gegen wen an? Gibt es zwei oder mehrere Teams? Wie werden sie zusammengestellt? Muss jeweils ein Kandidat eine Aufgabe lösen? – Sollen Medien eingesetzt werden? Welche passen zu dem gewählten Showformat, z.B. dokumentarische Videos, Ausschnitte aus Hollywoodfilmen, Popmusik, Werbespots, eingespielte Kommentare? – Wird mit Publikumsbeteiligung gearbeitet? Wird

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216 Komposition das Publikum z.B. als Schiedsrichter, als Glücksfee, für den Publikumsjoker, als Gegenkandidat, als Mitdiskutant eingesetzt? – Soll ein Gewinner ermittelt werden? Wie soll das geschehen, z.B. durch ein Punktesystem, Publikumsabstimmung oder durch eine inszenierte Jury? Dialog Eine Aufführung kann dialogisch als Interview konzipiert sein im Sinn einer inszenierten Form der Befragung. Der Interviewer will Informationen zu persönlichen Themen oder Sachverhalten ermitteln. Unterschiedliche Interview-Konstellationen öffnen Themenräume und Blickwinkel, z.B. wenn die Agierenden sich gegenseitig interviewen, wenn sie das Publikum befragen, wenn sie vom Publikum oder einem Moderator befragt werden. Choreografische Interviews können mit Hilfe von Sprache oder auch ausschließlich über den Austausch von Bewegungsmaterial erfolgen. Mit welchen Medien soll der Dialog gestaltet werden? Soll verschiedenes Bewegungsmaterial, z.B. unterschiedliche kulturelle Bewegungsformen, in Dialog treten? Sollen verschiedene Ästhetiken oder Tanzstile in Szene gesetzt werden? – Soll das Publikum beteiligt werden? – Wird mit einem vorbereiteten Fragenkatalog gearbeitet oder ent- stehen die Fragen auf der Bühne? Konnten die Interviewpartner sich auf die Fragen vorbereiten? – Gibt es klare Regeln? Zum Beispiel: Fragen müssen ohne zu überlegen beantwortet werden, ein Beteiligter ist der Fragende, der andere der Befragte, die Rollen können durch eine kurze Formel, die verabredet wird, getauscht werden.22 – Soll ein Dialog ohne Fragestruktur inszeniert werden? So können zwei Tänzer, die unterschiedlichen ästhetischen und tanztechnischen Traditionen angehören, sich weitgehend ohne Worte austauschen, indem sie charakteristische Bewegungssequenzen vorführen, auf die der jeweils andere aus seinem Kontext heraus antwortet.23

Aufführung Labor, Versuchsanordnung Die Aufführung kann als Labor und Forschungsereignis fungieren. Das Experimentieren ist dabei Gegenstand der Choreografie und Aufführung. Wie kann die Aufführung selbst als künstlerischer Forschungsprozess in der Aufführung angelegt sein? – Welche Themen bieten sich für eine Bearbeitung in Form eines Experimentes an, z.B. die Auseinandersetzung mit Original und Fälschung: Wie schnell und wie präzise kann ein Tänzer fremdes Bewegungsmaterial kopieren? – Aus wie vielen Akteuren besteht das Experiment? Welche Rollen bzw. Funktionen nehmen sie ein? – Wird mit verschiedenen Stadien des Experimentierens gearbeitet, indem Arbeitsschritte dokumentiert werden und während der Aufführung gezeigt werden? Projektreihe Eine Projektreihe ist eine Zusammenführung von Aufführungen, die z.B. an verschiedenen Orten und/oder in unterschiedlichen Varianten stattfinden. So kann eine Choreografie darauf abzielen, an verschiedenen Spielorten, z.B. Theater, Schwimmbad etc. aufgeführt zu werden. Mehrere als zusammengehörig konzipierte Choreografien können z.B. unter Einsatz von Medien, wie Direktübertragungen, zeitversetzt oder an verschiedenen Orten zeitgleich aufgeführt und durch Projektion zusammengeführt werden. Soll eine Choreografie als Projektreihe angelegt sein und an unterschiedlichen Orten aufgeführt werden? Ist es interessant, eine Choreografie mit derselben Besetzung an sehr unterschiedlichen Orten aufzuführen, z.B. in einer Kirche, einer U-Bahn-Station, in der Fußgängerzone? Welche Veränderungen ergeben sich durch die unterschiedlichen Räumlichkeiten? – Soll das choreografische Projekt an verschiedenen Orten gleichzeitig starten und entwickelt werden? Sollen die unterschiedlichen Arbeiten gleichzeitig gezeigt werden, z.B. durch Übertragung in einem Theaterraum? – Ist die Choreografie ausschließlich als Aufzeichnung konzipiert, wenn sie z.B. in einem Krankenhaus durchgeführt und live in den Theaterraum übertragen wird? Sind dabei vorherige Aufführungen der Projekt-

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218 Komposition reihe präsent, z.B. in Form von Projektionen? Sollen die Aufzeichnungen und Übertragungen mit einer Aufführung vor Ort verbunden werden? – Besteht die Projektreihe in einer Abfolge choreografischer Prozesse, die unter einem Arbeitsthema stehen aber nicht auf Wiederholung und Gleichzeitigkeit zielen, z.B. wenn eine Gruppe von Choreografinnen zu verschiedenen Tanzgruppen reist, um mit ihnen an einer bestimmten Fragestellung zu arbeiten? Wie können die verschiedenen Choreografien, die durch ein Konzept verbunden sind, zusammen präsentiert werden, z.B. durch Einladung der Tanzgruppen zu einem gemeinsamen Tanzfestival, durch gegenseitige Besuche, durch mediale Aufzeichnung? Oder soll am Ende der Reihe eine eigenständige zusammenführende Choreografie komponiert werden?

Aufführung

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220 Interviews

Martin Nachbar

Interviews Stückentwicklung Ein Gespräch mit Martin Nachbar 1 Gabriele Klein Wie entstehen die Themen für Deine Choreografien? Martin Nachbar Meine Stücke beruhen alle auf Beobachtungen, des gesellschaftlichen Alltags oder meines persönlichen Umfeldes. Das Stück »Ausflug« (2003) zum Beispiel ist entstanden, nachdem ich eine Butterfahrt mitgemacht hatte. Ich hatte damals die Verkaufsshow aufgenommen, weil ich sie dramaturgisch spannend fand: nur über Atmosphäre zu arbeiten um das einzige Interesse zu realisieren, nämlich zu verkaufen. Das Stück, das ich entwickeln wollte, war deshalb von der Frage geleitet: Wie kann ein Stück angelegt sein, das das Stück selbst verkauft? Mich interessiert sehr, wie sich die Außenwelt, die Illusion der Bühne, die Aufführung und die Imagination verschränken. Es geht mir um die Doppeldeutigkeit des Begriffs Vorstellung. Ein anderes Beispiel ist »Verdeckte Ermittlung« (2004). Damals waren die Zeitungen voll von Horst Tappert alias Derrick, er war 80 Jahre alt geworden. Deutsche Fernsehkrimis und polizeiliche Ermittlungsarbeit wurden dann zum Ausgangspunkt des Stücks. Auch hier geht es ja – im Film wie in der Realität – ständig um das Arbeiten mit dem Verhältnis von Fakten und Fiktionen, zum Beispiel bei Zeugenaussagen oder den Schlussfolgerungen, die Ermittler ziehen. Bei »mnemonic nonstop« (2005) waren es Arbeitsresidenzen, die Jochen Roller und ich in unterschiedlichen Ländern hatten. Dann kam Deine Anfrage, beim Steirischen Herbst im Rahmen der Performance-Reihe »Bodies–cities–subjects« ein Stück zu machen. Hier ging es auch wieder um die Realität der Städte, was sie mit unseren Körpern macht und wie wir diese Erfahrung auf die Bühne bringen können. Es ging also darum, Dokumentarisches mit der Fiktionalität der Bühne zu verbinden. Deshalb sind wir auf Kartografie gestoßen.

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222 Interviews Klein: Kartografie ist eine räumliche Inschrift, ebenso wie Choreografie. Beide können durch einen Wechsel von Improvisation und festgelegter Aktion gekennzeichnet sein. Nachbar: Manche Choreografen würden das Score nennen im Sinne einer Orientierung. Der Begriff Score kommt aus der Musik als Partitur, die Zeit organisiert. Eine Aufführung bedeutet immer die Möglichkeit, Zeit miteinander zu verbringen. Als Choreograf oder als Performer habe ich die Verantwortung, die Zeit so zu strukturieren, dass sie interessant verläuft für alle Beteiligten. Mit Orientierung und Kartografie benutze ich Raumbegriffe, um Zeit zu organisieren. Klein: Neben Kartografie spielte ja auch das Dérive, die von den Situationisten in den 1960er Jahren entwickelte Methode künstlerischer Stadtforschung in »mnemonic nonstop« eine Rolle. Nachbar: Das Dérive war uns methodisch eine Hilfe, um durch die Stadt zu gehen mit dem Augenmerk auf körperliche und emotionale Erfahrungen. Kartografie eignet sich für den Übersetzungsvorgang. Einerseits steht Kartografie, wie Du vorhin gesagt hast, über das letzte Wort grafie in Verbindung mit Choreografie und andererseits ist eine Karte immer die Repräsentation einer Erfahrung. Auch Choreografie ist die Repräsentation einer Erfahrung. Klein Aber doch nicht nur eine Repräsentation? Wenn ich zum Beispiel an das Stück »Repeater« denke, in dem Du mit Deinem Vater auftrittst. Nachbar Das stimmt. Dadurch, dass es eine echte VaterSohn-Beziehung ist, kann ich nicht mit Repräsentation arbeiten. Der Ausgangspunkt war simpel. Ich wollte mehr Zeit mit meinem Vater verbringen, produktive Zeit. Mein Vater gehört zu der Generation, in der Männer nicht gewöhnt sind, viel über sich zu reden. Deshalb dachte ich, ein Stück mit ihm zu machen. Das Problem war, dies auf die Bühne zu bringen, ohne dass es psychodramatisch wird. Wenn ich mit einem fremden alten Mann ein Stück gemacht hätte und die Vater-SohnBeziehung als Behauptung gesetzt hätte, dann hätten wir spielen können. Aber wenn die Beziehung echt ist, dann ist

Martin Nachbar das choreografische Material auch immer ganz nah, Distanz wird schwierig. Wie kann ich also mit der Doppelrolle umgehen, Sohn und Choreograf zu sein? Klein Dein Vater hat zudem im Unterschied zu Dir keine Tanz- und Bühnenerfahrung. Nachbar Ja, mein Vater war zwar immer sehr interessiert an Bildender Kunst und ist sehr aufgeschlossen und neugierig. Aber Tanz und Choreografie waren ihm fremd. Es war schwierig für ihn, mit der Vielschichtigkeit von Performance und Tanz umzugehen. Hier war eine gute Dramaturgie wichtig. Weil ich die Innen- und Außenperspektive hatte, fungierte der Dramaturg Jeroen Peeters dann gegen Ende auch als Co-Choreograf. Klein Wie habt Ihr im Probenprozess Eure unterschiedlichen Qualitäten nutzen können? Nachbar Wir sind von Labans acht Antriebsaktionen ausgegangen und haben dazu Improvisationen gemacht, jeder allein, dann zusammen. Das habe ich gefilmt und geschaut, was am besten funktioniert. Anfangs haben wir auch viel mit Contact Improvisation gearbeitet und auch bildhaft mit Themen aus dem Ausdruckstanz, zum Beispiel eine Blume, die erblüht und verwelkt. Wir haben Lebensstationen ausgesucht und in Bildergeschichten umgesetzt und geprüft, wie man es hintereinander setzen kann und was davon für ein Publikum lesbar ist. Oder wir haben Gemälde ausgewählt und sie nachgestellt. Und ich habe geschaut, wo wir uns in meiner Kindheit körperlich nah waren. Zum Beispiel haben wir Fußball zusammen gespielt. Das Narrativ des Fußballspiels und die Erinnerung an diese Körperlichkeit habe ich dann szenisch genutzt: Erst macht er das Tor gegen mich und dann redet er mit mir, dann sind wir in einer Mannschaft und dann schieße ich das Tor. Das war das Muster unserer Improvisationen. Klein Es braucht Erfahrung und körperliches Wissen, um das generierte und festgelegte Bewegungsmaterial erinnern zu können. Wie habt Ihr das gemacht?

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224 Interviews Nachbar Die Frage war: Was hilft meinem Vater, sich die Bewegungsfolgen zu merken? Ist es die Energie, ein prägnanter Moment, ein narrativer Verlauf, ein Gefühlsablauf oder ein Bewegungsablauf, ein sprachlicher oder deskriptiver Ablauf? Klein Du hast einmal betont, dass anders als für manche Choreografen für Dich Bewegungsgenerierung und Komposition nicht dasselbe wären. Was macht den Unterschied aus? Und wie kommen kompositorische Entscheidungen und choreografische Setzungen zustande? Nachbar Eine Trennung zwischen Bewegungsgenerierung und deren Organisation und Komposition ist schwierig. Die Art der Generierung wird Einfluss darauf haben, wie das Material dann organisiert wird, wie also die Komposition erstellt wird. Aber den Ablauf zu organisieren ist ein anderer Prozess als das Bewegungsmaterial zu generieren. Jedes Stück beginnt ja mit einem Interesse und einer Fragestellung. Wenn ich ein Stück mache, überlege ich deshalb zuerst, wie der Prolog aussehen könnte, wie ich also alle Anwesenden einstimmen kann. Es gibt immer Materialien, die ich für diesen Prolog erarbeite, auch wenn ich später feststelle, dass sie eher in den Mittelteil passen. Wie das Material organisiert wird, muss man ausprobieren. Die Entscheidung, ob es stimmt, läuft intuitiv. Es gibt einen Punkt im Probenprozess, wo ich genug Material generiert habe, dann will ich am Ablauf arbeiten. Klein Viele Künstler sagen, Entscheidungen in den gestalterischen Prozessen werden intuitiv gefällt. Gibt es dennoch Hilfen oder Techniken, die man benennen und weiter vermitteln könnte? Nachbar In Workshops arbeite ich manchmal mit Rollenwechseln zwischen Dramaturg und Choreograf. Der Dramaturg hat die Aufgabe, Hilfestellungen zu geben oder Fragen zu stellen, die sein Gegenüber, der Choreograf, beantwortet. Das ist ein Weg, um die Wahrnehmung zu schulen: Lernen zu sehen, was passiert. Und dies von dem unterscheiden lernen, was man gern sehen möchte. Gleichzeitig muss man auch die Fähigkeit haben, zu entscheiden. Mitunter beruhen Entscheidungen ja auf Vorlieben, so dass man auch gegen diese Vorlieben arbeiten

Martin Nachbar und entscheiden muss. Je artikulierter die Werkzeuge sind, desto einfacher und klarer wird es, zwischen eigener Vorstellung und dem tatsächlichen Geschehen zu unterscheiden. Deshalb gefällt mir auch die Idee des Baukastens sehr gut. Klein Welche Rolle spielt dabei der Dramaturg? Nachbar Dramaturgie ist im Tanz sehr wichtig geworden. Die Dramaturgie für ein Stück entsteht aus dem Stück und wird nicht von außen aufgesetzt. Aus Sicht des Choreografen ist ein Dramaturg oder eine Dramaturgin ein Gegenüber mit einem anderen Fokus und einem anderen Background. Wenn es eine Verbindung gibt zwischen den beiden, dann ist das unheimlich produktiv. Klein Welches Verhältnis haben Dramaturgie und Choreografie in dem Arbeitsprozess von Stücken, die wie Deine Stücke auf keiner literarischen Vorlage beruhen? Nachbar Bei »Repeater« hatte der Dramaturg, Jeroen Peeters, eine Szene aus dem Roman »Weißes Rauschen« von Don DeLillo herausgesucht, wo Väter mit ihren Söhnen nachts zu einem Krankenhausbrand fahren und dabei über alles andere verhandeln, was ihre Vater-Sohn-Beziehung ausmacht. Solche literarischen Vorlagen habe ich meist im Vorfeld. Ein Dramaturg muss genau sein und sein Wissen auf die Thematik oder die Fragestellung des Stücks anwenden können. Ich arbeite mit Dramaturgie, die aus der Arbeit selbst entsteht, die keinen Dramaturgen als Außenstehenden braucht, sondern ihn als Mitarbeiter sieht. Klein Dramaturgen sind ja häufig theoretisch sehr versiert. Sie sehen das Stück nicht nur mit einem ästhetischen Auge, sondern verorten es in bestimmte Kontexte und Diskurse, ob politischer, gesellschaftlicher oder philosophischer Natur. Nachbar Der Dramaturg hat dann die Aufgabe, eine solche Perspektive zu schaffen. Klein Gibt es dramaturgische Techniken der Materialordnung? Nachbar Eine Untersuchung zu Rhythmus besagt, dass, wenn eine Gruppe von Menschen ohne Anleitung klatscht, es

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226 Interviews immer eine Beschleunigung und dann wieder eine Verlangsamung gibt, die aber immer noch schneller ist als der Anfang. Das ergibt einen Bogen. So baue ich ein Stück. Es fängt sehr trocken an und hat ein emotionales Ende. Und das ist meistens eine Überraschung. Dazwischen werden Materialien akkumuliert, also immer mehr geschichtet und komplexer gemacht. Gegen Ende vereinfache ich wieder. Dies darf man nicht so verstehen, dass ich mir einen Anfang und ein Ende vorstelle und dann schaue, wie ich dahin komme. Es gibt aber Materialien, die eignen sich mehr für den Anfang. Das sind meistens Materialien, die entweder vom Tempo langsamer sind, die es einem Publikum erlauben, körperlich und gedanklich nachzuvollziehen, was die Tänzer machen. Die Akkumulation oder die Vielschichtigkeit ergibt sich aus diesem Anfangsmaterial. Klein Welche Rolle spielt der Raum, die Bühne? Nachbar Ich denke die Bühne meistens in Leserichtung, von links oben nach rechts unten. Eine wichtige Frage ist dann: Wie kann ich Szenenwechsel räumlich setzen. Zum Beispiel, wie kann ich das, was hinten passiert, als eine Landschaft nutzen für das, was vorn passiert oder umgekehrt: wie kann ich das, was hinten passiert so in Szene setzen, dass der Fokus von vorne nach hinten geht, dass was vorn passiert ist, verschwinden kann, ohne dass dies bemerkt wird? Klein Konzipierst Du die choreografische Anordnung auf einer bestimmten Bühne, zum Beispiel einer Black Box? Nachbar Das Setting würde ich immer von Anfang an setzen. Ich generiere nicht Material und sage dann: So, jetzt machen wir’s auf einer Bühne, die von allen vier Seiten betrachtet wird. Ich würde von vornherein sagen: Das findet in einer Manege, einer vierseitigen Bühne, einer dreiseitigen Bühne, als Installation, als Stadt führung statt. Diese Entscheidung hat Auswirkung auf das Material, seine räumliche Ausrichtung und muss entsprechend erarbeitet werden. So beginnt die Stückentwicklung.

Nik Haffner Bewegungsgenerierung Ein Gespräch mit Nik Haffner 2 Gabriele Klein Wie würdest Du Dein Vorgehen beschreiben, um Bewegung zu generieren? Nik Haffner Ich habe viele Jahre als Tänzer mit William Forsythe gearbeitet. Das hat mich sehr geprägt. Auch heute benutze ich viele Aufgaben, die ich durch ihn kennengelernt habe. Bei diesen Aufgaben ging es immer um das Generieren und Modifizieren von Bewegung, darum, neue Tasks zu probieren oder alte Tasks neu zu kombinieren. Klein Was hat Dich daran fasziniert? Haffner Durch diese Arbeitsweise habe ich immer mehr gelernt, anderen beim Tanzen genauer zuzuschauen, zu erkennen, dass jeder und jede eine sehr eigene Bewegungssprache hat. Das Rohe, Direkte, Unzensierte kam zum Vorschein, die Tänzer/innen sind Risiken eingegangen. Sie haben sich Situationen ausgesetzt, die sich teilweise ihrer Kontrolle entzogen. Das hat bei mir als Zuschauer Ungewissheiten und Unsicherheiten erzeugt, über das, was auf der Bühne passiert. Klein Das heißt, dass bei den Aufführungen etwas passiert ist, das einmalig, unwiederholbar war? Haffner Es ist ja ein zentrales Konzept von ForsytheStücken, dass sie im Moment der Aufführung entstehen und dass dieser Moment nicht kontrollierbar ist. Die Stücke sind jeden Abend etwas anderes. Auch wenn dies den Zuschauern nicht bewusst ist, haben sie doch das Gefühl, etwas Einmaligem und Fragilem beizuwohnen. Klein Wie arbeitest Du mit den Forsythe-Tasks? Haffner Forsythe wurde einmal gefragt, was passieren würde, wenn seine Improvisationsideen weitergegeben würden, ohne dass seine Tänzer/innen sie ausführen, die ja darin geschult sind. Er hat gesagt, er hoffe, dass andere Ergebnisse herauskämen, die nicht von der Forsythe-Ästhetik geprägt seien. Der Look von Forsythes Bewegungssprache lässt sich leicht imitieren,

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228 Interviews aber man sieht die Imitation. Das Konzept verstehen heißt, dass man Neues generiert, indem man an dem Konzept und an der Bewegung arbeitet. Klein Wie arbeitest Du genau? Haffner Ich arbeite aufgabenorientiert. Mit Aufgaben verbinden sich Fragen und Missverständnisse. Gerade darin liegt ja ihr großes Potenzial. Zum Beispiel Aufgaben, die limitieren. Zum Beispiel: Jeder stellt sich mit dem Gesicht zur Wand und versucht, sein Bewegungsmaterial so genau wie möglich auszuführen. Die Nähe zur Wand ist die Limitation, die jeder anders umsetzt. Forsythe hat in dem Stück »The Defenders« (2007) mit Limitationen gearbeitet, indem die Decke nur einen Meter über der Bühne hing und die Tänzer sich mit dem Limit der niedrigen Decke bewegen mussten. Klein Arbeitest Du eher mit formalen oder mit bildhaften Aufgabenstellungen? Haffner Auch in dieser Hinsicht bin ich stark von Forsythe beeinflusst. Forsythe hat nie Adjektive benutzt, die Emotionen ausdrücken, wie gefühlvoll oder ängstlich, um die Tänzer/innen anzuleiten, sondern formale Bewegungsanweisungen gegeben. Er wusste wohl immer, welche Wirkung er damit erreicht. Die Mischung aus der Aufgabe selbst und der Art und Weise, diese Aufgabe zu stellen, hat die Tänzer/innen an die Grenzen des Machbaren gebracht. Das zeigt sich in dem, was sie produzieren. Die »Emergency-Situation«, die sich Forsythe wünscht, entsteht, wenn der Tänzer mit verschiedenen Tasks konfrontiert wird, die er nicht kennt oder in ihren Verknüpfungen nicht kennt. Dadurch entsteht eine Konzentration oder eine Reduktion, die Neues, Unvorhersehbares eröffnet. Als Zuschauer nimmt man viele Emotionen, Gefühlslagen und Spannungen wahr, die aber nicht aus Emotionen und Gefühlslagen entwickelt wurden. Das geht mir auch selbst so, wenn ich eigene Stücke sehe. Beim Arbeiten mit einer formalen Idee stellt man auch relativ schnell fest, welche Ideen sich erschöpfen und welche ein großes Potenzial bergen. So entstehen neue Ideen und vielfältiges Material. Es kann nur an dem weiterge-

Nik Haffner arbeitet werden, das man selbst interessant findet. Trägt eine Idee weniger, als man sich erhofft hat, wird es langweilig. Der Unterschied ist auch für die Zuschauer spürbar. Klein Kannst Du ein Beispiel nennen für einen formalen Umgang, zum Beispiel mit Raum oder Körper? Haffner Ich arbeite gern mit dem Raum. Ein Beispiel für eine Bewegungsaufgabe wäre: Was wäre, wenn sich dieser Fußboden auf einmal auf dieser Seite an einer Wand befindet? Wenn ich stehe, kann ich das dadurch umsetzen, indem ich mich hinlege. Ein Beispiel für Körper wäre die Anatomie: Ich stelle mir meine Lunge oder Wirbelsäule vor und untersuche sie mit Händen oder anderen Körperteilen. Wie groß wären bei einer mir imaginär gegenüberstehenden Person die Rippen oder der Zwischenraum zwischen den Rippen oder das Herz? Wie schwer ist das Herz? Man weiß es nicht so genau, aber jeder hat eine Vorstellung von den Organen, davon, wie groß sie sind, welche Oberfläche sie haben. Klein Wie überträgst Du diese Fragen in eine Bewegungsaufgabe? Haffner Ich würde das Volumen des Herzens umschreiben, vielleicht nicht nur mit Händen, sondern mit einem Arm oder mit der Rückenfläche vom Handgelenk oder mit dem Kopf, der Wange. Klein Du arbeitest auch viel mit Begriffen. Was würdest Du mit einem Begriff wie »essen« machen, unter der Auflage, ihn nicht gestisch oder mimisch umzusetzen? Haffner Ich würde den Vorgang des Kauens oder des Verdauens nehmen, ihn mir vorstellen und versuchen, dies mit verschiedenen Körperteilen darzustellen. Zum Beispiel mir vorstellen, wie ein Stück Brot langsam verarbeitet wird. Klein Wenn Worte wie Kauen eine Performanz haben, also schon eine körperliche Bewegung beschreiben, dann ist dieser Akt der körperlichen Bewegung in Raum und Zeit übersetzbar. Aber hinter Worten wie Freiheit, Hass oder Liebe verbergen sich kulturelle Konzepte. Wie gelingt es hier, nicht in gestisch-mimische Klischees zu fallen?

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230 Interviews Haffner Ein Beispiel ist Forsythes room writing, das ich selbst gern in der Arbeit mit Tänzer/innen benutze: Du stellst Dir einen Raum mit Möbeln und anderen Materialien vor. Die Aufgabe ist die, die Möbel im Raum sichtbar zu machen. Auch hier besteht die Gefahr, dass es pantomimisch wird. Aber wenn man nicht die Hände sondern verschiedene Körperteile nutzt, zum Beispiel den Tisch mit der Schulter in den Raum hinein zeichnet oder den Fensterrahmen mit den Knien, dann entsteht ein Bewegungsmaterial, das weit weg ist vom Gestischen. Klein Würdest Du dieses Vorgehen als Forschung bezeichnen? Haffner Forschung meint, dass die choreografische Arbeit nicht mit der Setzung beginnt, dass am Ende der Arbeit eine Aufführung, ein Produkt stehen muss. Sondern dass man sich Zeit und Raum nimmt, um an einer Frage zu arbeiten. Forschung heißt, an Fragen dranbleiben und versuchen, mögliche Antworten zu finden. Das Bewegungsmaterial, das hierbei entsteht, ist nicht unbedingt dazu da, präsentiert zu werden. Klein Du sprachst davon, dass es um die Suche nach dem Neuen geht. Was ist das Neue? Ist es das Ziel von künstlerischer Forschung, neues Bewegungsmaterial zu generieren? Haffner Die Suche nach der neuen Bewegung ist für mich nicht spannend. Das motiviert mich nicht. Mit geht es eher um die Modifikation von bereits vorhandenen Bewegungen. Man schreibt ja auch Forsythe zu, dass er das Bewegungsvokabular radikal erneuert und erweitert hat. Dabei benutzt er sehr alte Bewegungselemente, zum Beispiel aus dem Ballett. Aber er erweitert diese. Klein Welche Rolle spielt Sprache beim Generieren von Bewegung? Haffner Mit der Frage habe ich mich in dem Stück »Subtitles« (2006) befasst, das ich zusammen mit Christina Ciupke entwickelt habe. Der Arbeitstitel des Stückes war »Instruktionen«, denn diese spielen in der Tanzausbildung eine große Rolle. Auch im Alltag sind wir umgeben von »Beipackzetteln«,

Nik Haffner Anleitungen, wie wir uns zu verhalten haben, zum Beispiel im Straßenverkehr durch Straßenschilder. Tanz lernt man über Sprache. Sprache wurde bislang in der Tanzausbildung aber leider vernachlässigt. Aus diesen Gründen war Sprache ein neues spannendes Feld. Wir stellten uns die Frage: Wie kommunizieren wir miteinander, wann funktioniert Kommunikation und wann scheitert sie? Wie funktioniert Sprache im Zusammenhang mit den einzelnen Bewegungsabläufen? Klein Tänzer/innen sagen häufig, dass Sprechen Tanzen verhindert. Man könne nicht beim Tanzen sprechen, es seien zwei einander ausschließende Symbolsysteme. Zudem sei die Sprache unzureichend, man könne durch sie Bewegung nicht beschreiben. Bewegung sei keine Sprache, sondern ein Zeigen, sie sei, anders als die Sprache, immer mehrdeutig und entziehe sich deshalb der Sprache. Haffner Der Status des Sprechens hängt von dem Probenprozess ab. Manchmal wird sehr wenig gesprochen, aber dennoch viel kommuniziert. Je besser man auch im Tanz die verschiedenen Kommunikationswege wie Sprache, Bewegung, Schreiben oder Zeichnen beherrscht, desto mehr Möglichkeiten hat man, Bewegungsmaterial zu entwickeln. Dass man mit Sprache Bewegungen tatsächlich nur unzureichend beschreiben kann, sehe ich nicht als Manko. Diese Unmöglichkeit existiert, sie ist aber wunderschön und produktiv. Davon lebt auch das Stück »Subtitles«. Klein Wie gehst Du im Probenprozess damit um, gleichzeitig Tänzer und Choreograf zu sein? Haffner Ich fühle mich in der Rolle des Tänzers wohler. Deswegen arbeite ich auch gern in Kollektiven, weil man sich die Aufgabe des Choreografen teilen kann. Je unvoreingenommener man als Tänzer bei einer Aufgabe ist, umso besser ist es. Die Problematik, beide Rollen zu haben, sehe ich darin: Wenn ich als Choreograf eine Aufgabe stelle, weiß ich, wo ich hin will. Für mich als Tänzer muss es ein offener Prozess sein.

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232 Interviews Klein Wie gestaltet sich kollektives Arbeiten? Haffner Für mich steht bei der kollektiven Arbeit immer im Vordergrund, möglichst die besten Entscheidungen zu treffen. Was sind die besten Entscheidungen? Darüber gibt es ja oft unterschiedliche Meinungen. Dann folgt dieser spannende Prozess, bei dem man versucht, sich gegenseitig zu überzeugen. Man stimmt nicht ab, sondern nimmt sich Zeit, sich auseinander zu setzen und alle zu überzeugen, in eine bestimmte Richtung zu gehen. Es geht also darum, keine festen Standpunkte zu behaupten, sondern sich in einen gemeinsamen Prozess einzubringen. Klein Im Verlauf des choreografischen Prozesses kommt aber die Phase, in der es darum geht, eine choreografische Struktur zu finden und Entscheidungen zu treffen. Haffner Ich würde diesen Vorgang in zwei Phasen aufteilen. In der ersten Phase findet man die Zeiten heraus, die eine Szene oder bestimmtes Material verlangt. Wenn das klar ist, beginnt Phase zwei. Man kann eine Skelettstruktur der Choreografie ausprobieren und positioniert das choreografische Material immer wieder an unterschiedliche Stellen, zum Beispiel das Material f hinter Material b. Wirkt dies anders, als wenn Material f am Anfang steht? Durch dieses Umbauen lernt man die Qualitäten der einzelnen Materialien kennen und was mit ihnen passiert, wenn man sie an verschiedene Stellen oder in unterschiedliche Reihenfolgen setzt. Dann muss man Entscheidungen treffen: Will ich, dass dieses Material zum Beispiel als Bruch in der Mitte des Stücks steht, weil dies einen Bruch braucht, oder setze ich das Material an den Anfang, weil es die Thematik offen legt, oder setze ich es an den Schluss, weil es ein summing-up, eine Zusammenfassung bringt. Es ist zwar immer dasselbe Material, aber es wird durch den choreografischen Ablauf verändert. Ein Stück kann sich total verändern, kann ein anderes Stück werden, wenn sich die Reihenfolge der Szenen verändert.

Jonathan Burrows Komposition Ein Gespräch mit Jonathan Burrows 3 Gabriele Klein Our topic today is strategies of dance composition. What kind of strategy do you use? Jonathan Burrows Perhaps one unusual thing about the way that Matteo Fargion and I work, in terms of composition, is that we often like to start at the beginning and move forwards, rather than make the material first and then put it in order. This comes from his experience as a composer, where this practice is more usual. And Matteo often encourages me that we should keep going for a while instead of straight away revising – so that the thing has time to breathe and become something, before we judge it. Klein Do you use strategies of editing? Burrows Matteo and I throw away a lot of material, both in making and editing. We are quite ruthless. When you work in a linear way, from the beginning, you have this experience that each new thing affects the sense and timing of what has come before, and that what has come before shapes what can happen next. When the piece is finished we often need to move large blocks around: maybe one thing is shifted three places back and another is shifted two places forwards, to strengthen the continuity and flow of rhythm and ideas. It’s delicate work: if we go too quickly we can very easily destroy everything. We try to keep a note of all these changes as we go along, so that we don’t lose track, and can change something back again if necessary. And then you reach a moment when you know it feels right, and then we try not to fiddle with it too much anymore. The work continues, but more in how we might perform the material. Klein Do you change something in the piece after the premiere? Burrows People often come back to see a performance and say, »Oh, but you’ve changed a lot«, but in fact the choreography and composition is exactly the same. This feeling that the piece has changed is partly to do with the expectations that

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234 Interviews these persons bring from the previous time they saw it, and partly from the way we go on working on different aspects of performance. Klein Are there typical tools for you for editing? Did you develop a special method or tools for editing? Burrows First of all I would say that I tend not to use the word tool. Klein Why not? Burrows There is something about the word tool which suggests an outcome, and I know from experience that no way of working can guarantee that. Klein Which term do you prefer? Principles? Burrows Yes, I sometimes use the word principle, which is something I picked up when I collaborated with the performer and director Jan Ritsema. It’s a word that he would often use: »What is your principle? What is the principle behind this?« The idea of a tool suggests that if I have the right tool I can make the right object, whereas a principle accepts that I don’t know what I’m doing, but that I have some parameters how to begin, and how to continue. And these parameters are in relation to the material that emerges, which makes its own demands. Klein We use the word tool because we think that people in dance classes for example have a lot of creative ideas, but they don’t know how to translate them into movement, how to generate and how to compose movements. The term doesn’t mean that there is one right tool for something, like a hammer for the nail. It means that there is a craftsmanship in the choreographic process, which is mainly an artistic process. If you prefer the term principle: Are there principles for composing? Burrows I think each of us finds a way to work that makes sense to us, that both accepts who and how we are and at the same time gives room to discover new things. There seem to be a lot of choices, but in the end you have to go with what’s working for you. Matteo and I have used a lot of compositional

Jonathan Burrows ideas from classical music: for instance the thought that the rate of change must change, or that you work to find a balance of predictable and unpredictable elements. These came from the composer Kevin Volans, with whom we both studied. But they tend to be things we think about occasionally when we’re trying to solve a problem, rather than ideas for working. Klein What do you mean by the term material? Movements, or also other material, for instance film, text, pictures? Burrows I don’t have a very visual imagination, so I tend not to have a picture in my head before I begin, but rather discover the material by working. When Matteo works with dance students he often poses the question: »What is material?« And they tend to say: »If I make this or this movement, it’s a material.« Then Matteo goes to the piano and plays one note and asks: »Is this material?« And the students say: »It could be.« And he says: »Yes, it could be material, but in musical terms it could just be a note, which is not yet a material. But if I play these two notes one after the other, then that is a material.« In other words, for him, material has as much to do with the relation between objects as it has to do with the singular object. But dance is complicated, because it’s very hard to define where a movement begins and ends. It’s all about continuity or flow. I think one way to approach this is to risk simplifying the movement in order to choreograph it. If you get it right, then it can arrive at a different kind of continuity, or complexity, which your body or mind could never have imagined. Klein Material means the construction of relationships between movements. What does editing mean: modes of construction? Burrows I think editing just continues this work of finding and clarifying the relationship between things. If you work with abstract elements, without the hooks of image or language, then the question is how do you keep the audience wanting to know what might happen next. When I’m making and editing I often ask myself: »Should the same thing keep happening here, or should something new happen?« It’s about keeping expectation alive, not as a way of manipulating the audience,

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236 Interviews but to help them follow the flow, logic or meaning of what is happening. Klein How do you make decisions? Is it intuition or do you have a set of criteria? Burrows I don’t know. If there are any criteria then they are completely fluid. For instance, you might throw away a material because it isn’t working, but then you bring it back in a different place and it becomes an important material in the piece. At each moment you have to make the best decision you can, and then trust it. Klein Other choreographers told us, that the most important thing in the choreographic process is decision making. So they develop special ways of doing that. Do you have a special strategy of decision making in your work? Burrows My current definition of choreography is this: Choreography is about making a choice including the choice to make no choice. The choice to make no choice is also a choice. Klein But how to reflect in the piece that you made no choice? Sometime pieces look like a performance of the principle »I decided not to make a decision«. Burrows When I say »not making a choice«, I mean a kind of mind game that frees you from your expectations. When you’re working it’s easy to become trapped by your expectation of what you think you should be making, all the time reaching for choices which are too complex for the thing that’s happening. I’ve become very interested in the idea of »doing the most obvious thing«. What I’ve noticed is that what seems obvious to me may not be obvious to you. And that an accumulation of obvious things, by the nature of the relationship between them, becomes something different anyway. Klein Do the most obvious thing – this seems to be a good principle when you have the knowledge and the experience of a professional dancer. But when you are working with people who do not have this kind of knowledge, doesn’t this principle bring them to a cliché?

Jonathan Burrows Burrows I’ve worked a lot with people who have no prior knowledge of dance, and the idea of doing something obvious can be very freeing. The clichés come from an idea of what a dance should look like, but once you reassure people that that isn’t necessary, then they often come up with startlingly fresh material. Klein Even if you do something very obvious and it is very boring, how do you go on working? Burrows My principle would be: trust your boredom. If you are bored doing this then do something else – so that the accumulation of different materials is in tune with your own curiosity as a human being. Klein What is the relationship between improvisation strategies and composition? Burrows I think the choice whether to set your materials or improvise, is a combination of what the piece needs and who you are as a person. Different pieces and people need different approaches. For a person who likes making choices faster, then it might be that they need to find a principle for working that allows that, and improvising is one of them. For the person who likes to work things out more slowly, then they might be happier to figure it out bit by bit on their body, or sit in their kitchen and work something out on paper. The question is, if I can do anything, then how do I know what to do? This is the hardest question. So then at that moment, to make one choice can be very liberating. No matter how stupid the choice may seem, you have at least begun. And I think sometimes the temptation is to work for hours to try and find a true expression, something authentic. It can work, and sometimes you need these moments, but equally you might trust that if you can find a way to begin, and then continue, something may emerge which surprises you. It could take a week before you start to see it, but if it’s right, then there’s a sense of recognition, no matter how lost you’ve been feeling.

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238 Interviews Choreografievermittlung Ein Gespräch mit Thomas Kampe 4 Gabriele Klein Du bist an der London Metropolitan University tätig. In England spielt, auch in der Tanzausbildung, der Community Dance eine unvergleichlich größere Rolle als in Deutschland. Hier ist die Trennung zwischen Tanzkunst und Tanz in der Kultur- und Bildungsarbeit sehr stark ausgeprägt. Choreografische Arbeit mit tanzunerfahrenen Menschen steht eher unter dem Stichwort »Bildungs- und Kulturförderung und soziale Integration« und gilt nicht als künstlerische Arbeit. Dies beginnt sich in den letzten Jahren zu ändern. Immer mehr auch sehr renommierte Choreografen arbeiten mit tanzunerfahrenen Menschen. Was lernen die Studierenden, um solche Vermittlungsprojekte durchführen zu können? Thomas Kampe In dem Tanz-Studiengang an der London Metropolitan University wird den Studierenden zeitgenössische experimentelle Kunst in Theorie und Praxis vermittelt. Aber gleichzeitig versuchen wir auch, sie auf ein möglichst großes Arbeitsfeld vorzubereiten. In jedem Modul werden Subject Specific Tools vermittelt. Dazu gehört zum Beispiel choreografisches Handwerkszeug, aber auch Fertigkeiten, die über das Fachliche hinausgehen: Zeiteinteilung, Planungskompetenz, über seine Arbeit reden können, klar zu kommunizieren, Workshops zu leiten, die eigene Arbeit zu vermarkten. Klein Wie wird der Begriff der Gemeinschaft im Community Dance definiert? Kampe Wir vermitteln die Idee eines kollaborativen Arbeitsethos. Ziel ist es, erfolgreich als Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, egal ob der Choreograf mit den Tänzern, die Tänzer untereinander oder die Akteure mit den Lichttechnikern zum Beispiel. Gemeinschaft meint aber auch kulturelle Differenz. In Modulen wie Cultural Identity and Performance Analysis geht es darum, die eigene Arbeit und das eigene künstlerische Selbstverständnis im kulturellen Kontext zu sehen und zu reflek tieren. Wer bin ich, wo komme ich her, zu welcher Kulturgemeinschaft gehöre ich? Wo gehört meine Arbeit hin? Klein Was ist in diesem Zusammenhang Choreografie?

Thomas Kampe Kampe Choreografie ist ein interkultureller Prozess zwischen Menschen an bestimmten Orten, der hauptsächlich durch Bewegung motiviert, beschrieben oder behandelt wird. Klein Diese Definition könnte auch ein Fußballspiel zutreffend beschreiben. Muss eine Choreografie in einem Vermittlungsprojekt tänzerisch sein? Kampe Choreografie muss nicht an Tanz gebunden sein. Man kann auch anders choreografisch arbeiten. Als ich mit Annett Walter von der Tanzinitiative Hamburg »Urban Rituals« (2003) vorbereitet habe, bestand der choreografische Prozess ein Jahr lang nur darin, zu schreiben. Der choreografische Prozess war im Kopf und auf dem Papier und in der Vorstellung. Dann haben wir zwei Wochen mit den Teilnehmenden gearbeitet. Das ist ein kultureller Prozess zwischen Menschen. Klein Folgt Deine Arbeit im Community Dance bestimmten Prinzipien? Kampe Mein Ansatz hat viel mit der Feldenkrais-Arbeit zu tun, bei der das erste Grundprinzip ist, dass es kein Prinzip gibt. Das zweite Prinzip ist, immer das aufzunehmen, was schon da ist und mit dem etwas zu machen. Das Wichtigste ist, zu sehen, was gebraucht wird. Klein Welche tänzerischen und choreografischen Kompetenzen braucht man, um Vermittlungsprojekte zu machen? Kampe Ich unterscheide zwei Bereiche. Zum einen den zwischenmenschlichen Bereich. Dazu gehören Kompetenzen wie zuhören, sehen, was die Teilnehmer mitbringen, eine gemeinsame Sprache finden, Absprachen treffen. Das andere ist der choreografische und tänzerische Bereich. Hier arbeite ich viel mit Laban-Analysen. Ohne diesen Rahmen könnte ich die Projekte nicht machen. Laban-Analyse ist für mich ein Wissens- und Hand lungsraum, eine Grammatik, eine Analysemöglichkeit und eine Hilfestellung in Bezug auf Technik. Klein Gibt es noch andere künstlerische Verfahren, die Du Deiner Arbeit zugrunde legst?

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240 Interviews Kampe Wir arbeiten in England viel mit dem Midway Model. Dabei geht es darum, Performance-Techniken, choreografische Techniken aber auch Wahrnehmungs-, Reflexions- und Beobachtungstechniken zu vermitteln. Das eine geht ohne das andere nicht. Klein Welche Rolle spielt die Schulung von Wahrnehmungsund Beobachtungstechniken in Vermittlungsprojekten? Kampe Alle Teilnehmenden müssen im choreografischen Prozess lernen wahrzunehmen und zu beobachten. Ob sie technisch versiert sind oder nicht, sie sollten den Prozess verstehen und ihn mitgestalten. Klein Welche Rolle hat in den Vermittlungsprojekten der Choreograf? Kampe Kommunizieren, delegieren, Rollen verteilen können. Allen das Gefühl geben, dass ihre Arbeit wichtig ist, und dass sie oder die Arbeit im Mittelpunkt stehen, ehrlich sein und Zeit geben, so dass die Teilnehmer den Prozess verstehen. Die eigenen Kompetenzen richtig einschätzen, erkennen, welche Kompetenz man nicht hat und wie man sie einholt. Im tänzerischen Bereich sind Redigieren, Selektieren, Zusammenführen die Hauptaufgaben des Choreografen. Dem Choreografen muss seine Rolle klar sein – und dass sich diese Rolle auch verändern kann. Wann wird was gebraucht? Wie vermittle ich das am besten? Diese Fragen stellen sich immer wieder und man muss sie immer wieder in der Praxis neu beantworten. Klein Viele Choreografieprojekte mit tanzunerfahrenen Menschen bestehen darauf, dass der Prozess in eine Aufführung mündet. Andere wiederum sehen in dieser Zielsetzung ein Problem für einen offenen Prozess. In welchem Verhältnis sollten der choreografische Prozess und das Produkt Deiner Erfahrung nach stehen? Kampe Der Prozess muss immer auf das Produkt bezogen sein. Das hilft, sich nicht im Prozess zu verlieren. Und es gibt eine enorme Kraft, ein Produkt zusammen herzustellen. Es ist toll zu erfahren, welche soziale und kulturelle Dynamik ein Prozess zum Produkt hin hat, auch wenn es viel Streit gibt.

Thomas Kampe Das Produkt macht Tanz der Öffentlichkeit sichtbar. Es schafft Tanzkultur und Tanzwissen. Klein Was braucht ein gelungener choreografischer Prozess? Kampe Ein gutes Zeitmanagement und eine sorgfältige Planung. Das Spiel, das Explorieren, also der ästhetische Prozess und der Managementprozess sind zwei Seiten eines erfolgreichen Produktionsprozesses. Klein Wie gehst Du in der gemeinsamen Arbeit vor? Kampe Ich wechsele immer vom Generellen zum Spezifischen und zurück. Oder anders formuliert: von der Exploration zur Investigation und zurück. Exploration ist unausweichlich für den choreografischen Prozess. Tänzer müssen explorieren, spielen und ausprobieren können. Exploration meint aber auch Beobachten, sich selbst und Andere. Exploration hat noch nichts mit dem Produkt zu tun. Es ist ein offener, grenzenloser Prozess. Klein In welcher Phase werden Entscheidungen getroffen? Kampe Entscheidungen werden nach der Exploration getroffen. Dann wird Material herausgezogen, es werden die Parameter enger gesetzt und Einschränkungen vorgenommen. Bei der Investigation geht es um das Nacharbeiten, Hinterfragen und Vertiefen. Investigation ist ein gezielterer Vorgang als Exploration. Wir machen z.B. eine Exploration mit verschiedenen Aktionen: Fallen, Rennen und Drehen. Dann schauen wir nur die Drehung an: Können wir diese Drehung noch anders machen? Wenn du den Kopf anders benutzt oder dabei schreist? Das heißt, etwas Generelles wurde angesetzt und dann separiert, verfeinert und vertieft und mit Blick auf das Gesamtbild wieder verändert. Klein Wie organisierst Du diesen Prozess? Kampe Den Teilnehmern sollte die Zeitstruktur klar sein. Zum Beispiel: In der nächsten halben Stunde arbeiten wir nur an diesem Detail. Danach arbeiten wir eine halbe Stunde und stellen es wieder in den Gesamtzusammenhang oder wir lassen

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242 Interviews es los. Das sage ich auch oft zu Studierenden: Wenn ihr noch nicht wisst, was es ist, dann lauft und rennt oder macht einfach etwas anderes, damit das größere Bild klar wird. Klein Was bedeutet dieses allgemeine Prinzip in Bezug auf die Arbeit mit Bewegungsmaterial? Kampe Ich arbeite viel über Problem Solving und Problem Setting, wie es auch in der Feldenkrais-Arbeit genutzt wird und im Pragmatismus von John Dewey zu finden ist. Ich mache beispielsweise eine Feldenkrais-Stunde, fordere die Teilnehmenden auf, mit der Bewegung vom Rollen ins Sitzen und vom Sitzen ins Rollen zu spielen. Wenn die Grundidee klar ist, setze ich ein Problem, zum Beispiel: Der rechte Fuß muss immer auf dem Boden bleiben. Welche Bewegungen entstehen aus dieser spezifischen Situation? Was passiert, wenn das Problem weg ist? Meine Erfahrung ist, dass die Teilnehmer dann viel spezifischer arbeiten. Klein Wie klar muss der Rahmen definiert sein bei Vermittlungsprojekten? Kampe Je klarer der Rahmen ist, desto klarer wird der Prozess. Auch Kollaborationen brauchen Hierarchie und Rollenverteilung und einen transparenten Prozess. Warum soll ein choreografischer Prozess anders sein als der Arbeitsprozess des Heizungsmonteurs oder des Chirurgen ? Je klarer ich sagen kann: Das ist nicht das gleiche Heizungsmodul wie das andere, das müsst ihr noch einmal ausbauen, das andere da drüben ist schöner. Je klarer ich das sagen kann, desto klarer komme ich zu einem Produkt. Wenn ich nur eine Recherche machen und mit Leuten experimentieren will, ist das etwas anderes. Klein Welche Rolle spielt Sprache im Improvisationsprozess? Kampe Ich arbeite viel über Instruktionen und über Bilder, die entweder metaphorisch, symbolisch, pragmatisch, aktionsgebunden oder Beziehungsbilder sind. Ich benutze oft einfache Metaphern: Wenn die Improvisation eine Reise ist, was ist das dann für eine Reise? Ist das ein Bergsteigen oder ist es eine See-

Thomas Kampe reise? Auf der anderen Seite benutze ich auch viele Bilder aus der Ideokinese. Oder ich wähle Problemlösungsaufgaben. Wie ist es, wenn ihr improvisiert und ihr habt die Hand auf dem Kopf und dann nehmt ihr sie weg? Wie bewegen sich jetzt die Rippen? Und schließlich Peer Observations. Zum Beispiel: Nehmt euch einen Partner, einer ist a, einer ist b. a geht ins Off und schaut zu, was b macht. Zuschauen, wechseln, voneinander lernen. Was habt ihr gesehen? Was war interessant daran? Wie kann ich einen Prozess variieren, so dass er nachhaltig ist? Wie kann ich es so gestalten, dass die Teilnehmer drei, vier Stunden interessiert und motiviert mitarbeiten? Klein Welche Bedingungen muss die Institution erfüllen, damit Vermittlungsprojekte funktionieren? Kampe Es ist ganz wichtig, angemessene Räumlichkeiten und Zeit zu haben. Die Institutionen sollten bereit sein, an der Planung teilzunehmen. Es muss ein Lernen stattfinden zwischen den nicht-künstlerischen Institutionen und den künstlerischen Institutionen. Es sollte Personen geben, die das Management übernehmen. Klein Welche Bedingungen braucht man in Schulen für die Durchführung von Choreografieprojekten? Kampe Lehrer, die mitmachen wollen, die flexibel sind und auch sehen, dass es problematisch werden kann. Dass man manchmal etwas fünfzigmal oder hundertmal proben muss. Dass dann auch mal jemand heult oder aggressiv wird. Ein choreografischer Prozess läuft nie reibungslos und einfach ab. Die Rollen sollten klar abgesprochen sein. Wie viel darf der Lehrer oder die Lehrerin dazu sagen oder ein Helfer? Wie weit sind sie in den Prozess eingebunden? Eine Community-Arbeit muss ver mittelt werden. Das muss erst mal über die Verwaltung und das Lehrpersonal laufen. Alle sollten darauf vorbereitet sein und es muss klar sein, dass sie sich darauf einlassen. Klein Was lernt man, wenn man tanzen lernt – wenn es, wie in der zeitgenössischen Choreografie, nicht um eine spezifische zeitgenössische Technik geht?

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244 Interviews Kampe Ich kann nur sagen was ich gelernt habe: Eine Intensität zu erfahren in mir selbst. Wie ich mich in der Bewegung spüre. Was ich dabei fühle, was ich dabei sehe, das über meine habituell normierte Bewegungserfahrung hinausgeht. Eine Zentrierung zu erfahren ohne ein fixiertes Zentrum zu sein. Ich erfahre Beziehungen. Wie Dinge miteinander in Beziehung stehen in mir selber als lebendem System. Ich lerne etwas über meine Beziehung zur Umwelt, zum Boden, zum Raum, zu anderen Menschen. Ich lerne zuzuhören, zu beobachten. Ich lerne eine Bereitschaft, da zu sein. Ich lerne mich zurückzunehmen, wenn ich nicht an der Reihe bin, lerne, anderen zuzusehen. Ich lerne mich völlig einzugeben und darin aufzugehen. Wir sind ja sehr von außen bestimmt in der zeitgenössischen Welt. In solchen Projekten lerne ich, in einer Stille zu sein mit wenigen Impulsen von Außen, in mich hineinzuhorchen, aus mir herauszugehen, mit mir umzugehen und mit den anderen. Das ist eine sehr elementare Erfahrung des menschlichen Lebens.

Anna Huber & Hubert Machnik Zusammenarbeit: Musik und Choreografie Ein Gespräch mit Anna Huber & Hubert Machnik 5 Gabriele Klein Ihr seht Euch heute zum ersten Mal. Welche Fragen würdet ihr euch stellen, wenn Ihr zusammenarbeiten wolltet? Anna Huber Es gibt viele praktische Fragen. Wird die Musik im Austausch mit der Choreografie entwickelt, entsteht eine geschriebene Komposition oder eine Improvisation? Wird die Musik live gespielt? Wo wollen wir ein Projekt durchführen, auf einer Bühne oder in einem anderen Raum? Welche Voraussetzungen hat dieser Raum? Mit wem arbeiten wir zusammen? Mit wie vielen Tänzern oder Musikern? Kennen wir die Personen oder müssen wir sie erst suchen? Oder machen wir es, weil wir genau mit ihnen zusammenarbeiten wollen? Wie strukturieren wir den Prozess zeitlich? Wie verteilen wir die Arbeit über verschiedene Probenblöcke? Treffen wir uns und finden heraus, was wir machen wollen, oder wissen wir das schon? Gehen wir aus von einem Thema, das uns beide interessiert, einer inhaltlichen Idee? Oder geht es uns in erster Linie um den künstlerischen Austausch? Ist es ein Experiment mit offenem Ausgang? Klein Wie Du betonen alle Tanzenden, mit denen wir gesprochen haben, die Bedeutung des Raumes. Huber Der Raum ist wesentlich für ein Projekt. Er muss eine gewisse Größe haben. Er muss einen bestimmten Boden haben. Will man in einem Arbeitsraum Tageslicht oder soll es ein dunkler Theaterraum sein, wo man auch mit Licht experimentieren kann? Hubert Machnik Ich finde den Raum für einen Musiker genauso wichtig. Für mich trägt der Raum zu den künstlerischen Entscheidungen bei. Wenn ich mit Tänzern arbeite, also zum Beispiel unter den von Anna genannten Bedingungen, ist das etwas völlig anderes, als wenn ich im Studio arbeite. Es handelt eine andere Räumlichkeit, ein anderer Hörraum. In unterschiedlichen Räumen ändert sich das Verhältnis zu den Agierenden und dem Publikum. Der Aufführungsraum entscheidet über die Soundinstallation, ob ich zum Beispiel vier-

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246 Interviews kanalig oder sechskanalig arbeite, welche Zusatzlautsprecher auf der Bühne stehen sollen, wie ich die Klänge bezogen auf den Raum einsetze usw. Klein Wie entsteht ein Thema? Huber Das Thema muss eine Abstraktion und zugleich eine konkrete Auseinandersetzung und sinnliche Umsetzung zulassen. Es müssen Themen sein, die Musiker und Choreograf gleichermaßen interessieren und herausfordern. Und sie müssen zugleich eine Offenheit zulassen, wie zum Beispiel das große Thema Zeit. Zeit ist ein Grundelement von Tanz und Musik bzw. Komposition und Choreografie. Das Phänomen Zeit ist dem Wesen von Tanz und Musik verwandt. Beide Künste sind Zeitkünste, flüchtig und dennoch präzise. Es geht darum, Zeit zu strukturieren und sinnlich erfahrbar zu machen. Zeit ist auch ein Thema, das konkretere Unter themen bietet, wie: Erinnerungen, Spuren im Raum hinterlassen. Auch hier gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen Musik und Tanz. Klein Welche Rolle spielt der Umgang mit Zeit in der Zusammenarbeit? Machnik Das Thema Zeit ist das zentrale Thema der Musik. Es gibt eine Bandbreite zwischen messbarer Zeit, die sich im Rhythmus spiegelt, und dem Zustand von Zeitdehnung, in dem zwar viele Rhythmen auftauchen können, die sich aber durch die Gleichzeitigkeit aufheben, so dass man sich in einem gedehnten Zeitraum befindet. Man kann dies Erlebniszeit nennen. Und diese Dimension ist im Dialog von Musik und Tanz interessant, zum Beispiel indem man auf eine Bewegungsdynamik eine Fläche von integraler Komposition legt, ohne dass dies deskriptiv wird, weil sie ein hohes Maß an Eigensinn hat. Klein Zeit lässt sich immer auch historisch lesen – Spuren, Erinnerungen. Machnik Erinnerung ist eine Form von Gegenwart. Die reine Geschichte gibt es nur im Sinne von linearen Zeitdarstellungen historischer Ereignisse. In dem Augenblick, wo sie relevant wird für den Einzelnen, ist sie Gegenwart. Deshalb kann man in einer

Anna Huber & Hubert Machnik Komposition auch die Erinnerung für die direkte Gegenwart nutzen. Klein Thematisieren Erinnerungen nicht immer auch das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit? Huber Es kann ja auch erst einen kurzen Moment her sein und schon ist es eine Erinnerung, eine Spur. Du spielst damit, dass du gegensätzliche Zeiten oder Zeitqualitäten einander entgegensetzt und sie so erst sichtbar machst. Als könnten sie sich voreinander abbilden. Zeit ist dem Wesen unserer Medien sehr verwandt. Machnik Wir haben im Tanz und in der Musik eigentlich keine physikalische Zeit, nur Erlebniszeit. Physikalische Zeit könnten wir vielleicht nur wahrnehmen, wenn wir einen Sekundenzeiger beobachten oder einem Metronomschlag zuhören. Allerdings ist das Tempo an sich schon eine Subjektivierung der Zeit. Unsere Wahrnehmung setzt alles in eine Relation. Wenn ich einen Rhythmus höre, wenn ich eine Melodie höre, messe ich die Zeit, im Spezifischen und im Allgemeinen. Was Tänzer als Zählen benutzen, hat noch nichts mit dem Zeitempfinden zu tun, das man zu einer Szene hat. Klein Gibt es besondere Vorbereitungen, wenn eine Musikerin mit einem Tänzer, ein Komponist mit einer Choreografin zusammenarbeiten? Huber Zunächst muss entschieden werden, ob wir mit LiveMusikern arbeiten. Es müssen Musiker sein, die sich für eine Zusammenarbeit mit einem Choreografen, mit Tänzern und für ein spartenübergreifendes Projekt interessieren. Sie sollten wissen, dass ein solcher Prozess Offenheit braucht, dass er zeitintensiv ist und es einige Besonderheiten zu berücksichtigen gilt, wenn Musiker und Tänzer zusammen auf einer Bühne auftreten. Machnik Die Frage, ob live gespielt wird, ist selbst bei elektronischer Musik wichtig. Sind Musiker für den Zuschauer sichtbar, sind sie Teil des Bühnenbildes und Teil der Choreografie. Damit steht die Frage im Raum: Was macht der Musiker, wenn er nicht spielt? Und wie verhält sich der Tänzer zu

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248 Interviews dem spielenden und nicht-spielenden Musiker, egal ob Elektroniker oder Instrumentalist? Ist die Musik hingegen als Werk konzipiert und wird zum Beispiel als Aufnahme eingespielt, ist die Zusammenarbeit kein offener Prozess mehr, sie verändert sich nicht mehr im Zusammenspiel mit der Choreografie. Klein Wie könnte man die gemeinsame Bühnensituation aus der Sicht eines Musikers gestalten? Machnik Einen Dialog zwischen Tänzern und Musikern auf der Bühne zu gestalten, ist nicht einfach. Wenn zum Beispiel eine zwanghafte Duo-Situation entsteht, kann es schwierig werden, weil mit Musik und Tanz zwei verschiedene Bewegungssysteme präsent sind, deren Verbindung leicht zum Banalen tendiert. Die Präsenz auf der Bühne erzeugt die Erwartung, dass sie körperlich miteinander interagieren. Das kann man setzen oder vermeiden. Klein Musik und Tanz brauchen beide ein Instrument – die Musik das musikalische Instrument, der Tänzer den Körper. Liegt hierin eine Problematik, in einen Dialog zu treten? Huber Das ist genau die Frage, die sich immer wieder stellt. Tänzer haben eine andere Form der physischen Präsenz und der Art, sich zu bewegen, weil der Körper ihr Instrument ist. Der Musiker macht in erster Linie funktionale Bewegungen, die sich auf den Umgang mit seinem Musikinstrument oder der Elektronik bezieht. Klein In dem Projekt »umwege« (mit Fritz Hauser, seit 2002) hast Du doch mit einem Musiker gearbeitet… Huber Ich habe mit vielen Musikern zusammengearbeitet, »umwege« war aber in erster Linie ein architekturspezifisches Projekt. Der Schlagzeuger Fritz Hauser hat zwar live gespielt, er war aber nie sichtbar. Das war eine ganz bewusste Entscheidung. Es ging um den Dialog mit dem Raum. Und dieser Dialog zwischen Bewegung und Raum, zwischen dem spezifischen Ort und der Flüchtigkeit der Bewegung erschien gestört durch die sichtbare Präsenz des Musikers, der zudem ein großes Instrument hatte. Eine tänzerische Bewegung muss

Anna Huber & Hubert Machnik man sehen, weil man sie sonst nicht wahrnehmen kann. Aber den Musiker muss man nicht unbedingt sehen, die Musik bleibt dennoch hörbar. Klein Wie würdest Du als Tänzerin den Dialog mit einem Musiker auf der Bühne charakterisieren? Huber Es ist ein wesentlicher Unterschied zwischen einem Musiker, der als Interpret eine geschriebene Komposition spielt, und einem improvisierenden Musiker bzw. dem Komponisten als Live-Musiker. Als Tänzerin höre ich die Musik immer. Aber der Musiker kann mir während seines Spiels nicht die ganze Zeit beim Tanzen zuschauen, er kann nicht alles sehen. Klein Ist der Umgang mit dem Raum für den Musiker ein anderer als für den Tänzer? Machnik Jeder Musiker setzt sich mit dem Raum auseinander. Über die Akustik des Ortes wird der Raum wahrgenommen, oder umgekehrt, die Betrachtung eines Raumes (oder seiner Abbildung) geht einher mit der Vorstellung seiner Klanglichkeit. Das beeinflusst die musikalische Aufführung und ist gleichzeitig Konstruktionselement einer Komposition, wenn man zum Beispiel mit künstlichen bzw. geliehenen Räumen arbeitet. Der Komponist/Musiker übernimmt das akustische Ausloten des Raumes für das meist passiv zuhörende Publikum. Es verwundert nicht, wenn Tänzer sagen, dass sie Schwierigkeiten mit Musikern auf der Bühne haben, da die Musiker zu stark seien. Das Erzeugen von Klang zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Die tänzerische Bewegung muss sich gegen den Klang behaupten, um eine adäquate Aufmerksamkeit zu erzeugen. Huber Aufmerksamkeit entsteht dort, wo es laut ist und tönt. Der Tänzer ist leiser, lautloser. Meiner Ansicht nach besteht der Gegensatz aber vor allem darin, dass der Musiker funktionale, meist sehr präzise, klar gerichtete Bewegungen macht, bei denen sichtbar ist, wozu er sie macht und was daraus entsteht. Das ist spannend und macht neugierig. Die Bewegungen des Tänzers hingegen sind nicht unbedingt zweckbezogen, nicht funktional. Seine Bewegungen sind abstrakter.

249

250 Interviews Klein Der Tänzer agiert auch instrumentell. Er nutzt seinen Körper als Instrument. Wie er Bewegung erzeugt, wird aber nicht sichtbar, zum Beispiel, dass er Bewegungsimpulse funktional einsetzt, um eine bestimmte Bewegung zu erzeugen. Es gibt meiner Ansicht nach noch einen weiteren Punkt, warum der Dialog zwischen Musikern und Tänzern schwierig ist: weil der Musiker oft einen fixen Platz auf der Bühne hat. Der Standpunkt ist psychologisch und auch wahrnehmungstheoretisch die stärkere Position. Derjenige, der Bewegung und Flüchtigkeit zeigt, erscheint als der Labilere und Schwächere. Wie würdet Ihr Euch einen gemeinsamen Arbeitsprozess vorstellen? Huber Jeder muss seinen eigenen Weg, seine eigene Technik finden, den Prozess zu entwickeln, wiederholbar zu machen. Das ist bei Tänzern und Musikern sehr unterschiedlich. Aber sich über gemeinsame Stichworte oder Fragestellungen an etwas erinnern, das wäre ein verbindendes Element. Klein Kann ich mir das so vorstellen: Man entwickelt eine Bewegungssequenz. Man nennt sie »Hängende Brücke«, und wenn beide »Hängende Brücke« hören, wissen sie, welche Sequenz gemeint ist? Huber Ja. Manchmal arbeite ich mit Stichworten. Oder mit zeitlichen oder räumlichen Beschränkungen: zum Beispiel Sieben-Minuten-Stoppuhr oder Drei-Minuten-Zeiträume. Manchmal bitten wir auch jemanden von außen, Stichworte als Thema, als Aufgabe einzuwerfen. Oder wir haben improvisiert und ich habe gesagt: Das war jetzt »Operation am offenen Herzen«. Oft blieb das der Titel für die Sequenz, auch wenn sie sich zu etwas ganz anderem entwickelt hat. Klein Woran orientiert Ihr Euch, wenn ihr jeweils mit Tänzer/innen oder Musiker/innen improvisiert? Machnik Es hat etwas mit der Situation zu tun. Ob ich mich entscheide, kontrapunktisch zu arbeiten oder in Zusammenhang mit dem, was auf der Bühne passiert, wobei dieser unmittelbar oder mittelbar sein kann. Ich orientiere mich an bestimmten Parametern, eher im Sinne einer Stimme als dass ich Bewegung akustisch visualisiere. Wenn eine Synchronität mit der Bewegung zufällig hergestellt wird, kann ich Kontra-

Anna Huber & Hubert Machnik punkte setzen, die dann als selbstständige Stimme ihren Weg findet, ohne dass sie mit einer bestimmten Bewegungssequenz korrespondieren muss. Diese Freiheit, mich zur Bewegung zu positionieren, nehme ich mir. Deshalb interessiert mich die Zusammenarbeit mit Tänzern. Klein Das heißt, Du stellst Dir eine Zusammenarbeit mit Tanzenden nicht intuitiv oder im Muster von Actio – Reactio vor, sondern konzeptionell? Machnik Zuerst ja. Ich arbeite an einem bestimmten Vokabular und später mit diesem im Zusammenspiel zwischen Choreograf, Tänzern und dem Raum. Klein Anna, wie arbeitest Du mit Musik? Nach bestimmten Prinzipien? Huber Ich agiere auf verschiedenen Ebenen. Konzeptionell, strukturell, intuitiv, atmosphärisch und in direktem Dialog mit dem Musiker. Oder ich nehme eine spezielle Qualität auf, zum Beispiel eine Klangqualität, die ich in Bewegungsqualitäten umsetze bzw. der ich etwas entgegenstelle. Oder die funktionale Bewegung des Musikers inspiriert mich zu spezifischen Bewegungsrecherchen. Es kann auch sein, dass ich kontrastierend reagiere. In der Improvisation würde ich keine Möglichkeit ausschließen. Machnik Für mich gibt es eine Wertigkeit, auch in der Improvisation. Und diese orientiert sich an einer bestimmten Methode. Klein Ist dies der Unterschied zwischen Euch: eine Position zu finden und einzunehmen oder die Improvisation möglichst offen zu gestalten? Huber Es ist ein Unterschied, ob es um reine Improvisation geht oder um Improvisation, die in Bezug zu einem Stück steht. Ob es also darum geht, in einem Probenprozess Material zu generieren oder ob Improvisation in der Aufführung stattfindet. Dann lässt die Live-Situation noch Offenheit und Spiel und gegenseitige Überraschung zu. Das interessiert mich immer mehr: mir auch in einem klar strukturierten Stück, wo der Ab-

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252 Interviews lauf festgelegt ist, Freiheiten vorzubehalten, es aufzubrechen, so dass jede Aufführung tatsächlich anders ist. Machnik Darum geht es mir auch. Ich suche nach Präzision und will trotzdem die Freiheit behalten. Klein Ich würde gern auf den Probenprozess zu sprechen kommen. Wie gestaltet sich dabei die Zusammenarbeit zwischen Tänzer/innen und Komponisten bzw. Musikern und Choreograf/in? Machnik Wenn man als Komponist am gesamten choreografischen Prozess beteiligt ist und nicht nur zu den Proben kommt, bei denen Musik gebraucht wird, läuft der Austausch oft implizit. Ich beobachte den tänzerischen Prozess. Ich sehe, wie die Tänzer bestimmte Dinge verhandeln. Und sie hören das musikalische Material, an dem ich arbeite. Die reine Anwesenheit während des Prozesses, während des Produzierens ist deshalb wichtig. Klein Wie arbeitet man denn zusammen, wenn man räumlich getrennt ist, zum Beispiel die eine in Frankfurt, der andere in Bern lebt? Machnik Entscheidend sind das konzeptionelle Vordenken, das im Vorfeld jeder Produktion geleistet werden muss, und der ständige Austausch zwischen den Beteiligten. Man schreibt sich Emails, sammelt seine Mittel, lässt Ideen zirkulieren, diskutiert und nährt die Bereitschaft zu ändern, wenn man vor Ort ist. Huber Für mich ist der persönliche Austausch wichtig. Ich will zu Beginn nichts eingrenzen, ich möchte einen offenen Prozess. Den kann ich nur begrenzt in Emails packen. Allerdings fordert der schriftliche Austausch eine Präzisierung und klarere Formulierung der Ideen. Das kann gerade unter Zeitdruck sinnvoll sein. Klein Wie entsteht durch die Zusammenarbeit von Musik und Tanz ein Narrativ? Machnik Eine Geschichte erzählen – geht das mit Ausdrucksformen, die sich hauptsächlich mit der Zeit beschäftigen? Mit dem Vergehen der Zeit? Huber Es muss ja nicht eine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende sein. Es können auch Assoziationen sein.

Anna Huber & Hubert Machnik Klein Ein Narrativ wäre ja nicht nur das Erzählen einer Geschichte, sondern auch der Akt des Erzählens selbst, die Ausführung, die performative Hervorbringung. Der Akt des Erzählens kann also eine Geschichte konstituieren, die sich aber in der Wahrnehmung des Zuschauers ereignet. Ähnlich wie beim Rhythmus, wo eine abstrakte Form wie eine Erzählung wahrgenommen werden kann. Genauso kann das Zusammenspiel von Musik und Tanz ein Narrativ erzeugen, indem man zum Beispiel den Dialog als Beziehungs- oder Geschlechterkonflikt wahrnimmt. Gibt es diese narrativen Elemente in der Musik? Machnik Sehr viele konkrete Geräusche haben das oder Akkorde, die man aus anderen Kontexten kennt, zum Beispiel aus der Filmmusikgeschichte. Sie können Assoziationen hervorrufen, müssen es aber nicht. Wenn ich eine Audio-Installation für einen spezifischen Raum mache, kommt es darauf an, wie sie sich zu diesem Ort verhält. Zum Beispiel, indem ich bestimmtes Material verwende, das ich zur Klangerzeugung benutze. Wenn ich mit einer Trommel einen Marschrhythmus spiele, dann ist das ein erkennbares Zitat in der Musik, das genau auf dieses narrative Element hinweisen soll. In »Reportable Portraits« (mit Kattrin Deufert und Thomas Plischke, 2007) gibt es eine Szene, in der Benjamin Schoppmann Akkordeon spielt. Die Aufnahme liegt auf den Lautsprechern die hinter dem Publikum platziert sind. Man denkt zunächst, ein Zuschauer würde laut reden. Er erklärt, was er alles mit dem Akkordeon machen kann, zum Beispiel wie er Geräusche mit Fingern auf dem Gehäuse und tonlose Luftgeräusche erzeugt, wie es klingt, wenn er einfach spielt usw. Die Szene erklärt eine bestimmte Technik, die nicht unbedingt etwas mit dem Prozess zu tun hat, aber trotzdem ein Verweis darauf ist, dass wir eigentlich an etwas arbeiten, das eine körperliche, akustische und auch eine erinnernde Materialität hat. Es wird in einer vermeintlich eindeutigen Theaterkonstruktion ein Fenster aufgemacht nach draußen. Es ist ein Bruch, aber nicht im Sinne eines Störelements, sondern eher als Eröffnen einer Perspektive. Huber Ich finde die Metapher des Fensteröffnens schön. Die eigenen Regeln durchbrechen, einen Stilbruch im eigenen Kosmos initiieren, unterschiedliche Perspektiven ermöglichen. Das ist bereichernd, wenn die Strukturen klar und präzise sind.

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254 Interviews Interkulturalität Ein Gespräch mit Jochen Roller 6 Gabriele Klein Du bist weltweit viel unterwegs und machst viele Projekte im Ausland. Wir wollen uns über Deine Erfahrungen unterhalten, die Du als Tänzer, Lehrer und Choreograf in anderen Kulturen gesammelt hast. Fangen wir mit der Sprache an, die ja das zentrale Verständigungsmedium ist. Wenn Du in Ländern gearbeitet hast, deren Sprache Du nicht sprichst, wie arbeitest Du dann? Jochen Roller Manchmal mit Hilfe einer Übersetzerin, wie zum Beispiel in Costa Rica, wo Monica Antezana, eine aus Bolivien stammende und in Hamburg lebende Choreografin, übersetzt hat. Das war einfach, weil sie meine Arbeit kennt und selbst als Choreografin tätig ist. Anders war es in Moskau. Dort hatte mich eine Tanzorganisation für einen Workshop engagiert. Die Übersetzerin war selbst Tänzerin und sie hat so übersetzt, wie es für sie vor dem Hintergrund ihres Tanzwissens Sinn gemacht hat. In ihrer Übersetzung lag aber eine Sinnverschiebung. Sie war es zum Beispiel vor dem Hintergrund ihrer klassischen Ballettausbildung nicht gewohnt, dass die Tänzer Bewegungen selbst choreografieren. Entsprechend hat sie den Teilnehmenden immer gesagt, sie sollen mir alles nachmachen. Nachdem ich begriffen hatte, dass die Teilnehmer meine Aufgaben nicht durchführen, weil sie eigentlich eine andere Aufgabe gestellt bekommen, habe ich dann ohne Übersetzerin weiter gearbeitet. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich praktisch ohne Sprache unterrichten kann. Die Tänzer konnten kein Wort Deutsch und ich kein Wort Russisch. Ich habe ihnen dann alles über Gesten und Bewegungen erklärt und mit Hilfe von wenigen Worten wie »okay« oder »not good«. Dies war in dieser Weise vielleicht auch so möglich, weil es sich nicht um einen längeren choreografischen Prozess, sondern nur um einen Workshop handelte. Klein Würdest Du behaupten, dass man sich allein über Bewegung und Tanz verständigen kann? Roller Ich würde eher sagen, dass das über Gestikulieren läuft, nicht über Bewegungssprache. Und dieses Gestikulieren

Jochen Roller ist mitunter sehr kryptisch. Wie kann man jemandem ohne Worte erklären, nicht alle Bewegungen zum Spiegel hin auszuführen? Klein Wie hast Du die Bewegungsaufgaben gestellt? Roller Mit Hilfe anderer Medien, unter anderem über Aufmalen. Zum Beispiel habe ich eine einfache Aufgabe gestellt, den eigenen Namen zu tanzen. Jeder schrieb seinen Namen auf ein Blatt und wählte einen Buchstaben aus, zum Beispiel den ersten des Nachnamens, also bei mir ein r. Die Aufgabe ist es, diesen Buchstaben in drei verschiedene choreografische Formen zu übersetzen: beim r also die Aufwärtsbewegung, die runde Bewegung oben und die Schrägbewegung nach unten. Klein Aber auch hier bleibt die Frage, die die Theorie der kulturellen Übersetzung stellt, bestehen. Wird der Sinn der Aufgabe verstanden? Und: Wie gehst Du mit dieser Ungewissheit um, nicht zu wissen, was verstanden wird? Kannst Du dies choreografisch nutzen? Roller Es ist für mich als Choreograf ja gerade interessant, dass oft etwas anderes entsteht, als ich eigentlich wollte. Klein Dies ist ja nicht nur ein Phänomen kultureller Übersetzung, sondern passiert wahrscheinlich auch mit Tänzer/innen, die eine vergleichbare Tänzerbiografie haben. Gibt es noch einen Unterschied in dieser Produktivität des Unvorhersehbaren mit Tänzer/innen anderer Kulturen? Roller Es gibt mehr Missverständnisse. Nehmen wir nochmals die Aufgabe, den eigenen Namen zu choreografieren. Aufgrund der dominanten Tanztradition in Russland fanden die russischen Teilnehmer die Aufgabe erst einmal absurd. Auch die Vorstellung, an einer geometrischen Form entlang zu tanzen, haben sie pantomimisch und nicht choreografisch gedeutet. Klein Hast Du die Erfahrung einer Unübersetzbarkeit gemacht, dass bestimmte Tanzästhetiken, Stile, Techniken oder Bewegungsaufgaben in andere kulturelle Kontexte nicht übertragbar sind? Roller Ja, nehmen wir das für zeitgenössische Choreografie legitime Prinzip der Regelbrechung. Demnach gehört es zum

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256 Interviews choreografischen Handwerk des westlichen Tanzes, Ordnungen zu unterlaufen, aus einer Ordnung, einem System etwas anderes zu entwickeln. Diese Vorstellung gibt es zum Beispiel als kulturelles Muster in Singapur so nicht. Dort herrscht die Vorstellung vor, dass man einem System, zum Beispiel einer Tanztechnik folgen muss. In der Kultur Singapurs ist das Verständnis von Tradition ein Anderes. Im pazifischen Raum wiederum herrscht in einigen Kulturen ein völlig anderes Kulturverständnis, nämlich, dass Tradition sich permanent verändern muss, damit sie lebendig bleibt. Hier sind Anknüpfungen an meine Arbeit sicherlich leichter herzustellen. Klein Du hast auch als Tänzer in Produktionen mitgearbeitet, die Interkulturalität thematisieren, zum Beispiel in der Produktion »Logobi« von Monika Gintersdorfer, die sie seit 2009 entwickelt. »Logobi« ist eine Serie von Choreografien, bei der im westlichen zeitgenössischen Tanz ausgebildete Tänzer mit Franck Edmond Yao, einem Tänzer der Elfenbeinküste, zu einem kulturellen Dialog über die verschiedenen Auffassungen, Techniken und Stile von Tanz zusammenkommen. Roller Bei »Logobi« gibt es zwei Performer. In der Probe haben wir drei Tage geredet, Thesen ausgetauscht und entwickelt und am Tag der Aufführung hat Monika gesagt: Ich will jetzt die Thesen x, y, z auf der Bühne sehen. »Logobi« ist bei jeder Aufführung anders. Ich hatte ziemlich Angst davor, weil ich ansonsten in meinen Stücken einen auswendig gelernten Text habe und die Choreografie als Skript. Es ist also exakt wiederholbar. Dass dies bei »Logobi« nicht so ist, ist der ivorischen Kultur geschuldet, aus der Franck stammt. Es gibt dort keine Skripte, sondern immer neue Kompositionen und damit auch Improvisationen. Klein Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede habt Ihr entdeckt? Roller Ein wichtiger Unterschied ist, dass – anders als in Francks Kultur – meine Kultur zwischen U- und E-Kultur trennt und Franck nach unserem Kunstverständnis in der UKultur verwurzelt ist. Ich arbeite zwar nicht viel anderes als er, dies gilt aber in unserer Kultur als E-Kultur, weil meine choreo-

Jochen Roller grafische Arbeit nicht in einem Nachtclub, sondern auf einer staatlich subventionierten Bühne erscheint. Deshalb war auch die zentrale These von »Logobi #04«, dass das Verständnis von Tanz kontextuell gebunden ist. Klein Diese These bedeutet, dass Tanz nicht, wie so oft unterstellt, eine universelle Sprache ist, dass er also nicht überall verständlich ist? Roller Jede Tanzkultur ist anders. Eine Geste zum Beispiel kann in unterschiedlichen Tanzkulturen etwas ganz Verschiedenes bedeuten. Selbst innerhalb einer Kultur müssen Tanzstile, Tanzästhetiken oder choreografische Konzepte nicht unbedingt verstanden werden. Klein Die Gründe für die unterschiedlichen Sichtweisen könnten in verschiedenen Körperkonzepten, Geschlechterkonzepten, kulturellen Bewegungstraditionen oder auch Wissensbeständen über Tanz liegen. Welche Rolle spielt die erlernte und habitualisierte Körperund Tanztechnik? Roller Technik ist immer ein Hindernis, vor allem dann, wenn sie wie eine Institution daherkommt. In verschiedenen Kulturen gibt es unterschiedliche Selbstverständnisse in Bezug auf Tanztechnik und die Möglichkeit, mit diesen Techniken zu brechen. Während dies in Europa selbstverständlich passiert, ist das in Südostasien schon kritischer, weil es als Respektlosigkeit der Tradition und damit den Vorfahren gegenüber angesehen werden könnte. Klein Wie würdest Du mit Menschen arbeiten, die unterschiedliche kulturelle Körpersozialisationen haben? Die zum Beispiel diese feinmotorischen Bewegungen wie das Augenrollen im balinesischen Tanz gelernt haben, also eine Technik, die nicht nur eine diffizile Tanztechnik ist, sondern ein über Jahrhunderte überlieferter kultureller Code? Wie fließt dieses Fremde, das man allein motorisch als Mitglied einer anderen Kultur nicht erlernen kann, in Deine Arbeit ein? Roller Ich würde niemals behaupten, dass ich die Virtuosität des Augenrollens erlernen könnte, wie es in manchen asiatischen Tänzen gemacht wird. Mich würde interessieren, wie

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258 Interviews man es einsetzen kann, so dass zum Beispiel durch Addition mit Bewegungen aus einer anderen Kultur neue Bedeutung generiert werden kann. Zum Beispiel, wie bei »Logobi«, im Dialog: Man erklärt sich gegenseitig, was man macht, und man überlegt sich, wie man das arrangieren kann, sodass es in beiden Kulturen Sinn macht. Man könnte daraus auch eine Spielform, zum Beispiel einen Battle entwickeln. Wir würden allein durch das Format etwas Neues gestalten. Klein Beschäftigst Du Dich mit den dortigen Körper- und Tanzkulturen, bevor Du in anderen Ländern, ob in Russland, Neuseeland, Costa Rica oder im Libanon, arbeitest? Roller Ich habe mich nie erkundigt, welche körperlichen Fertigkeiten die Teilnehmer haben. Ich habe immer in der Arbeit mit ihnen herauszufinden versucht, welche Körperkonzepte sie haben und was sie künstlerisch interessiert. Ein gutes Verfahren ist meiner Erfahrung nach Authentic Movement: Ich gebe den Teilnehmenden zehn Minuten Zeit, sich zu bewegen und die anderen zu beobachten. Dabei sieht und lernt man sehr viel. Klein Welche Rolle spielen die Arbeitsbedingungen? Roller Eine zentrale Rolle. In Costa Rica zum Beispiel hatte die Studiobühne, auf der wir geprobt haben, kein Dach. Dementsprechend war die Probe beendet, wenn es anfing zu regnen. Und es war unheimlich heiß. Das verändert das körperliche Befinden und die Arbeit. Wenn wir in dem klimatisierten Ballettsaal der Oper geprobt hätten, wäre wahrscheinlich etwas anderes entstanden. Klein Du bist mit westlichen zeitgenössischen Formen von Tanz und Choreografie vertraut. Du arbeitest in Ländern, die die Tanzgeschichte der westlichen Avantgarden nicht kennen. Man könnte diese Form des Kulturexports ja als eurozentristische Politik betrachten, als eine Form postkolonialer Politik. Wie gehst Du damit um? Roller Für mich ist wichtig, dass man sich auf Augenhöhe trifft. Klein Klingt wie ein Ausspruch eines Politikers. Wie ist Augenhöhe möglich?

Jochen Roller Roller Augenhöhe heißt für mich erst einmal, dass ich, wenn ich in eine andere Kultur gehe, so tue, als ob ich nichts weiß. Ich lasse mir etwas vorführen und dann führe ich etwas vor. Ich behaupte nicht, dass meine Tanzkonzepte besser und fortschrittlicher sind. Klein Auf Augenhöhe treffen meint also: Materialien zusammenführen und etwas Gemeinsames entwerfen? Roller Ich mache es auch so, weil ich es künstlerisch interessanter finde. Gehen wir mal davon aus, ich sehe irgendwo einen emotional expressiven Ausdruckstanz, etwas, das erstmal so gar nicht mein choreografisches Ding ist. Dann würde ich fragen: Kannst du das noch mal machen? Und ich würde zum Beispiel eine andere Musik dazu einlegen. Wir schauen dann gemeinsam: Funktioniert die expressive Bewegung auch zu anderer Musik? Wie verändert sie sich? Die Frage, ob ich das kulturell darf, interessiert mich dabei nicht. Tanzkultur hat für mich wesentlich mit Teilen und Entwickeln zu tun. Da lasse ich nicht mit mir diskutieren, auch wenn das in anderen Kulturen anders ist. Klein Ein anderer Weg, den manche Choreografen wählen, wäre, das eigene Material auf Tänzer zu übertragen, wie es nicht nur mit vielen Ballettchoreografien geschieht, sondern auch, wenn westliche Choreografen ihre Ästhetik oder ihr choreografisches Konzept auf Tänzer anderer Kulturen übertragen. Roller Dieses Vorgehen finde ich für mich undenkbar, weil es das eigene Material als so wichtig erachtet, dass man es jemand anderem als Geschenk mitbringt und dabei das Material des Anderen nicht ebenso als Geschenk ansieht. So würde ich nicht arbeiten wollen. Mir geht es darum, etwas gemeinsam zu gestalten. Zum Beispiel durch die Verbindung von balinesischer Ästhetik und westlichen zeitgenössischen Formen etwas Neues entstehen zu lassen, ohne dass dieses Neue wie ein lauwarmer Kompromiss aussieht. Klein Das Neue in diesem Sinne bedeutet auch immer Grenzüberschreitung und Tabubruch.

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260 Interviews Roller Ich habe den Workshop-Teilnehmern in Singapur die Aufgabe gestellt, jemanden auf der Straße zu verfolgen und aus dessen Bewegungssprache Bewegungen zu sammeln. Aber sie sind im Studio sitzen geblieben und haben gekichert. Erst allmählich habe ich bemerkt, dass es nicht darum ging, dass sie die Aufgabe nicht verstanden haben, sondern dass es dort ein Tabu ist, jemanden zu verfolgen. Und dann fordere ich sie heraus und versuche, sie dazu zu bringen, es zu machen. Klein Aber wenn es ein gesellschaftliches Tabu ist in ihrer Kultur, jemanden zu verfolgen, sollten sie es denn dann machen? Roller Jedes Aufeinandertreffen zwischen Kulturen birgt Gefahren in sich. Aber die Globalisierung lässt sich nun mal nicht wieder zurückdrehen.

261

Verweise Einleitung 1 s. dazu Essay Zeitgenössische Choreografie Essay 1 www.corpusweb.net/archivzunge-10.html 2 ebd. 3 ebd. 4 ebd. 5 ebd. 6 Foucault 1993 7 vgl. Singer 1959 8 Arbeau 1989 9 vgl. Jeschke 1996 10 vgl. Haitzinger 2009 11 vgl. Weaver 1721 12 vgl. Jeschke 1996; Huschka 2008 13 vgl. Brandstetter 2009; Haizinger 2009 14 Diderot, Denis / Alembert, Jean Baptiste le Rond d’: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd.7, 1988, S. 651 15 vgl. Dahms 2010 16 vgl. Klein 1994, 109ff. 17 vgl. Levinson 1992 18 Fischer-Lichte 1998, 1ff. 19 Fuchs 1909, 95 20 vgl. Dempster 2008 21 vgl. Klein/Friedrich 2010; Klein 2009a 22 Foucault 1999, 412 23 vgl. Bel 2008, 48 24 vgl. Lessing 1972 25 Bel 2008 26 Kunst 2009 27 vgl. Klein 2004 28 vgl. Lepecki 2008 29 vgl. Lepecki 2008 30 vgl. Lepecki 2007

262 Verweise 31 Husemann, 2009 32 Sloterdijk 1989, 25 Interviews 1 Das Gespräch fand am 18.1.2009 in Berlin statt. Martin Nachbar ist Mitbegründer des Kollektivs B.D.C./Plischke und arbeitete als Tänzer mit renommierten Kompanien wie Les ballets C. de la B., Vera Mantero und Meg Stuart, Thomas Lehmen and Joachim Schlömer. Seit 2004 produzierte er zahlreiche Stücke, darunter das Solo »Verdeckte Ermittlung« (2004), »mnemonic nonstop« (2005 mit Jochen Roller), »Repeater – Tanzstück mit Vater« (2007), »Urheben Auf heben« (2008), »one shared object profit&loss« (2009 mit Martine Pisani). 2 Das Interview fand am 26.10.2008 in Hamburg statt. Nik Haffner war von 1994 bis 2000 Tänzer der William Forsythe Company. In dieser Zeit arbeitete er auch an der Entwicklung und Publikation der cdrom »Improvisation Technologies«. Heute realisiert er als freischaffender Tänzer und Choreograf Bühnen-, Film- und Installations-Projekte wie »Procession« (2004), »Subtitles« (2006, in Zusammenarbeit mit Christina Ciupke) und »Unaccompanied« (2008, in Zusammenarbeit mit Anna Williams). Als Gastdozent arbeitet er an Ausbildungsorten wie p.a.r.t.s. / Brüssel und dem Laban Centre London. Seit 2008 ist er Direktoriumsmitglied und Gastprofessor am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (hzt) Berlin. 3 Das Gespräch fand in Hamburg am 11.12.2009 statt. Jonathan Burrows war Tänzer des Royal Ballet, bevor er 1991 die Jonathan Burrows Group gründete und Stücke wie »Stoics« (1991) und »The Stop Quartet« (1996) produzierte. In den letzten zehn Jahren lag der Schwerpunk seiner Arbeit auf One-to-one-Kollaborationen mit anderen Künstlern, z.B. »Weak Dance Strong Questions« (2001, mit Jan Ritsema) und bislang fünf Stücke mit dem Komponisten Matteo Fargion. 2004 erhielten Burrows und Fargion den New York Dance and Performance ›Bessie‹ Award für »Both Sitting Duet« (2002). Burrows war Gastprofessor an der Universität Hamburg, der FU Berlin und der Royal Holloway University London. 4 Das Gespräch fand am 18.11.2009 in Hamburg statt. Thomas Kampe arbeitet seit Anfang der 1980er Jahre als Tänzer und Choreograf in Deutschland und England. Er choreografierte zahlreiche Arbeiten wie »Amen« (2009), »Dybbuk« (2010) und ortsspezifische Perfor-

263 mances wie »Urban Rituals« (2003), die international präsentiert wurden. Er ist weltweit als Lehrender tätig und arbeitet als Associate Professor an der London Metropolitan University. 5 Das Gespräch fand am 10.4.2010 in Hamburg statt. Anna Huber studierte u.a. bei Saburo Teshigawara, Susanne Linke und Meg Stuart. Nach Engagements als Tänzerin begann sie 1993 mit ihrer Arbeit als Choreografin. Im Rahmen ihrer choreographischen Recherche entstanden Solostücke wie »in zwischenräumen« (1995), Zusammenarbeiten wie die ortsspezifische Performance »umwege« (2002, mit dem Perkussionisten Fritz Hauser), »tasten« (2010, mit dem Klavierduo Huber/Thomet) und »Aufräumarbeiten im Wasserfall« (2011, mit dem Bildenden Künstler Yves Netzhammer). Sie war 2007 Valeska-Gert-Gastprofessorin am Institut für Theater wissenschaft der fu Berlin. Seit 2007 ist sie Artist-in-Residence in der Dampfzentrale Bern. Huber ist Trägerin des Hans-ReinhartRings sowie des Schweizer Tanz- und Choreografiepreises 2010. Hubert Machnik ist Komponist und Gitarrist. Er spielte in verschiedenen Ensembles und Orchestern, vorwiegend Neue Musik. 1981–1989 war er Mitglied im Ensemble Modern. Er komponiert Klavier- und Kammermusik, Musik für Bühne, Tanz, Film und audiovisuelle Installationen, Computermusik, elektronische Musik und »Radiostücke«. Machnik arbeitete zusammen u.a. mit Heiner Goebbels, den Berliner Philharmonikern, Blindman Saxophonquartett, Deufert/Plischke, Anouk van Dijk Dance Company, Richard Siegal und der William Forsythe Company. Er lehrte an verschiedenen Einrichtungen, zuletzt als Gastprofessor der Universität Gießen. 6 Das Gespräch fand am 12.5.2010 in Hamburg statt. Jochen Roller arbeitet als Choreograf, Tänzer und PerformanceKünstler. Seit 1997 hat er eine Vielzahl von Tanz- und Performanceprojekten realisiert wie die Solo-Trilogie »perform performing« (2002–2004), »Around the world« (2002), »mnemonic nonstop« (2005, zusammen mit Martin Nachbar) und Void (2010). Roller kuratierte das saisonale Tanzprogramm von Kampnagel/Hamburg (2007–2010). Mit Monica Antezana arbeitet er derzeit an dem Musical »(For here or to go?) Der Carpenter-Effekt«.

264 Verweise

Generierung 1 z.B. Milli Bitterli »Die Verschleuderung des Ich« (2006) 2/3 z.B. William Forsythe »Improvisation Technologies« (2003) 4 z.B. Christine Gaigg »Adebar / Kubelka« (2003) 5 z.B. Antje Pfundtner »Nach jemandes Geige tanzen« (2009) 6 z.B. Christina Ciupke, Nik Haffner »dealing with life« (2008) 7 z.B. Jo Fabian »Independent Swan. Eine WahnVorstellung« (2009) 8 z.B. Anna Huber, Fritz Hauser »handundfuss« (2006) 9 z.B. Filip van Huffel »Antipode« (2009) Formgebung z.B. Christine Gaigg »Trike« (2004) z.B. Phillip van der Heijden »Building Bodies« (2009) z.B. Trisha Brown »Accumulation« (1971) vgl. Jeschke/Rick 1999 z.B. Martin Nachbar, Jochen Roller »Mnemonic Nonstop« (2005) 6 z.B. Emio Greco «Notation Research Project« und Workshop »Double Skin/Double Mind« (2004–2007) 7 z.B. Nik Haffner, Bernd Lintermann, Thomas McManus »Time Lapses« (2000–2003) 1 2 3 4 5

1 2 3 4

Spielweisen vgl. Deufert/Noeth/Plischke 2009 z.B. Deufert/Plischke »Reportable Portraits« (2007) z.B. Richard Siegal »if/then Septet« (2007) z.B. Xavier Le Roy »Project« (2003)

Zusammenarbeit 1 z.B. Sweet and Tender »Treffen Total« (2010) 2 z.B. Plattform »www.thebakery.org« (März 2011)

265

Komposition 1 vgl. Impersonation Game: www.everybodystoolbox.net (März 2011) 2 Martin Nachbar, Jochen Roller »Mnemonic Nonstop« (2005) 3 Jonathan Burrows, Matteo Fargion »Both Sitting Duet« (2002) 4 Anne Teresa De Keersmaeker »Fase, four movements to the music of Steve Reich« (1982) 5 J.U. Lensing, Jacqueline Fischer, Thomas Neuhaus, Falk Grieffenhagen »Suite intermediale« (2010) 6 Nik Haffner »Unaccompanied« (2008) 7 Philipp Gehmacher und eingeladenene Choreograf/innen »Walk + talk« (2008) 8/9 Martin Nachbar »Urheben Aufheben« (2008) 10 Jochen Roller »perform performing, Teil 1: no money, no love« (2002) 11 Sidi Larbi Cherkaoui »Babel(words)« (2010) 12 Intermedialitäten, die sich auf digitale Medien beziehen und mit Computerverfahren wie Motion Capturing arbeiten, sind in diesem Baukasten nicht bearbeitet. 13 Jo Fabian »realtime.compiler« (2006) 14 J.U. Lensing, Jacqueline Fischer, Thomas Neuhaus, Falk Grieffenhagen »Suite Intermediale« (2010) 15 Hubert Machnik »empty rooms/leere räume« (2000) 16 Anna Huber, Fritz Hauser »Umwege« (2002), Station U-Bahnhof Potsdamer Platz, Berlin 17 She She Pop »Für alle« (2006) 18 Deufert / Plischke »anarchiv #2: Second Hand« (2010) 19 She She Pop »Warum tanzt ihr nicht?« (2004) 20 William Forsythe »You made me a monster« (2005) 21 Thomas Lehmen »In all languages« (2006) 22 Forced Entertainment »Quizoola« (1996) 23 Jérôme Bel »Pichet Klunchun and Myself« (2005)

266 Literatur

267

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278 Praxiskarten Das Findenund undder Entwickeln Leporello Bewegungsanalyse von Bewegungsmaterial kann Zwecken dienen:des derVerlages Materialsammlung | können unterschiedlichen kostenlos über die Website Forschung |werden der Integration der Bewegungsder künstlerischen abgerufen und heruntergeladen (www.transcript-verlag.de/choreografie). eigenheiten der Beteiligten in die Choreografie | der Vorberei–› Choreotung oder der Durchführung einer Echtzeit-Kompositionπ, bei grafieren als Spiel der sich Generierung und Komposition von Bewegungsmaterial zeitgleich vollziehen. –› Dramaturgie

Bewegungsgenerierung kann mit vielfältigen Arbeitsweisenπ und auf verschiedenen Wegen erfolgen: Eine Person oder mehrere generieren Bewegungsmaterial unter der Anleitung einer Choreografin | Ein Choreograf erarbeitet Bewegungsmaterial und führt es in der Choreografie selbst aus oder überträgt es auf andere Personen | Eine Choreografin findet Bewegungsmaterial für eine andere Person und berücksichtigt deren individuelle Fähigkeiten bei der Bewegungsgenerierung. Das in diesem Modul generierte Bewegungsmaterial kann mit Tools zur Formgebung und Komposition weiter bearbeitet werden.

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Gabriele Klein (Hg.) Choreografischer Baukasten. Das Buch

TanzScripte hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 41

Gabriele Klein (Dr. rer. soc.) ist Professorin für Soziologie mit den Schwerpunkten Bewegung und Tanz an der Universität Hamburg.

Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten. Das Buch

Das Projekt Choreografischer Baukasten wurde gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (bmbf). Die Behörde für Schule und Berufsbildung (bsb) der Freien und Hansestadt Hamburg hat die Durchführung von Pilotstudien unterstützt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ©2015 Gabriele Klein Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung der Herausgeberin urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Gestaltung & Satz: Andreas Brüggmann Lektorat: Gabriele Klein, Gitta Barthel, Esther Wagner Printed in Germany Print-isbn 978-3-8376-3186-9 pdf-isbn 978-3-8394-3186-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort 7 Einleitung und Dank 11 Essay Gabriele Klein: Zeitgenössische Choreografie 17 Gebrauchshinweise 51 Modulhefte Modulübersicht 56 Generierung 59 Formgebung 81 Spielweisen 109 Zusammenarbeit 127 Komposition 155 Interviews Martin Nachbar Stückentwicklung 221 Nik Haffner Bewegungsgenerierung 227 Jonathan Burrows Komposition 233 Thomas Kampe Choreografievermittlung 238 Anna Huber & Hubert Machnik Musik und Choreografie 245 Jochen Roller Interkulturalität 254 Verweise 261 Literatur 267

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Vorwort Der Choreografische Baukasten, 2011 als innovatives Konzept aus frei kombinierbaren Modulen erschienen, war zwei Jahre später vergriffen. Die Resonanz aus dem In- und Ausland zu dieser Sammlung an Materialien zeitgenössischer Choreografie hat uns ermuntert, den Baukasten in einem kostengünstigen und handlichen Format erneut aufzulegen. Entstanden ist die vorliegende Publikation »Choreografischer Baukasten. Das Buch.« Die im Baukasten in Modulheften, Textband, Praxiskarten und Leporellos angelegte praxisorientierte Umsetzung des in und durch die choreografische Praxis gewonnenen Materials war einerseits als Alternative zu herkömmlichen Publikationsformen wissenschaftlicher Forschung konzipiert. Andererseits sollte der aus handlichen Modulheften bestehende Baukasten in Zeiten digitaler Informations- und Wissenspräsentationen – auch im Tanz – eine haptische und praxisnahe Umsetzung anbieten. Diese Grundidee verfolgt auch dieses Buch. Es versammelt die fünf Modulhefte Generierung, Formgebung, Spielweisen, Zusammenarbeit und Komposition sowie einen Essay und Interviews zu zeitgenössischer Choreografie. Die Pfade und Links, die mit Hilfe der Icons ein rhizomartiges Bewegen durch die Modulhefte ermöglichen, sind auch in dieser Buchfassung angelegt. Die 33 Praxiskarten und der Leporello Bewegungsanalyse, die konkret in einzelnen choreografischen Arbeitsschritten und -situationen anwendbar sind, können kostenlos über die Webseite des Verlages abgerufen und heruntergeladen werden (www.transcript-verlag.de/choreografie). Andreas Brüggmann sei herzlich für die Transformation seiner grafischen Gestaltung des Baukastens in die Buchform, Christian Weller für seine hilfreichen Ratschläge und dem TranscriptVerlag für die Unterstützung bei der Umsetzung gedankt. Hamburg, im Februar 2015 Gabriele Klein

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Gabriele Klein, Gitta Barthel, Esther Wagner: Choreografischer Baukasten (Hg. von Gabriele Klein), transcript: Bielefeld 2011.

10 Einleitung und Dank

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Einleitung Tanz und Choreografie haben seit den 1990er Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen. Nach mehreren historischen »Schüben« in der Geschichte des Modernen Tanzes und der gleichzeitigen Erneuerung des Balletts zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dem Postmodern Dance der 1960er und dem Tanztheater der 1970er sind seit den 1990er Jahren zeitgenössischer Tanz und Choreografie als Kunstform verstärkt Gegenstand theoretischer Reflexion und in künstlerischen Vermittlungsprojekten zugleich Gegenstand kultur- und bildungspolitischer Diskussion geworden. Der zeitgenössische künstlerische Tanz hat sich dabei als ein gesellschaftliches, politisches und ästhetisches Reflexionsmedium par excellence erwiesen: Denn während die neue Aufmerksamkeit auf den Tanz auch darin begründet liegt, dass die flüchtige Kunst des Tanzes zum Symbol einer globalisierten, auf Beschleunigung, Flüchtigkeit, Vergänglichkeit setzenden Mediengesellschaft geworden ist, stellt gerade die zeitgenössische Tanzkunst die Fragen, was Tanz ist, ob und wie er von Bewegung unterscheidbar ist und wie die flüchtige Kunst des Tanzes sich kritisch zu der Flüchtigkeit des Sozialen stellen kann. Anders als noch in den tanzkünstlerischen Auseinandersetzungen des Modernen Tanzes ist diese Frage nach einer Phänomenologie des Tanzes nunmehr in den Kontext einer Reflexion von Choreografie gestellt.1 Choreografie, traditionell verstanden als festgelegte, wiederholbare Bewegungsordnung, die Bewegung regelt, organisiert und vorschreibt, wird nunmehr selbst auf ihre Instabilität, Flüchtigkeit und Performanz befragt. In den Blickpunkt des Interesses rückt die situative Organisation von Bewegungen in Raum und Zeit, die nicht fremdbestimmt, sondern, wie ein Fußgängerverkehr, selbstorganisiert sind. Damit lösen sich nicht nur der enge Zusammenhang von Tanz und Choreografie, die Hierarchie von Choreograf/in und Tänzer/in sowie die Nachrangigkeit der Dramaturgie für die Choreografie auf. Die Vorstellung von Choreografie als permanente Transformation von Bewegungsorganisation provoziert auch eine Reflexion des Werkbegriffs zugunsten performativer Aufführungsformate und Echtzeit-Kompositionen.

12 Einleitung und Dank Mit diesen Transformationen haben sich auch das Verständnis und die Praxis des künstlerischen Prozesses verändert: Offene, kollaborative, an Forschung und Recherche ausgerichtete, interdisziplinäre Praktiken kennzeichnen zunehmend den choreografischen Prozess und haben damit klassische Hierarchien, repetitive und interpretative Arbeitsweisen in Frage gestellt. War dies bereits im Zuge der Demokratisierungs- und Emanzipationswelle seit den 1960er Jahren ein Kennzeichen zeitgenössischer Choreografie, so ist seit den 1990er Jahren der künstlerische Arbeitsprozess selbst zum Untersuchungsgegenstand und zugleich zu einem Experimentierfeld des Sozialen geworden. Choreografie lässt sich als eine spezifische, weil an körperlicher Praxis orientierte gemeinschaftliche Forschung ansehen, die traditionellen Formen der Wissensproduktion eine auf körperlicher Erfahrung beruhende Wissenskultur entgegensetzt. Mit diesen paradigmatischen Transformationen der choreografischen Praxis reflektiert der zeitgenössische Tanz auch den Arbeitsbegriff in der postindustriellen Gesellschaft, die diesen als Wissensgesellschaft verändert und ihn in die Nähe ehemals der Kunst vorbehaltener Praktiken gerückt hat: Charakteristika künstlerischer Arbeit wie Intuition, Kreativität oder Virtuosität werden nicht mehr als gesellschaftliche Nische sondern immer mehr als zentral für Produktionsprozesse des Wissens angesehen. Der Choreografische Baukasten ist eine an der zeitgenössischen choreografischen Praxis orientier te »Werkzeugkiste«. Er reflektiert in seinem Auf bau die Prinzipien der Offenheit, Prozesshaftigkeit, der praktischen Erkenntnis und der forschenden Wissensgenerierung. Seine Architektur bietet ein offenes System praxisorientierter Module zu den Themen Generierung, Formgebung, Spielweisen, Komposition und Zusammenarbeit, die als Instrumentarium zur praktischen und theoretischen Ver mittlung zeitgenössischer Choreografie dienen können. Der Baukasten ist von der Idee getragen, Möglichkeitsräume für eine choreografische Praxis zu schaffen und ein Spektrum von zeitgenössischen Arbeitsweisen anzubieten. Das hier versammelte Material lädt zur Gestaltung choreografischer Prozesse und zu einem spielerischen Umgang mit Bewegung und Tanz in einer choreografischen Praxis ein.

13 Entstehungsprozess Der Choreografische Baukasten beruht auf einem Forschungsprojekt, das von 2008 bis 2011 an der Universität Hamburg, Institut für Bewegungswissenschaft / Performance Studies durchgeführt wurde. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (bmbf) finanziert und von der Behörde für Schule und Berufsbildung der Freien und Hansestadt Hamburg unterstützt. Das empirische Material, das in den Baukasten Eingang fand, entstand in Plattformen und durch Interviews mit international renommierten Choreograf/innen, die ihre künstlerische Praxis reflektierten und Erfahrungen von eigenen choreografischen Projekten einbrachten. Es fanden Plattformen zu den Themen Generierung von Bewegung, Komposition, Vermittlung, choreografische Vermittlungsprozesse, intermediale Arbeitsweisen und Musik statt. In Interviews wurden Choreograf/innen und Theaterschaffende zu ihren Arbeitsweisen befragt. Darüber hinaus wurde für das Thema relevante Literatur verarbeitet. In drei Pilotphasen wurden einzelne Module in der Praxis erprobt. Ausgewählte Künstler/ innen haben schließlich als Mentor/innen die Modulhefte durchgearbeitet. Adressat/innen Der Baukasten richtet sich an Choreograf/innen, Theaterschaffende, Tanzpädagog/innen, Lehrende, die an Universitäten, im Bildungs- und Kulturbereich institutionell oder nicht institutionell gebunden in den Bereichen Choreografie, Tanz, Performance, Bewegung oder ästhetische Bildung tätig sind. Das Material des Baukastens kann entsprechend in der Produktion einer Choreografie, in Lehrveranstaltungen, Workshops, Aus- und Fortbildungen oder in Kursen Anwendung finden. Es kann sowohl in der Arbeit mit Tänzer/innen als auch in Projekten mit Menschen ohne Tanz- und Choreografieerfahrung eingesetzt werden. Erfahrene Choreograf/innen können Anregungen erhalten, ihre künstlerische Praxis zu vertiefen oder zu erweitern. Das Material des Baukastens kann auch bereichernd für Menschen sein, die in der szenischen Kunst (Theater, Performance, Installation) oder auch in therapeutischen Settings mit Gestaltungsprozessen befasst sind. Der Baukasten stellt schließlich Einsteigern, die

14 Einleitung und Dank bislang wenig Erfahrung mit Tanz und Choreografie hatten, aber auf verwandten Feldern tätig sind, ein Handwerkszeug zur Verfügung, um Themen zu entwickeln, Arbeitsweisen zu erproben, den choreografischen Prozess zu gestalten und ihre (Zwischen-)Ergebnisse zu sortieren und zu präzisieren. Dank Die Entwicklung des Choreografischen Baukastens war selbst ein offener und kollaborativer Forschungsprozess, der ohne die großartige Unterstützung vieler Personen und Institutionen nicht durchführbar gewesen wäre. Zunächst sei den Choreograf/innen für ihr großes Interesse und ihre vielfältigen Anregungen herzlich gedankt, die sie in den Interviews und Plattformen eingebracht haben. Mehrstündige Interviews haben wir geführt mit Jonathan Burrows, Jacqueline Fischer, Monika Gintersdorfer, Nik Haffner, Thomas Hauert, Dieter Heitkamp, Anna Huber, Thomas Kampe, Jörg Lensing, Xavier Le Roy, Hubert Machnik, Mieke Matzke, Martin Nachbar, Peter Oswald, Jochen Roller, Steffen Schmidt, Filip van Huffel. Einblicke gewähren die aus Platzgründen ausgewählten kurzen Ausschnitte weniger Interviews, die in diesem Band fokussiert auf die Themen der Modulhefte versammelt sind. An den Plattformen teilgenommen haben: Jenny Beyer, Danielle Brown, Martin Clausen, Jenny Coogan, Kattrin Deufert, Antoine Effroy, Jo Fabian, Christine Gaigg, Angela Guerreiro, Nik Haffner, Victoria Hauke, Helge Musial, Nicole Peisl, Antje Pfundtner, Peter Pleyer, Thomas Plischke, Jochen Roller, Anne Rudelbach, Angela Schubot, Saga Sigurdardottir, André Wenzel, Christoph Winkler. Den Mentor/innen Karl-Heinz Blomann, Kattrin Deufert, Christine Gaigg, Nik Haffner, Thomas Kampe, Bojana Kunst, Martin Nachbar, Thomas Plischke, Steffen Schmidt, Mone Welsche danken wir herzlich für ihre Anregungen bei der Überarbeitung der Module. Unseren Kooperationspartnern K3 – Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg, insb. Kerstin Evert, Matthias Quabbe und Friederike Lampert sowie dem Gymnasium Corveystraße sei gedankt für die organisatorische Unterstützung der Pilotphasen. Besonderer Dank gilt Philipp van der

15 Heijden, Gabriela Wögens und den Studierenden des MasterStudiengangs Performance Studies und der Bewegungswissenschaft, die durch das praktische Erproben einzelner Module zusammen mit den Teilnehmenden des K3-Jugendclubs und den Schüler/innen wichtige Hinweise geliefert haben. Das Forschungsteam dankt auch Heike Lüken für die kooperative Zusammenarbeit, die sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin des ebenfalls an der Universität Hamburg angesiedelten und vom Tanzplan Deutschland finanzierten Projektes »Choreografieren mit Schüler/innen« geleistet hat. Den Studierenden Pauline Schlesier und Alexander Vogt der Bauhaus-Universität Weimar, die unter Leitung von Jens Geelhaar, Professor für Interface Design, erste Versuche unternahmen, den Baukasten digital zu übersetzen, danken wir für ihr Interesse und ihre Einsatzbereitschaft. Ohne eine finanzielle Förderung wäre das Projekt nicht durchführbar gewesen. Deshalb richtet sich der Dank des Forschungsteams besonders an das Bundesministerium für Bildung und Forschung und an Arnim Holewa und Volker Urban für die verwaltungstechnische Unterstützung. Kristin Kröger hat die Finanzverwaltung des Projektes an der Universität Hamburg übernommen und sich immer wieder um kreative Lösungen bemüht. Werner Frömming, Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, hat erste Initiativen einer Kooperation mit dem bmbf und den Hamburger Behörden befördert. Norbert Rosenboom, Leiter des Amts für Bildung der Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg, und Gunter Mieruch, ehemaliger Fachreferent für Darstellendes Spiel am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwick lung Hamburg, sei herzlich für ihre Unterstützung gedankt. Zu dem Forschungsteam gehörten als studentische Hilfskräfte Eva Bernhard, Anne Gelderblom, Nicole Hartmann und Deva Taminga. Sie haben mit ihrer sorgfältigen und motivier ten Arbeit vielfältige Unterstützung geleistet. Andreas Brüggmann zeichnet für das grafische Konzept und das Layout des Baukastens verantwortlich, Christian Weller übernahm die Redaktion und das Lektorat. Beiden sei herzlich für ihr großes Engagement,

16 Einleitung und Dank ihre hohe Professionalität und ihre Sorgfalt gedankt, ohne die der Baukasten in dieser Form nicht hätte umgesetzt werden können. Langebartels Druck in Hamburg hat sich auf das Unternehmen eingelassen, das »Objekt« zu realisieren, und der transcript Verlag, Bielefeld, hat in bewährter Zusammenarbeit den Vertrieb übernommen. Johanna Tönsing und Frau Dr. Karin Werner sei für ihr großes Interesse an dem Projekt herzlich gedankt. Schließlich und in besonderem Maße richtet sich mein Dank an die beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Gitta Barthel und Esther Wagner, die während des gesamten Prozesses mit hoher Einsatzbereitschaft, Neugierde, Motivation, Kraft und Ausdauer und einem außergewöhnlichen Teamgeist dabei waren und das Material wesentlich erarbeitet und mitgestaltet haben.

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Gabriele Klein: Zeitgenössische Choreografie

OR g An IZ A Tion Of Move me nt I N Tim And s Pace

Tim Etchells1

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18 Gabriele Klein: Essay Im Jahr 2007 stellte die Online-Zeitschrift Corpus 52 Künstlern, Wissenschaftlern, Kuratoren und Kritikern die Frage: Was ist Choreografie? Die Ant worten waren erwartungsgemäß vielfältig. Tim Etchells zum Beispiel versteht unter Choreografie die Organisation von Bewegung in Zeit und Raum, Xavier Le Roy sieht sie als »künstlich inszenierte Handlung(en) und / oder Situation(en)« an, Raimund Hoghe deutet Choreografie als »ein Schreiben mit dem Körper«. Jonathan Burrows fokussiert weniger auf die topografische Dimension von Choreografie, sondern eher auf den Handlungsmodus: es gehe darum, »eine Wahl zu treffen, inklusive der Wahl, keine Wahl zu treffen«. Joaõ Fiadeiro thematisiert die subjektive Dimension, wenn er festhält, dass »Choreografie das ist, was immer wir uns entscheiden, Choreografie zu nennen«. 2 Simone Augtherlony will Choreografie als »das Wieder(er)leben, Überarbeiten und Wiederkäuen der Bewegungen« verstanden wissen. Dabei gehe es darum, »alles Wissen, das durch unsere Bewegung entsteht, zu assimilieren und zu synthetisieren, und dadurch eine Art Graphen herzustellen – nicht zu dem Zweck reiner statistischer Auswertung, sondern zum Erlernen und Erproben künftiger Möglichkeiten«. 3 Jan Ritsema wiederum versteht Choreografie als »einen Denk raum über die (zirkuläre und lineare) Organisation von Bewegung oder (greif baren und ungreifbaren) Beziehungen der Bewegung zwischen Objekten und Subjekten in Zeit und Raum auf der Bühne«. 4 Thomas Lehmen interpretiert diesen Denkraum als einen gesellschaftlichen Raum, wenn er behauptet, dass Choreografie als eine Organisation von Raum und Zeit immer auch zeigen muss, »in welcher Konstruk tion von Welt wir diese Organisation vornehmen«.5 Diese ausgewählten Zitate demonstrieren einschlägig das zu Beginn des 21. Jahrhunderts aktuelle Verständnis von Choreografie als Gegenwartskunst. Damit ist zugleich ein historischer Kontext gesetzt und der Terminus als historisch markiert: Zeitgenössische Choreografie meint immer das, was in einem bestimmten Zeitraum von Zeitgenossen produziert und von anderen Zeitgenossen als relevant für die jeweilige Gegenwartskunst des Tanzes wahrgenommen wird. Zeitgenössische Choreografie

19 ist von daher nicht zwangsläufig normativ bestimmt, also keine Festschreibung hinsichtlich eines choreografischen Konzeptes oder eines künstlerischen Stils, einer Tanz- und Bewegungstechnik oder künstlerischen Form. Der Begriff zeitgenössisch wird zwar mit unter verwendet, um die historisch besetzten Begriffe Avantgarde oder Moderne zu umgehen. Er ist aber nicht zwangsläufig an ein bestimmtes Tanzgenre oder mit bestimmten Choreografen oder Tanzkompanien verbunden. Verwendet man den Begriff nicht für einen bestimmten historischen Zeitraum, zum Beispiel die zeitgenössische Choreografie des Barock, sondern bezogen auf die Tanzkunst der Gegenwart, dann versammeln sich unter diesem Begriff derzeit verschiedene Richtungen wie Postmodern Dance, New Dance, Tanztheater, choreografisches Theater, choreografische Oper, Neuer Tanz, Physical Theatre, Konzepttanz. Im 20. Jahrhundert – nach Michel Foucault dem Jahrhundert des Raumes6 – hat sich ein Verständnis von Choreografie durchgesetzt, das diese topografisch als ein Verfahren des Verteilens und Ordnens von Körpern in Raum und Zeit deutet. Der panoptische Blick auf die Bewegung im Raum lässt zwei Dimensionen der Choreografie in den Hintergrund treten, die in der (westlichen) Geschichte der Choreografie von großer Bedeutung waren: zum einen die Praxis, Technik oder Strategie des SichBewegens oder Tanzens, die über viele Jahrhunderte die primäre Perspektive auf eine choreografische Ordnung darstellten. Zum anderen die Tatsache, dass das Schreiben von und über Bewegung und ihre choreografischen Muster über viele Jahrhunderte die Grundlage dafür bildete, dass Choreografie überhaupt als eine räumliche Ordnung wahrgenommen werden konnte. Die topografische Perspektive auf Choreografie ist von daher eng verknüpft mit den technischen Verfahren der Aufzeichnung von Bewegung, haben doch bewegte (und jüngst dreidimensionale) Bilder die räumlichen Muster und die zeitliche Organisation von Körpern in Bewegung erst sichtbar gemacht. Der Begriff Choreografie bezieht sich dementsprechend auf Bewegen und Schreiben. Er setzt sich zusammen aus dem griechischen chorós: Reigenplatz, Tanzplatz, meint also einen gerahmten Aufführungsort, an dem »Tanz« stattfindet, sowie dem

20 Gabriele Klein: Essay griechischen graphós oder graphein: Schreiben, Ritzen. Choreografie ist demnach als Raumschrift zu verstehen und dies in einer doppelten Bedeutung: Als ein »flüchtiges Schreiben« der Körper in den Raum, deren Bewegungen und Figuren Spuren hinterlassen, die nicht greifbar oder sichtbar sind, die aufscheinen und verschwinden. Zum anderen meint Choreografie als Raumschrift die Kunst des Dokumentierens und die Diskurse über die Ordnung der Körper im Raum, die sich entsprechend der jeweils historisch aktuellen Techniken der Aufzeichnung von Bewegung über Schrift, Bild, Fotografie, Film oder digitale Verfahren vollziehen. Durch die enge Beziehung zwischen (Auf-) Schreiben und Bewegen ist Choreografie, verstanden als ProIntermediale zess und als Produkt, immer intermedial.ππ Komposition Die doppelte Bestimmtheit von Choreografie als Bewegen und Schreiben provoziert in den jeweiligen historischen, sozialen Bewegungen und kulturellen Kontexten unterschiedliche Beziehungen von finden und Schreiben, Erfinden, Gestalten und Ordnen der Körperbewegunentwickeln gen. Wie Choreografie bestimmt ist, steht in einem unlösbaren Zusammenhang mit den historischen, konzeptionellen und praktischen Verfahren und den bewegungs- und aufzeichnungstechnischen Möglichkeiten. Choreografie reflektiert aus dieser Perspektive das jeweils historische Verständnis von Bewegungsordnung sowie die jeweiligen politischen Konzepte von gesellschaftlicher Ordnung, deren ästhetische Formen in die Choreografie Eingang finden. Der Begriff Choreografie bezieht sich von daher nicht nur auf eine virtuose und reflektierte Form von Tanzkunst. Choreografie ist als ästhetisches Muster gesellschaftlicher Ordnungen im sozialen Raum allgegenwärtig, zum Beispiel in der Art und Weise der Gestaltung von Gärten und Parkanlagen, der Stadtplanung, der Verkehrsinfrastruktur, in der Architektur, in der Kultivierung von Natur, in der Organisation von Cultural Performances7, zum Beispiel höfischen Festen oder Massenveranstaltungen wie Militärparaden, Parteitagen, Popkonzerten oder Fußballspielen. Als ästhetisches Muster gesellschaftlicher Ordnungen reflektiert Choreografie immer auch Strukturkategorien des Sozialen wie Geschlecht, Klasse, Ethnie sowie die jeweils aktuellen kultur-

21 und theatertheoretischen Konzepte wie Identität, Theater, Aufführung, Performanz. Choreografieren bedeutet demnach, Schreib- und Bewegungsweisen zu entwickeln, durch die Räume gesellschaftlich aufgeladen werden, indem sich die Bewegungsordnungen, die durch die Raumordnungen gerahmt sind, in die Räume einschreiben und sie als sozial distink tive Räume erst hervorbringen, zum Beispiel als Tanz-Räume der höfischen Gesellschaft (der Ballsaal), der bürgerlichen Kultur (der Tanzsaal), der Jugend (Disco, Club), der Populärkultur (Milonga, Salsateca), der avantgardistischen Kunst (Tanzstudio, Tanzlabor). Der Text will zeitgenössische Choreografie in einen historischen Kontext stellen. Er will zum einen zeigen, dass manche Positionen, die zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels als zeitgenössisch charakterisiert werden, historische Vorläufer haben und welche dies sind. Deshalb wird zunächst die historische Genese des Begriffs Choreografie in seiner doppelten Bedeutung von Bewegen und Schreiben reflektiert, um im zweiten Abschnitt zentrale Positionen der Tanzmoderne zu beschreiben. Zum anderen ist der Text von dem Anliegen getragen, aktuelle Diskursfelder zeitgenössischer Choreografie als Gegenwartskunst zu markieren. Dies erfolgt im dritten Abschnitt. Historische Genese des Begriffs Choreografie Der neuzeitliche Diskurs um Choreografie kann auf eine mehr als 400 Jahre alte Geschichte zurückblicken, die vor allem drei historische »Schübe« aufweist: in der Renaissance, dem Barock und der Moderne. Renaissance. Die Entdeckung der Choreografie als Bewegungsschrift Die Überlieferung von Tänzen war bis ins Mittelalter allein eine Angelegenheit der körperlichen Praxis des Tanzes. Sie wurden von Tänzern zu Tänzern weitergegeben. Aufzeichnungen existier ten nicht als Raumschriften, sondern nur in Form ikonografischer Quellen, wie Fresken, Gemälden, Zeichnungen, Buchillustrationen, Reliefs, Statuen, Skulpturen oder Figurinen. Seit dem Aufleben des höfischen Tanzes im 14. Jahrhundert sind die ersten Versuche nachgewiesen, Tanz aufzuzeichnen. Derartige Tanznotationen wurden von den Tanzmeistern im 15. Jahrhundert weiter entwickelt.

22 Gabriele Klein: Essay In Frankreich erschien 1588 die von dem Kanoniker Thoinot Arbeau (1519 – 1595) herausgegebene Schrift Orchésographie et traité en forme de dialogue, par lequel toutes personnes peuvent facilement apprendre et pratiquer l’honnête exercice des danses. 8 Das Buch enthält vielfältige Anweisungen für die zeitgenössischen Renaissancetänze, wie Branle, Galliarde, Pavane, Allemande oder Courante und beschreibt volkstümliche Tänze wie Moriskentanz oder Canario. Die Schrift ist nicht nur die zentrale historische Quelle über den Renaissancetanz, sie ist auch paradigmatisch für die Geschichte der Tanzschreibung in der Neuzeit. Zur Erläuterung der Tänze schreibt Arbeau die fünfzeiligen Notenlinien von oben nach unten anstatt, wie im Notensystem üblich, von links nach rechts. Neben den Noten sind die einzelnen Tanzschritte aufgeführt, die wiederum durch Klammern zu bestimmten Sequenzen wie Simple, Double, Grue zusammengefasst werden. Dabei verwendet Arbeau für die Notierung von Tanzschritten und -figuren Zeichnungen und Wortkürzel, die einer Konventionalisierung der Schritte und Figuren den Weg bereiten. Fast ein Jahrhundert nach Arbeaus wegweisender Tanzschrift, im Jahre 1661, wird die Académie royale de danse gegründet und damit der Tanz in den Status einer akademischen Disziplin erhoben. Zunächst konzentriert auf die Fuß- und Beinbewegungen, werden fortan Tanz und Choreografie reglementiert, kodifiziert und dokumentiert. Die Akademie macht die Kontrolle der Choreografie zu ihrem Arbeitsgebiet: Choreografie wird damit zur Vor-Schrift, zum Notat, das unabhängig von der getanzten Praxis entwickelt wird. Fügen sich Tänzer in diese Vor-Schrift ein, werden sie zu Repräsentanten der absolutistischen Ordnung. Ein Jahr nach der Gründung erscheinen die Lettres Patentes (1662), die erstmalig eine akademische Beweisführung dafür antreten, dass Tanz und Musik unabhängig voneinander zu verstehen seien. Auf klärung. Vom höfischen Tanz zum Handlungsballett Die Trennung des Tanzes von der Musik sowie die Raumordnung der Choreografie in den Tänzen des Barock reflektiert die das 18. Jahrhundert einleitende Tanzschrift, die Notation

23 von Raoul-Auger Feuillet (1653 – 1710) und Pierre Beauchamps (1631 – 1705). 9 Die Chorégraphie ou l’art de décrire la danse, par caractères, figures et signes démonstratifs, 1700 erschienen, fasst das tänzerische Wissen des Barock zusammen. Anders aber als Arbeaus Schrift marginalisiert sie die Beziehung der Bewegung zur Musik und konzentriert sich auf eine formale Dokumentation der Schrittanalyse, indem sie ausschließlich Bodenwege und Figuren dokumentiert. John Weaver (1673–1760), britischer Tänzer, Choreograf und Tanzhistoriker, der 1706 die Feuillet-Beauchamps-Notation unter dem Titel Orchesography ins Englische übersetzt hatte, leitet 1712 mit der Schrift Essay Towards an History of Dancing einen Paradigmenwechsel in der Geschichte des Tanzes ein. Seine Schrift ist paradigmatisch für die Ballettreform im 18. Jahrhundert, die vom ballet de cour, vom höfischen Ballett, dem repräsentativen, dekorativen Barocktanz, zum ballet d’action, zum Handlungsballett, dem »theatralischen« und pantomimischen Tanz führt. Hierbei rückt die Handlung in den Vordergrund, die mit der tänzerischen Aktion, mit Gesten, Posen und Haltungen verbunden ist und durch Aneinanderreihung der Bewegung zu einem linearen Handlungsstrang zusammengeführt wird.10 Vermutlich beeinflusst durch die von Isaac Newton in dem Traktat Philosophiae naturalis principa mathematica von 1687 niedergelegten Raum- und Zeitvorstellungen schreibt Weaver für das Handlungsballett ein neues Bewegungskonzept fest, das er mit Verweis auf die antike Kunst der Pantomime fundiert: Bewegung versteht er in Beziehung zu ihrer zeitlichen Struktur, ihrer Form und räumlichen Ordnung. In den in Raum und Zeit geordneten Bewegungsabläufen – und schließlich auch in der Anatomie und Physiologie des Tänzers11 – kommt demnach die Seele des Tanzes zum Ausdruck. Weaver stellt Tanz als eine selbstständige dramatische Kunstform vor, indem er ihn als »theatralischen« Tanz formuliert, dessen »dramatische Handlung« keine Stimme, keine Sprache benötige. Seiner Ansicht nach zeigt sich der Ausdruck von Gefühl in einer exak ten, präzisen und geordneten Ausführung des Tanzes, die dann gelingt, wenn sie für den Zuschauer im Akt der Aufführung mimetisch nachvollziehbar wird. Für sein 1717 aufgeführtes Ballett »The Loves of Mars and

24 Gabriele Klein: Essay Venus« entwickelt Weaver ein Textbuch, das dem Zuschauer erlauben soll, die Gestensprache und rhythmischen Bewegungen des Tanzes zu dekodieren. Das Textbuch wird hier zu einem Medium, das den Sinn der »stummen Sprache« Tanz dem noch nicht wahrnehmungsgeschulten und im Handlungsballett unerfahrenen Publikum vermitteln soll. John Weaver leitet einen Prozess ein, der im Laufe des 18. Jahrhunderts das Verständnis von Choreografie fundamental verändert. Im Unterschied zum 16. Jahrhundert tritt Choreografie in Distanz zur Musik, sie meint nun die Erfindung und Komposition von Schritten und Figuren, bzw. die Re-Komposition von Schritten, Schrittfragmenten und Gesten.12 Gerade die Geste wird im 18. Jahrhundert zum entscheidenden Stichwort eines philosophischen, politischen und anthropologischen Diskurses, der das Problem des Zusammenhangs von Körper und Seele, Ausdruck und Empfindung, körperlicher Darstellung und innerer Bewegtheit (der Tanzenden und der Zuschauenden) thematisiert. Forciert wird die Ballettreform durch weitere Tanzschriften, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts erscheinen. Ein zentrales Werk ist die Encyclopédie von Denis Diderot (1713–1784) und Jean Baptiste le Rond d’Alembert (1717–1783), in insgesamt 35 Bänden zwischen 1751 und 1780 publiziert. Sie zielt darauf ab, die Wissenschaften, die Künste und das Handwerk entlang der aufklärerischen Prinzipien der Vernunft, Gleichheit und Wahrheit zu erläutern und möglichst exakt und detailgetreu in Karten und Baumstrukturen einzelne Phänomene nachzuzeichnen. Die Encyclopédie gilt als das wichtigste Werk der Aufklärung. Sie enthält über dreißig Beiträge zum Tanz, die zum großen Teil von dem Dramenautor und Librettisten Louis de Cahusac (1706 –1759), Autor der 1754 erschienen Tanzschrift La danse ancienne et moderne ou Traité historique de la danse, verfasst wurden. Diese Tanzschriften verdeutlichen das Anliegen, Tanz und Choreografie anderen Künsten gleichzusetzen und ihn in die (westliche) Geschichte der Künste und ihrer Herleitung aus der griechischen und römischen Antike einzureihen.13 Allerdings führt die Encyclopédie Tanz in der Spalte »Imagination« unter den Künsten nicht als eigenes Stichwort auf. In der Spal-

25 te »Verstand« jedoch finden sich die Stichworte Geste, Pantomime und Deklamation. Denn: »La Danse est l’art des gestes«14 – unter Tanz werden Mimik und gestische Körperbewegungen verstanden, die seelische Empfindungen ausdrücken. Und dazu bedarf es bestimmter physiognomischer Bedingungen der Tanzdarsteller und veränderter Bewegungstechniken. Denn die Grundannahme des Handlungsballetts ist, dass die Geste zwar universell lesbar sei, aber perfekt vorgetragen werden müsse, um ausdrucksstark zu sein. Nur so könne sie ihr Ziel erreichen, das Publikum zu ergreifen. Den entscheidenden Schritt einer Ballettreform vollziehen dann etwa zeitgleich die Tänzer und Choreografen Gasparo Angiolini (1731–1803) und Jean-Georges Noverre (1727 –1810). Noverres Briefe über die Tanzkunst, 1760 erschienen und von Lessing ins Deutsche übersetzt, zählen zu den bedeutendsten theoretischen Schriften über das Ballett. In Auseinandersetzung mit der bereits von Louis de Cahusac angeregten Reform des Bühnentanzes wendet sich Noverre gegen die Künstlichkeit, Oberflächlichkeit und Starrheit des höfischen Balletts. Getragen vom Geist der Aufklärung spricht er sich für einen Naturalismus der Bewegung aus. Sein Plädoyer richtet sich an eine aufklärerische Tradition des Humanismus im Tanz, die er im dramatischen Handlungsballett, in einer expressiven und natürlichen Darstellung, in realitätsnahen Kostümen, die zudem den Tänzern mehr Bewegungsspielraum erlauben, verwirklicht sieht.15 Der pantomimische Ausdruck von Leidenschaft und Affekten, die Darstellung der Sitten und Gebräuche des Volks, eine glaubwürdige, an der Grundstruktur des Dramas orientierte Geschichte sowie die aufklärerischen Prinzipien der Wahrheit und Natürlichkeit sind für ihn die tragenden Komponenten einer Choreografie. Ganz im Sinne der Aufklärung versteht er den Tänzer nicht als eine Figur, sondern als ein »Subjekt«, als einen Künstler, dessen dramatische Darbietung dann gelingen kann, wenn er vielseitig gebildet ist. Vor allem Poesie, Geschichte, Malerei, Geometrie, Musik und Anatomie sieht er als notwendig für die Ausbildung der Tänzer an. Das Verhältnis von Schreiben und Bewegen, das bis dahin den Begriff der Choreografie auszeichnet, verwirft Noverre. Tanz-

26 Gabriele Klein: Essay schrift, so sein Credo, müsse entziffert werden. Dies sei allerdings, anders als bei Texten oder Noten, als spontaner Akt im Tanz nicht möglich. Aber auch ohne Schrift, so seine Vorstellung, würden Choreografien historisch überliefert werden können, indem sie im Repertoire bleiben. Anders als noch zur Zeit der Feuillet-Beauchamps-Notation verliert damit die Notation für die Tradierung der Choreografie an Bedeutung. Dies zeigt sich auch bei dem eher in Vergessenheit geratenen Gasparo Angiolini, der eine Anzahl theoretischer Schriften, aber auch Ballette verfasste, von denen keine Aufzeichnungen der Schrittfolgen überliefert sind. Romantik. Technisierte Natur Schon zu Noverres Lebzeiten kündigte sich mit der romantischen Bewegung – und hier zunächst in Literatur und Malerei – eine neue Sichtweise der Wirklichkeit an. Durch das Scheitern der französischen Revolution und die Etablierung der Napoleonischen Herrschaft macht sich in der sich entfaltenden Industriegesellschaft eine politische Resignation breit, die zugleich ein »romantisches Lebensgefühl« befördert: Empfindung, Poesie, Traum, Phantasie und Seele sind die entscheidenden Stichworte für eine Versöhnung von Mensch und Natur. Der Einfluss der Romantik auf das Ballett zeigt sich spät, in den 1830er Jahren: Mit der bildhaften Umsetzung von träumerischen Sehnsüchten, bedrohlichen Phantasien und männlichen Projektionen von Weiblichkeitsbildern finden die romantischen Ideen in den Balletten eine wichtige Ausdrucksform. Zugleich erhält die Tänzerin als Verkörperung des romantischen Naturbegriffs ihre Vormachtstellung im Ballett zurück, einer Kunst, die mehr als hundert Jahre den Männern vorbehalten war.16 Zeitgleich mit dem Übergang zum romantischen Ballett verändert sich die Balletttechnik. Der Spitzentanz wird erfunden, die Kostüme lassen den Blick frei auf die Beine. Zugleich wird der Bewegungskodex des Balletts festgeschrieben: Carlo Blasis (1797 –1878), italienischer Tänzer, Choreograf und Tanztheoretiker, leistet hierzu einen entscheidenden Beitrag. Seine Schriften, so zum Beispiel Traité élémentaire, théorique, et pratique de l’art de la danse (1820), konzentrieren sich, anders als die Schriften seiner

27 Vorgänger, auf den Bühnentanz. Er gilt nicht nur als Erfinder der attitude, sondern standardisiert das Ballett training, indem er exercices erfindet, die noch heute die Grundlage des Balletttrainings bilden. Mit ihnen zieht nicht nur eine Arbeits- und Körperdisziplin in den Tanz ein, die der des Frühkapitalismus vergleichbar ist. Durch das formalisierte Balletttraining schreibt sich Choreografie in die Körper der Tänzer ein17, wo sie als mikroskopische Ordnung des Sozialen habitualisiert wird. Choreografie – als Bewegen und Schreiben – richtet sich in der Zeit des klassischen Balletts an das Darstellen von Idealen, die in Libretti, aber auch in der Harmonie der Technik und der Raumkomposition des Balletts ihren Niederschlag finden. Das Streben nach Harmonie ruft immer auch den Gegenpol, Disharmonie, auf – und dieses Potenzial einer Destabilisierung kündigt sich Ende des 19. Jahrhunderts an mit der Modernisierung des Balletts durch die Ballets Russes und den sogenannten Modernen Tanz, der sich als Gegensatz zum Ballett positioniert. Nicht zufällig taucht Ende des 19. Jahrhunderts das Wort kinästhetisch auf, das die Wahrnehmung der Bewegung durch die Sinne meint und den Fokus auf die innere Wahr nehmung der sich Bewegenden richtet. Choreografie thematisiert nun Sichtbarkeit des »Inneren« und dessen Wahrnehmung. Individuelle Bewegungen und ihr Neuerfinden sind die Wege, die zu einem Paradigmenwechsel führen und Choreografie neu bestimmen: Das Verhältnis von Ordnung und Bewegung wird neu gestaltet – und es bedarf neuer Techniken, um diese individualisierte Bewegungssprache zu verschriftlichen. Choreografie in der Moderne Der Begriff der Moderne ist in der Tanzgeschichte ebenso schillernd und uneindeutig wie in der Sozialgeschichte und wird ebenfalls sowohl epochal als auch normativ begründet. Wird die soziale Moderne bereits mit der Neuzeit und den damit einhergehenden geistigen, politischen, ökonomischen und sozialen Umwälzungen wie Aufklärung, französischer Revolution und Industrialisierung in Verbindung gebracht, so setzt die ästhetische Moderne auch im Tanz erst um die Wende zum 20. Jahrhundert ein. Meilensteine sind die Ballets Russes mit ihrem Beitrag zur ästhetischen Moder nisie-

28 Gabriele Klein: Essay rung des klassischen Tanzes und der sogenannte Neue Tanz, der in die Tanzgeschichte als Moderner Tanz oder Modern Dance eingegangen ist. Dass vor allem der Ausdruckstanz sich als der moderne Tanz schlechthin einführ te, war auch im Selbstverständnis des Begriffs der Moderne begründet. Bereits die gesellschaftliche Moderne etablierte sich fortschrittsgläubig als prinzipiell offen und kontingent. An die Stelle herrschender Heilsgewissheiten und Sinnbezüge setzte die Moderne die kritisch-krisenhafte Struktur des modernen Subjekts, dessen Konstitution im Zuge der Verflüssigung fester Sinnbezüge im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr in Frage gestellt wurde. Es ist ein spezifisches Thema der Tanzkunst der Moderne, die Fragilität des modernen Subjekts am Körper sichtbar zu machen. Tanz ist das Medium, das auf die, etwa zeitgleich von der Psychoanalyse betonte, enge Verbindung von Subjektkonstitution und Körperlichkeit aufmerksam macht und Fragen der Identitätsstiftung in der modernen Gesellschaft direkt am Körper stellt. Die Thematisierung des Mediums Kör per wiederum provoziert das Reflexivwerden des Tanzes, das, im Sinne einer Reflexion von Körper- und Bewegungstraditionen, zu einem zentralen Kennzeichen des Tanzes im 20. und frühen 21. Jahrhundert wird. Moderner Tanz Die moderne Choreografie reflektiert und ästhetisiert die Problematik der gesellschaftlichen Moderne, indem sie die neuen demokratischen Formen sozialer Ordnung als künstlerische Praktiken erprobt und sie als ästhetische Form in choreografischen Ordnungen in Szene setzt. Und dies erfolgt sowohl epochal wie normativ: So liest sich der Beitrag des Balletts zur Tanzmoderne weniger als ein epochaler Einschnitt, sondern eher als ein permanent fortschreitender Prozess der Modernisierung. Dieser Prozess beginnt mit Vaslav Nijinsky und den Ballets Russes, führt über Vertreter des modernen Balletts wie George Balanchine, John Cranko, Hans van Manen und John Neumeier bis hin zu William Forsythe. Dieser Strang der Tanzmoderne definiert sich nicht in Abgrenzung zur Tradition, sondern als ein Erneuerungsprozess derselben. Modernisierung lässt sich

29 hier als ein Vorgang beschreiben, der von der Symbolisierung des Körpers als stilisierte Natur und der Entsubjektivierung des Tänzers im klassischen Ballett zu einer Reflexion und Neudefinition eines abstrakten Tanzkörpers und des Tänzersubjekts als Kunstfigur führt. In Hinblick auf das Körperkonzept stellt sich Modernisierung dar als ein beständiger Prozess der Entstrukturierung, Destabilisierung und Dynamisierung, der von der Stabilisierung des Torsos und der Zentralisierung der Körperachsen im klassischen Tanz, über deren Destabilisierung und Flexibilisierung im modernen Ballett bis zu einer Dezentralisierung der Zentralachsen und einer Pluralisierung der Körperzentren führt. Im Unterschied zu diesem beständigen, an Tradition gebundenen, wenn auch diese reflektierenden Modernisierungsprozess im Ballett versteht sich der Moderne Tanz als eine neue, mit der Tradition brechende und sie überwindende Kunst. Dieses epochale Verständnis von Moderne, das sich von der Idee einer beständigen Dialektik von Tradition und Moderne abwendet, wie sie für die Modernisierung des Balletts typisch war und ist, konkretisiert sich im Modernen Tanz in einer radikalen Umdeutung des Tanzkörpers: Der Moderne Tanz subjektiviert den Körper. Er ist nicht mehr nur Objekt, sondern wird zum Agens, indem er zum Medium individueller Freiheit, zum Ort der Utopie erklärt und in den Kontext eines Konzeptes der Antimoderne gestellt wird: Der Körper wird als natürlich-authentisch vorgestellt und das Tänzer-Subjekt in Beziehung zu irrationalen Welten des kosmischen Ganzen gesetzt. Nicht mehr der virtuose Körper einer marionettenhaften Tanzfigur, sondern der menschliche Körper, menschliche Empfindungen und als natürlich geltende Bewegungen werden zum primären Medium des Tanzes. Damit verändert sich auch radikal das Verhältnis zur Bewegungsordnung der Choreografie. Als Alternative zu dem stilisierten und in seiner Bewegungssprache fixierten Tanzkörper des Balletts formuliert der Ausdruckstanz das Konzept eines zivilisations- und technikfeindlichen Naturkörpers und bindet dieses an die moderne Idee eines autonomen, individualisierten und authentischen Subjekts, das als ein von sozialer Erfahrung der technisierten Moderne ab-

30 Gabriele Klein: Essay

Bewegungsanalyse

gekoppeltes, mit kosmischen Welten verbundenes Einzelwesen vorgestellt wird. Entsprechend gilt die Sprache des Körpers als offen, variabel, als subjektiv, authentisch und einzigartig, als mehrdeutig und auslegbar. In der Tradition der aufklärerischen Konzepte des 18. Jahrhunderts versteht sich der Moderne Tanz als ein Projekt bürgerlicher Aufklärung und als eine zivilisationskritische, an der Natur orientierte Kunst. Deshalb verändern sich auch die Orte des Choreografierens: der die universalisierte Norm des Balletts symbolisierende Ballettsaal weicht dem Tanzstudio oder Außenraum. Die Kultstätten des Ausdruckstanzes liegen nicht in urbanen Ballungszentren, den Kristallisationsorten der Moderne, sondern, wie der Monte Verità, in zivilisationsfernen Naturräumen. Zur zentralen Darstellungsform wird der Solotanz, und dass es schließlich mit Isadora Duncan, Mary Wigman, Gret Palucca bis hin zu Dore Hoyer vor allem Frauen sind, die das Solo in die Tanzmoderne einführen, ist nicht verwunderlich, ist doch das Solo in besonderer Weise geeignet, das Selbst zu tanzen und sich als geschlechtliches Subjekt, als »Tänzerin der Zukunft« (Duncan) in Szene zu setzen. Diese auf die natürliche und individuelle Bewegung abzielende Tanzphilosophie provoziert ein neues Schreibverfahren, das Rudolf von Laban (1879–1958), Choreograf und Tanztheoretiker des Ausdruckstanzes, entwickelt und das als Labanotation bis heute weltweit für Bewegungsanalysen eingesetzt wird. Die Laban-Bewegungsstudien schaffen eine theoretische Grundlage, um die Qualität und Quantität von Körperbewegungen sowohl in ihrer Gestaltung und Ausführung als auch in der Beobachtung, Beschreibung und Aufzeichnung zu differenzieren.π Die Neu-Symbolisierung des Tanzkörpers als sichtbares Medium der Inszenierung von Subjektivität provoziert einen Wandel in der Tanzsprache. Tanztechniken werden entwickelt, die grundsätzlich andere Zentren, Schwerpunkte und Achsen im Körper definieren als sie das klassische Ballett vorsieht. Isadora Duncan beispielsweise verlagert den Körperschwerpunkt in den Solarplexus und Doris Humphrey entwickelt Techniken wie Fall and Recovery, die ein Spiel mit der Schwerkraft des Körpers erlauben und auf die Beweglichkeit des Torsos zielen.

31 Die Individualisierung des Tanzes und der Choreografie, bei der das subjektive Erleben in einen Bewegungsausdruck transformiert und entsprechend eine symbolisch aufgeladene Bewegungssprache in den Vordergrund rückt auf Kosten der Reproduktion erlernter Tanztechniken und fixierter choreografischer Abläufe, provoziert ein neues Verhältnis zwischen Choreograf/ innen und Tänzer/innen. Die individuelle choreografische Handschrift und Techniken der Bewegungsfindung und -ausführung, die keinen festgeschriebenen Regeln und Mustern mehr folgen wollen, erfordern ein Vertrauensverhältnis und eine Vielzahl von Absprachen zwischen ihnen. Anders als noch im Ballett soll nun die Bewegungssprache und Choreografie ohne ein erlerntes und fixiertes Bewegungsvokabular in den singulären Körper des Tanzenden übertragen werden. Entsprechend müssen dessen Fähigkeiten und Fertigkeiten über ein Training dazu ausgebildet werden, diese individuelle Handschrift sichtbar zu machen. Bewegungslernen wird damit zu einem Vorgang, der zugleich auch immer ein Prozess der Subjektivierung ist. Mit der Individualisierung der choreografischen Handschrift ist ein Bedeutungswandel der Repräsentationsfunktion von Tanz verbunden. Auf Kosten der referenziellen Funktion, die in der Darstellung von Figuren, Handlungen, Beziehungen und Situationen nach einem vorgegebenen Libretto besteht, rückt mit dem Modernen Tanz die per formative Funktion zunehmend in den Vordergrund. Der Tanz wird zum unwiederholbaren Ereignis und die Choreografie wird an die Autorschaft einzelner Choreografen gebunden. Die Einzigartigkeit der Choreografie liegt nunmehr nicht, wie im Ballett, in der besonderen Interpretation einer (musikalischen) Vorlage, sondern in der Erfindung des gesamten komplexen choreografischen Prozesses, von der Bewegungsgenerierung, über Formgebung und Komposition hin zu den spezifischen Formen der Zusammenarbeit sowie in der Singularität der Tanzdarbietung. Diese Unmöglichkeit der Wiederholung scheint vor allem dann gegeben, wenn die Choreografie improvisatorische Passagen hat. Improvisation, die spontane, unvorbereitete, dem Stegreif entnommene praktische Aktion, wird zum zentralen Verfahren, mit dem die Suche nach einer individuellen Bewegungssprache

32 Gabriele Klein: Essay unternommen wird. Es ist deshalb vor allem die Improvisation, ob in der Rhythmusbewegung oder entlang der Bewegungsparameter Labans oder bildhaft oder narrativ motiviert, die einen Paradigmenwechsel in der Geschichte des Tanzes auslöst und Tanz und Choreografie sowohl von der Musik als auch von einem vorgegebenen Libretto trennt. Bewegungsstudien und Geschichten, die im improvisatorischen Prozess entstanden sind, treten nunmehr in den Mittelpunkt. Während, so die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte 18 , im Theater der westlichen Kultur bis weit in die 1950er Jahre hinein die referenzielle Funktion vor der performativen Funktion dominiert, verlagern sich in der Tanzmoderne die Schwerpunkte also bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit der Transformation von der referenziellen zur performativen Funktion entdeckt der Moderne Tanz der 1920er Jahre den Zuschauer. Das Theater, betonte Georg Fuchs bereits 1909, sei ein »dramatisches Erlebnis«, denn es sei »doch tatsächlich der Zuschauer..., in dem sich das dramatische Kunst werk erst erzeugt, indem es erlebt wird – und in jedem einzelnen Zuschauer anders erlebt wird. Das dramatische Kunstwerk entstehe weder auf der Bühne noch gar im Buche, sondern es entsteht in jedem Augenblick neu, in welchem es als räumlich-zeitlich bedingte Bewegungsform erlebt wird.«19 Im Modernen Tanz verlagert sich die Bedeutungszuweisung auf die Zuschauenden, weil der Tanz als eine Zeitkunst, als eine »Augenblicks-Kunst«, als eine rhythmische Kunst verstanden wird, die nur in dem Moment existiert, in dem sie vorgeführt wird. Entsprechend erfolgen Experimente mit dem BühnenAufführung, raum.π So entwirft der Schweizer Adolphe Appia in Anlehnung Ort und Setting an Émile Jaques-Dalcrozes Rhythmische Gymnastik sogenannte »rhythmische Räume«, die er dann 1910 im Bühnenraum von Dalcrozes Bildungsanstalt in Hellerau bei Dresden (heute Festspielhaus Hellerau) realisiert, indem er Bühne und Zuschauerbereich nicht mehr strikt voneinander trennt. Diese Geste an eine demokratische Ordnung wird zum Auslöser für eine das 20. Jahrhundert durchziehende und in dem zeitgenössischen Tanz zu Beginn des 21. Jahrhunderts virulent geführte Debatte über die Rolle des Zuschauers. Bereits die Bühnenarchitektur

33 Appias versetzt ihn in die Lage, nicht mehr passiver Konsument zu sein, sondern sich aktiv am Stück zu beteiligen und damit die Aufführung als reales Ereignis zu erleben. Performanz und Ereignishaftigkeit kennzeichnen vor allem jene Choreografien, für die keine Libretti oder Notationsschriften vorliegen und die deshalb nur schwer rekonstruierbar sind. Zudem widerspricht es dem Körperkonzept des Modernen Tanzes, diesen mit eindeutigen »Botschaften« zu versehen. Dies entlastet die Zuschauenden insofern, als dass sie nicht nach der einen Bedeutung zu suchen haben und ihre Aufgabe nicht primär darin besteht, die in dem Stück formulierten Botschaften zu entschlüsseln. Vielmehr provoziert das Körperkonzept des Modernen Tanzes ein verändertes Wahrnehmungsverhalten: Das Tanzereignis entsteht in der Wahrnehmung der Zuschauenden. Moderner Tanz hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Avantgardekunst etabliert, nicht nur weil er das für die bürgerliche Moderne so zentrale Thema der Konstitution des Subjekts und der Erzeugung von Individualität über den Körper und seine Ausdrucksformen in den Mittelpunkt stellt. Er hat auch den Begriff der Choreografie transformiert, indem Choreografie nun als individueller, einzigartiger, unverwechselbarer Bewegungstext verstanden wird, als eine »Handschrift«, deren erste Leser die Tanzenden selbst sind, die mit ihren Körpern diese Handschrift in den Raum schreiben. Die Problematik der Autorschaft und das Copyright der Bewegungserfindungen werden mit dem Modernen Tanz zu einem zentralen Thema in der Geschichte der Choreografie. Es ist ein Thema, dessen Problematik mit dem sogenannten Konzepttanz seit den 1990er Jahren verstärkt reflektiert wird. Nachmoderner Tanz In den 1960er Jahren beginnt der philosophische Diskurs, das Projekt der Moderne selbst in Frage zu stellen, indem er dessen Geltungsansprüche wie Wahrheit, Allgemeingültigkeit und vernunftgeleitete Aufklärung kritisch durchleuchtet. Zeitgleich ästhetisiert vor allem der zeitgenössische Tanz in den USA die postmoderne Krise des Subjekts. Mit dem Postmodern Dance etabliert sich in New York City in den 1960ern eine neue Tanz-

34 Gabriele Klein: Essay kunst, die einen Bruch mit dem organisch-ganzheitlichen Körperkonzept des Modernen Tanzes vollzieht und die Parameter der Choreografie – Körper, Bewegung, Zeit, Raum – selbst reflektiert. Ausgehend von der Judson-Church-Bewegung, einer infor mellen Gruppe junger Tänzer und Choreografen um Steve Paxton, Trisha Brown, Lucinda Childs, Deborah Hay, Meredith Monk, Yvonne Rainer, die zwischen 1962 und 1964 in der Judson Memorial Church in New York arbeiten, rückt die US-amerikanische Tanzavantgarde die Entideologisierung des Tanzkörpers des Modernen Tanzes in den Blick. Sie formuliert in ihrer ästhetischen Praxis ein abstraktes Körperkonzept, das die Bewegung des Körpers von der Bewegtheit des Subjekts trennt, und stellt damit das einstige Credo des Modernen Tanzes in Frage: den Körper als sichtbaren Ausdruck von Subjektivität aufzufassen. Die Trennung von reiner Bewegung und geistiger, emotionaler oder seelischer Bewegtheit bereitet den Weg für ein neues Verständnis. Wurde der Körper im Modernen Tanz als essenziell und natürlich gedacht und als Repräsentant kultureller Ordnung verstanden, so betritt auch im postmodernen Tanz die Frage der Konstruktion des Körpers die Bühne. Welches Bild vom Tanzkörper vorherrscht und wie sich Subjektivierungsprozesse im Tanz vollziehen, wird nun zu einer zentralen Frage. Zugleich öffnet sich der postmoderne Tanz mit dem Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft für den Umgang mit digitalen Medien. Beide Prozesse verändern die Vorstellung von den Trägern der Bewegung und von Choreografie als Bewegungsorganisation. In den frühen 1960er Jahren finden sowohl in der Computertechnologie als auch in der Tanzkunst folgenreiche Entwicklungen statt, die erneut zu einem Paradigmenwechsel im künstlerischen Tanz führen: Der Tanz wird zur Konzeptkunst. 1962 wird der erste Fachbereich für Informatik gegründet. Bereits zwei Jahre zuvor hatte der Tänzer Robert Dunn in New York mit Unterstützung von John Cage einen Choreografie-Workshop initiiert, in dem gestalterische Prinzipien der Kybernetik wie Zufall und Regelhaftigkeit, Prozessualität und Unbestimmtheit Choreogra- erprobt wurden. Diese aleatorischen Verfahrenπ werden in den fieren als Spiel folgenden Jahren zu einem wichtigen Forschungsgegenstand –› Spielarten der Judson-Church-Bewegung.

35 Die Auseinandersetzungen um die Statik und Dynamik von choreografischen Ordnungen bereiten nicht nur den Weg für den computeranimier ten Tanz, der sich ebenfalls Ende der 1960er Jahre herausbildet, z.B. 1965 die Computeranimation »Computer Generated Ballet« des Wissenschaftlers Michael Noll aus New Jersey oder die sogenannten »Dance making machines« aus den 1970er Jahren von Trisha Brown. Die Kybernetik beeinflusst auch jene Zufallsproduktionen, durch die vor allem Cage und Cunningham berühmt geworden sind: So kann Cunninghams Stück »Variations V« von 1965 als einer der Vorläufer der interaktiven Performances der 1990er Jahre angesehen werden. »Variations V« ist nicht in erster Linie das für Cage und Cunningham typische, unabhängige, lediglich zeitlich und räumlich simultane, aleatorische Generieren von Tanz und Musik. Vielmehr übernehmen die Tanzenden hier die Funktion von Klangproduzenten und inszenieren, in Bindung an die Technologie, die Entsubjektivierung des Tanzenden und ein Konzept des Körpers als Träger von Information: Sämtliche Geräusche und Klänge werden von den Tanzenden während der Performance über Lichtschranken und Bewegungsmeldesysteme ausgelöst und von den Musikern an den elektronischen Geräten ausgesteuert. Dies wiederum aktiviert Kurzwellenradios, die aktuelle Sendungen aus allen Teilen der Welt zum Bestandteil der Performance machen. Die Verwendung neuer aleatorischer und technologischer Verfahren der Bewegungsgenerierung und -komposition geht einher mit der Entwicklung neuer Scores, Spielweisen und der Ent wicklung neuer Techniken der Improvisation. So entwickelt der USamerikanische Choreograf Steve Paxton zu Beginn der 1970er Jahre ein Verfahren der Bewegungsgenierung und -komposition, die Contact Improvisation, bei der zum einen physikalische Gesetze wie Reibung, Schwungkraft, Anziehungskraft und Trägheit genutzt werden, um mit den Beziehungen zwischen Tänzern zu experimentieren. Zum anderen stellt die Contact Improvisation das Verhältnis von Choreografie, als festgefügter, wiederholbarer Ordnung, und Tanz als unwiederholbarer Praxis in Frage, indem interaktive Bewegungsgenerierung und EchtChoreografieren als Spiel zeit-Kompositionπ zusammenfallen.

36 Gabriele Klein: Essay Mit den neuen Verfahren rückt die alltägliche Bewegung in den Mittelpunkt des choreografischen Interesses. Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass sich kulturelle Reproduktion in Tanz und Choreografie über die Verleiblichung von Bewegungen, deren raum-zeitliche Organisation in der Choreografie sowie die Art und Weise, Tanztechnik zu erlernen und Choreografie einzustudieren, vollzieht, erzeugt die Aufnahme von Alltagsbewegungen eine kritische Perspektive auf die kulturelle Vorherrschaft des Tanzes als konventionelle Form sowie auf Choreografie als festgelegte Ordnung. Mit der Entdeckung alltäglicher Bewegungen wird nicht nur die Repräsentationsfunktion von Tanz zur Diskussion gestellt, der Fokus richtet sich auf die Bewegungsaktivitäten, die hinter der virtuosen Technik des Tanzes stehen. Seitdem zieht ein neues, die Körper demokratisierendes Paradigma in die Tanzgeschichte ein: Ob gehen, sitzen, spielen, winken, mit dem Kopf schütteln – jeder Bewegung wohnt demnach eine tänzerische Qualität inne.π Steve Paxton beispielsweise führte bereits 1967 zusammen mit 37 trainierten wie untrainier ten, professionellen wie nicht-professionellen Performern das Stück »Satisfyin’ Lover« auf. 20 Es ist ein Stück, dem nicht viele Proben vorausgehen, das kein WarmSpielmuster Up braucht, keine besonderen Skills, nur einen Scoreπ, eine Handlungsanleitung, die wiederum den Choreografen in den Hintergrund rücken lässt. Das Stück thematisiert »Passanten«, also jene profane Bewegungsart, die bislang aus der Kunst des Tanzes ausgegrenzt war, und stellt diese als eine Mobilisierung verschiedener Aktionen wie gehen, sitzen und stehen vor. Damit wurde erneut – nach dem Modernen Tanz – die tradier te Vorstellung von tänzerischer Bewegung in Frage gestellt und der Unterschied zwischen Bewegung und Tanz, aber auch zwischen Choreografie und alltäglicher Performance zum Thema gemacht. Anders als im Modernen Tanz richtet sich der Blick aber nunmehr nicht auf die Anthropologie der Bewegung und grundlegende Gefühlswelten und Affekte des Menschen, sondern auf den gesellschaftlichen Alltag und seine (Bewegungs-)Ordnung. Paxton verfolgt in diesem Stück die Idee, dass Nicht-Tänzer, frei von dem, was im Tanz als legitim angesehen wird, einen wichtigen Beitrag zu dem Überschreiten von Konventionen in Tanz

37 und Choreografie leisten können. Und so betritt hier mit der Entdeckung der Alltagsbewegungen der untrainierte, »laienhafte« Performer die Bühne. Mit seinem Erscheinen werden die traditionellen Konzepte des Tanzes, wie Virtuosität, Körperdisziplin, Anmut oder Grazie, sowie die enge Verbindung von Tanz und Choreografie in Frage gestellt. Damit verändern sich auch die Identität des Tanzenden, die Autonomie des Choreografen und das Verhältnis von Akteuren und Publikum. Die Choreografie als »Raumschrift«, die sich in dem Verhältnis von Sichtbarkeit und Wahrnehmung erschließt, erfordert demnach weder zwangsläufig einen technisch versierten Tänzer noch den Choreografen als alleinigen Gestalter einer Bewegungsordnung und den Tänzer als Ausführenden. Choreografie wird damit zu einem Akt der Wahrnehmung, in dem Performer wie Publikum gemeinsam Bewegung erleben. Und dieses Erlebnis vollzieht sich nun nicht mehr zwangsläufig in dafür vorgesehenen Aufführungsräumen. Künstlerische Choreografie wird nun – anders als noch bei den zivilisationsfernen Naturräumen des Modernen Tanzes – konfrontiert mit dem Raum des Alltags, den öffentlichen Orten im urbanen Raum der postindustriellen Städte. Tanztheater Auch das Tanztheater der 1970er Jahre vollzieht die Reflexion des Alltags und die Integration von Alltagsbewegungen in die Generierung und Komposition von tänzerischem Bewegungsmaterial. Hinzu kommt mit der Entstehung des Pop in den 1960er Jahren die Aufnahme von populären Stilen in Musik, Mode, Bewegungs- und Tanztechniken, ob HipHop, Tango oder asiatischen Bewegungsformen 21 in die Choreografie. Das Tanztheater reflektiert auf diese Weise die subjektiven Folgewirkungen der sozialen und kulturellen Umbrüche der Moderne, die sich in der Transformation von der modernen zur postmodernen, der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft, des nationalstaatlich organisierten Wohlfahrtstaates zum globalisierten neoliberalen Staat, von der populären Kultur zur Event- und Konsumkultur, in dem Flüssigwerden der für die

38 Gabriele Klein: Essay europäische bürgerliche Kultur noch charakteristischen Grenzen von Hochkultur und populärer Kultur zeigen. Das Tanztheater liefert damit einen besonderen, weil über den Körper formulierten Beitrag zum zeitgenössischen kultur- und sozialkritischen Diskurs, der die Folgewirkungen von Rationalisierung und Technisierung, von Spätkapitalismus und Vereinsamung auf die alltäglichen Lebens- und Erfahrungswelten zum Thema macht. Anders als im US-amerikanischen Postmodern Dance wird hier der Körper zum sichtbaren Ort der Subjektivität. Bewegung und Bewegtheit greifen ineinander, ähnlich wie im Ausdruckstanz und im Handlungsballett, wenn auch in einer anderen Ästhetik und mit anderen Bewegungs- und Tanztechniken. Das vor allem im deutschsprachigen Raum sich etablierende Tanztheater um Choreograf/innen wie Pina Bausch, Reinhild Hoffmann, Susanne Linke, Johann Kresnik oder Gerhard Bohner veralltäglicht den Körper, aber auf eine ganz andere Weise als noch der Ausdruckstanz: Nicht mehr der Körper als Ort des ver meintlich utopischen Potenzials steht nunmehr im Mittelpunkt, sondern der alltägliche Körper wird als Angriffsfläche gesellschaftlicher Macht, von Geschlechterhierarchien, politischer Verfolgung oder gesellschaftlicher Ausgrenzung vorgeführt. Im Unterschied zum Modernen Tanz geht es im Tanztheater nicht um eine Kommunikation zwischen innerer und äußerer Natur, zwischen Chaotisch-Unbewusstem und Kosmisch-Ganzem, sondern um das Verhältnis von Individuen und gesellschaftlichen Kräften. Der Körper ist dementsprechend nicht mehr Medium der Darstellung innerer Erfahrung und Ort der Utopie, sondern wird selbst als Ziel der Macht vorgeführt und als Angriffsfläche sozialer Gewalt in Szene gesetzt. Das Körperkonzept, das der spezifischen Ästhetik des Tanztheaters zu Grunde liegt, stellt den Körper durchweg als gesellschaftlich geformt vor. Entsprechend erscheint das Tänzersubjekt nicht mehr als autonomes Individuum, sondern wird gerade aufgrund seiner Sozialität als fragmentiert und gebrochen vorgeführt. Mit dieser Zurschaustellung von alltäglichen Körpersensationen, Sehnsüchten, Ängsten, Begierden und Träumen thematisiert das Tanztheater auf eine spezifische Weise die körperliche

39 und emotionale Verfasstheit des modernen Subjektes. Die Ästhetisierung von Alltagsbewegungen wird zu einem wesentlichen Mittel, um dessen innere Bewegtheit und körperliche Verfasstheit zu reflek tieren. Gerade indem die Subjektivität der Tanzenden in den Mittelpunkt rückt, verliert sich die Inszenierung der subjektiven Folgewirkungen sozialer Machtverhältnisse nicht in einem eindimensionalen Täter-OpferDiskurs, sondern ihr ist immer auch ein Moment von Subversion und Widerständigkeit beigegeben. Indem das Tanztheater die Krise des Subjekts in der Spätmoderne, die sich in Individualisierung und sozialer Isolierung zeigt, am Körper in Szene setzt und mit dem alltäglichen Körper, seinen Gesten, Mimiken und Bewegungen zu spielen beginnt, wird es wegweisend für einen Richtungswechsel im Theater. Es war neben der Performance-Kunst vor allem das Tanztheater, das dem Schauspiel neue Impulse geben sollte. Entscheidend dafür war nicht nur die ausgefeilte und virtuose Arbeit mit Alltagsbewegungen, die mit Hilfe moderner Tanztechniken übersetzt wurden, sondern auch die Übertragung theatraler Konzepte und dramaturgischer Verfahren auf die Choreografie: Das epische Theater Bertolt Brechts mit den Methoden der Verfremdung und der Montage sowie Aufführungsformate wie die Collageπ standen Pate für ein neues Komposition theatral ausgerichtetes Choreografiekonzept, das an das Tanz- –› Verfahren theaterkonzept des Tänzers, Choreografen und Laban-Schülers Kurt Jooss anknüpfen konnte. Anders als das Handlungsballett ist dies erzählend und nicht handelnd ausgerichtet, es setzt den Menschen und seine Empfindungen weder als bekannt voraus, noch beschreibt es sie als unveränderlich, sondern als veränderbar und veränderungswürdig und macht gerade das Prozesshafte des Subjekts zum Gegenstand der Choreografie. Verbunden mit den neuen Aufführungsformaten ist ein verändertes Raumkonzept, das den perspektivischen Raum zugunsten eines multizentrischen Raumkonzepts, bei dem Mehreres gleichzeitig passieren kann, ersetzt sowie eine veränderte Dramaturgie, die sich nicht mehr einem linearen Komposition Handlungsverlauf verpflichtet fühlt und andere Kompositions–› Tools technikenπ verwendet.

40 Gabriele Klein: Essay Konzepttanz Der Sozialhistoriker Michel Foucault hat in dem von ihm bereits 1966 verkündeten Ende des Subjekts die Chance gesehen, die »Leere des verschwundenen Menschen denken«22 zu können. Dieser Forderung kommt der künstlerische Tanz seit den 1990er Jahren nach, indem er das Verschwinden des tanzenden Subjekts inszeniert. Damit hat der Konzepttanz den bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzenden Prozess des Reflexivwerdens radikalisiert. Tanz als ein physisches, sichtbares performatives Ereignis des Körpers verschwindet zunehmend von der Bühne. Tanz, bislang verstanden als ein Medium der Präsenz, wird unsichtbar. Lange Zeit als flüchtiges Medium, als Augenblickskunst mythologisiert, reflektiert der Tanz nunmehr das Spiel von An- und Abwesenheit, Darstellung und Wahrnehmung, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Es ist vor allem der sogenannte Konzepttanz, zu dessen Vertreter/innen Choreograf/innen wie Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Eszter Salamon, Boris Charmatz, Thomas Lehmen, Jochen Roller gezählt werden (aber sich zum Teil nicht selbst zählen), der die Selbstreflexivität des Mediums zum ästhetischen Konzept erklärt. Bereits in den 1960er Jahren hatte sich die Konzeptkunst als eine Stilrichtung der Bildenden Kunst etabliert, die die Sichtbarkeit, das Grundprinzip der Bildenden Kunst, in Frage stellte. Zugleich hatte die Judson-Church-Bewegung konzeptionelle Ansätze gesucht und entwickelt. Wie Konzeptkunst die Idee vor die Präsentation und das Konzept vor das Werk stellte und der postmoderne Tanz das Verhältnis von Tanz und Choreografie, Akteuren und Zuschauern in Frage stellt, rückt im Konzepttanz an die Stelle des performativen Akts des Tanzens, an die Stelle der Ausführung der Bewegung, die Reflexion der Choreografie. Die performative Übersetzung erfolgt nicht mehr allein durch die tanzenden Körper sondern als intermediales Spiel. Zwangsläufig wird so die bislang unauflösliche Verbindung der Choreografie mit tänzerischer Bewegung und dem tanzenden Subjekt aufgehoben. In den Vordergrund rücken Themen wie das Spiel mit den Konstruktionsmechanismen von Subjektivität und Identität sowie der Präsenz und Repräsentanz.

41 Konzepttanz radikalisiert den Prozess des Reflexivwerdens des Tanzes auf der Ebene der Choreografie. Er intendiert nicht, Tanz als Konzept auf Kosten eines performativen Körperereignisses zu verstehen. Konzepttanz thematisiert eine Trennung von Konzept und Werk, Choreografie und Tanz, Repräsentation und Aufführung, Tänzer und Tanz. Vergleichbar mit dem theatergeschichtlichen Umbruch des frühen 20. Jahrhunderts, als Theateraufführungen von der Interpretation des dramatischen Textes unabhängig wurden und sich das neue Paradigma des Regietheaters bildete, entsteht Choreografie immer unabhängiger vom Tanzen. Dies provoziert eine Transformation der Wahrnehmung: Die Wahrnehmung des Tanzes als ein Körperereignis tritt in den Hintergrund zugunsten der Reflexion der konzeptionellen Thematik des Stückes, die wiederum auf die eigene Erfahrung und das Wissen der Zuschauer verweist. Der Zuschauer wird nun nicht mehr eingeladen, sich in das Stück einzufühlen, sondern aufgefordert, aktiv zu sein, an dem Prozess zu partizipieren. Um die Aufführung zu lesen, muss er fähig sein, die Rahmungen des Stücks zu erkennen und die eigenen Sehgewohnheiten zu reflektieren. Die Unabgeschlossenheit der Stücke provoziert eine Auflösung der traditionellen Grenzen zwischen Kunstproduktion und Kunstrezeption. Mit ihr wird auch die Rolle der Zuschauenden erneut in Frage gestellt, wenn Choreografien einen offenen Raum schaffen, in dem sie die Bewegungen der Performer, das Bühnensetting, Licht, Videobilder, Musik und Sounds und das Publikum zusammenführen. Die 1990er bringen in die Tanzgeschichte die Erkenntnis ein, dass die Zuschauenden Ko-Produzenten der Choreografie sind, schon allein indem sie, wie Jérôme Bel sagt, »Ruhe« erzeugen, wenn ihre Körper zusammen eine ruhige Spannung produzieren, oder wenn sie auf die Performance mit Sound (re)agieren. 23 Zeitgenössische Choreografie zu Beginn des 21. Jahrhunderts Die Wende der Choreografie zu jenem Abschnitt der Tanzgeschichte, der bei Abfassung dieses Essays als zeitgenössisch gilt, wird historisch relevant in dem Moment, in dem das postmoderne Spiel mit Tanzfiguren und Bewegungsmaterial, das

42 Gabriele Klein: Essay noch die 1980er prägte, nicht mehr genügt, um eine konzeptionelle Basis für choreografische Produktion und Praxis bereitzustellen. Stattdessen hat der Konzepttanz einen Prozess initiiert, der choreografische Praxis als Forschungspraxis, diese als eine kollaborative Form und diese wiederum mitunter als eine kritische gesellschaftliche Praxis verstehen will. Choreografie als Forschung Mit dem Konzepttanz rücken seit den 1990er Jahren Tanz und Choreografie in die Nähe von Theorie und Forschung, denen bis dahin von Seiten des Tanzes eher Widerstand entgegengebracht wurde. Theorie wird ein wichtiger Bestandteil choreografischer Praxis und im zeitgenössischen Tanz ein wichtiges Tool, um eine zeitgenössische choreografische Ästhetik von Konzepten des Modernen Tanzes zu unterscheiden. Seitdem vollzieht sich eine Diskursivierung von Tanz und Choreografie, die in der ästhetischen Praxis zunehmend auf aktuelle Diskurse der (politischen) Philosophie, der Theater- oder Sprachtheorie, der Sozial- und Kulturtheorie Bezug nehmen. Damit einher geht ein Wechsel in den Arbeitsweisen und Strategien choreografischer Produktion. Der choreografische Prozess wird zunehmend als Recherche- und Forschungsprozess verstanden und dies Dramaturgie nicht nur in Bezug auf die Themenfindung π, sondern auch im Hinblick auf die Entwicklung von Trainingsverfahren, die Generierung und Komposition von Bewegungsmaterial und die Formen der Zusammenarbeit π, die selbst als experimenteller Prozess verstanden werden. Die Forschungsperspektive auf Choreografie provoziert eine Befragung der traditionellen Rollenverteilung von Tänzer/in, Dramaturg/in oder Choreograf/in sowie deren gesellschaftlichen Status als Künstler/innen. Choreografie als kollaboratives Zusammenspiel Neue Medientechnologien haben Eingang in die zeitgenössische Choreografie gefunden und das Konzept sowie die Wahrnehmung von Choreografie verändert. In der zeitgenössischen Choreografie ist das Medium der Choreografie nicht mehr allein der tanzende Körper. Choreografie erscheint zwar nach wie vor

43 als Ordnung von Bewegung in Zeit und Raum. Bewegung erfolgt jedoch nicht zwangsläufig nur über die Körperbewegungen von Menschen, sondern auch über das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Aktanten. Die Auseinandersetzung mit medialen Techniken und digitalen Verfahren stellt die Frage, wie Choreografie anders als über den Tanzkörper umgesetzt werden kann. Choreografie wird nunmehr nicht allein als eine Bewegung der menschlichen Körper in Raum und Zeit verstanden, sondern als eine Ansammlung und Organisation von heterogenen Materialien konzipiert, als eine inter mediale Anordnung von Körpern, Sprache, Texten, Bildern, Licht, Sound und Objekten. Sie wird zu einem Dispositiv der Bühne, zu einem Score des Performens, das aus verschiedenen Bewegungsaktivitäten besteht: aus Körperbewegungen, sich bewegenden Bildern, aus variierenden Klängen, beweglichen Objekten, wechselnden Lichtstrahlen. Dieses intermediale Zusammenspielπ provoziert, Komposition neue Formen der Wahrnehmung jenseits der klassischen Di- –› Intermediale chotomie von Subjekt und Objekt zu erproben. Und es erlaubt Komposition veränderte Verfahren der Reflexion von Choreografie, die sich Komposition im Spannungsfeld von Repertoire und Reenactmentπ, von digitalem Archiv und körperlicher Erinnerung bewegen, beispiels- –› Verfahren weise digitalisierte, interaktive choreografische Partituren wie »Synchronous Objects« von William Forsythe oder sein auf mehrere Jahre angelegtes choreografisches Forschungsprojekt »Motion Bank« (2010 – 2013). Insofern thematisiert Choreografie auch einen Wechsel von subjektiver, intentionaler Choreografie zu einer transaktionalen Theorie des kollaborativen Zusammenspiels. Choreografie und Dramaturgie Mit der Befragung der epistemologischen Grundlagen des Tanzes und der Choreografie und der Aufmerksamkeit auf kollaborative Prozesse hat Dramaturgie in der zeitgenössischen Choreografie an Bedeutung gewonnen. Spielte Dramaturgie im Theater seit der Hamburgischen Dramaturgie Lessings (1767) 24 eine zentrale Rolle, die sich von der klassischen oder textbezogenen Dramaturgie über die Produktionsdramaturgie Brechts mit neuen Theaterformen seit den 1960er Jahren zur visuellen Drama-

44 Gabriele Klein: Essay turgie wandelt, bei welcher der vorgeschriebene Text nicht mehr Referenzpunkt ist, wird im Tanz Dramaturgie erst in diesem historischen Moment bedeutsam, in einer Zeit also, in der bisherige Gewissheiten über Tanz und Choreografie erneut in Frage stehen. Bereits Vertreter des Tanztheaters wie Kresnik oder Bausch arbeiten in den 1980ern mit Dramaturgen zusammen. Seit den 1990er Jahren aber ändert sich mit der FoDramaturgie kussierung auf den Prozess die Rolle der Dramaturgieπ und Mitwirkende der Dramaturg/innen.π In der zeitgenössischen Tanzdramaturgie geht es weniger darum, die Sinnhaftigkeit von Szenen und Handlungen zu hinterfragen und die Strukturen von Bedeutungen freizulegen, sondern darum, den Arbeitsprozess selbst, die Methoden des Produzierens und die Produktionsbedingungen zu reflektieren. Damit wird die experimentelle Praxis des choreografischen Prozesses selbst als ein politischer Vorgang beschrieben. Mit der Fokussierung auf den Arbeitsprozess ist die Abkehr von einem dramaturgischen Konzept verbunden, das Kausalität, Linearität und psychologische Charaktere fokussiert und von der einen Bedeutung ausgeht, deren Klarheit die Voraussetzung der Kommunikation mit dem Publikum darstellt. Entsprechend der Auffassung, dass Bedeutung nicht empfangen und dekodiert, sondern von den Zuschauern produziert wird, verlagert sich der Fokus der dramaturgischen Fragestellung auf die Frage, wie dem Zuschauer verschiedene Wahrnehmungsweisen eröffnet werden können. Mit diesen Veränderungen zu einer »Emanzipation« des Zuschauers und zu einer Re-Politisierung des Blicks und der Wahrnehmung werden Dramaturg/innen selbst zu einem wichtigen Akteur im künstlerischen Prozess. Sie steuern nicht mehr vornehmlich den »Blick des Außen« bei und gelten nicht mehr als diejenigen, die eine vermeintliche Intention der Bewegung oder choreografischen Ordnung sichtbar machen oder die Choreografie in einen sozialen oder politischen Kontext stellen. Die dramaturgische Arbeit konzentriert sich nicht mehr darauf sichtbar zu machen, was die Choreografie sagt, sondern was sie macht. Damit ist die Grenze zwischen dramaturgischer Arbeit und choreografischer Arbeit durchlässig geworden. Zeitgenös-

45 sische Dramaturgie lässt sich derzeit als ein bestimmter Blickwinkel auf Choreografie beschreiben, der nicht mehr zwangsläufig an einen Dramaturgen oder eine Dramaturgin gebunden ist. Choreografische Praxis als künstlerischer Prozess Die Reflexion von Choreografie als Ordnung von Bewegung in Raum und Zeit zeigt sich in neuen Techniken, Verfahren und Aufführungsformaten: Der Prozess des künstlerischen Schaffens wird, beispielsweise als Lecture-Performance, auf der Bühne präsentiert; der Unterschied zwischen Tanz-Performance und performativer Installation ist dabei mitunter nicht mehr deutlich auszumachen.π Die theatrale Situation wird durch BühnenAufführung settings, kompositorische Entscheidungen, Themenauswahl –› Aufführungsoder dramaturgische Strategien selbst zum Thema gemacht. Das formate sprachphilosophisch geleitete Verfahren der Dekonstruktionπ Komposition und das postmoderne Spiel aller möglichen Kombinationen von –› Verfahren Versatzstücken ohne Verweis auf ihren Referenzrahmen werden zu zentralen choreografischen Verfahren. Die künstlerische Arbeit besteht in einem Re-Formulieren und Neu-Positionieren von Produktions- und Arbeitsweisen. Die Aufführung erscheint in Form von Echtzeit-Kompositionen selbst als Durchführung und zugleich Vorführung künstlerischer Produktionsweisen, die wiederum bestimmte Formen der aktiven Beteiligung und Aufführung Partizipation der Zuschauer erlauben.π Zeitgenössische Choreografie reflektiert derzeit historische –› Publikum Konzepte von Choreografie, indem sie ein Verständnis von Choreografie als essenzieller poetischer Geste in Frage stellt, indem sie in ihren Arbeitsweisen und Aufführungsformaten historische Konzepte und Praktiken der Avantgarde befragt und indem sie mit offenen Konzepten, konzeptionellen Arbeiten und kollaborativen Prozessen das Verhältnis von Kunst und Leben (erneut) zum Thema macht und Perspektiven für ein interdisziplinäres Arbeiten und künstlerisches Forschen aufzeigt. Choreografische Praxis ist damit zu einem Experimentierfeld geworden, das Fragen nach dem gesellschaftlichen Ort der Kunst stellt und zugleich neue experimentelle soziale und

46 Gabriele Klein: Essay kulturelle Praktiken initiiert, exemplifiziert und verleiblicht. »Choreografie heute thematisiert den Wandel vom Tanz zu dem, was um Tanz herum ist«, fasst Jérôme Bel den aktuellen Status zusammen, »das Leben von Tänzern, die Zuschauer, die Geschichte des Tanzes, die Rolle des Autors, Tanz als Kultur und Interkultur, die Regeln des Tanzes und der Choreografie.« 25 Choreografische Praxis als gesellschaftliche Praxis Steht zeitgenössische choreografische Praxis auf der einen Seite in der Tradition der Arbeitsweisen der historischen Avantgarde, so sind ihre Praktiken auf der anderen Seite eng mit den aktuellen Produktionsverhältnissen verknüpft. 26 Wenn die choreografische Praxis seit den 1990ern Arbeitsweisen thematisiert und reflektiert, Formen der Zusammenarbeit erprobt, das Feld des Tanzes in Frage stellt und den Begriff der Choreografie hinterfragt, dann ist dies auch vor dem Hintergrund der Transformationen des gesellschaftlichen Arbeits- und Produktionsbegriffs lesbar. Mit dem Übergang zur modernen Gesellschaft, zur industriellen Produktion und Technik und zu den Produktionsverhältnissen und Produktionsbildern des Fordismus war die unaufhaltsame, endlose, sich permanent beschleunigende Bewegung 27 zum Credo des Tanzes erhoben und der Choreografie die Funktion zuerteilt worden, den Rahmen bereitzustellen, um die unkontrollierte Bewegung in eine Ordnung zu bringen. Damit wurde Choreografie in den Kontext geopolitischer und biopolitischer Fragen gestellt: Wer darf und kann mobil sein? Wer kann Mobilität wählen?28 Choreografie erscheint hierbei als die Makroebene der Struktur, während Bewegung die Mikroebene der Handlung darstellt. Das Verhältnis von Choreografie und Tanz bestimmt sich dabei als eine Beziehung zwischen Ordnung und Chaos, Regel und Zufall. Mit dem Postfordismus ändert sich der Begriff der Arbeit, es wandeln sich Produktionstechniken und -verfahren. Arbeit meint im Postfordismus nicht mehr reproduktive Tätigkeiten, die von kreativen Handlungen abgrenzbar sind. Vielmehr sind die einst von Kunst und Wissenschaft repräsentierten Eigen-

47 schaften wie Autonomie, Innovation, Kreativität, Interdisziplinarität oder Kollaboration in den Produktionsprozess eingespeist und prägen diesen, getragen von der sogenannten »kreativen Klasse«. Postfordistische Skills sind die Fähigkeit zum Lernen, zur Reflexion, zur Zusammenarbeit. Entsprechend erscheint Choreografie nicht mehr als eine festgefügte Ordnung, die die Bewegungen unter Kontrolle bringt, als Repressionsinstrument einer »kinetischen Politik der Moderne« 29 , als »mächtiger Festsetzungsapparat«30. Sie wird vielmehr als eine ästhetische Praxis verstanden, als ein performatives und konzeptionelles Werkzeug, um Ordnung selbst, ihre Formen, Strategien und Dynamiken zum Thema zu machen. Choreografie in diesem zeitgenössischen Sinn ist nicht mit Machtstruktur gleichzusetzen. Sie wird eher als eine Praxis angesehen, um Machtordnungen auszuprobieren, zu unterlaufen und eine gouvernementale Politik der Selbstregierung zu reflektieren, die das ehemals bürgerlich- auf klärerische Credo der Selbstbestimmung zu einem ökonomischen Zwang der Selbstregulierung umdefiniert hat. Choreografie wird aus dieser Perspektive als ein Feld der Subjektivierung thematisiert, als ein Ort der Vergesellschaftung, der Eingliederung des Einzelnen in eine soziale Praxis, die von den Zuschauern beglaubigt wird. Zeitgenössische choreografische Praxis thematisiert diese Produktion von Subjektivität, wenn sie mit Verfahren und Formen choreografischer Ordnungen experimentiert. Aus dieser Sicht lässt sich zeitgenössische Choreografie nicht nur als ein Regelwerk lesen, dem Folge zu leisten ist, sondern immer auch als ein Möglichkeitsraum von kollektiven Aktionen und partizipativen Prozessen, der performativ erschlossen wird. Im zeitgenössischen Tanzdiskurs wird Choreografie entsprechend als ein performatives Konzept verstanden, das nicht primär Ordnungen repräsentiert, sondern sie in Aktionen erst hervorbringt, sie sichtbar und erfahrbar macht. Choreografie ist hierbei sowohl als ein performativer Rahmen gedacht, der als Spielordnung Bewegung in Zeit und Raum organisiert. Zugleich wird sie als eine Ordnung der Praxis verstanden, die mögliche Verbindungen von Handlung (als gegenwärtige Praxis) und Struktur (als verfestigte Geschichte) aufzeigen kann. Als ein

48 Gabriele Klein: Essay performatives Konzept leistet Choreografie einen zentralen Beitrag zu einer interdisziplinären und intermedialen Performance-Kunst und findet sich nicht zufällig in verschiedenen performativen Kunstgenres wieder, wie der Per formance Art, Aufführung Live Art, Happening, Site Specific, Installationen.π Zeitgenös–› Aufführungs- sische Choreografie ist aus dieser Perspektive lesbar als speformate zifische Wahrnehmungsweise des Sozialen, als Produktion sozialer Realität und zeitgenössischer Subjektivitäten, als eine Weise der Herstellung temporärer Ordnungen, als ästhetisches und räumliches Denken. Choreografie als kritische Praxis Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem kritischen Potenzial von Choreografie. Zeitgenössische choreografische Konzepte wie künstlerische Forschung, offene Arbeitsprozesse, neue Formen der Zusammenarbeit, z.B. Kollaborationen, Netzwerke oder Kollektive, und Aufführungsformate als Work in Progress sind nicht per se als kritische Praxis anzusehen. Vor dem Hintergrund neuer Ökonomien, gouvernementaler Politiken und kultureller Formationen können sie auch affirmativ zu den Verwertungsinteressen des Kapitals stehen, das die hier entwickelten neuen künstlerischen Praktiken absorbiert und für den kapitalistischen Produktionsprozess verwertet. Wie kann sich Choreografie als eine kritische Praxis31 und kritische Aktion, als eine Form des Widerstands etablieren? Wie kann das künstlerische Schaffen selbst sich als eine Gegenwelt darstellen? Wie kann Choreografie es schaffen, körperliche Bewegung als ästhetische Bewegung zu einer sozialen und politischen Bewegung zu transformieren? Kann Choreografie als Modell für politische Formen von Organisation fungieren? Aus Sicht einer kritischen Sozialtheorie und einer politischen Ästhetik ist choreografische Praxis kritisch dann, wenn sie sich als ästhetische Praxis an Ordnungen, Normen und Konvention reibt, sie unterläuft, widerständig ist – und diese auch verändert. Sie ist politisch dann, wenn sie Normen und Konventionen transformiert, nämlich jene, die immer auch distink tiv sind und ein- und ausschließen. Sie lässt sich als eine politische

49 Praxis verstehen, wenn sie eine kritische Differenz zur »kinetischen Realität der Moderne« 32 herstellt. Dies erfolgt auch über eine kritische Theorie und Praxis des Geschlechts, der Körper (der Tanzkörper und Körperkonzepte), der Klassen und der postkolonialen Politik. Und schließlich ist sie politisch, wenn sie nicht nur funktionale Netzwerke, sondern einen Gemein-Sinn ausbildet. Es ist ein Sinn, der Gemeinschaft nicht als Ziel angibt, sondern in den Praktiken selbst voraussetzt.

50 Gebrauchshinweise

51

Gebrauchshinweise für den Choreografischen Baukasten Wie in der Einleitung ausführlicher beschrieben, ist der Baukasten von der Idee getragen, im Rückgriff auf künstlerische Praktiken von Choreografen handwerkliche Prinzipien zeitgenössischer Choreografie zu präsentieren, ohne einer bestimmten Ästhetik zu folgen oder bestimmte Tanztechniken zugrunde zu legen. Er ist nicht pädagogisch ausgerichtet, enthält also keine pädagogischen Leitideen, didaktischen Hinweise oder methodischen Anleitungen. Er versammelt und systematisiert vielmehr Techniken und Verfahren, die in der zeitgenössischen künstlerischen Praxis wichtig sind und lädt dazu ein, einen künstlerischen Prozess zu gestalten und diesen Prozess als ein offenes, ästhetisch geleitetes, an körperlicher Praxis ausgerichtetes Experimentierfeld des Ästhetischen und Sozialen zu sehen, auch wenn dieser im Vermittlungsbereich, in Kultur- und Bildungsinstitutionen stattfindet. Der Baukasten ist als ein offenes, variabel nutzbares System angelegt. Die einzelnen Modulhefte, deren Bausteine und die dort aufgeführten Tools und Verfahren geben keine Reihenfolge vor, auch in der Buchform nicht, obwohl sie hier nacheinander angeordnet sind. Sie sind entsprechend der choreografischen Erfahrung und des Wissens, des Arbeitsstandes des Projektes, der Zusammensetzung der Beteiligten und den spezifischen Rahmen- und Produktionsbedingungen kombinierbar und variabel einsetzbar – abhängig davon, wie sich Anfang und Verlauf des Arbeitsprozesses gestalten. Für den Anfang eines choreografischen Prozesses kann man zum Beispiel verschiedene Modulhefte heranziehen: Möchte die Gruppe sich erst über die Zusammenarbeit Gedanken machen? Über die Art und Weise, wie Bewegungsmaterial generiert werden soll? Oder darüber, wie man über Spiele ein Thema generieren oder die Form der Zusammenarbeit erforschen kann? Ebenso kann man im Verlauf des choreografischen Prozesses gezielt auf Modulhefte zurückgreifen: Soll für eine Szene Bewegungsmaterial generiert werden? Soll Routine durch Anwendung ungewohnter Tools zur Formgebung unterbrochen werden?

52 Gebrauchshinweise Ist angesichts des erarbeiteten choreografischen Materials eine Klärung der dramaturgischen Fragestellung oder des Kompositionsverfahrens sinnvoll? Der Umgang mit den in den Modulheften aufgeführten Tools und Verfahren sowie deren Kombination können den choreografischen Prozess unterstützen. Dieser hängt aber wesentlich von Aspekten ab, die nicht als »Handwerk« beschreibbar sind und deshalb in dem Baukasten nicht thematisiert werden, wie Kreativität, Intuition, Mut, Risiko, Erfahrung, Wissen, künstlerische Handschrift, aber auch Scheitern, Leere und Ideenlosigkeit. Zum Choreografischen Baukasten gehören: π Modulhefte π ein Essay π Interviews π ein Leporello π Praxiskarten Modulhefte

Auf bau der Modulhefte Fünf Modulhefte versammeln zentrale Arbeitsfelder zeitgenössischer Choreografie: Generierung, Formgebung, Spielweisen, Zusammenarbeit und Komposition. Die Modulhefte geben Anregungen, um choreografisches Material zu entwickeln, zu formen, zusammenzustellen und aufzuführen. In der choreografischen Praxis greifen diese Prozesse in unterschiedlicher Weise und in komplexen Formen ineinander. Aus systematischen Gründen sind die Themen in den Modulheften einzeln behandelt, die Modulhefte zur besseren Übersichtlichkeit farblich gekennzeichnet und in einzelne Bausteine gegliedert. Diese sind folgendermaßen aufgebaut: Nach einer kurzen Einführung in das Thema oder einer kurzen Definition folgen orientierende Fragen (kursiv gedruckt), die einen Raum öffnen sollen für eine eigenständige choreografische Praxis. Es folgen Beispiele, die Anregungen dafür liefern können, wie eine Übertragung in eine choreografische Praxis möglich wäre. Sie sind so formuliert, dass sie direkt in der Praxis anwendbar sind, unabhängig von

53 einer spezifischen Ästhetik, einem Stil oder einer Bewegungsund Tanztechnik. Die Beispiele können als Ausgangspunkt dienen, sie können modifiziert werden, durch die Hinzufügung weiterer Ideen und Arbeitsschritte komplexer gestaltet oder durch Beispiele aus anderen Modulheften ergänzt werden. Inhalte der Modulhefte Das Modulheft Zusammenarbeit thematisiert die Rahmenbedingungen von choreografischen Prozessen, die Aufgaben der Mitwirkenden sowie die Möglichkeiten der künstlerischen Zusammenarbeit. Das Modulheft Generierung bietet Aufgaben, um Bewegungen zu finden und zu entwickeln und gibt Anregungen für intermediale Arbeitsprozesse. Das Modulheft Formgebung thematisiert Techniken und Verfahren zur Ausgestaltung von Bewegungsmaterial zu Bewegungssequenzen sowie zu deren Festlegung. Das Modulheft Spielweisen bündelt Ideen für choreografische Spielformen, die dem Stellenwert von Improvisation und der Echtzeit-Komposition in zeitgenössischer Choreografie Rechnung tragen. Das Modulheft Komposition bündelt Fragestellungen zur dramaturgischen Bearbeitung der Choreografie, gibt Hinweise zur Gestaltung der Aufführung, bietet Techniken und Verfahren für die Zusammenführung des choreografischen Materials. Mit choreografischem Material sind improvisierte oder festgelegte Bewegungen und Bewegungssequenzen gemeint sowie Material, das aus anderen Medien wie Bild, Film, Text, Sprache, Stimme, Klang oder Musik generiert wurde, sowie deren Kombinationen. Praxiskarten

Zum Baukasten gehören 33 Praxiskarten, die über die Verlagswebsite kostenlos heruntergeladen werden können. Die Praxiskarten sind wie der Essay und die Interviews weiß gestaltet und damit als modulübergreifend gekennzeichnet. Sie führen Tools auf, die zur Generierung, Formgebung und Komposition angewendet werden können. Die Praxiskarten laden zur praktischen Umsetzung eigener Ideen ein, ob zur Vorbereitung einer Probe oder eines Unterrichts. Sie können einzeln genutzt oder unterschiedlich zusammengestellt werden. Die Praxiskarten sind

54 Gebrauchshinweise zudem einsetzbar als Spielkarten für einen am Spiel orientierten choreografischen Prozess, ob für die Bewegungsgenerierung, Formgebung oder in Kompositionsphasen. Sie sind als Anregungen zu verstehen, die zur selbstständigen Erweiterung der im Choreografischen Baukasten aufgeführten Tools einladen. Die Praxiskarten können kostenlos über die Verlagswebsite heruntergeladen werden (www.transcript-verlag.de/choreografie). Leporello

Der zum Baukasten gehörende Leporello Bewegungsanalyse führt sechs Bewegungsparameter auf, die helfen, Bewegungsaufgaben zu stellen, Bewegung zu beobachten und zu analysieren. Er ist ebenfalls kostenlos über die Verlagswebsite herunterzuladen (www.transcript-verlag.de/choreografie). Essay und Interviews

Ein Essay zur zeitgenössischen Choreografie skizziert deren historische Genese und aktuelle Diskurse und stellt damit den sozialhistorischen und künstlerischen Rahmen für eine zeitgenössische choreografische Praxis bereit. Zudem sind, thematisch in Bezug auf die Modulhefte gebündelt, Ausschnitte aus Interviews mit Choreograf/innen abgedruckt, die in Zusammenhang mit der Erarbeitung des Choreografischen Baukastens geführt wurden. Die Interviews demonstrieren unterschiedliche ästhetische Positionen und künstlerische Strategien sowie individuelle Sichtweisen auf zeitgenössische Choreografie. Eine Literaturliste führt die für die Erarbeitung des Choreografischen Baukastens verwendeten Quellen auf, liefert einen Überblick über deutsch- und englischsprachige Publikationen zu Choreografie und regt zu vertiefter Lektüre einzelner Themen an. Zeichensystem des Baukastens

Markierungen in den Modulheften Wenn in den Beispielen mehrere Arbeitsschritte aufeinander folgen, wird dies mit einem Pfeil (›) markiert. Sind in den einführenden Erläuterungen oder in den Beispielen mehrere Va-

55 rianten oder unterschiedliche Möglichkeiten aufgelistet, werden diese durch einen senkrechten Strich (|) voneinander getrennt. Links Links ( –› Formen ) verweisen auf andere Modulhefte und die Bausteine, die einen Begriff, ein Thema oder Verfahren näher erläutern, auf den Leporello Bewegungsanalyse oder den Essay. Die Links sind farblich gestaltet, die Farbe kennzeichnet das entsprechende Modulheft. Links auf den Leporello Bewegungsanalyse und den Essay sind weiß hinterlegt. Icons verweist auf die Modulhefte und den Essay. verweist auf den Leporello Bewegungsanalyse Quellenangaben

In den Modulheften sind im Text Fußnoten angegeben. Sie sind dann gesetzt, wenn auf zentrale Literatur hingewiesen wird, die für die jeweilige Passage herangezogen wurde. Zum anderen machen sie aufmerksam auf die Choreografien, die dem dort aufgeführten Beispiel zugrunde liegen oder auf Techniken oder Verfahren, für die ein Künstler steht. Die Quellenangaben – auch zum Essay – finden sich am Ende des Buches vor dem Literaturverzeichnis. Anrede

Die Mitwirkenden des choreografischen Prozesses werden als Teilnehmende, Personen oder Akteure bezeichnet. Da sich die choreografischen Praxisbeispiele in diesem Baukasten analog zur zeitgenössischen choreografischen Praxis nicht im engen Sinn, d.h. im Hinblick auf Stile und Techniken, auf Tanz beziehen, sondern den Begriff Bewegung zugrunde legen, wird der Begriff Tänzer/Tänzerin selten eingesetzt. Um den hegemonialen Geschlechtercode zu unterlaufen, findet ein Wechsel zwischen weiblichen und männlichen Bezeichnungen statt.

56 Modulübersicht WARM-UP

BEWEGUNGEN FINDEN

BEWEGUNGEN ENTWICKELN

60 Vorbereiten

65 Formal

73 Formal

61 Wahrnehmen

68 Bild, Film

74 Bild, Film

70 Text, Schrift, Sprache

75 Text, Schrift, Sprache

71 Musik

77 Musik

Generierung FORM GEBEN

83 84 91

Tools Vervielfältigen Variieren Kontextualisieren

Formgebung

FESTLEGEN & ERINNERN

Tools 96 Wiederholen 96 Akkumulieren 96 Imaginieren 97 Präzisieren 97 Zerlegen 97 98 100 100 101 101 102

Spielweisen

103

SPIELMUSTER

111 Spielregeln 112 Spielzeit 112 Scores 115 Re-Formulieren 116 If/then-Methode

Verfahren Bezüge herstellen Bewegungslogik aufbauen Akkumulieren mit Stopp & Go Laban-Bewegungsanalyse Neun-Punkte-Technik Inventarisierung von Bewegung Aufzeichnen CHOREOGRAFIEREN ALS SPIEL

118 118 121 122

Spielarten kompetitiv mimetisch aleatorisch

124 Spiel als EchtzeitKomposition

57

RAHMEN

FORMEN

MITWIRKENDE

128 Projektidee

139 Hierarchie

144 Choreograf/in

129 Finanzierung

140 Kollektiv

145 Tänzer/in

131 Institutionelle Verankerung

141 Kollaboration

148 Dramaturg/in

142 Netzwerk

151 Komponist/in, Musiker/in

134 Zeitorganisation

Zusammenarbeit

135 Probenraum

DRAMATURGIE

158 Thema 159 Arbeitsweise 165 Aufbau 169 Reflexion

KOMPOSITION

173 173 175 176 180 182 184

Tools Auswählen Vervielfältigen Variieren Kombinieren Gewichten Kontextualisieren

187 187 188 190

Verfahren Verfremdung Dekonstruktion Reenactment & Rekonstruktion 191 Collage / Montage 193 Parameter 193 Zeit | Raum | Akteure 197 Intermediale Komposition

AUFFÜHRUNG

204 Ort 206 Setting 209 Publikum 212 Aufführungsformate

Komposition

58

59

Generierung Dieses Modul versammelt Bewegungsaufgaben und Beispiele, die darauf abzielen, Bewegungsmaterial zu finden und zu entwickeln. Der Baustein Warm-Up bietet Anregungen zur Einstimmung in den choreografischen Prozess und zur Wahrnehmungsschulung. WARM-UP

BEWEGUNGEN FINDEN

BEWEGUNGEN ENTWICKELN

60 Vorbereiten

65 Formal

73 Formal

61 Wahrnehmen

68 Bild, Film

74 Bild, Film

70 Text, Schrift, Sprache

75 Text, Schrift, Sprache

71 Musik

77 Musik

Das Finden und Entwickeln von Bewegungsmaterial kann unterschiedlichen Zwecken dienen: der Materialsammlung | der künstlerischen Forschung | der Integration der Bewegungseigenheiten der Beteiligten in die Choreografie | der Vorbereitung oder der Durchführung einer Echtzeit-Kompositionπ, bei der sich Generierung und Komposition von Bewegungsmaterial zeitgleich vollziehen. Bewegungsgenerierung kann mit vielfältigen Arbeitsweisenπ und auf verschiedenen Wegen erfolgen: Eine Person oder mehrere generieren Bewegungsmaterial unter der Anleitung einer Choreo grafin | Ein Choreograf erarbeitet Bewegungsmaterial und führt es in der Choreografie selbst aus oder überträgt es auf andere Personen | Eine Choreografin findet Bewegungsmaterial für eine andere Person und berücksichtigt deren individuelle Fähigkeiten bei der Bewegungsgenerierung. Das in diesem Modul generierte Bewegungsmaterial kann mit Tools zur Formgebung und Komposition weiter bearbeitet werden.

Choreografieren als Spiel

Dramaturgie

60 Generierung

WARM-UP Das Warm-Up dient der Vorbereitung auf die choreografische Arbeit und steht am Anfang einer Probe. Es kann Aufgaben formulieren, die in die Probenarbeit einführen und während der Probe weiter entwickelt werden | aus wiederkehrenden Übungen bestehen | speziell auf die einzelne Probe zugeschnitten sein | Aufgaben stellen, die bereits entwickeltes Material wieder aufgreifen. Das Warm-up kann erfolgen über Verfahren der Körpersensibilisierung (z.B. Body-Mind-Centering, Developmental Movement, Bartenieff Fundamentals, Alexandertechnik, Feldenkrais-Methode, Yoga, Tai Chi, Pilates) | Tanztechniken (z.B. Limontechnik, Cunningham Technik, Jooss-Leeder-Technik, Contact Improvisation, Skinner-Release-Technik) | Verfahren der Bewegungsorganisation (z.B. Laban Bewegungsanalyse, Inventarisierung von Bewegung, Improvisation Technologies) | Spielweisen | speziell für das choreografische Projekt entwickelte Warm-Up-Verfahren. Welches Warm-Up ist sinnvoll für die anschließende Probe, z.B. eine Fokussierung auf Körpersensibilisierung, ein tanztechnisches Training oder eine Spielweise? – Besteht das Warm-Up ausschließlich aus Bewegungsübungen oder fließen z.B. auch Aufgaben mit Stimme oder im Umgang mit Medien oder Materialien ein? – Soll vorgegebenes Übungsmaterial vorkommen? – Sollen Improvisationsaufgaben zum Warm-Up gehören?

Vorbereiten Kennenlernen Alle Teilnehmenden bewegen sich durch den Raum › Zu zweit nebeneinander her gehen und einander den Namen nennen › Partner wechseln und die Aufgabe wiederholen › Verschiedene Bewegungsaufgaben formulieren, z.B.: Alle Beteiligten, deren Vornamen mit A enden, gehen rückwärts, die anderen vorwärts; oder alle, die kurze Haare haben, gehen in einer Gruppe, ohne einander zu berühren, und sagen sich dabei gegenseitig ihre Namen; oder alle, die lange Haare haben, gehen in einer Gruppe, ohne einander zu berühren, und sagen sich dabei gegenseitig ihre Namen › Weitere Kennzeichen der Gruppenbildung finden und mit Bewegungsaufgaben koppeln.

Warm-Up

61

Aufwecken Alle Beteiligten legen die Fläche der einen Hand auf ihren Solarplexus, den Handrücken der anderen Hand auf ihr Kreuzbein › Alle gehen durch den Raum und versuchen, einem anderen auf die hintere Hand zu klatschen. Körperkontakt Alle Teilnehmerinnen gehen durch den Raum › Ein Körperteil wird genannt › Auf ein Zeichen berühren diejenigen, die gerade nebeneinander gehen, die andere an dem genannten Körperteil und bewegen sich gemeinsam weiter. Stimme Alle Beteiligten gehen durch den Raum › Auf Zuruf ändern sie die Fortbewegungsarten › Bei den unterschiedlichen Fortbewegungsarten probieren die Teilnehmenden einen unterschiedlichen Umgang mit Stimme aus, z.B. das Summen eines Liedes, das Erzählen einer Geschichte, die Begleitung des Bewegungsrhythmus mit der Stimme. Bewegungsparameterπ Abfolge von Improvisationsaufgaben Bewegungsstellen, z.B. zum Kontakt der Füße am Boden (abrollen, gleiten) analyse › zum Wechsel von längenden und nachgebenden Bewegungen des ganzen Körpers (Spannung aufbauen und loslassen) › zum Einsatz verschiedener Körperteile als Bewegungsauslöser (ein Körperteil bestimmen, das als Bewegungsauslöser dient) › zur Koordination von Armen und Beinen (Körperseiten abwechseln) › zum Umgang mit den Raumlevels (hoch und runter kommen) › zur Fortbewegung (auf unterschiedliche Art gehen und rollen).

Wahrnehmen Wahrnehmungsschulung ist Teil des Warm-up und zentral für den gesamten choreografischen Prozess. Sie ermöglicht das sinnengeleitete Erforschen des eigenen Körpers, verstärkt die synästhetische Wahrnehmung des Partners oder der Gruppe, des Raumes oder des Environments, letzteres z.B. bei ortsspezifischen Projekten. Worauf ist die Wahrnehmung gerichtet, z.B. auf die eigenen Bewegungen, auf Partner, auf die Gruppen- oder Raumsituation? Welche Gewichtung ist als Vorbereitung auf die Probe stimmig? – Geht es um taktile, sensorische, motorische oder kognitive Wahrnehmung? – Auf

62 Generierung welche Art und Weise soll die Wahrnehmungssensibilisierung erfolgen, z.B. als Bewegungsübung, als Vorstellungsbild oder Schreibaufgabe? Körperwahrnehmung zielt ab auf Anatomie, Physiologie, Bewegungsapparat, Flüssigkeitssysteme sowie Körperbilder. Anatomie erforschen Anatomische Potenziale praktisch erproben, z.B.: Wie kann sich ein Bein im Sprung-, Knie- und Hüftgelenk beugen und strecken? | Wie verteilt sich das Körpergewicht? Wie verändern sich die Bewegungsmöglichkeiten bei Gewichtsbelastung? Bewegungsmöglichkeiten erproben Über Berührungen mit der Hand an verschiedenen Körperteilen den Körper in Bewegung bringen, z.B. die Hand an das eigene Becken legen und es zur Seite schieben, die Hand an den Kopf legen und diesen seitlich neigen, mit der Hand den Ellenbogen des anderen Armes nach hinten führen. Vorstellungsbilder Sich vorstellen, mit einem Körperteil, z.B. dem Nacken oder den Knien zu sehen und von dort Bewegungen auslösen | Sich vorstellen, ein Ball rollt durch den Körper, diesem Ball in der Bewegung folgen. Bewegungsanalyse

Antriebselemente benennenπ Bezeichnung eines der acht Antriebselemente laut aussprechen und sich entsprechend bewegen, z.B. kraftvoll › Zwei Antriebselemente auswählen, sie laut benennen und sich entsprechend bewegen, z.B. leicht und plötzlich › Antriebselemente wechseln, z.B. leicht und verzögert. Kinästhetische Wahrnehmung Eine Körperhaltung einnehmen und die Wahrnehmung z.B. auf folgende Fragen lenken: Welche Flächen berühren den Boden? Welche Körperteile tragen das Gewicht? Wie ist die Kraft im Körper verteilt, um in der Haltung zu bleiben? Wo ist der Körper in Spannung oder Entspannung?

Warm-Up

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Raumwahrnehmung Erkundung Teilnehmende gehen durch den Raum und achten auf: Lichtverhältnisse im Raum, Farben, Raumgröße, Raumformen, Bodenbeschaffenheit. Kubus Über Neun-Punkte-Technikπ die Raumwahrnehmung schulen. Orientierung Drei Punkte im Raum auswählen › Sich auf einen der Punkte zu bewegen und dafür eine Fortbewegungsart wählen › Bevor man diesen Punkt erreicht hat, einen anderen Punkt wählen und sich dort hinbewegen › Fortbewegungsarten variieren. Partner- und Gruppenwahrnehmung Bewegungsimpulse geben a legt die Hand für einen Moment auf ein Gelenk von b, b löst daraufhin mit diesem Gelenk eine Bewegung aus › a legt die Hand auf ein anderes Gelenk von b und bringt deren Körper dadurch in Bewegung. b lässt sich führen › Partnerwechsel mit Wechsel der Varianten. Führen – Folgen Eine Teilnehmerin legt eine Hand an die Schulter eines Teilnehmers, die andere Hand an dessen Kreuzbein und führt ihn durch den Raum. Der Geführte kann die Augen schließen. Berührungsflächen Partneraufgabe: Beide sind in Bewegung, berühren sich dabei mit verschiedenen Körperteilen ständig und erforschen, wie sich die Kontaktflächen verändern › Neue Wege ausprobieren, wie die Interaktion der Körper sich durch die unterschiedlichen Berührungsflächen verändert. See the difference Die Teilnehmenden gehen durch den Raum › Aufmerksamkeit auf die anderen Personen im Raum lenken › Wahrnehmen, z.B. die verschiedenen Haarfarben oder unterschiedlichen Gangarten › Neben einer Person mit einer ähnlichen Körpergröße, Haarfarbe, Gangart etc. gehen › Neben einer Person mit einer anderen Körpergröße etc. gehen › Gangarten ändern, z.B. laufen, auf allen Vieren.

Festlegen & Erinnern –› Verfahren

64 Generierung Do – listen – go Die Teilnehmenden gehen bzw. laufen im Kreis › Aktion »Richtungswechsel« wird von der Gruppe gemeinsam ohne Zeichen über Wahrnehmung entschieden: Alle Teilnehmenden versuchen möglichst zeitgleich die Richtung zu wechseln › Aktionen »Stopp« und »Go« werden von Einzelnen ausgelöst. Jeder kann diese Aktion zu einer selbst gewählten Zeit durchführen, indem er stehen bleibt bzw. wieder zu laufen beginnt. Wenn einer stehen bleibt, bleiben alle anderen zeitgleich auch stehen, wenn einer wieder läuft, laufen alle mit › Aktion »Sprung« wird von einer Einzelnen ausgelöst. Jeder kann diese Aktion zu einer selbst gewählten Zeit durchführen. Wenn eine der Teilnehmenden springt, springen die anderen ebenfalls, und alle versuchen, zeitgleich zu landen. Dynamic awareness Teilnehmende bewegen sich im Kreis um eine Person › Sie versuchen, die ausweichende Person im Kreis mit einem Softball zu treffen. Gruppen-Raum Durch den Raum gehen, mit einer ausgewählten Person imaginär eine Linie beim Gehen bilden oder zwei Personen auswählen und mit ihnen beim Gehen ein Dreieck bilden | Sich vorstellen, der Boden sei eine bewegliche Platte, die nur an einer Stelle auf einer Nadelspitze aufliegt. Die Gruppe versucht, sich so im Raum zu verteilen, dass die Platte in Balance bleibt. Alle bleiben dabei ständig in Bewegung.

Bewegungen finden

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BEWEGUNGEN FINDEN Die folgenden Improvisationsaufgaben sollen Anregungen geben, wie man mit Hilfe unterschiedlicher Zugänge und Ansätze Bewegungsmaterial entwickeln kann. Tänzerisches Improvisieren ist eine künstlerische Praxis, in der man ohne Vorbereitung etwas herstellt, das unvorhersehbar und unerwartbar ist, und neue, innovative Bewegungsmuster und -figuren, Raumfigurationen, Dynamiken und Rhythmen erzeugen kann. Improvisation schult zudem die Fähigkeit, kreativ und experimentell z.B. mit Bewegungstechniken, Bewegungsparametern und Aufgabenstellungen umzugehen. Improvisationsaufgaben können formal, bildhaft, schrift-, sprach-, oder musikorientiert gestellt sein. Zielt die Materialsuche auf die individuelle oder kollektive Bewegungsfindung? – Werden Aufgaben allen Beteiligten gestellt oder individuell für jeden Teilnehmenden ausgewählt? – Wird ein anderes Medium in Verbindung mit Bewegung eingesetzt? – Wird Improvisation als Verfahren der Materialsuche verwendet oder in einer Echtzeit-Komposition?

Formale Improvisationsaufgaben thematisieren Bewegungsparameter | die Anatomie und Physiologie des Körpers | physikalische Kräfte. Bewegungsparameterπ Körper Die Wirbelsäule wechselweise nach vorne, zur Seite und nach hinten neigen | Bewegungen des rechten Beines und des linken Arms auf unterschiedliche Art und Weise koordinieren. Raum Sich abwechselnd in allen drei Raumlevels (hoch, mittig, tief) bewegen | Fortbewegungen auf Zick-Zack-Linien vollführen. Antrieb Die Arme leicht und wellenförmig bewegen, dies in Fortbewegung umsetzen | Verschiedene Körperteile plötzlich, kraftvoll und direkt bewegen | Andere Verknüpfungen der Antriebsfaktoren Kraft, Raum, Zeit und Bewegungsfluss ausprobieren, z.B. schwungvolle oder »zackige« Armbewegungen.

Bewegungsanalyse

66 Generierung Form Zwischen verschiedenen runden und eckigen Körperformen wechseln | Im unteren Raumlevel Körperskulpturen bilden und diese in Bewegung setzen. Phrasierung 1 Eine Bewegungssequenz in einzelne Phasen gliedern und diese in Beziehung setzen, z.B. a: eine schnelle Fortbewegung plötzlich stoppen, b: langsam zu Boden sinken, c: in gleichbleibendem Tempo über den Boden rollen und in fließendem Übergang aufstehen und stehen bleiben | Eine Bewegung wiederholen, dabei immer schneller werden lassen, die Bewegung stoppen, schnell wieder aufnehmen und dann Form geben immer langsamer werden lassen | Eine Bewegung scratchen.π –› Tools –› Variieren

Phrasierung 2 Fünf Bewegungen aneinanderreihen und unterschiedlich phrasieren: Variante 3 + 2: die ersten drei Bewegungen ohne Unterbrechung tanzen, die Phrasierung ausklingen lassen und dann die vierte und fünfte Bewegung als Abschluss setzen › Version 1 + 4: Erste Bewegung als Auftakt wählen, eine kurze Pause einbauen, dann alle anderen Bewegungen ohne Unterbrechung aneinander reihen › Andere Phrasierungen ausprobieren.

Beziehung: überschreiben1 In einer zuvor festgelegten Reihenfolge wechseln sich die Teilnehmenden ab › Jedes Solo dauert zwei Minuten. Alle anderen schauen zu › Ein Solo nahtlos in das nächste übergehen lassen › Dabei Bezug auf das Material der Spielmuster vorherigen Personen nehmen und es re-formulierenπ: kopieren, –› Scores variieren, weiter entwickeln › Mehrere Durchläufe machen › Daraus eine gemeinsame Bewegungssprache aufbauen als Fundus für die Choreografieentwicklung. Beziehung: objektbezogen Mit einem Stab verschiedene spiralförmige Spuren in den Raum zeichnen | Die Qualität eines Objekts untersuchen, Stein z.B. ist hart: diese Qualität in die Bewegung aufnehmen und dann transformieren | Einen Tanzteppich auf der Bühne nicht nur funktional nutzen, sondern durch Bewegung Funktion verändern, z.B. unter ihn schlüpfen oder ihn wellenförmig in Bewegung bringen.

Bewegungen finden Anatomie und Physiologie Bewegungsradius aus dem Knochen- und Gelenksystem organisieren Verschiedene Wege finden, um vom aufrechten Stand ins Liegen zu kommen und wieder in den aufrechten Stand und dabei die Gelenke in ihrer Beuge-, Streck- und Drehfunktion einsetzen. Writing2 Sich Achsen vorstellen, die durch ein Gelenk gehen, z.B. eine horizontale Achse durch das Kniegelenk. Dann mit einem anderen Körperteil, z.B. einem Arm, Kreise um diese Linie herum zeichnen | Mit einem Körperteil oder Körperorgan Linien in den Raum zeichnen, z.B. mit der Hüfte eine kreisförmige Spur ziehen | Mehrere Linien in den Raum zeichnen und dabei bei jeder Linie das Körperteil wechseln. Körperkontakte Mindestens zwei Personen bleiben mit einem Körperteil immer in Kontakt und bewegen sich gemeinsam: Beide Personen wählen dasselbe Körperteil, z.B.: Beide berühren sich an ihren Fußsohlen, oder sie wählen unterschiedliche Körperteile, z.B.: a berührt mit ihrer linken Handinnenfläche den Kopf von b, b berührt mit ihrem Rücken den rechten Arm von a. Physikalische Kräfte Schwerkraft Einen Arm heben › Den Arm der Schwerkraft nachgebend fallen lassen › Den dadurch entstehenden Schwung nutzen, um den Arm in die Gegenrichtung hoch zu schwingen und dann auspendeln zu lassen › Bewegungsimpuls für den ganzen Körper nutzen › Dem Pendelrhythmus folgend Impulse in andere Körperteile geben. Gewicht a und b stehen mit dem Rücken zueinander › a lässt sich auf den Rücken von b sinken › b übernimmt das Körpergewicht von a, beugt sich dem Gewicht folgend nach vorne und gibt in den Knien nach | a und b stehen Schulter an Schulter. a gibt Gewicht an b ab und umgekehrt › Beide nutzen die gegenseitigen Gewichtsverlagerungen als Bewegungsimpulse. Fliehkraft Das Becken mit schnellen Impulsen seitlich drehen. Die Arme öffnen sich nacheinander der Fliehkraft folgend und

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68 Generierung kreisen um das Becken › Beckendrehung für eine Beinbewegung einsetzen, die mithilfe der Fliehkraft entsteht.

Bild und Film können in der Bewegungsfindung eingesetzt werden als Arbeit mit Vorstellungsbildern sowie mit technischen und künstlerischen Bildern wie Foto, Film, Fernsehbildern, Video, Bildender Kunst oder Neuen Medien. Das Bild- und Filmmaterial kann dabei in Bewegung übertragen werden, ohne dass es (wieder)erkennbar ist oder sein muss. Vorstellungsbilder Körper spiegeln3 Sich vorstellen, im Spiegel den eigenen Körper zu sehen › Mit der Oberfläche eines Körperteils, z.B. dem Ellenbogen, den Umriss einzelner Körperteile oder des ganzen Körpers nachzeichnen | Sich vorstellen, das Spiegelbild des Körpers liegt vor einem auf dem Boden. Mit einem Körperteil, z.B. mit dem Fuß, die Umrisse nachzeichnen | Sich vorstellen, das Spiegelbild befindet sich hinter dem Körper. Mit rückwärtigen Körperflächen die Umrisse nachzeichnen | Mit der Oberfläche eines Körperteils ein Organ nachzeichnen, z.B. mit den Händen, der Rückenfläche des Handgelenks, dem Kopf oder mit der Wange das Volumen des Herzens, die Form der Lunge, die Lage des Darms. Ideokinese Sich vorstellen, die Hüftgelenke sind Bojen, die auf dem Wasser schwimmen. Sich entsprechend leicht und balanciert bewegen | Sich vorstellen, dass das Becken der Schwerkraft folgend zum Boden fällt und dann wie ein Jojo elastisch wieder hoch federt. Dieses Bild als Bewegungsimpuls nutzen. So-tun-als-ob Wie ein kranker alter Mensch gehen | Wie ein Tier auf der Lauer liegen | Sich um ein imaginäres Möbel, z.B. einen Stuhl, bewegen | Mit der Oberfläche eines Körperteils die Form einer imaginären Skulptur nachzeichnen | Sich so bewegen, dass ein vorgestellter Schmetterling auf der Schulter möglichst nicht davon fliegt | Sich über dünnes Eis bewegen, das nicht brechen soll.

Bewegungen finden Bildgeschichte In ein imaginäres dunkles Haus hinein gehen › Das Haus auf verschiedene, ungewöhnliche Arten betreten, z.B. rückwärts durch ein kleines Kellerfenster › Im Haus Objekte finden, die man mit dem Körper ertastet › In mehreren Räumen suchen › Das Haus wieder verlassen. Gegensätze Auf dem Körper einen Punkt wählen › Dazu den am weitesten entfernt liegenden Punkt bestimmen › Zwischen beiden eine imaginäre Linie ziehen › Beide Punkte wie einen Kaugummi zäh ziehend zueinander hin und voneinander weg bewegen › Ein entgegengesetztes Vorstellungsbild wählen, z.B. die Punkte wie eine flackernde Flamme zueinander hin und voneinander weg bewegen. Bild und Film Stadtkarte Stadtplan aufschlagen, einen Straßenverlauf auswählen, z.B. den Weg vom Bahnhof zu einem Krankenhaus › Diesen Weg als Raumweg auf den Boden übertragen › Diesen Raumweg mit verschiedenen Fortbewegungsarten zurücklegen, z.B. rollen, gleiten, hüpfen, rennen, springen. Bildende Kunst Bild auswählen › In Bezug auf Urheber, Kontext, Thema, Kompositionsstruktur und Wirkung analysieren › Die Informationen in die Bewegungsgenerierung einfließen lassen › Aspekte auswählen, die sich für eine Übertragung in Bewegung anbieten, z.B. Bildaufbau, Bildmotiv › Bildwahrnehmung in Antriebsaktionen übertragen. Cadavre Exquis Mehrere Teilnehmerinnen zeichnen mit der Arbeitsweise Re-Formulieren gemeinsam einen Körper; z.B. die erste den Kopf, die zweite Oberkörper und Arme, die dritte den Unterleib, die vierte die Beine, die nächste die Füße › Jede faltet nach ihrer Zeichnung das Papier, lässt nur die Ansätze für den nächsten Körperabschnitt sichtbar und gibt die Zeichnung an die nächste Person weiter › Das entstandene Körperbild anschauen und aus dem Bild Ideen für Bewegungsaufgaben ableiten, z.B.: Wie bewegen sich die einzelnen Körperteile in unterschiedlichen Antriebsaktionen?

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70 Generierung Videoclip Den Bewegungsverlauf eines Videos detailgetreu nachstellen, z.B. Surfer auf einer Welle, die bricht, oder Rapper, der seinen Rap gestisch untermalt › Über den Wechsel von Antriebsaktionen den Verlauf verändern › Ein Detail weglassen, eine Aktion wiederholen oder in umgekehrter Reihenfolge ausführen.

Text, Schrift, Sprache Ausgangsmaterial zur Bewegungsrecherche kann Text sein, z.B. literarische Vorlagen wie Romane, Theaterstücke oder Texte aus dem Alltag wie Beipackzettel von Medikamenten, Gebrauchsanleitungen | Sprache, z.B. Klang, Stimme, Rhythmus der Sprache, Sprachbilder | Schrift, z.B. Schriftarten, Groß- oder Kleinschreibung. Erzählung übertragen Eine Erzählung auswählen › Textfragmente mit performativen Handlungselementen suchen, z.B.: »Er hastete um die Ecke und konnte sich gerade noch in den Schatten zurückziehen, bevor er entdeckt wurde.« › In eine Bewegungsszene übersetzen. Form geben –› Tools –› Vervielfältigen | Variieren

Worte rhythmisierenπ Ein sinnloses Wort, z.B. »Trumbo«, oder einen Satz loopen und rhythmisch variieren › Einen Rhythmus festlegen, diesen Rhythmus als Grundlage für eine Bewegungsimprovisation nutzen. Beeinflussung a bewegt sich langsam am Boden › b benennt Körperteile, z.B. linker Arm › a versucht, ohne den Fluss der Bewegung zu unterbrechen, mit dem genannten Körperteil den Boden nicht zu berühren › b nennt zwei Körperteile gleichzeitig etc. Imaginäres Solo a und b sitzen einander mit geschlossenen Augen gegenüber › a imaginiert eine Bewegungssequenz und beschreibt den Bewegungsverlauf in ca. einer Minute › b setzt die Bewegungssequenz um, a öffnet die Augen und schaut zu. Körperschreiben Ausdrucksstarke Schrift auswählen › Schrift mit verschiedenen Körperteilen im Raum nachzeichnen.

Bewegungen finden

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Musik Zur Generierung von Bewegungsmaterial können alle Musikgenres verwendet werden, z.B. Unterhaltungsmusik, Ernste Musik, Elektronische Musik, Popmusik oder Klänge und Geräusche. Ausgangspunkt für die Generierung von Bewegungsmaterial kann ein Liedtext, eine Partitur, eine Komposition sein. Musik, die bei der Bewegungsentwicklung Verwendung findet, wird nicht zwangsläufig auch in der Aufführung eingesetzt. Musikwahl Musik auswählen: Weckt die Musik Bewegungsideen, löst sie Bilder aus oder liefert sie Ideen für ein Thema?π › Die Bewegungsaufgaben differenzieren, z.B. formale oder bildhafte Improvisationsaufgaben ausprobieren › Welche Aspekte der Musik sind hilfreich für die choreografische Recherche?

Dramaturgie

Musikstrukturen erkunden Musik auswählen: Welche musikalischen Parameter sind besonders prägnant? › Bewegungsaufgaben zu einem oder mehreren musikalischen Parametern formulieren, z.B. Tondauer: Ein Körperteil acht Noten lang bewegen, ein anderes zwei Noten lang › Tonhöhe: Hohe oder tiefe Töne in Bewegung übersetzen, z.B. durch Wechsel der Raumlevelπ Bewegungs› Harmonie: Einen Akkord als Gruppenbewegung umsetzen, in- analyse dem drei verschiedene Töne auf drei verschiedene Akteure verteilt werden, jeder Akteur einen Ton als Bewegungsauslöser nutzt und alle sich gleichzeitig bewegen › Tonstärke / Dynamik: Lautstärken in Muster von Spannung und Entspannung übertragen. Lautstärkenübergänge wie Crescendo und Decrescendo als Geschwindigkeitshinweise nehmen oder Personenzahl steigern bzw. reduzieren › Klangfarbe: Welche Bilder oder Assoziationen löst die Klangfarbe aus? Wie können diese in Bewegung übertragen werden? Klangbilder Welche Bilder ruft Musik hervor? › Die Bilder mithilfe der Bewegungsanalyse auf ihre Antriebsfaktoren überprüfen, z.B. ein Ton wird als ziehend empfunden: ziehen ist verzögert, direkt, kraftvoll › Oder eine Musik löst das Bild eines Wirbelsturms aus: wirbeln ist plötzlich, kreisend, kraftvoll › Jeweils eine Bewegungsaufgabe formulieren und Bewegungsmaterial sammeln.

72 Generierung Rhythmus Stichworte zu Rhythmus sammeln, z.B. gemeinschaftsbildend, Zeit strukturierend, Wiederholung, Differenz, Rhythmusbewegung › Aus Stichworten Bewegungsaufgaben ableiten, z.B. sich als Gruppe ohne Musik bewegen und mit einzelnen Körperteilen, z.B. Füßen oder Händen, einen gemeinsamen Rhythmus etablieren › Die Bewegungsaufgabe umkehren: Wie kann man sich so bewegen, dass die Füße aus dem Rhythmus sind? Die Hälfte der Gruppe versucht, den etablierten Rhythmus zu unterbrechen | Einen gemeinsamen Rhythmus in viele Rhythmen auflösen. Musik im Körper Geräusche, z.B. Kreissäge oder Papierrascheln, einspielen. Welche Körperteile reagieren auf die Ge- räusche? | Unterschiedliche Instrumente wählen. Welche Be- wegungsqualität entsteht beim gezupften Ton einer Harfe oder beim lang gezogenen Ton des Bogens auf einer Geige? Stimuliert ein elektronisch produzierter Ton andere Bewegungen als ein akustisch hergestellter? Bewegung als sichtbare Musik Bewegung ohne Musik entwickeln: Dem Atem-Rhythmus folgen | Dem Herzschlag folgen | Mithilfe von Phrasierung, Rhythmisierung und Akzentuierung den Bewegungsablauf strukturieren. Fingerspiel Das Fingerspiel und die Koordination des Bewegungsflusses der linken und rechten Hand eines Klavierspielers studieren › Diese Koordination auf die linke und rechte Körperhälfte übertragen und sich in unterschiedlichen Rhythmen und Qualitäten bewegen › Wie lässt sich das Koordinationsspiel der Finger eines Klavierspielers auf einzelne Körperteile übertragen? Z.B. sich vorstellen, eine Partitur zu spielen und einzelne Körperteile sind die Tastatur oder bei einem Akkord z.B. gleichzeitig drei verschiedene Körperteile bewegen. Raum Wie gestaltet Bewegung, wie gestaltet Musik Raum? › Begriffe aus der Musik zum Thema Raum sammeln, z.B. Klangraum, Klangvolumen, voller Klang › Begriffe der Bewegung zu Raum sammeln, z.B. Raumwege, Raumdimensionen, RaumKomposition richtungen, Raumebenenπ › Begriffe zueinander in Beziehung –› Parameter setzen: Welches wäre die begriffliche Analogie im Tanz zum Klangraum? Wie lässt sich ein Klangraum in Bewegung übertragen?

Bewegungen entwickeln

BEWEGUNGEN ENTWICKELN An die Bewegungsrecherche anschließende Aufgaben strukturieren die Bewegungsfindung. Mit ihrer Hilfe können einzelne Bewegungen geformt und mit Tools zur Formgebung zu Bewegungssequenzen zusammengestellt werden. Insofern unterscheiden sie sich von Tools und Verfahren zur Komposition, die auf Zusammenführung des choreografischen Materials abzielen. Aufgaben zur Bewegungsentwicklung können formal, bild- und filmartig, schrift-, sprach- oder musikorientiert gestellt sein. Ist das Ziel die Festlegung einer Bewegungssequenz oder geht es um eine improvisierte Zusammenstellung von Bewegungsmaterial? – Geht es um eine intermediale Auseinandersetzung? Welche Funktion über-nimmt ein Medium und in welcher Art und Weise tritt es in Erscheinung? – Worin liegt das künstlerische Interesse, z.B. in der Übertragung von einem Bild, Film, Text, Musikstück in Bewegung oder in der Interaktion und Beziehung der Medien?

Formal Entwickeln Handgesten Eine bestimmte Anzahl von Gesten festlegen › Teilnehmende wählen davon jeweils die Hälfte aus › Jede entwickelt aus der Zusammenführung der einzelnen Gesten eine Bewegungssequenz. Struktur und Situation Geradlinige Raumwege als Vorwärts- oder Rückwärtsbewegung zurücklegen › Richtungswechsel immer rechtwinklig vornehmen › Fallen und wieder aufstehen › Dabei gilt folgende Regel: die Bewegungsaufgaben immer in unterschiedlicher Reihenfolge zusammenstellen. Algorithmisches Vorgehen Drei Mal zwei Aufgaben abwechseln: Aufgabe a: sich über, unter, neben und um einen Stuhl herum bewegen › Aufgabe b: sich zu einem anderen Stuhl begeben › Den Anfang von Aufgabe a mithilfe der Bewegungsparameter jeweils anders gestalten, z.B. verzögern, beschleunigen › Den Orts- wechsel jeweils unterschiedlich gestalten.

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74 Generierung

Bild und Film Schneespuren Sich so durch den Raum bewegen, als würde man im Schnee Fußabdrücke hinterlassen und möchte diese nicht verwischen › Kleine oder große Schritte vorwärts oder rückwärts machen › Drei der Bewegungen auswählen und festlegen › Diese drei Bewegungen aneinanderreihen.

Form geben –› Tools –› Variieren

Abstrakte Formen Auf ein Papier abstrakte Zeichen oder geometrische Formen zeichnen, z.B. Punkte, Linien, Spiralen, Kreise, Vielecke, Pfeile › Die Zeichnungen auf Bewegung übertragen: z.B. mit verschiedenen Körperteilen in die Luft zeichnen, mit Schritten als Bodenlinien gehen, in plastische Körperformen übersetzen › Bewegungen auf ein anderes Körperteil oder in eine andere Raumebene transponieren.π Medienfoto-Tableau Fotos von unterschiedlichen Personen verschiedener Nationalitäten, unterschiedlichen Alters, Geschlechts, etc. aus Zeitschriften ausschneiden › Ihre Körperhaltungen auf den eigenen Körper übertragen › Zu einem Gruppenbild zusammensetzen, durch Bewegungsübergänge zwischen den einzelnen Posen ein bewegtes Gruppenbild erzeugen › Aus der Haltung einer Person eine passende Antriebsaktion ableiten und damit eine Bewegungssequenz entwickeln. Narration Ein Foto einer alltäglichen Situation wählen, z.B. Einkauf im Supermarkt › Sich vorstellen, welche Szene aus dieser Momentaufnahme entstehen könnte › Die Arbeitsweise Re-Formulieren anwenden: Jeder Teilnehmende schreibt eine Szene auf ein Blatt › Das Blatt im Kreis weiter geben. Die Szenen lesen und den weiteren Verlauf dazu schreiben › Diesen Vorgang mehrmals wiederholen › Jeder Teilnehmende nimmt ein Blatt, liest die entstandene Geschichte und formuliert daraus Bewegungsaufgaben › Anhand der Aufgaben Bewegungsmaterial generieren. Kompositionsverfahren des Films4 Einen Kurzfilm auswählen, in dem tanzende Menschen vorkommen › Dramaturgischen Aufbau und Filmtechnik, z.B. Kameraführung, Filmschnitt analysieren: Werden viele Schnitte verwendet? › Die Zeitraster des Films können als Konzept für die Phrasierung und Dynamik der

Bewegungen entwickeln Choreografie genutzt werden › Filmtechnik: Das Prinzip der Rückblende auf die Bewegungssequenz übertragen: mit dem Ende beginnen › Zurückspulen: Die Bewegungssequenz umkehren › Vorspulen: Teile der Bewegungssequenz auslassen › Kameraund Schnitttechnik: Eine festgelegte Bewegungssequenz auswählen › Schnelle Schnitte: Staccato-Bewegungen › Langsame Kameraführung: Bewegungssequenz in Slow Motion › Standbild: Bewegungssequenz »einfrieren« › Das Schneiden auf den Rhythmus und die Bewegungsqualität übertragen › Die Unterschiedlichkeit und Gemeinsamkeit der Medien reflektieren › Welche Hinweise finden sich zum Umgang mit Raum? Wie können sie choreografisch genutzt werden? Zoomen: Bewegungen größer machen › Weitwinkel: Bewegungen kleiner machen. Fotoschnipsel Fotos sammeln, auf denen man mit Anderen zusammen abgelichtet ist › Sich selbst aus den Fotos ausschneiden › Für jeden Fotoschnipsel eine Bewegungssequenz festlegen, z.B. von der Situation oder der Stimmung inspiriert › Die Fotoschnipsel auf dem Boden verteilen › Sich in die Nähe eines Fotoschnipsels begeben und dort die entsprechende Bewegungssequenz tanzen › An einen anderen Platz wechseln und die zugehörige Bewegungssequenz ausführen. Alltagssituationen Jede Beteiligte filmt ca. 30 Sekunden einzelne Bereiche der eigenen Wohnung, wobei ein Körperteil der Filmenden jeweils im Bild erscheinen soll › Die Filmsequenzen aus allen Wohnbereichen zusammen schneiden › Das Körperteil, das im Bild zu sehen ist, als Bewegungsauslöser einsetzen und eine Bewegung entwickeln › Zu jedem Wohnbereich mit dem zugeordneten Körperteil eine Bewegung festlegen › Die Bewegungen zu einer Sequenz aneinanderhängen.

Text, Schrift, Sprache Sprachbild und Bewegung5 Sprachbilder sammeln, z.B.: Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein – Unter einer Decke stecken – Jemandem Honig um den Mund schmieren. Sprachbilder mit Körperempfindungen sammeln, z.B.: Ich koche innerlich – In mir tobt der Bär – Ich stehe unter Strom – Etwas

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76 Generierung liegt mir im Magen › Ein Sprachbild auswählen › Das Sprachbild in Bewegung umsetzen, in Form eines Tableaus oder mithilfe von Objekten. Imaginierter Körperkontakt Unterschiedliche Möglichkeiten des Körperkontakts eines Paares oder einer Gruppe aufschreiben, z.B. wegschieben, führen, abschleppen, drängeln, aneinander abrutschen › Eine zuvor festgelegte Zahl von Körperkontakten auswählen › Diese zu zweit oder als Gruppe in Bewegung übertragen › Einzelne Körperkontakte miteinander zu einer Bewegungssequenz verbinden. Reportage a bewegt sich im Raum › b beschreibt die Bewegungen wie ein Radiomoderator, der das Bewegungsbild über Sprache vermittelt › Bewegungsbeschreibung wird mit einem Aufnahmegerät aufgenommen › Diese Beschreibung wird vorgespielt und erneut in Bewegung umgesetzt.

Form geben –› Tools –› Variieren

Stadt, Land, Fluss a geht leise das Alphabet durch › b sagt stopp › a nennt den Buchstaben, bei dem sie gerade war › b nennt einen Ort und eine Stadt, die mit dem Buchstaben beginnen, z.B. Park, Peking › a und b entwickeln dazu eine Situation, die speziell an diesem Ort stattfindet › Diese in Bewegung umsetzen, abstrahieren und weiter gestalten.π Tätigkeitsworte Eine Kurzgeschichte erfinden, in der viele Bewegungsaktionen vorkommen, und diese aufschreiben › Alle performativen Handlungen heraussuchen und auflisten, z.B. stolpern, aufstehen, hetzen, zucken, sich umdrehen, rufen › Jedes Verb auf eine Karte schreiben › Die Karten in einer beliebigen Reihenfolge nebeneinander legen › Aus der Abfolge der Verben eine Bewegungssequenz festlegen › Die Reihenfolge der Karten ändern und die sich ergebende Bewegungssequenz an die schon Bestehende anhängen.

Wortlisten6 Liste erstellen mit Worten, die z.B. auf »ung« enden, wie Selbstfindung, Gruppierung, Zellatmung › Für jedes Wort eine performative Umsetzung finden › Diese zu einer Komposition Collageπ zusammensetzen. –› Verfahren

Bewegungen entwickeln

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Text dekonstruierenπ Einen kurzen Text auswählen, z.B. die Komposition Zeile eines Gedichts, den letzten Satz des Refrains eines Pop- –› Verfahren Songs › Diesen Text sprechen, dabei einzelne Silben oder Worte wiederholen und dann den Text weiter sprechen › Einen Satzteil loopen und im Tempo variieren und rhythmisieren › Pausen einbauen › Variieren durch steigern: lauter und schneller sprechenπ Form geben › Die Reihenfolge der Worte verändern, z.B. umkehren › Den Text –› Tools akkumulierend sprechen: erst das erste Wort, dann das erste Festlegen & Wort und das zweite, dann die ersten drei etc.π › Daraus eine Textsequenz festlegen › Die Textsequenz auf eine Bewegungs- Erinnern –› Tools sequenz über tragen, z.B. indem einzelne Worte einzelnen Bewegungen zugeordnet werden. Katagraphisches Theater7 Einen Text auswählen › Textstrukturen herausarbeiten und in Bewegungsstrukturen übertragen, z.B. Satzende dadurch kennzeichnen, dass sich alle Akteure auf den Boden legen und wieder aufstehen | Direkte Rede im Text als Duo umsetzen: Zwei Tänzer stellen sich einander gegenüber und führen die Bewegungssequenz im Kanon aus | Erzählung ohne direkte Anrede als Unisono umsetzen: die Bewegungssequenz im Unisono ausführen | Zeilen umsetzen: Raumwege als seitliche Linien von links nach rechts durchführen | Zeilenwechsel übertragen: Raum in Bahnen aufteilen und sich auf diesen bewegen.

Musik Instrument8 Eine Forschungsfrage zur Beziehung von Musik und Tanz formulieren, z.B.: Was bedeutet »Instrument« für den Tänzer? Er hat seinen Körper als Instrument › Unterschiede in Bezug auf den Umgang von Musikern und Tänzern mit ihrem Instrument herausarbeiten › Bewegungsmuster eines Musikers und eines Tänzers untersuchen › Bewegungssequenzen erarbeiten und in Beziehung zueinander setzen. Klassische Partitur übertragen Verschiedene Formen der Musiknotation als Grundlage für die Choreografieentwicklung nutzen und die Musikpartitur in Bewegung umsetzen: Was kann von einem Notenbild in Bewegung übertragen werden: In der

78 Generierung Partitur sind Bewegungen sichtbar, z.B. das Auf und Ab von Tonhöhen. Dafür eine Übertragungsmethode wählen: die Töne zu einer Linie verbinden und diese Linie in den Raum übertragen | Zu musikalischen Begriffen wie »Forte« oder »Piano« Bewegungsmaterial finden, z.B. leise als langsame Bewegung oder am Platz, laut als schnelle und akzentuierte Bewegung mehrerer Körperteile in Fortbewegung. Klangräume erzeugen Gruppenaufgaben: Beim Gehen möglichst wenig Geräusche verursachen › Beim Gehen möglichst viele unterschiedliche Geräusche verursachen, z.B. stampfende, wischende, klopfende, tippende, gleitende, reibende › Durch Bewegung an einer Wand oder anderen Objekten kratzende, rutschende, aufprallende, abprallende Geräusche verursachen › Durch den Körperkontakt zweier Personen Geräusche verursachen › Den Atem durch die Geschwindigkeit der Bewegung lauter oder leiser werden lassen › Die Geräusche, die beim Ausführen der Bewegung entstehen, aufnehmen › Aufnahme einspielen und Bewegungen kontrapunktisch dagegen setzen › Form geben Die generierten Bewegungen abstrahieren und steigern.π –› Tools –› Variieren

Musik – Score – Bewegung9 Eine Musik einspielen › Während des Musikhörens die Musikwahrnehmung als eine ununterbrochene Linie auf ein Papier übertragen › Diese Spielmuster Zeichnung als Bildvorlage im Sinne eines Scoresπ verwenden › Den Score als Raumweg auf den Boden übertragen und sich auf dem Raumweg mit eingespielter Musik und dann ohne die Musik bewegen.

Bewegungen entwickeln

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Formgebung Dieses Modul thematisiert Tools und Verfahren, um Bewegungsmaterial choreografisch zu gestalten. Durch Präzisieren und Formen können Bewegungssequenzen festgelegt, erinnert und wiederholt werden.

FORM GEBEN

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Tools Vervielfältigen Variieren Kontextualisieren

FESTLEGEN & ERINNERN

96 96 96 97 97 97 98 100 100 101 101 102 103

Tools Wiederholen Akkumulieren Imaginieren Präzisieren Zerlegen Verfahren Bezüge herstellen Bewegungslogik aufbauen Akkumulieren mit Stopp & Go Laban-Bewegungsanalyse Neun-Punkte-Technik Inventarisierung von Bewegung Aufzeichnen

82 Formgebung Der Baustein Form geben hat folgende Einsatzmöglichkeiten: Bewegungsmaterial im Prozess des Generierens zu entwickeln | bereits vorhandenes Bewegungsmaterial zu formen | BeweChoreogra- gungsmaterial in einer Echtzeit-Kompositionπ zu generieren fieren als Spiel und zu gestalten | die individuellen Bewegungsmuster der Beteiligten in die Choreografie zu integrieren | Interaktionsaufgaben zur Formgebung zu nutzen. Der Baustein Festlegen & Erinnern stellt Tools und Verfahren vor, die die Festlegung und das Rekapitulieren von Bewegungsmaterial ermöglichen. Das Festlegen kann die vollständige Bewegungsabfolge umfassen und besteht in der Verfeinerung der Bewegungsausführung und im Erwerb der Fähigkeit, diese präzise zu wiederholen.

Komposition

Das festgelegte Material kann mit Kompositions-Tools und -verfahren zusammengestellt werden.

Form geben

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FORM GEBEN In diesem Baustein sind Tools zur Formgebung von Bewegung Komposition versammelt. Sie können eingesetzt werden im Prozess des Gene- –› Tools rierens oder zur Formung von bereits vorhandenem Bewegungsmaterial. Verfahren der Formgebung implizieren ästhetische Entscheidungen. Die einzelnen Tools sind unter den Oberbegriffen aufgelistet: Vervielfältigen | Variieren | Kontextualisieren.

Vervielfältigen Hierunter werden unterschiedliche Techniken zur Multiplizierung von Bewegungsmaterial verstanden. Vervielfältigen kann auf verschiedene Weisen erfolgen: Kopieren | Spiegeln | Wiederholen | Loopen. Kopieren bezeichnet das Übernehmen von Bewegungsmaterial durch eine andere Person. Es kann eingesetzt werden, um Bewegungsmaterial mehreren Teilnehmenden zu vermitteln oder es festzulegen und erinnerbar zu machen. Kopieren der Bewegungssequenz eines Partners Eine kurze Bewegungssequenz mit verschiedenen Elementen (z.B. Sprung, Drehung ) festlegen › Die Bewegungsparameter in Bezug auf Körper, Raum, Antrieb, Form, Phrasierung präzisierenπ › Partner suchen und die Bewegungssequenz des anderen kopieren. Interferentes Kopieren Beim Kopieren der Bewegungssequenz der Partner nicht auf Genauigkeit der Kopie achten, sondern lediglich die prägnanten Prinzipien oder Aspekte übernehmen: Alle Beteiligten gehen durch den Raum › Eine Person nennt den Namen einer anderen, z.B. a › a zeigt eine Bewegung und vervielfältigt diese › Die anderen Teilnehmenden kopieren die Bewegung und vervielfältigen sie › a nennt den Namen einer anderen Person etc. › Wenn die Gruppe diese Übung kennt, kann eine Person spontan eine Bewegung zeigen und vervielfältigen.

Bewegungsanalyse

84 Formgebung Spiegeln bezeichnet das seitenverkehrte Transponieren einer Bewegung oder Bewegungssequenz.

Bewegungsanalyse

Narziss Zwei Personen bewegen sich voreinander › A gibt die Bewegung vor, B spiegelt sie › A integriert verschiedene Antriebsaktionenπ in die Bewegungssequenz. Drehung Eine Drehung nach rechts und nach links ausführen | Zwei Gruppen bilden › In der ersten Gruppe stehen sich die Teilnehmenden seitlich versetzt gegenüber und spiegeln einander gleichzeitig › Die zweite Gruppe setzt zeitversetzt im Kanon ein. Wiederholen bezeichnet den Vorgang, wenn eine Bewegung oder Bewegungssequenz von derselben Person mehr als einmal ausgeführt wird. Dies kann direkt unmittelbar hintereinander oder nach einer Unterbrechung zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Verkehrt herum Eine zuvor aufrecht ausgeführte Bewegungssequenz auf dem Boden liegend wiederholen. Um die Ecke Eine Bewegungssequenz, die im vorderen Teil des Raumes getanzt wurde, im hinteren Teil wiederholen. Loopen bezeichnet die Wiederholung einer Bewegung oder Bewegungssequenz ohne Unterbrechung, so dass Anfang und Ende fließend ineinander übergehen. Loopen kann durch vollständiges oder interferentes Kopieren erfolgen. Get up Die Teilnehmenden denken sich eine Bewegungssequenz aus, die vom Boden in den Stand und wieder zum Boden führt › Die Bewegungssequenz wird ohne Unterbrechung mehrmals wiederholt › Der Ablauf wird präzisiert.

Variieren Unter Variieren werden Techniken zur Veränderung von vorhandenem Bewegungsmaterial gefasst. Als Techniken des Variierens sind in diesem Modulheft aufgeführt: Bewegungsparameter variieren | Umkehren | Scratchen | Limitieren | Entfernen | Steigern | Transponieren | Abstrahieren | Blickrichtung gestalten.

Form geben

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Bewegungsparameter variierenπ

Bewegungsanalyse

Körper Einen Nachstellschritt einmal mit paralleler Beinstellung und einmal mit auswärts rotierter Beinstellung ausführen | Einen Ausfallschritt einmal mit aufrechtem Oberkörper ausführen und einmal mit Oberkörperneigung und Armbegleitung | Eine Gewichtsverlagerung einmal vom Fuß aus einleiten und einmal vom Becken. Raum Mit einem Körperteil eine geometrische Form oder eine Zahl in den Raum zeichnen, dabei verschiedene Größen wählen | Die Raumrichtung einer Bewegung, z.B. beim Pendeln eines Armes, verändern. BewegungsAntrieb Bei einer Bewegungssequenz die Antriebselemente analyse ändern, z.B. zwischen verzögert und plötzlich, kraftvoll und leicht, direkt und indirekt | Vom Stand zum Boden gleiten und die Bewegung ununterbrochen ausführen ohne Stopp | Vom Stand zum Boden gehen mit einem Stopp auf dem mittleren Raumlevel und einem am Boden.

Zeit Eine Bewegungssequenz loopen und immer schneller werden lassen | Einen Arm zur Seite pendeln mit Blick nach vorn › Mit dem Blick der Bewegung des Armes folgen und die Armbewegung verzögern | Im Wechsel: Vier Schritte langsam gehen, drei schnell, zwei langsam, einen schnell | Einen Zug in letzter Minute erreichen wollen | Durch den Raum gehen › Wenn einer der Teilnehmenden stehen bleibt, bleiben möglichst zeitgleich alle stehen › Wenn einer wieder los geht, gehen alle wieder. Form Verschiedene Haltungen einnehmen, die unterschiedlichen Sitzmöglichkeiten entsprechen, z.B. Sessel, Stuhl, kleiner Hocker › Diese Varianten des Sitzens zu einer Bewegungssequenz miteinander verbinden. Phrasierung Verschiedene Bewegungsbilder entwickeln zu den Themen: es eilig haben, bummeln, stolzieren, schlurfen › Bewegungsbilder zu einer Bewegungssequenz aneinander reihen. Rhythmus Durch den Raum gehen › A klatscht einen Rhythmus mit den Händen › Alle Teilnehmerinnen übernehmen den Klatsch-

86 Formgebung rhythmus › Das Gehen dem Rhythmus des Klatschens anpassen › Neuen Rhythmus klatschen. Rap Einen Satz (z.B. Dada-Gedicht, Rap) rhythmisch sprechen, die Bewegung an den Sprechrhythmus anpassen › Die Bewegungssequenz ohne Sprechen ausführen. Pause I: Rhythmus Im 4/4 Takt gehen. Dabei auf 1, 2, 3 jeweils einen Schritt gehen und auf 4 eine Pause machen › Auf 1, 2 jeweils einen Schritt gehen und auf 3, 4 eine Pause machen › Auf 1 einen Schritt gehen und auf 2, 3, 4 eine Pause machen. Pause II: Unterbrechung Zwei Personen führen eine Bewegungssequenz gleichzeitig aus › Beim Wiederholen baut jede Person an unterschiedlichen Stellen Pausen unterschiedlicher Dauer ein. Pause III: Gewahrwerden Durch den Raum laufen › Das Tempo steigern › Auf ein Zeichen bleiben alle in einem Still › Die Dauer der Pose proportional zur Dauer des Rennens setzen, sodass die vorherige Bewegung nachklingen kann. Beziehung Zwei Teilnehmende sind jeweils durch ein Körperteil miteinander in Kontakt › Die Bewegungssequenz entwickelt sich durch den Druck und Gegendruck beider Berührungspunkte › Die Bewegungssequenz staccato und legato ausführen. Umkehren bezeichnet die Wiederholung einer Bewegung oder Bewegungssequenz verbunden mit einem Richtungswechsel im Raum oder in der Abfolge. Zurück Eine Bewegungssequenz wählen. Diese zeitlich »rückwärts« tanzen | Eine Bewegungssequenz auf einer gewählten Linie durch den Raum festlegen. Diese beschleunigen und beim Umkehren verlangsamen | In einem Duo tanzt eine Person die Bewegungssequenz vorwärts, die andere rückwärts › Diese Se¯ quenzen jeweils unterschiedlich beschleunigen und verlangsamen. Scratchen wird in der Popmusik verstanden als das manuelle rhythmische Hin- und Herbewegen der Schallplatte auf dem

Form geben Plattenteller und bezeichnet in der körperlichen Bewegung eine Verbindung von Loopen, Umkehren und Fragmentieren. Vor-rück1 Eine Bewegung festlegen (also »vorwärts« ausführen) › Diese in der Abfolge und räumlich »rückwärts« ausführen › Diese Hin-und-Her-Bewegung loopen › Die Tempi verändern. Limitieren bezeichnet das Einschränken einer Bewegung oder Bewegungssequenz im Hinblick auf die Bewegungsparameter Körper, Raum, Antrieb, Form, Phrasierung und Beziehung. Limitieren des Raums Eine Bewegungsabfolge für vier Personen auf einer großen Fläche festlegen › Diese Abfolge auf eine wesentlich kleinere Fläche übertragen › Entsprechend das Material räumlich kleiner ausführen. Limitieren der Körperteile Einen großen Armkreis mit Oberkörperneigung auf das Kreisen eines Fingers reduzieren | Bewegungssequenz festlegen, in der immer mehrere Körperteile – außer den Füßen – den Boden berühren | Bewegungssequenz entwickeln, um vom unteren Raumlevel in den mittleren zu kommen und wieder in den unteren, ohne Unterstützung der Arme. Immer an der Wand lang Jede Person führt eine vorhandene Bewegungssequenz aus, indem sie ganz nah an der Wand steht oder sich an einer Wand entlang bewegt. Zeit durch Stoppuhr limitieren a hält mit einer Stoppuhr die Dauer der Bewegungssequenz von b fest › a führt eine Bewegungssequenz in der gleichen Zeitdauer wie b aus › b sagt »Stopp«, wenn die Zeit um ist › Mehrmaliges Wechseln. Entfernen bezeichnet das Herausnehmen von choreografischem Material, z.B. einzelnen Bewegungen oder Objekten. Phantom Ein Duo mit Körperkontakt auf ein Solo reduzieren: Das gleiche Bewegungsmaterial allein tanzen und sich den Partner vorstellen › Notwendige Bewegungsveränderungen vornehmen und mit dem Formgebungs-Tool Abstrahieren weiter gestalten.

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88 Formgebung Ballspiel Die Teilnehmenden spielen mit einem Ball › Der Ball wird aus dem Spiel genommen und das Spiel mit einem imaginären Ball weitergespielt. Brücke Eine Bewegungssequenz mit Sprung festlegen › Den Sprung entfernen › Die Sprungvorbereitung und das Landen tanzen. Prêt-à-porter Ein Kleidungsstück an- und ausziehen › Den Bewegungsablauf ohne Kleidung wiederholen.

Bewegungsanalyse

Steigern bezeichnet die Intensivierung einer Bewegung oder Bewegungssequenz im Hinblick auf: einzelne oder mehrere Bewegungsparameter | die Interpretation der Bewegung | die Formqualität.π Körper Eine Armbewegung steigern durch sukzessives Hinzunehmen anderer Körperteile, z.B. durch eine Rumpf- und Beinbewegung und Gewichtsverlagerung. Zeit Eine Bewegung loopen und im Accelerando verändern. Durch das schneller werdende Tempo die Bewegung verfremden bis sie absurd oder komisch wird. Antrieb Die Energie verdichten durch immer spannungsgeladenere Bewegungsausführung. Eine akzentuierte Armbewegung zum Körperzentrum über eine lange Dauer loopen und rhythmisch variieren, bis sie verzweifelt wirkt. Raum Eine kleine Bewegung in ihrer Amplitude steigern, also immer raumgreifender werden lassen. Beziehung Ein Duo tanzen, in dem anfangs viel Raum zwischen beiden Personen besteht, sich dann beide immer näher an- bzw. umeinander bewegen bis sie sich berühren und in ständigem Körperkontakt aneinander pressen. Transponieren meint die Übertragung einer Bewegung oder Bewegungssequenz auf ein anderes Körperteil oder auf eine andere Raumorientierung, z. B. durch Drehen oder Kippen. Körper Einen Armkreis auf ungewohnte Körperteile übertragen, z.B. auf Achselhöhle oder Ohrläppchen | Eine Bewegung mit

Form geben dem linken Bein auf den rechten Arm übertragen | Mögliche Formen von Sprüngen (auf dasselbe Bein, von einem Bein auf das andere Bein, von beiden Beinen auf ein Bein, von beiden Beinen auf beide Beine, von einem Bein auf beide Beine) auf die Arme übertragen. Wie können die Arme den Sprung darstellen? Raum um 90 Grad nach oben kippen Eine Bewegungssequenz auf dem Boden festlegen › Diese stehend in der senkrechten Achse ausführen. Raum um 90 Grad nach unten kippen Eine Körperhaltung im Stand festlegen › Diese auf den Boden legen. Raum um 90 Grad seitlich kippen Sich vorstellen, auf einem Fahrrad zu sitzen und in die Pedale zu treten › Sich auf die rechte Körperseite legen und die gleiche Bewegung im Liegen ausführen. Buchstaben Einen Buchstaben mit einem Körperteil in den Raum zeichnen › Diesen Buchstaben als Raumweg auf dem Boden gehen. Abstrahieren dient dazu, eine pantomimische, repräsentierende oder theatrale in eine abstrakte Bewegung zu übertragen. Das auslösende Medium (z.B. ein Vorstellungsbild) kann in der resultierenden Bewegung erkennbar sein, muss dies jedoch nicht. Das Abstrahieren kann durch die Anwendung der Bewegungsanalyse erreicht werden, indem die Bewegung in ihrem Antrieb modifiziert wird. Auch Tools zur Formgebung, z.B. Entfernen oder Transponieren, ermöglichen ein Abstrahieren. Vorstellungsbilder Sich bewegen wie eine Luftmatratze, die auf dem Wasser schwimmt › Die Antriebsaktionen einer auf unterschiedlichen Gewässern treibenden Luftmatratze erforschen › Einzelne Antriebselemente heraussuchen und als Bewegungsaufgaben formulieren, z.B. sich leicht und indirekt bewegen. Emotionen Einen Affekt auswählen, z.B. Hass › Welche Antriebselemente lassen sich mit Hass verbinden? › Einzelne heraussuchen und jeweils eine Bewegungsaufgabe formulieren, zum Beispiel kraftvoll, ankämpfend und schnell › Bewegungen zu einer Bewegungssequenz aneinanderreihen.

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90 Formgebung Gesten Eine Geste auswählen, z.B. winken › Die Bewegung der Geste mit der Hand ausführen › Andere Körperteile in die Bewegung mit einbeziehen, z.B.: die Handbewegung durch den Arm ins Schulterblatt bis zum Becken übertragen oder die Handbewegung durch den Arm und in den Torso laufen lassen, in den Knien nachgeben und das Becken zur Gegenseite herausschieben. Objekte Sich ein Möbelstück, z.B. einen Sessel, vorstellen und dieses mit der Hand wie mit einem Stift in den Raum zeichnen › Diese Bewegungsaufgabe auf ein anderes Körperteil transponieren: Dieselbe Aufgabe mit dem rechten Ohr ausführen. Blickrichtung gestalten Die Blickrichtung und ihr Verhältnis zur Bewegung sind zentral für die Bewegungsgestaltung. Das Wohin, Wann und Wie des Blickes kann differenziert gestaltet werden und der Blick-Modus kann während der Bewegung mehrmals verändert werden. Wohin? Räumliches Verhältnis Der Blick und die Bewegung laufen parallel, z.B.: Kreisen der rechten Hüfte und Kreisen des Blicks | Blick und Bewegung sind unabhängig voneinander: Blick auf einen Punkt fixieren und Bewegungen in verschiedene Raumrichtungen ausführen | Blick durch den Raum streifen lassen und Bewegung mit direktem Raumbezug gestalten | Blick und Bewegung erfolgen in Gegenrichtung. Wann? Zeitliches Verhältnis In unterschiedlichen Fortbewegungsarten durch den Raum bewegen › Mit Blick und Bewegung gleichzeitig in eine neue Richtung wechseln | Erst mit dem Blick in eine neue Richtung wechseln und dann den Körper folgen lassen | Erst den Fuß in eine neue Richtung drehen, dann den Körper und als letztes den Kopf und Blick folgen lassen | Erst den Blick neu ausrichten, dann einen Arm in diese Richtung führen | Erst den Arm in eine neue Richtung führen, dann Blick folgen lassen | Blick und Arm gleichzeitig nach oben ziehen. Wie? Objekt als Fixpunkt Die Gruppe geht durch den Raum › Kurze Bewegungssequenz entwickeln, z.B. mit einer Drehung und einem Bodenkontakt › Einen Punkt fixieren, z.B. das Kleidungsstück eines anderen Teilnehmenden oder die Deckenlampe ›

Form geben Bewegungssequenz mit fixiertem Blicks ausführen › Die räumliche Distanz zu dem fokussierten Punkt verändern. Wie? Panoramablick Alle Teilnehmenden gehen durch den Raum mit einem streuenden Blick, das heißt, ohne etwas Spezifisches anzuschauen › Dazu ein Bewegungsbild heranziehen: ein Samurai zu sein, der von allen Seiten von Gegnern umzingelt ist, die ihn im nächsten Moment angreifen könnten › Streuenden Blick beibehalten und dabei eine Bewegungssequenz ausführen › Wiederholen und zwischen fixierendem und streuendem Blick wechseln. Wie? Irrender Blick Gehen und geradeaus schauen › Dabei Richtung und Raumlevels verändern › Gleiche Bewegungssequenz mit »irrendem Blick« ausführen, also ständig die Blickrichtung ändern. Wie? Blick nach innen Beim Bewegungsmaterial eines Solos, das Einsamkeit thematisiert, den Blick nach innen gerichtet halten. Mit unterschiedlichem Blick-Modus Ein und dieselbe Bewegungssequenz mit räumlichen und zeitlichen Blickveränderungen sowie mit unterschiedlichen Blickfixierungen ausführen. Blick bei Drehungen Bei Drehungen vier Techniken ausprobieren, um mit Schwerkraft und Gleichgewicht umzugehen: Punkt fixieren, das heißt, während der Drehung den Fixpunkt so lange wie möglich beibehalten, dann einen Moment lang aufgeben und so schnell wie möglich wieder finden (nur bei Drehungen in senkrechter Mittelachse einsetzbar) | Blick folgt der Bewegungsrichtung | Blick löst die Drehung aus | Drehung löst den Blick aus.

Kontextualisieren Unter Kontextualisieren werden Techniken verstanden, die die Formung des Bewegungsmaterials in einen Rahmen stellen. Zu ihnen zählen: Kontrastieren | Homogenisieren | Pluralisieren | Fragmentieren | Verzerren | Ironisieren | Zitieren | Sampeln | Kommentieren.

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92 Formgebung Kontrastieren Eine Bewegung oder Bewegungssequenz wird in eine gegensätzliche Beziehung zu einer anderen Bewegung bzw. Bewegungsabfolge oder einem anderen Medium gebracht. Zeit- und Stilkontrast Zu klassischer Musik Bewegungsmaterial generieren, das einen Kontrast schafft: rollen, robben, kriechen, aufspringen › Das Bewegungsmaterial nicht im Takt der Musik ausführen sondern in einem autonomen Rhythmus › Das Material wird von mehreren Personen kreuz und quer im Raum verteilt getanzt ohne erkennbare Raumordnung. Homogenisieren bezeichnet die Vereinheitlichung unterschiedlicher Varianten einer Bewegungssequenz bzw. die Zusammenführung von unterschiedlichem Bewegungsmaterial zu einer Bewegungssequenz. Drei Soli homogenisieren Jeder legt eine Bewegungssequenz mit Drehung und Bodenpassage fest › Die Bewegungssequenzen präsentieren › Einzelne Elemente aus allen Bewegungssequenzen auswählen und zu einer neuen Bewegungssequenz zusammensetzen. Dabei mindestens ein Bewegungselement aus jedem Solo verwenden › Zusätzliche Übergänge von einem Element zum anderen einfügen › Diese Bewegungssequenz als Trio in verschiedenen Formationen ausführen, z.B. im Unisono oder als Kanon oder in völlig unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Pluralisieren Festgelegtes Bewegungsmaterial wird neu gestaltet, sodass zwar die zentrale Bewegungsidee erhalten bleibt, aber neue Umsetzungen in der Bewegungsausführung entstehen, bei denen die Vorlage möglicherweise nicht mehr erkennbar ist. Der Pluralisierungs-Effekt ergibt sich dadurch, dass mindestens zwei der Varianten gleichzeitig ausgeführt werden. Pluralisieren verknüpft Kopieren und Variieren . Unterschiedlichkeit Alle kopieren eine festgelegte Bewegungssequenz › Die Einzelnen variieren diese wahlweise mit den Tools Reduzieren, Steigern, Transponieren, Limitieren. Alle tanzen ihre Variante gleichzeitig | Einen Bewegungsablauf mit verschiedenen Bewegungsaktionen (z.B. Fallen, Aufstehen,

Form geben

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Umdrehen und Rennen) gleichzeitig, aber in unterschiedlichen Varianten ausführen. Sprung-Ausprägungen Einen festgelegten Sprung von einem Bein auf das andere ausführen › Sprung loopen und pluralisieren, z.B. durch Varianten im Blick-Modus, in der Höhe oder der Weite. Fragmentieren ist eine Strategie der Dekonstruktionπ durch Zerlegung von vorhandenem Bewegungsmaterial in einzelne Elemente und deren anschließende Neuordnung.

Komposition –› Verfahren

Cut’n’mix Eine festgelegte Bewegungssequenz in einzelne Phasen zerlegen, diese neu zusammensetzen. Körper fragmentieren Mehrere Körperzentren bestimmen und diese isoliert voneinander gleichzeitig zur Bewegungsinitiation einsetzen › Mit zwei Körperteilen gleichzeitig einen ausgewählten Punkt im Raum antanzen › Mit drei Körperteilen gleichzeitig zwei verschiedene Raumpunkte π antanzen. Verzerren Bewegungen oder Bewegungssequenzen werden fragmentiert und durch Übersteigerung verändert. Dieses Tool kann z.B. zur Hinterfragung von Bewegungskonventionen eingesetzt werden. Störfaktoren in Alltagsbewegungen Tics oder Handicaps in Bewegungen einbauen | Das Nesteln an Kleidung und Haaren in kurze Bewegungseinheiten zerlegen, diese in unterschiedlicher Reihenfolge wiederholen und übertreiben, z.B. durch Steigern der Kraft und Geschwindigkeit. Gesten verzerren z.B. die Handhaltung des Betens vergrößern und wiederholen. Ironisieren bezeichnet eine Strategie, zu symbolisch, gestisch oder mimisch aufgeladenen Bewegungen in Distanz zu treten und sie zu kommentieren. Ironisieren kann u.a. durch Steigern, Verfremden oder Verzerren hergestellt werden.

Festlegen und Erinnern –› Verfahren –› NeunPunkte-technik

94 Formgebung Gangarten Das Watscheln von Enten nachahmen, verändern und kommentieren | Gangarten entwickeln, die einen Charakter ironisieren, z.B. Charlie Chaplins Filmfigur. Anspielungen auf konventionelle Zeichensysteme Ein Tänzer trägt ein Tutu, das schmutzig ist, dessen Träger herunterhängt oder dessen Reißverschluss offen ist | In einem Brokatkleid mit dem Schrubber den Boden putzen. Zitieren Vorhandenes Bewegungsmaterial wird übernommen und als »Original« gekennzeichnet. Dies kann z.B. durch die Offenlegung des Unterschiedes zwischen Original und Zitat oder den Kontrast eines unpassenden Kontextes erreicht werden. Auf sich selbst verweisen Eine Bewegungssequenz aus einem eigenen Stück als Zitat in eine neue Choreografie einbauen. Auf einen anderen verweisen a kopiert eine Bewegungssequenz aus einem Stück von b und weist diese als Zitat aus. Durch das Zitieren werden Themen wie Identität, Repräsentation und Autorschaft zur Diskussion gestellt. Zitate als Zeichensysteme 2 Die Akteure wählen Gesten und Bewegungsmuster verschiedener Sozialfiguren aus (z.B. HipHopper, Rocker, Surfer, Freiheitskämpfer, Yuppie) und setzen diese zu einer Bewegungssequenz zusammen. Sampeln ist das Kopieren einer Bewegung in einen anderen Kontext. Anders als beim Zitieren wird die Bewegung neu kontextualisiert; das »Original« bleibt dabei erkennbar. Tanzstil-Sample Aus HipHop-Videoclips B-Boying-Szenen auswählen › Aus Stepptanzfilmen Tanzbewegungen auswählen › Aus künstlerischen Tanzvideos Bewegungen auswählen › Ausgewählte Bewegungen zu einer Sequenz zusammenstellen › Diese scratchen. Kommentieren Über Bewegung oder ein anderes Medium wird zu eigenem oder fremdem Material Stellung genommen. Das Kommentieren setzt eine inhaltliche Auseinandersetzung und eine reflektierende Haltung voraus.

Form geben Intermediales Kommentieren a spricht einen Text als Selbstdarstellung im digitalen Raum und stellt Behauptungen auf wie: ich bin schlank, mache alles sehr fix, habe lange, blonde Haare, einen sportlichen Körperbau, rasiere meine Achselhaare etc. › Die Behauptungen mit Bewegungen kommentieren, die sie betonen, sie kontrastieren bzw. die der Realität der Person entsprechen, so z.B. die fettig-strähnigen Haare hinters Ohr streichen, ungeschickt und schwerfällig eine Stretchbewegung als Joggingvorbereitung ausführen, Arm heben und Verletzungen, die beim Rasieren entstanden sind, zeigen.π

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Komposition –› Intermediale Komposition

96 Formgebung

FESTLEGEN & ERINNERN Dieser Baustein bündelt Tools und Verfahren, die sich zum Festlegen und Erinnern von generiertem oder geformtem Bewegungsmaterial eignen. Diese können in unterschiedlichen Arbeitsphasen eingesetzt werden z.B. zur Bewegungsgenerierung und Formgebung.

Tools Zu den Tools zum Festlegen und Erinnern zählen: Wiederholen | Akkumulieren | Imaginieren | Präzisieren | Zerlegen. Wiederholen Durch Wiederholung wird eine Bewegungssequenz oder Szene körperlich »gespeichert« und erinnerbar. Probe Eine Bewegungssequenz wieder aufnehmen und solange wiederholen, bis alle Details erinnert werden. Akkumulieren meint die Aneinanderreihung von Bewegungsmaterial nach dem Prinzip: Bewegung a ausführen, a wiederholen und Bewegung b hinzufügen, a plus b wiederholen und BeweKomposition gung c hinzufügen etc. –› Tools –› Kombinieren

Koffer packen Eine Fortbewegung festlegen › An die Fortbe-wegung eine Drehung anfügen › Wieder mit der Fortbewegung beginnen, die Drehung daran hängen und einen Sprung anfügen › Fortbewegung, Drehung, Sprung hintereinander ausführen und vierte Bewegung anfügen etc. Imaginieren ist ein Vorgang des geistigen Nachvollziehens von Bewegungen. Dies kann aus der Zuschauerperspektive erfolgen, z.B. indem man die Bewegungen wie durch eine Kamera aufgenommen sieht, oder aus der Perspektive der Eigenwahrnehmung, z.B. indem man sich selbst in der Bewegungsdurchführung erlebt und dabei die Bewegungssequenz markiert. Eigenwahrnehmung Eine Passage aus einer Choreografie auswählen, in der es Unklarheiten gibt › Die Augen schließen und sich selbst imaginär in der Bewegungsdurchführung erleben › Wenn

Festlegen & Erinnern

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unklare Momente auftauchen, Augen öffnen, die Bewegung real ausführen und klären › Wieder Augen schließen und Bewegungsdurchführung imaginieren › Auf diese Weise alle Passagen klären. Präzisieren ist eine Technik zum differenzierten Ausgestalten des Bewegungsmaterials. Dies kann über die Reflexion der Bewegungsparameter erfolgen oder darüber, dass die Bewegungssequenz zerlegt, in allen Ausprägungen ausprobiert, verfeinert und spezifiziert wird und dabei Entscheidungen zur Ausführung getroffen werden.π Unisono Alle führen dieselbe Bewegungssequenz aus › Bewegungsausführung anschauen (über Videoaufnahme oder über Wechsel von Akteur- und Betrachterrolle) › Bewegungsparameter prüfen: Koordinieren alle Beine und Arme auf dieselbe Weise? Initiieren alle die Bewegung mit dem gleichen Körperteil? Haben alle dieselbe Blickrichtung? etc. › Unisono variieren. Zerlegen Eine Bewegungsfolge wird in einzelne Bestandteile aufgeteilt. Dadurch reduziert sich Komplexität, die Einzelteile werden für den Prozess der Festlegung überschaubar. Die detaillierte Bewegungserinnerung fällt leichter. Ablauf Die Bewegungssequenz in einzelne Abschnitte einteilen › Einzelne Abschnitte definieren › Diesen ggf. einen Namen geben zur besseren Erinnerung. Bewegungsparameter prüfen Eine Drehung ausführen › Welcher Körperteil initiiert die Drehbewegung? In welche Richtung? Wie entsteht der Schwung? Wie koordinieren sich Arme und Beine? Wie ist das Gewicht verteilt?

Verfahren Zu den Verfahren zum Festlegen & Erinnern zählen: Bezüge herstellen (Festlegen und Erinnern über: Sprache, Situation, Bilder und Assoziationen, Narration, Körperempfindungen, Musik, Interaktionen) | Bewegungslogik aufbauen | Akkumulieren mit Stopp & Go | Laban-Bewegungsanalyse | Neun-PunkteTechnik | Inventarisierung von Bewegung | Aufzeichnen.

Komposition –› Tools –› Auswählen

98 Formgebung Bezüge herstellen Bei diesem Verfahren wird Bewegung mit prägnanten Erlebnisaspekten gekoppelt, um die Bewegung zu verankern und nachhaltig erinnerbar zu machen. Festlegen und Erinnern über Sprache Markante Bewegungen herausfiltern und benennen, z.B. in Bezug auf die Antriebselemente, die Formqualität oder ihre Beziehung zu anderen Körpern. Die Bewegung mental erfassen und Benennungen an die körperliche Ausführung koppeln. Die Namen dienen zur Verständigung und als Triggerworte, um die Bewegungserinnerung aufzurufen. Wasserschlauch Fließende, »spritzige« Bewegungen ausführen › Diese in Bezug auf den Bewegungsparameter Antrieb analysieren. Kraft/Gewicht: leichte Energie, Bewegungsfluss: frei, Raum: flexibel/indirekt, Zeit: plötzlich, schnell, kurze Bewegungen | Über die Klärung der Bewegungsparameter die Bewegung präzisieren und festlegen › Während der Bewegungsausführung die wichtigsten Antriebsbegriffe mitsprechen. Namedropping Einer Bewegung oder Bewegungssequenz einen Namen geben, z.B. eine spiralige Bewegung »Korkenzieher« nennen oder »hängende Brücke« als Bezeichnung für eine Bewegungssequenz, die vom oberen Raumlevel zum unteren und wieder zum oberen führt. Bewegung labeln Eine Geste oder Pose als wiedererkennbares Zeichen in Bewegung gestalten, z.B. Körperhaltung der New Yorker Freiheitsstatue | »Peace«-Zeichen | gestreckter Daumen als Zeichen für Autostopp. Festlegen und Erinnern über Situation Die konkrete Situation kann das Festlegen und Erinnern von Bewegung motivieren, z.B. Rahmenbedingungen, Personen, Befindlichkeiten, Ereignisse. Panne Der CD-Player funktioniert nicht, die Bewegungssequenz muss ohne Musik generiert werden › Die Bewegungsfindung wird von eigenen Lauten begleitet › Bei der nächsten Probe diese Töne erinnern und Bewegungssequenz wiederholen.

Festlegen & Erinnern Charakter in Bewegung Einen bestimmten Typus in Bewegung übertragen, z.B. aggressive alte Dame, schüchterner Typ › Formqualität herausarbeiten. Politikerrede Gestik, Mimik und Bewegungssprache eines ausgewählten Politikers bei einer Wahlkampfrede studieren › Bewegungssprache imitieren und transformieren wie z.B. bei Charlie Chaplins »Der große Diktator«. Festlegen und Erinnern über Bilder und Assoziationen Vorstellungen oder Begriffe, die mit Bewegungen verbunden werden, erleichtern die Erinnerung an die Bewegung und das Festlegen. Öffnung Brustbein heben und senken › Diese Bewegung mit dem Bild von Öffnen und Schließen koppeln. Gefühl Die gleiche Bewegung mit den Empfindungen von Glück und Trauer koppeln. Vorstellungsbild Eine Kugel durch den Körper rollen lassen und in der Bewegung dem Lauf der Kugel folgen. Festlegen und Erinnern über Narration Das Nachvollziehen der einzelnen Etappen des Verlaufes einer Erzählung wird als Hilfsmittel zum Rekonstruieren eines Bewegungsablaufs eingesetzt. Simulation Eine Bewegungssequenz folgt der Vorstellung des Zu-Bett-Gehens oder Aufstehens › Den Vorgang durchführen › Die einzelnen Bewegungen wiederholen und erinnern. Festlegen und Erinnern über Körperempfindungen Bewegungen können wieder erinnert werden, wenn die dazu gespeicherten Empfindungen wachgerufen werden. Psyche und Soma Das Bewegungsgefühl eines schmerzenden Magens, steifen Nackens, Hexenschusses auf andere Körperteile übertragen. Festlegen und Erinnern mit Hilfe von Musik Prägnante Merkmale von Musikstücken mit bestimmten Bewegungen verbinden.

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100 Formgebung Akzente Musikakzente nutzen, um Bewegungsaufgaben auszulösen › Einzelnen Akzenten eine Bewegungsaufgabe zuordnen, z.B. beim Endakkord einer musikalischen Phrase in Still wechseln, beim Einsatz eines bestimmten Instruments im Refrain ändern alle die Bewegungsrichtung. Wiederholung nutzen Beim Refrain immer dieselbe Bewegungssequenz tanzen. Rhythmus definieren Rhythmus finden, klatschen und mit Tönen untermauern › Synchron dazu eine Bewegungssequenz festlegen › Die Bewegungssequenz ohne Klatschen und Ton ausführen. Festlegen und Erinnern über Interaktionen Die Beziehung zu einer anderen Person (oder zu mehreren Personen) bildet den ausschlaggebenden Aspekt für die Wiederholbarkeit. Körperkontakte Einzelne Körperteile auf einen Zettel schreiben › Jede Teilnehmende zieht eine bestimmte Anzahl von Zetteln › a gibt b einen Bewegungsimpuls über das gezogene Körperteil › b gibt einen entsprechenden Bewegungsimpuls an c etc. Bewegungslogik aufbauen Bei diesem Verfahren wird die Logik einer Bewegungsfolge herausgefiltert bzw. eine solche für bestimmte Sequenzen festgelegt. Auf diese Weise wird der Ablauf einer Choreografie leichter nachvollziehbar. Dem Flow folgen Einen Bewegungsimpuls in einem Körperteil auslösen und der Bewegung folgen › Bevor die Bewegung ausklingt, einen neuen Impuls geben etc. Kettenreaktionen Folgende Aufgaben immer wieder wiederholen: fortbewegen, stehen bleiben, zu Boden gehen, aufstehen, fortbewegen › Dabei die Art und Weise unterschiedlich gestalten. Akkumulieren mit Stopp & Go 3 Mit diesem Verfahren kann Bewegungsmaterial in einer regelgeleiteten Improvisation festgelegt und erinnert werden.

Festlegen & Erinnern

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Interaktion Alle Akteure entwickeln ein Solo und führen dieses aus › Nach der Aufforderung »Stopp«, halten alle inne und imaginieren die Bewegungen, die sie bisher gemacht haben › Bei »Go« beginnen alle wieder von vorn, wiederholen die Bewegungen und fügen weiteres Bewegungsmaterial an › Bei erneutem »Stopp« merken sich alle ihre Bewegungen etc. Laban-Bewegungsanalyse Dieses Verfahren zum Festlegen und Erinnern nutzt die von Rudolf von Laban entwickelte Bewegungsanalyse.

Bewegungsanalyse

Explorieren, Präzisieren, Festlegen Welche Bewegungsparameter kennzeichnen das Bewegungsmaterial? Bewegungssequenz analysieren und Entscheidungen zum Festlegen der Bewegungssequenz treffen › Welcher Körperteil initiiert die Bewegung? Bewegung wiederholen und dabei das Körperteil festlegen › In welche Raumrichtung zielen die einzelnen Bewegungen? Auf welchen Raumlevels vollzieht sich die Sequenz? › Wie ist jeweils das Gewicht verteilt? Die Gewichtsverlagerung bei der ersten Bewegung festlegen, die bei der zweiten etc. › Berührt der Körper eine andere Person oder ein Objekt? Die Berührungsflächen und die Qualität der Berührung festlegen › Ändern sich die Antriebselemente der Bewegung ( z.B. plötzlich–verzögert, direkt–indirekt)? Analysieren und festhalten. Neun-Punkte-Technik Die Neun-Punkte-Technik basiert auf der Laban-Bewegungsanalyse. Sie thematisiert die Organisation von Bewegung im Raum und ist daher auch als Verfahren zum Festlegen und Erinnern nutzbar. Ausgehend von einem kubischen Raummodell wird Bewegung in drei Raumlevels mit jeweils neun Raumpunkten, insgesamt mit Hilfe von 27 Punkten, beschrieben. Der Bewegende imaginiert seinen Körper inmitten des Kubus und bewegt sich in Beziehung zu den definierten Raumpunkten, wobei alle Punkte des Körpers (z.B. eine Hand, Schulter, ein Knie oder der Rücken) zur Bewegungsinitiation und Bewegungsformung genutzt werden. Die Neun-Punkte-Technik basiert auf einem multizentrischen Bewegungsansatz ohne ein festgelegtes Komposition Körperzentrum und auf einem dezentrischen Raumkonzept.π –› Parameter

102 Formgebung 1 2

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Partielle Festlegung Mit den Händen nacheinander verschiedene Raumpunkte antanzen › Mit anderen Körperteilen verschiedene Raumpunkte antanzen › Einen Raumpunkt nicht nur frontal antanzen sondern auch seitlich oder rücklings › Vier Raumpunkte und vier Bewegung initiierende Körperteile auswählen › Je einen Raumpunkt mit einem Körperteil koppeln › Die vier Raumpunkte in immer wieder unterschiedlicher Reihenfolge mit dem jeweils zugeordneten Körperteil antanzen › Den Bewegungsweg von einem Raumpunkt zum anderen immer wieder spontan neu gestalten. Inventarisierung von Bewegung ivb4 dient der Beobachtung, Analyse, Interpretation von Bewegungssequenzen und fungiert zudem als Mittler im Sinne eines Kommunikationsmodells. Als Verfahren zum Festlegen und Erinnern ist dieser Ansatz nutzbar, da er Bewegung als einen komplexen Vorgang motorischer Aktivität begreift: »Mobilisieren« lokalisiert die Bewegung im

Festlegen & Erinnern Körper | »Koordinieren« erläutert die Bewegung der Gelenke | »Belasten« beobachtet die Körperschwere in ihren Auswirkungen auf den Bewegungsapparat | »Regulieren« setzt sich mit Kraft und Zeit auseinander, da diese Aktivität die Tätigkeit der Muskeln im Umgang mit der Körperschwere bzw. die zeitliche Gliederung des Bewegungsvorgangs kontrolliert. Mobilisieren Sich entscheiden, welches Körperteil wann bewegt werden soll, z.B. ob man zunächst nur den linken Ellenbogen bewegt und dann auch die rechte Ferse oder ob man beide Bewegungen gleichzeitig vollzieht. Koordinieren Beobachten, ob sich z.B. beim Beugen beider Beine und beim Zusammenziehen des Rumpfes auch die Arme vor dem Rumpf kreuzen. Belasten Beobachten, wie z.B. das Körpergewicht durch einen Schritt vom linken auf den rechten Fuß übertragen wird. Regulieren Beobachten, über welchen Zeitraum z.B. eine Beschleunigung eines Bewegungsablaufs stattfindet. Erinnern eines Solos mit ivb Die Choreografie eines Solos für eine Wiederaufnahme rekapitulieren › Wie wird mit Mobilisieren, Koordinieren, Belasten und Regulieren in den Bewegungssequenzen umgegangen? Aufzeichnen Aufzeichnungen dienen der Dokumentation einer Probe oder der Choreografie. Sie erfassen die Bewegung weder »objektiv«, da das Aufzeichnungsmedium, z.B. durch Zweidimensionalität, diese verändert, noch »subjektiv«, da die Wahrnehmung oder Interpretation des Ausführenden nicht aufgezeichnet werden kann. Deshalb sind sie nicht vergleichbar mit der direkten Weitergabe choreografischen Materials in einer Face-to-Face-Kommunikation. Aufzeichnungen können eingesetzt werden als: Werkzeug der Erinnerung für Wiederaufnahmen nach Proben- oder Spielpausen | Ausgangspunkt für die Vermittlung einer Choreografie an andere Akteure | Bestandteil oder Konzept der Aufführung | Mittel für

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104 Formgebung Reflexion und Erkenntnis. Die Dokumentationsabsicht verändert die Art der Aufzeichnung, je nachdem, ob sie für die Öffentlichkeit gedacht ist oder nur für die Beteiligten einer Produktion gemacht wird. Die Aufzeichnung kann während des Prozesses erfolgen | inszeniert sein, z.B. als Arbeitstagebuch veröffentlicht werden | zur Archivierung benutzt oder ins Internet gestellt werden. Aufzeichnung durch Notationssysteme Notationen dienen dazu, Bewegung und Choreografie mit Hilfe schriftlicher, grafischer, musikalischer, figuraler und abstrakter Zeichen zu entwickeln, zu dokumentieren, zu analysieren und zu rekonstruieren. Notation übersetzen Eine historische oder zeitgenössische Notation auswählen und das Zeichen- oder Bildsystem in Bewegung und Choreografie übersetzen. Dabei geht es nicht um die Rekonstruktion eines Originals, sondern um eine kreative Umsetzung der Aufzeichnung. Spielmuster

Aufzeichnung mit Hilfe von Scores Scoresπ sind Sets von Anweisungen. Diese können verschriftlicht und in verschiedene – auch selbst erdachte – Zeichensysteme übertragen werden, z.B. mit Stichpunkten, Strichmännchen, Kürzeln. Choreografisches Notizbuch Notizbuch am Anfang der Proben anlegen › Eine eigene Form von Aufzeichnungssystem im Laufe des Prozesses entwickeln › Raumwege, Hinweise zu den Bewegungen und Sonstiges eintragen. Kartografie 5 Eine Aufzeichnung von Raumwegen und Orientierungspunkten einer Bewegungssequenz oder Choreografie wird in Form einer Karte angefertigt › Die Raumwege aller Beteiligten werden aus der Vogelperspektive aufgezeichnet, ebenso andere Raumkoordinaten, z.B. Orte, an denen Objekte stehen › Wichtige Aktionsplätze sind markiert und mit Angaben versehen, unter welchen Bedingungen dort Aktionen ausgeführt werden sollen. Probenprotokoll Im Probenprozess ein Materialbuch anfertigen mit täglichen Probenprotokollen › Darin Verlaufsprotokolle der Szene notieren › Eigene, eventuell intermediale Notationsformen erfinden.

Festlegen & Erinnern

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Score erinnern Einen Score aufzeichnen › Diesen fotografieren bzw. fotokopieren und archivieren oder als Gedächtnisstütze an die Wand des Probenstudios hängen. Medientechnisches Aufzeichnen umfasst Dokumentation und Transformation von Choreografie durch bildtechnische Verfahren wie Fotografie, Video, Film und deren Repräsentation in elektronischen Speichermedien wie dvd, Internet, Webseiten, OpenFormen Source-Plattformen oder Interfaces.π Computergestützte Aufzeichnung erlaubt die digitale Bearbeitung der aufgezeichneten –› Kollektiv Bewegung. Computerprogramme, die Bewegung digital erzeugen, ermöglichen zudem das Schreiben von Bewegung mit Hilfe von grafischen Animationen bzw. interaktivem Mediendesign . Filmdokumentation Eine Szene mit einer Videokamera filmen, anschauen und in Bezug auf Veränderungen auswerten | Eine Generalprobe mit dem Durchlauf des gesamten Stückes filmen, anschauen und in Bezug auf Veränderungen auswerten. Digitale Dokumentation Per Computer mit eingebauter Kamera und der Möglichkeit der Integration von Text an jedem Probentag das choreografische Material eines Solos aufnehmen | Dieses jeden Abend mit einer Mixed-Media-Technik ins Internet stellen. Digitale Erzeugung von Bewegung6 Ein multi-disziplinäres Forschungsprojekt wird mit dem Ziel der Dokumentation und Notation einer künstlerischen Arbeit initiiert | Ein Team von Experten kommt zusammen, z.B. aus den Bereichen Notationssysteme, Kinematografie, Computerbasierte Bewegungsanalyse, Interaktives Mediendesign | Der choreografische Prozess oder die Aufführung der Choreografie kann in unterschiedlichen Formaten dokumentiert werden, z.B. in Form eines Buches, Films, einer interaktiven dvd-rom | Im Buch erscheinen Scores, Probenprotokolle etc. | Auf einer dvd wird die Choreografie festgehalten | Eine interaktive dvd-rom stellt ein Notationssystem zur Verfügung, in dem der Nutzer innerhalb vorgegebener Optionen selbst aktiv die Notationsform mitgestalten kann.

106 Formgebung Motion Capturing7 Am Körper werden Sensoren angebracht, die mittels Motion-Capturing die Raumposition und Ausrichtung von Körperpunkten in einem magnetischen Feld erkennen › Die gelesenen Daten können von einem Computer in Echtzeit z.B. in eine Grafik oder eine Tonfolge übertragen werden.

Festlegen & Erinnern

107

108

109

Spielweisen Choreografische Spiele sind regelgeleitete, strukturierte Improvisationen. Sie bestehen aus einer offenen Interaktionsordnung mit einem nicht planbaren Ausgang, aber mit einem definierten Anfang und Ende. Der Verlauf des Spiels hängt von den Spielregeln und von den Interaktionen zwischen den Spielern sowie den Aktionen einzelner Spieler ab. In jedem Spiel wird das Ver¯ hältnis von Ordnung und Zufall, Struktur und Performanz durch Regeln gerahmt, die entweder vorgegeben oder kollektiv entwickelt werden bzw. im Prozess des Spiels erst entstehen.

SPIELMUSTER

111 Spielregeln 112 Spielzeit

CHOREOGRAFIEREN ALS SPIEL

118 Spielarten 118 kompetitiv 121 mimetisch

112 Scores 115 Re-Formulieren 116 If/then-Methode

122 aleatorisch 124 Spiel als EchtzeitKomposition

110 Spielweisen Spiele lassen sich als choreografisches Werkzeug, Thema, Verfahren oder als Aufführungskonzept verwenden. Hierbei kann das Verhältnis von Spiel und Choreografie selbst reflektiert und zum Thema choreografischen Forschens werden. Damit lassen sich Wahrnehmungen und Gewohnheiten befragen oder Erwartungen in Bezug auf Choreografie thematisieren. Beim Spiel als choreografischem Verfahren werden kultur- und theatertheoretisch relevante Konzepte wie Augenblicklichkeit, Ereignis, Präsenz, die Interaktion von Akteuren und Publikum, Aufführung die Partizipation des Publikumsπ oder die Bühnensituation angesprochen. Spiele können gleichberechtigt oder hierarchisch organisiert sein und auf verschiedenen Formen der ZusammenFormen arbeit π beruhen. Einsatzmöglichkeiten: Zur Sensibilisierung der Beteiligten, z.B. in Bezug auf Gruppenwahrnehmung, Raumwahrnehmung, unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit | zur interaktiven Generierung von Bewegungsmaterial | zur Integration des Bewegungsmaterials Einzelner in die Choreografie | als spezifisches Auf führungskonzept | als choreografisches Verfahren in einer Echtzeit-Komposition | als Mittel zur Reflexion choreografischer Ordnung.

Spielmuster

SPIELMUSTER Um den Aktionsrahmen, innerhalb dessen sich ein Spiel entwickelt, abzustecken, werden Regelwerke gebildet, die einen bestimmten Satz an Entscheidungen festlegen. Diese können vor dem Spiel oder während des Spiels bestimmt und verändert werden. In einer Aufführung kann das Regelwerk des choreografischen Spiels intransparent gehalten oder dem Publikum transparent gemacht werden. Beiden Varianten liegen Entscheidungen zugrunde, z.B. ob beabsichtigt ist, die Regeln von Improvisationen als performativen Ordnungen der Choreografie selbst zum Thema zu machen.

Spielregeln Ein Spiel kann aus einer oder mehreren Regeln bestehen. Regeln können offen, geschlossen, einfach oder komplex formuliert sein. Der Vorgang der Regelfindung im choreografischen Prozess kann den Prinzipien folgen: Thematisieren: Auswählen des Spielthemas (durch Gruppe oder Einzelnen) › Selektieren: Erfinden der Regeln für das Spiel › Explorieren – Generieren: Erforschen des Themas mithilfe von Improvisationsaufgaben im Rahmen der vorgegebenen Regeln › Reflektieren: Auswerten des Spielverlaufs und der Bewegungslösungen und Entwickeln von Vorschlägen zur Veränderung der Spielform › Modifizieren: Nutzen der Erfahrungen des Explorierens und Reflektierens zu eventuellen Änderungen des Spielthemas, der Aufgabenstellungen, der Spielregeln oder der Spieleranzahl › Entscheiden: Festlegen des Regelwerks nach mehrmaligem Ausprobieren und erneutem Variieren. Das Regelverhalten kann über den On- und den Off-Modus erfolgen, die den Akteuren im Spielverlauf eine Rolle zuweisen: Beim On-Modus ist der Akteur aktiv im Spielfeld an der Szene beteiligt, beim Off-Modus ist der Akteur ein Beobachter neben dem Spielfeld. Die Modi können ständig wechseln, z.B.: Alle Akteure im Off-Modus verteilen sich an den beiden Seitenwänden › Die freie Fläche bildet das Spielfeld für den On-Modus ›

111

112 Spielweisen Während der Szene können die Akteure wahlweise ins Spielfeld gehen oder sich an die Seitenwände zurückziehen.

Spielzeit Anfang und Ende des Spiels kann auf verschiedene Weise bestimmt werden, z.B.: Das Erreichen einer Punktezahl bestimmt das Ende des Spiels | Die Spieldauer wird durch ein Zufallsverfahren ermittelt, beispielsweise durch würfeln: die Zahl bestimmt die Minuten | Der Spielbeginn wird von der Choreografin im Vorhinein festgelegt | Ein Zählwerk bestimmt Anfang und Ende, z.B.: Ein Spielleiter bedient einen Wecker, der auf drei Minuten gestellt ist, oder ein Spielleiter gibt per Stoppuhr Anfang und Ende vor.

Scores Scores sind Sets von Anweisungen. Diese können verschriftlicht und in verschiedene – auch selbst erdachte – Zeichensysteme übertragen werden. Die Aufzeichnung von regelgeleiteten Improvisationen oder Spielformen kann z.B. durch Schrift, Text, Karte, Bild, Zeichnung oder Skizzen erfolgen. Ein Score kann unterschiedliche Informationen enthalten, z.B. Angaben für Zeiten, Raumnutzung, Anzahl der Tänzer, Beziehung der Tänzer, Szenenfolgen, Bewegungsausführungen. Die Aufzeichnung eines Scores kann Zeit- und Raumnotationen, Notizen für die Raumwege, sowie Figuren, Icons, Symbole oder Texte enthalten. Scores setzen einen orientierenden Handlungsrahmen. Im Unterschied zu Notationssystemen wie der Kinetografie von Rudolf von Laban oder der Benesh Movement Notation zielen choreografische Partituren nicht darauf ab, die Bewegungsabfolgen zu dokumentieren und eine Choreografie in ihrem Verlauf abzubilden, so dass sie durch die Notation wieder rekonstruierFestlegen & bar ist.π Ein Score kann vor, während oder nach der ChoreograErinnern –› fie erstellt werden, die Aufgabenstellungen für eine Choreografie Verfahren –› organisieren oder Ergebnis einer Choreografie sein. Aufzeichnen

Spielmuster

113

Einsatzmöglichkeiten Als Verfahren zur Generierung von Bewegungsmaterial | als Grundlage einer Echtzeit-Komposition | als Kommunikationsmittel zwischen Choreograf und Akteuren | als Reflexionswerkzeug | als Tool zum Erinnern und Festlegen von Bewegungπ | als Aufzeichnung zum Zweck der Archivierung. Getanzte Typografie Ein Wort im Computer in verschiedenen Schriftarten, z.B. »Wingdings« und »Symbol«, schreiben › Jeder Akteur wählt einen Schrifttyp und verwendet dieses gedruckte Wort als Score › Eine Partitur schreiben, indem man z.B. Zeichen miteinander verbindet, Linien ergänzt, ein Wort hinzufügt oder Buchstaben ausmalt › Diese Zeichnung in Bewegung übersetzen, z.B. als Raumwege und Antriebsaktionen. Score mit Bewegungsparametern Schreibaufgabe: Eine Tabelle mit vier Spalten und fünf Zeilen erstellen und vier Rubriken in der Vertikalen bilden: Körperteile, Zahlen 1 bis 4, Buchstaben a, b, c und Strich oder Kreis: Körperteile

1⁄2⁄3⁄4

a⁄b⁄c

strich/kreis

Erste Spalte ausfüllen: in jede Zeile ein Körperteil schreiben › Zweite Spalte ausfüllen: in jede Zeile je eine Zahl von 1 bis 4 schreiben. Es müssen nicht alle Zahlen verwendet werden. Eine Zahl kann mehrmals verwendet werden › Dritte Spalte ausfüllen: in jede Zeile je einen Buchstaben von a–c schreiben. Es müssen nicht alle Buchstaben verwendet werden. Ein Buchstabe kann mehrmals verwendet werden › Vierte Spalte ausfüllen: in jede Zeile je einen Strich oder Kreis schreiben. Es müssen nicht beide Zeichen verwendet werden. Schreibaufgaben mit Bewegungsaufgaben verknüpfen: Körperteile: mit dem angegebenen Körperteil die Bewegung initiieren › Zahlen: die Zahlen 1 – 4 den vier Himmelsrichtungen zuordnen. Die Bewegung in die durch die Zahl vorgegebene Raumrichtung ausführen › Buchstaben: bei a eine Bewegung im oberen

Festlegen & Erinnern –› Verfahren –› Aufzeichnen

Bewegungsanalyse

114 Spielweisen Raumlevel ausführen, bei b im mittleren, bei c im unteren Raumlevel › Strich oder Kreis: beim Strich einen direkten Bewegungsweg in die Raumrichtung vollziehen, beim Kreis einen Umweg. Kompositionsaufgaben: Jeweils alle Einträge einer Zeile miteinander verknüpfen und daraus eine Bewegung gestalten › Mit dem Tool zur Formgebung »Akkumulieren« die vier Bewegungen in einer festgelegten Bewegungssequenz aneinander hängen. Beispiel eines entstandenen Scores:

körperteile

1⁄2⁄3⁄4

a⁄b⁄c

strich/kreis

nase

1

b

i

linkes knie

1

c

o

rechte ferse

2

c

o

becken

4

a

i

Comic Wie in einem Comic-Heft den Bewegungsverlauf in Einzelbildern zeichnen, z.B.: alle Beteiligten skizzieren, Namen geben, Bewegungsbilder oder Bewegungsmetaphern in Sprechblasen schreiben › Choreografieanweisungen, Notizen unter die Einzelbilder schreiben, Pläne mit Raumwegen einfügen. Fotomontage Ein Fotoportrait von jedem Teilnehmenden erstellen › Während der Proben von jeder Szene ein Foto machen › Zu diesem Foto wichtige Informationen der Szene notieren bzw. zeichnen › Wenn die Szenenabfolge der Choreografie festgelegt ist, können Porträts und Szenenfotos samt der Notizen zu einer choreografischen Partitur zusammengestellt werden (für das Plakat, Programmheft oder als Ausstellung zu der Choreografie). Score transformieren Auf Post-it-Zettel Bezeichnungen für Antriebsaktionen schreiben › Für jedes Post-it eine KompositionsBewegungen aufgabe erfindenπ › Die Post-its auf einem Papierbogen anordnen entwickeln › Diese mit einem Stift miteinander vernetzen und eine Reihenfolge einzeichnen › Den Score mit einer Digitalkamera fotografieren › Die Post-its auf einem neuen Bogen in einer neuen

Spielmuster

115

Anordnung aufkleben › Diese mit einem Stift miteinander vernetzen und eine Reihenfolge einzeichnen › Den Score fotografieren › Beide Reihenfolgen jeweils in eine Bewegungssequenz übertragen und zueinander in Beziehung setzen. Re-Formulieren1 beschreibt eine kollektive Arbeitsweise. Die Materialentwicklung ist ein gemeinschaftlicher Vorgang, der auf mehreren Arbeitsschritten zwischen den Teilnehmenden beruht, die gemeinsam das vorhandene Material immer weiter entwickeln. Bei dem weiterzugebenden Material kann es sich um Bewegung, Text, Bild oder Klang handeln, z.B. entwickeln die Beteiligten gemeinsam Texte, die als choreografische Partituren fungieren. Die Medien können auch während der Weitergabe variieren, z.B. kann ein Musikstück als Text oder ein Bild als Bewegung weitergegeben werden. Das Verfahren kreiert eine gemeinsame Autorschaft. Fortbewegungsarten und Bewegungsqualitäten Alle Beteiligten sitzen im Kreis › Jeder hat ein Blatt Papier und schreibt darauf zwei Fortbewegungsarten als Verb, z.B. schlurfen, stolpern › Alle geben ihre Blätter an die Person links im Kreis weiter › Jeder schreibt auf das neu erhaltene Blatt zwei weitere Fortbewegungsarten › Alle geben ihre Blätter nach links weiter › Jeder schreibt auf das neu erhaltene Blatt zwei Antriebselemente in Adjektivform, z.B. frei, verzögert › Alle geben ihre Blätter nach links weiter › Jeder schreibt auf das neu erhaltene Blatt zwei andere Antriebselemente › Alle geben ihre Blätter nach links weiter › Jeder wählt eine Fortbewegungsart aus und verbindet sie grafisch mit einem Antriebselement, z.B. durch Strich oder Pfeil › Fortfahren, bis alle Fortbewegungsarten mit Antriebselementen verknüpft sind › Alle geben ihre Blätter nach links weiter › Alle wählen gleichzeitig eine Fortbewegungsart mit dem dazugehörigen Antriebselement aus, streichen die Worte auf dem Blatt durch und übersetzen sie in Bewegung › Die Blätter nach links weitergeben, bis alle Wortpaare durchgestrichen sind › Jeder Teilnehmende legt die von ihm gewählten Bewegungen zu einer Bewegungssequenz fest.

Formen

116 Spielweisen Bewegung – Text – Komposition2 Jeder Teilnehmende generiert eine Bewegungssequenz › Jede Bewegungssequenz filmen › Gemeinsam die Bewegungsporträts unter verschiedenen Perspektiven betrachten (z.B. Assoziationen zur Formqualität) › Bewegungsbeschreibung: Alle Beteiligten notieren kurz und prägnant zu Bewegungsporträt a Bemerkungen zur räumlichen Ausprägung der Bewegung › Das Blatt nach links an die nächste Person weitergegeben › Das bereits Notierte um eigene Bemerkungen, z.B. zum Bewegungsausdruck des Bewegungsporträts a, ergänzen › Das Blatt nach links weitergeben › Durch weitere Notizen kollektive Textsammlungen zu jedem Bewegungsporträt anlegen und diese jeweils als Textscore benutzen › Jeder Teilnehmende erhält einen Textscore, der nicht sein eigenes Bewegungsporträt wiedergibt, z.B., indem jeder den eigenen Textscore ein- oder zweimal nach links weitergibt › Der Score wird von jedem einzeln choreografisch umgesetzt, z.B. indem ausgehend vom Text konkrete Bewegungsaufgaben formuliert werden | Variante: Alle Beteiligten setzen einen Textscore um, wobei diejenige, auf deren Bewegungsporträt sich der Score bezieht, als Choreografin das Bewegungsmaterial zu einer Choreografie Komposition zusammenstellt.π Die If/then-Methode3 ist eine als Spiel konzipierte Echtzeit-Komposition, die in der Bewegungsgenerierung, Formgebung, Komposition und Aufführung eingesetzt werden kann. Sie ist interaktiv ausgelegt, formal angelegt und folgt einem temporalen und kausalen Prinzip: »Wenn du x machst, dann mache ich y.« Spielregel: Zwei Personen spielen miteinander, mehrere Paare können gleichzeitig spielen. Zu Beginn legen die Paare eine Anfangsposition fest, einer der beiden gibt die erste Bewegung vor, der zweite antwortet. Mehrere Wenn/dann-Sätze, die aneinander anschließen, bilden Aktionsketten. Besteht die Reaktion in zwei oder mehreren Optionen, ergeben sich mehrdeutige Aktionsketten: »Wenn du x machst, dann mache ich n oder auch z.« Aktionskette Ausgangsposition: A steht, B liegt. »Wenn du dich im mittleren Raumlevel schnell fortbewegst(x), dann bewege ich mich langsam im unteren Raumlevel(y)« – »Wenn ich

Spielmuster eine Pose einnehme(z), bewegst du dich langsam am Platz im mittleren Raumlevel(n) oder langsam im unteren Raumlevel(m)«. › Diese Kettenreaktion kann geloopt werden: »Wenn ich mich wieder im unteren Raumlevel bewege, dann bewegst du dich im mittleren Raumlevel schnell fort« etc. If/then mit On/off-Modus Einzelne Partner können das Spielfeld verlassen, neue kommen ins Spielfeld; es bilden sich neue Paare, die die Aktionskette fortsetzen können. If/then mit Tools zur Formgebung Die Zeit variieren, indem die Bewegungssequenz langsamer oder schneller ausgeführt wird › Den Raumbezug variieren: andere Positionen im Raum, andere Raumlevels wählen. If/then notieren Während des Spielablaufes eine Notation entwickeln, die als Erinnerungshilfe dient › Notation als Grundlage für einen neuen If/then-Prozess verwenden, indem die Wenn/dann-Beziehungen neu hergestellt werden.

117

118 Spielweisen

CHOREOGRAFIEREN ALS SPIEL Dieser Baustein präsentiert spielerische Zugänge vor allem zur Generierung von Bewegungsmaterial. Diese können motivierend für die Bewegungsfindung sein, stimulierend auf die Gruppenarbeit wirken und choreografische Ideen provozieren. Der Baustein versammelt verschiedene Spielarten und thematisiert das Spiel als kompositorisches Prinzip in einer Echtzeit-Komposition.

Spielarten Angeregt durch die Spielforschung weden im Folgenden verschiedene Spielarten von choreografischen Spielen aufgelistet. Diese können kompetitiv | mimetisch | aleatorisch angelegt sein. Kompetitive Spiele Zu den kompetitiven Spielen gehören alle Wettkampf- und Wettbewerbspiele, z.B. Ratespiele, Wissensspiele, Sportspiele. Die Charakteristika dieser Spiele – als Einzel- und Gruppenspiele – werden auf eine choreografische Ordnung übertragen. Kompetitive Spiele können herangezogen werden, um Konkurrenz, Erfolg, Ziel-, Leistungs- und Ergebnisorientierung, die Lust am Extremen oder auch das Bedürfnis, ein Star zu sein, zu thematisieren. Spiele dieser Kategorie fokussieren auf die Intensität und Spannung des Augenblicks, die Ungewissheit des Ausgangs, das Glück des Gelingens aber auch die Gefahr des Scheiterns. Ratespiel Ein Computerspiel wie z.B. »Mario« als Anregung nehmen. Daraus verschiedene Figuren wie die Prinzessin Peach oder das Tier Yoshi auswählen › Für jede Figur eine charak teristische Bewegungssequenz festlegen › Partneraufgabe: a zeigt eine Bewegungssequenz, b errät die Figur. Wenn b richtig geraten hat, zeigt b eine Bewegungssequenz. Wenn b falsch geraten hat, zeigt a eine zweite Bewegungssequenz etc. › Das Quiz als Aufführung, als interaktive Spielform mit Partizipation des Publikums Aufführung einsetzen.π

Choreografieren als Spiel

119

Verhältnis Sportspiel und Choreografie4 Dieses Beispiel zielt darauf ab, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Choreografie und Sportspiel zu erproben. Zunächst Fragestellungen sammeln, z.B.: Worin unterscheiden sich Sportspiel und Choreografie? Was ist ihnen gemeinsam? Welche Funktionen haben Bewegungen in der Choreografie und im Sportspiel? Welche Regeln gelten im Sportspiel oder einer Choreografie? Wann und warum werden Bewegungsaktionen als Sport oder als Tanz wahrgenommen? › Ein Spiel auswählen und dessen Spielregeln auf Choreografie übertragen, z.B. Basketball › Drei Gruppen bilden › Zwei Gruppen spielen Basketball › Gruppe 3 notiert außerhalb des Spielfelds das Interaktionsgeschehen, z.B. Raumverhalten, Inter- aktionen, Dynamik › Spielregel variieren: den Ball entferForm geben –› nen und das Spiel ohne Ball ausführenπ › Gruppe 3 notiert das Interaktionsgeschehen ohne Ball › Bewegungsmuster variieren Tools –› Variieren und dies als Regel für einzelne oder alle Spieler formulieren: sich mit Dribbelbewegungen fortbewegen, diese rhythmisch variieren, Bewegungsablauf langsam oder schnell ausführen, Bewegungspausen einbauen, eine Bewegungsfigur wie den Korbwurf mehrmals hintereinander wiederholen › Bewegungsraum verändern: das Spiel ohne Spielfeldbegrenzung und ohne Körbe spielen › Einige Bewegungsmuster wiederholen und festlegen (z.B. Foul) und in den Spielablauf integrieren › Choreografischen Verlauf analysieren: Gruppe 3 erläutert Notizen, Gruppe 1 und Gruppe 2 ihre Bewegungs- und Spielerfahrungen › Erneuter Durchlauf in wechselnder Gruppenkonstellation mit anschließender Auswertung › Erarbeitete Gemeinsamkeiten und Unterscheide von Choreografie und Spiel als choreografische Idee nutzen. Choreografieren mit Bewegungsmustern eines Sportspiels Vier Bewegungsaktionen aus einem Sportspiel auswählen, z.B. aus dem Fußball: Köpfen, Stoppen, Passen, Dribbeln › Diese Bewegungen in Gruppen ohne Ball ausführen, z.B. mit folgenden Regeln: Jeder wählt eine Aktion aus und kann sie jederzeit ändern | Die Auswahl der Aktionen auf die Aktionen anderer beziehen | Es können beliebig viele Interaktionen gleichzeitig statt-

120 Spielweisen

Form geben –› Tools –› Variieren

finden | Es können beliebig viele imaginäre Bälle im Spiel sein | In das Spiel Bewegungsvarianten aufnehmen, z.B. Slow Motion oder Pose › Bewegungsmuster abstrahierenπ und festlegen. Choreografieren mit Sudoku Ein Sudoku lösen: ein 9-mal9-Raster mit den Zahlen 1 bis 9 füllen, so dass jede Zahl in jeder Spalte, in jeder Zeile und in jedem Block nur einmal vorkommt › Aus dem fertiggestellten Sudoku ein Quadrat mit Zahlen 1 bis 9 auswählen › Dieses Quadrat auf den Boden übertragen, jedes Teilquadrat sollte einen Quadratmeter umfassen › In die neun Felder die Zahlen des Sudokus eintragen › Neun Bewegungssequenzen festlegen, die auf einem Quadratmeter ausführbar sind und diese mit Zahlen von 1 bis 9 bezeichnen › Alle Akteure erlernen alle neun Bewegungssequenzen › Akteure wählen ein Feld aus und führen die der Zahl entsprechende Bewegungssequenz aus | Varianten: Spielregeln des Sudokus übertragen, z.B. zu Beginn jedes Sudokus sind immer bereits mehrere Zahlen vorgegeben. Entsprechend sind immer mindestens drei Akteure im Spielfeld | Jede Zahl kommt im Sudoku mehrmals vor. Analog die Bewegungssequenz loopen oder ein Teilquadrat mit mehreren Akteuren besetzen | Im Sudoku stehen alle Zahlen in Beziehung zueinander. Entsprechend verteilen sich die Spieler auf die Felder | Je nach Spielstand des Sudokus variiert die Anzahl der in die Felder eingetragenen Zahlen. Entsprechend können Akteure wahlweise vom Off- in den On-Modus wechseln. Stille Post Fünf Gruppen bilden › Alle Gruppen stellen sich an einer Seite des Raumes nebeneinander auf › Die Mitglieder einer Gruppe reihen sich hintereinander auf; vorderste Person ist 1, dann 2 etc. › Jede Gruppe führt die Aufgabe unabhängig von den anderen Gruppen aus › Person 1 aus jeder Gruppe durchquert mit einer Bewegungsaufgabe den Raum, z.B.: auf einer geraden Linie verschiedene Fortbewegungsarten wechseln. Danach schließt 1 sich wieder hinten an die Gruppe an › 2 beobachtet 1 und kopiert die Bewegungssequenz. 3 beobachtet 2 und kopiert 2 etc. | Nachdem alle Gruppenmitglieder einen Durchgang absolviert haben, kann die Übung variiert werden, z.B. mit Hilfe von Tools zur Formgebung wie Wiederholen und Akkumulieren: 1 macht bei der Durchquerung des Raumes einen Sprung › 2 kopiert den

Choreografieren als Spiel Sprung von 1, verbindet ihn mit einer Drehung und wiederholt Sprung und Drehung so lange, bis sie den Raum durchquert hat › 3 kopiert Sprung und Drehung von 2, verbindet diese Abfolge mit einer Bodenrolle und wiederholt die Abfolge Sprung, Drehung und Rolle so lange, bis sie den Raum durchquert hat etc. Solitär Zwei Skatspiele verwenden › Einige Karten auswählen › Jeder Karte eine Bewegungsaufgabe zuordnen, z.B. Dame: springen, As: rollen, Sieben: drehen › Regel festlegen: Rote Karten (Herz, Karo) in langsamem Tempo, schwarze Karten (Pik, Kreuz) in schnellem Tempo ausführen › Alle ausgewählten Karten auf einen Stapel legen › Spielleiterin bestimmt das Spielgeschehen: Sie mischt die Karten, deckt sie nacheinander auf › Sie nennt das Bild der jeweiligen Karte und bestimmt einen Akteur, der diese Spielkarte in Bewegung umsetzt › Wenn zwei oder drei Karten mit demselben Bild (z.B. Damen) aufeinanderfolgen, werden Duos oder Trios gebildet. Mimetische Spiele Zu den mimetischen Spielen zählen Verstellungs-, Verwandlungs-, Nachahmungs- und Maskierungsspiele sowie Spiele in virtuellen Räumen. Mimetische Spiele arbeiten mit der Idee der Repräsentation, sie operieren mit dem »So-tun-als-ob«. Mimetische Spiele können als choreografisches Mittel eingesetzt werden, um die Verwandlungsfähigkeit zu schulen und den Umgang mit dem Anderen zu thematisieren. Scharade als Echtzeit-Komposition Zwei Gruppen bilden › Jede Gruppe denkt sich mehrere Worte aus, die jeweils aus zwei Substantiven bestehen, z.B. Schiffs-Rumpf, Tinten-Füller, TelefonHörer, Arm-Leuchter, wobei beide Wortteile etwas Konkretes und Materielles haben sollten › Die Worte auf einen Zettel schreiben › Jeder Spieler zieht einen Zettel und übersetzt das Wort in Bewegung; dabei können die Wortteile auch einzeln und additiv umgesetzt werden › Die Gruppe fügt gemeinsam oder durch einen ausgewählten Choreografen die Bewegungssequenzen einer Gruppe aneinander und komponiert die Raumpositionen der einzelnen Gruppenmitglieder › Das Spiel kann mit dem Erraten der Ur-

121

122 Spielweisen sprungsbegriffe durch die anderen Gruppen oder durch das Publikum enden oder mit der Präsentation eines Bewegungsbilder-Kaleidoskops › Das Spiel kann auch als Aufführung mit Publikumsbeteiligung durchgeführt werden. Kickboxen als Tanz Per Filmaufnahme die Bewegungen eines Kickboxers analysieren: Welche Bewegungsaktionen und -figuren sind charakteristisch? Welche Fertigkeiten braucht ein Kickboxer? › Bewegungsmuster imitieren, z.B. Aufwärts- oder Seithaken und Fußtechniken wie Fußstoß vorwärts (Front-Kick), seitwärts (SideKick), rückwärts (Back-Kick) › Das »Tänzelnde« der BoxbewegunForm geben gen herausfiltern und steigernπ › Sich vorstellen, gegen einen –› Tools –› imaginären Gegner zu boxen › Die Raumorientierung um 90° Variieren kippen und die Bewegungssequenz liegend ausführen. Aleatorische Spiele Zu den Spielen, in denen der Zufall zur Regel erklärt wird, zählen Würfel-, Karten- und Losspiele. Die Aleatorik bezeichnet in Kunst, Musik und Literatur das Erzeugen ästhetischer Formen durch Zufallsoperationen, in der Choreografie analog die Hervorbringung sowohl von choreografischer Ordnung wie von Interaktionsmustern zwischen Akteuren nach dem Zufallsprinzip. Die auf Aleatorik beruhende choreografische Arbeit erlaubt, Strukturen und Gewohnheiten zu unterlaufen und Raum zu öffnen für unvorhersehbare, ungeplante Konfigurationen. Bewegungsgenerierung, Formgebung und Komposition können mit Hilfe aleatorischer Verfahren erfolgen, eine Bewegungssequenz oder eine Choreografie kann über Zufallsverfahren modifiziert werden. Aleatorische Spiele lassen sich auch als Verfahren der DekonKomposition struktion einsetzen.π Der gesamte choreografische Prozess –› Verfahren kann dem Zufallsprinzip folgen (Gesamtaleatorik) oder einzelne Arbeitsschritte verwenden aleatorische Ver fahren (Teilaleatorik), z.B. die Komposition von festgelegtem Bewegungsmaterial. Festlegen und Erinnern –› Verfahren

Raumpunkt und Körperteil miteinander verbinden Raumkonzept der Neun-Punkte-Technikπ wählen › a zählt lautlos im Loop von 1 bis 27 › Die Zahl, bei der b Stopp sagt, definiert den Raumpunkt, der angetanzt wird › a zählt stumm

Choreografieren als Spiel verschiedene Körperteile auf, die frei gewählt oder zuvor auf einer Liste festgehalten werden können, z.B.: Kopf, Ellenbogen, linker Unterarm, rechte Ferse › Das Körperteil, bei dem b stoppt, initiiert die Bewegung in Richtung des Raumpunktes › Spiel mit Wechsel der Spielerrollen ausführen, Bewegungen wiederholen und durch Auszählung aneinanderreihen. Telefonnummern als Entscheidungsgeber Gruppen mit neun Teilnehmenden bilden, jede Gruppe sucht sich eine Telefonnummer aus › Die Zahl bestimmt die Personenzahl der an der Bewegungssequenz Beteiligten: 1 wird ein Solo, 2 ein Duo, 3 ein Trio › Bewegungssequenzen entwickeln und zu einer Choreografie in der Zahlenreihe zusammenfügen. Listen und Zufallszuordnungen Eine Liste mit verschiedenen Bewegungsaufgaben aufstellen, z.B. Aufgabe 1: sich vorstellen in einer Telefonzelle zu stehen in der sich eine Wespe befindet; Aufgabe 2: über den Boden rollen und dabei den Boden mit möglichst vielen Körperflächen berühren; Aufgabe 3: zwei Punkte am Körper definieren und diese aufeinander zu beziehungsweise voneinander weg bewegen › Jeder Akteur wählt eine Aufgabe und legt eine Bewegungssequenz fest, die Reihenfolge der Bewegungssequenzen wird durch Würfelwurf bestimmt. Körperaktionen würfeln Das Spiel umfasst sechs Körperaktionen: Sprung, Drehung, Gewichtsverlagerung, Pose, Bewegung im unteren Raumlevel, Fortbewegung › Die Zahlen 1 bis 6 nach dem Zufallsprinzip einzelnen Körperaktionen zuordnen und in zwei Spalten notieren, z.B. in die erste Spalte die Zahlen 1 bis 6 untereinander schreiben, in die zweite Spalte die Körperaktionen › Jede Akteurin würfelt nach einer zuvor vereinbarten Häufigkeit und notiert die Zahlen. Die Zahl bestimmt die Körperaktion › Die entstandene Reihenfolge zu einer Bewegungssequenz ausarbeiten › Die Bewegungssequenz in verschiedenen Gruppenfigurationen ausführen. Diese jeweils mit einem Zahlenwürfel bestimmen. Fortbewegungsarten würfeln Sechs Fortbewegungsarten auswählen, z.B. Springen, Rollen, Rutschen, Hüpfen, Gehen, Rennen › Die Zahlen 1 bis 6 nach dem Zufallsprinzip einzelnen

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124 Spielweisen Fortbewegungsarten zuordnen › Jeder Akteur würfelt sechs Mal hintereinander und legt damit für sich die Reihenfolge der Körperaktionen fest › Daraus jeweils eine Bewegungssequenz erarbeiten. Spielkarten Körperteile Spielkarten, auf denen jeweils ein Körperteil aufgeführt ist, anlegen, z.B. linker Arm, rechtes Bein, linke Hüfte › Jeder zieht mehrere Karten und legt sie nebeneinander › Mit der Vorstellung eines rollenden Balls durch den Körper die Körperteile nacheinander in Bewegung bringen › Übergänge zwischen den Bewegungen der einzelnen Körperteile finden. Kartenspiel Formgebung Eine Bewegungssequenz festlegen › Vier Spielkarten mit Tools zur Formgebung anlegen, z.B. Steigern, Limitieren, Transponieren, Scratchen › Jeder Akteur zieht eine Karte › a führt eine Bewegungssequenz im Loop aus › b kommt hinzu und variiert die Bewegungssequenz entsprechend des Tools der Spielkarte › Das Spiel im on/off-Modus ausführen, z.B. a geht ins Off und wird ersetzt durch c, dann b durch d; oder: b geht ins Off, a und c sind im Spielfeld.

Spiel als Echtzeit-Komposition

Essay

Bei der Echtzeit-Komposition werden regelgeleitete Improvisationen als Choreografie verstanden. Prozess und Produkt sind nicht trennbar, die performativen Aspekte treten in den Vordergrund. Die Choreografie entsteht im Moment der Aufführung. Dies kann eine künstlerische Aussage oder Ausdruck eines künstlerischen Forschungsprozesses sein, der sich z.B. mit der Frage nach dem Verhältnis von Bewegung und Ordnung befasst. Das Verfahren kann für das Publikum sichtbar und erfahrbar gemacht werden. Bleibt es unsichtbar, wird das Publikum mit der Frage konfrontiert, ob das Gesehene eine Improvisation oder eine festgelegte Choreografie ist. Durch die Unvorhersehbarkeit der sich in Echtzeit entwickelnden Choreografie kommt den situativen Entscheidungen der Akteure grundlegende Bedeutung zu. Die Echtzeit-Komposition schult improvisatorische Fähigkeiten (z.B. Bewegungssequenzen zu gestalten oder die anderen in der Bewegung wahrzunehmen und mit ihnen zu agieren) und choreografisches Denken (die Fähig-

Choreografieren als Spiel

125

keit, die choreografische Ordnung, die Ordnung der Körper in Raum und Zeit zu erfassen und die eigenen Aktionen dramaturgisch sicher zu setzen). Echtzeit-Komposition setzt Prinzipien voraus, z.B.: Es gibt keine Fehler | Keine Aktion ist eine Störung | Nichts kann uns aus dem Konzept bringen | Jeder ist für seine Aktion und seine Bezugnahme auf den anderen selbst verantwortlich. Where is the Hot Spot? a markiert einen »H0t Spot« › a nimmt eine Pose im Raum ein › Weitere Akteure setzen sich dazu akkumulierendπ in Beziehung mit weiteren Posen › NachKomposition –› Tools –› dem alle Spieler eine Pose eingenommen haben, eröffnet b einen neuen »Hot Spot« etc. › Die anderen Akteure können in Kombinieren derselben oder in einer anderen Reihenfolge darauf reagieren. Sich aufeinander beziehen Bewegungssequenz entwickeln › Tools zur Formgebung auswählen, z.B. Kopieren, Wiederholen, Steigern › Jeder Teilnehmende hat drei Tools zur Verfügung › Jeder nutzt ein Tool zur Veränderung der Bewegungssequenz › Die Szene wie eine Gruppendiskussion gestalten. Argumente austauschen Bewegungsmaterial auswählen › a sagt laut ein Tool zur Formgebung bei der Ausführung der Bewegung › b antwortet mit einem anderen oder mit demselben Tool. Choreografisches Denken schulen Den Straßenverkehr an einer Kreuzung als Echtzeit-Komposition analysieren: Wie lässt sich die Choreografie von Fußgängern, Radfahrern, Autos etc. beschreiben? Wie steht die Bewegungsordnung in Beziehung zur Raumordnung, z.B. zu Ampelanlagen, zur Straßenführung? › Beobachtungen auswerten › Einen Score entwickeln und diesen in einer Bewegungsszene umsetzen.

126

127

Zusammenarbeit Choreografische Prozesse finden unter sehr unterschiedlichen Bedingungen statt. Ob als freie Produktion oder Auftragsarbeit, institutionell gebunden oder in der »freien Szene«, mit erfahrenen oder weniger erfahrenen Teilnehmenden, ob in festen Probenräumen und zu fixierten Probenzeiten oder räumlich und im Zeitplan variabel, intensiv innerhalb eines kurzen Zeitraums oder über einen längeren Zeitraum mit kurzen Probenzeiten – der Rahmen entscheidet mit darüber, wie ein solcher Prozess abläuft. Dieses Modul thematisiert die Rahmenbedingungen und die Formen der Zusammenarbeit sowie die Aufgaben und Funktionen der am choreografischen Prozess Mitwirkenden.

RAHMEN

FORMEN

MITWIRKENDE

128 Projektidee

139 Hierarchie

144 Choreograf/in

129 Finanzierung

140 Kollektiv

145 Tänzer/in

131 Institutionelle Verankerung

141 Kollaboration

148 Dramaturg/in

142 Netzwerk

151 Komponist/in, Musiker/in

134 Zeitorganisation 135 Probenraum

128 Zusammenarbeit

RAHMEN Dieser Baustein thematisiert die konzeptionellen, institutionellen, räumlichen, zeitlichen, finanziellen und personellen Rahmungen des choreografischen Prozesses unter folgenden Gesichtspunkten: Projektidee | Finanzierung | Institutionelle Verankerung | Zeitorganisation | Probenraum.

Projektidee Im Verhältnis von Rahmung und Projektidee besteht eine weite Spannbreite: Die Rahmenbedingungen können passend zu einer bestehenden Projektidee gestaltet werden, indem entsprechend Kooperationen, Proben- und Aufführungsraum, Beteiligte etc. ausgesucht werden. Es gibt aber auch die Situation, dass die Projektidee innerhalb und abhängig von einem gegebenen Rahmen entsteht, zum Beispiel bei einer Auftragsarbeit.

Von der Projektidee zur Rahmung Soll das Projekt in einer Institution durchgeführt werden oder in einer unabhängigen Form, z.B. innerhalb der »freien Szene« organisiert werden? – Gibt es potenzielle Geldgeber, die Interesse haben könnten, das Projekt finanziell zu unterstützen, z.B. weil eine bestimmte Zielgruppe angesprochen wird, das Projekt in einem bestimmten Stadtteil stattfinden soll oder das Thema von aktueller gesellschaftlicher und politischer Relevanz ist? – Welche Mitwirkenden, das heißt Tänzer/ innen, Musiker/innen, Dramaturg/innen, Ausstatter/innen etc. werden gebraucht, um die Projektidee umzusetzen? – Wie sind die Beteiligten zeitlich verfügbar? Leben sie alle an einem Ort? Wie können die Proben organisiert werden? – Wie viel Probenzeit braucht das Projekt? Welche Zeitorganisation ist angemessen? – Welche räumlichen Bedingungen benötigt das Projekt? Welche Probenräume werden gebraucht? Welcher Aufführungsort wäre angemessen? Von den Rahmenbedingungen zur Projektidee Der choreografische Prozess vollzieht sich innerhalb gegebener Rahmenbedingungen. Welche Auswirkungen haben diese auf die künstlerische Auseinandersetzung? Sind sie verhandelbar? Welche Rahmenbedin-

Rahmen gungen sind festgelegt, welche können verändert werden? – Welche Proben- und Aufführungsräume sind vorhanden? Wofür sind sie geeignet? – Wie viel Zeit, wie viel Geld stehen dem Projekt zur Verfügung? Sind an die Finanzierung Bedingungen geknüpft, wofür das Geld ausgegeben werden kann? Bedeuten die Rahmenbedingungen Einschränkungen, z.B. in Bezug auf Geld, Raum oder Zeit? Wie beeinflusst das die Ausrichtung der künstlerischen Auseinandersetzung? Wie können diese Bedingungen und Einschränkungen kreativ genutzt werden, um daraus innovative Ideen entstehen zu lassen? – Sind die am choreografischen Prozess Mitwirkenden, z.B. Dramaturg/in, Ausstatter/in, Tanzende, selbst gewählt oder wird die Zusammenarbeit durch die Institution vorgegeben? Wird das Projekt dramaturgisch von der Institution betreut? Stammen z.B. beteiligte Schüler/innen oder Jugendliche aus einem sozialen Brennpunkt? – Wie werden die Rahmenbedingungen, z.B. die Begrenzung der Probezeiten, mit den Beteiligten kommuniziert? – Wie läuft die Kommunikation zwischen Choreograf/in und Vertretern der Institution – vor, in und nach dem Prozess? Gibt es Möglichkeiten, sich gegenseitig zu stützen und Feedback zu geben?

Finanzierung Ein choreografisches Projekt kann finanziert werden u.a. durch: Mittel der initiierenden Institution | einen Mäzen oder Sponsor, z.B. durch Sachmittel | Gewinnen eines Wettbewerbs | Ausführen einer Auftragsarbeit | Teilnehmen an einem Artistin-Residence-Programm | Beiträge der Teilnehmenden | Einwerben von Geldern über einen Antrag bei einer Stiftung, einer Behörde, einem Ministerium | durch eine Kombination dieser Finanzierungsmodelle. Woher erfährt man, welche Ausschreibungen, Wettbewerbe etc. für Kultur- und Bildungsprojekte aktuell sind? Z.B. auf den Internetseiten von Stiftungen, Kulturbehörden, Ministerien und überregionalen Kulturinstitutionen. – Welche Informationen muss ein Antrag enthalten, damit er Aussicht auf Erfolg hat? Z.B. Lebenslauf, Dokumentation des choreografischen Schaffens, Motivation, Konzeptentwurf für die Choreografie. – Wie kann das künstlerische Anliegen adäquat

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130 Zusammenarbeit beschrieben werden? – Wie kann der Finanzplan so aufgestellt werden, dass die Budgetierung Freiräume zulässt, um auf unvorhergesehene Entwicklungen im Probenprozess reagieren zu können? – Wie kann der Finanzplan so gestaltet werden, dass das Projekt auch mit einer geringfügigeren Finanzierung als geplant durchgeführt werden kann? Wie können künstlerische Entscheidungen an das Budget angeglichen werden? Kann mit Einschränkungen kreativ umgegangen werden, z.B. indem man mit weniger Personen arbeitet, weniger aufwendige Technik nutzt, beim Bühnenbild oder den Kostümen einspart. Kann ein Ergänzungsantrag gestellt werden, wenn die Projektkosten aus nachvollziehbaren Gründen höher ausfallen als geplant? – Wer kann Hilfe bei der Erstellung eines Finanzplanes geben, z.B. die kooperierende Institution? – Kann das Schreiben eines Antrags zu mehr dienlich sein als zur Geldakquise, z.B. indem die Projektbeschreibung zur Klärung des künstlerischen Selbstverständnisses genutzt wird? Mittel der initiierenden Institution Eine Choreografin erarbeitet ein Projekt an einer Schule › Ihr Honorar und die Kosten für Kostüme und andere Materialien werden aus einem schuleigenen Budget bezahlt › Die Choreografin kann selbst entscheiden, wie sie das Geld innerhalb des Projekts ausgibt, und muss sämtliche Auslagen belegen. Sponsor In einer Choreografie wird z.B. mit großen Schaumstoffelementen gearbeitet › Die Ausgaben übersteigen die im Finanzierungsplan bewilligte Summe für Materialkosten › Ein am Ort ansässiger Hersteller wird angesprochen › Er unterstützt das Projekt durch das zur Verfügungstellen von Schaumstoff › Er wird bei der Ankündigung des Projekts als Unterstützer genannt. Wettbewerb Eine Institution schreibt einen Wettbewerb zum Thema »Jugend und Stadt« aus › Ein Choreograf, der schon öfter mit Jugendlichen gearbeitet hat, entwickelt eine Projektidee, in der sich Jugendliche performativ mit ihrem Stadtteil und dessen Architektur auseinandersetzen › Er akquiriert eine Schulklasse und findet eine Architektin, mit denen er das Projekt gemeinsam umsetzen möchte › Er verfasst ein Konzept, in dem er seine

Rahmen künstlerische Herangehensweise an das Thema sowie die Mitwirkenden vorstellt, und beteiligt sich mit diesem an dem Wettbewerb. Auftragsarbeit Eine Choreografin wird von einer Institution eingeladen, ein Projekt mit der hauseigenen Kompanie zu erarbeiten › Das Stück soll auf dem Festival der Institution zur Eröffnung der Saison Premiere haben › Die Choreografin hat konkrete Vorgaben bezüglich des Proben- und Aufführungsraums, der Mitwirkenden und des Zeitrahmens › Sie versucht, kreativ mit diesen Vorgaben umzugehen und erprobt eine Zusammenarbeit im Kollektiv, in der auch der Dramaturg und die Haustechniker als Akteure auf der Bühne beteiligt sind › Das Publikum lernt bei den Aufführungen nicht nur die Tanzenden kennen, sondern auch die Mitarbeitenden der Institution, die normalerweise hinter den Kulissen bleiben. Beiträge Eine Choreografin erarbeitet mit Workshop-Teilnehmenden eine Choreografie › Die Bezahlung der Choreografin erfolgt durch Teilnehmerbeiträge › Sie plant eine Aufführung, in der die choreografische Arbeitsweise im Kurs vorgestellt wird › Dadurch können unter Umständen neue Teilnehmende gewonnen werden. »Gustav-Mahler-Jahr« Ein Choreograf setzt sich seit Jahren mit der Musik von Gustav Mahler auseinander › Anlässlich des 100-jährigen Todesjahres des Komponisten schreibt ein Theater Projekte für intermediale Produktionen über Mahler aus › Der Choreograf nutzt das Antragschreiben dazu, seine Arbeit über Mahler auf zeitgenössische Fragen zur Intermedialität von Musik und Tanz zu konkretisieren.

Institutionelle Verankerung Choreografieprojekte können im Rahmen einer Kultureinrichtung oder Ausbildungsstätte stattfinden oder freie Produktionen sein. Kultureinrichtungen sind z.B. Kulturzentren, Stadtteilzentren, Museen, Theater sowie temporäre, mitunter ortsungebundene Projekte wie Festivals, Choreografie-Plattformen oder Tanzmessen.

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132 Zusammenarbeit Welches Profil hat die Kultureinrichtung, in der das choreografische Projekt stattfinden soll? – Welche Unterstützung kann sie anbieten? – Welche Vereinbarungen können getroffen werden? Welche Form ist sinnvoll, z.B. eine mündliche oder schriftliche Vereinbarung oder ein Kooperationsvertrag? – Welche Infrastruktur ist vorhanden, z.B. in Bezug auf Räume oder Projektgelder? – Welche begleitende Arbeit leistet die Institution, z.B. Öffentlichkeitsarbeit, Teilnehmer- und Publikumsakquise, Organisation, technische Unterstützung? – Setzt die Institution Vorgaben für die choreografische Arbeit? Welche? Stellt sie z.B. eine bestimmte Zielgruppe bei den Teilnehmenden oder dem Publikum? Soll das Choreografieprojekt ein Freizeitangebot für Jugendliche sein, eine Auftragsarbeit für ein Festival, ein Projekt innerhalb einer Themenreihe? – Ist das Budget, das der Produktion zur Verfügung steht, frei verfügbar oder gibt es Vorgaben? – Wer sind die Ansprechpartner, z.B. für organisatorische oder technische Belange? Wie können die Ansprechpartner gut über den Prozess informiert oder an diesem beteiligt werden? – Wie können die Wünsche, Interessen, Motivationen und Ziele der Kultureinrichtung und der Projektleitung bzw. der Projektbeteiligten geklärt werden? – Wie kann die Kommunikation zwischen Institution und künstlerischer Leitung sinnvoll hergestellt werden? Wie lassen sich die konkreten Belange des choreografischen Prozesses der Institution vermitteln und nachvollziehbar machen? – Wie kann eine mögliche Diskrepanz zwischen Realisierbarkeit und Anspruch beider Seiten thematisiert und gelöst werden? – Wie gelingt es Choreograf/innen, eine längerfristige Arbeitsverbindung mit einer Institution aufzubauen? Ausbildungsstätten sind z.B. Schulen, Kunsthochschulen, Universitäten oder staatlich anerkannte Tanzschulen. Choreografisches Arbeiten kann Teil der Ausbildung sein oder außerhalb des Lehrplans in der Einrichtung in Form selbstständig organisierter Projekte stattfinden. Gibt es spezielle Anforderungen der Ausbildungsstätte, wenn die choreografische Arbeit innerhalb eines Ausbildungskontextes stattfindet? – Wird die Teilnahme bewertet oder benotet? Welches Bewertungs- und Benotungssystem wird angewendet? Ist das auf die

Rahmen choreografische Arbeit und auf Leistungen im künstlerischen Prozess übertragbar? – Welchen Stellenwert hat choreografisches Arbeiten in der Ausbildungsstätte? Ist es Teil der Ausbildung, z.B. in einem künstlerischen Studium? Findet es, z.B. in der Schule, innerhalb der Kernunterrichtszeit statt, im Nachmittagsunterricht oder als Wahlfachangebot? Was ist dabei zu beachten, z.B. vorher und nachher anschließender Unterricht, zeitliche Übergänge und Pausen? – Welches Publikum wird bei der Aufführung erwartet? Wird die Choreografie Mitschüler/innen beziehungsweise Mitstudierenden gezeigt, Eltern, Freunden und Verwandten, einer Fachöffentlichkeit, z.B. innerhalb einer Kunsthochschule, oder einer breiten Öffentlichkeit, z.B. in einem Theater? – Welche Bedeutung hat die Choreografie für die Außendarstellung der Ausbildungsstätte, dient sie z.B. der Präsentation eines Studiengangs, einer Meisterklasse, des Profils einer Schule? Freie Produktionen finden in einem projektbezogenen Rahmen statt, der sich unabhängig von städtischen, staatlichen oder privaten Trägern über öffentliche Gelder, Stiftungen oder Sponsoren finanziert. In der Regel entstehen diese Choreografien in wechselnden Einrichtungen oder in Institutionen, die ihnen einen Spielstättennachweis erteilt haben, und werden an unterschiedlichen Orten aufgeführt, zumeist verpflichtend an jenen Orten, die sich an der Finanzierung der Produktion beteiligt haben. Wie kann der choreografische Prozess organisiert werden? Welche Rahmungen sind nötig? – Wie kann die anfallende Arbeit auf die Beteiligten verteilt werden? Gibt es z.B. jemanden, der die Organisation übernimmt? – Welche Kooperationen müssen eingegangen werden, z.B. für Probenräume und Aufführungsorte? – Wie werden die Teilnehmenden akquiriert? – Wie finanziert sich das Projekt? Welche potenziellen Geldgeber werden angesprochen? Wie schreibt man erfolgreich einen Finanzierungsantrag, z.B. an Stiftungen, Behörden, Ministerien? Wer kann dabei helfen? – Wie geht man mit dem Honorar um? Wer bekommt wie viel Geld? – Wie ist die finanzielle Beteiligung an den Aufführungen geregelt? Gibt es einen Einnahmenaufteilungsvertrag, bei dem die Kooperationspartner sich bei einer festgelegten Prozentzahl die Einnahmen, z.B. Eintrittsgelder, teilen? – Sind die Beteiligten während der Proben und Aufführungen

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134 Zusammenarbeit versichert? – Wo kann man das Bühnenbild und das Material, z.B. Kostüme oder Requisiten, lagern, zwischen den Proben und nach den Aufführungen?

Zeitorganisation Choreografische Arbeit setzt eine gute Organisation der Probenzeit voraus. Diese ist abhängig zum Beispiel von: den institutionellen Bedingungen | den Mitwirkenden | den Formen der Komposition Zusammenarbeit | der dramaturgischen Herangehensweise.π Probenzeiten können unterschiedlich disponiert werden: Proben finden einmalig mehrstündig statt | Es gibt einen oder mehrere intensive Probenblöcke, zum Beispiel eine Woche lang täglich | Es wird einmal wöchentlich über einen längeren Zeitraum geprobt | Es finden mehrere Intensivprobenphasen mit Pausen dazwischen statt | Der Zeitplan folgt unterschiedlichen Rhythmen: z.B. ein intensiver Probenblock am Wochenende, dann zwei Monate einmal wöchentlich, eine Probenwoche mit täglichen Proben, Probenpause, intensive Endproben vor der Premiere. Wer gibt den Zeitrahmen für das Projekt vor? Ist der Zeitplan durch institutionelle Bedingungen, z.B. die Verfügbarkeit von Räumen, bestimmt? Oder ist das choreografische Projekt unabhängig in Bezug auf die Zeitplanung? – Welches Zeitbudget bringen die Teilnehmenden mit, z.B. Jugendliche im Schulunterricht oder nachmittags nach der Schule, Erwachsene nach der Arbeit in einem Kursangebot, professionelle Tänzer/innen und Performer/innen, die auch in anderen Projekten engagiert sind? – Welche Zeitorganisation lassen die Zeitbudgets der Teilnehmenden zu? Sind z.B. wöchentliche Proben angemessen, um in der Zwischenzeit generiertes Material einzuüben? Wie kann der künstlerische Prozess auf die Zeitbegrenzungen abgestimmt werden? Wie kann das choreografische Konzept optimal im gegebenen Zeitrahmen umgesetzt werden? – Wie lange dauern die einzelnen Probeneinheiten, z.B. eine Schulstunde (45 Minuten), zwei, drei Stunden, einen ganzen Tag? Benötigen die Teilnehmenden Pausen innerhalb einer Probe? – Gibt es Zeitfenster für Gespräche? Wann sind diese sinnvoll? – Ist eine Aufführung geplant? Welche Auswirkungen ergeben sich daraus für die Zeitorganisation? – Wie können Probenzeit und Dauer der Choreografie aufeinander abge-

Rahmen

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stimmt werden? – Wie können Veränderungen der Zeitorganisation zu jeder Zeit klar an alle Teilnehmenden vermittelt werden? Erarbeitung eines Zeitplans Ein Zeitplan ist ein Tool des Projektmanagements und sorgt für die termingerechte Durchführung des Projektes › Arbeitsphasen und -ziele zu Projektbeginn festlegen › Diese auf das geplante Gesamtziel, z.B. abendfüllendes Stück oder Lecture-Performance, zuschneiden › Auf Situation und Gruppe abstimmen: Welche Zeitorganisation brauchen die Teilnehmenden? Brauchen sie mehr Pausen, kürzere Proben, eine längere Probenzeit? Setzt sich die Gruppe neu zusammen oder sind es erfahrene Teilnehmende? › Zeitfenster einbauen, um auf Angebote der Teilnehmenden reagieren zu können › Zeitplan immer wieder auf Umsetzbarkeit überprüfen und › Während der gesamten Arbeitsphase auf den Prozess und die Gruppe reagieren. Erarbeitung eines Probenplans Der Probenplan dient der inhaltlichen Organisation der Probenzeit. Er legt die Arbeitsschritte fest und entscheidet, wer bei den nächsten Proben anwesend sein muss. Er kann für einen kurzen Zeitraum, z.B. für den kommenden Tag, oder einen längeren Zeitraum, z.B. für zwei Wochen, festgelegt werden › Vor Erstellung des Probenplans sollte die Zeitorganisation geklärt sein › Änderungen im Probenplan ergeben sich durch den Probenprozess › Der Probenplan wird an alle Beteiligten, die Institution und die Technik weitergegeben, weil gerade in Endproben die choreografische Arbeit in enger Zusammenarbeit mit allen Beteiligten stattfindet.

Probenraum Ob z.B. in einem Tanzstudio, einem Theaterprobenraum, einer Turnhalle, im öffentlichen Raum geprobt wird, wie groß der Raum ist oder welche Beschaffenheit der Boden auf weist – der Probenraum hat Einfluss auf die Arbeit, ebenso wie der Aufführungsort. Die räumlichen Gegebenheiten sind einerseits eine grundlegende Voraussetzung für die choreografische Arbeit, andererseits können sie auch Impulse setzen und z.B. die Themenwahl bestimmen.π

Dramaturgie

136 Zusammenarbeit Wird in dem Raum geprobt, in dem auch die Aufführung stattfindet? Wenn Proben- und Aufführungsraum nicht identisch sind: Wie können in einer letzten Arbeitsphase die räumlichen Gegebenheiten der Choreografie an das Bühnensetting angepasst werden? – Wie ist der Raum ausgestattet? Hat er z.B. einen Schwingboden, einen Spiegel, Matten oder eine Musikanlage? Ist der Raum warm oder kalt? Wie kann die choreografische Arbeit auf die Ausstattung abgestimmt werden? – Welche Atmosphäre hat der Raum? Wie sind die Lichtverhältnisse? Gibt es Quellen der Ablenkung? Wie kann die Probenarbeit darauf reagieren? – Ist das Verhältnis zwischen der Größe des Raumes und der Anzahl der Beteiligten angemessen? – Soll die choreografische Arbeit an einem eher unüblichen Ort stattfinden, z.B. im öffentlichen Raum? Was ist dabei zu beachten, z.B. Umkleidemöglichkeiten, Materiallagerung, Interaktion mit Zuschauern? – Wird in einem Raum gearbeitet, der allen Beteiligten vertraut ist, oder an einem fremden Ort? – Steht der Raum dem Projekt für die gesamte Probenzeit zur Verfügung? Können z.B. Aufbauten, Bühnenbild, Materialien dort stehen gelassen werden? Oder finden die Proben in unterschiedlichen Räumen statt? Welche Folgen hat dies für die Raumnutzung und den Umgang mit Material? Sind die unterschiedlichen Räume gleich groß? Ist die Bühnenfläche vergleichbar? Ist die Qualität des Bodens ähnlich? Unterscheidet sich die Atmosphäre der Räume? Wie können Einschränkungen beziehungsweise Unterschiede konstruktiv und kreativ genutzt werden? – Welche Auswirkungen ergeben sich aus dem Raum für die Arbeitsweise? Inspiriert z.B. der Raum zu einer bewegungsorientierten Arbeitsweise, indem der Bezug zwischen Körper und Raum oder Komposition die Architektur des Raumes thematisiert werden?π Parameter –› Aufführung

Räume choreografisch nutzen

Sporthalle Als Probenraum steht eine Sporthalle zur Verfügung › Ein Stück zum Thema »Sport und Tanz« konzipieren. Die tänzerischen, choreografischen Elemente in Sportspiel und Tanz erforschen und Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede herausarbeiten › Welche Informationen gibt ein Sportraum? Welches Zeichensystem hat er? Welche architektonischen Komponenten sind besonders auffallend? Welche Materialien stellt er zur Verfügung? › Wie ist der Raum aufgeteilt? Gibt es z.B. unterschied-

Rahmen liche Nutzungszonen? › Die Informationen für die Choreografie nutzbar machen, z.B. Seile, Weichbodenmatten und Kletterwände als Auslöser für eine Auseinandersetzung mit Risiko und Sicherheit nutzen und entsprechend Aufgaben zur Generierung von Bewegungsmaterial formulieren › Löst der Raum spezielle Stimmungen (z.B. Wettkampfatmosphäre), Assoziationen (z.B. Leistungsorientierung, Teamgeist, Konkurrenz) oder Erinnerungen (z.B. an den eigenen Sportunterricht) aus? Wie können diese in die Choreografieentwicklung einbezogen werden? π

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Choreografieren als Spiel

Fabrikhalle Welche Besonderheiten sind in einer Fabrikhalle zu finden? Hat der Raum viele und große Fenster? Wie können diese choreografisch genutzt werden? › Es gibt z.B. zwölf Fenster an zwei Raumseiten › Anzahl der Fenster auf Anzahl der Beteiligten übertragen › Das Raummuster, das von den Fenstern einer Seite gebildet wird, um 90° kippen und auf den Boden transpoForm geben –› nierenπ › Alle choreografischen Räume entwickeln sich entlang Tools –› Variieren dieses Raummusters. Schule als Bühne Welche Räume kann man in einer Schule neben der Turnhalle oder der Theaterbühne für eine Aufführung nutzen, z.B. Toiletten, Schulhof, Treppenhaus, Essensraum etc.? | Symbolische Besetzungen eines Raumes auf einen anderen Raum übertragen und eine Behauptung aufstellen. Z.B.: Der Schulhof wird durch die tanzenden Schüler/innen zur Diskothek. Oder: ein Treppenhaus zur Kirche umdeuten und das Bewegungsverhalten darauf ausrichten.π Die choreografische Idee räumlich umsetzen Orte der Langeweile Die Schüler/innen entscheiden sich, choreografisch zum Thema »Langeweile in der Schule« zu arbeiten › Welcher Schulraum passt zum Thema der choreografischen Arbeit? In welchen Räumen kann eine Recherche zum Thema Langeweile stattfinden? Welche Ausstattung braucht der Raum, um das Thema in der Probenarbeit umzusetzen? Soll dieser Raum sowohl für die Proben als auch für die Aufführung verwendet werden? Wie könnte er für die Aufführung umgewandelt werden?

Aufführung

138 Zusammenarbeit › Einen Schulraum auswählen, der mit Langeweile verbunden wird › Das entsprechende choreografische Material entwickeln › Die Choreografie auf andere Orte übertragen und den ortsspezifischen Bedingungen anpassen, z.B. vom Klassenzimmer ins Wartezimmer eines Arztes, zur Warteschlange bei einer Behörde, zum Warteraum im Bahnhof. Unwirtlich Es soll ein Stück zum Thema »Soziale Ungerechtigkeit« erarbeiten werden › Die Tanzenden arbeiten mit Alltagsbewegungen, die prekären Tätigkeiten, wie putzen, betteln, auf dem Arbeitsamt warten, entlehnt sind › Außerdem verarbeiten sie journalistische Texte, die Armut, Arbeitslosigkeit und UnterKomposition bezahlung thematisierenπ › In welchem sozialen Rahmen soll –› Intermediale die Bewegungsgenerierung stattfinden, z.B. in einer WohnsiedKomposition lung mit Hochhäusern oder einer vorstädtischen Einkaufspassage?

Formen

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FORMEN Zusammenarbeit bezieht sich auf: die Mitwirkenden am choreografischen Prozess | die Interaktion der Akteure auf der Bühne | die Interaktion der Akteure mit dem Publikum. In der zeitgenössischen Choreografie wird der Zusammenarbeit eine hohe Bedeutung beigemessen, da die Choreografie eher als Ensembleleistung und weniger als Werk einer einzelnen Person verstanden wird. Der choreografische Prozess gilt als Experimentierfeld des Sozialen, weil hier Formen der Zusammenarbeit erprobt werden können: wenn in der Probenarbeit die Reflexion des Miteinanders einen zentralen Bestandteil darstellt, wenn das Publikum über Partizipation in die Choreografie einbezogen wird, oder wenn Zusammenarbeit zum Thema des Stückes wird und sich in der Dramaturgie widerspiegelt.π In der choreografischen Praxis mischen sich häufig verschiedene kollaborative Formen.

Hierarchie In der traditionellen Aufgabenverteilung sind Choreograf/innen hauptverantwortlich für den gesamten choreografischen Prozess und als künstlerische Projektleitung die letzte Entscheidungsinstanz. Alle anderen am Produktionsprozess Beteiligten (künstlerisches, organisatorisches und technisches Team: Tänzer/innen, Musiker/innen, Dramaturgie, Ausstattung, Technik, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit) bringen im Rahmen ihres Aufgabengebiets ihre Kompetenzen ein und treffen in Absprache mit den Choreograf/innen Entscheidungen für ihren Bereich. Stellt die Choreografin Improvisations- und Kompositionsaufgaben, aus denen die Akteure Bewegungsmaterial entwickeln? – Entscheidet der Choreograf, wie das Bewegungsmaterial weiter behandelt wird, indem er Angaben zur Formgebung des Materials macht? – Komponiert die Choreografin das Material der Akteure nach ihren eigenen Vorstellungen? – Haben alle Beteiligten festgelegte und klar strukturierte Aufgaben und Funktionen, die dem Choreografen zugeordnet sind? – Fällt die Choreografin sämtliche künstlerischen Entscheidungen und trägt die Hauptverantwortung für das Projekt?

Komposition

140 Zusammenarbeit

Kollektiv In choreografischen Projekten werden zunehmend gleichberechtigte Formen der Zusammenarbeit erprobt. Dazu gehört der Versuch, klassische Hierarchien zwischen den Mitwirkenden im choreografischen Prozess zu hinterfragen. Die Arbeit im Kollektiv zeichnet sich durch Teilhabe aller Beteiligten aus. Die strenge Rollenverteilung von Choreograf/in, Dramaturg/in, Ausstatter/in wird aufgelöst. Die einzelnen Funktionen sind nicht von vornherein festgeschrieben, sie können sich im Arbeitsprozess herausbilden und verändern, sie werden immer wieder neu ausgehandelt. Jeder Mitwirkende hat Einflussmöglichkeit auf den gesamten Probenprozess und wird zum Mit-Autor bei der Entwicklung der Choreografie. Alle sind in gleicher Weise verantwortlich und gehen alle Arbeitsschritte gemeinsam, z.B.: Konzept entwickeln und aufschreiben, erste szenische Aufbauten, Proben, Aufführen. Die Zusammenarbeit ist bestimmt durch Selbststeuerung und Selbstbestimmung der Beteiligten. Kollektive Arbeitsformen werden begleitet von einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser gleichberechtigten Arbeitsweise. Wie werden die Funktionen innerhalb des Produktionsteams verteilt? Werden die Aufgaben von Choreograf/in, Tänzer/in, Dramaturg/ in etc. während des Prozesses von verschiedenen Beteiligten erprobt und erst im Verlauf der Arbeit festgelegt? Werden Funktionen für bestimmte Probenphasen festgelegt? Findet eine Auswertung der Rollenverteilung statt? – Wonach werden Funktionen, z.B. die Verantwortlichkeit für eine Probe, vergeben? – Übernehmen die Tänzer/innen die Mit-Autorenschaft bei der Bewegungsgenerierung? Werden beispielsweise Aufgaben zur Bewegungsgenerierung an einzelnen Probentagen von wechselnden Personen gegeben? – Wird die Idee des Kollektivs als choreografisches Konzept umgesetzt durch die Entwicklung von Spielweisen? Soll das Spiel Prozess und Produkt zugleich sein? Werden die Spielregeln von allen Beteiligten während des Prozesses entwickelt? Übernehmen alle Teilnehmenden eine Verantwortung im Produktionsprozess sowie in der Aufführung der Choreogra- Echtzeit-Komposition?π fieren als Spiel

Formen

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Von kollektiver zu hierarchischer Zusammenarbeit Bei Probenbeginn wird gleichberechtigt an der Arbeitsweise und Themenfindung gearbeitet › In den Endproben trifft die Choreografin zunehmend die Entscheidungen und bündelt den Arbeitsprozess im Sinne der Gruppe zu dem Produkt, das bei der Aufführung gezeigt wird. Funktionsverteilung über Zufallsprinzip Der Zufall entscheidet über die Aufgaben der Beteiligten: den Punkten eines Würfels werden Funktionen zugeordnet, z.B. 1: Person, die Bewegungsaufgaben stellt, 2: Tänzer/in, 3: Dramaturg/in, 4: Person, die über die Auswahl der Musik entscheidet, 5: Person, die über das Raumkonzept entscheidet, 6: Zuschauer/in › Die Funktionen werden für eine Probenphase gewürfelt | In der Echtzeit-Komposition würfelt ein Zuschauer die Funktionen der Beteiligten aus.

Kollaboration bezeichnet die Zusammenarbeit mehrerer Künstler/innen, entweder innerhalb einer Kunstform (z.B. mehrerer Choreograf/innen oder Tänzer/innen) oder im Zusammentreffen mehrerer Kunstformen (z.B. Choreograf/in, Komponist/in, Bildende/r Künstler/ in), sowie die Zusammenarbeit mit Experten/innen aus anderen Feldern (z.B. Wissenschaftler/innen, Politiker/innen, Manager/ innen). Kollaboration bietet die Chance zur Auseinandersetzung mit den Ideen der anderen, indem alle Beteiligten ihr Expertenwissen in Austausch bringen und gemeinsam etwas Neues, Drittes, produzieren. Gemeinschaft wird als Mehrstimmigkeit im Miteinander verstanden, in dem die Besonderheit der einzelnen Beteiligten erhalten bleibt. Die Funktionen der Kollaborierenden im Arbeitsprozess können offen und flexibel oder auch festgelegt und unveränderbar sein, je nach Konzept der Zusammenarbeit. Wirken in einem intermedialen Projekt verschiedene Künstler/innen Choreograzusammen, z.B. Soundkünstlerin, Choreograf, Lichtdesigner, Bühfieren als Spiel nenbildnerin? Arbeiten sie parallel und autonom? Werden ihre –› Spielarten künstlerischen Ergebnisse am Ende zusammengefügt, z.B. durch ein Spielmuster aleatorisches Verfahren?π – Geht die Kollaboration vom Prinzip der Weitergabeπ aus? Zum Beispiel: Ein Dramaturg gibt einen Text –› Scores –› Re-formulieren

142 Zusammenarbeit an eine Komponistin, die daraufhin eine Musikpartitur verfasst; diese gibt sie weiter an einen Choreografen, der damit Bewegungsmaterial generiert. – Wie gehen die Kollaborierenden mit Abhängigkeit und Unabhängigkeit um? – Wie können Abstimmungen stattfinden, wie kann aufeinander eingegangen werden? Choreografin – Komponist Choreografin und Komponist treffen sich vor Probenbeginn und tauschen sich über das Vorhaben, das Forschungsinteresse, die Arbeitsweise und die Form der Zusammenarbeit aus › Sie entscheiden sich für eine gleichberechtigte Zusammenarbeit › Sie kristallisieren eine gemeinsame Forschungsfrage heraus und vermitteln einander die bisher verwendeten Methoden und Arbeitsweisen › Welches Vorgehen ergibt sich daraus? › Material wird entwickelt, gesammelt, in Bildund Tonaufnahmen festgehalten › Beim gemeinsamen Anschauen werden Entscheidungen für den weiteren Fortgang getroffen.

Netzwerk Künstlernetzwerke sind Plattformen für Austausch und Zusammenarbeit. Sie sind häufig von den Beteiligten selbst organisiert. Durch unterschiedlich intensive Beteiligungen und Fluktuationen der Teilnehmenden entstehen Formen der Zusammenarbeit, die ortsübergreifende Zusammenarbeit ermöglichen, aber auch wechselnd und wenig verbindlich sein können. Entstehen in einem Netzwerk choreografische Projekte, geht die Initiative zumeist von Einzelnen aus. Das Internet oder andere Medien können als Plattform dienen, um einen gemeinsamen Prozess zu eröffnen, z.B.: um choreografische Generierungsprozesse oder Arbeitsmethoden vorzustellen und zu reflektieren | als Form der Dokumentation und Aufzeichnung von Arbeitsprozessen | als Kommunikationsforum zur Entwicklung einer choreografischen Dramaturgie Idee.π Open-Source-Projekte sind nicht auf ein festgelegtes Team –› Reflexion beschränkt, sondern öffentlich und jedermann zugänglich. Jeder, der Zugang zum Internet hat, kann etwas zur Idee oder zum Material der choreografischen Arbeit beisteuern, die als ein offener Transformationsprozess verstanden wird. Die Autorschaft ist nicht eindeutig zuzuordnen, das Projekt gehört allen, niemand kann ein Urheberrecht für sich in Anspruch nehmen.

Formen

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Wie kann ein Projekt angelegt werden, in dem Personen von verschiedenen Orten aus zusammenarbeiten? – Bieten sich bestimmte Themen für eine solche Form der Zusammenarbeit an? – Wie soll die ortsübergreifende Zusammenarbeit geregelt werden, z.B. durch Spielregeln, die über eine Open-Source-Plattform kommuniziert werden? Vor welchen Herausforderungen stehen die Beteiligten? Welchen Stellenwert könnte ein Treffen an einem Ort haben, bei dem sich die Beteiligten persönlich kennen lernen? Zu welchem Zeitpunkt ist ein Treffen sinnvoll? – Wie kann in einem demokratischen Prozess eine Struktur gefunden werden, die es allen Beteiligten ermöglicht, gemeinsam ein Projekt zu entwickeln? Netzwerktreffen1 Choreograf/innen und Künstler/innen verschiedener Kunstformen und aus unterschiedlichen Ländern treffen sich in einer Kulturinstitution einer Stadt, um für einen bestimmten Zeitraum miteinander zu leben und zu arbeiten › Grundgedanke des Treffens ist, durch Dialog und Austausch kreative Prozesse zu aktivieren und weiter zu entwickeln › Die Kulturinstitution stellt als Kooperationspartner für das Netzwerktreffen die Infrastruktur zur Verfügung › Künstler/innen vor Ort haben die Möglichkeit, an diesem Netzwerktreffen teilzunehmen › In Showings, Lecture-Performances, Trainings, Laboratorien, Foren und anderen Formatenπ stellen sich die Künstler/innen einander und der Öffentlichkeit vor › Einzelne finden sich zu Gruppen zusammen, die gemeinsam arbeiten. In diesen Projekten kann mit unterschiedlichen Formen der Zusammenarbeit experimentiert werden › Die Zusammenarbeit kann sich auf die Zeitdauer des Netzwerktreffens beschränken oder die Basis für ein eigenes Projekt sein. If/then-Methode online 2 Das choreografische Spiel kann als Open-Source-Projekt im Internet stattfinden, an dem sich jeder beteiligen und vorhandene Scores modifizieren beziehungsweise neue Aufzeichnungen einstellen kann › Die kollaborativ erstellten Aufzeichnungen können als Ausgangspunkt für eine Choreografie dienen, die an unterschiedlichen Orten von verschiedenen Personen – und dadurch in vielfältigen Variationen – umgesetzt wird.

Aufführung

144 Zusammenarbeit

MITWIRKENDE Die Formen der Zusammenarbeit hängen von den Personen ab, die an dem choreografischen Projekt mitwirken, z.B. Choreograf/in, Tänzer/in, Dramaturg/in, Musiker/in, Komponist/in. Die Verteilung von Funktionen innerhalb eines Projekts ergibt sich aus der Form der Zusammenarbeit. Vor Beginn der Zusammenarbeit ist zu klären, ob Erwartungshaltungen, Motivationen und Zielsetzungen aller Beteiligten zusammen passen. Welche Personen sind die passenden, um den choreografischen Prozess zu realisieren? – Ist das Team frei gewählt oder ist es vorgegeben, z.B. von einer Institution? – Kennen sich die Beteiligten aus vorherigen Produktionen oder ist die Zusammensetzung des Produktionsteams neu? – Welche Aufgaben sind zu vergeben? Wie viele Personen braucht die Produktion? – Welche Voraussetzungen müssen die Beteiligten mitbringen? Benötigen sie einen besonderen (Ausbildungs-) Hintergrund oder spezielle künstlerische Interessen? Brauchen sie besondere Fähigkeiten, Fertigkeiten, Vorkenntnisse? Werden sie bezahlt, woher kommt das Honorar? – Wie werden die Aufgabenfelder verteilt? Gibt es z.B. eine Choreografin, einen Assistenten, eine Dramaturgin, einen Techniker, Tänzer und Tänzerinnen? Gibt es Personen für die Organisation, Presse- & Öffentlichkeitsarbeit? – Sollen alle Beteiligten auch als Akteure auf der Bühne stehen? – Welches Konzept der Zusammenarbeit ist geplant? Können und wollen die Personen im Produktionsteam z.B. eigenverantwortlich und selbstständig arbeiten oder setzen sie das Bewegungsmaterial einer Choreografie um? – Welche Bühnenmitarbeiter/innen werden wann in den Produktionsprozess involviert, z.B. Licht- und Tontechniker/innen für die Entwicklung eines Licht- bzw. Tonkonzepts? – Welche anderen Aufgaben sind zu erledigen, z.B. die Aufzeichnung des Probenprozesses beziehungsweise der Aufführung zu Dokumentations- und Werbezwecken?

Choreograf/in In der zeitgenössischen Choreografie hat sich das Selbstverständnis von Choreograf/innen verändert. Sie gelten als Teil der Gruppe, da der choreografische Prozess in enger Zusammenarbeit mit

Mitwirkende den Beteiligten erfolgt und auf Austausch beruht. Choreograf/innen verstehen sich immer auch als suchend, forschend, lernend, vermittelnd und reflektierend.π Während der Planung und Durchführung eines Projekts können Choreograf/innen verschiedene Positionen einnehmen. Entscheidend ist, welche Form der Zusammenarbeit gewählt wurde. Meist verschränken sich mehrere Positionen, und gegebenenfalls werden diese von Projekt zu Projekt immer wieder in Frage gestellt und neu definiert. Folgende Positionen und Funktionen können Choreograf/ innen im Verlauf eines choreografischen Prozesses einnehmen: Choreografin als Leiterin Sie gibt den Rahmen für eine Produktion, leitet den Prozess und fällt die Entscheidungen. Choreograf als Initiator Er setzt einen kollektiven Prozess in Gang, bringt Improvisations- und Kompositionsaufgaben ein oder schlägt Spielweisen vor, entwickelt also gemeinsam mit den Tanzenden die Choreografie und teilt die Entscheidungsgewalt mit allen. Choreografin als Delegierende Sie gibt Aufgabengebiete an verschiedene Personen ab, lässt z.B. das Warm-Up von einem Tänzer anleiten. Choreograf als Berater oder Moderator Er lässt allen Akteuren Freiraum, um selbstständig und selbstbestimmt etwas zu entwickeln, unterstützt diese Arbeit durch sein Wissen und gibt Hilfestellungen, wenn die Akteure Unterstützung brauchen, bzw. greift vermittelnd in die Zusammenarbeit der Beteiligten ein. Choreografin als Lehrende Sie vermittelt Wissen zeitgenössischer Choreografie, z.B. in Form von vorgegebenem Bewegungsmaterial in verschiedenen Tanztechniken. Choreograf als Akteur Er wirkt in der Choreografie als Tänzer mit, z.B. in einem Solo oder als Teil der Gruppe.

Tänzer/in Durch neue Formen der Zusammenarbeit kommen Tänzerinnen und Tänzer in der zeitgenössischen Choreografie andere

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Dramaturgie

146 Zusammenarbeit Rollen zu, die sie stärker an dem choreografischen Prozess partizipieren lassen, indem sie z.B.: ihre Lebenserfahrungen einbringen | ihre körperliche und tänzerische Kompetenz sowie ihre Bewegungserfahrungen einbringen | ihre Biografie zum Thema der choreografischen Arbeit machen und ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse oder Interessen thematisieren | Medien wie Bilder, Texte, Musik beisteuern | mit ihren Fähigkeiten und Vorerfahrungen am Produktionsprozess teilhaben, z.B. in der Technik, in der Programmheftgestaltung | ihr kulturelles Wissen einbringen | die Mit-Autorschaft für die Choreografie Dramaturgie übernehmen.π –› Thema –› Arbeitsweise

Warm-up

Jeder Gruppe ist eine bestimmte Gruppendynamik eigen, die sich ergibt durch die Zusammensetzung der Personen | deren Interessensgebiete (z.B. aktuelle popkulturelle Tanzstile) | die institutionellen Bedingungen und die situative Stimmung (z.B. engagiert, unkonzentriert, aufgedreht). Die Gruppendynamik kann positiv beeinflusst werden z.B. durch: Warm-Up und Kennenlernspiele | Sensibilisierung der Eigen- und Fremdwahrnehmung π | kollektive Spielweisen | einen gemeinsamen Arbeitsraum | eine Arbeitsatmosphäre des gegenseitigen Vertrauens, der Achtsamkeit und des Respekts. Wie setzt sich die Gruppe zusammen? Nehmen die Tanzenden selbstgewählt an dem choreografischen Projekt teil oder sind sie dazu verpflichtet worden, z.B. Schüler/innen im Unterricht, in dem ein Choreografieprojekt durchgeführt wird, oder das Ensemble eines Theaters? – Welche Erfahrung haben die Teilnehmenden in Bezug auf Bewegung und Tanz, Bewegung und Musik, Bewegung und eine inhaltliche Auseinandersetzung mit bestimmten Themen? – Wie können Choreograf/innen damit umgehen, wenn die Tanzenden mit anderen Erwartungshaltungen einsteigen als sie? – Ist die Gruppe tendenziell eher homogen oder heterogen in Bezug auf Alter, Geschlecht, Bewegungs- und Tanzerfahrung sowie kulturellen Hintergrund? – Wie kann das Alter der Teilnehmenden in den choreografischen Prozess eingebunden werden? Welches Potenzial birgt die Zusammenarbeit unterschiedlicher Altersgruppen? Inwieweit wird die Arbeitsweise, die Form der Zusammenarbeit oder das

Mitwirkende

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Bewegungsmaterial durch das Alter geprägt? Welche szenische Fantasie bringen Teilnehmende unterschiedlicher Altersstufen ein? Wie kann altersspezifisches Wissen einbezogen werden? – Inwieweit hat das Geschlecht Auswirkung auf die Bewegungsgenerierung oder auf die Wahrnehmung von Bewegung? Welche Rolle spielen der Umgang mit Sexualität oder geschlechtsspezifische Rollenbildern in der Choreografie? – Wie lässt sich das kulturelle Wissen der Beteiligten für die Choreografie produktiv nutzen, z.B. indem unterschiedliche Muttersprachen in einen Text einfließen, Tanzformen, Gesten und Mimik verschiedener Kulturkreise in einer Choreografie in BezieDramaturgie –› hung gesetzt werden?π – Lässt sich die Dynamik, die zu ProbenArbeitsweisen beginn in der Gruppe vorherrscht, für die choreografische Arbeit nutzen, indem z.B. Aufregung , Überreiztheit in die erste Aufgabenstellung integriert wird? Oder ist es besser, die Atmosphäre zu ändern, indem z.B. eine aufgeregte Gruppe durch Konzentrations- und Partnerübungen beruhigt wird? Lässt sich die Gruppendynamik bündeln, indem Übungen zur Körper- und Gruppenwahrnehmung gemacht werden? Gruppe Gleichaltriger Eine Choreografin arbeitet mit einer Gruppe von pubertierenden Schüler/innen › Sie schlägt ihnen verschiedene Themen vor, die für Jugendliche interessant sein könnten, z.B. Sexualität, Streetdance, Identität, Zukunft › In einer ersten Arbeitsphase werden diese Themen in Diskussionen und mit Bewegungsaufgaben bearbeitet › Ggf. entstehen daraus neue Themen › Es wird gemeinsam entschieden, welches Thema choreografisch bearbeitet werden soll. Altersgemischte Gruppe Eine Szene mit einem zehnjährigen Jungen und einem Zwanzigjährigen entwickeln › Dafür beiden dieselbe Bewegungsaufgabe stellen › Die Unterschiede herausstellen, indem der Zehnjährige seine Bewegungssequenz tanzt und vom Zwanzigjährigen beobachtet wird, dann anders herum Komposition › Kommentierenπ, z.B. indem die Szene im Format eines HipHopBattles angelegt ist › Gesten auswählen und rhythmisch variieren, –› Tools –› die zeigen, ob die Leistung des anderen anerkannt wird oder nicht. Kontextualisieren Typisch weiblich, typisch männlich Durch Improvisation choreografisches Material zum Thema Flirten sammeln › Auf

148 Zusammenarbeit

Form geben

Rollenklischees im Bewegungsverhalten aufmerksam machen und diskutieren, z.B.: Mädchen spielen mit den Haaren, Jungen nehmen Machopose ein › Rollenklischees in Bewegungssequenzen umsetzen › Bewegungsmuster variieren.π Vielfalt in der Einheit Allen Tanzenden dieselbe Bewegungsaufgabe stellen › Jeder Teilnehmende löst die Aufgabe für sich › Die Teilnehmenden präsentieren einander ihre Ergebnisse › Die unterschiedlichen Ergebnisse in ihrer Eigenheit nebeneinander stehen lassen.

Bewegungsanalyse

Kulturell geprägte Assoziationen Ausgangspunkt ist ein abstraktes Bild mit grünen Linien und geometrischen Formen › In der Gruppe reflektieren, welche Assoziationen entstehen. Z.B.: a assoziiert grün mit Frühling, b assoziiert grün mit dem Islam › Die kulturelle Prägung dieser Assoziationen hinterfragen › Reflektieren, welche Bilder entstehen, z.B.: Frühling – empor sprießende Pflanzen, Islam – auf dem Gebetsteppich betende Menschen › Umsetzen der Vorstellungsbilder in Bewegungssequenzen. a erforscht die spezifischen Bewegungsqualitäten einer wachsenden Pflanze anhand der Bewegungsparameter. Daraus eine Bewegungsaufgabe formulieren, z.B.: sich kraftvoll und direkt vom unteren in den oberen Raumlevel bewegen.π Interkulturelles Interview Teilnehmende verfügen über unterschiedliches bewegungskulturelles Wissen, z.B. HipHop, Bauchtanz, Capoeira, Ballett › In einer Interviewsituation befragen sich die Teilnehmenden abwechselnd, was das Spezifische an ihrer Bewegungsform ist. Woher kommt sie? Welche Anforderungen stellt sie an den Körper? Welches Zeichensystem gehört dazu, zum Beispiel Gesten, Mimik? Welche Bewegungsmuster kommen häufig darin vor?

Dramaturg/in Die Funktion und die Art und Weise, wie Dramaturg/innen mit Choreograf/innen oder der Gruppe zusammenarbeiten, kann variieren und hängt von der gewählten Form der Zusammenarbeit ab. Dramaturg/innen bringen sich mit einem spezifischen

Mitwirkende Blickwinkel in den choreografischen Prozess ein. Das dramaturgische Denken reflektiert die Adäquatheit und Stringenz der eingesetzten Mittel und zielt auf die Überprüfung und Hinterfragung von Thema, Arbeitsweise, Aufbau und innerer Logik der Choreografie ab. Die Choreografie wird auf ihre Lesbarkeit befragt, kontextualisiert und reflektiert.π Dramaturgie bezieht sich auf das choreografische Gesamtgeschehen und versucht den Zuschauerblick zu antizipieren. Sie ist nicht zwangsläufig an die Person eines Dramaturgen gebunden. Ein choreografischer Prozess kann auch ohne Dramaturg/innen stattfinden. Folgende Positionen und Funktionen können Dramaturg/innen einnehmen: Dramaturg als Berater Er fungiert als distanzierter Blick von außen, stellt reflektierende Fragen zu kompositorischen Entscheidungen und zur Gestaltung der gesamten Choreografie. Auch Bühnen- und Kostümbild, Licht und der Einsatz anderer Bühnentechniken wie Drehbühne, Bühnennebel etc. sind Gegenstand dramaturgischer Reflexion. Diese Beobachtungen und Überlegungen teilt er mit der Choreografin und berät diese in der choreografischen Arbeit. Der Dramaturg nimmt keine eigenständige Position ein und hat keine Entscheidungskompetenz. Dramaturgin als Mit-Autorin des Konzeptes Sie erarbeitet gemeinsam mit dem Choreografen das Konzept für ein choreografisches Projekt und ist dabei für die theoretisch-wissenschaftliche Reflexion verantwortlich, die den künstlerischen Forschungsprozess rahmt. Sie sorgt ggf. für die Verschriftlichung des Konzepts, z.B. für die Antragstellung zur Finanzierung. Die Dramaturgin vermittelt zusammen mit dem Choreografen die konzeptionellen Überlegungen und ist bei Gesprächen im künstlerischen Team und ersten Explorationsphasen als Beobachterin und FeedbackGeberin anwesend. Dramaturg als Akteur Er ist an dem choreografischen Prozess aktiv beteiligt, d.h. er bringt wie alle Beteiligten spezifisches Material in den Prozess ein, z.B. belletristische oder theoretische Texte, Bild- oder Filmmaterial, oder er arbeitet rein auf der Bewegungsebene und steht ggf. selbst als Tänzer auf der Bühne.

149

Dramaturgie

150 Zusammenarbeit Dramaturgin als Expertin für Medien Sie untersucht die verwendeten Medien auf ihre historischen, aktuellen, sozialen und politischen Kontexte und kommuniziert diese an die Beteiligten. Sie reflektiert die Auswahl und Zusammenstellung der Medien und deren Wirkung als theatrale Zeichen. Dramaturg als Vermittler Während des Produktionsprozesses vermittelt er zwischen künstlerischen Positionen der Beteiligten. Darüber hinaus gestaltet er die dramaturgische Arbeit im Hinblick auf eine Vermittlung der künstlerischen Position in der Öffentlichkeit. Bei Publikumsdiskussionen, Stückvorstellungen etc. schildert er den choreografischen Prozess, berichtet über Arbeitsansatz und Zielsetzung der Choreografie oder moderiert die Diskussion mit dem Publikum. Er formuliert die Pressemitteilungen und das Programmheft. Dramaturgin als Dokumentierende /Archivarin Sie dokumentiert den jeweiligen Probenstand und bewahrt so die Entwicklungen des Probenprozesses. In dieser Funktion hilft sie, den »roten Faden« im Probenprozess nicht aus den Augen zu verlieren. Die Dokumentation kann als eigenständiges Produkt neben der Choreografie veröffentlicht werden. Dramaturg in eigenständiger Position Der Dramaturg arbeitet parallel zur Choreografin an einer eigenen Aufarbeitung des Themas. Dabei bedient er sich seiner eigenen Ausdrucksmittel, z.B. philosophische Abhandlung, Essay, Interviews mit Menschen, die sich auf andere Art und Weise mit dem Thema auseinander gesetzt haben. Neben der Choreografie entsteht ein eigenständiges Produkt, z.B. ein Buch. Welche Position nimmt der Dramaturg in der Beziehung zur Choreografin und den anderen Beteiligten ein? – Entwickeln Choreograf und Dramaturgin gemeinsam ein Konzept für ein choreografisches Projekt, das die Dramaturgin gegebenenfalls verschriftlicht, z.B. für eine Antragstellung bei einer Institution? – Kontextualisiert der Dramaturg die Idee der Choreografin, indem er auf aktuelle gesellschaftspolitische Debatten, auf bestehende Diskurse oder historische Auseinandersetzungen mit dem Thema hinweist? – Helfen die Fragen der Dramaturgin, die konzeptuellen Ideen des Choreo-

Mitwirkende

151

grafen zu schärfen beziehungsweise die Zielsetzung des Projekts zu klären? – Überlegen beide gemeinsam, wer noch an einem Projekt beteiligt sein könnte, z.B. Tanzende mit einem bestimmten tänzerischen Wissen, eine Komponistin für neue Musik, ein Bildender Künstler, der die Ausstattung übernimmt? – Werden die Reflexionen der Dramaturgin über den Probenprozess diskutiert und fließen sie in den weiteren Arbeitsprozess ein? Benennt sie Bewegung und hilft dadurch beim Ordnen und Systematisieren von Bewegungsmaterial? Unterstützt sie die Analyse von Tanz und Textarbeit mit Hilfe ihres theoretischen Wissens? – Begreift der Dramaturg seine Tätigkeit als Zuarbeit für die Choreografin? Bringt er nach Absprache mit der Choreografin recherchiertes Material und wissenschaftlichtheoretisches Wissen (über Tanzgeschichte und aktuelles Tanzschaffen, andere Theater- und Kunstformen, Literatur, Politik, ästhetische Diskurse, das Thema des Stücks etc.) in den Arbeitsprozess ein? – Begleitet die Dramaturgin den gesamten Produktionsprozess, ist sie nur punktuell oder nur in den Endproben beteiligt? – Wirkt der Dramaturg projektbezogen bei der Entwicklung einer Choreografie mit oder begleitet er eine Choreografin über einen längeren Zeitraum? – Ist die Dramaturgin in organisatorischer (Produktion, Koordination), leitender (Management, Festivalleitung), vermittelnder (Moderatorin, Workshop-Leiterin, Vortragende, Pressesprecherin) oder unterstützender (Mentorin, Beraterin) Funktion an einem choreografischen Prozess beteiligt?

Komponist/in, Musiker/in Das Interesse von Choreograf/innen und Komponist/innen bzw. Musiker/innen an einem intermedialen Austausch kann unterschiedlichen Motiven entspringen und verschiedene ForKomposition men annehmen.π Fragen zur Beziehung zwischen Musik und Thema der Choreografie, der Einfluss der Rahmenbedingungen –› Intermediale und der Erscheinungsformen der Musik in der Aufführung, z.B. Komposition durch Live-Musiker, können thematisiert werden. Komponist/ innen beziehungsweise Musiker/innen können verschiedene Positionen im choreografischen Prozess einnehmen, die gegebenenfalls im Laufe des Prozesses in Frage gestellt und modifiziert werden können:

152 Zusammenarbeit

Musik löst Bewegungsentwicklung aus Die Komponistin bietet dem Choreografen eine Vorlage verschiedener musikalischer Sequenzen bzw. eine Musikerin improvisiert mit ihrem Instrument. Zu Musikvorlagen wird choreografisches Material entwickelt, geformt, komponiert. Gegebenenfalls verändert, erweitert, ergänzt die Komponistin bzw. Musikerin ihre musikalische Vorlage im Laufe des künstlerischen Prozesses. Musik wird für bestehendes Bewegungsmaterial komponiert Die Choreografin entwickelt ohne Musik das Bewegungsmaterial. Die Zusammenarbeit mit dem Komponisten setzt erst in der letzten Probenphase ein. Choreografin und Komponist wählen eine Form der Zusammenarbeit und entscheiden, ob die Musik z.B. dramaturgisch, thematisch oder atmosphärisch motiviert sein soll, in welcher Szene die Musik verdichten, kontrastieren oder verfremden soll. Komponistin oder Musikerin als Prozessbegleiterin Der Choreograf und die Musikschaffenden arbeiten gleichzeitig: Die Komponistin oder Musikerin ist während der Bewegungsgenerierung dabei, an der thematischen Auseinandersetzung beteiligt, erlebt in der Probensituation die künstlerische Arbeitsweise und den Generierungsprozess von choreografischem Material. Sie ist unmittelbar an der Choreografieentwicklung beteiligt. Neu komponierte Sequenzen oder die Musikauswahl werden direkt ausprobiert und gegebenfalls modifiziert. Komponist oder Musiker als Mit-Autor Der Komponist oder Musiker und die Choreografin generieren unabhängig voneinander auf der Grundlage gemeinsamer Absprachen ihr Ausgangsmaterial. Die jeweils erarbeiteten Sequenzen werden vorgestellt, diskutiert, reflektiert; gegenseitige Vorschläge zur Überarbeitung führen zu neuen Absprachen. Im prozessualen Austausch wird das musikalische und choreografische Material entwickelt und zusammengeführt. Es werden die Wechselwirkungen untersucht und verschiedene Konstellationen ausprobiert, z.B. welches Bewegungsmaterial mit welchem Musikteil zusammenpasst, ob es Teile in Stille gibt oder Musik ohne Bewe-

Mitwirkende gung etc. Die Bewegungssequenz oder Szene wird auf die Musik beziehungsweise die Musik auf die Bewegung abgestimmt, z.B. in Bezug auf den Rhythmus, die Geschwindigkeit, Phrasierung, Kompositionsstruktur. Musiker/innen als Akteure Musiker/innen gestalten gemeinsam mit Tanzenden die Choreografie, z.B. bei Echtzeit-Kompositionen oder »freien« Improvisationen. Die Echtzeit-Komposition kann z.B. an Aufgaben, Themen oder Scores orientiert sein. Komponist und Choreografin arbeiten autonom Der Komponist erarbeitet unabhängig vom choreografischen Prozess eine musikalische Komposition. Beide Medien werden als zwei unabhängige künstlerische Formate im Moment der Aufführung zusammengeführt. Die Verbindung beider Medien ereignet sich in der Wahrnehmung des Publikums. Welchen organisatorischen, finanziellen und zeitlichen Rahmenbedingungen unterliegt die Zusammenarbeit zwischen Komponist/ in bzw. Musiker/in und Choreograf/in? – Entstehen Choreografie und Musik gleichzeitig, in wechselnden Arbeitsphasen oder nacheinander? Inwieweit beeinflusst die Zeitlichkeit die Arbeitsweise, den Einsatz der Akteure und Musiker sowie das Endprodukt? – Was interessiert beide Künstler/innen an ihrem Austausch, z.B. Ähnlichkeiten oder Unterschiede beider Medien? Welche Fragestellungen ergeben sich daraus? Z.B.: Wie entsteht Musik und wie Bewegung? Was bedeutet »Instrument« in Bezug auf den Körper bzw. das Musikinstrument? Wie wird ein Objekt zum Musikinstrument? Wie wird ein Objekt zum Instrument für Bewegung? – Wie können Kompositionsverfahren wie Verfremdung oder Dekonstruktion in beiden Medien angewendet werden? – Welche Rolle kann der Komponist in der Aufführung haben? Ist die Musikerin sichtbar für den Zuschauer? Oder »nur« hörbar? Ist sie mobil oder hat sie einen festen Platz auf der Bühne? – Was macht der Musiker, wenn er nicht spielt? – Wie verhalten sich Tänzer/innen und Komponist/in bzw. Musiker/ innen zueinander? Gibt es einen direkten Austausch?

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154

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Komposition Das Modul Komposition rahmt die Module Generierung, Formgebung und Spielweisen, die Tools und Verfahren für die Erarbeitung des Materials einer Choreografie anbieten. Der Baustein Dramaturgie thematisiert kompositorische Fragen unter einer auf die gesamte Choreografie zielenden Perspektive. Der Baustein Komposition liefert Hinweise für die Zusammenstellung des erarbeiteten choreografischen Materials. Der Baustein Aufführung zeigt die Spannbreite der Aufführungsformate und Bühnensettings sowie die Möglichkeiten der Beteiligung des Publikums an der Aufführung auf. Kompositorische Tools und Verfahren und dramaturgische Fragestellungen können in verschiedenen Arbeitsphasen und bei unterschiedlichen Prozessen eingesetzt werden, z.B.: zur Ideenfindung und Themenentwicklung | für die künstlerische Recherche und die spezifische Arbeitsweise | zur Konzeptentwicklung | für Entscheidungsfindungen in Bezug auf das Aufführungsformat und Bühnensetting | für Entscheidungsfindungen in Bezug auf das Material der Aufführung und dessen Komposition | zur Verfeinerung, Präzisierung und kritischen Überprüfung des komponierten Materials.

156 Komposition DRAMATURGIE

158 Thema 159 Arbeitsweise 165 Aufbau 169 Reflexion

KOMPOSITION

173 173 175 176 180 182 184

Tools Auswählen Vervielfältigen Variieren Kombinieren Gewichten Kontextualisieren

187 187 188 190

Verfahren Verfremdung Dekonstruktion Reenactment & Rekonstruktion 191 Collage / Montage 193 Parameter 193 Zeit | Raum | Akteure 197 Intermediale Komposition

AUFFÜHRUNG

204 Ort 206 Setting 209 Publikum 212 Aufführungsformate

Dramaturgie

157

DRAMATURGIE In der Dramaturgie einer Choreografie formuliert sich die künstlerische Position. Durch konzeptionelle Arbeitsweisen und performative Aufführungsformate hat die dramaturgische Arbeit in der zeitgenössischen Choreografie an Bedeutung gewonnen und ihren Aufgabenbereich verändert. Sie hinterfragt die künstlerische Umsetzung des Themas, die Intention der Choreografie, den Arbeitsprozess und das Aufführungsformat. Die Art und Weise dramaturgischer Arbeit ist daher eng an den jeweiligen künstlerischen Prozess gebunden, den sie reflexiv begleitet. Dramaturgie vermittelt nicht nur zwischen dem Thema, dem künstlerischen Prozess, der künstlerischen Arbeitsweise sondern auch zwischen dem künstlerischen Produkt und der Öffentlichkeit. Zugleich ist es ihre Aufgabe, Aufmerksamkeit auf den ästhetischen, gesellschaftlichen und politischen Rahmen der künstlerischen Arbeit zu legen und diese in den Kontext der Diskurse zu stellen, an die sie anknüpfen kann und will. Dramaturgische Arbeit kann durch einen Dramaturgen erfolgen oder vom Choreografen oder den anderen am künstlerischen Prozess Beteiligten übernommen werden.π Dramaturgische Fragestellungen können vor und während des choreografischen Prozesses gestellt werden. Dieser Baustein thematisiert die dramaturgischen Perspektiven auf Komposition und Aufführung. Er benennt die Referenzrahmen, auf die sich die Choreografie bezieht: die Entwicklung eines Themas bzw. Forschungsinteresses | die Arbeitsweise, mit der dieses bearbeitet wird | den Aufbau der Choreografie als stimmig wahrgenommenem Ablauf | die Reflexion des Arbeitsprozesses sowie der ästhetischen, politischen und gesellschaftlichen Verortung der Choreografie. Choreografie lesen Tanzdramaturgie beschäftigt sich mit der Lesbarkeit von Bewegung und dem komplexen und mehrdeutigen Zeichensystem einer Choreografie. Sie arbeitet den Sinn, den Inhalt und die Eigenlogik einer Choreografie heraus, die es dem Publikum erlauben,

Mitwirkende

158 Komposition

Bewegungsanalyse

deren Zeichensystem lesbar zu machen und für sie bedeutungsvolle Zusammenhänge herzustellen. Im Kontext zeitgenössischer Choreografie bezieht sich Lesbarkeit auf die Bewegung selbst, z.B. in Bezug auf Raum, Antrieb, Form, Phrasierung und Beziehung,π sowie auf die Verbindung von Bewegung mit anderen Medien wie Text, Bild, Film oder Musik. Es geht dabei weniger um die Bedeutung einzelner Zeichen oder Zeichensysteme sondern um ihre Kombination. Tanz und Choreografie sind nicht eindeutig dekodierbar sondern vielfältig lesbar. Damit ist die Wahrnehmung des Publikums gefragt: hinsehen, zuhören, beobachten, aufnehmen, kontextualisieren. Bewegung und Choreografie in einem symbolisch aufgeladen Sinn zu lesen, ist eine Option des Zuschauers und entspricht nicht zwangsweise einer Intention des Choreografen. Lesbarkeit muss nicht mit Deutbarkeit gekoppelt sein; sie kann auf einer abstrakten Zeichenebene stattfinden. Wie wird Bewegung als Zeichen gesetzt, z.B. als abstrakte oder als symbolische Bewegung? – Wie werden die Zeichensysteme der unterschiedlichen choreografischen Materialien verbunden? – Lässt die Choreografie verschiedene Lesarten zu? – Welches Wissen und welche Seherfahrung sind nötig, damit die Choreografie lesbar wird? – Welche Anregungen bekommt das Publikum, um die Choreografie lesen zu können?

Thema Da Bewegung nicht eindeutig lesbar, der choreografische Prozess ergebnisoffen ist und zudem Choreografie als Arbeitsprozess und als theatrale Aufführung selbst zum Thema werden kann, muss nicht zwangsläufig ein ausgearbeitetes Thema am Anfang der künstlerischen Auseinandersetzung stehen. Ein Thema zu entwickeln ist häufig zentraler Bestandteil choreografischer Arbeit. Ein Arbeitsthema kann sich in der choreografischen Arbeit modifizieren, differenzieren, transformieren, es kann sich auch erst im Arbeitsprozess herausbilden, z.B. während der Generierung von Bewegungsmaterial oder durch eine forschende künstlerische Arbeitsweise.

Dramaturgie

159

Wie ist die Themenwahl motiviert, z.B. persönlich: die eigene Geschichte als Balletttänzerin, oder gesellschaftlich: politische Dissidenten? – Soll das Thema an künstlerische oder theoretische Diskurse anknüpfen, z.B. als Auseinandersetzung mit der Form der Bewegung oder dem Verhältnis von Präsenz und Repräsentation? – Soll das Thema während des Arbeitsprozesses in der Gruppe generiert werden oder ist es von außen vorgegeben, z.B. von einer Institution bei einer Auftragsarbeit? – Welche Rahmenbedingungen braucht die Entwicklung und Bearbeitung eines Themas? Wie viele und welche Akteure sind dazu nötig?

Arbeitsweise Zeitgenössische Choreografie ist häufig durch eine explorative und ergebnisoffene Arbeitsweise geprägt. Instrumente sind die Recherche und künstlerische Forschung.π Diese Aufgabe kann vom Dramaturgen übernommen werden und den gesamten künstlerischen Arbeitsprozess begleiten, indem das Material und die Arbeitsweise immer wieder befragt werden. Im Vordergrund steht dabei die Untersuchung, der Prozess, nicht unbedingt das Endprodukt. An der forschenden Arbeitsweise sind alle Personen, die den choreografischen Prozess gestalten, beteiligt. Auch das Publikum kann zum Partner des Forschungsprozesses werden.

Essay

Die Arbeitsweise steht in direkter Beziehung zu dem gewählten Thema und künstlerischen Forschungsinteresse sowie zu der Anzahl und dem Beziehungsverhältnis der Beteiligten. Sie wird im choreografischen Prozess entwickelt, präzisiert, hinterfragt und ggf. verändert. Die choreografische Arbeitsweise kann unterschiedlich ausgerichtet sein. Idealtypisch lassen sich folgende Arbeitsweisen unterscheiden: bewegungsorientiert | intermedial | narrativ | identitäts- und biografieorientiert | interkulturell | spielorientiert | konzeptionell. In einem Choreograchoreografischen Prozess oder einer Echtzeit-Komposition π kann die Themenbearbeitung mit nur einer oder mit verschie- Fieren als Spiel denen Arbeitsweisen erfolgen.

160 Komposition Bewegungsorientierte Arbeitsweise Die tänzerische Bewegung selbst ist Thema der Choreografie. Wie kann die Beziehung der Körperteile zueinander, der Körper im Raum, der Bewegungsantrieb komponiert werden? – Wie können Funktionssysteme des Körpers zum Ausgangspunkt der Choreografie werden, z.B. Muskelapparat, Gelenkapparat, Herz-Kreislaufsystem Bewegungen oder Organsystem?π – Wie können Alltagsbewegungen choreograFinden –› formal fisch verarbeitet werden, z.B. gehen, sitzen, fangen? – In welchem Verhältnis stehen Bewegungsausführungen zu der sozialen, historischen und kulturellen Konstruktion von Bewegung, z.B. Contact Improvisation zu dem westlichen Bewegungskonzept der 1960er Jahre oder das Prinzip von Führen und Folgen im Tango zu dem Geschlechtercode Argentiniens? Intermediale Arbeitsweise Das Thema einer Choreografie kann in einem anderen Medium, z.B. in einem Musikstück, Text, Bild, Foto oder Film oder auch in der Auseinandersetzung mit digitaler Technologie liegen. Entsprechend kann die Materialgenerierung intermedial erfolgen und das gesammelte choreografische Material aus verschiedenen Medien bestehen, die in der Choreografie zusammengeführt werden. Welches Medium soll als thematischer Ausgangspunkt des choreografischen Prozesses dienen, z.B. der Grundkonflikt eines Romans, die Kompositionsstruktur eines Musikstücks oder der Aufbau eines Bildes? – Wie kann die Übertragung von einem Medium in Bewegung und umgekehrt gestaltet werden, z.B. von einem Text in Bewegung oder von Bewegungsmaterial in ein Bild? Soll der Inhalt oder der formale Aufbau eines Textes übertragen werden? Soll er kompositorisch bearbeitet, z.B. verfremdet werden? – Soll das choreografische Material von den Beteiligten selbst geschrieben, gemalt, fotografiert werden? – Wie soll Bewegungsmaterial mit anderen Materialien, z.B. Bild, Text, Film zusammengeführt werden? – Werden virtuelle und reale Körper in Beziehung gesetzt, z.B. durch Übersetzung in digitale Bewegungen beim Motion Capturing oder durch Übertragung digitaler Choreografieprogramme auf reale Tanzkörper? Wie lässt sich das Verhältnis von Realität und Simulation in einer Choreografie herstellen?

Dramaturgie

161

Narrative Arbeitsweise Zeitgenössische Choreografie hinterfragt den an einem linearen Handlungsverlauf orientierten dramaturgischen Aufbau. Sie expeBewegungs rimentiert mit narrativen Ordnungen, unterläuft diese mitunter. analyse Indem das Zeichensystem einer Choreografie mehrdeutig angelegt ist, verlagert sich die Sinnzuschreibung auf das Publikum. Es geht in zeitgenössischer Choreografie nicht darum, eindeutig kodierte Inhalte zu transportieren, sondern eher darum, Wahrnehmungen zu öffnen und Assoziationsfelder entstehen zu lassen. Entsprechend kommen Kompositionsverfahren der Collage/Montage und Dekonstruktion sowie performative Aufführungsformate zur Anwendung. Wie kann eine lineare Erzählstruktur dramaturgisch gebrochen werden? Wie kann z.B. über Verschiebungen, Überlappungen, Kontraste, Brüche, Montage die Erzählung fragmentiert werden? – Wie kann der dramaturgische Aufbau offen gestaltet werden für verschiedene Lesarten? – Was lässt sich mit einer fragmentierten Erzählweise erzählen? – Welche Auswirkungen hat eine fragmentierte Erzählung auf die Wahrnehmung und Rezeption des Publikums? Welche Fähigkeiten muss das Publikum mitbringen, damit es zum aktiven Rezipienten werden kann? – Was bedeutet eine fragmentierte Erzählung für die Zusammenstellung des choreografischen Materials? – Welche Herangehensweise macht für welche Erzählung Sinn? Wird die »Geschichte« von einem oder von mehreren Akteuren, zeitlich versetzt oder gleichzeitig, »erzählt«? Identitäts- und biografieorientierte Arbeitsweise Thema der Choreografie kann die Identität oder Biografie einer Person oder die Identität einer Gruppe sein, z.B. einer bekannten Persönlichkeit, einer fiktiven Person oder der Beteiligten selbst. Bei einer solchen Herangehensweise wird in der zeitgenössischen Choreografie häufig das Verhältnis von Selbst und Rolle, Authentizität und Inszenierung, Präsenz und Repräsentation befragt. Für den Arbeitsprozess und das Aufführungsformat ist entscheidend, ob dies als Solo oder als Gruppenstück erarbeitet wird.

162 Komposition Welche Aspekte der Biografie werden thematisiert? – Wird das Bewegungsmaterial eines bekannten Tanzes, z.B. des »Moonwalks« von Michael Jackson oder des »Hexentanzes« von Mary Wigman bearbeitet? Oder soll mit den Bewegungsmustern der Beteiligten gearbeitet werden? – Werden die Teilnehmenden als Experten des Alltags in den choreografischen Prozess integriert? Welchen Bezug haben die Biografien zur Gegenwart und dem Kontext der Aufführung? – Wie soll mit dem Verhältnis von Selbst und Rolle, Authentizität und Inszenierung, Präsenz und Repräsentation umgegangen werden? Wie treten die Teilnehmenden auf ? Spielt z.B. eine Akteurin die Rolle ihres Lehrers? Wird die Biografie erzählt? Geschieht dies über Text und Sprache oder werden biografische Aspekte, z.B. eine körperliche Behinderung, bewegungsorientiert bearbeitet? Werden Medien eingesetzt, die, wie Fotos oder Filme, Rückblicke erlauben? – Wie wird die Figur dramaturgisch bearbeitet? Soll sie von mehreren Akteuren dargestellt werden? – Wie setzen sich die Agierenden mit der Biografie auseinander? Welche Recherche ist nötig und sinnvoll? Interkulturelle Arbeitsweise Kulturelle Differenz, kulturelle Hybridität, Diaspora, Migration, der globale kulturelle Transfer von Bewegungs- und Tanzkulturen oder die (Un-)Möglichkeit der kulturellen Übersetzung von Bewegung können als Themen der künstlerischen Recherche gewählt werden. Durch die häufig interkulturell zusammengesetzten Gruppen ist die Auseinandersetzung mit diesen Themen immer wieder auch integraler Bestandteil eines offen angelegten choreografischen Prozesses. Wie zeigen sich kulturelle Identitäten und bewegungs- und tanzkulturelle Traditionen, z.B. in Bewegungserfahrungen, Bewegungstechniken, Körper- oder Geschlechterkonzepten? – Wie wird Interkulturalität thematisiert, welches Konzept von Interkulturalität wird verfolgt, wie soll Interkulturalität ästhetisch umgesetzt werden, z.B. durch das Konfrontieren von indischem Tanz mit Techno-Musik? – Wie kann kulturelle Differenz künstlerisch verwertet werden, z.B. die unterschiedlichen kulturellen Verständnisse, was als zeitgenössischer Tanz bezeichnet wird? – Sollen, unter dem Stichwort kulturelle Hybridität, verschiedene Bewegungs- und tanzkulturelle Traditionen, Techniken oder ästhetische Konzepte miteinander verbunden werden?

Dramaturgie

163

Wie soll die Begegnung von unterschiedlichen kulturellen Identitäten gestaltet werden? Wird kulturelle Identität selbst zum Thema? Übernehmen die Tanzenden die (tanz)kulturellen Praktiken anderer Kulturen? Soll mit kulturellen Differenzen experimentiert werden und etwas Neues, Drittes entstehen? – Sollen kulturelle Unterschiede herausgearbeitet werden, z.B. die unterschiedliche kulturelle Bedeutung von Gesten? Wie wird das Verhältnis von Eigenem und Fremdem thematisiert? Soll dies über unterschiedliche Bewegungstechniken oder -stile erfolgen? Treten die verschiedenen Tanzstile in Widerstreit? – Wird eine Bewegungssequenz oder ein choreografisches Konzept auf Tänzer/innen anderer Kulturen übertragen? Soll über bewegungskulturelle Differenzen wie Körperkonzept, Bewegungssozialisation, Tanztechniken geforscht werden? Sollen Tanzstile auf andere kulturelle Kontexte übertragen werden, z.B. ein höfischer Tanz auf Jugendliche oder Butoh auf Balletttänzerinnen? Wie kann ein westlich geprägter, auf Individualität setzender Tanz von Tanzenden aus Kulturen übersetzt werden, in denen Individualität eine geringere Rolle spielt, wie z.B. in China? Welche Schwierigkeiten treten auf ? Welche neuen Formen werden in Übertragungsprozessen gefunden? Wie schlagen sich diese in der Choreografie nieder? Sollen kulturelle Übertragungen darauf abzielen, tanzästhetische Konventionen und Sehgewohnheiten zu befragen? Spielorientierte Arbeitsweise Die Themengenerierung und -bearbeitung erfolgt über Spiele.π Spiele thematisieren das Verhältnis von Ordnung und Zufall und erlauben einen offenen, auf die unmittelbare Situation bezogenen Forschungsprozess. Wie kann über ein Spiel, z.B. Fußball oder Sudoku, ein Thema generiert, Bewegungsmaterial gewonnen und der künstlerische Prozess gestaltet werden? – Wie können die Prinzipien und Regeln eines Spiels oder sportlichen Wettkampfs auf die Komposition übertragen werden? – Nach welchen Spielregeln können die Beteiligten eine Choreografie erarbeiten? – Soll der dramaturgische Verlauf der Choreografie festgelegt oder durch aleatorische Verfahren oder die Partizipation des Publikums bestimmt werden? – Wie kann mit dem Verhältnis zwischen Akteuren und Publikum gespielt werden? Nimmt

Spielarten

164 Komposition das Publikum an der performativen Handlung teil, indem es mit den Akteuren direkt interagiert? Trifft es Entscheidungen, die das Handeln der Akteure beeinflussen? Wie wird die damit verbundene Unvorhersehbarkeit dramaturgisch umgesetzt? – Soll die Partizipation mit dem Publikum nach Regeln verlaufen? Welche Kompetenzen brauchen die Akteure, um Interaktionen mit dem Publikum gestalten zu können? Konzeptionelle Arbeitsweise In der zeitgenössischen Choreografie stehen häufig die theoretische Kontextualisierung und Reflexion des choreografischen Prozesses und seines gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Kontextes im Zentrum. So kann das Thema der Choreografie entwickelt werden aus der Auseinandersetzung mit Choreografie als Ordnung, mit einem theatertheoretischen Konzept, z.B. der Frage der Aufführung und Darstellung, oder mit einem theoretischphilosophischen Konzept, z.B. der Frage der Repräsentation. Sollen vorherrschende Bewegungstechniken und -ästhetiken sowie Wahrnehmungs- und Rezeptionsmuster kritisch befragt werden? Fließt die Befragung als Methode künstlerischen Forschens in den choreografischen Prozess ein? – Soll das Verhältnis von Ordnung und Zufall, Regel und Spiel in der Choreografie reflektiert und zum Thema choreografischen Forschens werden? – Soll auf eine Auseinandersetzung mit bestehenden Arbeitsweisen und ästhetischen Konzepten anderer Künstler/innen Bezug genommen werden? Wie soll diese Auseinandersetzung stattfinden, als Reenactment? – Sollen die eigenen künstlerischen Mittel hinterfragt werden, z.B. Themen wie Werkcharakter, Autorschaft, Rahmenbedingungen der Kunstproduktion? – Soll die politische Dimension des Ästhetischen zur Diskussion stehen, z.B. über die Thematisierung von Macht oder von Zentrum und Peripherie in der choreografischen Ordnung? – Sind kompositorische Strukturen das Thema der choreografischen Arbeit, z.B. der Umgang mit Systematik, die Übertragung einer Methode von einem Medium auf ein anderes, z.B. von musikalischen Kompositionsprinzipien auf Choreografie, oder von Theorie auf choreografische Praxis, z.B. der Theorie der Repräsentation? – Soll ein am Thema und am choreografischen Prozess orientiertes System des Choreografierens entwickelt und

Dramaturgie

165

im Laufe des Prozesses immer weiter ausdifferenziert werden? – Wie findet in der choreografischen Arbeit eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen, philosophischen, ästhetischen und tanz- bzw. theatertheBewegungs oretischen Diskursen statt, z.B. durch gemeinsames Lesen von Texten, analyse durch Zusammenarbeit mit Theoretikern oder durch Integration von theoretischem Material in die Aufführung?

Aufbau Der dramaturgische Aufbau einer Choreografie wird unter folgenden Aspekten thematisiert: Spannungsverlauf gestalten | Beziehungen komponieren | Übergänge/Brüche herstellen | Anfang und Ende setzen. Spannungsverlauf gestalten Der Spannungsverlauf thematisiert die dynamische Struktur einer Choreografie. In der zeitgenössischen Choreografie wird der dramaturgische Verlauf häufig nicht mehr als ein Spannungsbogen konzipiert, sondern diskontinuierlich gestaltet und ist durch Unterbrechungen, Sprünge oder Fragmentierungen gekennzeichnet. Die Bearbeitung des Spannungsverlaufs wird relevant, wenn das choreografische Material in einem ersten Entwurf zusammengeführt wurde. In dieser Arbeitsphase gewinnt das dramaturgische Denken als kritische Reflexion aus der Außenperspektive an Bedeutung. Welche Erwartungshaltungen werden durch eine spezifische Zusammenführung von choreografischem Material erzeugt bzw. durchkreuzt? Welche Reaktion wird dadurch erzeugt? – Welche Auswirkungen hat der Spannungsverlauf auf die Lesbarkeit von Bewegung und Choreografie? – Welche künstlerischen Arbeitsweisen und Aufführungsformate erfordern welche Spannungsverläufe? – Wie kann man den dramaturgischen Aufbau eines Stückes zeichnen? Wie kann man mit Hilfe dieser Zeichnung den Spannungsaufbau reflektieren? Beziehungen komponieren In einer Choreografie können auf vielfältige Weise Beziehungen zwischen Materialien, Beteiligten und Objekten hergestellt werden:

166 Komposition zwischen verschiedenen choreografischen Materialien, z.B. Bewegung und Bild, Musik, Text | zwischen den Beteiligten, z.B. zwei Soli | zwischen verschiedenen Objekten, z.B. einem Tisch und einem Stuhl. Die Lesbarkeit einer Choreografie hängt davon ab, wie die Beziehungen zwischen choreografischem Material, Objekten und Personen wahrgenommen werden. Eine differenzierte Komposition von Beziehungen eröffnet vielfältige Lesarten. Die Dramaturgie einer Choreografie kann durch die Art der Beziehungen an Spannung bzw. Stärke gewinnen oder verlieren. Beziehungen können dramaturgisch intendiert sein oder auch in der Wahrnehmung des Publikums entstehen. Wenn z.B. zwei oder mehr Tänzer gleichzeitig agieren, kann dies von einem Teil der Zuschauer als bedeutsam wahrgenommen werden, selbst wenn eine Beziehung in der Choreografie nicht bewusst angelegt ist. Beziehungen zwischen choreografischem Material, Objekten oder Personen können idealtypisch vier grundlegende Formen annehmen: Annähernd: Die Beziehung basiert auf einer mehr oder minder starken Ähnlichkeit oder gleichgerichteten Tendenz | Kontrapunktisch: Choreografische Materialien werden dialogisch zusammengeführt. Es fungiert nicht eines als die Interpretation des anderen, sondern beide ergänzen, erweitern die Lesbarkeit des anderen | Kontrastierend: Durch Unterschiedlichkeit bis hin zu Gegensätzlichkeit, durch Brechungen und Widersprüche werden Spannungen erzeugt | Unabhängig: Choreografische Materialien werden strukturell entkoppelt und alternierend oder überlagernd montiert. Unter welchen Aspekten bzw. auf welchen Ebenen werden Beziehungen hergestellt, z.B. auf einer konzeptionellen, kompositorischen, stilistischen, geschichtlichen, sozialen Ebene? – Sollen die Beziehungen annähernd, kontrapunktisch, kontrastierend oder unabhängig angelegt sein? – Wie wirken sich einzelne Beziehungsformen auf den Spannungsverlauf aus? Welche Wirkung hat der Wechsel von unbeabsichtigter zu beabsichtigter Beziehung? – Wie beeinflusst das Beziehungsverhältnis einzelner Szenen die Gesamtkonzeption der Choreografie? – Wie kann bereits eingeführtes mit neuem choreografischem Material in Beziehung gesetzt werden?

Dramaturgie

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Übergänge/Brüche herstellen Einzelne Bewegungssequenzen und Szenen einer Choreografie Bewegungs können auf verschiedene Weise aneinandergereiht werden: durch Übergänge, Brüche, Sprünge, Pausen. Die Gestaltung der Verbin- analyse dungen ist ein wichtiges Instrument im kompositorischen Aufbau. Die Funktion, Dauer und Form einer Verbindung steht in Beziehung zu den Aktionen, die verbunden werden sollen. Sie kann inhaltlich und formal motiviert sein. Ein fließender Übergang z.B. hat andere Auswirkungen auf die folgende Szene und auf die Wahrnehmung der letzten Szene als ein abrupt gestalteter Bruch. In der zeitgenössischen Choreografie finden sich zunehmend Übergänge als Unterbrechungen, Brüche oder Sprünge, z.B. im Verfahren der Collage/Montage, bei Szenenwechseln oder Auf- und Abgängen.

Verbindungsarten Wie sollen die einzelnen Bewegungssequenzen, choreografischen Materialien oder Szenen miteinander verbunden werden? Welcher Form der Narration will die Choreografie folgen? Sind einzelne choreografische Passagen als Fragmente konzipiert, die unabhängig voneinander gezeigt werden sollen? – Szenenwechsel Auf welche Art und Weise finden Szenenwechsel statt und wie können sie variiert werden, z.B. durch veränderte Personenzahl mit Auf- und Abgängen oder durch Musik- oder Lichtwechsel? Soll der Szenenwechsel als abrupte Unterbrechung gestaltet sein, z.B. durch Sprung oder Schnitt, oder durch eine Überleitung, die für das Publikum nachvollziehbar bzw. vorhersehbar ist oder überraschend kommt, oder durch Überlappung von zwei Szenen? Oder findet ein gradueller Übergang als allmähliche Weiterentwicklung in Form einer Transformation statt? – Pausen Soll eine Pause als Unterbrechung angelegt sein, z.B. um dem Publikum Raum zu geben, sich das Kommende vorzustellen? Soll durch eine Pause die Neugier und das Interesse des Publikums geweckt werden? Wird sie als strukturierendes Element eingesetzt, indem systematisch nach jeder Szene eine Pause als Markierung eines Wechsels eingebaut wird? Wie soll die Unterbrechung gestaltet sein, durch Abdunkeln des Raumes oder Vorhang? Wie kann sie Teil der Choreografie werden? – Auf- und Abgänge Welche Auf- und Abgänge sind nötig, wenn z.B. mehrere Personen an einer Szene beteiligt sind? Wie kann der Zeit-Modus

168 Komposition der Auf- und Abgänge gestaltet werden, z.B. überlappend? Wie lassen sich Auf- und Abgänge organisieren? Welche Variationsmöglichkeiten bieten sich an in Bezug auf den Bühnenraum, gibt es z.B. Seitengassen oder nur eine Auf- und Abgangsmöglichkeit? Können die Aufund Abgänge Teil der Szenen sein, z.B. indem die Szene bis ins Off gespielt oder getanzt wird? Anfang und Ende setzen Anfang und Ende sind die zeitlichen Eckpfeiler einer Choreografie. Sie stehen in einem Zusammenhang, bedingen einander und prägen den Spannungsverlauf. Der Anfang trägt maßgeblich dazu bei, Aufmerksamkeit zu wecken und das Publikum in das Stück einzuführen. Diese Setzung, z.B. durch ein Solo, kann im Verlauf der Choreografie weiter verfolgt oder durchbrochen werden. Das Ende markiert den zeitlichen Abschluss der Choreografie, es kann das Thema abrunden. Es kann aber auch als offenes, provokantes, unerwartetes Ende gestaltet sein. Es kann sogar für das Publikum als Schluss gar nicht unmittelbar erkennbar sein. Wie immer das Ende gestaltet wird, es sollte dramaturgisch reflektiert gesetzt sein. Als letzte Setzung bleibt es dem Publikum häufig besonders in Erinnerung.

Themen setzen Wie kann eine Thematik geöffnet werden, z.B. durch das Auffächern verschiedener Facetten und Blickwinkel? Werden am Anfang Materialfragmente angeboten, die keinen Zusammenhang erkennen lassen und erst am Ende in Beziehung gebracht werden? Wird anfangs ein Statement abgegeben, das im Laufe des Stücks dekonstruiert wird? Soll eine Behauptung aufgestellt werden, die in der Folge kritisch hinterfragt, reflektiert und transformiert wird? – Anfang bestimmen Wann beginnt das Stück? Hat es einen indirekten Anfang, z.B. bereits im Foyer des Theaters oder an der Garderobe, sind die Akteure schon auf der Bühne, wenn die Zuschauer in den Theaterraum kommen, oder sind sie anfangs nicht deutlich vom Publikum unterscheidbar, wie z.B. bei Aufführungen im öffentlichen Raum? – Ende markieren Hat das Stück ein eindeutiges Ende z.B. durch einen Vorhang oder das Abtreten der Akteure von der Bühne? Oder ist das Ende nicht deutlich markiert,

Dramaturgie zum Beispiel, wenn die Musik weiterläuft und die Tänzer auf der Bühne bleiben, das Bühnenlicht aber bereits erloschen ist? Soll das Ende unvorhersehbar sein? Steuert das Stück auf ein vorhersehbares Ende zu, wird dann aber mit einer unvorhersehbaren Wendung durchkreuzt? Soll ein Resümee das Ende bilden? Wie würde ein offenes Ende aussehen? Welche anderen Möglichkeiten gibt es für das Ende?

Reflexion Prozess und Produkt reflektieren Reflexion ist ein zentrales Instrument dramaturgischen Denkens und ein Bestandteil der künstlerischen Arbeit selbst. Sie hilft, Themen, choreografisches Material und den Arbeitsprozess zu strukturieren, zu kontextualisieren und zu dokumentieren. Sie dient z.B. der kritischen Befragung der eigenen künstlerischen Vorgehensweise und des erarbeiteten Materials, der choreografischen Entscheidungsfindung, der Frage nach der Wirkung einzelner Szenen oder der gesamten Choreografie sowie der sozialen, politischen, kulturellen, ästhetischen Kontextualisierung von Prozess und Produkt. Dies kann durch Einbeziehung aller Mitwirkenden und von Außenstehenden erfolgen. Die dramaturgische Reflexion kann und sollte in unterschiedlichen Arbeitsphasen angewendet werden, z.B. auf eine einzelne Szene, eine Szenenabfolge oder bei einem Durchlauf der Choreografie kurz vor der Premiere.

Reflexionen der Beteiligten In welchem Kontext soll das kritische Hinterfragen stattfinden? Gibt es Regeln und Zeiten für Reflexionsrunden während der Proben? Wie relevant sind diese Reflexionen für den choreografischen Prozess? – Reflexion mit Gästen Wie kann eine solche Befragung gestaltet werden, z.B. indem jeder Beteiligte einen Gast zu einer Probe einlädt? Welche Fragen sind sinnvoll, um die Choreografie zu reflektieren? Sollten Regeln für den Austausch aufgestellt werden? Welche Rückschlüsse können aus einer Auswertung der Befragungen gezogen werden? Welche Seherfahrungen wurden thematisiert? Entspricht dies den choreografischen

169

Bewegungs analyse

170 Komposition Ideen? Gibt es Hinweise der Gäste, die zur Veränderung der Choreografie dienen können? – Befragung der Zuschauer 1 Wie kann eine Befragung zwischen einer Choreografin und einem Zuschauer gestaltet werden? Z.B. durch einen Perspektivwechsel: Was passiert, wenn die Choreografin zur Fragenden wird, die ihre eigene Choreografie hinterfragt? Welche Fragen kann sie dem Zuschauer stellen? Prozess dokumentieren Ein wichtiger Bestandteil dramaturgischer Arbeit ist die Dokumentation des choreografischen Prozesses. Hierbei können verschiedene Medien zum Einsatz kommen und die Mitwirkenden beteiligt werden. Die Dokumentation des Probenprozesses kann integrativer Bestandteil der Aufführung werden. Dabei stehen nicht die Vollständigkeit oder Genauigkeit der Dokumentation im Vordergrund, sondern die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Prozess und Produkt, Probe und Aufführung, Dokumentation und Inszenierung sowie die Reflexion der (Un-)Möglichkeit der Dokumentation und Archivierung von Bewegung und Prozess.

Festlegen und Erinnern –› Verfahren

Form der Dokumentation Fließt die Dokumentation in ein zukünftiges künstlerisches Projekt ein? Dient sie dazu, Material für Projektanträge zu generieren? Welcher Mittel bedient sich die Dokumentation, z.B. Verschriftlichung, Scores, Fotos, Film, Audioaufnahmen?π Wer übernimmt die dokumentarische Arbeit, z.B. ein Dramaturg, jeder Beteiligte für sich, ein Fotograf ? Soll die Dokumentation als eigenständiges Produkt neben der Choreografie veröffentlicht werden? – Reflexion archivierten Materials Wie können Gedanken, Ideen und Fragen, die während der Probenarbeit oder in Feedback-Gesprächen aufgekommen sind, gesammelt werden? Wie kann diese Sammlung strukturiert und als Vorbereitung für die nächste Probenphase genutzt werden? Wie können Eindrücke während des Probenprozesses archiviert werden, z.B. indem an einer Wand Zettel mit Ideen, Gedanken, Fragestellungen, Eindrücken, Kritiken zusammengestellt werden oder alle Beteiligten Hefte erhalten und diese als choreografische Tagebücher nutzen? – Dokumentation in der Aufführung Wird die choreografische Arbeit dokumentiert, z.B. um verschiedene Schritte des Probenprozesses bzw.

Dramaturgie

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Zwischenergebnisse einer Recherche festzuhalten? Wie kann das Dokumentationsmaterial in der Choreografie eingesetzt werden, z.B., indem dem Publikum während der Aufführung durch Erzählungen, Bewegungs eine Ausstellung, Filme, Projektionen, Tagebuchtexte der Rechercheprozess vermittelt wird?2 Wie kann die Problematik der Unmöglich- analyse keit der Dokumentation des Flüchtigen der Bewegung in der Aufführung reflektiert werden? Choreografie kontextualisieren Eine Choreografie entsteht in der Regel durch eine Bezugnahme auf und eine Auseinandersetzung mit einem bestimmten Kontext. Dieser kann durch das ästhetische, politische, soziale, interkulturelle oder religiöse Feld gerahmt sein. So kann z.B. das Thema in Verbindung mit einem aktuellen gesellschaftspolitischen Ereignis stehen, choreografisches Material diesem Ereignis entstammen, der choreografische Prozess und die Arbeitsweise als Experimentierfeld von neuen Formen der Zusammenarbeit gestaltet sein oder die Aufführung als eine kritische Reflexion des Theaters verstanden werden. Die Kontextualisierung einer Choreografie ist Teil der dramaturgischen Arbeit und kann den gesamten choreografischen Prozess begleiten. Die Choreografie selbst kann durch andere Medien und Formate, z.B. Programmhefte, Interviews, kontextualisiert werden. Worauf will die Choreografie Bezug nehmen? An welche Diskurse oder Ästhetik will sie anknüpfen? Welche Fragestellungen hat sie? – Folgt sie einem ästhetischen, politischen, sozialen, individuellen, biografischen Anspruch? Verfolgt sie ein Ziel? Was will sie transportieren? – Gibt es bereits Choreografien, die sich mit dieser Frage- oder Themenstellung beschäftigt haben? – Wie soll die Choreografie einer Öffentlichkeit präsentiert werden? Wie soll der jeweilige Kontext deutlich gemacht werden, z.B. durch Pressetexte oder Publikumsgespräche? Titel finden Der Titel gibt dem Publikum, den Medien erste Hinweise auf eine mögliche Lesart der Choreografie.

172 Komposition Welcher Titel eignet sich für die Choreografie? Gibt es einen Untertitel? – Soll der Titel das Thema benennen, assoziativ oder metaphorisch sein? – Beschreibt der Titel einen formalen Zugang zu dem Stück, z.B. indem er einen Hinweis zu der Anzahl der Tänzer gibt: »Sextett«, oder den Prozess markiert: »Explorationen«? – Weist der Titel auf eine Folge von Stücken eines Choreografen hin, z.B. wenn die Aufführung als dritter Teil einer Reihe zum Thema Boden »#3 Boden« heißt? – Soll mit dem Titel eine bestimmte Zielgruppe angesprochen werden? Welche Marketinginteressen lassen sich mit einem Stücktitel verbinden? – Stellt der Titel eine Frage und weckt dadurch Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der Frage? Soll der Titel eine Irritation erzeugen, die eine veränderte Sichtweise auf die Choreografie ermöglicht? – Lässt der Titel mehrere Lesarten zu? Z.B. könnte »III« die Zahl Drei thematisieren oder drei mal die Zahl Eins, z.B. wenn drei kürzere Tanzstücke an einem Abend gezeigt werden.

Komposition

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KOMPOSITION Dieser Baustein thematisiert Verfahren zur Zusammenführung Bewegungs von choreografischem Material. Mit choreografischem Material sind improvisierte oder festgelegte Bewegungen und Bewegungs- analyse sequenzen gemeint und Material, das aus anderen Medien wie Bild, Film, Text, Sprache, Stimme, Klang oder Musik generiert wurde, sowie deren Kombinationen. Tools, Parameter und Verfahren der Komposition helfen, das choreografische Material zusammenzustellen. Durch die Art und Weise der Zusammenführung werden Sinnzusammenhänge hergestellt, die sich zumeist erst in der Rezeption zeigen und hier sehr unterschiedlich wahrgenommen und mehrdeutig ausgelegt werden können.

Tools Kompositions-Tools sind Techniken zur Auswahl und Zusammenführung des choreografischen Materials. Mit ihrer Hilfe können Bewegungsmaterial, Bewegungssequenzen oder Szenen, intermediale Beziehungen, Interaktionen mit Requisiten oder Objekten choreografisch gestaltet werden. Die folgenden Techniken können auch als Tools zur Formgebung eingesetzt werden. Sie sind hier als Kompositions-Tools unter folgenden Kategorien aufgeführt: Auswählen | Vervielfältigen | Variieren | Kombinieren | Gewichten | Kontextualisieren.

Auswählen Unter Auswählen werden Techniken zur Sichtung und Filterung des choreografischen Materials verstanden: Sortieren | Reduzieren | Präzisieren | das Offensichtliche Tun. Wie kann aus dem Materialcorpus für die Choreografie relevantes Material herausgefiltert werden? – In welchem Zusammenhang steht das ausgewählte Material mit dem ästhetischen Konzept, der Arbeitsweise, dem Thema, den Beteiligten? – Wie kann der Materialcorpus verkleinert werden? Gibt es z.B. Bewegungssequenzen, Szenen, Requisiten, die nicht mehr benötigt werden? – Wo und wie kann das choreografische Material reduziert werden im Sinne einer Präzisierung, Klar-

174 Komposition heit oder Vereinfachung? – Welche Auswirkungen haben diese Veränderungen auf das Folgende sowie auf den Gesamtzusammenhang? Sortieren Das choreografische Material wird danach differenziert, ob es für die Choreografie zentral wichtig, verwendbar oder unbrauchbar ist. Material auswählen Verschiedene Szenen ausprobieren; eine Auswahl treffen › Jeder Szene einen Namen geben und je nach Wichtigkeit eine von drei Farben zuweisen; auf eine Karte schreiben › Die Karten in eine mögliche Reihenfolge bringen. Wie wirken die Szenen in dieser Reihenfolge? Welche Funktion bekommt jede Szene, z.B. die Funktion einer Einleitung oder einer Unterbrechung oder eines Endpunktes? Welche Relevanz hat jede Szene im Gesamtkontext und im Bezug auf das ästhetische Konzept der Choreografie? › Andere Reihenfolge auswählen und erneut prüfen. Reduzieren Für die Choreografie unwichtiges Material wird aussortiert. Einzelne Szenen bearbeiten Eine Szene auswählen › Durchlauf ggf. mit Außenstehenden anschauen › Feedback durch Außenstehende oder Teilnehmende einholen › Welches Bewegungsmaterial wirkt irritierend? Welches choreografische Material lenkt von der künstlerischen Idee oder dem ästhetischen Konzept ab? Wirkt die Szene an manchen Stellen überfrachtet? Bei welcher Personenzahl ist die Ausführung stimmig, klar? Festlegen & Erinnern –› Tools

Präzisierenπ Das choreografische Material wird reflektiert, zerlegt, in verschiedenen Ausprägungen oder Anordnungen ausprobiert, verfeinert und spezifiziert. Dabei werden Entscheidungen zur Ausführung und zur Auswahl getroffen. Verschiedene Musiken ausprobieren Die Zähleinheiten zu einer Bewegungssequenz bestimmen › Betonungen ändern › Dieselbe Bewegungssequenz zu unterschiedlicher Musik tanzen › Verschiedene Bezugnahmen zur Musik ausprobieren, z.B. unterstützend oder kontrastierend › Welche Veränderungen ergeben sich durch die Variation der Zähleinheiten und durch unter-

Komposition

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schiedliche Musik? › Entscheiden, welche Betonungen und welche Musik für die Bewegungssequenz geeignet sind. Das Offensichtliche Tun3 Diese Technik beruht auf den Annahmen, dass durch die Aneinanderreihung des Naheliegenden etwas Anderes entsteht und der Anspruch ausgehebelt wird, nach etwas besonders Originellem suchen zu müssen. Dieses Prinzip ist zur Materialgenerierung, -formgebung und -komposition einsetzbar. Entscheidungen treffen Fortlaufend die Frage stellen: Was soll als Nächstes passieren? › Das Gleiche oder etwas Anderes? › Entscheidungen treffen und darauf vertrauen, dass das Gemachte das Richtige ist. Die internen Bezüge werden sich im Schaffensprozess von selbst ergeben. Je weiter die Stückentwicklung voran schreitet, desto mehr Beziehungen tun sich auf › Die Wahrnehmung und Erinnerung an vorausgegangenes Material für die Art und Weise der Generierung von neuem Material nutzen.

Vervielfältigenπ Unter Vervielfältigen werden Techniken zur Multiplizierung von choreografischem Material, einer Bewegungssequenz oder einer Szene verstanden: Kopieren | Spiegeln | Wiederholen | Loopen. Dies kann durch eine oder mehrere Personen geschehen. Was soll vervielfältigt werden, choreografisches Material, eine Bewegungssequenz oder eine Szene? Auf welche Weise soll dies geschehen? – Wann machen Vervielfältigungen Sinn, z.B. als »roter Faden« der Choreografie? Welche künstlerische Absicht steckt hinter Vervielfältigungen? – Welche Auswirkungen haben Vervielfältigungen in Bezug auf die künstlerische Idee oder das ästhetische Konzept? – Welche Auswirkungen haben Vervielfältigung auf den Ablauf und die Lesbarkeit der Choreografie? An welchen Stellen könnte eine Szene noch einmal auftauchen, z.B. nach der Pause oder am Ende? Ist damit eine bestimmte Aussage verbunden? Kopieren Der Ablauf einer Bewegungssequenz oder Szene wird präzise wieder aufgenommen.

Form geben –› Tools

176 Komposition Bewegungssequenz übernehmen Eine Bewegungssequenz wird von einer Tänzerin ausgeführt › Sie wird im weiteren Verlauf von einem oder mehreren anderen Tänzern genauso übernommen. Welcher künstlerischen Idee folgt die Übernahme? Spiegeln Ein Ablauf wird präzise wieder aufgenommen aber seitenverkehrt ausgeführt. Filmsequenz spiegeln Einen Film mit einem Bewegungsablauf projizieren › Die Tänzerinnen stehen auf der Bühne vor der Leinwand und führen die Bewegungssequenz seitenverkehrt aus. Wie wird die Ausführung im Verhältnis zum Filmbild wahrgenommen? Wiederholen Ein Ablauf wird mehr als einmal ausgeführt; ein Element kehrt wieder. Bewegungssequenz doppeln Ein Tänzer wiederholt eine Bewegungssequenz im Verlauf der Choreografie. Welche Intention steckt hinter der Vervielfältigung, z.B. diese kompositorisch im Sinne eines Refrains einzusetzen? Soll eine Wiederholung dem Wiedererkennen von Material dienen, welches das Publikum schon gesehen hat? Wie kann man durch Wiederholungen mit Vorhersehbarkeiten und Sehgewohnheiten spielen? Loopen Ein Ablauf wird ohne Unterbrechung mehrfach wiederholt, so dass Anfang und Ende fließend ineinander übergehen. Intermedial vervielfältigen Auf der Bühne getanzte, mehrfach wiederholte Bewegungssequenz filmen und in Echtzeit oder zeitversetzt auf eine Leinwand projizieren › Den Vorgang umkehren: Mehrere Tänzer kopieren Bewegungen von einem Video und loopen sie. Welches Zusammenspiel entsteht bei der Verknüpfung von live stattfindender und technisch produzierter Bewegung? Form geben –› Tools

Variierenπ Unter Variieren werden Techniken zur Veränderung und Abwandlung von choreografischem Material gefasst: Bewegungspara-

Komposition

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meter variieren | Themen variieren | Szenen variieren | Homogenisieren | Pluralisieren | Fragmentieren | Umkehren | Scratchen | Limitieren, Entfernen | Abstrahieren. Wie kann choreografisches Material mit Hilfe verschiedener Medien variiert werden? – Wie sollen Variationen komponiert werden, z.B. als fließender Übergang oder als plötzlicher Bruch? – Wie und wann machen Variationen vor dem Hintergrund der künstlerischen Idee oder des kompositorischen Prinzips Sinn? An welcher Stelle einer Szene oder der Choreografie können Variationen des choreografischen Materials einfügt werden? – Wie kann über Variationen das Verhältnis von Wiederholung und Differenz thematisiert werden? Bewegungsparameter variieren Eine Bewegungsabfolge wird in Bezug auf Körper, Raum, Antrieb, Form, Phrasierung oder Beziehung verändert. Die Veränderung kann in einem oder mehreren Bewegungsparametern stattfinden. π Phasenverschiebung4 Das musikalische Strukturprinzip der Phasenverschiebung auf Bewegung übertragen: Zwei Akteure bewegen sich gleichzeitig, aber jeder hat eine Bewegungssequenz von unterschiedlicher Dauer › Beide loopen ihre Bewegung › Beide Akteure beginnen gleichzeitig, da aber die Länge der Bewegungssequenzen unterschiedlich ist, enden sie zeitversetzt | Oder: a und b loopen die gleiche Bewegungssequenz und variieren sie in geringem Umfang, z.B. indem a bei der Drehung die Armbewegungen verändert oder b den Oberkörper neigt › Die jeweilige Variation wieder loopen. Entsteht eine Phasenverschiebung? | Beide bewegen sich im selben Metrum, aber jede Person folgt einer anderen Zählzeit: a führt die Drehung auf sechs Zählzeiten aus, b auf sieben Zählzeiten › Es entsteht eine Phasenverschiebung, bei der die Tanzenden zwischenzeitlich asynchron, dann wieder synchron tanzen. Themen variieren Ein Thema, z.B. ein Bewegungsthema, eine Geste, eine sprachliche oder bildhafte Aussage, wird wieder aufgenommen und verändert. Dies kann einmalig oder, als Leitmotiv, mehrfach erfolgen.

Bewegungsanalyse

178 Komposition Thema und Variation Ähnlich wie in einer musikalischen Komposition ein Leitmotiv entwickeln, das den Stückverlauf durchzieht und in der Wiederholung variiert wird. Die Variationen sollen alle mindestens einen Aspekt des Themas enthalten, z.B. a (Thema), a1 (Variation 1 des Themas), a2 (Variation 2 des Themas), a3 etc. › Die Häufigkeit der Variationen ändern, z.B. a1 zwei Mal wiederholen, a2 sechs Mal, a3 ein Mal › Die Übergänge zwischen den Wiederholungen gestalten: Welche Variationen sind möglich? Szenen variieren Bewegungsabfolgen oder Szenen, die unterschiedlichen Kompositionsmustern folgen, zusammenführen. Rondo, Sonate, Kantate 5 Analog zu musikalischen Kompositionsformen Szenen gestalten: z.B. analog zu Rondo: a, b, a, c, a › Die Szene oder Szenenfolge variieren, z.B. eine Szene vorzeitig beenden oder umkehren oder die Szenenfolge umkehren. Wird die formale Variation als Ordnungsprinzip wahrgenommen? Homogenisieren Heterogenes choreografisches Material wird durch Zusammenführen vereinheitlicht. Angleichen Szenen aneinanderreihen, miteinander vergleichen. Worauf beziehen sich Ähnlichkeiten und Unterscheidungen? Auf einen Bewegungsparameter, auf die Geschwindigkeit, die Anzahl der Akteure oder ihre Beziehung zueinander? Wie lässt sich die Zusammenführung verdichten, z.B. durch Musik oder Text? Pluralisieren Choreografische Abläufe werden so variiert, dass die zentrale Idee oder das Leitmotiv erhalten bleibt, aber neue Ausprägungen entstehen, von denen mindestens zwei Varianten gleichzeitig ausgeführt werden. Heterogenitäten erzeugen Das Material eines Solos als Ausgangspunkt für eine Gruppenszene nehmen: Prägnante Bewegungsmotive auswählen, individuell variieren und als Gruppe gleichzeitig ausführen › Gruppenszene zum Solo in Beziehung setzen. Welche Effekte entstehen?

Komposition

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Fragmentieren Bewegungssequenzen, szenische Abfolgen oder choreografische Abläufe werden in einzelne Elemente zerlegt und neu geordnet. Bewegungs

Szenenteile neu kombinieren Einzelne Szenen in mehrere Phaanalyse sen gliedern, z.B. Anfang, Mittelteil, Ende › Einzelne Phasen der unterschiedlichen Szenen neu zusammensetzen, z.B. aus Szene 1 den Anfang, aus Szene 2 den Mittelteil, aus Szene 3 das Ende. Ergibt sich eine neue Lesart? Umkehren Ein Ablauf einer Bewegungssequenz oder einer Szene wird wiederholt bei Umkehrung der zeitlichen Abfolge oder der Richtung im Raum. Zahlenreihenfolge umkehren Einzelnen Phasen einer Bewegungssequenz oder Szene durchnummerieren › Die Zahlenfolge umdrehen › Die Bewegungssequenz entsprechend rückwärts ausführen. Welche Effekte werden erzielt? Welche Themen kommen zum Vorschein, z.B. die Zeit zurückholen zu wollen, Analogien zum Rückspulen eines Films? Scratchen Ein Ablauf einer Bewegungssequenz oder Szene wird geloopt und dabei in Teilabschnitten zeitlich und/oder räumlich umgekehrt ausgeführt. Brechungen Eine Bewegungssequenz a auswählen › Kurze Bewegungssequenzen b und d durch Fragmentieren, Umkehren etc. aus a entwickeln. Kontrastierende Bewegungssequenz c aus einem anderen Entstehungszusammenhang hinzufügen › a als Grundthema immer in gleicher oder ähnlicher Form wiederkehren lassen, durch die anderen Bewegungssequenzen unterbrechen: abacada … Limitieren, Entfernen Der Ablauf einer Bewegungssequenz oder Szene wird durch Einschränken des Bewegungsmaterials im Hinblick auf einzelne Bewegungsparameter, durch Begrenzung der Anzahl der Beteiligten und/oder das Herausnehmen choreografischer Materialien verändert. Dezimieren als Kompositionsprinzip Eine Szene mit erwartbarer Personenzahl und Handlungsmuster, z.B. ein Duo, ein

180 Komposition Fußballspiel, eine Kleinfamilie im Esszimmer, wieder aufnehmen, aber bei jeder Wiederholung choreografisches Material entfernen, z.B. Personen, Requisiten, Bewegungen, Worte etc. Welcher Effekt entsteht? Abstrahieren Symbolisch aufgeladene Bewegungssequenzen oder Szenen durch Zusammenführungen von ihrer pantomimischen, repräsentierenden oder theatralen Darstellung lösen. Alltagsgesten Verschiedene Begrüßungsformen, z.B. Handschlag, Kuss, Handkuss, Winken in verschiedenen Variationen zusammenführen. Die Unterschiedlichkeit der Begrüßungsformen (Handschlag: distanziert, respektvoll, wenig Körperkontakt, Kuss: vertraut, intim, viel Körperkontakt, Handkuss: konventionell, traditionell, geschlechterrollenfixiert; Winken: vertraut, freundschaftlich, ohne Körperkontakt) in verschiedenen Bewegungssequenzen in einer Szene in Beziehung setzen. Wie löst sich durch verschiedene Arten der Zusammenführung die Symbolik der Geste auf in Richtung einer abstrahierten Bewegung?

Kombinieren Unter Kombinieren werden Techniken verstanden, die einzelne Elemente des choreografischen Materials definieren und diese in eine erkennbare Beziehung bringen. Zu ihnen zählen: Akkumulieren | Verzahnen | Interpolieren | Überlagern. Welche Elemente des choreografischen Materials sollen miteinander in Beziehung gebracht werden, z.B. ähnliche oder unterschiedliche, einzelne Bewegungssequenzen oder ganze Szenen, im Stück bereits verwendetes oder auch neues Material? – Welcher Strategie oder welchen Prinzipien folgt das Kombinieren? Geht es um Differenzierung, Komplexität oder Vereinheitlichung? Ist es sinnvoll, z.B. ein Leitmotiv sichtbar werden zu lassen? – Welche künstlerische Idee steckt hinter den verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten? Wird z.B. die Idee von Kontinuität oder Abwechslung verfolgt oder eine andere? –Welche Beziehung soll zwischen den einzelnen Elementen hergestellt werden, z.B. eine für das Publikum nachvollziehbare oder unerwartete? Folgt die Zusammenstellung formalen oder narrativen Mus-

Komposition

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tern? – Welche Auswirkungen auf die Lesbarkeit der Choreografie hat die Kombination? Dient sie z.B. dazu, neue Wahrnehmungen zu erschließen und mit Sehgewohnheiten zu spielen? Wird ein Thema künstlerisch übersetzt, z.B. Wiederholung und Differenz? Akkumulierenπ Choreografisches Material wird aneinandergereiht nach dem Prinzip: a wiederholen und b hinzufügen, a plus b wiederholen und c hinzufügen etc. Beziehungsstress Tänzerin a tanzt ein Solo › Solo wird wiederholt, Duo mit Tänzer B anschließen › Solo a, Duo a / b wiederholen, Duo a / c und Duo b / d anschließen etc. Welche Aussage wird durch das akkumulierende Prinzip generiert? Verzahnen Mindestens zwei unterschiedliche Arten choreografischen Materials, z.B. verschiedene Aktionsstränge, werden miteinander verwoben, so dass sich durch das Ineinanderschieben neue Bewegungssequenzen, Aktionen oder Szenen ergeben. Bewegung und Text verzahnen Szenen a, b, c bestehen aus formalem Bewegungsmaterial, Szenen d, e, f arbeiten mit Textmaterial › Die Bewegungs- und Textszenen nach einem Zufallsverfahren ineinander schachteln. Welche Zuschreibung entsteht durch diese zufälligen Interaktionen? Wie könnte diese präzisiert und weiter gestaltet werden? Interpolieren bedeutet die wiederholte Umgestaltung des Themas oder Grundmotivs einer Bewegungssequenz oder Szene durch Einfügen neuer Elemente. Wiederholung und Abweichung Eine Bewegungssequenz in einer Choreografie als Leitmotiv einsetzen, das in verschiedenen Phasen des choreografischen Verlaufs auftaucht, z.B. als Übergang zwischen einzelnen Szenen, als Erinnerungsmoment › Bewegungssequenz durch zusätzliche Bewegungsmotive erweitern, dabei Wiedererkennbarkeit sicherstellen. Die hinzugefügten Bewegungsmotive können selbst entwickelt oder gesampelt, d.h. anderen Stücken entnommen sein. Welche Lesarten sollen mit der Wiederholung und Abwandlung verbunden werden, z.B.

Festlegen & Erinnern

182 Komposition Automatismus des Handelns, produktiver Lernprozess, zunehmende Entfremdung? Überlagern meint das Übereinanderlegen von choreografischem Material, Bewegungssequenzen oder Szenen, z.B. um Bewegungen zu fragmentieren, Verdichtungen zu erreichen, Sinnzusammenhänge herzustellen, synästhetische Wahrnehmungen zu provozieren. Dieses Tool ist grundlegend für das Kompositionsverfahren der Collage/Montage. Ort und Handlung verschieben Affäre in einem Hotelzimmer vor Ort tänzerisch umsetzen und filmen › Ebenso verfahren mit einem schweigenden Renterpaar in einem Wohnzimmer, ausgelassenen Kindern im Park und einem Junkie in einer öffentlichen Toilette › Einzelne Szenen auf der Bühne tanzen und gleichzeitig jeweils eine andere Filmszene projizieren. Welche Auswirkung hat die Kombination auf die Wahrnehmung der Szenen?

Gewichten Gewichten bezeichnet den Vorgang, ausgewähltes choreografisches Material auf den Gesamtverlauf der Choreografie abzustimmen. Dabei kann man – je nach künstlerischer Idee oder Haltung – mit Rhythmen, Akzenten oder Spannungsverläufen arbeiten. Hier sind die Techniken aufgelistet: Fokussieren | Verdichten | Resümieren. Setzt sich die Choreografie aus verschiedenen Bestandteilen, Techniken oder Stilen zusammen und in welchem Verhältnis stehen diese zueinander? – Wie kann eine stimmige Gewichtung zwischen dem Gesamtzusammenhang und Einzelteilen hergestellt werden? Wäre es sinnvoll, Materialblöcke an andere Plätze zu verschieben? – Wie verändert die Gewichtung einzelner Bewegungssequenzen oder Szenen die Wahrnehmung? Ist dies im Sinne der choreografischen Idee? – Wie kann die Choreografie die Aufmerksamkeit des Publikums bündeln? Soll die Aufmerksamkeit auf eine hierarchische Anordnung von Aktionen oder Szenen gelenkt werden, z.B. durch Vorder- und Hinterbühne? Entspricht ein direkter Bezug zum Publikum, z.B. durch Ansprache oder Blickkontakt, der künstlerischen Auseinandersetzung? – Wie

Komposition kann das choreografische Material intensiver gestaltet werden, z.B. durch Hinzufügen von Material, Erhöhen der Komplexität oder der Personenzahl, durch die Klärung der Beweggründe der Agierenden? Fokussieren Aktionen oder Szenen werden zum Zwecke der Aufmerksamkeitslenkung hervorgehoben, z.B. durch räumliche oder zeitliche Effekte, durch Unterstützung von Medien oder Bühnentechnik. Prioritäten setzen Eine Bewegungssequenz a besteht aus heterogenem und dynamischem Bewegungsmaterial mit viel Fortbewegung, b aus langsamem Bewegungsmaterial am Platz. Durch die Dauer beider Bewegungssequenzen eine Gewichtung herstellen: z.B. kurze Dauer von a, lange von b › dann immer längere Dauer von a und kürzere von b | Durch Raumordnung Gewichtung herstellen: z.B. b auf die Bühnenmitte, a zunehmend am Bühnenrand konzentrieren | Nachwirkung nutzen: b früher beenden › a steigern › Überraschend abbrechen und Bühne verlassen. Verdichten Eine Bewegungssequenz oder Szene wird durch die Verstärkung einzelner Parameter oder die Präzisierung von choreografischem Material intensiviert. Gebärden Das Thema Annäherung – Konflikt über Gebärdensprache entwickeln: Gebärden von Tänzerin a und Tänzer b greifen am Anfang als gegenseitige Berührungen ineinander und werden zu Kampftechniken gesteigert und verzerrt › Verdichten durch Hinzufügen von verstärkendem choreografischem Material: z.B. ein Song geht in Lärm über, ein bedeutungsvolles Objekt zerbricht › Verdichten durch Rahmen und Steigern, z.B. schauen die anderen Akteure vom Bühnenrand aus zu, ergreifen zunehmend Partei und formieren sich zu zwei einander gegenüberstehenden Gruppen, oder nach und nach nehmen die Männer die Gebärden des Tänzers, die Frauen jene der Tänzerin auf. Resümieren Material, das bereits verwendet wurde, wird in der Choreografie an einem dramaturgisch bedeutsamen Punkt zusammengeführt und in einen Sinnzusammenhang gebracht. Dies kann während des Verlaufs oder als Abschluss geschehen.

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184 Komposition Summing up In der letzten Szene einer Choreografie werden ausgewählte Bewegungssequenzen, Interview-Aussagen und Filmausschnitte wiederholt und so komponiert, dass eine neue Lesbarkeit entsteht: Die heterogenen choreografischen Materialien ergänzen einander und verdichten sich gegenseitig. Es entsteht der Eindruck, dass ein zuvor verborgener Zusammenhang hervortritt. Form geben –› Tools

Kontextualisierenπ Unter Kontextualisieren werden Techniken verstanden, die die Gestaltung des choreografischen Materials in einen Rahmen stellen. Zu ihnen zählen: Kontrastieren | Verzerren | Transponieren | Ironisieren | Zitieren | Sampeln | Kommentieren. Welches choreografische Material bedarf einer Kontextualisierung? – Mithilfe welches Mediums soll die Kontextualisierung einer Bewegungssequenz, einer Szene oder der Choreografie erfolgen, durch Bewegung, Bild, Film, Text, Sprache, Musik? – Welches sind die Kontexte: ästhetische Praxis, theoretische Diskurse oder politische und gesellschaftliche Themen? – Geht es um das Hinterfragen von Zusammenhängen, das Reflektieren und Aufbrechen von Konventionen oder die Analyse eines Themas? Kontrastieren Bewegungssequenzen, choreografisches Material oder einzelne Szenen werden in eine gegensätzliche Beziehung zueinander gebracht. Brüche Wie können Spannungen und Gegensätze erzeugt werden, z.B. durch Einfügen einer narrativen Szene in eine formal angelegte Choreografie, durch die Aufeinanderfolge kurzer Gruppenszenen mit sehr heterogenem Bewegungsmaterial, durch eine Kontrastierung von Bewegung und Musik, Text, Sprache, Film? Wie können durch Aufeinandertreffen verschiedener Tanzstile, z.B. Flamenco, HipHop und zeitgenössischer Tanz, deren Charakteristika herausgearbeitet werden? Verzerren Bewegungssequenzen, einzelne Szenen oder choreografische Abläufe werden fragmentiert und durch Übersteigerung verändert.

Komposition Körperkult Idealbilder verzerren: Akteure markieren gegenseitig mit Stiften Falten im Gesicht und am Körper, ziehen die eigene Haut bis zur maximalen Ausdehnung und ziehen sich gegenseitig an den markierten Stellen in die Fortbewegung | Entspannungssituationen verzerren: Massagetechniken bis zur Gewaltanwendung verändern. Welche Wirkung entsteht? Welcher Kontext wird zu der verzerrten Variante assoziiert, z.B. Folterkammer, Marionettentheater? Transponieren Eine Bewegung oder Bewegungssequenz, choreografisches Material, ein Objekt oder eine Szene wird in einen anderen Rahmen übertragen. Alltagshandlung übertragen Eine Bewegungssequenz, die aus einer alltäglichen Körperaktion wie dem Duschen oder Putzen entstanden ist, in einen anderen Kontext stellen, z.B. in einer Telefonzelle ausführen oder einem Beichtstuhl. Wie erscheint die Körperaktion durch diese Übertragung? Ironisieren Bezeichnet eine Strategie, zu symbolisch, gestisch oder mimisch aufgeladenem choreografischem Material in Distanz zu treten und es zu kommentieren. Ironisieren kann u.a. durch Verfremden oder Verzerren hergestellt werden. Blossstellen Bürgerliche Umgangsformen, Hierarchien und Intrigen werden vorgeführt, indem Gesten wie Annähern, Händeschütteln, Schulterklopfen verlangsamt und überdeutlich vollzogen werden. Die Agierenden wenden sich dabei nicht einander sondern dem Publikum zu, um ihre Profilsucht deutlich werden zu lassen | Tänzerinnen führen Soli virtuos aus und buhlen dabei um die Gunst des Publikums, dies z.B. als Spielshow angelegt, ggf. mit Publikumsbeteiligung. Welche Konventionen werden sichtbar? Wie wirkt die ironisierte Passage, z.B. grotesk, amüsant, erhellend? Zitieren Eine Bewegungssequenz oder choreografisches Material wird übernommen und als »Zitat« gekennzeichnet. Hommage Eine Choreografin bedient sich typischer Stilmittel, Bewegungsmotive und Bewegungsabfolgen eines Choreografen

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186 Komposition und weist sie als Zitate aus › Sie setzt ihre künstlerische Formbehauptung dazu in Beziehung | Oder sie gestaltet die Auseinandersetzung mit einem Bild, indem sie Farb- und Formgebung, Thematik, Duktus etc. choreografisch übersetzt. Welche Lesarten ermöglicht der Bezug auf den zitierten Kontext? Wie wirkt die Gegenüberstellung von zitierten und eigenen Elementen? Sampeln Choreografisches Material wird kopiert und in einen anderen Kontext – obwohl erkennbar – eingefügt. Tanzgeschichte sampeln Fragmente aus verschiedenen bekannten Choreografien auswählen und zu einer Choreografie zusammenstellen. Dabei zwischen den Fragmenten Übergänge gestalten, so dass ein Patchwork des Tanzes entsteht. Welche Bewegungssequenzen entstehen durch die Zusammenführungen des heterogenen Materials? Welche Lesarten lassen sie zu? Kommentieren meint Stellung zu nehmen zum choreografischen Material mit künstlerischen Mitteln. Ausschnitte In einer Choreografie werden Ausschnitte aus mehreren Spielfilmen, die eine choreografierte Szene zeigen, projiziert und anschließend von der Akteurin durch eigene Bewegungen analysiert und reflektiert6. Welche Funktion hat die choreografische Szene im Film, über welche Möglichkeiten verfügt die Choreografie, die über die filmischen Mittel hinaus gehen, wie kann z.B. die innere Verfasstheit der Protagonisten zum Ausdruck gebracht und ihr Verhältnis zu sich selbst kommentiert werden? | Ein Choreograf zeigt in einer Lecture-Performance7 festgelegte Bewegungssequenzen und kommentiert diese verbal oder tänzerisch. In welchen Zusammenhängen ist es sinnvoll, über einen Kommentar in Distanz zum eigenen choreografischen Material zu treten? Welche Themen werden damit angesprochen, z.B. konzeptionelle Fragestellungen, gesellschaftliche Hintergründe von Tanz? Verändert sich durch den Kommentar die Wahrnehmung einer Bewegungssequenz oder Szene?

Komposition

Verfahren Kompositionsverfahren sind, anders als Kompositions-Tools, komplexe Vorgänge der Zusammenstellung und Gestaltung von choreografischem Material. Sie stehen in enger Wechselwirkung mit dem ästhetischen Konzept, der künstlerischen Arbeitsweise, den Formen der Zusammenarbeit, dem Thema und der Stückdramaturgie. Spiele, die als Kompositionsverfahren z.B. bei regelgeleiteten Improvisationen oder als ästhetisches Konzept in einer Echtzeit-Komposition eingesetzt werden können, sind im Modulheft Spielweisen thematisiert. Hier werden folgende Kompositionsverfahren aufgelistet: Verfremdung | Dekonstruktion | Reenactment und Rekonstruktion | Collage/Montage. Verfremdung ist ein Kompositionsverfahren, das vor allem durch das Epische Theater nach Bertolt Brecht bekannt wurde, heute aber auch in digitaler Bildbearbeitung Anwendung findet. Der Verfremdungseffekt besteht darin, dem Zuschauer Vertrautes in einem neuen, ungewohnten Kontext erscheinen zu lassen. Auf diese Weise wird eine lineare Erzählstruktur durchbrochen und, so die Brechtsche Theorie, die Widersprüchlichkeit der Realität sichtbar gemacht und der Zuschauer in die Lage versetzt, eine kritische Distanz zum Dargestellten einzunehmen. Verfremden von Bewegungssequenzen oder Szenen bezeichnet den Vorgang, Bewegungskonventionen und Sehgewohnheiten zu unterlaufen oder zu irritieren, z.B., indem alltägliche und profane Bewegungen oder auch Bewegungsmuster des künstlerischen Tanzes aus ihrem Kontext gelöst und neu verortet werden. Wann ist es sinnvoll, Verfremdung als Verfahren anzuwenden? Sollen z.B. narrative Ordnungen, choreografische Konventionen oder politische Ideologien hinterfragt werden? Passt eine solche Haltung zum künstlerischen Konzept? – Was soll verfremdet werden, eine Figur, eine Bewegungssequenz oder Szene, die gesamte Choreografie? – Wie kann Verfremdung ästhetisch umgesetzt werden, z.B. indem Bewegungsmaterial mit Medien wie Text oder Bild bzw. mit Fortbewegungshilfen wie Krücken oder Rollstühlen zusammengeführt wird?

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188 Komposition Verfremden vertrauter Bewegungen Eine Alltagsbewegung auswählen, z.B. das Binden einer Krawatte › Die Alltagsbewegung transformieren, so dass eine neue Situation entsteht, z.B. drangsalieren | Eine Geste auswählen, z.B. das Streicheln einer Wange › die Geste so modifizieren, dass eine neue Geste entsteht, z.B. Schläge. Wie wird die Ausgangsgeste nach ihrer Verfremdung wahrgenommen? Lineare Erzählstruktur durchbrechen Eine Bewegungsszene nach einer narrativen Logik entwickeln › Szene fragmentieren › Einzelne choreografische Materialien neu zusammenführen. Wie verändert sich die Erzählung? Bühnenkonvention nutzen Verfremdung durch Bühnenbild: z.B. gemalte Kulisse für klassisches Ballett mit zeitgenössischer Bewegungsästhetik konfrontieren | Oder: Akteure in Schwimmtrikots auf Startblöcken führen Tanzbewegungen aus bzw. deklamieren politische Parolen oder Gedichtzeilen | Bewegungsmuster verfremden: z.B. zeitgenössischen Tanz in Martial Arts überführen oder Rollenverteilungen umkehren | Akteure einführen, z.B. Musiker, einen Dramaturgen oder Projektleiter, Ankleider und Maske in die Choreografie integrieren | Formate zitieren, z.B. Quiz, Talkshow, Selbsthilfegruppe oder Gottesdienst. Welcher Effekt entsteht? Passt er zum Thema, zum künstlerischen Ansatz? Wie kann er verstärkt, präzisiert werden? Dekonstruktion Ein von dem Philosophen Jacques Derrida geprägter Begriff. Übertragen von Text und Schrift auf Bewegung und Choreografie meint er kein spezifisches regelhaft ablaufendes Kompositionsverfahren, sondern beschreibt choreografische Praktiken, die feststehende Regeln, Verfahren und Techniken von Tanz und Choreografie selbst befragen, z.B. die Kanonisierung der Balletttechnik oder die choreografische Ordnung. Kennzeichnend für die Dekonstruktion ist unter anderem eine Analyse der Begriffe Zeichen, Sinn, Bedeutung, die diese an kontingente Faktoren bindet. So kann z.B. durch Fragmentieren einer Bewegungs- oder Szenenabfolge ihr Sinn und ihre Bedeutung in Frage gestellt und

Komposition die herkömmliche Ordnung des Bewegungsablaufs reflektiert werden. Bei der Reorganisation und Neukombination des Materials liegt die Betonung auf dem Unfertigen, Uneindeutigen; Bewegung wird als diskontinuierlich, als Brechung vorgestellt. Auf welche Ebene bezieht sich die Dekonstruktion: auf eine ästhetische, konzeptionelle, kompositorische, geschichtliche und/oder soziale Ebene? – Welches Verfahren der Dekonstruktion soll angewendet werden, z.B. Aleatorik oder Fragmentierung? – Wie lässt sich das Verhältnis von Signifikat und Signifikant in der Bewegung unterscheiden, z.B. die Geste »Kopfkratzen« und ihre Bedeutung: Unsicherheit, Nachdenken? Welches Spiel lässt sich aufgrund dieser Unterscheidung mit der Ein- bzw. Mehrdeutigkeit des Bewegungsmaterials oder einer Szene spielen? Anagrammieren Ein Anagramm bezeichnet ein Wort, das durch Umstellung der einzelnen Buchstaben oder Silben aus einem anderen Wort gebildet wurde, z.B. Regal aus Lager. Ein Anagramm auswählen › Jeden Buchstaben, der in dem Wort vorkommt, mit einer Bewegung in den Raum zeichnen, diese Bewegung festlegen › Das Bewegungsanagramm durch Umstellen der BuchstabenBewegungen in anderer Reihenfolge erstellen. Dabei müssen alle Bewegungen verwendet werden. Wie wirken die beiden Bewegungssequenzen im Vergleich? Körperkonzepte dekonstruieren Ausgangspunkt ist ein bestimmtes Körperkonzept des Tanzes, z.B. das Körperkonzept des klassischen Tanzes, das eine Achse und ein Bewegungszentrum vorsieht und ein festgelegtes Bewegungsvokabular hat › Arm- und Beinbewegungen des klassischen Tanzes mit einem multizentrischen Körperkonzept, das beliebig viele Zentren im Körper vorsieht, verbinden. Wird die Störung eines vertrauten Ablaufs wahrgenommen oder entsteht eine eigene Ästhetik? Dekonstruieren mit Aleatorik Eine festgelegte Bewegungssequenz, z.B. Mary Wigmans »Hexentanz«, in mehrere Phasen unterteilen und diese mit Zahlen kennzeichnen › Die Zahlen mit einem aleatorischen Verfahren in einer Echtzeit-Komposition in eine neue Reihenfolge bringen. Verändert sich die Lesart? Wird ein Bewegungsmuster kenntlich?

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190 Komposition Choreografische Ordnung dekonstruieren Den Ablauf einer Choreografie, z.B. eines klassischen Balletts oder einer Milonga analysieren und neu zusammenführen, z.B. indem eine Akteurin als Solo die Nebenrolle einer Tänzerin des Corps de Balletts tanzt, ein Pas de deux verdoppelt und gespiegelt wird oder die Tanzenden das Verhältnis von Führen und Folgen im Tango durchbrechen. Werden gesellschaftliche Konventionen und Machtstrukturen sichtbar? Wirkt ihre Durchbrechung irritierend oder befreiend? Reenactment und Rekonstruktion Reenactment meint Wiederaufführung und bezeichnet das Nachstellen bzw. Neuinszenieren historischer Ereignisse. Während dies im Rahmen von Geschichtsdarstellungen möglichst authentisch erfolgen und über die Darstellung und Erfahrung Geschichte verständlich und erlebbar gemacht werden soll, thematisiert Reenactment im Bereich der Choreografie die (Un-)Möglichkeit der Wiederaufführung – der eigenen Choreografien wie der anderer Choreografen. Im Gegensatz zur Rekonstruktion, die prinzipiell auf eine original- und detailgetreue Wiederaufführung abzielt, wird Reenactment als ein Übersetzungsprozess verstanden, der die Differenz zwischen dem historischen Material und der Neukontextualisierung zum Thema macht. Reenactment ist von daher eher eine Strategie der Neukonstruktion und häufig auch der Dekonstruktion. Reenactment und Rekonstruktion arbeiten auf der Grundlage von Materialien wie tänzerischen Notationen, Filmaufzeichnungen, schriftlichen Notizen, Tagebüchern, Skizzen, Fotos, Rezensionen oder Interviews mit Zeitgenossen. Aus welcher Zeit stammt die Choreografie? Welchem Konzept folgt sie? Wie ist sie aufgebaut? Wie geht die Choreografie mit Raum und Zeit um? Aus welchem Kontext stammt sie? Auf welche Art und Weise beeinflussen der lebensweltliche Kontext und das Tanzwissen das Sehverhalten, das Tanzverständnis, die Tanzrezeption, damals und jetzt? – Soll die Rekonstruktion eines historischen Stücks z.B. in Form einer Lecture-Performance gezeigt werden, die den Rekonstruktionsprozess thematisiert?8 Oder durch mimetische Aneignung und möglichst originalgetreue Darbietung der Bewegung? –

Komposition Wie kann der Aneignungsprozess des historischen Bewegungsmaterials für das Publikum transparent gemacht werden? Wie kann die Frage der (Un-)Möglichkeit von Rekonstruktion in der Aufführung reflektiert werden? – Wie kann eine Position zum Bewegungsmaterial formuliert werden, z.B. indem man auf eine Bewegungssequenz ein zeitgenössisches choreografisches Verfahren wie Dekonstruktion anwendet? Tanzgeschichte befragen9 Eine historische Choreografie auswählen › Die Choreografie analysieren, z.B. in Bezug auf den geschichtlichen und politischen Kontext, das Konzept der Choreografie sowie kompositorische und inhaltliche Ebenen, Narrative, Verwendung von Medien wie Bild, Sprache, Text › Das Bewegungsmaterial erlernen. Wie ist Rekonstruktion von Tanz möglich? Wie kann ein Tänzer sich zu dem fremden historischen Material in Beziehung setzen? Zum Beispiel: Einen Filmausschnitt der Originalchoreografie zeigen und das erlernte Bewegungsmaterial dazu in Beziehung setzen, indem dieselbe Passage getanzt wird. Kommentieren, worin sich Original und Interpretation unterscheiden, welche Bewegungen besonders schwierig auszuführen sind und warum manche besonders beliebt sind. Lässt sich eine eigenständige Position zum eigenen und fremden Bewegungsmaterial formulieren? Collage/Montage Collage (frz. coller, dt. kleben) ist ursprünglich sowohl eine Technik der Bildenden Kunst, bei der durch Aufkleben verschiedener Einzelteile auf eine Unterlage etwas Neues geschaffen wird, als auch der Begriff für ein durch diese Technik geschaffenes Kunstwerk. Das Prinzip der Collage hat sich auf andere Künste ausgeweitet, etwa auf die Musik mit Klang-, Ton- oder Musikcollagen. Der Begriff der Montage entstammt der Welt der industriellen Technik. Analog meint er in den Künsten das Zusammenführen einzelner Teile zu einem Ganzen, z.B. die Textmontage, Foto- oder Filmmontage. Choreografische Montage ist ein auf der Collage basierendes Verfahren, bei dem eine Vielzahl unterschiedlicher choreografischer Materialien verwendet wird, die verschiedene Sinne ansprechen und unterschiedliche Inhalte

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192 Komposition transportieren, z.B. Bewegungsmaterial, Texte, Fotos. Durch ihr Zusammenfügen entstehen neue Zusammenhänge, die sich erst in der Rezeption erschließen. Für eine choreografische Montage können v.a. Tools der Verfielfältigung, Kontextualisierung und Kombination sowie Arbeitsweisen der intermedialen Komposition eingesetzt werden. Wie kann das Aneinanderreihen oder Überlagern unterschiedlichen choreografischen Materials Assoziationsräume öffnen für mehrdeutige Zusammenhänge? Welche Lesarten ergeben sich durch diese Zusammenführungen? – Was soll montiert werden, z.B. fremdes und eigenes, zeitgenössisches und historisches Material? Verschiedene Künste, Genres und Formate, unterschiedliche Musik- und Bewegungsstile? – Wie beeinflussen die Wechselwirkungen die Wahrnehmung des jeweiligen Materials, der montierten Choreografie? Fotomontage Familienfotos sammeln und literarische Texte über Familienthemen, z.B. Familienromane, Gedichte, heraussuchen › Figuren zusammenführen, z.B. Romanfiguren und Familienmitglieder › Zu den jeweiligen Charakteren Bewegungssequenzen entwickeln › Aus den Fotos eine Collage entwickeln und mit Textfragmenten und Bewegungsmaterial zusammenführen. Wie verändern sich die Figuren gegenüber dem Familienkontext? Klang- und Bewegungscollage Geräusche von herunter fallenden Objekten, z.B. Wasserfall, zerbrechendes Porzellan, einstürzendes Haus, zu einer Collage zusammenstellen und ggf. mit anderen Musikstilen kombinieren › Bewegungsmaterial mit formalen Aufgaben zum Umgang mit Schwerkraft festlegen › Mithilfe eines Zufallsverfahrens Bewegungsfragmente zu einer Bewegungscollage zusammenführen und mit der Klangcollage verbinden. Wird die Thematik des Stürzens verdichtet oder verfremdet? Produktionsbedingungen10 In einer Choreografie Produktionsbedingungen und Zwänge der Kunstvermarktung thematisieren. Bewegungsmuster der Nebenjobs als Auslöser für Bewegungssequenzen nehmen, z.B. Call Center Agent oder Mitarbeiter eines Escort Service › Ausschnitt aus der Produktion

Komposition präsentieren und gleichzeitig finanzielle Hintergründe darstellen, z.B. aus einem Antrag zitieren oder Arbeitsstunden auf einem Flipchart vorrechnen › Während einer Tanzszene kommentieren, dass für die thematische Auseinandersetzung ein Duo konzipiert war, aus finanziellen Gründen daraus aber ein Solo gemacht werden musste. Das Publikum bitten, sich den fehlenden Partner vorzustellen.

Parameter Eine Choreografie ist eine Ordnung von Körpern in Zeit und Raum. Die Organisation von Zeit und Raum sowie die Akteure, ihre Anzahl, ihre Aufgabe, szenische Zuordnung, Beziehung und Verortung in der Bewegungsordnung der Choreografie sind von daher grundlegende kompositorische Parameter. Zeit Bewegung vollzieht sich in der Zeit. Zeit selbst ist ein historisches Konzept, das kulturell und individuell sehr unterschiedlich gestaltet und wahrgenommen wird. Eine differenzierte Gestaltung der Zeit ist bei der Komposition von Bewegungssequenzen und -szenen grundlegend. Choreografisches Material kann nacheinander, gleichzeitig oder überlappend zusammengestellt werden. Dabei kann ein lineares oder ein rhythmisches Zeitkonzept zur Anwendung kommen. Wie soll die Dauer einer Bewegungssequenz oder Szene strukturiert werden? – In welchem Verhältnis sollen in einer Bewegungssequenz subjektive Zeit, z.B. beim Atemrhythmus, und objektive Zeit, z.B. gemessen durch eine Uhr, stehen? – Welches Zeitkonzept wird zugrunde gelegt? Zeit linear gestalten Lineare Zeit wird als ein Fortschreiten ohne Wiederkehr oder Wiederholung verstanden, z.B. Geschichte, biografisches Altern, Uhr, Takt, Metrum. Zeitmass Bestimmte Zeitdauer verabreden › Nach der verabredeten Minutenzahl z.B. die Bewegungssequenz, die Musik

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194 Komposition oder die Anzahl der Akteure wechseln › Eine Akteurin stoppt jeweils den Ablauf nach der verabredeten Zeit und gibt das Stichwort der nächsten Bewegungssequenz sowie Namen der Tänzer an | Bewegungsgeschwindigkeit auf das Tempo des Metronoms abstimmen. Welche Wirkung ergibt sich für die Qualität der Bewegungen, den Arbeitsprozess, die Lesbarkeit der Choreografie? Zeit rhythmisch gestalten Rhythmische Zeit wird in Zyklen erlebt. Sie kennt Wiederholungen, wie beim Atem, Herzschlag, bei den Jahreszeiten. Zyklische Wiederkehr In gleichbleibenden Abständen ein Intermezzo einfügen nach dem ersten, zweiten und dritten Viertel des Stückes. Das Intermezzo erscheint leicht variiert, bleibt wiedererkennbar und wird nach dem zweiten Auftauchen vom Publikum erwartet | Szene b steht in Resonanz zu Szene a › Szene c wirkt als Echo von Szene b etc. | Eine Szenenfolge nimmt den Atemrhythmus zum Vorbild: Mehrere Szenen folgen einer gleichmäßigen Dauer, wie beim stetigen Ein- und Ausatmen › Einer kurzen Szene, einem hastigen Luftholen entsprechend, folgt eine lange Szenendauer wie ein langes Ausatmen etc. › Diese Orientierung für Generierung und Formgebung nutzen: Der Atemrhythmus gibt den Bewegungsrhythmus vor. Welche Effekte entstehen, wenn ein zyklischer Spannungsverlauf die Phrasierung prägt? Raum Die Gestaltung des Raumes ist grundlegender Bestandteil jeder Choreografie. Raumkonzepte rahmen die Art und Weise, wie die Choreografie räumlich organisiert ist, an welchem Ort sie stattfindet, wie der Aufführungsort gestaltet ist und die Akteure im Raum agieren. Grundsätzlich lassen sich zentrische und dezentrische Raumkonzepte unterscheiden, die Raum in unterschiedlicher Weise segmentieren: Ersteres differenziert den Raum in Zentrum und Peripherie und fokussiert damit auf klare Hierarchisierungen, z.B. wenn Aktionen im Vorder- oder Hintergrund platziert werden, in der Bühnenmitte, auf der linken und rechten Bühnenseite. In einem dezentrischen Raumkonzept organisiert

Komposition sich die choreografische Ordnung um mehrere Raumzentren. Es zeigt sich eine Gleichwertigkeit der Raumnutzungen und verschiedenen Aktionen. Wie wird Raum genutzt? Basiert die Choreografie auf einem zentrischen oder dezentrischen Raumkonzept? – Welchen Raum bekommt eine Szene? – Wie sind die Handlungsräume der einzelnen Akteure konzipiert? Wie sind die Räume der Akteure zueinander und zum Publikum komponiert? Wie ist das Publikum in Bezug auf die Aktion platziert? – Verändern sich das Raumkonzept oder die Anordnung von Bühne und Publikum während der Choreografie? Raumpositionierungen Auf mehreren benutzten Blättern die Unregelmäßigkeiten des Blattes markieren, z.B. kleine Flecken oder Kerben › Alle Unregelmäßigkeiten durchnummerieren und entsprechend im Bühnenraum Plätze unterschiedlicher Größe definieren › Die Plätze mit verschiedenen Bewegungsaufgaben belegen › Die Nummerierungen als Ausgangspunkte für die Tanzenden und dann als Abfolge für die folgenden Raumpositionen wählen › Die Blätter übereinander legen und prüfen, ob sich Markierungen decken. Wo das der Fall ist, gemeinsame Bewegungssequenzen erfinden | Auf der Bühne mehrere Spielfelder definieren und jedem Feld eine festgelegte Gruppenszene zuordnen › Die Tanzenden begeben sich auf ein Feld ihrer Wahl › Ist dort die notwendige Anzahl erreicht, wird die entsprechende Szene getanzt. Raum erproben Alle Bewegungen auf einen Fixpunkt beziehen, um den die Tanzenden wie um einen Planeten kreisen | Bewegungssequenzen in unterschiedlichen Distanzen tanzen, z.B. als Duo, in einer weit verstreuten Gruppe oder durch mehrere Paare, die im Raum verteilt sind. Mobiler Raum11 Durch Raumbegrenzungen den Bühnenraum für jede Bewegungssequenz oder Szene umgestalten und verschiedene räumliche Situationen schaffen › Diese räumlichen Situationen können mit Narrationen verbunden werden, z.B. wenn der Raum wie ein langer Gang gestaltet ist, durch den sich alle Akteure nacheinander wie in einer Prozession hindurch bewegen oder wenn eine Paarszene auf einem immer engeren Raum stattfindet.

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196 Komposition Akteure Anzahl und Aufgabe der Akteure, ihre szenische Zuordnung und Beziehung zueinander, prägen wesentlich die choreografische Ordnung. Zu kompositorischen Entscheidungen gehören Fragen der Anzahl und wie diese Anzahl organisiert ist, z.B. in Soli, Duos, Trios, als Ornament oder Schwarm. Die einzelnen Akteure können als Figuren, in bestimmten Rollen, als Handlungsträger, als Funktionsträger einer Ordnung fungieren oder als Person identifizierbar sein. Sie können auf verschiedene Weise einzelnen Bewegungssequenzen oder Szenen zugeordnet und zueinander in Beziehung gesetzt werden: annähernd, kontrapunktisch, kontrastierend, unabhängig, narrativ oder formal. Welche Anzahl an Akteuren erfordert das choreografische Projekt? Welchen Einsatz erfordert das künstlerische Konzept? – Welche Möglichkeiten entstehen durch das Spiel der Akteure und welcher dramaturgischen Idee folgen sie? Lässt sich z.B. durch Wechsel von annähernder zu kontrapunktischer Beziehung ein Aktionsstrang präzisieren? – Welche Eigendynamik produziert z.B. ein Solo, Duo oder Trio? Verändert sich die Interaktion einer Gruppe beim Wechsel von einer geraden zu einer ungeraden Personenzahl? – Welches narrative Potential steckt in verschiedenen Gruppierungen? Wie könnte ein formaler Umgang mit diesen Konstellationen gestaltet werden? – Wie kann der Spannungsverlauf durch die Art und Weise des Einsatzes oder die Zahl der Akteure beeinflusst werden? Mit Akteuren variieren Wie kann man eine Bewegungssequenz durch den Wechsel der Akteure verändern? Z.B. durch Weitergeben: a tanzt den ersten Teil eines Solos › b führt das Solo von a fort › c das Solo von b › d und c kommen hinzu und tanzen das Solo überlappend etc. | Drei gleichzeitige Bewegungssequenzen so komponieren, dass sie nicht als Trio wahrgenommen werden, sondern als eigenständige Soli, z.B. Version 1: Die Soli bestehen aus unterschiedlichem Material und sind räumlich so weit voneinander entfernt, dass sie nicht alle gleichzeitig gesehen werden können. Version 2: Alle drei Soli bestehen aus denselben Elementen, z.B. Sprung, einer Drehung und einer

Komposition

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Bodenbewegung, aber in sehr unterschiedlichen Ausprägungen und unterschiedlicher Reihenfolge. Wie und durch welche räumliche Anordnung werden Beziehungen zwischen den Soli wahrgenommen? | Aus einem Solo ein Duo, Quartett, eine Gruppenszene entwickeln und schrittweise wieder zum Solo zurückführen. Lassen sich unterschiedliche Wirkungen differenzieren? Welche führen den choreografischen Prozess weiter? Schwarm Schwärme sind Gruppen, die selbstorganisiert ohne eine zentrale steuernde Instanz im Kollektivπ agieren. Sie sind in der Lage, sich zu organisieren und zu formieren, und sind dabei flexibel, koordiniert und zielgerichtet. Das Prinzip der Informationsweitergabe durch körperliche Nähe gehört zu den wichtigsten Grundsätzen der Schwarmlogik. Der Schwarm als choreografisches Prinzip kann unter anderem als Spielweise zur Gruppenwahrnehmung, als Echtzeit-Komposition oder als interaktives Spiel mit Beteiligung des Publikums eingesetzt werden, z.B.: In körperlicher Nähe zu der gesamten Gruppe bleiben › Immer in Bewegung bleiben › Dem Bewegungsfluss der Gruppe folgen.

Intermediale Komposition Ähnlich wie choreografische Arbeitsprozesse intermedial angelegt sein können, z.B. die Bewegungsgenerierung oder -formgebung, sind zeitgenössische Choreografien oft intermedial komponiert, indem Bewegung mit Medien wie Bild, Film, Text, Musik oder digitalen Medien zusammengeführt wird.12 Das Zusammenwirken verschiedener Medien in einer Choreografie ermöglicht eine vielschichtige, inhaltliche, formale und ästhetische Gestaltung. Im Folgenden sind Fragen und Beispiele für intermediale Beziehungen zwischen Bewegung bzw. Choreografie und Text, Schrift, Sprache, Bild und Film sowie Musik aufgeführt.

Medienauswahl Wann und warum werden welche Medien gewählt? Bieten Medien andere Perspektiven an, um ein Thema zu beleuchten? Wie kann ein künstlerisches Werk, z.B. ein Gemälde, ein Gedicht oder Musikstück, für die Choreografie verwendet werden?

Formen

198 Komposition Welche Themen wirft es auf ? Welche Kompositionsprinzipien liegen ihm zu Grunde? Wie ist die Rezeptionsgeschichte des Werkes? Gibt es bereits choreografische Umsetzungen? – Bewegung und Medium Wie können Medien ins Verhältnis zur Bewegung gesetzt werden? Sollen verschiedene Medien einander ergänzen, verstärken oder kontrastieren? Verhalten sie sich annährend, kontrapunktisch oder unabhängig zueinander? Soll durch Überlagerung mehrerer Medien kommentiert oder Komplexität erzeugt werden? – Medienwahrnehmung Sollen durch den Einsatz verschiedener Medien unterschiedliche szenische Aktionsstränge aufgebaut werden? Welche Spannungsverläufe entstehen, wenn die Bezugnahme zwischen Medien zeitversetzt, parallel oder überlappend erfolgt? Welches Wahrnehmungsspektrum öffnet sich, wenn Medien auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden werden? Welche kompositorischen Entscheidungen zieht das nach sich? Wie nimmt die Art und Weise der Zusammenstellung Einfluss auf die Wahrnehmung der Szene? Text, Schrift, Sprache Wie werden Sprache und Bewegung als Zeichensysteme wahrgenommen, z.B. eindeutig / mehrdeutig, lesbar / nicht lesbar? – Wie können Sprache und Bewegung ins Verhältnis gesetzt werden? Wie kann ein Bewegungsdialog komponiert werden? – Wie wird Sprache in Szene gesetzt? Wird sie z.B. live gesprochen oder über ein Aufnahmegerät eingespielt? Ist ihre Funktion auf Informationsvermittlung ausgerichtet oder darauf, eine Situation zu etablieren, Sinnzusammenhänge in Frage zu stellen, Bedeutung zu dekonstruieren? – Wie werden Text oder Schrift in die Choreografie eingebaut? Wie können sie mit der Bewegung formal komponiert werden? Wird Text gesprochen, gelesen oder im Moment der Aufführung geschrieben, tritt er z.B. auf Zetteln, Plakaten, Bildern oder Bühnenbild in Erscheinung, als geschriebener Text, der projiziert wird? Sprechen und Bewegen Eine Bewegungssequenz wird verbal angekündigt, z.B. indem ein Akteur dem Publikum mitteilt: Ich widme diesen Tanz Lola Montez; ich zeige jetzt Teil 1; ich habe gelernt, mich auf den Boden zu werfen, ohne mir weh zu tun | Über Sprache wird etwas behauptet, das über Bewegung plausibel

Komposition gemacht wird, z.B. über Selbstbeschreibungen: Ich bin Bruder; ich bin Leistungssportlerin, Student, Einzelkind, Schulsprecher; ich bin in Spanien geboren; 22 Jahre alt; ich bin die Beste im Schwimmen › Die Selbstbeschreibung mit einer formalen Bewegung verknüpfen › Selbstbeschreibung und Bewegung neu zuordnen, z.B. die Bewegung zu der Aussage »Ich bin Studentin« mit der Bewegung der Aussage »Ich bin 22 Jahre alt« koppeln › Die Ausführung von Sprechen und Bewegen variieren und steigern und umkehren. Wie verändert sich die Wirkung der Sätze, der Bewegungssequenzen? Geschichten erzählen Eine Geschichte erfinden, in der z.B. ein Hund, ein Mädchen und ein Steinbruch vorkommen › Zu Hund, Mädchen und Steinbruch Bewegungsmaterial generieren › Das Material zu einer Montage verbinden, die nicht den Handlungsverlauf der Geschichte wiedergibt › Versatzstücke des Textes kontrapunktisch zur Bewegung an die Rückwand schreiben und ins Publikum sprechen. Wo entstehen Momente der Verdichtung? Sollen diese verstärkt oder aufgelöst werden? Alphasystem13 Das grafische Zeichensystem des Alphabets in ein Bewegungsalphabet übertragen: Einen Text über Choreografie auswählen › Anhand der Struktur und des Inhaltes des Textes Entscheidungen über die Entstehung des Bewegungsmaterials treffen: Aus dem Text einen Satz auswählen › Die ersten sechs Buchstaben des Alphabets auswählen › Für jeden der Buchstaben eine Bewegungssequenz festgelegen › Die Wörter des Satzes Buchstabe für Buchstabe als Bewegungssequenzen ausführen. Buchstaben, denen keine Bewegungssequenz zugeordnet wurde, überspringen › Wenn eine Bewegungssequenz eine Drehung enthält, verändert sich entsprechend die Bewegungsrichtung. Bild und Film Welches Zusammenspiel entsteht bei der Verknüpfung von live stattfindender und technisch reproduzierter Bewegung? – Auf welche Art von Bildern oder Filmen will man Bezug nehmen, z.B. historisch oder persönlich bedeutsame Fotos, Werke der Bildenden Kunst, Gedankenbilder, Dokumentar- oder Spielfilme? Wie kann deren Realität im Rahmen einer Choreografie befragt werden? –

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200 Komposition Auf welche Art und Weise kann Bild- und Filmmaterial zusätzliche Perspektiven einer Erzählung öffnen? Wie lassen sich mit Hilfe von Montage oder Zeitversetzung Brüche herstellen? Duplizieren14 Mit einer Videokamera eine Tänzerin in einer Echtzeit-Komposition aufnehmen und zeitgleich oder zeitversetzt projizieren › Vorgang umkehren: Mehrere Tänzerinnen kopieren Bewegungssequenzen vom Videobild und variieren sie auf der Bühne. Welches Bewegungsmaterial entsteht? Welche Gesamtwirkung? Episodengeschichte a überträgt Bilder aus einem Comic oder Manga in Bewegung und entwickelt daraus durch AbstraForm geben hieren ein Soloπ › Die ausgewählten Bilder vergrößern und –› Tools –› auf der Bühne stapeln › b präsentiert die Bilder vom Stapel dem Variieren Publikum und heftet sie an verschiedene Stellwände › Bilderaktion und Solochoreografie zu wechselnden Verknüpfungen ineinander flechten, z.B. nimmt a durch Ortswechsel Bezug auf bestimmte Bilder oder a und b treten in Dialog. Autobiografie Eine Akteurin erzählt dem Publikum Schlüsselmomente ihres Lebens und überträgt diese in getanzte Bewegungen und mit Hilfe von drei auf der Bühne verteilten Laptops in mediale Präsentationen › Laptop 1 projiziert Bilder, Laptop 2 Texte, Laptop 3 Tonmaterial › Bild,- Text- und Tonmaterial werden mit festgelegten Bewegungssequenzen und dem Bewegen zwischen den Laptops zu einer Collage in Echtzeit zusammengeführt. Wie lässt sich die Bedienung der Apparate künstlerisch integrieren? Wie entstehen Verdichtungen? Musik

Musikauswahl Was macht ein Musikstück interessant für eine künstlerische Auseinandersetzung, z.B. ein konzeptioneller Ansatz, wie die Übertragung einer musikkompositorischen Methode in eine choreografische? Was motiviert die Musikauswahl, z.B. das Thema, der Komponist, die Vorliebe für einen Musikstil? Stellt die Musik Fragen, z.B. Geräusche, bei denen nicht rückführbar ist, welches Instrument sie erzeugt hat? Gibt es eine Zusammenarbeit mit einem Komponisten?

Komposition Bedarf eine Choreografie mehrerer Musiken? In welcher Hinsicht beziehen diese sich aufeinander: kompositorisch, thematisch oder musiktheoretisch? Musikrecherche Aus welchem historischen, sozialen, politischen, ethnischen und kulturellen Kontext stammt die Musik? Auf welche Art und Weise beeinflusst der lebensweltliche Kontext und die damit verbundene Sozialwelt das Hörverhalten, die Musikrezeption? Wie lässt sich die Komposition in einem veränderten historischen, gesellschaftlichen sowie kunsthistorischen Kontext lesen? Musikanalyse Gibt es musikalische Einheiten und Wiederholungen, z.B. eine Strophen- oder Refrainstruktur? Wie sind Aufbau und Spannungsführung gestaltet? Welchen Klangraum, welche Klangdynamik erzeugt die Musik? Ist sie staccato oder legato (Artikulation)? Welche Klangfarbe kommt zum Ausdruck? Wirkt der Klang z.B. schwer durch seine tiefe Lage, ein langsames Tempo und hohe Klangdichte? Welche Instrumente werden verwendet (Streich-, Tasten-, Blas-, Schlaginstrumente etc.)? Was charakterisiert ihr Zusammenspiel? Welchem Konzept folgt die Musik? Opernmusik z.B. folgt einem narrativen Konzept, Ballettmusik einem Bewegungskonzept, autonome Musik einem formalen Konzept. Wie werden Themen vermittelt, über Sprache, über die Kompositionsstruktur, über Bildassoziationen, die durch die Musik ausgelöst werden? Musik in Choreografie übersetzen Wie können Liedtexte in einer Choreografie verarbeitet werden, z.B. thematisch, als Collage, als Gesang oder performativ, indem die Texte in Bewegung übersetzt werden? Wie transportiert Musik Emotionen, Dramatik oder Tragik, z.B. in einem Popsong oder in Barockmusik? Wie kann sich die Choreografie dazu verhalten? Wie können Klänge choreografisch genutzt werden? Welche Kompositionsverfahren können genutzt werden, um Klang zusammenzustellen, z.B. Montage? Beziehungen zwischen Musik und Choreografie herstellen Soll die Musik z.B. die Bewegung kontrastieren, verdichten oder Brüche erzeugen? Welche Gewichtung zwischen einer annähernden, kontrapunktischen und kontrastierenden Beziehungsform ist möglich und wie kann sie realisiert werden? Wie kann das Musik- und Bewegungsmaterial mithilfe von Kompositions-Tools und -Verfahren zusammengeführt werden? Wie kann choreografisches und musikalisches Material unabhängig voneinander entwickelt und in der Auf-

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202 Komposition führung zusammengeführt werden? Wie verändert sich die Wirkung, z.B. wenn Klangregister kontrastierten, Bewegungsakzente gesetzt werden, die nicht aus der Musik motiviert sind, Bewegungsund musikalische Rhythmen unterschiedlich zueinander ins Verhältnis gesetzt werden? Welche Möglichkeiten der Bezugnahme ergeben sich beim Aneinanderreihen, Überlagern oder Überlappen von Musik und Bewegung? Musiker/in und Tänzer/in Soll eine Auseinandersetzung mit Improvisation, z.B. in Form von Echtzeit-Komposition und Livemusik stattfinden? Wie kann ein Dialog als Echtzeit-Komposition komponiert werden, z.B. indem ein Musiker mit Livemusik kontrastierend oder annähernd auf eine Tänzerin reagiert oder indem ein Tänzer Kontraste herstellt, Stills einbaut, sich auf seine Improvisationen konzentriert, unabhängig davon, ob die Musikerin annäMitwirkende hernd oder kontrapunktisch zum Bewegungsmaterial spielt?π Musik in der Aufführung Wie soll Musik in das Stück eingearbeitet werden, z.B. als Livemusik oder vom Band eingespielt? Wie soll das Verhältnis von Musik und Bewegung in der Aufführung gestaltet werden, z.B. in einer Echtzeit-Komposition? Sollen die Musiker/innen, wenn sie live spielen, auf der Bühne sein, im Orchestergraben oder im Zuschauerraum? Oder soll die Musik als Übertragung eines Konzertes projiziert werden? Musik und Bewegung scratchen und mixen Ein Musikstück auf dem Plattenteller scratchen › Bewegungssequenz zu dem Musikstück festlegen und diese ebenfalls scratchen › Musik und Bewegungssequenz zusammenführen, Musik in Originalgeschwindigkeit mit gescratchter Bewegung koppeln und umgekehrt. Verbinden sich die Medien in der Wahrnehmung durch die angewandte Technik? Digitale Bearbeitung von Soundscapes15 Die Geräuschkulisse in verschiedenen öffentlichen Räumen aufnehmen: Aufnahmegerät in einem Supermarkt an der Kasse, an einer BlindenVerkehrs-Ampel und auf dem Gleis eines Bahnhofs aufstellen › Aus dem Material der drei Orte Zwei-Sekunden-Ausschnitte als Momentaufnahmen erstellen › Durch Aneinanderreihen der Ausschnitte einen Rhythmus erzeugen, z.B. nach dem Ticken der Blindenampel das Piepen der Supermarktkasse beim Ein-

Komposition scannen, gefolgt vom Aufbrausen eines Motors › Mit einer OpenSource-Software die Audiodateien mischen und elektronisch bearbeiten, z.B. die Abfolge loopen, im Tempo variieren, übereinander lagern › Soundscape und Choreografie parallel laufen lassen. Welche Impulse gibt die Klangkulisse für die Lesart der Choreografie? Spielform mit Musik-Score Ein Musikstück auswählen und während der Wiedergabe auf mehrere große Blätter abstrakte Zeichen, z.B. Bleistiftzeichnungen mit fein verästelten Linien, zeichnen, die als Reaktion auf die Musik entstehen › Diese Zeichnungen als grafische Partitur für die Bewegungsentwicklung einsetzen › Regeln für die Umsetzung der Zeichnung in Bewegung festlegen › Die Blätter an eine Wand hängen › Jede Tänzerin wählt eine Zeichnung aus › Diesen Ausschnitt wie eine Partitur lesen und im Raum die in der Zeichnung enthaltenen Informationen mithilfe des Regelwerks in Bewegung umsetzen › Danach eine andere Zeichnung zum Anlass für die Bewegungsimprovisation nehmen › Währenddessen wird die Musik eingespielt, die zu den Zeichnungen geführt hat.

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204 Komposition

AUFFÜHRUNG Aufführung bezeichnet in der szenischen Kunst die Darbietung eines Bühnenstücks vor einem Publikum. Sie ist ein momentanes, dynamisches künstlerisches Geschehen, das sich in unmittelbarer Präsenz auf der Bühne, medial übertragen oder als Aufzeichnung, z.B. durch Film vollzieht. Die Darbietung kann an verschiedenen Orten stattfinden, sie kann festgelegt und wiederholbar sein oder aber als offenes, performatives Format konzipiert sein, wie bei Echtzeit-Kompositionen oder bei Aufführungen mit Publikumsbeteiligung. Aufführungen stellen immer auch die Frage nach dem Verhältnis von Theatralität und Realität, Inszenierung und Authentizität. Den theatralen Rahmen der Aufführung bilden: Aufführungsort | Bühnensetting | Publikum | Aufführungsformate.

Ort Choreografie setzt eine Auseinandersetzung mit dem Aufführungsort voraus. Der Ort bestimmt die Möglichkeiten der Choreografie. Choreografien können in etablierten Bühnen- oder Theaterräumen aufgeführt werden aber auch an Orten, die für eine andere Nutzung vorgesehen sind, wie der öffentliche Raum, z.B. Bahnhöfe, Parkanlagen, Parkplätze, oder teilöffentliche Räume, z.B. Sozialämter, Schulhöfe, Fußballstadien. Eine Choreografie dort aufzuführen, bedeutet, sich mit diesen Räumen als Aufführungsort zu beschäftigen.

Rahmen –› Probenraum

Welche Kriterien führen zur Wahl eines Aufführungsortes? Spielen Überlegungen zur Neustrukturierung von Publikums- und Aktionsraum dabei eine Rolle? Welche Motive und Intentionen führen zu einer Auseinandersetzung mit ungewöhnlichen Aufführungsorten? Welche Orte inspirieren zu einer Choreografie? – In welchem Verhältnis steht der Ort zum choreografischen Arbeitsansatz: Wird aufgrund eines choreografischen Themas ein passender Aufführungsort gewählt oder bestimmt die Vorgabe eines Aufführungsortes das choreografische Thema?π – Wie erfolgt die Raumaneignung im choreografischen Prozess und in der Aufführung? – Wie kann das Verhältnis von Schauen und Zeigen in Auseinandersetzung mit dem Raum neu

Aufführung gefunden und definiert werden? Wie kann die Wahrnehmung eines vorgefundenen Ortes durch die Choreografie neu geprägt werden? Soll für die Aufführung in die Raumsituation eingegriffen werden? Ortserkundungen In welchem Raum soll die Choreografie aufgeführt werden, z.B. Sporthalle, Straße, Klassenraum, Aula, Schulhof, Museum, Einkaufspassage, Theater? Wie kann während des Probenprozesses eine Auseinandersetzung mit dem Raum erfolgen? Charakteristika des Raums erfassen: Gibt es Elemente, die nur in diesem Raum vorhanden sind? Welche Themen ruft er auf? Wie kann dies choreografisch genutzt werden, z.B. für die Generierung von Bewegungsmaterial? Gibt es Aktionen, die nur hier realisierbar sind? › Die Struktur des Raumes erfassen: Größenverhältnisse, Beschaffenheit, Materialien etc. › Aus den Informationen Bewegungsideen ableiten, z.B. Linien, Richtungen, Spannungsverhältnisse für die Choreografie übernehmen. Welche Erwartungen sind an die Örtlichkeit gebunden, können diese weiter entwickelt oder sollen sie eher unterlaufen werden? Aufführungsort definieren Ein öffentlicher Raum wird durch eine choreografische Aktion in einen Bühnenraum umgewandelt, z.B. indem auf dem Vorplatz einer Einkaufspassage Akteure Handzettel verteilen mit verschiedenen Definitionen von Tanz und der Frage, wann und wo das letzte Mal eine Tanzaufführung gesehen wurde › Die Tänzer/innen verteilen die Zettel nach einer festgelegten Choreografie › Nach und nach bleiben immer mehr Passanten stehen, lesen den Zettel und beobachten das Geschehen › Wie kann die Beteiligung des Publikums dazu beitragen, die Aktion als Kunstaktion zu inszenieren? Welche räumlichen Strukturen fokussieren die Aktion? Wie kann über die Choreografie eine Spielfläche etabliert werden, deren Ränder durch die Passanten markiert werden? Wohnungen Eine Aufführung findet in einer Wohnung statt: Diese füllt sich nach und nach mit Menschen, ohne dass zunächst Zuschauende und Akteure unterschieden werden können. Welche Interaktionen führen zur Rollenklärung, z.B. für das Publikum nachvollziehbare Wiederholungen, Übereinstimmungen, Verabredungen und Spielregeln? Wie können die Anwesenden

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206 Komposition durch ihr Raum- und Bewegungsverhalten den privaten Raum in einen Aufführungsraum transformieren und diese Veränderung thematisieren? Wird die Rolle und Funktion von Zuschauer und Akteur als Thema der Choreografie inszeniert und hinterfragt? Museum Die Auseinandersetzung mit der Gestik von Skulpturen wird zu einer Choreografie gestaltet. Diese wird vor Ort im Museum aufgeführt: Die Zuschauenden werden nach und nach durch die verschiedenen Ausstellungsräume geleitet, dies kann z.B. durch die Tänzer/innen geschehen und durch Klanginstallationen unterstützt werden › In jedem Raum wird ein auf die Ausstellungsobjekte und die räumlichen Gegebenheiten bezogener Teil der Choreografie dargeboten. Das Gruppenverhalten des Publikums gestaltet die Spielfläche, z.B. indem dieses einen Kreis um die Tanzenden bildet › Übergänge zwischen den Räumen und Szenen choreografisch gestalten. Welche Auswirkungen hat die performative Nutzung auf das Verhalten des Publikums in einem Museum? Architekturspezifisches Projekt16 Welche architektonischen Besonderheiten fordern zu einer choreografischen Auseinandersetzung heraus? Welche Themen bietet die Architektur der Bewegung an, z.B. eine Baustelle eines öffentlichen Gebäudes? Wie kann das Thema der Choreografie dazu in Beziehung gesetzt werden, z.B. der Wunsch nach einem Zuhause, sich niederzulassen, einzurichten? Wie kann diese Idee auf den Körper als Heimat bezogen werden, z.B. in Bezug auf die Physiologie und die funktionalen Bewegungsmöglichkeiten einzelner Körperteile? Wie können Baumaterialien zum Ausgangspunkt der Bewegungsgenerierung werden, z.B. Stein, Beton, Holz, Metall, Glas?

Setting Die Bühne ist der Ort, an dem die Aufführung sich ereignet. Die jeweiligen architektonischen Vorgaben fordern zur Erkundung und eventuell zur Umgestaltung heraus, z.B., wenn in einem Theater Zuschauer auf der Bühne sitzen, die Aufführung auch im Zuschauerraum stattfindet oder das Setting als ein Labor angelegt ist. Zeitgenössische Aufführungskonzepte thematisieren

Aufführung häufig die Rolle des Publikums, z.B. indem sie die Zuschauer durch spezifische Aufführungsformate am choreografischen Prozess teilhaben lassen. Zuschauerbeteiligung, Bühnenerweiterung sowie Auf- und Abgänge in den Zuschauerraum oder gleichzeitige Handlungen an mehreren Spielorten sind Möglichkeiten, mit der Bühne umzugehen. Über die Gestaltung des Bühnen- und Zuschauerraumes lassen sich herkömmliche Sehgewohnheiten und Rezeptionsroutinen hinterfragen. Welche Bühnenraumgestaltung braucht die Aufführung? Ist das Stück z.B. auf eine Front konzipiert, arbeitet die Choreografie mit Publikumsbeteiligung, sodass eine besondere Anordnung des Publikums um die Akteure herum sinnvoll ist? – Wie ist der Bühnenraum gestaltet, z.B. mit fest installierten Kulissen? Wie wird der Raum begrenzt, z.B. durch Stellwände oder die Außenmauern des Gebäudes? Werden sie als Bühnenausstattung, Kulisse genutzt oder umgestaltet, z.B. durch Vorhänge? Wird der gesamte Bühnenraum genutzt oder nur ein Teil? Wird die Spielfläche besonders ausgewiesen, z.B. durch ein Podest, eine Bodenmarkierung oder nur durch die choreografische Aktion? – Lassen die architektonischen und technischen Gegebenheiten des Raumes variable Nutzungen zu? Kann z.B. die Ausrichtung der Bühne in verschiedene Richtungen gewählt werden? – Befinden sich Akteure und Publikum auf gleicher Raumhöhe oder sitzt z.B. das Publikum auf den Rängen? Befinden die Zuschauer sich frontal von der Bühne abgetrennt in einem eigenen Raum oder kreisförmig, im Halbkreis, in zwei gegenübersitzenden Gruppen angeordnet auf der Bühne? – Welche Auswirkung haben unterschiedliche Bühnenräume auf den Umgang mit Raumordnungen? Wie wird das Bewegungsverhalten der Tanzenden bei der Aufführung z.B. bei einer offenen Bühne oder bei einer Guckkastenbühne geprägt? Welche Erwartungshaltungen werden beim Publikum abgerufen? Wie können diese außer Kraft gesetzt werden, z.B. indem die Tanzenden für das Publikum nicht sichtbar, nur hörbar sind? – Wird die Bühnensituation vor Probenbeginn geklärt oder entscheidet sie sich im Probenverlauf ? Welche Auswirkungen hat dies auf den choreografischen Ansatz, die Dramaturgie und die Lesbarkeit der Choreografie? – Welche Wechselwirkungen entstehen zwischen Bühne, choreografischem Material und Aufführungsformat?

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208 Komposition Arena-Bühne erforschen Was sind die Eigenheiten dieses Bühnensettings? Welche Auswirkungen ergeben sich auf die Sichtmöglichkeiten des Publikums und damit auf dessen Sehverhalten? Wie reagiert die räumliche Komposition des choreografischen Materials darauf? Welche Ansätze für eine inhaltliche Auseinandersetzung lassen sich daraus ableiten, z.B. eine theorieorientierte geschichtliche Verarbeitung der Bedeutung der Arena-Bühne im antiken griechischen Theater und ihre Übertragung auf Raumordnungen zeitgenössischer Choreografie? Wie kann die kreisförmige Einfassung des Publikums choreografisch genutzt werden, als Eingrenzung oder Verdichtung? Mobile Zuschauer Wie können die Zuschauer während der Aufführung in Bewegung gebracht werden, z.B. indem in einer leerstehenden Fabrikhalle mehrere choreografische Aktionen gleichzeitig stattfinden? Wie können Bühnen- und Zuschauerraum fließend ineinander übergehen, z.B. indem keine Stuhlreihen aufgestellt sind, sondern mitnehmbare Klappstühle zur Verfügung gestellt werden und jeder Zuschauer entscheidet, welcher Aktion er wann und wo zuschaut? Wie kann ein Parcours choreografisch gestaltet werden, z.B. indem Verdichtungen und Steigerungen in verschiedenen gleichzeitig stattfindenden Choreografien zeitversetzt komponiert werden und die Zuschauer auf diese Art von Raum zu Raum gelockt werden? Soziale Choreografie Wie lässt sich die Choreografie der Fußgänger und Fahrzeuge auf einer Straßenkreuzung beschreiben und als künstlerische Aktion umsetzen? Die Akteure können durch ihr Bewegungsverhalten in die choreografische Ordnung des Straßenverkehrs eingreifen und sie mitgestalten, durch Verdichten: z.B. kopiert bei der Grünphase jeder Performer einen Passanten in dessen Schritttempo und Gangart | Irritieren: z.B. indem im Fußgängerstrom Ausweichmanöver und Zusammenstöße provoziert werden | Verfremden: z.B. indem Akteure Passanten zum Walzer auf der Verkehrsinsel einladen. Wie kann eine solche Intervention in eine Alltagssituation als soziale Choreografie gestaltet werden? Was unterscheidet sie von einer Bühnenchoreografie, das Geschehen selbst, der Kontext oder der Blickwinkel auf das Geschehen?

Aufführung

Publikum Ein zentraler Bestandteil zeitgenössischer Aufführungsformate ist die Auseinandersetzung mit dem Publikum und seiner traditionell passiven Rolle während der Aufführung, z.B. indem Tanzende und Publikum die Aufführung interaktiv gestalten. Interaktion und Partizipation sind ästhetische Entscheidungen, die im Gesamtkontext des Stückes und des dramaturgischen Konzeptes stehen. Auf diese Weise können z.B. Machtverhältnisse wie die Hierarchie von Agierenden und Publikum thematisiert, Gemeinschaftsprozesse zwischen Publikum und Darstellern erzeugt und hinterfragt werden. Die Beteiligung des Publikums kann sehr unterschiedliche Formen annehmen, z.B. als Mit-Autor, als Teilnehmer eines Spiels, als Interview- oder Gesprächspartner. Gelingen und Scheitern von Publikumsbeteiligungen hängen von den vorgegebenen Rahmen und Regeln ab, aber auch davon, welche theatralen Konventionen und Seherfahrungen vorherrschen und welche Stimmung in der Aufführungssituation entsteht. In welchem Bezug steht die Publikumsbeteiligung zum Gesamtkontext und zur thematischen Auseinandersetzung des Stückes? Soll die Bühne Schauplatz eines sozialen Experiments sein, z.B. indem Aufführungen des Alltags thematisiert werden? Wird die Choreografie vollständig über Publikumsbeteiligung organisiert oder in Teilen? Wie ist diese in das Stück eingebettet? Soll bereits der choreografische Prozess durch Interaktion geprägt sein, z.B. über interaktive Medien wie eine Open-Source-Website oder einen Chat-Room? – In welcher Funktion wird das Publikum in die Aufführung einbezogen, z.B. als Akteur, Entscheidungsinstanz, Interview- oder Gesprächspartner? Agieren die Tänzer/innen mit dem gesamten Publikum oder mit einem einzelnen Zuschauer? Wie werden die Zuschauer zur Partizipation eingeladen? Wovon hängt die Bereitschaft zur Partizipation ab? Inwieweit beeinflussen der kulturelle Kontext und die Sehgewohnheiten die Interaktion? – Wie unterstützt die Anordnung von Bühnen- und Zuschauerraum die Partizipation? Befindet sich das Publikum mit den Agierenden im selben Raum oder sind Bühnen- und Publikumsbereich getrennt? – Soll die Publikumsbeteiligung in einer Echtzeit-Komposition erfolgen, bei der die Aktionen des Publikums die Choreografie zentral mitbestimmen? Werden für dieses offene Aufführungsformat im

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210 Komposition Vorhinein Regeln festgelegt oder nicht? – Welche Auswirkungen hat das Risiko der Unvorhersehbarkeit für die Akteure im Moment der Aufführung? Was bedeutet das für die Dramaturgie des Stücks? Welche Regeln sind für die Interaktion hilfreich? Wie können im Vorfeld mögliche Reaktionen des Publikums mit eingeplant und geprobt werden? Sollen Teile der Choreografie mit Publikumsbeteiligung in Showings ausprobiert werden? Spielshow17 Wie kann die Aufführung als Show gestaltet werden? Zum Beispiel: Die Akteure werden zu Spielkandidaten erklärt, die Zuschauer zur Entscheidungsinstanz. Ein Showmaster gibt die zeitliche Struktur der Spielsequenzen vor › Ziel des Spiels ist, dass jeder Akteur eine eigene Bewegungssequenz entwickelt › Verschiedene Objekte werden bereitgestellt, z.B. Tutu, FlamencoFächer, Tangoschuhe, Sneakers › In verschiedenen WettkampfChoreogra- varianten können die Kandidaten diese Objekte gewinnenπ › fieren als Spiel Das Publikum stimmt durch Handheben ab, welcher Akteur –› Spielarten überzeugender und einfallsreicher war und das Objekt bekommt › Nach Verteilung aller Objekte kreiert jeder Akteur eine Bewegungssequenz, die sich mit dem Objekt auseinandersetzt › Die Choreografien werden präsentiert und vom Publikum bewertet | Spielleiterin und Publikum können auch mit Zufallsverfahren auf die Verteilung der Objekte Einfluss nehmen, z.B. durch Ziehen eines Loses. Interaktions-Karten18 Wie kann das Publikum über aleatorische Verfahren zum Akteur werden? Zum Beispiel: Beim Einlass Interaktions-Karten verteilen. Darauf steht eine Bewegungsaufgabe, die die betreffende Person umsetzen soll und die eine Bezugnahme zu anderen Personen enthält. Die Aufgaben sind einfach und alltagsbezogen, mit oder ohne Körperkontakt und können von jeder Person ausgeführt werden. Das Karten-Set umfasst mehrere Bewegungsaufgaben, die je nach Gruppengröße vervielfältigt werden › Alle Zuschauer auf das Spielfeld bitten › Dort improvisieren die Zuschauer untereinander mit ihren Bewegungsaufgaben. Welche Dynamik entwickelt sich? Wie kann man sie steuern und in Gang halten, z.B. indem sich Tänzerinnen unter die Menge mischen? Kartenbeispiele: Durchkreuzen Sie

Aufführung das Spielfeld diagonal, in geraden Linien und zielsicher. Wechseln Sie plötzlich Ihre Richtung. Vermeiden Sie Zusammenstöße | Gehen Sie durch den Raum und versuchen Sie, möglichst vielen Menschen in die Augen zu sehen. Berühren Sie niemanden | Steigen Sie auf einen Stuhl, setzen Sie sich darauf, gehen Sie weiter | Suchen Sie sich einen Platz aus und bewegen Sie Ihre Hände, Arme und Schultern auf möglichst unterschiedliche Art und Weise. Suchen Sie nach einer Weile einen neuen Platz | Laufen Sie neben einer Person Ihrer Wahl her ohne sie zu berühren. Sie können die Person wechseln, wann immer Sie möchten | Stellen Sie sich vor, Sie seien auf der Flucht. Gehen Sie schnell und leise. Vermeiden Sie Zusammenstöße. Bleiben Sie zwischendurch stehen, um sich umzuschauen, ob Ihnen jemand folgt | Verfolgen Sie unauffällig eine Person Ihrer Wahl. Versuchen Sie, deren Gangart zu übernehmen. Vermeiden Sie Zusammenstöße | Legen Sie Ihre Handinnenfläche an die Handinnenfläche einer anderen Person. Behalten Sie für eine Minute diesen Körperkontakt bei und tanzen Sie ein Duo mit der anderen Person. Laden Sie die Person höflich dazu ein. Schwarm als interaktive Spielform Wie können choreografische Formationen mit Publikumsbeteiligung erzeugt werden? Zum Beispiel: Vor Spielbeginn werden an ungefähr ein Achtel der Zuschauer Karten verteilt. Darauf stehen eine Zahl und eine Bewegungsaufgabe › Ein Akteur erklärt die Spielregeln des Schwarmprinzips und der Karten › Spielbeginn: das Publikum wird aktiv und kreiert eine Schwarmbewegung › Der Moderator bestimmt durch Nennung von Zahlen parallele Aktionen zur Schwarmbewegung: Kartenbesitzer der genannten Zahl verlassen den Schwarm und wechseln in die Bewegungsaufgabe der Karte. Die Zuschauer ohne Karten bleiben in der Schwarmbewegung. Bei nochmaliger Nennung ihrer Zahl gliedern sich die Kartenbesitzer wieder in das Schwarmprinzip ein. Kartenbeispiele: 1 – sich in Zeitlupe bewegen, 2 – stehen bleiben, 3 – sich hinsetzen, 4 – sich nur noch an der Peripherie des Raumes entlang bewegen. Tanzende Zuschauer19 Wie kann ein Tanzabend als Aufführung gestaltet werden? Zum Beispiel: Eine GesellschaftstanzVeranstaltung als Choreografie inszenieren: das Bühnensetting

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212 Komposition entsprechend als Clubraum, Ballsaal, Milonga oder Salsateca konzipieren, in dem sich die Performenden befinden und das Publikum an Tischen im Raum verteilt sitzt › Eine Choreografie wird getanzt › Zwischendurch fordern die Tänzer/innen einzelne Zuschauer zum Tanz auf und tanzen mit ihnen. Der Bühnenraum wird doppelt besetzt als Aufführungs- und Tanzraum. Die Zuschauenden sind zugleich in der Rolle des Theaterzuschauers und des Tänzers.

Aufführungsformate

Formen

In der zeitgenössischen Choreografie wird mit unterschiedlichen Aufführungsformaten gearbeitet, die jeweils eigene Anforderungen an Komposition und Dramaturgie stellen. Im Unterschied zu festgelegten Choreografien mit einem traditionellen Werkverständnis stellen performative Formate den Arbeitsprozess in der Aufführung dar. Choreografie kann dabei verstanden werden als kritische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Prozess und Werk, mit der Frage der Reproduktion und der Rolle des Publikums. Dies kann sich verbinden mit einem veränderten Selbstverständnis des Choreografen, der sich nicht nur als Autor, sondern auch als Initiator oder Forscher sieht, der in Zusammenarbeitπ mit anderen die eigene Arbeit hinterfragt und diesen Prozess mit dem Publikum teilt. Aufführungsformate sind wiederholbare Werke oder performative Formate wie Installation | Aktion | Lecture-Performance | Show | Dialog | Labor, Versuchsanordnung | Projektreihe. Das wiederholbare Werk Bei diesem Aufführungsformat ist die Bühnenform der Choreografie von Anfang bis Ende festgelegt. Thema, Dramaturgie und Ästhetik von wiederholbaren Werken können sehr unterschiedlich, z.B. bewegungsorientiert und formal oder narrativ angelegt sein. Es kann sich um klassisches oder modernes Ballett, eine abstrakte Choreografie, ein Tanztheaterstück oder Ausdruckstanz handeln. Diese können in einer hierarchischen oder einer kollektiven Zusammenarbeit entstehen und an unterschiedlichen Orten stattfinden, z.B. auf einer Bühne, in einem Kulturbetrieb

Aufführung oder im öffentlichen Raum. Es können Medien wie Musik, Film, Text und auch unterschiedliche Tanzstile und -techniken zum Einsatz kommen. Soll die Choreografie als wiederholbares Werk gestaltet werden? – Wie kann die Wiederholbarkeit gewährleistet werden? – Soll die Choreografie auf einer klassischen Theaterbühne gezeigt werden? – Soll das Publikum im Zuschauerraum sitzen? – Wie muss die Choreografie gestaltet sein, dass sie auch auf anderen Bühnen spielbar ist? Installation Eine performative Installation ist ein raumgreifendes, orts- oder situationsgebundenes Ereignis, das unter Verwendung von Zeit, Licht, Klang, Text und Bewegung und mitunter über eine Interaktion mit dem Publikum in Erscheinung tritt: z.B. indem eine Choreografie im Umgang mit einer Installation gestaltet wird | die Installation performativ in Anwesenheit des Publikums hergestellt wird | das Publikum an der Herstellung beteiligt wird | die Installation über Medien während der Aufführung präsentiert wird. Für welche Themen kann eine Installation sinnvoll sein? – Welche Medien eignen sich für eine Installation? – In welche Beziehung können die Materialien der Installation, wie Objekte, Texte, etc., zu den Aktionen der Tänzer/innen und den Bewegungen des Publikums gebracht werden? Wie werden Medien wie Licht, Klang, Text, Bewegung aufeinander bezogen? – Welche Möglichkeiten der Interaktion zwischen Performenden und Zuschauern gibt es, z.B. indem Zuschauende und Performer eine Installation herstellen, die später als Partitur in Bewegung umgesetzt wird? Welche choreografische Ordnung entsteht durch das Ineinanderwirken der Beteiligten mit den Materialien und Medien der Installation? Welchen Stellenwert hat das Unvorhersehbare? Wie wird über die Interaktion ein Thema generiert?20 – Welche räumliche Situation muss geschaffen werden, damit eine performative Installation funktioniert? – Welche Wechselwirkung entsteht zwischen Choreografie und Installation, wenn z.B. die Fotos einer Installation während der Aufführung erstellt und projiziert werden? Was bedeutet es für das Verhältnis

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214 Komposition zwischen Akteuren und Publikum, wenn z.B. die Installation bereits im Vorfeld fertiggestellt wird? Aktion meint eine künstlerische Strategie, die regelgeleitet oder regelfrei in bestehende Zusammenhänge eingreift, sie unterläuft oder hinterfragt. Sie steht zumeist mit Strategien der Intervention in Verbindung. Welche Themen eignen sich für eine performative Aktion? Welche Fragestellungen sollen geklärt werden? Soll die Performance eine gezielte Wirkung haben, z.B. Passanten mit einem bestimmten Thema konfrontieren? – Wie kann eine Dramaturgie der Intervention aussehen? – Welche Anforderungen sind bei performativen Aktionen an die Akteure gestellt, z.B. agieren in Echtzeit-Komposition, auf Unvorhergesehenes reagieren, mit widrigen Umständen klarkommen wie schlechtem Wetter, Protest der Passanten, Einsatz der Polizei? Lecture-Performance Der Begriff der Lecture-Performance ist entstanden an der Schnittstelle von Vortrag und Aufführung. Er vermischt auf kreative Weise Performance und Vermittlung. In dieser besonderen Inszenierung des Erzählens über künstlerische Arbeit können die Schritte des künstlerischen Prozesses integriert und dargestellt bzw. zum Vortrag selbst gemacht werden. Die Lecture-Performance setzt sich aus Aktion, Bild und Sprache zusammen, ist auf räumlicher Ebene zwischen Bühnen- und Bildraum und auf zeitlicher Ebene zwischen Aufführungszeit, Lese- bzw. Erzählzeit und erzählter Zeit angesiedelt. Wie kann ein Inhalt, z.B. ein gesellschaftliches Thema oder Forschungsergebnis, als Performance inszeniert werden? – Sollen Grundzüge des Prozesses der künstlerischen Auseinandersetzung präsentiert werden? – Soll ein Zwischenstand des choreografischen Prozesses vorgestellt und das Publikum z.B. mit noch offenen Fragen konfrontiert werden? Wie soll das geschehen, z.B. indem

Aufführung verschiedene Beteiligte ihre persönliche Kritik etc. am aktuellen Stand äußern? Oder indem z.B. ein Performer Stichpunkte, Aufgaben und Themen für die nächste Probe während der Aufführung entwickelt und das Publikum teilnehmen lässt am Prozess des Erfindens, Überlegens, Verwerfens, Korrigierens, Strukturierens?21 – Welche Vortragsmedien bieten sich für die Präsentation an, z.B. Diaprojektionen, Flipcharts, eine Power-Point-Präsentation, welche Vortagsarten, z.B. ein abgelesener Vortrag, ein Videoclip? Sollen sie kombiniert werden? Show Eine Show ist ein Ereignis mit Unterhaltungs- und mitunter mit Informationscharakter. Sie findet in der Regel vor Publikum statt und wird, wenn die Unterhaltung überwiegt, von einem Showmaster, wenn der Informationsanteil wichtiger ist, von einem Moderator geleitet. Formen der Show sind z.B. die Spielshow, die Musikshow, die Talkshow. Eine Show kann mit festgelegten Rollen organisiert sein, z.B. Moderator, Kandidatin, Personen, die einen Gastauftritt haben. In einer als Show angelegten Aufführung dient die dramaturgische Struktur einer Show als Gerüst der Choreografie. In der Übertragung der Show auf ein künstlerisches Aufführungsformat sollte der Aspekt des Entertainments kritisch reflektiert und ästhetisch verarbeitet werden. Welches Showformat ist das passende für das Projekt, z.B. Quiz, Casting, Wettkampf, Gewinnspiel, Glücksspiel, Talkrunde? – Welche Folgen ergeben sich für Komposition und Dramaturgie? In einer Spielshow z.B. müssen Kandidaten Aufgaben nach festliegenden Regeln in einer finalen Struktur erfüllen. Wettbewerb und spielerische Haltung bestimmen die Aktionsweise, Spielregeln bestimmen die Handlungsabläufe. Eine Spielshow hat einen offenen Ausgang. Wer tritt gegen wen an? Gibt es zwei oder mehrere Teams? Wie werden sie zusammengestellt? Muss jeweils ein Kandidat eine Aufgabe lösen? – Sollen Medien eingesetzt werden? Welche passen zu dem gewählten Showformat, z.B. dokumentarische Videos, Ausschnitte aus Hollywoodfilmen, Popmusik, Werbespots, eingespielte Kommentare? – Wird mit Publikumsbeteiligung gearbeitet? Wird

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216 Komposition das Publikum z.B. als Schiedsrichter, als Glücksfee, für den Publikumsjoker, als Gegenkandidat, als Mitdiskutant eingesetzt? – Soll ein Gewinner ermittelt werden? Wie soll das geschehen, z.B. durch ein Punktesystem, Publikumsabstimmung oder durch eine inszenierte Jury? Dialog Eine Aufführung kann dialogisch als Interview konzipiert sein im Sinn einer inszenierten Form der Befragung. Der Interviewer will Informationen zu persönlichen Themen oder Sachverhalten ermitteln. Unterschiedliche Interview-Konstellationen öffnen Themenräume und Blickwinkel, z.B. wenn die Agierenden sich gegenseitig interviewen, wenn sie das Publikum befragen, wenn sie vom Publikum oder einem Moderator befragt werden. Choreografische Interviews können mit Hilfe von Sprache oder auch ausschließlich über den Austausch von Bewegungsmaterial erfolgen. Mit welchen Medien soll der Dialog gestaltet werden? Soll verschiedenes Bewegungsmaterial, z.B. unterschiedliche kulturelle Bewegungsformen, in Dialog treten? Sollen verschiedene Ästhetiken oder Tanzstile in Szene gesetzt werden? – Soll das Publikum beteiligt werden? – Wird mit einem vorbereiteten Fragenkatalog gearbeitet oder ent- stehen die Fragen auf der Bühne? Konnten die Interviewpartner sich auf die Fragen vorbereiten? – Gibt es klare Regeln? Zum Beispiel: Fragen müssen ohne zu überlegen beantwortet werden, ein Beteiligter ist der Fragende, der andere der Befragte, die Rollen können durch eine kurze Formel, die verabredet wird, getauscht werden.22 – Soll ein Dialog ohne Fragestruktur inszeniert werden? So können zwei Tänzer, die unterschiedlichen ästhetischen und tanztechnischen Traditionen angehören, sich weitgehend ohne Worte austauschen, indem sie charakteristische Bewegungssequenzen vorführen, auf die der jeweils andere aus seinem Kontext heraus antwortet.23

Aufführung Labor, Versuchsanordnung Die Aufführung kann als Labor und Forschungsereignis fungieren. Das Experimentieren ist dabei Gegenstand der Choreografie und Aufführung. Wie kann die Aufführung selbst als künstlerischer Forschungsprozess in der Aufführung angelegt sein? – Welche Themen bieten sich für eine Bearbeitung in Form eines Experimentes an, z.B. die Auseinandersetzung mit Original und Fälschung: Wie schnell und wie präzise kann ein Tänzer fremdes Bewegungsmaterial kopieren? – Aus wie vielen Akteuren besteht das Experiment? Welche Rollen bzw. Funktionen nehmen sie ein? – Wird mit verschiedenen Stadien des Experimentierens gearbeitet, indem Arbeitsschritte dokumentiert werden und während der Aufführung gezeigt werden? Projektreihe Eine Projektreihe ist eine Zusammenführung von Aufführungen, die z.B. an verschiedenen Orten und/oder in unterschiedlichen Varianten stattfinden. So kann eine Choreografie darauf abzielen, an verschiedenen Spielorten, z.B. Theater, Schwimmbad etc. aufgeführt zu werden. Mehrere als zusammengehörig konzipierte Choreografien können z.B. unter Einsatz von Medien, wie Direktübertragungen, zeitversetzt oder an verschiedenen Orten zeitgleich aufgeführt und durch Projektion zusammengeführt werden. Soll eine Choreografie als Projektreihe angelegt sein und an unterschiedlichen Orten aufgeführt werden? Ist es interessant, eine Choreografie mit derselben Besetzung an sehr unterschiedlichen Orten aufzuführen, z.B. in einer Kirche, einer U-Bahn-Station, in der Fußgängerzone? Welche Veränderungen ergeben sich durch die unterschiedlichen Räumlichkeiten? – Soll das choreografische Projekt an verschiedenen Orten gleichzeitig starten und entwickelt werden? Sollen die unterschiedlichen Arbeiten gleichzeitig gezeigt werden, z.B. durch Übertragung in einem Theaterraum? – Ist die Choreografie ausschließlich als Aufzeichnung konzipiert, wenn sie z.B. in einem Krankenhaus durchgeführt und live in den Theaterraum übertragen wird? Sind dabei vorherige Aufführungen der Projekt-

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218 Komposition reihe präsent, z.B. in Form von Projektionen? Sollen die Aufzeichnungen und Übertragungen mit einer Aufführung vor Ort verbunden werden? – Besteht die Projektreihe in einer Abfolge choreografischer Prozesse, die unter einem Arbeitsthema stehen aber nicht auf Wiederholung und Gleichzeitigkeit zielen, z.B. wenn eine Gruppe von Choreografinnen zu verschiedenen Tanzgruppen reist, um mit ihnen an einer bestimmten Fragestellung zu arbeiten? Wie können die verschiedenen Choreografien, die durch ein Konzept verbunden sind, zusammen präsentiert werden, z.B. durch Einladung der Tanzgruppen zu einem gemeinsamen Tanzfestival, durch gegenseitige Besuche, durch mediale Aufzeichnung? Oder soll am Ende der Reihe eine eigenständige zusammenführende Choreografie komponiert werden?

Aufführung

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220 Interviews

Martin Nachbar

Interviews Stückentwicklung Ein Gespräch mit Martin Nachbar 1 Gabriele Klein Wie entstehen die Themen für Deine Choreografien? Martin Nachbar Meine Stücke beruhen alle auf Beobachtungen, des gesellschaftlichen Alltags oder meines persönlichen Umfeldes. Das Stück »Ausflug« (2003) zum Beispiel ist entstanden, nachdem ich eine Butterfahrt mitgemacht hatte. Ich hatte damals die Verkaufsshow aufgenommen, weil ich sie dramaturgisch spannend fand: nur über Atmosphäre zu arbeiten um das einzige Interesse zu realisieren, nämlich zu verkaufen. Das Stück, das ich entwickeln wollte, war deshalb von der Frage geleitet: Wie kann ein Stück angelegt sein, das das Stück selbst verkauft? Mich interessiert sehr, wie sich die Außenwelt, die Illusion der Bühne, die Aufführung und die Imagination verschränken. Es geht mir um die Doppeldeutigkeit des Begriffs Vorstellung. Ein anderes Beispiel ist »Verdeckte Ermittlung« (2004). Damals waren die Zeitungen voll von Horst Tappert alias Derrick, er war 80 Jahre alt geworden. Deutsche Fernsehkrimis und polizeiliche Ermittlungsarbeit wurden dann zum Ausgangspunkt des Stücks. Auch hier geht es ja – im Film wie in der Realität – ständig um das Arbeiten mit dem Verhältnis von Fakten und Fiktionen, zum Beispiel bei Zeugenaussagen oder den Schlussfolgerungen, die Ermittler ziehen. Bei »mnemonic nonstop« (2005) waren es Arbeitsresidenzen, die Jochen Roller und ich in unterschiedlichen Ländern hatten. Dann kam Deine Anfrage, beim Steirischen Herbst im Rahmen der Performance-Reihe »Bodies–cities–subjects« ein Stück zu machen. Hier ging es auch wieder um die Realität der Städte, was sie mit unseren Körpern macht und wie wir diese Erfahrung auf die Bühne bringen können. Es ging also darum, Dokumentarisches mit der Fiktionalität der Bühne zu verbinden. Deshalb sind wir auf Kartografie gestoßen.

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222 Interviews Klein: Kartografie ist eine räumliche Inschrift, ebenso wie Choreografie. Beide können durch einen Wechsel von Improvisation und festgelegter Aktion gekennzeichnet sein. Nachbar: Manche Choreografen würden das Score nennen im Sinne einer Orientierung. Der Begriff Score kommt aus der Musik als Partitur, die Zeit organisiert. Eine Aufführung bedeutet immer die Möglichkeit, Zeit miteinander zu verbringen. Als Choreograf oder als Performer habe ich die Verantwortung, die Zeit so zu strukturieren, dass sie interessant verläuft für alle Beteiligten. Mit Orientierung und Kartografie benutze ich Raumbegriffe, um Zeit zu organisieren. Klein: Neben Kartografie spielte ja auch das Dérive, die von den Situationisten in den 1960er Jahren entwickelte Methode künstlerischer Stadtforschung in »mnemonic nonstop« eine Rolle. Nachbar: Das Dérive war uns methodisch eine Hilfe, um durch die Stadt zu gehen mit dem Augenmerk auf körperliche und emotionale Erfahrungen. Kartografie eignet sich für den Übersetzungsvorgang. Einerseits steht Kartografie, wie Du vorhin gesagt hast, über das letzte Wort grafie in Verbindung mit Choreografie und andererseits ist eine Karte immer die Repräsentation einer Erfahrung. Auch Choreografie ist die Repräsentation einer Erfahrung. Klein Aber doch nicht nur eine Repräsentation? Wenn ich zum Beispiel an das Stück »Repeater« denke, in dem Du mit Deinem Vater auftrittst. Nachbar Das stimmt. Dadurch, dass es eine echte VaterSohn-Beziehung ist, kann ich nicht mit Repräsentation arbeiten. Der Ausgangspunkt war simpel. Ich wollte mehr Zeit mit meinem Vater verbringen, produktive Zeit. Mein Vater gehört zu der Generation, in der Männer nicht gewöhnt sind, viel über sich zu reden. Deshalb dachte ich, ein Stück mit ihm zu machen. Das Problem war, dies auf die Bühne zu bringen, ohne dass es psychodramatisch wird. Wenn ich mit einem fremden alten Mann ein Stück gemacht hätte und die Vater-SohnBeziehung als Behauptung gesetzt hätte, dann hätten wir spielen können. Aber wenn die Beziehung echt ist, dann ist

Martin Nachbar das choreografische Material auch immer ganz nah, Distanz wird schwierig. Wie kann ich also mit der Doppelrolle umgehen, Sohn und Choreograf zu sein? Klein Dein Vater hat zudem im Unterschied zu Dir keine Tanz- und Bühnenerfahrung. Nachbar Ja, mein Vater war zwar immer sehr interessiert an Bildender Kunst und ist sehr aufgeschlossen und neugierig. Aber Tanz und Choreografie waren ihm fremd. Es war schwierig für ihn, mit der Vielschichtigkeit von Performance und Tanz umzugehen. Hier war eine gute Dramaturgie wichtig. Weil ich die Innen- und Außenperspektive hatte, fungierte der Dramaturg Jeroen Peeters dann gegen Ende auch als Co-Choreograf. Klein Wie habt Ihr im Probenprozess Eure unterschiedlichen Qualitäten nutzen können? Nachbar Wir sind von Labans acht Antriebsaktionen ausgegangen und haben dazu Improvisationen gemacht, jeder allein, dann zusammen. Das habe ich gefilmt und geschaut, was am besten funktioniert. Anfangs haben wir auch viel mit Contact Improvisation gearbeitet und auch bildhaft mit Themen aus dem Ausdruckstanz, zum Beispiel eine Blume, die erblüht und verwelkt. Wir haben Lebensstationen ausgesucht und in Bildergeschichten umgesetzt und geprüft, wie man es hintereinander setzen kann und was davon für ein Publikum lesbar ist. Oder wir haben Gemälde ausgewählt und sie nachgestellt. Und ich habe geschaut, wo wir uns in meiner Kindheit körperlich nah waren. Zum Beispiel haben wir Fußball zusammen gespielt. Das Narrativ des Fußballspiels und die Erinnerung an diese Körperlichkeit habe ich dann szenisch genutzt: Erst macht er das Tor gegen mich und dann redet er mit mir, dann sind wir in einer Mannschaft und dann schieße ich das Tor. Das war das Muster unserer Improvisationen. Klein Es braucht Erfahrung und körperliches Wissen, um das generierte und festgelegte Bewegungsmaterial erinnern zu können. Wie habt Ihr das gemacht?

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224 Interviews Nachbar Die Frage war: Was hilft meinem Vater, sich die Bewegungsfolgen zu merken? Ist es die Energie, ein prägnanter Moment, ein narrativer Verlauf, ein Gefühlsablauf oder ein Bewegungsablauf, ein sprachlicher oder deskriptiver Ablauf? Klein Du hast einmal betont, dass anders als für manche Choreografen für Dich Bewegungsgenerierung und Komposition nicht dasselbe wären. Was macht den Unterschied aus? Und wie kommen kompositorische Entscheidungen und choreografische Setzungen zustande? Nachbar Eine Trennung zwischen Bewegungsgenerierung und deren Organisation und Komposition ist schwierig. Die Art der Generierung wird Einfluss darauf haben, wie das Material dann organisiert wird, wie also die Komposition erstellt wird. Aber den Ablauf zu organisieren ist ein anderer Prozess als das Bewegungsmaterial zu generieren. Jedes Stück beginnt ja mit einem Interesse und einer Fragestellung. Wenn ich ein Stück mache, überlege ich deshalb zuerst, wie der Prolog aussehen könnte, wie ich also alle Anwesenden einstimmen kann. Es gibt immer Materialien, die ich für diesen Prolog erarbeite, auch wenn ich später feststelle, dass sie eher in den Mittelteil passen. Wie das Material organisiert wird, muss man ausprobieren. Die Entscheidung, ob es stimmt, läuft intuitiv. Es gibt einen Punkt im Probenprozess, wo ich genug Material generiert habe, dann will ich am Ablauf arbeiten. Klein Viele Künstler sagen, Entscheidungen in den gestalterischen Prozessen werden intuitiv gefällt. Gibt es dennoch Hilfen oder Techniken, die man benennen und weiter vermitteln könnte? Nachbar In Workshops arbeite ich manchmal mit Rollenwechseln zwischen Dramaturg und Choreograf. Der Dramaturg hat die Aufgabe, Hilfestellungen zu geben oder Fragen zu stellen, die sein Gegenüber, der Choreograf, beantwortet. Das ist ein Weg, um die Wahrnehmung zu schulen: Lernen zu sehen, was passiert. Und dies von dem unterscheiden lernen, was man gern sehen möchte. Gleichzeitig muss man auch die Fähigkeit haben, zu entscheiden. Mitunter beruhen Entscheidungen ja auf Vorlieben, so dass man auch gegen diese Vorlieben arbeiten

Martin Nachbar und entscheiden muss. Je artikulierter die Werkzeuge sind, desto einfacher und klarer wird es, zwischen eigener Vorstellung und dem tatsächlichen Geschehen zu unterscheiden. Deshalb gefällt mir auch die Idee des Baukastens sehr gut. Klein Welche Rolle spielt dabei der Dramaturg? Nachbar Dramaturgie ist im Tanz sehr wichtig geworden. Die Dramaturgie für ein Stück entsteht aus dem Stück und wird nicht von außen aufgesetzt. Aus Sicht des Choreografen ist ein Dramaturg oder eine Dramaturgin ein Gegenüber mit einem anderen Fokus und einem anderen Background. Wenn es eine Verbindung gibt zwischen den beiden, dann ist das unheimlich produktiv. Klein Welches Verhältnis haben Dramaturgie und Choreografie in dem Arbeitsprozess von Stücken, die wie Deine Stücke auf keiner literarischen Vorlage beruhen? Nachbar Bei »Repeater« hatte der Dramaturg, Jeroen Peeters, eine Szene aus dem Roman »Weißes Rauschen« von Don DeLillo herausgesucht, wo Väter mit ihren Söhnen nachts zu einem Krankenhausbrand fahren und dabei über alles andere verhandeln, was ihre Vater-Sohn-Beziehung ausmacht. Solche literarischen Vorlagen habe ich meist im Vorfeld. Ein Dramaturg muss genau sein und sein Wissen auf die Thematik oder die Fragestellung des Stücks anwenden können. Ich arbeite mit Dramaturgie, die aus der Arbeit selbst entsteht, die keinen Dramaturgen als Außenstehenden braucht, sondern ihn als Mitarbeiter sieht. Klein Dramaturgen sind ja häufig theoretisch sehr versiert. Sie sehen das Stück nicht nur mit einem ästhetischen Auge, sondern verorten es in bestimmte Kontexte und Diskurse, ob politischer, gesellschaftlicher oder philosophischer Natur. Nachbar Der Dramaturg hat dann die Aufgabe, eine solche Perspektive zu schaffen. Klein Gibt es dramaturgische Techniken der Materialordnung? Nachbar Eine Untersuchung zu Rhythmus besagt, dass, wenn eine Gruppe von Menschen ohne Anleitung klatscht, es

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226 Interviews immer eine Beschleunigung und dann wieder eine Verlangsamung gibt, die aber immer noch schneller ist als der Anfang. Das ergibt einen Bogen. So baue ich ein Stück. Es fängt sehr trocken an und hat ein emotionales Ende. Und das ist meistens eine Überraschung. Dazwischen werden Materialien akkumuliert, also immer mehr geschichtet und komplexer gemacht. Gegen Ende vereinfache ich wieder. Dies darf man nicht so verstehen, dass ich mir einen Anfang und ein Ende vorstelle und dann schaue, wie ich dahin komme. Es gibt aber Materialien, die eignen sich mehr für den Anfang. Das sind meistens Materialien, die entweder vom Tempo langsamer sind, die es einem Publikum erlauben, körperlich und gedanklich nachzuvollziehen, was die Tänzer machen. Die Akkumulation oder die Vielschichtigkeit ergibt sich aus diesem Anfangsmaterial. Klein Welche Rolle spielt der Raum, die Bühne? Nachbar Ich denke die Bühne meistens in Leserichtung, von links oben nach rechts unten. Eine wichtige Frage ist dann: Wie kann ich Szenenwechsel räumlich setzen. Zum Beispiel, wie kann ich das, was hinten passiert, als eine Landschaft nutzen für das, was vorn passiert oder umgekehrt: wie kann ich das, was hinten passiert so in Szene setzen, dass der Fokus von vorne nach hinten geht, dass was vorn passiert ist, verschwinden kann, ohne dass dies bemerkt wird? Klein Konzipierst Du die choreografische Anordnung auf einer bestimmten Bühne, zum Beispiel einer Black Box? Nachbar Das Setting würde ich immer von Anfang an setzen. Ich generiere nicht Material und sage dann: So, jetzt machen wir’s auf einer Bühne, die von allen vier Seiten betrachtet wird. Ich würde von vornherein sagen: Das findet in einer Manege, einer vierseitigen Bühne, einer dreiseitigen Bühne, als Installation, als Stadt führung statt. Diese Entscheidung hat Auswirkung auf das Material, seine räumliche Ausrichtung und muss entsprechend erarbeitet werden. So beginnt die Stückentwicklung.

Nik Haffner Bewegungsgenerierung Ein Gespräch mit Nik Haffner 2 Gabriele Klein Wie würdest Du Dein Vorgehen beschreiben, um Bewegung zu generieren? Nik Haffner Ich habe viele Jahre als Tänzer mit William Forsythe gearbeitet. Das hat mich sehr geprägt. Auch heute benutze ich viele Aufgaben, die ich durch ihn kennengelernt habe. Bei diesen Aufgaben ging es immer um das Generieren und Modifizieren von Bewegung, darum, neue Tasks zu probieren oder alte Tasks neu zu kombinieren. Klein Was hat Dich daran fasziniert? Haffner Durch diese Arbeitsweise habe ich immer mehr gelernt, anderen beim Tanzen genauer zuzuschauen, zu erkennen, dass jeder und jede eine sehr eigene Bewegungssprache hat. Das Rohe, Direkte, Unzensierte kam zum Vorschein, die Tänzer/innen sind Risiken eingegangen. Sie haben sich Situationen ausgesetzt, die sich teilweise ihrer Kontrolle entzogen. Das hat bei mir als Zuschauer Ungewissheiten und Unsicherheiten erzeugt, über das, was auf der Bühne passiert. Klein Das heißt, dass bei den Aufführungen etwas passiert ist, das einmalig, unwiederholbar war? Haffner Es ist ja ein zentrales Konzept von ForsytheStücken, dass sie im Moment der Aufführung entstehen und dass dieser Moment nicht kontrollierbar ist. Die Stücke sind jeden Abend etwas anderes. Auch wenn dies den Zuschauern nicht bewusst ist, haben sie doch das Gefühl, etwas Einmaligem und Fragilem beizuwohnen. Klein Wie arbeitest Du mit den Forsythe-Tasks? Haffner Forsythe wurde einmal gefragt, was passieren würde, wenn seine Improvisationsideen weitergegeben würden, ohne dass seine Tänzer/innen sie ausführen, die ja darin geschult sind. Er hat gesagt, er hoffe, dass andere Ergebnisse herauskämen, die nicht von der Forsythe-Ästhetik geprägt seien. Der Look von Forsythes Bewegungssprache lässt sich leicht imitieren,

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228 Interviews aber man sieht die Imitation. Das Konzept verstehen heißt, dass man Neues generiert, indem man an dem Konzept und an der Bewegung arbeitet. Klein Wie arbeitest Du genau? Haffner Ich arbeite aufgabenorientiert. Mit Aufgaben verbinden sich Fragen und Missverständnisse. Gerade darin liegt ja ihr großes Potenzial. Zum Beispiel Aufgaben, die limitieren. Zum Beispiel: Jeder stellt sich mit dem Gesicht zur Wand und versucht, sein Bewegungsmaterial so genau wie möglich auszuführen. Die Nähe zur Wand ist die Limitation, die jeder anders umsetzt. Forsythe hat in dem Stück »The Defenders« (2007) mit Limitationen gearbeitet, indem die Decke nur einen Meter über der Bühne hing und die Tänzer sich mit dem Limit der niedrigen Decke bewegen mussten. Klein Arbeitest Du eher mit formalen oder mit bildhaften Aufgabenstellungen? Haffner Auch in dieser Hinsicht bin ich stark von Forsythe beeinflusst. Forsythe hat nie Adjektive benutzt, die Emotionen ausdrücken, wie gefühlvoll oder ängstlich, um die Tänzer/innen anzuleiten, sondern formale Bewegungsanweisungen gegeben. Er wusste wohl immer, welche Wirkung er damit erreicht. Die Mischung aus der Aufgabe selbst und der Art und Weise, diese Aufgabe zu stellen, hat die Tänzer/innen an die Grenzen des Machbaren gebracht. Das zeigt sich in dem, was sie produzieren. Die »Emergency-Situation«, die sich Forsythe wünscht, entsteht, wenn der Tänzer mit verschiedenen Tasks konfrontiert wird, die er nicht kennt oder in ihren Verknüpfungen nicht kennt. Dadurch entsteht eine Konzentration oder eine Reduktion, die Neues, Unvorhersehbares eröffnet. Als Zuschauer nimmt man viele Emotionen, Gefühlslagen und Spannungen wahr, die aber nicht aus Emotionen und Gefühlslagen entwickelt wurden. Das geht mir auch selbst so, wenn ich eigene Stücke sehe. Beim Arbeiten mit einer formalen Idee stellt man auch relativ schnell fest, welche Ideen sich erschöpfen und welche ein großes Potenzial bergen. So entstehen neue Ideen und vielfältiges Material. Es kann nur an dem weiterge-

Nik Haffner arbeitet werden, das man selbst interessant findet. Trägt eine Idee weniger, als man sich erhofft hat, wird es langweilig. Der Unterschied ist auch für die Zuschauer spürbar. Klein Kannst Du ein Beispiel nennen für einen formalen Umgang, zum Beispiel mit Raum oder Körper? Haffner Ich arbeite gern mit dem Raum. Ein Beispiel für eine Bewegungsaufgabe wäre: Was wäre, wenn sich dieser Fußboden auf einmal auf dieser Seite an einer Wand befindet? Wenn ich stehe, kann ich das dadurch umsetzen, indem ich mich hinlege. Ein Beispiel für Körper wäre die Anatomie: Ich stelle mir meine Lunge oder Wirbelsäule vor und untersuche sie mit Händen oder anderen Körperteilen. Wie groß wären bei einer mir imaginär gegenüberstehenden Person die Rippen oder der Zwischenraum zwischen den Rippen oder das Herz? Wie schwer ist das Herz? Man weiß es nicht so genau, aber jeder hat eine Vorstellung von den Organen, davon, wie groß sie sind, welche Oberfläche sie haben. Klein Wie überträgst Du diese Fragen in eine Bewegungsaufgabe? Haffner Ich würde das Volumen des Herzens umschreiben, vielleicht nicht nur mit Händen, sondern mit einem Arm oder mit der Rückenfläche vom Handgelenk oder mit dem Kopf, der Wange. Klein Du arbeitest auch viel mit Begriffen. Was würdest Du mit einem Begriff wie »essen« machen, unter der Auflage, ihn nicht gestisch oder mimisch umzusetzen? Haffner Ich würde den Vorgang des Kauens oder des Verdauens nehmen, ihn mir vorstellen und versuchen, dies mit verschiedenen Körperteilen darzustellen. Zum Beispiel mir vorstellen, wie ein Stück Brot langsam verarbeitet wird. Klein Wenn Worte wie Kauen eine Performanz haben, also schon eine körperliche Bewegung beschreiben, dann ist dieser Akt der körperlichen Bewegung in Raum und Zeit übersetzbar. Aber hinter Worten wie Freiheit, Hass oder Liebe verbergen sich kulturelle Konzepte. Wie gelingt es hier, nicht in gestisch-mimische Klischees zu fallen?

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230 Interviews Haffner Ein Beispiel ist Forsythes room writing, das ich selbst gern in der Arbeit mit Tänzer/innen benutze: Du stellst Dir einen Raum mit Möbeln und anderen Materialien vor. Die Aufgabe ist die, die Möbel im Raum sichtbar zu machen. Auch hier besteht die Gefahr, dass es pantomimisch wird. Aber wenn man nicht die Hände sondern verschiedene Körperteile nutzt, zum Beispiel den Tisch mit der Schulter in den Raum hinein zeichnet oder den Fensterrahmen mit den Knien, dann entsteht ein Bewegungsmaterial, das weit weg ist vom Gestischen. Klein Würdest Du dieses Vorgehen als Forschung bezeichnen? Haffner Forschung meint, dass die choreografische Arbeit nicht mit der Setzung beginnt, dass am Ende der Arbeit eine Aufführung, ein Produkt stehen muss. Sondern dass man sich Zeit und Raum nimmt, um an einer Frage zu arbeiten. Forschung heißt, an Fragen dranbleiben und versuchen, mögliche Antworten zu finden. Das Bewegungsmaterial, das hierbei entsteht, ist nicht unbedingt dazu da, präsentiert zu werden. Klein Du sprachst davon, dass es um die Suche nach dem Neuen geht. Was ist das Neue? Ist es das Ziel von künstlerischer Forschung, neues Bewegungsmaterial zu generieren? Haffner Die Suche nach der neuen Bewegung ist für mich nicht spannend. Das motiviert mich nicht. Mit geht es eher um die Modifikation von bereits vorhandenen Bewegungen. Man schreibt ja auch Forsythe zu, dass er das Bewegungsvokabular radikal erneuert und erweitert hat. Dabei benutzt er sehr alte Bewegungselemente, zum Beispiel aus dem Ballett. Aber er erweitert diese. Klein Welche Rolle spielt Sprache beim Generieren von Bewegung? Haffner Mit der Frage habe ich mich in dem Stück »Subtitles« (2006) befasst, das ich zusammen mit Christina Ciupke entwickelt habe. Der Arbeitstitel des Stückes war »Instruktionen«, denn diese spielen in der Tanzausbildung eine große Rolle. Auch im Alltag sind wir umgeben von »Beipackzetteln«,

Nik Haffner Anleitungen, wie wir uns zu verhalten haben, zum Beispiel im Straßenverkehr durch Straßenschilder. Tanz lernt man über Sprache. Sprache wurde bislang in der Tanzausbildung aber leider vernachlässigt. Aus diesen Gründen war Sprache ein neues spannendes Feld. Wir stellten uns die Frage: Wie kommunizieren wir miteinander, wann funktioniert Kommunikation und wann scheitert sie? Wie funktioniert Sprache im Zusammenhang mit den einzelnen Bewegungsabläufen? Klein Tänzer/innen sagen häufig, dass Sprechen Tanzen verhindert. Man könne nicht beim Tanzen sprechen, es seien zwei einander ausschließende Symbolsysteme. Zudem sei die Sprache unzureichend, man könne durch sie Bewegung nicht beschreiben. Bewegung sei keine Sprache, sondern ein Zeigen, sie sei, anders als die Sprache, immer mehrdeutig und entziehe sich deshalb der Sprache. Haffner Der Status des Sprechens hängt von dem Probenprozess ab. Manchmal wird sehr wenig gesprochen, aber dennoch viel kommuniziert. Je besser man auch im Tanz die verschiedenen Kommunikationswege wie Sprache, Bewegung, Schreiben oder Zeichnen beherrscht, desto mehr Möglichkeiten hat man, Bewegungsmaterial zu entwickeln. Dass man mit Sprache Bewegungen tatsächlich nur unzureichend beschreiben kann, sehe ich nicht als Manko. Diese Unmöglichkeit existiert, sie ist aber wunderschön und produktiv. Davon lebt auch das Stück »Subtitles«. Klein Wie gehst Du im Probenprozess damit um, gleichzeitig Tänzer und Choreograf zu sein? Haffner Ich fühle mich in der Rolle des Tänzers wohler. Deswegen arbeite ich auch gern in Kollektiven, weil man sich die Aufgabe des Choreografen teilen kann. Je unvoreingenommener man als Tänzer bei einer Aufgabe ist, umso besser ist es. Die Problematik, beide Rollen zu haben, sehe ich darin: Wenn ich als Choreograf eine Aufgabe stelle, weiß ich, wo ich hin will. Für mich als Tänzer muss es ein offener Prozess sein.

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232 Interviews Klein Wie gestaltet sich kollektives Arbeiten? Haffner Für mich steht bei der kollektiven Arbeit immer im Vordergrund, möglichst die besten Entscheidungen zu treffen. Was sind die besten Entscheidungen? Darüber gibt es ja oft unterschiedliche Meinungen. Dann folgt dieser spannende Prozess, bei dem man versucht, sich gegenseitig zu überzeugen. Man stimmt nicht ab, sondern nimmt sich Zeit, sich auseinander zu setzen und alle zu überzeugen, in eine bestimmte Richtung zu gehen. Es geht also darum, keine festen Standpunkte zu behaupten, sondern sich in einen gemeinsamen Prozess einzubringen. Klein Im Verlauf des choreografischen Prozesses kommt aber die Phase, in der es darum geht, eine choreografische Struktur zu finden und Entscheidungen zu treffen. Haffner Ich würde diesen Vorgang in zwei Phasen aufteilen. In der ersten Phase findet man die Zeiten heraus, die eine Szene oder bestimmtes Material verlangt. Wenn das klar ist, beginnt Phase zwei. Man kann eine Skelettstruktur der Choreografie ausprobieren und positioniert das choreografische Material immer wieder an unterschiedliche Stellen, zum Beispiel das Material f hinter Material b. Wirkt dies anders, als wenn Material f am Anfang steht? Durch dieses Umbauen lernt man die Qualitäten der einzelnen Materialien kennen und was mit ihnen passiert, wenn man sie an verschiedene Stellen oder in unterschiedliche Reihenfolgen setzt. Dann muss man Entscheidungen treffen: Will ich, dass dieses Material zum Beispiel als Bruch in der Mitte des Stücks steht, weil dies einen Bruch braucht, oder setze ich das Material an den Anfang, weil es die Thematik offen legt, oder setze ich es an den Schluss, weil es ein summing-up, eine Zusammenfassung bringt. Es ist zwar immer dasselbe Material, aber es wird durch den choreografischen Ablauf verändert. Ein Stück kann sich total verändern, kann ein anderes Stück werden, wenn sich die Reihenfolge der Szenen verändert.

Jonathan Burrows Komposition Ein Gespräch mit Jonathan Burrows 3 Gabriele Klein Our topic today is strategies of dance composition. What kind of strategy do you use? Jonathan Burrows Perhaps one unusual thing about the way that Matteo Fargion and I work, in terms of composition, is that we often like to start at the beginning and move forwards, rather than make the material first and then put it in order. This comes from his experience as a composer, where this practice is more usual. And Matteo often encourages me that we should keep going for a while instead of straight away revising – so that the thing has time to breathe and become something, before we judge it. Klein Do you use strategies of editing? Burrows Matteo and I throw away a lot of material, both in making and editing. We are quite ruthless. When you work in a linear way, from the beginning, you have this experience that each new thing affects the sense and timing of what has come before, and that what has come before shapes what can happen next. When the piece is finished we often need to move large blocks around: maybe one thing is shifted three places back and another is shifted two places forwards, to strengthen the continuity and flow of rhythm and ideas. It’s delicate work: if we go too quickly we can very easily destroy everything. We try to keep a note of all these changes as we go along, so that we don’t lose track, and can change something back again if necessary. And then you reach a moment when you know it feels right, and then we try not to fiddle with it too much anymore. The work continues, but more in how we might perform the material. Klein Do you change something in the piece after the premiere? Burrows People often come back to see a performance and say, »Oh, but you’ve changed a lot«, but in fact the choreography and composition is exactly the same. This feeling that the piece has changed is partly to do with the expectations that

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234 Interviews these persons bring from the previous time they saw it, and partly from the way we go on working on different aspects of performance. Klein Are there typical tools for you for editing? Did you develop a special method or tools for editing? Burrows First of all I would say that I tend not to use the word tool. Klein Why not? Burrows There is something about the word tool which suggests an outcome, and I know from experience that no way of working can guarantee that. Klein Which term do you prefer? Principles? Burrows Yes, I sometimes use the word principle, which is something I picked up when I collaborated with the performer and director Jan Ritsema. It’s a word that he would often use: »What is your principle? What is the principle behind this?« The idea of a tool suggests that if I have the right tool I can make the right object, whereas a principle accepts that I don’t know what I’m doing, but that I have some parameters how to begin, and how to continue. And these parameters are in relation to the material that emerges, which makes its own demands. Klein We use the word tool because we think that people in dance classes for example have a lot of creative ideas, but they don’t know how to translate them into movement, how to generate and how to compose movements. The term doesn’t mean that there is one right tool for something, like a hammer for the nail. It means that there is a craftsmanship in the choreographic process, which is mainly an artistic process. If you prefer the term principle: Are there principles for composing? Burrows I think each of us finds a way to work that makes sense to us, that both accepts who and how we are and at the same time gives room to discover new things. There seem to be a lot of choices, but in the end you have to go with what’s working for you. Matteo and I have used a lot of compositional

Jonathan Burrows ideas from classical music: for instance the thought that the rate of change must change, or that you work to find a balance of predictable and unpredictable elements. These came from the composer Kevin Volans, with whom we both studied. But they tend to be things we think about occasionally when we’re trying to solve a problem, rather than ideas for working. Klein What do you mean by the term material? Movements, or also other material, for instance film, text, pictures? Burrows I don’t have a very visual imagination, so I tend not to have a picture in my head before I begin, but rather discover the material by working. When Matteo works with dance students he often poses the question: »What is material?« And they tend to say: »If I make this or this movement, it’s a material.« Then Matteo goes to the piano and plays one note and asks: »Is this material?« And the students say: »It could be.« And he says: »Yes, it could be material, but in musical terms it could just be a note, which is not yet a material. But if I play these two notes one after the other, then that is a material.« In other words, for him, material has as much to do with the relation between objects as it has to do with the singular object. But dance is complicated, because it’s very hard to define where a movement begins and ends. It’s all about continuity or flow. I think one way to approach this is to risk simplifying the movement in order to choreograph it. If you get it right, then it can arrive at a different kind of continuity, or complexity, which your body or mind could never have imagined. Klein Material means the construction of relationships between movements. What does editing mean: modes of construction? Burrows I think editing just continues this work of finding and clarifying the relationship between things. If you work with abstract elements, without the hooks of image or language, then the question is how do you keep the audience wanting to know what might happen next. When I’m making and editing I often ask myself: »Should the same thing keep happening here, or should something new happen?« It’s about keeping expectation alive, not as a way of manipulating the audience,

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236 Interviews but to help them follow the flow, logic or meaning of what is happening. Klein How do you make decisions? Is it intuition or do you have a set of criteria? Burrows I don’t know. If there are any criteria then they are completely fluid. For instance, you might throw away a material because it isn’t working, but then you bring it back in a different place and it becomes an important material in the piece. At each moment you have to make the best decision you can, and then trust it. Klein Other choreographers told us, that the most important thing in the choreographic process is decision making. So they develop special ways of doing that. Do you have a special strategy of decision making in your work? Burrows My current definition of choreography is this: Choreography is about making a choice including the choice to make no choice. The choice to make no choice is also a choice. Klein But how to reflect in the piece that you made no choice? Sometime pieces look like a performance of the principle »I decided not to make a decision«. Burrows When I say »not making a choice«, I mean a kind of mind game that frees you from your expectations. When you’re working it’s easy to become trapped by your expectation of what you think you should be making, all the time reaching for choices which are too complex for the thing that’s happening. I’ve become very interested in the idea of »doing the most obvious thing«. What I’ve noticed is that what seems obvious to me may not be obvious to you. And that an accumulation of obvious things, by the nature of the relationship between them, becomes something different anyway. Klein Do the most obvious thing – this seems to be a good principle when you have the knowledge and the experience of a professional dancer. But when you are working with people who do not have this kind of knowledge, doesn’t this principle bring them to a cliché?

Jonathan Burrows Burrows I’ve worked a lot with people who have no prior knowledge of dance, and the idea of doing something obvious can be very freeing. The clichés come from an idea of what a dance should look like, but once you reassure people that that isn’t necessary, then they often come up with startlingly fresh material. Klein Even if you do something very obvious and it is very boring, how do you go on working? Burrows My principle would be: trust your boredom. If you are bored doing this then do something else – so that the accumulation of different materials is in tune with your own curiosity as a human being. Klein What is the relationship between improvisation strategies and composition? Burrows I think the choice whether to set your materials or improvise, is a combination of what the piece needs and who you are as a person. Different pieces and people need different approaches. For a person who likes making choices faster, then it might be that they need to find a principle for working that allows that, and improvising is one of them. For the person who likes to work things out more slowly, then they might be happier to figure it out bit by bit on their body, or sit in their kitchen and work something out on paper. The question is, if I can do anything, then how do I know what to do? This is the hardest question. So then at that moment, to make one choice can be very liberating. No matter how stupid the choice may seem, you have at least begun. And I think sometimes the temptation is to work for hours to try and find a true expression, something authentic. It can work, and sometimes you need these moments, but equally you might trust that if you can find a way to begin, and then continue, something may emerge which surprises you. It could take a week before you start to see it, but if it’s right, then there’s a sense of recognition, no matter how lost you’ve been feeling.

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238 Interviews Choreografievermittlung Ein Gespräch mit Thomas Kampe 4 Gabriele Klein Du bist an der London Metropolitan University tätig. In England spielt, auch in der Tanzausbildung, der Community Dance eine unvergleichlich größere Rolle als in Deutschland. Hier ist die Trennung zwischen Tanzkunst und Tanz in der Kultur- und Bildungsarbeit sehr stark ausgeprägt. Choreografische Arbeit mit tanzunerfahrenen Menschen steht eher unter dem Stichwort »Bildungs- und Kulturförderung und soziale Integration« und gilt nicht als künstlerische Arbeit. Dies beginnt sich in den letzten Jahren zu ändern. Immer mehr auch sehr renommierte Choreografen arbeiten mit tanzunerfahrenen Menschen. Was lernen die Studierenden, um solche Vermittlungsprojekte durchführen zu können? Thomas Kampe In dem Tanz-Studiengang an der London Metropolitan University wird den Studierenden zeitgenössische experimentelle Kunst in Theorie und Praxis vermittelt. Aber gleichzeitig versuchen wir auch, sie auf ein möglichst großes Arbeitsfeld vorzubereiten. In jedem Modul werden Subject Specific Tools vermittelt. Dazu gehört zum Beispiel choreografisches Handwerkszeug, aber auch Fertigkeiten, die über das Fachliche hinausgehen: Zeiteinteilung, Planungskompetenz, über seine Arbeit reden können, klar zu kommunizieren, Workshops zu leiten, die eigene Arbeit zu vermarkten. Klein Wie wird der Begriff der Gemeinschaft im Community Dance definiert? Kampe Wir vermitteln die Idee eines kollaborativen Arbeitsethos. Ziel ist es, erfolgreich als Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, egal ob der Choreograf mit den Tänzern, die Tänzer untereinander oder die Akteure mit den Lichttechnikern zum Beispiel. Gemeinschaft meint aber auch kulturelle Differenz. In Modulen wie Cultural Identity and Performance Analysis geht es darum, die eigene Arbeit und das eigene künstlerische Selbstverständnis im kulturellen Kontext zu sehen und zu reflek tieren. Wer bin ich, wo komme ich her, zu welcher Kulturgemeinschaft gehöre ich? Wo gehört meine Arbeit hin? Klein Was ist in diesem Zusammenhang Choreografie?

Thomas Kampe Kampe Choreografie ist ein interkultureller Prozess zwischen Menschen an bestimmten Orten, der hauptsächlich durch Bewegung motiviert, beschrieben oder behandelt wird. Klein Diese Definition könnte auch ein Fußballspiel zutreffend beschreiben. Muss eine Choreografie in einem Vermittlungsprojekt tänzerisch sein? Kampe Choreografie muss nicht an Tanz gebunden sein. Man kann auch anders choreografisch arbeiten. Als ich mit Annett Walter von der Tanzinitiative Hamburg »Urban Rituals« (2003) vorbereitet habe, bestand der choreografische Prozess ein Jahr lang nur darin, zu schreiben. Der choreografische Prozess war im Kopf und auf dem Papier und in der Vorstellung. Dann haben wir zwei Wochen mit den Teilnehmenden gearbeitet. Das ist ein kultureller Prozess zwischen Menschen. Klein Folgt Deine Arbeit im Community Dance bestimmten Prinzipien? Kampe Mein Ansatz hat viel mit der Feldenkrais-Arbeit zu tun, bei der das erste Grundprinzip ist, dass es kein Prinzip gibt. Das zweite Prinzip ist, immer das aufzunehmen, was schon da ist und mit dem etwas zu machen. Das Wichtigste ist, zu sehen, was gebraucht wird. Klein Welche tänzerischen und choreografischen Kompetenzen braucht man, um Vermittlungsprojekte zu machen? Kampe Ich unterscheide zwei Bereiche. Zum einen den zwischenmenschlichen Bereich. Dazu gehören Kompetenzen wie zuhören, sehen, was die Teilnehmer mitbringen, eine gemeinsame Sprache finden, Absprachen treffen. Das andere ist der choreografische und tänzerische Bereich. Hier arbeite ich viel mit Laban-Analysen. Ohne diesen Rahmen könnte ich die Projekte nicht machen. Laban-Analyse ist für mich ein Wissens- und Hand lungsraum, eine Grammatik, eine Analysemöglichkeit und eine Hilfestellung in Bezug auf Technik. Klein Gibt es noch andere künstlerische Verfahren, die Du Deiner Arbeit zugrunde legst?

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240 Interviews Kampe Wir arbeiten in England viel mit dem Midway Model. Dabei geht es darum, Performance-Techniken, choreografische Techniken aber auch Wahrnehmungs-, Reflexions- und Beobachtungstechniken zu vermitteln. Das eine geht ohne das andere nicht. Klein Welche Rolle spielt die Schulung von Wahrnehmungsund Beobachtungstechniken in Vermittlungsprojekten? Kampe Alle Teilnehmenden müssen im choreografischen Prozess lernen wahrzunehmen und zu beobachten. Ob sie technisch versiert sind oder nicht, sie sollten den Prozess verstehen und ihn mitgestalten. Klein Welche Rolle hat in den Vermittlungsprojekten der Choreograf? Kampe Kommunizieren, delegieren, Rollen verteilen können. Allen das Gefühl geben, dass ihre Arbeit wichtig ist, und dass sie oder die Arbeit im Mittelpunkt stehen, ehrlich sein und Zeit geben, so dass die Teilnehmer den Prozess verstehen. Die eigenen Kompetenzen richtig einschätzen, erkennen, welche Kompetenz man nicht hat und wie man sie einholt. Im tänzerischen Bereich sind Redigieren, Selektieren, Zusammenführen die Hauptaufgaben des Choreografen. Dem Choreografen muss seine Rolle klar sein – und dass sich diese Rolle auch verändern kann. Wann wird was gebraucht? Wie vermittle ich das am besten? Diese Fragen stellen sich immer wieder und man muss sie immer wieder in der Praxis neu beantworten. Klein Viele Choreografieprojekte mit tanzunerfahrenen Menschen bestehen darauf, dass der Prozess in eine Aufführung mündet. Andere wiederum sehen in dieser Zielsetzung ein Problem für einen offenen Prozess. In welchem Verhältnis sollten der choreografische Prozess und das Produkt Deiner Erfahrung nach stehen? Kampe Der Prozess muss immer auf das Produkt bezogen sein. Das hilft, sich nicht im Prozess zu verlieren. Und es gibt eine enorme Kraft, ein Produkt zusammen herzustellen. Es ist toll zu erfahren, welche soziale und kulturelle Dynamik ein Prozess zum Produkt hin hat, auch wenn es viel Streit gibt.

Thomas Kampe Das Produkt macht Tanz der Öffentlichkeit sichtbar. Es schafft Tanzkultur und Tanzwissen. Klein Was braucht ein gelungener choreografischer Prozess? Kampe Ein gutes Zeitmanagement und eine sorgfältige Planung. Das Spiel, das Explorieren, also der ästhetische Prozess und der Managementprozess sind zwei Seiten eines erfolgreichen Produktionsprozesses. Klein Wie gehst Du in der gemeinsamen Arbeit vor? Kampe Ich wechsele immer vom Generellen zum Spezifischen und zurück. Oder anders formuliert: von der Exploration zur Investigation und zurück. Exploration ist unausweichlich für den choreografischen Prozess. Tänzer müssen explorieren, spielen und ausprobieren können. Exploration meint aber auch Beobachten, sich selbst und Andere. Exploration hat noch nichts mit dem Produkt zu tun. Es ist ein offener, grenzenloser Prozess. Klein In welcher Phase werden Entscheidungen getroffen? Kampe Entscheidungen werden nach der Exploration getroffen. Dann wird Material herausgezogen, es werden die Parameter enger gesetzt und Einschränkungen vorgenommen. Bei der Investigation geht es um das Nacharbeiten, Hinterfragen und Vertiefen. Investigation ist ein gezielterer Vorgang als Exploration. Wir machen z.B. eine Exploration mit verschiedenen Aktionen: Fallen, Rennen und Drehen. Dann schauen wir nur die Drehung an: Können wir diese Drehung noch anders machen? Wenn du den Kopf anders benutzt oder dabei schreist? Das heißt, etwas Generelles wurde angesetzt und dann separiert, verfeinert und vertieft und mit Blick auf das Gesamtbild wieder verändert. Klein Wie organisierst Du diesen Prozess? Kampe Den Teilnehmern sollte die Zeitstruktur klar sein. Zum Beispiel: In der nächsten halben Stunde arbeiten wir nur an diesem Detail. Danach arbeiten wir eine halbe Stunde und stellen es wieder in den Gesamtzusammenhang oder wir lassen

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242 Interviews es los. Das sage ich auch oft zu Studierenden: Wenn ihr noch nicht wisst, was es ist, dann lauft und rennt oder macht einfach etwas anderes, damit das größere Bild klar wird. Klein Was bedeutet dieses allgemeine Prinzip in Bezug auf die Arbeit mit Bewegungsmaterial? Kampe Ich arbeite viel über Problem Solving und Problem Setting, wie es auch in der Feldenkrais-Arbeit genutzt wird und im Pragmatismus von John Dewey zu finden ist. Ich mache beispielsweise eine Feldenkrais-Stunde, fordere die Teilnehmenden auf, mit der Bewegung vom Rollen ins Sitzen und vom Sitzen ins Rollen zu spielen. Wenn die Grundidee klar ist, setze ich ein Problem, zum Beispiel: Der rechte Fuß muss immer auf dem Boden bleiben. Welche Bewegungen entstehen aus dieser spezifischen Situation? Was passiert, wenn das Problem weg ist? Meine Erfahrung ist, dass die Teilnehmer dann viel spezifischer arbeiten. Klein Wie klar muss der Rahmen definiert sein bei Vermittlungsprojekten? Kampe Je klarer der Rahmen ist, desto klarer wird der Prozess. Auch Kollaborationen brauchen Hierarchie und Rollenverteilung und einen transparenten Prozess. Warum soll ein choreografischer Prozess anders sein als der Arbeitsprozess des Heizungsmonteurs oder des Chirurgen ? Je klarer ich sagen kann: Das ist nicht das gleiche Heizungsmodul wie das andere, das müsst ihr noch einmal ausbauen, das andere da drüben ist schöner. Je klarer ich das sagen kann, desto klarer komme ich zu einem Produkt. Wenn ich nur eine Recherche machen und mit Leuten experimentieren will, ist das etwas anderes. Klein Welche Rolle spielt Sprache im Improvisationsprozess? Kampe Ich arbeite viel über Instruktionen und über Bilder, die entweder metaphorisch, symbolisch, pragmatisch, aktionsgebunden oder Beziehungsbilder sind. Ich benutze oft einfache Metaphern: Wenn die Improvisation eine Reise ist, was ist das dann für eine Reise? Ist das ein Bergsteigen oder ist es eine See-

Thomas Kampe reise? Auf der anderen Seite benutze ich auch viele Bilder aus der Ideokinese. Oder ich wähle Problemlösungsaufgaben. Wie ist es, wenn ihr improvisiert und ihr habt die Hand auf dem Kopf und dann nehmt ihr sie weg? Wie bewegen sich jetzt die Rippen? Und schließlich Peer Observations. Zum Beispiel: Nehmt euch einen Partner, einer ist a, einer ist b. a geht ins Off und schaut zu, was b macht. Zuschauen, wechseln, voneinander lernen. Was habt ihr gesehen? Was war interessant daran? Wie kann ich einen Prozess variieren, so dass er nachhaltig ist? Wie kann ich es so gestalten, dass die Teilnehmer drei, vier Stunden interessiert und motiviert mitarbeiten? Klein Welche Bedingungen muss die Institution erfüllen, damit Vermittlungsprojekte funktionieren? Kampe Es ist ganz wichtig, angemessene Räumlichkeiten und Zeit zu haben. Die Institutionen sollten bereit sein, an der Planung teilzunehmen. Es muss ein Lernen stattfinden zwischen den nicht-künstlerischen Institutionen und den künstlerischen Institutionen. Es sollte Personen geben, die das Management übernehmen. Klein Welche Bedingungen braucht man in Schulen für die Durchführung von Choreografieprojekten? Kampe Lehrer, die mitmachen wollen, die flexibel sind und auch sehen, dass es problematisch werden kann. Dass man manchmal etwas fünfzigmal oder hundertmal proben muss. Dass dann auch mal jemand heult oder aggressiv wird. Ein choreografischer Prozess läuft nie reibungslos und einfach ab. Die Rollen sollten klar abgesprochen sein. Wie viel darf der Lehrer oder die Lehrerin dazu sagen oder ein Helfer? Wie weit sind sie in den Prozess eingebunden? Eine Community-Arbeit muss ver mittelt werden. Das muss erst mal über die Verwaltung und das Lehrpersonal laufen. Alle sollten darauf vorbereitet sein und es muss klar sein, dass sie sich darauf einlassen. Klein Was lernt man, wenn man tanzen lernt – wenn es, wie in der zeitgenössischen Choreografie, nicht um eine spezifische zeitgenössische Technik geht?

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244 Interviews Kampe Ich kann nur sagen was ich gelernt habe: Eine Intensität zu erfahren in mir selbst. Wie ich mich in der Bewegung spüre. Was ich dabei fühle, was ich dabei sehe, das über meine habituell normierte Bewegungserfahrung hinausgeht. Eine Zentrierung zu erfahren ohne ein fixiertes Zentrum zu sein. Ich erfahre Beziehungen. Wie Dinge miteinander in Beziehung stehen in mir selber als lebendem System. Ich lerne etwas über meine Beziehung zur Umwelt, zum Boden, zum Raum, zu anderen Menschen. Ich lerne zuzuhören, zu beobachten. Ich lerne eine Bereitschaft, da zu sein. Ich lerne mich zurückzunehmen, wenn ich nicht an der Reihe bin, lerne, anderen zuzusehen. Ich lerne mich völlig einzugeben und darin aufzugehen. Wir sind ja sehr von außen bestimmt in der zeitgenössischen Welt. In solchen Projekten lerne ich, in einer Stille zu sein mit wenigen Impulsen von Außen, in mich hineinzuhorchen, aus mir herauszugehen, mit mir umzugehen und mit den anderen. Das ist eine sehr elementare Erfahrung des menschlichen Lebens.

Anna Huber & Hubert Machnik Zusammenarbeit: Musik und Choreografie Ein Gespräch mit Anna Huber & Hubert Machnik 5 Gabriele Klein Ihr seht Euch heute zum ersten Mal. Welche Fragen würdet ihr euch stellen, wenn Ihr zusammenarbeiten wolltet? Anna Huber Es gibt viele praktische Fragen. Wird die Musik im Austausch mit der Choreografie entwickelt, entsteht eine geschriebene Komposition oder eine Improvisation? Wird die Musik live gespielt? Wo wollen wir ein Projekt durchführen, auf einer Bühne oder in einem anderen Raum? Welche Voraussetzungen hat dieser Raum? Mit wem arbeiten wir zusammen? Mit wie vielen Tänzern oder Musikern? Kennen wir die Personen oder müssen wir sie erst suchen? Oder machen wir es, weil wir genau mit ihnen zusammenarbeiten wollen? Wie strukturieren wir den Prozess zeitlich? Wie verteilen wir die Arbeit über verschiedene Probenblöcke? Treffen wir uns und finden heraus, was wir machen wollen, oder wissen wir das schon? Gehen wir aus von einem Thema, das uns beide interessiert, einer inhaltlichen Idee? Oder geht es uns in erster Linie um den künstlerischen Austausch? Ist es ein Experiment mit offenem Ausgang? Klein Wie Du betonen alle Tanzenden, mit denen wir gesprochen haben, die Bedeutung des Raumes. Huber Der Raum ist wesentlich für ein Projekt. Er muss eine gewisse Größe haben. Er muss einen bestimmten Boden haben. Will man in einem Arbeitsraum Tageslicht oder soll es ein dunkler Theaterraum sein, wo man auch mit Licht experimentieren kann? Hubert Machnik Ich finde den Raum für einen Musiker genauso wichtig. Für mich trägt der Raum zu den künstlerischen Entscheidungen bei. Wenn ich mit Tänzern arbeite, also zum Beispiel unter den von Anna genannten Bedingungen, ist das etwas völlig anderes, als wenn ich im Studio arbeite. Es handelt eine andere Räumlichkeit, ein anderer Hörraum. In unterschiedlichen Räumen ändert sich das Verhältnis zu den Agierenden und dem Publikum. Der Aufführungsraum entscheidet über die Soundinstallation, ob ich zum Beispiel vier-

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246 Interviews kanalig oder sechskanalig arbeite, welche Zusatzlautsprecher auf der Bühne stehen sollen, wie ich die Klänge bezogen auf den Raum einsetze usw. Klein Wie entsteht ein Thema? Huber Das Thema muss eine Abstraktion und zugleich eine konkrete Auseinandersetzung und sinnliche Umsetzung zulassen. Es müssen Themen sein, die Musiker und Choreograf gleichermaßen interessieren und herausfordern. Und sie müssen zugleich eine Offenheit zulassen, wie zum Beispiel das große Thema Zeit. Zeit ist ein Grundelement von Tanz und Musik bzw. Komposition und Choreografie. Das Phänomen Zeit ist dem Wesen von Tanz und Musik verwandt. Beide Künste sind Zeitkünste, flüchtig und dennoch präzise. Es geht darum, Zeit zu strukturieren und sinnlich erfahrbar zu machen. Zeit ist auch ein Thema, das konkretere Unter themen bietet, wie: Erinnerungen, Spuren im Raum hinterlassen. Auch hier gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen Musik und Tanz. Klein Welche Rolle spielt der Umgang mit Zeit in der Zusammenarbeit? Machnik Das Thema Zeit ist das zentrale Thema der Musik. Es gibt eine Bandbreite zwischen messbarer Zeit, die sich im Rhythmus spiegelt, und dem Zustand von Zeitdehnung, in dem zwar viele Rhythmen auftauchen können, die sich aber durch die Gleichzeitigkeit aufheben, so dass man sich in einem gedehnten Zeitraum befindet. Man kann dies Erlebniszeit nennen. Und diese Dimension ist im Dialog von Musik und Tanz interessant, zum Beispiel indem man auf eine Bewegungsdynamik eine Fläche von integraler Komposition legt, ohne dass dies deskriptiv wird, weil sie ein hohes Maß an Eigensinn hat. Klein Zeit lässt sich immer auch historisch lesen – Spuren, Erinnerungen. Machnik Erinnerung ist eine Form von Gegenwart. Die reine Geschichte gibt es nur im Sinne von linearen Zeitdarstellungen historischer Ereignisse. In dem Augenblick, wo sie relevant wird für den Einzelnen, ist sie Gegenwart. Deshalb kann man in einer

Anna Huber & Hubert Machnik Komposition auch die Erinnerung für die direkte Gegenwart nutzen. Klein Thematisieren Erinnerungen nicht immer auch das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit? Huber Es kann ja auch erst einen kurzen Moment her sein und schon ist es eine Erinnerung, eine Spur. Du spielst damit, dass du gegensätzliche Zeiten oder Zeitqualitäten einander entgegensetzt und sie so erst sichtbar machst. Als könnten sie sich voreinander abbilden. Zeit ist dem Wesen unserer Medien sehr verwandt. Machnik Wir haben im Tanz und in der Musik eigentlich keine physikalische Zeit, nur Erlebniszeit. Physikalische Zeit könnten wir vielleicht nur wahrnehmen, wenn wir einen Sekundenzeiger beobachten oder einem Metronomschlag zuhören. Allerdings ist das Tempo an sich schon eine Subjektivierung der Zeit. Unsere Wahrnehmung setzt alles in eine Relation. Wenn ich einen Rhythmus höre, wenn ich eine Melodie höre, messe ich die Zeit, im Spezifischen und im Allgemeinen. Was Tänzer als Zählen benutzen, hat noch nichts mit dem Zeitempfinden zu tun, das man zu einer Szene hat. Klein Gibt es besondere Vorbereitungen, wenn eine Musikerin mit einem Tänzer, ein Komponist mit einer Choreografin zusammenarbeiten? Huber Zunächst muss entschieden werden, ob wir mit LiveMusikern arbeiten. Es müssen Musiker sein, die sich für eine Zusammenarbeit mit einem Choreografen, mit Tänzern und für ein spartenübergreifendes Projekt interessieren. Sie sollten wissen, dass ein solcher Prozess Offenheit braucht, dass er zeitintensiv ist und es einige Besonderheiten zu berücksichtigen gilt, wenn Musiker und Tänzer zusammen auf einer Bühne auftreten. Machnik Die Frage, ob live gespielt wird, ist selbst bei elektronischer Musik wichtig. Sind Musiker für den Zuschauer sichtbar, sind sie Teil des Bühnenbildes und Teil der Choreografie. Damit steht die Frage im Raum: Was macht der Musiker, wenn er nicht spielt? Und wie verhält sich der Tänzer zu

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248 Interviews dem spielenden und nicht-spielenden Musiker, egal ob Elektroniker oder Instrumentalist? Ist die Musik hingegen als Werk konzipiert und wird zum Beispiel als Aufnahme eingespielt, ist die Zusammenarbeit kein offener Prozess mehr, sie verändert sich nicht mehr im Zusammenspiel mit der Choreografie. Klein Wie könnte man die gemeinsame Bühnensituation aus der Sicht eines Musikers gestalten? Machnik Einen Dialog zwischen Tänzern und Musikern auf der Bühne zu gestalten, ist nicht einfach. Wenn zum Beispiel eine zwanghafte Duo-Situation entsteht, kann es schwierig werden, weil mit Musik und Tanz zwei verschiedene Bewegungssysteme präsent sind, deren Verbindung leicht zum Banalen tendiert. Die Präsenz auf der Bühne erzeugt die Erwartung, dass sie körperlich miteinander interagieren. Das kann man setzen oder vermeiden. Klein Musik und Tanz brauchen beide ein Instrument – die Musik das musikalische Instrument, der Tänzer den Körper. Liegt hierin eine Problematik, in einen Dialog zu treten? Huber Das ist genau die Frage, die sich immer wieder stellt. Tänzer haben eine andere Form der physischen Präsenz und der Art, sich zu bewegen, weil der Körper ihr Instrument ist. Der Musiker macht in erster Linie funktionale Bewegungen, die sich auf den Umgang mit seinem Musikinstrument oder der Elektronik bezieht. Klein In dem Projekt »umwege« (mit Fritz Hauser, seit 2002) hast Du doch mit einem Musiker gearbeitet… Huber Ich habe mit vielen Musikern zusammengearbeitet, »umwege« war aber in erster Linie ein architekturspezifisches Projekt. Der Schlagzeuger Fritz Hauser hat zwar live gespielt, er war aber nie sichtbar. Das war eine ganz bewusste Entscheidung. Es ging um den Dialog mit dem Raum. Und dieser Dialog zwischen Bewegung und Raum, zwischen dem spezifischen Ort und der Flüchtigkeit der Bewegung erschien gestört durch die sichtbare Präsenz des Musikers, der zudem ein großes Instrument hatte. Eine tänzerische Bewegung muss

Anna Huber & Hubert Machnik man sehen, weil man sie sonst nicht wahrnehmen kann. Aber den Musiker muss man nicht unbedingt sehen, die Musik bleibt dennoch hörbar. Klein Wie würdest Du als Tänzerin den Dialog mit einem Musiker auf der Bühne charakterisieren? Huber Es ist ein wesentlicher Unterschied zwischen einem Musiker, der als Interpret eine geschriebene Komposition spielt, und einem improvisierenden Musiker bzw. dem Komponisten als Live-Musiker. Als Tänzerin höre ich die Musik immer. Aber der Musiker kann mir während seines Spiels nicht die ganze Zeit beim Tanzen zuschauen, er kann nicht alles sehen. Klein Ist der Umgang mit dem Raum für den Musiker ein anderer als für den Tänzer? Machnik Jeder Musiker setzt sich mit dem Raum auseinander. Über die Akustik des Ortes wird der Raum wahrgenommen, oder umgekehrt, die Betrachtung eines Raumes (oder seiner Abbildung) geht einher mit der Vorstellung seiner Klanglichkeit. Das beeinflusst die musikalische Aufführung und ist gleichzeitig Konstruktionselement einer Komposition, wenn man zum Beispiel mit künstlichen bzw. geliehenen Räumen arbeitet. Der Komponist/Musiker übernimmt das akustische Ausloten des Raumes für das meist passiv zuhörende Publikum. Es verwundert nicht, wenn Tänzer sagen, dass sie Schwierigkeiten mit Musikern auf der Bühne haben, da die Musiker zu stark seien. Das Erzeugen von Klang zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Die tänzerische Bewegung muss sich gegen den Klang behaupten, um eine adäquate Aufmerksamkeit zu erzeugen. Huber Aufmerksamkeit entsteht dort, wo es laut ist und tönt. Der Tänzer ist leiser, lautloser. Meiner Ansicht nach besteht der Gegensatz aber vor allem darin, dass der Musiker funktionale, meist sehr präzise, klar gerichtete Bewegungen macht, bei denen sichtbar ist, wozu er sie macht und was daraus entsteht. Das ist spannend und macht neugierig. Die Bewegungen des Tänzers hingegen sind nicht unbedingt zweckbezogen, nicht funktional. Seine Bewegungen sind abstrakter.

249

250 Interviews Klein Der Tänzer agiert auch instrumentell. Er nutzt seinen Körper als Instrument. Wie er Bewegung erzeugt, wird aber nicht sichtbar, zum Beispiel, dass er Bewegungsimpulse funktional einsetzt, um eine bestimmte Bewegung zu erzeugen. Es gibt meiner Ansicht nach noch einen weiteren Punkt, warum der Dialog zwischen Musikern und Tänzern schwierig ist: weil der Musiker oft einen fixen Platz auf der Bühne hat. Der Standpunkt ist psychologisch und auch wahrnehmungstheoretisch die stärkere Position. Derjenige, der Bewegung und Flüchtigkeit zeigt, erscheint als der Labilere und Schwächere. Wie würdet Ihr Euch einen gemeinsamen Arbeitsprozess vorstellen? Huber Jeder muss seinen eigenen Weg, seine eigene Technik finden, den Prozess zu entwickeln, wiederholbar zu machen. Das ist bei Tänzern und Musikern sehr unterschiedlich. Aber sich über gemeinsame Stichworte oder Fragestellungen an etwas erinnern, das wäre ein verbindendes Element. Klein Kann ich mir das so vorstellen: Man entwickelt eine Bewegungssequenz. Man nennt sie »Hängende Brücke«, und wenn beide »Hängende Brücke« hören, wissen sie, welche Sequenz gemeint ist? Huber Ja. Manchmal arbeite ich mit Stichworten. Oder mit zeitlichen oder räumlichen Beschränkungen: zum Beispiel Sieben-Minuten-Stoppuhr oder Drei-Minuten-Zeiträume. Manchmal bitten wir auch jemanden von außen, Stichworte als Thema, als Aufgabe einzuwerfen. Oder wir haben improvisiert und ich habe gesagt: Das war jetzt »Operation am offenen Herzen«. Oft blieb das der Titel für die Sequenz, auch wenn sie sich zu etwas ganz anderem entwickelt hat. Klein Woran orientiert Ihr Euch, wenn ihr jeweils mit Tänzer/innen oder Musiker/innen improvisiert? Machnik Es hat etwas mit der Situation zu tun. Ob ich mich entscheide, kontrapunktisch zu arbeiten oder in Zusammenhang mit dem, was auf der Bühne passiert, wobei dieser unmittelbar oder mittelbar sein kann. Ich orientiere mich an bestimmten Parametern, eher im Sinne einer Stimme als dass ich Bewegung akustisch visualisiere. Wenn eine Synchronität mit der Bewegung zufällig hergestellt wird, kann ich Kontra-

Anna Huber & Hubert Machnik punkte setzen, die dann als selbstständige Stimme ihren Weg findet, ohne dass sie mit einer bestimmten Bewegungssequenz korrespondieren muss. Diese Freiheit, mich zur Bewegung zu positionieren, nehme ich mir. Deshalb interessiert mich die Zusammenarbeit mit Tänzern. Klein Das heißt, Du stellst Dir eine Zusammenarbeit mit Tanzenden nicht intuitiv oder im Muster von Actio – Reactio vor, sondern konzeptionell? Machnik Zuerst ja. Ich arbeite an einem bestimmten Vokabular und später mit diesem im Zusammenspiel zwischen Choreograf, Tänzern und dem Raum. Klein Anna, wie arbeitest Du mit Musik? Nach bestimmten Prinzipien? Huber Ich agiere auf verschiedenen Ebenen. Konzeptionell, strukturell, intuitiv, atmosphärisch und in direktem Dialog mit dem Musiker. Oder ich nehme eine spezielle Qualität auf, zum Beispiel eine Klangqualität, die ich in Bewegungsqualitäten umsetze bzw. der ich etwas entgegenstelle. Oder die funktionale Bewegung des Musikers inspiriert mich zu spezifischen Bewegungsrecherchen. Es kann auch sein, dass ich kontrastierend reagiere. In der Improvisation würde ich keine Möglichkeit ausschließen. Machnik Für mich gibt es eine Wertigkeit, auch in der Improvisation. Und diese orientiert sich an einer bestimmten Methode. Klein Ist dies der Unterschied zwischen Euch: eine Position zu finden und einzunehmen oder die Improvisation möglichst offen zu gestalten? Huber Es ist ein Unterschied, ob es um reine Improvisation geht oder um Improvisation, die in Bezug zu einem Stück steht. Ob es also darum geht, in einem Probenprozess Material zu generieren oder ob Improvisation in der Aufführung stattfindet. Dann lässt die Live-Situation noch Offenheit und Spiel und gegenseitige Überraschung zu. Das interessiert mich immer mehr: mir auch in einem klar strukturierten Stück, wo der Ab-

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252 Interviews lauf festgelegt ist, Freiheiten vorzubehalten, es aufzubrechen, so dass jede Aufführung tatsächlich anders ist. Machnik Darum geht es mir auch. Ich suche nach Präzision und will trotzdem die Freiheit behalten. Klein Ich würde gern auf den Probenprozess zu sprechen kommen. Wie gestaltet sich dabei die Zusammenarbeit zwischen Tänzer/innen und Komponisten bzw. Musikern und Choreograf/in? Machnik Wenn man als Komponist am gesamten choreografischen Prozess beteiligt ist und nicht nur zu den Proben kommt, bei denen Musik gebraucht wird, läuft der Austausch oft implizit. Ich beobachte den tänzerischen Prozess. Ich sehe, wie die Tänzer bestimmte Dinge verhandeln. Und sie hören das musikalische Material, an dem ich arbeite. Die reine Anwesenheit während des Prozesses, während des Produzierens ist deshalb wichtig. Klein Wie arbeitet man denn zusammen, wenn man räumlich getrennt ist, zum Beispiel die eine in Frankfurt, der andere in Bern lebt? Machnik Entscheidend sind das konzeptionelle Vordenken, das im Vorfeld jeder Produktion geleistet werden muss, und der ständige Austausch zwischen den Beteiligten. Man schreibt sich Emails, sammelt seine Mittel, lässt Ideen zirkulieren, diskutiert und nährt die Bereitschaft zu ändern, wenn man vor Ort ist. Huber Für mich ist der persönliche Austausch wichtig. Ich will zu Beginn nichts eingrenzen, ich möchte einen offenen Prozess. Den kann ich nur begrenzt in Emails packen. Allerdings fordert der schriftliche Austausch eine Präzisierung und klarere Formulierung der Ideen. Das kann gerade unter Zeitdruck sinnvoll sein. Klein Wie entsteht durch die Zusammenarbeit von Musik und Tanz ein Narrativ? Machnik Eine Geschichte erzählen – geht das mit Ausdrucksformen, die sich hauptsächlich mit der Zeit beschäftigen? Mit dem Vergehen der Zeit? Huber Es muss ja nicht eine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende sein. Es können auch Assoziationen sein.

Anna Huber & Hubert Machnik Klein Ein Narrativ wäre ja nicht nur das Erzählen einer Geschichte, sondern auch der Akt des Erzählens selbst, die Ausführung, die performative Hervorbringung. Der Akt des Erzählens kann also eine Geschichte konstituieren, die sich aber in der Wahrnehmung des Zuschauers ereignet. Ähnlich wie beim Rhythmus, wo eine abstrakte Form wie eine Erzählung wahrgenommen werden kann. Genauso kann das Zusammenspiel von Musik und Tanz ein Narrativ erzeugen, indem man zum Beispiel den Dialog als Beziehungs- oder Geschlechterkonflikt wahrnimmt. Gibt es diese narrativen Elemente in der Musik? Machnik Sehr viele konkrete Geräusche haben das oder Akkorde, die man aus anderen Kontexten kennt, zum Beispiel aus der Filmmusikgeschichte. Sie können Assoziationen hervorrufen, müssen es aber nicht. Wenn ich eine Audio-Installation für einen spezifischen Raum mache, kommt es darauf an, wie sie sich zu diesem Ort verhält. Zum Beispiel, indem ich bestimmtes Material verwende, das ich zur Klangerzeugung benutze. Wenn ich mit einer Trommel einen Marschrhythmus spiele, dann ist das ein erkennbares Zitat in der Musik, das genau auf dieses narrative Element hinweisen soll. In »Reportable Portraits« (mit Kattrin Deufert und Thomas Plischke, 2007) gibt es eine Szene, in der Benjamin Schoppmann Akkordeon spielt. Die Aufnahme liegt auf den Lautsprechern die hinter dem Publikum platziert sind. Man denkt zunächst, ein Zuschauer würde laut reden. Er erklärt, was er alles mit dem Akkordeon machen kann, zum Beispiel wie er Geräusche mit Fingern auf dem Gehäuse und tonlose Luftgeräusche erzeugt, wie es klingt, wenn er einfach spielt usw. Die Szene erklärt eine bestimmte Technik, die nicht unbedingt etwas mit dem Prozess zu tun hat, aber trotzdem ein Verweis darauf ist, dass wir eigentlich an etwas arbeiten, das eine körperliche, akustische und auch eine erinnernde Materialität hat. Es wird in einer vermeintlich eindeutigen Theaterkonstruktion ein Fenster aufgemacht nach draußen. Es ist ein Bruch, aber nicht im Sinne eines Störelements, sondern eher als Eröffnen einer Perspektive. Huber Ich finde die Metapher des Fensteröffnens schön. Die eigenen Regeln durchbrechen, einen Stilbruch im eigenen Kosmos initiieren, unterschiedliche Perspektiven ermöglichen. Das ist bereichernd, wenn die Strukturen klar und präzise sind.

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254 Interviews Interkulturalität Ein Gespräch mit Jochen Roller 6 Gabriele Klein Du bist weltweit viel unterwegs und machst viele Projekte im Ausland. Wir wollen uns über Deine Erfahrungen unterhalten, die Du als Tänzer, Lehrer und Choreograf in anderen Kulturen gesammelt hast. Fangen wir mit der Sprache an, die ja das zentrale Verständigungsmedium ist. Wenn Du in Ländern gearbeitet hast, deren Sprache Du nicht sprichst, wie arbeitest Du dann? Jochen Roller Manchmal mit Hilfe einer Übersetzerin, wie zum Beispiel in Costa Rica, wo Monica Antezana, eine aus Bolivien stammende und in Hamburg lebende Choreografin, übersetzt hat. Das war einfach, weil sie meine Arbeit kennt und selbst als Choreografin tätig ist. Anders war es in Moskau. Dort hatte mich eine Tanzorganisation für einen Workshop engagiert. Die Übersetzerin war selbst Tänzerin und sie hat so übersetzt, wie es für sie vor dem Hintergrund ihres Tanzwissens Sinn gemacht hat. In ihrer Übersetzung lag aber eine Sinnverschiebung. Sie war es zum Beispiel vor dem Hintergrund ihrer klassischen Ballettausbildung nicht gewohnt, dass die Tänzer Bewegungen selbst choreografieren. Entsprechend hat sie den Teilnehmenden immer gesagt, sie sollen mir alles nachmachen. Nachdem ich begriffen hatte, dass die Teilnehmer meine Aufgaben nicht durchführen, weil sie eigentlich eine andere Aufgabe gestellt bekommen, habe ich dann ohne Übersetzerin weiter gearbeitet. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich praktisch ohne Sprache unterrichten kann. Die Tänzer konnten kein Wort Deutsch und ich kein Wort Russisch. Ich habe ihnen dann alles über Gesten und Bewegungen erklärt und mit Hilfe von wenigen Worten wie »okay« oder »not good«. Dies war in dieser Weise vielleicht auch so möglich, weil es sich nicht um einen längeren choreografischen Prozess, sondern nur um einen Workshop handelte. Klein Würdest Du behaupten, dass man sich allein über Bewegung und Tanz verständigen kann? Roller Ich würde eher sagen, dass das über Gestikulieren läuft, nicht über Bewegungssprache. Und dieses Gestikulieren

Jochen Roller ist mitunter sehr kryptisch. Wie kann man jemandem ohne Worte erklären, nicht alle Bewegungen zum Spiegel hin auszuführen? Klein Wie hast Du die Bewegungsaufgaben gestellt? Roller Mit Hilfe anderer Medien, unter anderem über Aufmalen. Zum Beispiel habe ich eine einfache Aufgabe gestellt, den eigenen Namen zu tanzen. Jeder schrieb seinen Namen auf ein Blatt und wählte einen Buchstaben aus, zum Beispiel den ersten des Nachnamens, also bei mir ein r. Die Aufgabe ist es, diesen Buchstaben in drei verschiedene choreografische Formen zu übersetzen: beim r also die Aufwärtsbewegung, die runde Bewegung oben und die Schrägbewegung nach unten. Klein Aber auch hier bleibt die Frage, die die Theorie der kulturellen Übersetzung stellt, bestehen. Wird der Sinn der Aufgabe verstanden? Und: Wie gehst Du mit dieser Ungewissheit um, nicht zu wissen, was verstanden wird? Kannst Du dies choreografisch nutzen? Roller Es ist für mich als Choreograf ja gerade interessant, dass oft etwas anderes entsteht, als ich eigentlich wollte. Klein Dies ist ja nicht nur ein Phänomen kultureller Übersetzung, sondern passiert wahrscheinlich auch mit Tänzer/innen, die eine vergleichbare Tänzerbiografie haben. Gibt es noch einen Unterschied in dieser Produktivität des Unvorhersehbaren mit Tänzer/innen anderer Kulturen? Roller Es gibt mehr Missverständnisse. Nehmen wir nochmals die Aufgabe, den eigenen Namen zu choreografieren. Aufgrund der dominanten Tanztradition in Russland fanden die russischen Teilnehmer die Aufgabe erst einmal absurd. Auch die Vorstellung, an einer geometrischen Form entlang zu tanzen, haben sie pantomimisch und nicht choreografisch gedeutet. Klein Hast Du die Erfahrung einer Unübersetzbarkeit gemacht, dass bestimmte Tanzästhetiken, Stile, Techniken oder Bewegungsaufgaben in andere kulturelle Kontexte nicht übertragbar sind? Roller Ja, nehmen wir das für zeitgenössische Choreografie legitime Prinzip der Regelbrechung. Demnach gehört es zum

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256 Interviews choreografischen Handwerk des westlichen Tanzes, Ordnungen zu unterlaufen, aus einer Ordnung, einem System etwas anderes zu entwickeln. Diese Vorstellung gibt es zum Beispiel als kulturelles Muster in Singapur so nicht. Dort herrscht die Vorstellung vor, dass man einem System, zum Beispiel einer Tanztechnik folgen muss. In der Kultur Singapurs ist das Verständnis von Tradition ein Anderes. Im pazifischen Raum wiederum herrscht in einigen Kulturen ein völlig anderes Kulturverständnis, nämlich, dass Tradition sich permanent verändern muss, damit sie lebendig bleibt. Hier sind Anknüpfungen an meine Arbeit sicherlich leichter herzustellen. Klein Du hast auch als Tänzer in Produktionen mitgearbeitet, die Interkulturalität thematisieren, zum Beispiel in der Produktion »Logobi« von Monika Gintersdorfer, die sie seit 2009 entwickelt. »Logobi« ist eine Serie von Choreografien, bei der im westlichen zeitgenössischen Tanz ausgebildete Tänzer mit Franck Edmond Yao, einem Tänzer der Elfenbeinküste, zu einem kulturellen Dialog über die verschiedenen Auffassungen, Techniken und Stile von Tanz zusammenkommen. Roller Bei »Logobi« gibt es zwei Performer. In der Probe haben wir drei Tage geredet, Thesen ausgetauscht und entwickelt und am Tag der Aufführung hat Monika gesagt: Ich will jetzt die Thesen x, y, z auf der Bühne sehen. »Logobi« ist bei jeder Aufführung anders. Ich hatte ziemlich Angst davor, weil ich ansonsten in meinen Stücken einen auswendig gelernten Text habe und die Choreografie als Skript. Es ist also exakt wiederholbar. Dass dies bei »Logobi« nicht so ist, ist der ivorischen Kultur geschuldet, aus der Franck stammt. Es gibt dort keine Skripte, sondern immer neue Kompositionen und damit auch Improvisationen. Klein Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede habt Ihr entdeckt? Roller Ein wichtiger Unterschied ist, dass – anders als in Francks Kultur – meine Kultur zwischen U- und E-Kultur trennt und Franck nach unserem Kunstverständnis in der UKultur verwurzelt ist. Ich arbeite zwar nicht viel anderes als er, dies gilt aber in unserer Kultur als E-Kultur, weil meine choreo-

Jochen Roller grafische Arbeit nicht in einem Nachtclub, sondern auf einer staatlich subventionierten Bühne erscheint. Deshalb war auch die zentrale These von »Logobi #04«, dass das Verständnis von Tanz kontextuell gebunden ist. Klein Diese These bedeutet, dass Tanz nicht, wie so oft unterstellt, eine universelle Sprache ist, dass er also nicht überall verständlich ist? Roller Jede Tanzkultur ist anders. Eine Geste zum Beispiel kann in unterschiedlichen Tanzkulturen etwas ganz Verschiedenes bedeuten. Selbst innerhalb einer Kultur müssen Tanzstile, Tanzästhetiken oder choreografische Konzepte nicht unbedingt verstanden werden. Klein Die Gründe für die unterschiedlichen Sichtweisen könnten in verschiedenen Körperkonzepten, Geschlechterkonzepten, kulturellen Bewegungstraditionen oder auch Wissensbeständen über Tanz liegen. Welche Rolle spielt die erlernte und habitualisierte Körperund Tanztechnik? Roller Technik ist immer ein Hindernis, vor allem dann, wenn sie wie eine Institution daherkommt. In verschiedenen Kulturen gibt es unterschiedliche Selbstverständnisse in Bezug auf Tanztechnik und die Möglichkeit, mit diesen Techniken zu brechen. Während dies in Europa selbstverständlich passiert, ist das in Südostasien schon kritischer, weil es als Respektlosigkeit der Tradition und damit den Vorfahren gegenüber angesehen werden könnte. Klein Wie würdest Du mit Menschen arbeiten, die unterschiedliche kulturelle Körpersozialisationen haben? Die zum Beispiel diese feinmotorischen Bewegungen wie das Augenrollen im balinesischen Tanz gelernt haben, also eine Technik, die nicht nur eine diffizile Tanztechnik ist, sondern ein über Jahrhunderte überlieferter kultureller Code? Wie fließt dieses Fremde, das man allein motorisch als Mitglied einer anderen Kultur nicht erlernen kann, in Deine Arbeit ein? Roller Ich würde niemals behaupten, dass ich die Virtuosität des Augenrollens erlernen könnte, wie es in manchen asiatischen Tänzen gemacht wird. Mich würde interessieren, wie

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258 Interviews man es einsetzen kann, so dass zum Beispiel durch Addition mit Bewegungen aus einer anderen Kultur neue Bedeutung generiert werden kann. Zum Beispiel, wie bei »Logobi«, im Dialog: Man erklärt sich gegenseitig, was man macht, und man überlegt sich, wie man das arrangieren kann, sodass es in beiden Kulturen Sinn macht. Man könnte daraus auch eine Spielform, zum Beispiel einen Battle entwickeln. Wir würden allein durch das Format etwas Neues gestalten. Klein Beschäftigst Du Dich mit den dortigen Körper- und Tanzkulturen, bevor Du in anderen Ländern, ob in Russland, Neuseeland, Costa Rica oder im Libanon, arbeitest? Roller Ich habe mich nie erkundigt, welche körperlichen Fertigkeiten die Teilnehmer haben. Ich habe immer in der Arbeit mit ihnen herauszufinden versucht, welche Körperkonzepte sie haben und was sie künstlerisch interessiert. Ein gutes Verfahren ist meiner Erfahrung nach Authentic Movement: Ich gebe den Teilnehmenden zehn Minuten Zeit, sich zu bewegen und die anderen zu beobachten. Dabei sieht und lernt man sehr viel. Klein Welche Rolle spielen die Arbeitsbedingungen? Roller Eine zentrale Rolle. In Costa Rica zum Beispiel hatte die Studiobühne, auf der wir geprobt haben, kein Dach. Dementsprechend war die Probe beendet, wenn es anfing zu regnen. Und es war unheimlich heiß. Das verändert das körperliche Befinden und die Arbeit. Wenn wir in dem klimatisierten Ballettsaal der Oper geprobt hätten, wäre wahrscheinlich etwas anderes entstanden. Klein Du bist mit westlichen zeitgenössischen Formen von Tanz und Choreografie vertraut. Du arbeitest in Ländern, die die Tanzgeschichte der westlichen Avantgarden nicht kennen. Man könnte diese Form des Kulturexports ja als eurozentristische Politik betrachten, als eine Form postkolonialer Politik. Wie gehst Du damit um? Roller Für mich ist wichtig, dass man sich auf Augenhöhe trifft. Klein Klingt wie ein Ausspruch eines Politikers. Wie ist Augenhöhe möglich?

Jochen Roller Roller Augenhöhe heißt für mich erst einmal, dass ich, wenn ich in eine andere Kultur gehe, so tue, als ob ich nichts weiß. Ich lasse mir etwas vorführen und dann führe ich etwas vor. Ich behaupte nicht, dass meine Tanzkonzepte besser und fortschrittlicher sind. Klein Auf Augenhöhe treffen meint also: Materialien zusammenführen und etwas Gemeinsames entwerfen? Roller Ich mache es auch so, weil ich es künstlerisch interessanter finde. Gehen wir mal davon aus, ich sehe irgendwo einen emotional expressiven Ausdruckstanz, etwas, das erstmal so gar nicht mein choreografisches Ding ist. Dann würde ich fragen: Kannst du das noch mal machen? Und ich würde zum Beispiel eine andere Musik dazu einlegen. Wir schauen dann gemeinsam: Funktioniert die expressive Bewegung auch zu anderer Musik? Wie verändert sie sich? Die Frage, ob ich das kulturell darf, interessiert mich dabei nicht. Tanzkultur hat für mich wesentlich mit Teilen und Entwickeln zu tun. Da lasse ich nicht mit mir diskutieren, auch wenn das in anderen Kulturen anders ist. Klein Ein anderer Weg, den manche Choreografen wählen, wäre, das eigene Material auf Tänzer zu übertragen, wie es nicht nur mit vielen Ballettchoreografien geschieht, sondern auch, wenn westliche Choreografen ihre Ästhetik oder ihr choreografisches Konzept auf Tänzer anderer Kulturen übertragen. Roller Dieses Vorgehen finde ich für mich undenkbar, weil es das eigene Material als so wichtig erachtet, dass man es jemand anderem als Geschenk mitbringt und dabei das Material des Anderen nicht ebenso als Geschenk ansieht. So würde ich nicht arbeiten wollen. Mir geht es darum, etwas gemeinsam zu gestalten. Zum Beispiel durch die Verbindung von balinesischer Ästhetik und westlichen zeitgenössischen Formen etwas Neues entstehen zu lassen, ohne dass dieses Neue wie ein lauwarmer Kompromiss aussieht. Klein Das Neue in diesem Sinne bedeutet auch immer Grenzüberschreitung und Tabubruch.

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260 Interviews Roller Ich habe den Workshop-Teilnehmern in Singapur die Aufgabe gestellt, jemanden auf der Straße zu verfolgen und aus dessen Bewegungssprache Bewegungen zu sammeln. Aber sie sind im Studio sitzen geblieben und haben gekichert. Erst allmählich habe ich bemerkt, dass es nicht darum ging, dass sie die Aufgabe nicht verstanden haben, sondern dass es dort ein Tabu ist, jemanden zu verfolgen. Und dann fordere ich sie heraus und versuche, sie dazu zu bringen, es zu machen. Klein Aber wenn es ein gesellschaftliches Tabu ist in ihrer Kultur, jemanden zu verfolgen, sollten sie es denn dann machen? Roller Jedes Aufeinandertreffen zwischen Kulturen birgt Gefahren in sich. Aber die Globalisierung lässt sich nun mal nicht wieder zurückdrehen.

261

Verweise Einleitung 1 s. dazu Essay Zeitgenössische Choreografie Essay 1 www.corpusweb.net/archivzunge-10.html 2 ebd. 3 ebd. 4 ebd. 5 ebd. 6 Foucault 1993 7 vgl. Singer 1959 8 Arbeau 1989 9 vgl. Jeschke 1996 10 vgl. Haitzinger 2009 11 vgl. Weaver 1721 12 vgl. Jeschke 1996; Huschka 2008 13 vgl. Brandstetter 2009; Haizinger 2009 14 Diderot, Denis / Alembert, Jean Baptiste le Rond d’: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd.7, 1988, S. 651 15 vgl. Dahms 2010 16 vgl. Klein 1994, 109ff. 17 vgl. Levinson 1992 18 Fischer-Lichte 1998, 1ff. 19 Fuchs 1909, 95 20 vgl. Dempster 2008 21 vgl. Klein/Friedrich 2010; Klein 2009a 22 Foucault 1999, 412 23 vgl. Bel 2008, 48 24 vgl. Lessing 1972 25 Bel 2008 26 Kunst 2009 27 vgl. Klein 2004 28 vgl. Lepecki 2008 29 vgl. Lepecki 2008 30 vgl. Lepecki 2007

262 Verweise 31 Husemann, 2009 32 Sloterdijk 1989, 25 Interviews 1 Das Gespräch fand am 18.1.2009 in Berlin statt. Martin Nachbar ist Mitbegründer des Kollektivs B.D.C./Plischke und arbeitete als Tänzer mit renommierten Kompanien wie Les ballets C. de la B., Vera Mantero und Meg Stuart, Thomas Lehmen and Joachim Schlömer. Seit 2004 produzierte er zahlreiche Stücke, darunter das Solo »Verdeckte Ermittlung« (2004), »mnemonic nonstop« (2005 mit Jochen Roller), »Repeater – Tanzstück mit Vater« (2007), »Urheben Auf heben« (2008), »one shared object profit&loss« (2009 mit Martine Pisani). 2 Das Interview fand am 26.10.2008 in Hamburg statt. Nik Haffner war von 1994 bis 2000 Tänzer der William Forsythe Company. In dieser Zeit arbeitete er auch an der Entwicklung und Publikation der cdrom »Improvisation Technologies«. Heute realisiert er als freischaffender Tänzer und Choreograf Bühnen-, Film- und Installations-Projekte wie »Procession« (2004), »Subtitles« (2006, in Zusammenarbeit mit Christina Ciupke) und »Unaccompanied« (2008, in Zusammenarbeit mit Anna Williams). Als Gastdozent arbeitet er an Ausbildungsorten wie p.a.r.t.s. / Brüssel und dem Laban Centre London. Seit 2008 ist er Direktoriumsmitglied und Gastprofessor am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (hzt) Berlin. 3 Das Gespräch fand in Hamburg am 11.12.2009 statt. Jonathan Burrows war Tänzer des Royal Ballet, bevor er 1991 die Jonathan Burrows Group gründete und Stücke wie »Stoics« (1991) und »The Stop Quartet« (1996) produzierte. In den letzten zehn Jahren lag der Schwerpunk seiner Arbeit auf One-to-one-Kollaborationen mit anderen Künstlern, z.B. »Weak Dance Strong Questions« (2001, mit Jan Ritsema) und bislang fünf Stücke mit dem Komponisten Matteo Fargion. 2004 erhielten Burrows und Fargion den New York Dance and Performance ›Bessie‹ Award für »Both Sitting Duet« (2002). Burrows war Gastprofessor an der Universität Hamburg, der FU Berlin und der Royal Holloway University London. 4 Das Gespräch fand am 18.11.2009 in Hamburg statt. Thomas Kampe arbeitet seit Anfang der 1980er Jahre als Tänzer und Choreograf in Deutschland und England. Er choreografierte zahlreiche Arbeiten wie »Amen« (2009), »Dybbuk« (2010) und ortsspezifische Perfor-

263 mances wie »Urban Rituals« (2003), die international präsentiert wurden. Er ist weltweit als Lehrender tätig und arbeitet als Associate Professor an der London Metropolitan University. 5 Das Gespräch fand am 10.4.2010 in Hamburg statt. Anna Huber studierte u.a. bei Saburo Teshigawara, Susanne Linke und Meg Stuart. Nach Engagements als Tänzerin begann sie 1993 mit ihrer Arbeit als Choreografin. Im Rahmen ihrer choreographischen Recherche entstanden Solostücke wie »in zwischenräumen« (1995), Zusammenarbeiten wie die ortsspezifische Performance »umwege« (2002, mit dem Perkussionisten Fritz Hauser), »tasten« (2010, mit dem Klavierduo Huber/Thomet) und »Aufräumarbeiten im Wasserfall« (2011, mit dem Bildenden Künstler Yves Netzhammer). Sie war 2007 Valeska-Gert-Gastprofessorin am Institut für Theater wissenschaft der fu Berlin. Seit 2007 ist sie Artist-in-Residence in der Dampfzentrale Bern. Huber ist Trägerin des Hans-ReinhartRings sowie des Schweizer Tanz- und Choreografiepreises 2010. Hubert Machnik ist Komponist und Gitarrist. Er spielte in verschiedenen Ensembles und Orchestern, vorwiegend Neue Musik. 1981–1989 war er Mitglied im Ensemble Modern. Er komponiert Klavier- und Kammermusik, Musik für Bühne, Tanz, Film und audiovisuelle Installationen, Computermusik, elektronische Musik und »Radiostücke«. Machnik arbeitete zusammen u.a. mit Heiner Goebbels, den Berliner Philharmonikern, Blindman Saxophonquartett, Deufert/Plischke, Anouk van Dijk Dance Company, Richard Siegal und der William Forsythe Company. Er lehrte an verschiedenen Einrichtungen, zuletzt als Gastprofessor der Universität Gießen. 6 Das Gespräch fand am 12.5.2010 in Hamburg statt. Jochen Roller arbeitet als Choreograf, Tänzer und PerformanceKünstler. Seit 1997 hat er eine Vielzahl von Tanz- und Performanceprojekten realisiert wie die Solo-Trilogie »perform performing« (2002–2004), »Around the world« (2002), »mnemonic nonstop« (2005, zusammen mit Martin Nachbar) und Void (2010). Roller kuratierte das saisonale Tanzprogramm von Kampnagel/Hamburg (2007–2010). Mit Monica Antezana arbeitet er derzeit an dem Musical »(For here or to go?) Der Carpenter-Effekt«.

264 Verweise

Generierung 1 z.B. Milli Bitterli »Die Verschleuderung des Ich« (2006) 2/3 z.B. William Forsythe »Improvisation Technologies« (2003) 4 z.B. Christine Gaigg »Adebar / Kubelka« (2003) 5 z.B. Antje Pfundtner »Nach jemandes Geige tanzen« (2009) 6 z.B. Christina Ciupke, Nik Haffner »dealing with life« (2008) 7 z.B. Jo Fabian »Independent Swan. Eine WahnVorstellung« (2009) 8 z.B. Anna Huber, Fritz Hauser »handundfuss« (2006) 9 z.B. Filip van Huffel »Antipode« (2009) Formgebung z.B. Christine Gaigg »Trike« (2004) z.B. Phillip van der Heijden »Building Bodies« (2009) z.B. Trisha Brown »Accumulation« (1971) vgl. Jeschke/Rick 1999 z.B. Martin Nachbar, Jochen Roller »Mnemonic Nonstop« (2005) 6 z.B. Emio Greco «Notation Research Project« und Workshop »Double Skin/Double Mind« (2004–2007) 7 z.B. Nik Haffner, Bernd Lintermann, Thomas McManus »Time Lapses« (2000–2003) 1 2 3 4 5

1 2 3 4

Spielweisen vgl. Deufert/Noeth/Plischke 2009 z.B. Deufert/Plischke »Reportable Portraits« (2007) z.B. Richard Siegal »if/then Septet« (2007) z.B. Xavier Le Roy »Project« (2003)

Zusammenarbeit 1 z.B. Sweet and Tender »Treffen Total« (2010) 2 z.B. Plattform »www.thebakery.org« (März 2011)

265

Komposition 1 vgl. Impersonation Game: www.everybodystoolbox.net (März 2011) 2 Martin Nachbar, Jochen Roller »Mnemonic Nonstop« (2005) 3 Jonathan Burrows, Matteo Fargion »Both Sitting Duet« (2002) 4 Anne Teresa De Keersmaeker »Fase, four movements to the music of Steve Reich« (1982) 5 J.U. Lensing, Jacqueline Fischer, Thomas Neuhaus, Falk Grieffenhagen »Suite intermediale« (2010) 6 Nik Haffner »Unaccompanied« (2008) 7 Philipp Gehmacher und eingeladenene Choreograf/innen »Walk + talk« (2008) 8/9 Martin Nachbar »Urheben Aufheben« (2008) 10 Jochen Roller »perform performing, Teil 1: no money, no love« (2002) 11 Sidi Larbi Cherkaoui »Babel(words)« (2010) 12 Intermedialitäten, die sich auf digitale Medien beziehen und mit Computerverfahren wie Motion Capturing arbeiten, sind in diesem Baukasten nicht bearbeitet. 13 Jo Fabian »realtime.compiler« (2006) 14 J.U. Lensing, Jacqueline Fischer, Thomas Neuhaus, Falk Grieffenhagen »Suite Intermediale« (2010) 15 Hubert Machnik »empty rooms/leere räume« (2000) 16 Anna Huber, Fritz Hauser »Umwege« (2002), Station U-Bahnhof Potsdamer Platz, Berlin 17 She She Pop »Für alle« (2006) 18 Deufert / Plischke »anarchiv #2: Second Hand« (2010) 19 She She Pop »Warum tanzt ihr nicht?« (2004) 20 William Forsythe »You made me a monster« (2005) 21 Thomas Lehmen »In all languages« (2006) 22 Forced Entertainment »Quizoola« (1996) 23 Jérôme Bel »Pichet Klunchun and Myself« (2005)

266 Literatur

267

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278 Praxiskarten Das Findenund undder Entwickeln Leporello Bewegungsanalyse von Bewegungsmaterial kann Zwecken dienen:des derVerlages Materialsammlung | können unterschiedlichen kostenlos über die Website Forschung |werden der Integration der Bewegungsder künstlerischen abgerufen und heruntergeladen (www.transcript-verlag.de/choreografie). eigenheiten der Beteiligten in die Choreografie | der Vorberei–› Choreotung oder der Durchführung einer Echtzeit-Kompositionπ, bei grafieren als Spiel der sich Generierung und Komposition von Bewegungsmaterial zeitgleich vollziehen. –› Dramaturgie

Bewegungsgenerierung kann mit vielfältigen Arbeitsweisenπ und auf verschiedenen Wegen erfolgen: Eine Person oder mehrere generieren Bewegungsmaterial unter der Anleitung einer Choreografin | Ein Choreograf erarbeitet Bewegungsmaterial und führt es in der Choreografie selbst aus oder überträgt es auf andere Personen | Eine Choreografin findet Bewegungsmaterial für eine andere Person und berücksichtigt deren individuelle Fähigkeiten bei der Bewegungsgenerierung. Das in diesem Modul generierte Bewegungsmaterial kann mit Tools zur Formgebung und Komposition weiter bearbeitet werden.

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