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German Pages [749] Year 2021
Markus Witte
Das Buch Hiob
Das Alte Testament Deutsch Neues Göttinger Bibelwerk herausgegeben von Reinhard Gregor Kratz und Christoph Berner
Band 13
Das Buch Hiob
Vandenhoeck & Ruprecht
Das Buch Hiob Übersetzt und erklärt von Markus Witte
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat: Felicitas Sedlmair Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-51643-6
Vorwort Diese alte ehrwürdige Pyramide steht im Ganzen unnachgeahmt da und ist vielleicht unnachahmbar. (Johann Gottfried Herder, 1782/1787)1
Im Sommersemester 1987 hatte mir der Erlanger Alttestamentler Ernst Kutsch (1921–2009) als seiner damaligen studentischen Hilfskraft die Erstellung einer aktuellen Bibliographie zum Buch Hiob anvertraut. Sie sollte in seine Kommentierung des Hiobbuches im Biblischen Kommentar einfließen, die er nach dem Tod seines Lehrers Friedrich Horst (1896–1962) ab Kap. 19 hatte fortsetzen wollen. Ich ahnte damals nicht, welchen Einfluss diese bibliographischen Recherchen auf meinen weiteren theologischen Weg haben sollten. Es folgten Besuche von Hiobseminaren bei Ernst Kutsch in Erlangen und bei Otto Kaiser (1924–2018) in Marburg, der dann auch meine Dissertation über den dritten Redegang im Hiobbuch (Vom Leiden zur Lehre, 1994) anregte und betreute. Seither ist mein wissenschaftliches Gespräch mit dem Hiobbuch nicht mehr abgerissen, auch wenn es häufig aufgrund anderer Verpflichtungen weniger intensiv geführt werden konnte. In dieses fortwährende Gespräch sind Lehrveranstaltungen, die ich zunächst an der Goethe-Universität Frankfurt/M., dann an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten habe, ebenso eingeflossen wie meine Erfahrungen während des Vikariates in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und mein fachlicher Austausch mit Doktorandinnen, Kollegen und Kolleginnen im In- und Ausland. Der vorliegende Kommentar spiegelt dieses jahrzehntelange Gespräch wider, vor allem auch mit der antiken griech. Hiobübersetzung, die in die Septuaginta eingegangen ist.2 Er trägt dementsprechend viele Spuren seines langen Wachstums, darin vielleicht nicht unähnlich dem Hiobbuch, das selbst nicht in einem Zuge geschrieben wurde. Dass dieser Kommentar, den ich an sich schon vor geraumer Zeit hatte fertigstellen wollen, trotz steter Beanspruchungen in der Lehre, der akademischen Selbstverwaltung und der Einwerbung von Drittmitteln nun endlich erscheinen kann, verdanke ich vielfältiger Unterstützung: – der zweimaligen Gewährung eines besonderen Forschungsfreisemesters seitens der Humboldt-Universität zu Berlin, wovon ich das eine für die Veröffentlichung meiner gesammelten Studien zum Buch Hiob nutzen konnte, die 2018 unter dem Titel Hiobs viele Gesichter erschienen sind, – dem beständigen Einsatz meiner studentischen Hilfskräfte und wissenschaftlichen Mitarbeiter beim Beschaffen von Sekundärliteratur und beim 1 2
Herder, Geist (zitiert nach der Ausgabe von Suphan, 311). Vgl. dazu meine Beiträge im Handbuch zur Septuaginta (LXX.H).
VI
Vorwort
Lesen der Korrekturen, unter ihnen seien besonders genannt Ruben Burkhardt, Veronika K. Einmahl und Lucas Müller sowie Dr. Brinthanan Puvaneswaran und Dr. Philipp Brandenburg, – der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die Mittel für eine siebenmonatige Anstellung eines zusätzlichen wissenschaftlichen Mitarbeiters zur Verfügung stellte, – meiner Familie, die vielfach mein Ringen mit Hiob ertragen oder auffangen musste: meiner Tochter und meinem Sohn, die mich einst mit kindlichen Fragen zu Hiob herausforderten und mit Zeichnungen zu Hiob verblüfften und schließlich meine Deutungen kritisch mit mir diskutierten, und meiner Frau, die mir immer wieder nahebrachte, was eine Pfarrerin von einem Hiobkommentar erwarte, und die unermüdlich Korrektur gelesen hat. Allen genannten Personen und Institutionen sei herzlich gedankt. Ohne sie gäbe es das vorliegende Werk nicht. Den Verlagen, in denen frühere Arbeiten von mir zum Hiobbuch erschienen sind (de Gruyter, Gütersloher Verlagshaus, Mohr Siebeck) danke ich dafür, dass ich einzelne Passagen für diesen Kommentar wieder verwerten durfte. Schließlich danke ich dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und den Herausgebern des Alten Testaments Deutsch dafür, dass sie mir am Rande der Feierlichkeiten des 75. Geburtstages von Otto Kaiser in der Alten Aula der PhilippsUniverstät Marburg die Kommentierung des Hiobbuches übertragen haben, dass sie an dem Verlagsvertrag festgehalten haben, auch als ich das vereinbarte Abgabedatum längst überschritten hatte, und dass sie das Lektorat, die Satzerstellung sowie die verlegerische Betreuung in die guten Hände von Felicitas Sedlmair, Christoph Spill, Renate Rehkopf und Izaak de Hulster gelegt haben. Das Manuskript des Kommentares war im Wesentlichen im März 2020 abgeschlossen. Das Lektorat, die Vorbereitung des Satzes, die Überprüfung aller Belegstellen und bibliographischen Angaben sowie punktuelle inhaltliche Ergänzungen erfolgten während der schweren Zeit, da zur Eindämmung der Corona-Pandemie Bibliotheken, Universitäten und Schulen geschlossen waren, der akademische Unterricht digital durchgeführt, Kinder zu Hause beschult und Verlagsarbeit im „Homeoffice“ erledigt werden mussten. Ich habe bewusst darauf verzichtet, in diesem Kommentar, der auf das Verstehen des Hiobbuches in seinen historischen Kontexten zielt, aktuelle Bezüge einzuflechten. Die Erfahrungen von Krankheit und Sterben, von individuellem, kollektivem und strukturellem Leid, von wirtschaftlichen Zusammenbrüchen und gesellschaftlichen Verwerfungen, von Isolation und ideologischer Konfrontation sind überzeitlicher Natur. Im Buch Hiob – und damit auch in seiner Auslegung – sind sie durchgehend präsent. Berlin, im März 2021
Markus Witte
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Hinweise zur Druckgestaltung, Umschrift und Zitation . . . . . . . . . . .
IX
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textzeugen und allgemeine Abkürzungen und Zeichen . . . . 2. Allgemeine literarische Abkürzungen (einschließlich altorientalischer Quellentexte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
X X XII
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgaben und Übersetzungen von Quellentexten . . . . . . . . . 2. Kommentare und annotierte Übersetzungen zum Buch Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschungsberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Aufsätze und Monographien zu Themen des Hiobbuches und seinem Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Anlage des Kommentars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Name des Buches und seines Helden . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Inhalt und der Aufbau des Hiobbuches . . . . . . . . . . . . . 4. Die Sprache und der Text des Hiobbuches . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Stil- und Sprachformen des Hiobbuches . . . . . . . . . . . . . 6. Die Geisteswelt des Hiobbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Literarische Parallelen aus dem alten Orient und der klassischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Entstehung des Hiobbuches und die Vielfalt seiner Theologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die frühe Rezeptionsgeschichte des Hiobbuches . . . . . . . . .
1 1 6 7 9 12 26
I.
XIV XIV
XXIII XXV XXVI
34
45 59
Hi 1–2 Der Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
II. Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 III. Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden . . . . . . Hi 4–5 Die erste Rede des Eliphas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 6–7 Die erste Rede Hiobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 8 Die erste Rede Bildads . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 9–10 Die zweite Rede Hiobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 11 Die erste Rede Zophars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 12–14 Die dritte Rede Hiobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 15 Die zweite Rede des Eliphas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129 129 158 179 188 210 220 246
VIII
Inhalt
Hi 16–17 Die vierte Rede Hiobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 18 Die zweite Rede Bildads . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 19 Die fünfte Rede Hiobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 20 Die zweite Rede Zophars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 21 Die sechste Rede Hiobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 22 Die dritte Rede des Eliphas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 23–24 Die siebte Rede Hiobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 25 Die dritte Rede Bildads . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 26 Die achte Rede Hiobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 27–28 Die neunte Rede Hiobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
263 284 294 316 330 347 364 387 393 404
IV. Hi 29–31 Die Herausforderungsrede Hiobs an Gott . . . . . . . . . .
438
V.
Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 32,1–5 Der Prolog der Elihureden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 32,6–33,33 Die erste Rede Elihus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 34 Die zweite Rede Elihus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 35 Die dritte Rede Elihus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 36–37 Die vierte Rede Elihus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
491 496 501 525 547 559
VI. Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 38–39 Die erste große Rede Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hi 40,1–5 Ein Zwischengespräch zwischen Gott und Hiob . . . Hi 40,6–41,26 Die zweite große Rede Gottes . . . . . . . . . . . . . . . 42,1–6 Die Schlussworte Hiobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
591 596 637 642 672
VII. Hi 42,7–17 Der Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
681
Exkurse Die alttestamentliche ,Theodizee-Literatur‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Uz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Die Namen und die Herkunft der Freunde Hiobs . . . . . . . . . . . 105 Tod, Begräbnis und Totenreich im alten Israel und im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Die Gottesbezeichnungen im Buch Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Engel im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Jhwh von Norden und Jhwh von Süden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Hi 28 und die Gestalt der Weisheit im Alten Testament und im frühen Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 Der Behemot und der Leviatan im nachbiblischen Judentum . 671 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
698
Hinweise zur Druckgestaltung, Umschrift und Zitation 1. Druckgestaltung In der Übersetzung werden die verschiedenen literarischen Schichten des Hiobbuches durch Einrückungen des übersetzten Textes gekennzeichnet. Die Einrückungen geben jeweils eine relative Chronologie der literarischen Schicht an. Je weiter ein Text nach rechts eingerückt ist, desto jünger ist die Fortschreibung. Kurze Zusätze (Glossen) innerhalb eines Satzes werden in eckige Klammern gesetzt: […]. Auslassungen sind durch … markiert. In spitzen Klammern stehen textkritisch erschlossene Ergänzungen oder mutmaßlich ausgefallene Wörter: . Runde Klammern markieren aus stilistischen Gründen vorgenommene Ergänzungen. Am linken Rand der Übersetzung nennt jeweils ein Kürzel die entsprechende literarische Schicht.1 Hierbei stehen: HN für die Hiobnovelle HD für die Hiobdichtung NR für die Niedrigkeitsredaktion BR für die Buchredaktion ER für die Elihureden/-redaktion MR für die Majestätsredaktion GR für die Gerechtigkeitsredaktion.
2. Umschrift Die Umschrift für das Biblische Hebräisch und Aramäisch folgt dem System der ZAW und der RGG4 (1998), XIX.
3. Zitation Sekundärliteratur wird in der Regel nach den im Abkürzungsverzeichnis aufgelisteten Kürzeln bzw. nach Verfassername und Kurztitel mit Seitenangabe zitiert. Bei Kommentaren zum Hiobbuch beschränkt sich die Angabe auf den Verfassernamen, wenn unmittelbar auf die Auslegung der entsprechenden Stelle des Hiobbuches in dem jeweiligen Kommentar Bezug genommen wird. Bei wörtlichen Zitaten oder bei Bezugnahmen auf einen Abschnitt in der Einleitung oder in Exkursen des jeweiligen Kommentars wird zusätzlich die genaue Seite angegeben. 1
Zur literarischen und theologischen Profilierung dieser Schichten siehe S. 45–59.
Abkürzungsverzeichnis 1. Textzeugen und allgemeine Abkürzungen und Zeichen Aq BHK BHQ BHS CodA CodL CodS Hs(s) HsK HsR La
LXX
LXXZi MT OG Syh Sym Syr Tg Th Vg VL
Aquila (griechisch) Biblia Hebraica, ed. R. Kittel (3. Aufl.) Biblia Hebraica Quinta Biblia Hebraica Stuttgartensia Codex von Aleppo (Codex Aleppensis): https://barhama.com/ajaxzoom/viewer/viewer.php? zoomDir=/pic/AleppoWM/&example=viewer5 Codex Leningradensis: https://archive.org/details/Leningrad_Codex Codex Sinaiticus: https://codexsinaiticus.org/de/ Handschrift(en), wenn nicht näher spezifiziert: hebräische Handschrift(en) masoretische Handschrift nach B. Kennicott masoretische Handschrift nach J.B. de Rossi die von Hieronymus auf der Basis der Vetus Latina und Septuaginta erstellte lateinische Übersetzung des Hiob buches, die in drei Handschriften (Laμ, Laβ, Laγ) vorliegt (zur Indizierung siehe J. Ziegler, Iob, 38) Septuaginta (griechisch), bei ausdrücklichen Bezugnahmen auf einen konkreten Text aus der Septuaginta wird dies durch ein hochgestelltes LXX nach dem entsprechenden Buch oder der Kapitel und Versangabe angezeigt, z.B.: HiLXX 1,1; 2,1; 3,1 bzw. 1,1 LXX Hiob-Septuaginta nach der Ausgabe von J. Ziegler Masoretischer Text (hebräischer Text) Old Greek (ursprüngliche griechische Übersetzung) Syrohexapla (syrische Übersetzung der von Origenes in der Hexapla hergestellten kritischen Rezension der Septuaginta) Symmachus (griechisch) Peschitta (syrisch) Targum (aramäisch) Theodotion (griechisch) Vulgata (lateinisch) Vetus Latina (lateinisch)
Textzeugen und allgemeine Abkürzungen und Zeichen
abs. äg. äth. AK akkad. arab. aram. arm. bab. conj. consec. cstr. dtr. fem. frgm. griech. hap. leg. hebr. heth. Hif. Hitp. Impf. Inf. mask. masoret. Nif. P. Pf. phön. PK Pl. Präp. sek. Sg. st. sumer. s.v. syr. ug. v.l. * #
XI
(status) absolutus ägyptisch äthiopisch Afformativkonjugation („Perfekt“) akkadisch arabisch aramäisch armenisch babylonisch Conjectur consecutivum (status) constructus deuteronomistisch feminin Fragment griechisch hapax legomenon / -a hebräisch hethitisch Hifil Hitpael Imperfekt Infinitiv maskulin masoretisch Nifal Person Perfekt phönizisch Präformativkonjugation („Imperfekt“) Plural Präposition sekundär Singular status sumerisch sub voce syrisch ugaritisch varia lectio (Variante) markiert, dass nur ein Teil des so gekennzeichneten Verses oder Kapitels gemeint ist signalisiert mutmaßlichen Textausfall
XII
Abkürzungsverzeichnis
2. Allgemeine literarische Abkürzungen (einschließlich altorientalischer Quellentexte) Die Abkürzungen richten sich nach dem von S.M. Schwertner zusammengestellten Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie (Berlin/New York 32014). Autoren und Werke der klassischen Antike werden nach dem Abkürzungsverzeichnis des Neuen Pauly (DNP. Enzyklopädie der Antike, hg. v. H. Cancik u. H. Schneider, Stuttgart 2003/2012) abgekürzt, wobei die Werke aber kursiv gesetzt sind. Darüber hinaus werden folgende Abkürzungen verwendet:
ÄHG Atr. Brockelmann, Syntax BT CDCH CTAT Diehl, Imperativ EnEl. EÜ Ges17 Ges18 Gilgm. G/K HAE HAWTTM HTAT IPIAO
Assmann, J.: Ägyptische Hymnen und Gebete. Übersetzt, kommentiert und eingeleitet. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage, OBO, Freiburg/Göttingen 1999. Atra(m)ḫasis-Epos Brockelmann, C.: Hebräische Syntax, Neukirchen-Vluyn 1956 (22004). Babylonische Theodizee The Concise Dictionary of Classical Hebrew, ed. by D.J.A. Clines, Sheffield 2009. Barthélemy, D.: Critique textuelle de l’Ancien Testament. Tome 5: Job, Proverbs, Qohélet et Cantique des Cantiques, OBO 50/5, Fribourg/Göttingen 2015. Diehl, J.F.: Die Fortführung des Imperativs im Biblischen Hebräisch, AOAT 286, Münster 2004. Enuma Eliš Die Bibel: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe, hg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands u.a., Stuttgart 2016. Gesenius, W.: Hebräisches und Aramäisches Wörterbuch über das Alte Testament, bearb. v. F. Buhl, Berlin 171915 (Nachdr. 1962). Gesenius, W.: Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, bearb. u. hg. von H. Donner, Gesamtausgabe, Berlin 182013. Gilgameš-Epos Gesenius, W.: Hebräische Grammatik, völlig umgearb. von E. Kautzsch, Leipzig 281909 (Nachdr. Darmstadt 1985). Renz, J./Röllig, W.: Handbuch der Althebräischen Epigraphik, I–III, Darmstadt 1995–2003. Hebräisches und aramäisches Wörterbuch zu den Texten vom Toten Meer, hg. v. R.G. Kratz u.a., Berlin/Boston 2017ff. Weippert, M.: Historisches Textbuch zum Alten Testament, GAT 10, Göttingen 2010. Schroer, S./Keel, O.: Die Ikonographie Palästinas/Israels und der Alte Orient. Eine Religionsgeschichte in Bildern, I–IV, Fribourg 2005–2018.
Allgemeine literarische Abkürzungen
J/M KAHAL König, LG LB Lud. LXX.D LXX.E LXX.H Michel, Syntax Miletto NETS NTG
SH THB Tov, Text Wagner, Aramaismen Waltke/O’Connor wibilex Zorell
XIII
Joüon, P./Muraoka, T.: A Grammar of Biblical Hebrew, SubBi 14/I–II. Reprint of First Edition, with Corrections, Rom 1993 (Nachdr. 2000). Konzise und aktualisierte Ausgabe des Hebräischen und Aramäischen Lexikons zum Alten Testament, hg. v. W. Dietrich/ S. Arneth, Leiden/Boston 2013. König, E.: Historisch-kritisches Lehrgebäude der Hebräischen Sprache, I–II/2, Leipzig 1881–1897. Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel revidiert 2017. Mit Apokryphen, hg. v. der Ev. Kirche in Deutschland, Stuttgart 2017. Ludlul bēl nēmeqi Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hg. v. W. Kraus/M. Karrer, Stuttgart 22010. Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare zum griechischen Alten Testament, I–II, hg. v. M. Karrer/ W. Kraus, Stuttgart 2011. Handbuch zur Septuaginta, hg. v. M. Karrer/W. Kraus/ S. Kreuzer, Gütersloh 2016ff. Michel, D.: Grundlegung einer hebräischen Syntax, Tl. 1, Neukirchen-Vluyn 1977; Tl. 2, hg. v. A. Behrens u.a., Neukirchen-Vluyn 2004. Miletto, G.: L’Antico Testamento ebraico nella tradizione babilonese. I frammenti della Genizah, Quaderni di Henoch 3, Turin 1987. A New English Translation of the Septuagint and the other Greek Translations Traditionally Included under that Title, ed. by A. Pietersma/B.G. Wright, New York/Oxford 2007. Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece. 28. revidierte Auflage, hg. v. Institut für Neutestamentliche Textforschung Münster/Westfalen unter der Leitung von H. Strutwolf, Stuttgart 2012. Sumerischer Hiob Textual History of the Bible. The Hebrew Bible, vol. 1C, ed. by A. Lange/E. Tov, Leiden 2017. Tov, E.: Der Text der Hebräischen Bibel. Handbuch der Textkritik, Stuttgart u.a. 1997. Wagner, M.: Die lexikalischen und grammatikalischen Aramaismen im alttestamentlichen Hebräisch, BZAW 96, Berlin 1966. Waltke, B.K./O’Connor, M.: An Introduction to Biblical Hebrew Syntax, Winona Lake 1990. Alkier, S./Bauks, M./Koenen, K. (Hg.): Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, 2007ff.: http://www.wibilex.de Zorell, F.: Lexicon Hebraicum et Aramaicum Veteris Testamenti, Rom 1954.
Literaturverzeichnis 1. Ausgaben und Übersetzungen von Quellentexten 1.1 Masoretischer Text Althann, R.: איוב. Iob, Biblia Hebraica quinta editione cum apparatu critico novis curis elaborato, fasc. 16, Stuttgart (in Vorb.). [auf der Textgrundlage des CodL, s.o.] Buxtorff d. Ältere, J.: Biblia Hebraica cum paraphrase chaldaice et commentariis Rabbinorum, Basel 1618/19. Elliger, K./Rudolph, W. (Hg.): Biblia Hebraica Stuttgartensia, Stuttgart 1967/77 (5. verbess. Aufl. 1997; Librum Iob praep. G. Gerleman [1974]). [auf der Textgrundlage des CodL, s.o.] Jerusalem Crown. The Bible of the Hebrew University of Jerusalem, Jerusalem 2000 (22004). [auf der Textgrundlage des CodA, s.o.] Kennicott, B.: Vetus Testamentum Hebraicum cum variis lectionibus, II, Oxford 1780. Kittel, R. (Hg.): Biblia Hebraica, editionem tertiam denuo elaboratam ad finem perduxerunt A. Alt et O. Eißfeldt, Stuttgart 1937 (Libros Iob et Proverbiorum praep. G. Beer [1932]). [auf der Textgrundlage des CodL, s.o.] Rossi, J.B. de: Variae Lectiones Veteris Testamenti Librorum, Parma 1784/85, Suppl., Parma 1798 (Nachdr. Amsterdam 1970). Walton, B.: S.S. Biblia Polyglotta Complectentia Textus Originales Hebraicos cum Pentat. Samarit.: Chaldaicos, Graecos, Versionem Antiquarum, III, London 1657 (Nachdr. unter dem Titel: Biblia Sacra Polyglotta, Tomus Tertius, Graz 1964).
1.2 Fragmente des hebräischen Hiobbuches aus Qumran Baillet, M.: Job, in: DJD III, Oxford 1962, 71 (pl. XIII). [= 2Q15/2QHi] Luther, R./Dershowitz, I.: Four Unidentified Fragments from 4QJobA (4Q99), RdQ 32 (2020) 121–127. Dies./Tigchelaar, E.: More Fragments from 4QJobA (4Q99), RdQ (in Vorb.). The Leon Levy Dead Sea Scrolls Library: https://www.deadseascrolls.org.il Tigchelaar, E.: 4Q99 (4QJobA) Frag. 23 (Job 36:20–22), RdQ 32 (2020) 129–134. Ulrich, E./Metso, S.: 4QJoba; 4QJobb in: DJD XVI, Oxford 2000, 171–180 (pl. XXI– XXII). [= 4Q99/4QHia; 4Q100/4QHib] Ulrich, E.: 4QpaleoJob c, in: DJD IX, Oxford 1992, 155–157, (pl. XXXVII). [= 4Q101/4QpaläoHic] Ders.: Job, in: Ders., The Biblical Qumran Scrolls. Transcriptions and Textual Variants, Vol. 3: Psalms-Chronicles, Leiden/Boston 2013, 727–732.
Ausgaben und Übersetzungen von Quellentexten
XV
1.3 Aramäische Übersetzungen des Hiobbuches 1.3.1 Ausgaben und Übersetzungen der Targume aus Qumran
Beyer, K.: Die aramäischen Texte vom Toten Meer samt den Inschriften aus Palästina, dem Testament Levis aus der Kairoer Geniza, der Fastenrolle und den alten talmudischen Zitaten, Göttingen 1984, 280–298; Erg.Bd., Göttingen 1994, 133f; Bd. 2, Göttingen 2004, 171f. García Martínez, F./Tigchelaar, E.J.C./Woude, A.S. van der: 11QtargumJob, in: DJD XXIII, Oxford 1998, 79–180 (pls. IX–XXI). Milik, J.T.: Targum de Job, in: DJD VI, Oxford 1977, 90 (pl. XXVIII). [= 4Q157/4QTgHi] Ploeg, J.P.M. van der/Woude, A.S. van der: Le Targum de Job de la Grotte XI de Qumran, édité et traduit, Leiden 1971. Puech, É.: Le targum de Job de la grotte 4: 4Q157 = 4QTgJob, RdQ 32 (2020) 135–141. Sokoloff, M.: The Targum to Job from Qumran Cave XI, Bar-Ilan University RamatGan, Jerusalem 1974. The Leon Levy Dead Sea Scrolls Library: https://www.deadseascrolls.org.il 1.3.2 Ausgaben und Übersetzungen des rabbinischen Targums
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1.6 Lateinische Übersetzungen des Hiobbuches Biblia Sacra Iuxta Vulgatam Versionem ad codicum fidem iussu Pii PP. XII cura et studio monachorum abbatiae pontificiae sancti Hieronymi in urbe ordinis sancti Benedicti edita, Libri Hester et Iob ex interpretatione sancti Hieronymi cum praefationibus et variis capitulorum seriebus, Rom 1951, 67–207. Biblia Sacra Iuxta Vulgatam Versionem, I, hg. v. R. Weber/R. Gryson, 5., verbess. Aufl., Stuttgart 2007, 731–766. Caspari, C.P.: Das Buch Hiob (1,1–38,16) in Hieronymus’s Uebersetzung aus der alexandrinischen Version nach einer St. Gallener Handschrift saec. VIII, Christiania 189. Lagarde, P.A. de: Des Hieronymus Uebertragung der griechischen Uebersetzung des Iob, Mittheilungen II,11, Göttingen 1887, 189–237. Oborski, F.: Iob, in: A. Beriger/W.-W. Ehlers/M. Fieger (Hg.), Biblia Sacra Vulgata. Lateinisch-deutsch, Bd. 2, Sammlung Tusculum, Berlin 2018, 1332–1479. Sabatier, P.: Liber Job, in: Ders., Bibliorum Sacrorum Latinae Versiones Antiquae seu Vetus Italica, I, Paris 1743, 826–910.
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1.8 Deutsche Übersetzungen Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel revidiert 2017. Mit Apokryphen, hg. v. der Ev. Kirche in Deutschland, Stuttgart 2017. Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe, hg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands u.a., Stuttgart 2016. Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten ersch. Ausg. hg. v. H. Volz/H. Blanke/F. Kur, München 1972. Die Schriftwerke, verdeutscht von M. Buber, neubearb. Ausg. Köln 1962 (Nachdr. Darmstadt 1986). Zürcher Bibel. Hg. v. Kirchenrat der Evangelisch-Reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, Zürich 2007 (42012).
1.9 Ägyptische, altorientalische, klassisch-antike, frühjüdische und frühchristliche Texte Werke klassischer griech. und lat. Autoren sind in der Regel nach den Textausgaben zitiert, die dem Thesaurus Linguae Graecae (im Fall griech. Werke) und der Perseus Digital Library (so im Fall lat. Werke) zugrundeliegen. Wurde auf eine spezielle Textausgabe zurückgegriffen, so ist diese hier aufgeführt und bei dem entsprechenden Beleg in Klammern genannt. Althoff, J./Zeller, D.: Die Worte der Sieben Weisen. Griechisch und deutsch, TzF 89, Darmstadt 2006. Annus, A./Lenzi, A.: Ludlul bēl nēmeqi. The Standard Babylonian Poem of the Righteous Sufferer, SAA VII, Helsinki/Winona Lake 2010. Apelt, O.: Lucius Annaeus Seneca. Philosophische Schriften, I–IV, PhB 73, Leipzig 1923/24 (Nachdr. Hamburg 1993). Asper, M.: Kallimachos. Werke. Griechisch und deutsch, herausgegeben und übersetzt, Darmstadt 2004. Barta, W.: Das Gespräch eines Mannes mit seinem Ba, MÄSt 18, München 1969. Becker, H.-J.: Avot de-Rabbi Natan B. Aus dem Hebräischen übersetzt und herausgegeben, TSAJ 162, Tübingen 2016.
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Kommentare und annotierte Übersetzungen zum Buch Hiob
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Einleitung 1. Zur Anlage des Kommentars 1.1 Forschungsgeschichtlicher Ort und Methodik des Kommentars Der vorgelegte Kommentar tritt an die Stelle des erstmals 1951 erschienenen, letztmals 1974 durchgesehenen, aber nicht substantiell überarbeiteten und seither nur noch nachgedruckten Kommentars von Artur Weiser (1893–1978). Der Kommentar Weisers beeindruckt zwar nach wie vor durch seinen theologischen Tiefgang und durch seine feinfühlige Nachzeichnung des Gedankengangs, vor allem auf der Ebene der ,Endgestalt‘ des hebr. Textes gemäß dem CodL, der den Ausgaben der BHK (seit der dritten Auflage), der BHS und der BHQ zugrunde liegt. Das Bild der biblischen Literatur- und Theologiegeschichte hat sich jedoch in den letzten Jahrzehnten so verändert, dass eine grundlegend neue Kommentierung erforderlich ist. Diesen Veränderungen, aber auch der Tatsache, dass ein Kommentar den biblischen Text jeweils für die Gegenwart auslegen muss, versucht der vorliegende Kommentar Rechnung zu tragen. Er ist in einem umfassenden Sinn redaktionsgeschichtlich: Er verbindet die klassischen historisch-kritischen Fragen nach der Ursprungsintention und der Ursprungssituation der literarkritisch ermittelten Schichten mit den Fragen nach der literarischen und theologischen Funktion, welche die aufgenommenen Texte in ihrem jeweils neuen literarischen und religionsgeschichtlichen Kontext haben. Zudem bezieht er die frühe Rezeptionsgeschichte ein. Dementsprechend finden in der hier vorgelegten Auslegung vier Punkte besondere Berücksichtigung. 1) Wie alle im Alten Testament versammelten Schriften stellt das Buch Hiob das Ergebnis umfassender Fortschreibungen und Redaktionen dar. In einem Milieu schriftgelehrter Kreise entstanden, nehmen die an ihm beteiligten Autoren ältere Texte und Traditionen auf, verwenden sie zur Komposition neuer Texte, verfremden sie und interpretieren sie durch ihre Rezeption. Sie tragen so zu einem fortlaufenden Auslegungsprozess bei. In diesem Prozess wächst ein Buch, bis es durch bestimmte geistes- und zeitgeschichtliche Entwicklungen in eine Phase kommt, in welcher der erreichte literarische Zustand mehr oder weniger festgehalten wird und das Werk nicht mehr grundlegend verändert, sondern nur noch abgeschrieben, übersetzt und extratextlich ausgelegt wird. Hierbei ist zu bedenken, dass in den jüngsten Fortschreibungsphasen die Übergänge von der Literar- zur Textgeschichte fließend sind. Der vorliegende Kommentar versucht die Entstehung des Buches Hiob mittels einer redaktionsgeschichtlichen Auslegung nachzuzeichnen. Er skizziert die einzelnen Entstehungsstufen, verdeutlicht ihr redaktionelles Zusammenspiel und stellt dar, wie durch die Fort-
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Einleitung
schreibungen neue kompositionelle und inhaltliche Akzente gesetzt wurden. Auf diese Weise wird der Charakter des Buches Hiob als eines sich selbst und andere Texte auslegenden, beispielhaft diskursiven und intertextuellen Werkes durchsichtig, in dem sich wesentliche literatur- und theologiegeschichtliche Entwicklungen seiner Entstehungszeit spiegeln. Hierbei gilt ein besonderes Augenmerk der Fortschreibung im und durch das Buch Hiob selbst. Es wird gezeigt, wie sich das Buch Hiob als ein zwischen dem 5. und dem 3. Jh. v. Chr. entstandenes Werk auf allen seinen literarischen Stufen nicht nur kritisch mit weisheitlichen, psalmistischen, prophetischen und rechtlichen Überlieferungen auseinandersetzt, sondern auch intensiv mit der Torah und ihren Theologien. Ein Ziel dieses Kommentars ist es, die aktuelle Leserschaft in die im Hiobbuch geführten Dialoge und ihre Geschichte hineinzunehmen. Das bedeutet in hermeneutischer Hinsicht, dass insbesondere die Reden im Buch Hiob synchron als wesentliche Beiträge zu einem dialogisch-dramatischen Geschehen und diachron als Größen eines theologiegeschichtlichen Diskurses auszulegen sind. 2) Im Schatten der Erforschung der seit 1947 entdeckten jüdischen Schriften vom Toten Meer, zumal in Qumran und Umgebung, die nicht nur den sprachlichen und materialen Bestand der israelitisch-jüdischen Literatur erheblich erweitert haben, sondern auch neue Einsichten in die Vielfalt der vormasoretischen Textüberlieferung geschenkt haben, ist in den letzten Jahren die Forschung an der griech. Übersetzung der Schriften Israels und Judas, der Septuaginta, aufgeblüht. Deren Bedeutung wird längst nicht mehr auf die Textkritik und die Wirkungsgeschichte reduziert. Die Septuaginta wird vielmehr als eine eigenständige, auch literarisch profilierte Textform wahrgenommen, die einerseits auf Prozesse der produktiven Textentstehung zurückweist, andererseits als Buch der frühen Kirche das eigentliche Alte Testament darstellt. Auch wenn im Folgenden gemäß dem Profil der Reihe ATD das hebr. Hiobbuch ausgelegt und dabei von seiner masoret. Gestalt ausgegangen wird, so wird doch konsequent die Septuaginta berücksichtigt und auf markante Differenzen im Textbestand hingewiesen. Zudem werden ausgewählte charakteristische Unterschiede gegenüber dem MT näher erläutert, da zum einen die frühe christliche Rezeption des Buches Hiobs auf dessen griech. (und lat.) Gestalt beruht und es zum anderen bis heute keinen modernen kritischen Kommentar zur Hiob-Septuaginta gibt. In ähnlicher Weise wird hier mit dem Qumranschrifttum verfahren, in dem sich auffällige motivische und sachliche Parallelen gerade zu den jüngsten Schichten im Buch Hiob finden und das mit dem in Höhle 11 gefundenen Targum zu Hiob (11QTgHi) eine der mutmaßlich ältesten bisher bekannten Übersetzungen eines biblischen Buches ins Aramäische überhaupt bietet. 11QTgHi wird, wie andere sachlich verwandte Texte aus Qumran (u. a. 1QHodajot/1QHa, 4QInstruction), in diesem Kommentar durchgehend text-, literar- und theologiegeschichtlich ausgewertet. 3) Mit der Entdeckung äg., mesopotamischer, syr. und kleinasiatischer Palastarchive und Tempelbibliotheken ist die Kenntnis der vorderorientalischen Literatur- und Religionsgeschichte, in deren Kontext die Schriften Israels und Judas im 2. und 1. Jt. v. Chr. stehen, auf eine neue Basis gestellt. Schon einzelne Hiobkommentare des 19. Jh. haben punktuell auf entsprechende altorientalische
Zur Anlage des Kommentars
3
Textfunde hingewiesen.1 Inzwischen sind umfangreiche altorientalische Texte bekannt, in deren Mittelpunkt die Problematisierung göttlicher Gerechtigkeit und die argumentative Auseinandersetzung mit einer Gottheit über die gerechte Weltordnung stehen. Diese sind in neuen Ausgaben,2 Übersetzungen3 und Auslegungen4 gut zugänglich. Hinzu kommt, dass die klassische griech. Literatur wieder stärker in ihrer Bedeutung schon für die älteren Schriften der hebr. Bibel (und nicht erst für die Septuaginta) erkannt wird. Im Einzelnen hat auch die systematische Auswertung der altorientalischen Ikonographie und ihrer eigentümlichen Symbolik zu einem neuen Verstehen biblischer Texte und Sprachbilder geführt.5 Im vorliegenden Kommentar wird darauf ebenso Bezug genommen wie auf die mesopotamische, äg., aram. und klassische griech. Literatur, aus der immer wieder kurze Textproben in deutscher Übersetzung geboten werden. Daneben bieten einzelne thematische Exkurse und die Fußnoten bewusst zahlreiche Hinweise auf Parallelen in den biblischen Schriften sowie im altorientalischen und paganen griech. Schrifttum. Dadurch sollen der interkulturelle und intertextuelle Charakter des Buches Hiob sowie die in ihm verhandelten Fragen nach dem Wesen Gottes und des Menschen und nach dem Charakter göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit deutlich werden. Denn bei aller literarischen und theologischen Originalität ist das Hiobbuch tief in der vorderorientalischen und antiken griech. Mythologie sowie der israelitischjüdischen Literatur verankert, mit denen es spielerisch und kreativ umgeht. 4) Schließlich hat die gegenwärtige Bibelwissenschaft die außerbiblische Wirkungsgeschichte neu entdeckt. In dieser haben sich häufig Aspekte niedergeschlagen, die im Ursprungstext zwar angelegt sind, die aber einer rein historisch orientierten Lektüre oft verborgen sind und die erst in der Rückschau deutlich werden. Zudem ist die Kenntnis biblischer Texte und Figuren zumindest in den modernen Gesellschaften Europas und Nordamerikas häufig nur noch über entsprechende literarische Rezeptionen und Bilder vorhanden. Die Wirkungsgeschichte steht damit in dem doppelten Dienst eines Zugangs zum Ursprungstext und zu seinem gegenwärtigen Verstehen. Ausblicke auf die Nachgeschichte des biblischen Hiobbuches im frühjüdischen, rabbinischen und frühchristlichen Schrifttum6 werden daher ebenso exemplarisch in die Kommentierung einbezogen wie die Hinweise zu seiner stofflichen und literarischen Vorgeschichte. 1 Vgl. besonders Carey, der seinem Kommentar über 80 Zeichnungen von Bildwerken vor allem aus Ägypten und Mesopotamien als Illustrationen einzelner Stellen des Hiobbuches beigab und dabei auf die Werke von François Champollion (1790–1832), Ippolito Rosellini (1800–1843), Carsten Niebuhr (1733–1815) und Sir Austen Henry Layard (1817–1894) sowie auf Bestände des Britischen Museums zurückgriff. In kleinerem Umfang fanden die altorientalischen Textfunde auch Berücksichtigung bei Schlottmann und Fz. Delitzsch sowie in philologischer Hinsicht bei Fd. Delitzsch. 2 Lambert, BWL; Annus/Lenzi, Ludlul; Oshima, Babylonian Poems. 3 TUAT; TUAT.NF; COS; Assmann, ÄHG; Lichtheim, AEL. 4 Sitzler, Vorwurf; Uehlinger, Hiob-Buch; Sedlmeier, Ijob; T. Krüger, Morality. 5 Vgl. insbesondere Keel, Bildsymbolik, und IPIAO sowie speziell im Blick auf das Hiobbuch Keel, Entgegnung, und Cornelius. 6 Vgl. dazu im Einzelnen Oberhänsli-Widmer, Hiob; Vicchio, Image, I–III; Witte, Hiobs viele Gesichter, sowie künftig umfassend Seow, Many Faces.
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Einleitung
Entsprechend der Anlage der Reihe ATD und der gesetzten Umfangsgrenzen musste auf eine detaillierte Darstellung der philologischen Probleme, die das Buch Hiob aufgrund seiner hoch poetischen und komplexen Sprache bietet, ebenso verzichtet werden wie auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit anderen Forschungspositionen. Für vertiefende Lektüren stehen in dieser Hinsicht die monumentalen Kommentare von Georg Fohrer (1963), Friedrich Horst (1968), fortgesetzt von Hans Strauß (2000), David J. Clines (1989–2011) und Choon Leong Seow (2013) zur Verfügung. Gleichwohl musste im Vergleich mit dem Kommentar von Weiser der Apparat der Fußnoten zur Übersetzung hinsichtlich der semitistischen und textgeschichtlichen Forschungsdiskussion stark aufgefüllt und hinsichtlich der Nachvollziehbarkeit der Übersetzung zumindest punktuell auf einzelne Forschungsmeinungen Bezug genommen werden. Gegenüber einer sich in der gegenwärtigen Forschung abzeichnenden Tendenz, den MT trotz einer offensichtlichen Korrumption oder Verschreibung zu bewahren, oder zugunsten der Konzentration auf einen ganz bestimmten Codex7 auf die Erhebung der Textgeschichte zu verzichten, wird hier gelegentlich auch zum Mittel der Konjektur gegriffen und versucht, die Lesart zu rekonstruieren, die dem von den Autoren des Hiobbuches intendierten Text am nächsten kommt. Die antiken Übersetzungen spielen hierbei nach wie vor eine besondere Rolle, auch wenn sie als je eigene literarische und theologische Werke zu würdigen sind und bei Differenzen gegenüber dem MT die jeweilige Übersetzungstechnik und die Geschichte der Textüberlieferung zu berücksichtigen sind. Schließlich mussten in einem sehr viel höheren Maß unterschiedliche hermeneutische und methodische Zugänge der internationalen Hiobforschung kritisch diskutiert werden, als dies zur Zeit von Weiser der Fall war. So steht der vorliegende Kommentar in einem ständigen Gespräch mit den wichtigsten großen, teilweise sogar mehrbändigen internationalen Hiobkommentaren. Gegenüber dem von Weiser erstellten Kommentar ist zudem einzelnen Kapiteln eine kleine Auswahlbibliographie vorangestellt.8 Sekundärliteratur, die sich auf das gesamte Hiobbuch und mit diesem verbundene Fragen bezieht, ist in einem eigenen Literaturverzeichnis aufgeführt. In dieses sind aus Gründen der leichteren Auffindbarkeit auch alle Titel aufgenommen, die in den thematischen Auswahlbibliographien zu einzelnen Kapiteln genannt sind. Unter der Unmenge an Auslegungen und Studien zum Hiobbuch sei neben den oben genannten Kommentaren besonders hingewiesen auf die Werke von Othmar Keel (1978)9 und Izak Cornelius (2009) zur altorientalischen Bildwelt, von Robert Gordis (1978) und Moshe Eisemann (1994) hinsichtlich rabbinischer Hiobdeutungen, von Arie de Wilde (1981) und John Pairman Brown (1995–2001)10 hinsichtlich klassischer griech. Parallelen sowie von Jürgen Ebach (1995–1996) und Georg Langenhorst (2000ff) im Blick auf die literarische Rezeptions- und Aneignungsgeschichte. In der Regel ist dies dann der Codex Leningradensis. Ausführliche Bibliographien bietet der Kommentar von Clines. 9 Keel, Entgegnung. 10 J.P. Brown, Israel. 7 8
Zur Anlage des Kommentars
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1.2 Hinweise zur Übersetzung Im Hiobbuch werden unterschiedliche Gottesbezeichnungen verwendet, die in den modernen Übersetzungen zumeist mit „Gott“ (so im Fall von ʾ ælohîm, ʾ ælô ah, ʾel), mit „der Herr/Herr“ (so im Fall von jhwh und ʾ adonāj) und mit „der Allmächtige/Allwalt“ (so im Fall von šaddaj) wiedergegeben werden. In der hier gebotenen Übersetzung wird nur ʾ ælohîm mit „Gott“ und die nur in Hi 28,28 belegte Bezeichnung ʾ adonāj mit „Herr“ wiedergegeben, allen anderen Gottesbezeichnungen (Eloah, El, Schaddaj, Jhwh) werden transkribiert, um so die poetische Varianz und im Fall von Jhwh auch die inhaltliche Bedeutung zu verdeutlichen.11 Die Angabe der antiken und frühmittelalterlichen Übersetzungen (Septuaginta, Targume, Peschitta, Vulgata) bezieht sich auf den Hauptstrom der Überlieferung, wie er im Obertext der gegenwärtig aktuellen kritischen Ausgaben geboten wird. In Einzelfällen wird auch auf textgeschichtlich oder rezeptionsgeschichtlich wichtige Varianten in den Handschriften hingewiesen. Vom MT abweichende Lesarten in Hiobhandschriften aus Qumran werden konsequent genannt, unabhängig davon, ob sie einen mutmaßlich ursprünglicheren Text als der MT repräsentieren. Dies gilt mitunter auch für in den Anmerkungen zur Übersetzung notierte Unterschiede der anderen Versionen, deren Erwähnung die Vielfalt und Besonderheiten kanonisch gewordener Hiobbücher verdeutlichen soll. Texte aus Qumran werden nach der von Florentino García Martínez und Eibert J.C. Tigchelaar erstellten zweibändigen Studienausgabe zitiert, abweichende Zählungen der Kolumnen und Zeilen werden in Klammern angegeben. Verweise auf die BHK und die BHS in den Fußnoten zur Übersetzung beziehen sich immer auf den textkritischen Apparat dieser Ausgaben, der im Fall der BHK von Georg Beer (1932) und der BHS von Gillis Gerleman (1974) erstellt wurde. Für eine Konjektur, die durch eine vom CodL abweichende Lesart in anderen masoret. Handschriften und/oder in den antiken Übersetzungen sowie durch biblische Parallelstellen nahegelegt wird, werden in den Fußnoten zur Übersetzung nur diese genannt, nicht zusätzlich die BHK und/oder die BHS, wenn sie auch die von mir bevorzugte Konjektur vertreten. In Ausnahmefällen wird weiterführende Literatur erwähnt, in der dieselbe Konjektur oder eine andere diskussionswürdige Lesart vertreten wird. Ausführliche Reihungen der Lesarten moderner Werke und breite textkritische Diskussionen bieten die großen Kommentare von Alonso Schökel/Sicre Diaz, Clines und Seow. Die Lesarten, denen Weiser (zumeist mit dem einfachen Hinweis auf die BHK) folgt, nenne ich hingegen häufiger, da er das Referenzwerk des vorliegenden Kommentares darstellt.
11 Zu den religionsgeschichtlichen Hintergründen dieser Gottesbezeichnungen siehe den Exkurs zur Auslegung von Hi 4–5 auf S. 137–141. Zu einem ähnlichen Verfahren bei der Wiedergabe der Gottesbezeichnungen siehe Greenstein, XVf, der allerdings auch das Wort ʾ ælohîm in Transkription bietet (Elohim), das mit Ausnahme von Hi 5,8; 20,29; 28,23; 34,9 und 38,7 nur in Prosastücken des Buches verwendet wird (1,1.5.6.8.9.16.22; 2,1.3.9.10; 32,2).
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2. Der Name des Buches und seines Helden In all seinen verschiedenen in den antiken und spätantiken Übersetzungen repräsentierten Gestalten12 trägt das Buch Hiob seinen Namen nach seiner Hauptfigur. Im hebr. Original lautet dieser nach der masoret. Vokalisation ʾijjôb, während ihn die antiken griech. Übersetzungen mit Ιωβ, die lat. Übersetzungen mit Iob sowie die syr. Übersetzung mit ʾijūb wiedergeben. In der hebr. Bibel ist er außerhalb des Buches Hiob nur noch in Ez 14,14.20 in einer Reihe der drei urzeitlichen Gerechten neben Noah und Daniel belegt. Im Bereich des frühjüdischen und frühchristlichen Schrifttums erscheint der Name noch einmal in der hebr. und der syr. Fassung des Sirachbuches (Sir 49,9), in der lat. Version des Tobitbuches (TobVg 2,13.15), im Testament Hiobs, einer im 1./2. Jh. n. Chr. entstandenen griech. Nach- und Neudichtung des biblischen Hiobbuches, im ntl. Jakobusbrief (5,11) sowie in hellenistischen Synagogengebeten, die in den Apostolischen Konstitutionen überliefert sind.13 Außerliterarisch findet sich der griech. Name Ιωβ als Personenname z. B. in Ägypten in Besucherinschriften (Graffitis) in Medinet Habu (SGUÄ Nr. 1310; 1311; undatiert) und in Listen von Verschenkungen von Kindern an Klöster (SGUÄ Nr. 5606; 785 n.Chr). Die Schreibweise „Hiob“ geht auf Martin Luther zurück. Bei dem hebr. Wort ʾjwb/ʾijjôb handelt es sich um einen seit dem 2. Jt. v. Chr. in zahlreichen semitischen Sprachen (amurritisch, akkad., ug., arab.) belegten Personennamen, der aus dem Fragepronomen ʾaj/ʾej („wo“) und dem Substantiv ʾāb zusammengesetzt ist und soviel bedeutet wie „Wo ist mein (göttlicher) Vater?“ oder „Wo ist der (göttliche) Vater?“.14 Er begegnet z. B. auch in den westsemitischen Urkunden aus der mutmaßlich von judäischen Exulanten bewohnten Siedlung Al-Jahudu (südöstlich von Nippur?) in der Gestalt Aia-abī.15 Der Name gehört dem Typ des Satznamens an, der eine Bitte um Gottes Hilfe darstellt. Er ist programmatisch für das Thema des Hiobbuches.16 Für hebr. Ohren klingt in dem Namen ʾijjôb auch das Wort ʾôjeb „Feind“ mit, so dass „Hiob“ als Chiffre für „der Feind (Gottes)“ oder „der (von Gott) Angefeindete“ verstanden werden kann (vgl. Hi 13,24; 33,10 und die Diskussion im bab. Talmud, bBB 16a und bNid 52a–b).17 Der Koran verbindet S.o. S. 2 sowie S. 59–67. ConstAp VII,39,2–4; VIII,5,1–4; VIII,12,6–27 (OTP II, 687; 688; 693). 14 Dagegen bezieht H. Rechenmacher, Althebräische Personennamen, LOS II/1, Münster 2012, 122 Nr. 288, im Anschluss an J.J. Stamm, Beiträge zur hebräischen Namenkunde, OBO 30, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1980, 64f, das Namenselement -ʾāb- auf ein verstorbenes Familienmitglied, als dessen Ersatz das neugeborene Kind angesehen werde. In diesem Sinn deutet F. Gröndahl, Die Personennamen der Texte aus Ugarit, StP 1, Rom u. a. 1967, 48, auch die vergleichbaren ug. Personennamen ajaḫ („Wo ist der Bruder?“) und ija-ummi („Wo ist die Mutter?“) – zur Diskussion vgl auch Seow, 265f. 15 Pearce/Wunsch, Documents, 37 (Nr. 70:12; 74:19; 87:7; 88:10; 90:11; 94:3; BaAr 6 27:21 – hierbei handelt es sich durchgehend um kleine Wirtschaftstexte aus der Zeit zwischen 522 und 486 v. Chr.). 16 Siehe dazu auch Mathys, Der Name Hiob, in: Kaiser/Mathys, Hiob, 130–133. 17 In diesem Sinn hält M. Noth, Die israelitischen Personennamen im Rahmen der gemeinsemitischen Namengebung, BWANT III/10, Stuttgart 1928 (Nachdr. Hildesheim/New York 1980), 11, „der Angefeindete“ für die ursprüngliche Bedeutung des gleichwohl „ad hoc gebildet(en) und künstlich(en)“ Namens; ähnlich in neuerer Zeit z. B. auch Seow, 265f. 12 13
Der Inhalt und der Aufbau des Hiobbuches
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den Namen Hiob, der im Arabischen ʾajjūb lautet, mit dem arab. Wort ʾawwāb „umkehren/büßen“, so dass Hiob der exemplarische Büßer ist (vgl. Sure 38,44). Die Kombinationen mit dem hebr. Wort ʾôjeb („Feind“) oder mit dem arab. Wort ʾawwāb („büßen“) sind keine philologisch zutreffenden Herleitungen. Sie eröffnen aber für das Verständnis des Hiobbuches bestimmte Assoziationsflächen und Lesehorizonte, die im Fall des Anklangs an das Wort ʾôjeb bereits von den ältesten Tradenten der Hiobüberlieferung beabsichtigt sein dürften. Sie sind sowohl für die Auslegung in einem gesamtbiblischen Kontext ertragreich als auch für die literatur- und religionsgeschichtliche Profilierung des Buches Hiob.
3. Der Inhalt und der Aufbau des Hiobbuches Im Zentrum des Buches stehen die Fragen 1) nach dem Sinn des Leidens des Gerechten und nach dem rechten Verhalten im Leiden angesichts des Glaubens an einen Gott, der das Leben des von ihm geschaffenen Menschen bejaht und dessen Nähe Heil verspricht, 2) nach dem grundsätzlichen Wesen Gottes und des Menschen sowie 3) nach Möglichkeiten der Erkenntnis Gottes und der angemessenen Rede von ihm. Das Buch Hiob ist dementsprechend ein vielfältiges und vielschichtiges Lebens- und Lernbuch. Die genannten Fragen werden vor dem Vorstellungshintergrund bedacht, dass Gott als der Schöpfer eine gerechte Weltordnung in den Kosmos eingesenkt hat, deren Bestand er sichert und an die er sich selbst hält.18 Am Beispiel des unverschuldet ins Leiden geratenen, einzigartig frommen Hiob werden die Gründe und die Gestaltung eines religiösen und ethischen Lebens problematisiert. Hiob erscheint wie seine ihm zum Trost gekommenen Freunde als ein poetisches Paradigma und als eine Chiffre, nicht als eine historisch fassbare Einzelgestalt. Bereits im bab. Talmud wird die Vermutung geäußert, Hiob selbst habe nie gelebt, bei dem vorliegenden Buch handele es sich also nicht um eine biographische Zusammenstellung eines geschichtlich nachweisbaren Geschehens, sondern (nur) um einen māšāl (Hi 27,1; 29,1; Spr 1,1.6), eine lehrhafte Dichtung (bBB 15a). Ähnlich bezeichnet der jüdische Religionsphilosoph Maimonides (1135/38–1204) dieses Buch als eine Parabel oder ein Gleichnis.19 Die neuere Forschung zählt es zu der vor allem aus der äg. Weisheit bekannten Auseinandersetzungsliteratur bzw. zur Vorwurfdichtung.20 Die Lehrdichtung von Hiob und seinen Freunden besteht aus einem in Kunstprosa abgefassten Prolog und Epilog und einem poetischen Hauptteil. Der Prolog und der Epilog erzählen, wie sich Hiob im Leiden bewährt. Der in Versen geschriebene poetische Hauptteil bietet ausführliche Streitreden, Medi-
Siehe dazu ausführlich S. 26–34. Maimonides, Führer der Unschlüssigen (III, 22), Bd. 3, 129f. 20 Brunner, Grundzüge, 20–32; Sitzler, Vorwurf, 231–233; Heckl, Hiob, 212–216; s.u. S. 19–26. 18 19
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tationen, Reflexionen, Klagegebete und hymnenähnliche Abschnitte. Keine dieser Reden wurde jemals von den Figuren, denen sie teilweise unterschiedliche Dichter in den Mund gelegt haben, wirklich gehalten. Sie sind, wie die Reden der antiken Tragödien oder moderner Bühnendichtung, literarische Fiktionen, mittels derer existentielle Themen diskursiv behandelt und das Auditorium oder das Lesepublikum über die Zeiten hinweg zu einem ständigen Dialog herausgefordert werden. Dem Anschein nach biographische Elemente oder historische Anspielungen entziehen sich aufgrund der Verwendung traditioneller Motive und einer starken Topik der eindeutigen geographischen oder zeitgeschichtlichen Zuordnung. In seiner vorliegenden Gestalt verfügt das Buch über einen siebengliedrigen Aufbau, der sich im Hauptteil pyramidisch zuspitzt. An den Prolog (I, Kap. 1–2), der Hiob als einen beispielhaft frommen und ethisch verantwortlichen Menschen vorstellt und der beschreibt, wie Hiob infolge eines Disputs zwischen Gott und dem Satan und als Objekt eines göttlichen Tests ins Leid gerät, schließt sich eine umfassende Klage Hiobs an (II, Kap. 3). Diese von Lebensmüdigkeit und Todessehnsucht geprägte Klage eröffnet das Wechselgespräch zwischen Hiob und seinen Freunden. In diesem werden meditativ-kreisend die Beziehungen zwischen Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Glück und Unglück, Gott und Mensch diskutiert und unterschiedliche Deutungen des Leidens Hiobs vorgetragen, ohne dass die Gesprächspartner um den Dialog zwischen Gott und dem Satan wissen. Die zwischen Hiob und seinen Freunden geführte, in ihrem Verlauf immer polemischer werdende Auseinandersetzung (III, Kap. 4–28) wird zumeist in drei Redegänge eingeteilt (Kap. 4–14, Kap. 15–21, Kap. 22–27/28). Die sechste Rede Hiobs (Kap. 21) ist jedoch argumentativ eng mit den Freundesreden in Kap. 15; 18 und 20 verknüpft, auf die Kap. 21 reagiert, und wird selbst durch die dritte Eliphasrede (Kap. 22) und die siebte Hiobrede (Kap. 23–24) weitergeführt. Daher wird eine Einteilung des Hiobdialogs in drei abgeschlossene Redegänge, bei denen Kap. 21 dann entweder Abschluss des zweiten Redegangs oder Eröffnung des dritten ist, der Dichtung nicht ganz gerecht. Besser ist es, zumindest für Kap. 3–24, von einem sich in spiralförmiger Argumentation fortentwickelnden linearen Dialog mit einem Anhang in Kap. 25–28 zu sprechen. An das Gespräch zwischen Hiob und den Freunden schließt sich ein dreigliedriger Monolog Hiobs an (IV, Kap. 29–31). In diesem blickt Hiob auf sein vergangenes Glück zurück (Kap. 29), beklagt sein gegenwärtiges Leid (Kap. 30) und fordert nach einer detaillierten Unschuldserklärung in Eidesform Gott endgültig zu einer Beantwortung seiner Fragen nach dem Grund, der Berechtigung und dem Ziel des Leidens auf (Kap. 31). Bevor Gott selbst das Wort ergreift, tritt retardierend Elihu, ein vierter, jüngerer Weiser, auf (V, Kap. 32–37). In vier voneinander abgesetzten Reden bemüht sich dieser um eine neue Deutung des Leidens Hiobs und um eine neue Bestimmung des Wesens göttlicher Gerechtigkeit. Elihus letzte Rede bereitet zugleich die Reden Gottes aus dem Sturm vor, welche die Dichtung abschließen (VI, Kap. 38–41). Im Mittelpunkt der Gottesreden steht eine zum Teil hymnenartige Darstellung der kosmischen Weltordnung. Sie werden durch einen kurzen Redewechsel
Die Sprache und der Text des Hiobbuches
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zwischen Hiob und Gott (Kap. 40,1–5) und eine abschließende Rede Hiobs, in welcher der Leidende sich angesichts der Gottesschau zur Allmacht Gottes und zur eigenen Ohnmacht bekennt (Kap. 42,1–6), gegliedert und gerahmt. Das Buch endet mit einem göttlichen Urteil über die ,richtige‘ Form des Redens über und zu Gott sowie der Schilderung von Hiobs künftigem Glück und gesegnetem Tod (VII, Kap. 42,7–17).
4. Die Sprache und der Text des Hiobbuches THB 1C (2017), 151–239. – Beer, G.: Der Text des Buches Hiob, Marburg 1895–1897. – Ders.: Literatur Textkritische Studien zum Buche Job, ZAW 16 (1896) 297–314; ZAW 17 (1897) 97–122; ZAW 18 (1898) 257–286. – Blommerde, A.C.M.: Northwest Semitic Grammar and Job, BibOr 22, Rom 1969. – Ceresko, A.R.: Job 29–31 in the Light of Northwest Semitic. A Translation and Philological Commentary, BibOr 36, Rom 1980. – Dahood, M.: Hebrew-Ugaritic Lexicography I–XII, Bib 44 (1963) 289–303; Bib 45 (1964) 393–412; Bib 46 (1965) 311–332; Bib 47 (1966) 403–419; Bib 48 (1967) 421–438; Bib 49 (1968) 355–369; Bib 50 (1969) 337–356; Bib 51 (1970) 391–404; Bib 52 (1971) 337–356; Bib 53 (1972) 386–403; Bib 54 (1973) 351–366; Bib 55 (1974) 381–393. – Eckstein, J.: Die Semantik von Ijob 6–7. Erschließung ihrer Struktur und einzelner Lexeme mittels Isotopieanalyse, FAT II/125, Tübingen 2021. – Grabbe, L.L.: Comparative Philology and the Text of Job. A Study in Methodology, SBL.DS 34, Missoula 1977. – Greenspahn, F.E.: Hapax Legomena in the Biblical Hebrew, SBL.DS 74, Chico 1984. – Greenstein, E.L.: The Language of Job and its Poetic Function, JBL 122 (2003) 651–666. – Guillaume, A.: Studies in the Book of Job with a New Translation, ALUOS.S 2, Leiden 1968 – Ders.: The Arabic Background of the Book of Job, in: F.F. Bruce (Hg.), Promise and Fulfilment (FS S.H. Hooke), Edinburgh 1963, 106–127. – Hurvitz, A.: The Date of the Prose Tale of Job Linguistically Reconsidered, HThR 67 (1974) 17–34. – Michel, W.L.: Job in the Light of Northwest Semitic, I, BibOr 42, Rom 1987. – Seow, C.L.: Putative Hapax Legomena in the Book of Job, in: J.F. Diehl/M. Witte (Hg.), Studien zur Hebräischen Bibel und ihrer Nachgeschichte, KUSATU 12.13, Kamen 2011, 145–182. – Strawn, B.A.: Prob�lems and Poetics in the Text History of Job, in: A. Piquer Otero/P. Torijnao Morales (Hg.), The Text of the Hebrew Bible and Its Edition, THB.S 1, Leiden/Boston 2017, 449–480. – Young, I.: Is the Prose Tale of Job in Late Biblical Hebrew?, VT 59 (2009) 606–629.
Das Hiobbuch ist ursprünglich auf Hebräisch abgefasst. Hypothesen, dass es auf ein arab. Original21 oder auf eine aram. Vorlage22 zurückgehe, haben sich nicht bewährt, auch wenn es in einzelnen Passagen, zumal in Kap. 32–37, aber auch in der Rahmenerzählung,23 grammatische und semantische Phänomene 21 Die Erklärung der besonderen Sprache des Hiobbuches aus dem Arabischen erlebte nach Vermutungen bei Hieronymus (gest. 420), Ibn Esra (gest. 1163) und Baruch de Spinoza, Theologischpolitischer Traktat (1670), 175, in dem monumentalen Hiob-Kommentar von Albert Schultens (1737/1773–1774) und in den philologischen Studien von Johann Jakob Reiske (1749/79) eine besondere Blüte. Vgl. zur Sache aber auch schon M. Luther, TR 7087, WA 48, 686, 14f: „Es ist ein große quaestio, ob Job sey Arabs oder Sirus. Ich wolt jn gern Arabem machen. Nam lingua est Arabica, dictio est Arabica, Job und Jobab ist ein name.“ sowie in jüngerer Zeit Albert Guillaume. 22 Vgl. TurSinai, XXXV. Mit diesem Ansatz sind tendenziell vergleichbar der Kommentar von Gordis, der zur Erklärung schwieriger Stellen des Hiobtextes immer wieder auf die rabbinische Literatur zurückgreift, und die annotierte Übersetzung von Greenstein, XXVII, der mutmaßt, der Hiobdichter stamme aus einem aramäischsprachigen Milieu und Hebräisch sei nicht dessen Muttersprache gewesen. 23 Siehe dazu Young, Prose Tale, 618f.
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aufweist, die auf einen Einfluss des Aramäischen hinweisen. Die Übersetzung des Buches ist vor allem in seinem poetischen Hauptteil aufgrund seines seltenen Wortschatzes, seiner eigentümlichen Wortstellung und seines Tempusgebrauchs kompliziert.24 Hieronymus (347–420) vergleicht die Sprache des Buches mit einem Aal, der sich einem Zugriff immer wieder entziehe.25 Luther bezeichnet es als die am schwersten zu übersetzende biblische Schrift.26 Treffend formuliert Greenstein, dass selbst nach sorgfältigster philologischer Analyse die vorgeschlagene Übersetzung häufig mehrdeutig bleibe.27 Da das Hiobbuch zahlreiche nur einmal im Biblischen Hebräisch vorkommende Wörter (Hapaxlegomena)28 bzw. viele Wörter enthält, die in der hebr. Bibel nur im Hiobbuch verwendet werden, sind immer wieder Seitenblicke auf die benachbarten semitischen Sprachen, das Aramäische und das Arabische, nötig. Gelegentlich, aber nicht generell, kann auch das Ugaritische, eine mit dem Hebräischen verwandte nordwestsemitische Sprache, die durch zahlreiche Textfunde aus dem ausgehenden 2. Jt. v. Chr. gut dokumentiert ist,29 zur Lösung eines philologischen Problems herangezogen werden. Eine übertriebene Anwendung des Ugaritischen zur Lösung philologischer Probleme im Hiobbuch fand sich in den 1970/80er Jahren in der sogenannten Dahood-Schule.30 Ungeachtet der zeitlichen und räumlichen Differenz zwischen Ugarit und Israel wurde hier eine kulturelle, mythologische und terminologische Kontinuität zwischen dem Ugaritischen, Eblaitischen, Phönizischen, Punischen und Hebräischen angenommen und versucht, die Integrität des hebr. Konsonantentextes zu verteidigen. In philologischer Hinsicht bedeutete dies eine Anwendung der ug. Grammatik auf das Hebräische (vgl. besonders die häufige Interpretation eines Jod-Suffixes als Suffix der 3. Pers. Sg.), in semantischer Perspektive erfolgte eine unmittelbare Applikation der ug. Mythologie auf die hebr. Lexikographie. So meinte z. B. W.L. Michel, im Hiobbuch 150 Ausdrücke aus der Sphäre Jhwhs und 180 Begriffe aus dem Bereich der Unterwelt zu entdecken, die mythologische oder literarische Metaphern darstellten.
Zu sprachlichen Herausforderungen kommt hinzu, dass der hebr. Text vor allem im Bereich von Kap. 32–37 nicht unversehrt erhalten ist. Gegenüber der früheren textkritischen Forschung, wie sie sich im Gefolge der epochalen Unter24 Speziell zum Tempusgebrauch ist auf die wichtige Studie von Bobzin, Tempora, zu verweisen, der daran festhält, dass die morphologischen Unterschiede der Verben und die Position der jeweiligen Verbform im Satz eine grammatisch eindeutige Funktion haben. Bobzin wird in den Anmerkungen meiner Übersetzung immer wieder genannt, wenngleich ich mich selbst tendenziell stärker am Aspektmodell von D. Michel, Tempora, orientiere. 25 Prologus Sancti Hieronymi in libro Iob, in: Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem (Weber/ Gryson, 731f). Zu den verschiedenen Hiobübersetzungen des Hieronymus s.u. S. 67. 26 TR Nr. 7089, WA 48, 686, 25–27; Sendbrief vom Dolmetschen (1530), WA 30/2, 636, 18–30. 27 Greenstein, Translating, 122. 28 Die genaue Anzahl schwankt je nach lexikalischer Bestimmung – nach Strawn, Problems, 451, sind es 145 Hapaxlegomena. 29 O. Loretz, Ugarit und die Bibel. Kanaanäische Götter und Religion im Alten Testament, Darmstadt 1990; H. Niehr, Religionen in Israels Umwelt. Einführung in die nordwestsemitischen Religionen Syrien-Palästinas, NEB ErgBd. 5, Würzburg 1998, 20–82; I. Cornelius/H. Niehr, Götter und Kulte in Ugarit. Kultur und Religion einer nordsyrischen Königsstadt in der Spätbronzezeit, Mainz 2004. 30 Vgl. die Arbeiten von Blommerde, Ceresko und W.L. Michel sowie auf Kommentarebene Pope.
Die Sprache und der Text des Hiobbuches
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suchungen zum Text des Hiobbuches von Georg Beer (1895/1897) sowie der großen philologisch orientierten Kommentare von Karl Budde (1896; 21913), Bernhard Duhm (1897), Paul Dhorme (1926) sowie von Samuel Rolles Driver und George Buchanan Gray (1921) im textkritischen Apparat der dritten Auflage der BHK (1932) niedergeschlagen hat, wird heute, auch vor dem gewandelten Verständnis eines ,Urtextes‘, zurückhaltender konjiziert.31 Unter den neueren Kommentaren bieten die Werke von John E. Hartley (1988), David J.A. Clines (1989–2011), John Gray (2009) und Choon Leong Seow (2013) reichhaltige Beobachtungen zur Sprache und zum Text im Rahmen der vergleichenden Semitistik32 und der frühen Textgeschichte. Das durch die Erforschung der Qumranschriften neu aufgeblühte Interesse an prä-, protound nichtmasoretischen Textformen sowie an den alten Übersetzungen, insbesondere der Septuaginta, Vulgata und Peschitta, schlägt sich hier ebenso nieder wie die stetig wachsende Zahl von altorientalischen Vergleichstexten. Die Datierung einzelner Teile oder des gesamten Hiobbuches ausschließlich auf der Basis sprachlicher Kriterien bleibt schwierig, da das Phänomen des sogenannten Early Biblical Hebrew (EBH) und Late Biblical Hebrew (LBH) stil- und schreiberbedingt sein kann.33 Die ältesten erhaltenen vollständigen hebr. Handschriften des Hiobbuches finden sich im CodA aus der ersten Hälfte des 10. Jh. n. Chr. und im CodL aus dem Jahr 1008/1009 n. Chr., der den textkritischen Ausgaben der BHK, der BHS und der BHQ zugrunde liegt. Der durch diese Codizes und durch zahlreiche mittelalterliche Handschriften34 repräsentierte Masoretische Text (MT) ist die wichtigste Quelle für das Hiobbuch in seinen verschiedenen sprachlichen Gestalten. Dabei ist zu bedenken, dass der MT erstens nicht den ältesten Text darstellt, zweitens mittels seiner Vokalisierung (und seiner Lesehinweise in der Masora) selbst eine Interpretation des bzw. eines hebr. Hiobbuches darstellt und drittens in seiner handschriftlichen Überlieferung eine Vielfalt von unterschiedlichen Lesarten aufweist, die mitunter bestimmte Schreiberkonventionen widerspiegeln.35 In Qumran wurden bisher nur sehr kleine Fragmente von vier Handschriften des bzw. eines hebr. Buches Hiob gefunden.36 Das älteste Hiobfragment aus Siehe dazu ausführlich CTAT 5. Zu Chancen und Grenzen des Sprachvergleichs siehe Grabbe, Comparative Philology. 33 Zur Diskussion siehe Young, Prose Tale, 606–629; Seow, 17–26, und Strawn, Problems, 465f, die sich kritisch mit den rein linguistisch basierten Datierungsvorschlägen auseinandersetzen, wie sie z. B. A. Hurvitz und D.N. Freedman unterbreitet haben, und künftig ausführlich R. Luther, Hiob in Qumran. 34 Die im 18. Jh. angelegten Variantensammlungen von Kennicott und de Rossi haben weiterhin ihren Wert, zumal einzelne Varianten auch in hebr. Fragmenten aus der Kairoer Genizah und in den antiken Übersetzungen belegt sind (vg. dazu Miletto, Nr. 1090–1141, S. 177–186). 35 Siehe dazu Strawn, Problems, 466–468. 36 A. Lange, Handbuch der Textfunde vom Toten Meer, Bd. 1: Die Handschriften biblischer Bücher von Qumran und den anderen Fundorten, Tübingen 2009, 451–466; ders., Ancient and Late Ancient Hebrew Texts, in: THB 1C (2017), 156–158. Zu den entsprechenden Textausgaben siehe das allgemeine Literaturverzeichnis. 31 32
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Qumran, 4QpaläoHic (4Q101), mit Teilen von Hi 13,18–20.23–27; 14,13–18 stammt paläographisch aus der Zeit zwischen 225–150 v. Chr. Die Abfassung in althebr. Schrift könnte der Rückführung des Buches auf Mose geschuldet sein.37 Die drei anderen Reste von qumranischen in Quadratschrift abgefassten Hiobmanuskripten, 2QHi (2Q15) mit Teilen aus Hi 33,28–30, 4QHia (4Q99) mit Passagen aus Hi 31,14–19; 31,20–21;38 32,3–4; 33,10–11.24–26.28–30; 35,16; 36,7–11.13–27.32–33; 37,1–5.13–15.17–18(19?) und 4QHib (4Q100) mit Teilen aus Hi 8,15–17; 9,27; 13,4; 14,4–6, gehören in die Zeit des 1. Jh. v. Chr. bis zum 1. Jh. n. Chr. Die Fragmente zeigen teilweise eine stichometrische Schreibweise (4QHia; 4QpaläoHic). Abgesehen von kleinen orthographischen Varianten entsprechen diese dem Konsonantenbestand des MT, wobei 2QHi und 4QpaläoHic wohl einen protomasoretischen Text repräsentieren.39 In den Fußnoten zur Übersetzung werden durchgehend die Differenzen in den Hiobhandschriften aus Qumran genannt, sofern es sich nicht nur um orthographische Varianten (Plene-/Defektivschreibung) handelt. Neben dem hebr. Text des Hiobbuches, der hinter den modernen Übersetzungen des Buches steht, existiert eine Vielzahl antiker Übersetzungen.40 Diese können zu textlichen Verbesserungen herangezogen werden, zumal sie teilweise in Handschriften vorliegen, die wesentlich älter als die erhaltenen Manuskripte des hebr. Hiobbuches sind. Hierbei sind aber auch die jeweilige Intention und die Technik der Übersetzungen sowie deren eigene mitunter verwickelte Textgeschichte zu beachten. Gegenüber der früheren Forschung, welche die antiken Übersetzungen vor allem als Steinbruch für die Textkritik benutzte, sind diese, wie der MT, auch als Interpretationen und als eigengewichtige literarische und theologische Werke wahrzunehmen. Daher werden diese hier erst im Rahmen der frühen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte vorgestellt,41 wenngleich sie in den Anmerkungen zur Übersetzung breit berücksichtigt sind.
5. Die Stil- und Sprachformen des Hiobbuches Literatur Alonso Schökel, L.: A Manual of Hebrew Poetics, SubBib 11, Rom 1988 (Nachdr. 2000). – Bühlmann, W./Scherer, K.: Sprachliche Stilfiguren der Bibel. Von Assonanz bis Zahlenspruch. Ein kleines Nachschlagewerk, Gießen 21994. – Fokkelman, J.P.: The Book of Job in Form. A Literary Translation with Commentary. Translated from the Hebrew, Annotated and Introduced, SSN 58, Leiden/Boston 2012. – Jarick, J. (Hg.): Sacred Conjectures. Context and Legacy of Robert Lowth and Jean Astruc, LHBOTS 457, New York/London 2007. – Kugel, J.L.: The Idea of Biblical Poetry. Parallelism and Its History, Baltimore/London 1981 (Nachdr. 1998). – Lugt, P. van der: Rhetorical Criticism and 37 Ulrich, 4QpaleoJobc, 155. 4QpaläoHic ist neben 4QparaJos (4Q123) bisher die einzige nichtpentateuchische Hs in althebr. Schrift aus Qumran. 38 Das Fragment wurde bisher 4QHib (4Q100) zugewiesen, gehört aber zu 4QHia, vgl. Luther/ Tigchelaar, More Fragments. 39 Zur Diskussion des textgeschichtlichen Verhältnisses zwischen den qumranischen Hiobfragmenten und dem MT siehe A. Lange/B.A. Strawn, 11 Job. 11.2 Ancient and Late Ancient Hebrew Texts, in: THB 1C (2017), 156–174, besonders 169–173. 40 S.u. S. 59–67. 41 S.u. S. 59–67.
Die Stil- und Sprachformen des Hiobbuches
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the Poetry of the Book of Job, OTS 32, Leiden 1995. – Lowth, R.: De Sacra Poesi Hebraeorum Praelectiones, Oxford 1753. – Luchsinger, J.: Poetik der alttestamentlichen Spruchweisheit, Poetologische Studien zum Alten Testament 3, Stuttgart 2010. – Noegel, S.B.: Janus Parallelism in the Book of Job, JSOT.S 223, Sheffield 1996. – Seybold, K.: Poetik der Psalmen, Poetologische Studien zum Alten Testament 1, Stuttgart 2003. – Wagner, A. (Hg.): Parallelismus membrorum, OBO 224, Fribourg/Göttingen 2007. – Watson, W.G.E.: Classical Hebrew Poetry. A Guide to its Techniques, JSOT 26, Sheffield 1984 (Nachdr. 2001). – Webster, E.: Strophic Patterns in Job 3–28, JSOT 26 (1983) 33–66. – Ders.: Strophic Patterns in Job 29–42, JSOT 30 (1984) 95–109.
In seiner vorliegenden Form bietet das Buch Hiob eine für die atl. Literatur einmalige Kombination literarischer Stil- und Sprachformen aus unterschiedlichen poetischen und prosaischen Kontexten. 5.1 Parallelismen in den poetischen Teilen des Hiobbuches Formales Kennzeichen der Reden des Hiobbuches ist ihre poetische Gestaltung. Die kleinste poetische Einheit eines hebr. Verses bildet ein Stichos, der auch als Kurzvers, Halbvers, Verszeile, Versglied oder Kolon bezeichnet werden kann. Ein (Lang-)Vers besteht in der Regel aus zwei oder drei Halbversen. Dementsprechend heißt ein aus zwei Verszeilen zusammengesetzter (Lang-)Vers auch Distichon bzw. Bikolon, ein aus drei Verszeilen gebildeter Vers Tristichon bzw. Trikolon.42 Die einzelnen Kola eines Bikolons lassen sich als Kolon a und Kolon b voneinander abgrenzen, im Fall eines Trikolons kommt ein Kolon c hinzu.43 Die Gliederung eines Verses in Kolon a und Kolon b entspricht überwiegend der von den Masoreten vorgenommenen Teilung eines Verses mittels der Setzung des Akzents Atnach sowie im Fall eines Trikolons mittels der zusätzlichen Setzung der Akzente Olä wejored oder Rebia (gadol). Mitunter legt sich aufgrund einer poetologischen Analyse aber eine andere kolometrische Gliederung als die von den Masoreten vorgeschlagene nahe. Die Bearbeiter der BHK und BHS haben eine mutmaßlich ursprünglich beabsichtigte poetische Gliederung mithilfe von kleinen Leerräumen (Spatien) zwischen den einzelnen poetischen Einheiten verdeutlicht, was aber von der Setzung der Spatien im CodL abweicht. Dabei ist zu bedenken, dass auch schon die masoret. Segmentierung ebenso wie die Vokalisierung eine nach bestimmten poetischen, syntaktischen, inhaltlichen und liturgischen Erwägungen vollzogene Interpretation darstellt. In den modernen Auslegungen werden die drei Kola eines Trikolons entweder in der Form aα–aβ–b (bzw. a–bα–bβ) angegeben (so auch in diesem Kommentar), was eher der masoret. Hierarchisierung der Versteile entspricht, oder in der Form a–b–c, was eher die kolometrische Äquivalenz der Kola andeutet. Bei der Zitation einer Zeile aus der Hiob-LXX wird hier entsprechend der Segmentierung in der Ausgabe von
42 In sehr seltenen Fällen liegen in einem Vers vier gleichgewichtigte Kola vor, so dass von einem Tetrakolon bzw. einem doppelten Bikolon gesprochen werden kann (vgl. Hi 7,21; 24,20; 30,1). 43 Siehe dazu ausführlich Fokkelman, 5f. Zum Problem der Segmentierung siehe A.A. Fischer, Der Text des Alten Testaments, Stuttgart 2009, 43–46.
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Einleitung
J. Ziegler verfahren; wenn die Zählung der Zeile der LXX nicht mit der masoret. Segmentierung übereinstimmt, ist dies in Klammern angegeben. Die Hiobdichtung besteht überwiegend aus Bikola. In der Mehrzahl sind die in ihr vorliegenden Trikola die Folge einer Glossierung eines Bikolons, des Ausfalls eines vierten Kolons (so dass eigentlich zwei Bikola anzunehmen sind) oder einer von den Masoreten gegen die intendierte Poetologie vorgenommenen Segmentierung. In sehr wenigen Fällen könnte ein ursprüngliches Trikolon vorliegen: Dies betrifft inhaltlich besonders hervorgehobene Passagen wie die Eingangsklage Hiobs in Kap. 3 sowie den Abschluss einer Strophe (vgl. Hi 7,11; 13,27) oder einer gesamten Rede (vgl. Hi 10,22; 19,29; 34,37). Das Grundprinzip der hebr. Poesie bildet der Parallelismus membrorum, d. h. die Parallelität der Glieder (Stichen, Kola) eines Verses. Charakteristisch für den Parallelismus membrorum ist, dass sich die wesentlichen Elemente der Glieder eines Verses formal und inhaltlich entsprechen. Der Parallelismus membrorum ist nicht auf die hebr. Poesie beschränkt, sondern findet sich bereits in der sum., akkad., äg. und ugarit. Dichtkunst. Je nach Art der formalen und inhaltlichen Entsprechung der Versglieder lässt sich der Parallelismus membrorum klassifizieren. Erstmals wurde eine solche Typologie der hebr. Dichtkunst systematisch dargestellt von dem englischen Lordbischof und Oxforder Professor der Rhetorik Robert Lowth (1753). Die gegenwärtige Forschung unterscheidet im Anschluss an Lowth fünf Formen des Parallelismus membrorum. Dabei ist die Kopula w, die beide Kola miteinander verbindet, jeweils unterschiedlich zu übersetzen. 1) Im synonymen Parallelismus geben die sinngemäß zusammengehörenden Verszeilen mit anderen Worten denselben Gedanken wieder, z. B. Hi 4,7: Bedenke doch: Wer ging jemals als Unschuldiger zugrunde, und (w) wo sind die Aufrichtigen je vernichtet worden?
2) Im synthetischen Parallelismus führt der zweite Vers-/Satzteil den ersten fort, ohne ihn abgewandelt zu wiederholen, z. B. Hi 5,17: Siehe: Glücklich ist der Mensch, den Eloah zurechtweist, daher (w) verachte die Züchtigung Schaddajs nicht!
3) Im antithetischen Parallelismus bilden die Versglieder einen Gegensatz, z. B. Hi 8,20: Siehe: El wird den Frommen nicht verachten, aber (w) die Hand der Bösen wird er nicht festhalten.
4) Im parabolischen (vergleichenden) Parallelismus verteilen sich beide Versteile auf eine Bild- und eine Sachhälfte, z. B. Hi 7,9: Eine Wolke zieht vorüber und ist dahingegangen: So (ken) steigt nicht mehr hinauf, wer hinabstieg zur Scheol.
5) Im klimaktischen (repetierenden oder tautologischen) Parallelismus führen die einzelnen Versteile (zumeist drei) stufenartig einen Gedanken fort, wobei ein Schlüsselwort oder Schlüsselmotiv beibehalten wird, z. B. Hi 7,11:
Die Stil- und Sprachformen des Hiobbuches
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Doch ich, ich will nicht zügeln meinen Mund, ich will reden in der Not meines Geistes, ich will klagen in der Bitternis meiner ‚Seele‘.44
6) Zahlreiche Janus-Parallelismen, bei denen in einem Bikolon bewusst ein mehrdeutiges Wort gewählt ist, dessen unterschiedliche Bedeutungen jeweils in einem Kolon eines oder zweier benachbarter Verse vorherrschen, hat im Bereich des Hiobbuches Scott B. Noegel (1996) nachgewiesen, vgl. z. B. Hi 7,6–7, wo der Dichter mit dem Polysem tiqwāh (I „Schnur/Faden“, II „Hoffnung“) spielt: 6 Meine Tage waren schneller als ein Weberschiffchen und sind vergangen ohne jede tiqwāh („Faden“, vgl. V. 6a; „Hoffnung“, vgl. V. 7b).45 7 Bedenke, dass mein Leben nur ein Hauch ist, dass mein Auge nicht umkehrt, Gutes zu sehen. Noegel identifiziert Janus-Parallelismen in Hi 3,23–24; 3,25–26; 4,2–3; 5,24; 6,20–21; 6,30–7,1; 7,6–7; 9,9–11; 10,7–8; 13,22–23; 17,6–7; 18,4–5; 18,11–13; 19,11–12; 20,23–24; 20,25; 20,27–28; 21,12–13; 21,19–20; 21,23–24; 22,5–6; 24,9–10; 24,20–21; 24,19–21; 27,18–19; 28,3–4; 28,9– 10; 29,18–19; 29,20–23 (ein Janus-Cluster mit fünf Polysemen); 30,3; 30,5–6; 30,7–8; 31,2–3; 31,31–32; 31,35; 32,11; 32,17–18; 36,15–16; 36,24–25; 36,27–28, 38,24–25; 39,10–11; 39,19–20. Die von Noegel angestellte Identifikation muss allerdings im Einzelfall genau geprüft werden, da sie teilweise auf umstrittenen philologischen Voraussetzungen beruht – so funktionieren manche der von Noegel festgestellten Janus-Parallelismen nur unter der Annahme von Bedeutungen, die aus Nachbarsprachen des Hebräischen erschlossen sind, oder von Vokalisierungen, die vom MT abweichen. Ebenso muss die von Noegel für einige Janus-Parallelismen (Hi 3,23; 6,20; 7,6–7; 20,23; 24,21) konstatierte buchweite kompositionelle Funktion im Einzelfall kritisch evaluiert werden. Von der Verteilung von Janus-Parallelismen auf die literarische Einheitlichkeit des Hiobbuches zu schließen,46 ist problematisch, da auch spätere Bearbeiter diese Stilfigur verwenden können.
Teilweise werden Janus-Parallelismen auch in den antiken Übersetzungen des Hiobbuches abgebildet.47 5.2 Besondere Stilmittel Neben dem Parallelismus membrorum kennzeichnet poetische Texte im Hebrä ischen, so auch im Hiobbuch, die Vermeidung des Artikels und des Relativpronomens sowie die Vorliebe für Ellipsen, d. h. für Sätze, bei denen selbstverständliche oder stillschweigend mitzudenkende Satzglieder ausgelassen sind. Zur Frage, ob das dritte Kolon hier wirklich ursprünglich ist, siehe die Auslegung. Zum Hintergrund des Bildes siehe ausführlich die Auslegung von Hi 7,6–7. 46 So Noegel, Janus Parallelism, 91f; 148–150; vgl. auch Carasik, Janus Parallelism, 149–154, der vor dem Hintergrund der häufigen Verwendung von Janus-Parallelismen in der Hiobdichtung und der Annahme eines Janus-Parallelismus in dem prosaischen Vers Hi 1,20 (šḥh, Hitpalel „sich verneigen“, einmal mit dem Aspekt der Klage, einmal mit dem Aspekt des Anbetens) auf die gemeinsame Autorschaft von Rahmenerzählung und Dichtung schließt. 47 Noegel, Janus Parallelism, 140–143, mit der Beobachtung, dass unter den Versionen das rabbinische Targum die höchste Anzahl und die Vulgata die niedrigste Anzahl von Äquivalenten zu den Janus-Parallelismen im MT hat, was sich mit der Nähe des Aram. zum Hebr. erklärt. 44 45
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Einleitung
Häufig ist der Ausdruck besonders dicht. Hinzu kommt eine Vielzahl von Stilmitteln, von denen hier nur eine kleine Auswahl genannt wird. 1) die Alliteration, d. h. die Folge mehrerer Wörter mit demselben (An-) Laut, z. B. Hi 5,8: ʾûlām ʾ anî ʾædroš ʾæl-ʾel / w eʾæl-ʾ ælohîm ʾāśîm dibrātî Ich aber würde mich an El wenden / und vor Gott48 meine Sache bringen.49
2) das Homoioteleuton, d. h. die Folge mehrerer Wörter mit demselben Auslaut (,Endreim‘), z. B. Hi 27,12: hen ʾattæm kull ekæm ḥ azîtæm / w elāmmāh-zæh hæbæl tæh ebālû Wenn ihr alle es doch gesehen habt, / wozu redet ihr dann solche Nichtigkeiten?50
4) die Paronomasie, d. h. der Gleichklang aufeinander folgender Wörter, z. B. Hi 12,2: ʾåmnām kî ʾattæm-ʿām / w eʿimmākæm tāmût ḥåkmāh Wahrhaftig, ihr seid wirklich (tolle) Leute51 / und mit euch wird die Weisheit sterben!52
5) der Chiasmus, d. h. die Überkreuzstellung einander entsprechender Wörter innerhalb eines Verses (A – B / B’ – A’), so dass die zentrale Aussage in der Mitte des Verses steht, z. B. Hi 7,17–18: māh-ʾ ænôš kî t egaddelænnû / w ekî-tāšît ʾelâw libbækā wattipq edænnû libqārîm / lirgāʿîm tibḥānænnû Was ist der Mensch, dass du ihn großziehst / und dass du auf ihn richtest dein Herz und ihn untersuchst allmorgendlich / jeden Augenblick ihn prüfst prüfst?53
Im Deutschen lässt sich ein Chiasmus häufig aber nur zulasten der eigentlichen Wortstellung abbilden. Sofern stilistisch vertretbar, wird die chiastische Wortstellung in der Übersetzung dieses Kommentars bewahrt, ansonsten wird einer parallelen Übersetzung der entsprechenden Kola der Vorzug gegeben. 6) die figura etymologica, d. h. die Verbindung eines (intransitiven) Verbs mit einem Akkusativobjekt, das zum gleichen Wortstamm gehört, z. B. Hi 3,25: kî paḥad pāḥadtî … Denn (vor) Schrecken erschrak ich …; d. h.: gewaltiger Schrecken packte mich … (vgl. 16,14).
Dazu gehört auch die Kombination einer finiten Verbform mit dem Inf. abs. derselben Wurzel zwecks Verstärkung, z. B. Hi 13,17: šimʿû šāmôʿ a Hört hören!; d. h.: hört doch! bzw.: hört ganz genau zu!54 Zur ursprünglichen Lesart (ʾelâw „vor ihn“) siehe S. 131. Vgl. Hi 3,3; 10,2; 13,3; 19,27; 20,10–11; 33,2.16 u. v. a. 50 Vgl. Hi 5,19; 8,11.16.17; 10,2; 12,2; 16,12.15.16; 23,2; 33,2.22; 34,14; 35,6; u. v. a. 51 Zur ursprünglichen Lesart (jod eʿîm „Wissende“) siehe S. 220. 52 Vgl. Hi 3,3; 5,19; 8,10; 12,2; 16,14; 22,10 u. v. a. 53 Vgl. Hi 3,20; 4,3; 4,6; 10,5; 16,11; 28,21; 33,22; 36,14 u. v. a. 54 Vgl. Hi 6,2.25; 13,5.10; 21,2; 37,2. 48 49
Die Stil- und Sprachformen des Hiobbuches
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7) die Verwendung von Leitwörtern, d. h. die inhaltliche und stilistische Strukturierung eines Textes durch die häufige Verwendung bestimmter Wörter oder Begriffe. Das Hiobbuch ist in allen seinen Teilen von einem Netzwerk von Leitwörtern durchzogen. So weit im Deutschen stilistisch vertretbar, werden diese in der hier gebotenen Übersetzung konkordant wiedergegeben, um die textlichen Vernetzungen abzubilden. Dies betrifft z. B. alle von der Wurzel jdʿ „erkennen/wissen“, ṣdq „(ge)recht sein/im Recht sein/Recht behalten“ oder ršʿ „freveln“ abgeleiteten Derivate. Bei einer im Deutschen gelegentlich stilistisch besseren oder schöneren Übersetzung besteht demgegenüber die Gefahr, Konkordanzen herzustellen, die sich nicht im hebr. Text finden, so wenn beispielsweise rāšaʿ nicht mit „freveln“, sondern mit „schuldig sein“ (bzw. im Hif. „für schuldig erklären“/„schuldig sprechen“) übersetzt wird, wodurch der Bezug zu rāšāʿ „Frevler“ und ræšaʿ „Frevel“ undeutlich wird, während auf der Ebene der Übersetzung eine unmittelbare Beziehung zum Wort „Schuld“ hergestellt wird, wofür im Hebr. ʿāwôn steht, oder wenn das Wort ʿawlāh mit „Unrecht“ übersetzt wird, obgleich es in keinem etymologischen Zusammenhang mit der Wurzel ṣdq „(ge)recht sein“ bzw. dem Begriff ṣædæq „Recht“ steht.55 Eine solche ,sekundäre Kongruenz‘ lässt sich aber nicht immer vermeiden. Diese Problematik spiegelt sich bereits auf der Ebene der alten Übersetzungen des Hiobbuches (11QTgHi; LXX; Vg; Syr) wider und erfordert bei einer grundsätzlichen Bevorzugung einer konkordanten Übersetzung eine gewisse Beweglichkeit, zumal sich immer wieder das Phänomen zeigt, dass einzelne Begriffe im Mund unterschiedlicher Redner unterschiedlich gefüllt werden. Der Gebrauch mehrdeutiger Wörter (Homonyme, Polyseme), die bewusste Äquivokation oder Ambiguität, gehört zu den besonderen kommunikativen Techniken des Hiobbuches. Das Hiobbuch ist auch ein Spiel mit Worten, „a drama of words“,56 und über weite Strecken ein Lehrbuch gelingender und misslingender Kommunikation. Im Kommentar wird diese sprachliche Vielschichtigkeit an den entsprechenden Stellen vermerkt. 8) Wie die Dichtung in anderen Sprachen oder literarischen Bereichen weist das Hiobbuch eine Vielfalt von Metaphern auf. Diese sind im Rahmen eines wieder erwachten Interesses an der Bedeutung der Metaphorik für Sprache ein besonderer Gegenstand der gegenwärtigen Forschung. Dabei stehen vor allem der Gebrauch sowie die literarische und textpragmatische Funktion von Metaphern, Bildworten und Gleichnissen im Hiobbuch, die bei ihrer Bildwahl auf Körperteile, Pflanzen, Tiere zurückgreifen, im Mittelpunkt des Interesses.57 Ihre Deutung wird mitunter dadurch erschwert, dass nicht immer die genaue biologische Bestimmung möglich ist oder der Symbolgehalt nicht bekannt bzw. kulturell unterschiedlich geprägt ist. Im Schatten der besonderen Konzentration auf das Phänomen Raum in den Kulturwissenschaften, eines sogenannten spatial turn, sind in jüngster Zeit verschiedene Untersuchungen Vgl. die entsprechende Übersicht zur Semantik der Wurzel ṣdq bei Janowski, Anthropologie, 262. Greenstein, XXVI. Siehe dazu bereits König, Stilistik, 93–105, und Westermann, Vergleiche, 97–103, sowie in neuerer Zeit Riede, Spiegel; Jones, Corporeal Discourse; Doak, Leviathan; Greenstein, Metaphors; Hawley, Metaphor Competition; Van Loon, Metaphors. 55
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zu Raummetaphern im Hiobbuch vorgelegt worden, deren Textgemäßheit und Erkenntniswert mitunter jedoch recht beschränkt ist.58 Eine besondere Häufung von Stilmitteln und syntaktischen Besonderheiten weisen die Reden Hiobs, Eliphas’ und Gottes sowie im Bereich rhetorischer Figuren die Reden Elihus auf, so dass diese auch auf formaler Ebene als die wichtigsten Akteure erscheinen.59 Über eine eigene Figurensprache bzw. über Ansätze zu dieser verfügen insbesondere Hiob, Eliphas und Elihu.60 Die Erhebung eines Soziolektes, wie er z. B. für die Werke der klassischen Tragiker (Aischylos, Sophokles, Euripides) oder im biblischen Bereich für das johanneische und paulinische Schrifttum aufgewiesen werden kann, ist für das Hiobbuch nicht möglich, auch wenn sich gegenüber den anderen Schriften der hebr. Bibel lexikalische und syntaktische Besonderheiten zeigen. Die Frage eines Ideolektes ergibt sich höchstens auf der Ebene des literarischen Wachstums des Buches, wobei hier zu bedenken ist, dass jüngere Schichten ihre Vorlage auch sprachlich imitieren können.61 5.3 Metrik und Strophik Die hebr. Poesie weist insgesamt eine metrische Struktur auf. Die Bestimmung der ursprünglichen Metrik steht aber vor der doppelten Schwierigkeit, dass sich im Laufe der Jahrhunderte die Aussprache geändert hat und dass die hebr. Texte zunächst unvokalisiert und ohne Akzente überliefert wurden. So spiegelt die im Mittelalter vorgenommene masoret. Vokalisation und Akzentuierung nicht unmittelbar die ursprüngliche Aussprache und Satzgliederung wider. In der Forschung konkurrieren im Wesentlichen drei Modelle zur Bestimmung der ursprünglichen Metrik der hebr. Poesie: 1) Gemäß dem akzentuierenden Modell gibt jeweils der natürliche Wortakzent, in der Regel die letzte oder die vorletzte Silbe, die Betonung an. Demzufolge können einer betonten Silbe auch mehrere unbetonte Silben folgen. Grundform ist die Folge ,unbetont – unbetont – betont’; dies entspricht einer Anapäst. 2) Das alternierende Modell geht davon aus, dass sich unabhängig vom natürlichen (grammatischen) Wortakzent betonte und unbetonte Silben regelmäßig abwechseln. Die Grundform akzentuiert dann in ,unbetont – betont‘, bildet also einen Jambus. Abwandlungen stellen die Folge ,betont – unbetont‘, also ein Trochäus, oder ,unbetont, unbetont, betont‘, also eine Anapäst dar. 3) Das stichometrische Modell orientiert sich nicht an der (hypothetischen) Abfolge von betonten und unbetonten Silben, sondern geht von der Beobachtung aus, dass die Anzahl der Silben oder der Konsonanten der einander entsprechenden Halbverse zumeist äquivalent ist.62 Vgl. de Joode, Metaphorical Landscapes; Bunzel, Ijob. Vgl. A. Michel, Herausstellungsstrukturen, 123–136. 60 Vgl. insbesondere die Studie von Nõmmik, Freundesreden, mit der These, die Reden Bildads und Zophars wiesen auch gemäß ihrer Herkunftsorte ein bestimmtes Lokalkolorit auf, insofern Bildads Reden stärker an mesopotamische Weisheit und Zophars Reden an aram. Weisheit erinnerten, sowie die Arbeiten von Wahl, Schöpfer, und Lauber, Weisheit. 61 Siehe dazu Eckstein, Kurz- oder Langvorlage?. 62 O. Kaiser, Einleitung in das Alte Testament. Eine Einführung in ihre Ergebnisse und Pro bleme, Gütersloh 51984, 328–330; J. Tropper, Altsemitische Metrik. Alternierende Metrik im Biblisch-Hebräischen, Aramäischen, Ugaritischen und Akkadischen, Kamen 2010. 58 59
Die Stil- und Sprachformen des Hiobbuches
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Bei der Rekonstruktion des ,Urtextes‘ und bei der Textkritik kann die Beachtung der stilistischen und der metrischen Grundstruktur eine wichtige Hilfe leisten.63 Hierbei kommt der Anwendung der Kolometrie,64 d. h. der Feststellung der numerischen Äquivalenz der geschriebenen Buchstaben (Grapheme) zwischen den Kola eines Verses, eine besondere Bedeutung zu. Eine Strophenbildung liegt vor, wenn einzelne Verse zu inhaltlich (thematisch) und formal zusammengehörenden Einheiten zusammengefasst sind. In einzelnen Psalmen findet sich eine deutliche Markierung von Strophen durch einen sich wiederholenden Kehrvers (Refrain).65 Im Hiobbuch weisen häufig bestimmte satzeinleitende Textmarker (vor allem Interjektionen und Pronomina) wie hinneh/hæn („siehe/seht“) oder kî („denn/ja/doch“) auf den Neubeginn einer Strophe hin.66 Eine Besonderheit der Strophenbildung stellen die alphabetischen Akrosticha dar. Bei einem alphabetischen Akrostichon entsprechen die Anfangsbuchstaben der Verse oder der Strophen der Folge des Alphabets. Während sich im Psalter und in den Threni echte alphabetische Akrosticha finden,67 bietet die Hiobdichtung nur punktuell alphabetisierende Abschnitte, bei denen entweder aufeinander folgende Verse mit demselben Buchstaben beginnen oder die Anfänge aufeinander folgender Verse der Sequenz oder der näheren Nachbarschaft einzelner Buchstaben im Alphabet entspricht.68 Gelegentlich findet sich in einzelnen Strophen auch eine Aufreihung ähnlicher Größen (,Liste‘).69 5.4 Sprachformen und Gattungen des Hiobbuches Altorientalische und antike Literatur, insbesondere Poesie, ist wesentlich stärker als moderne Literatur an bestimmte sprachliche Formen und Gattungen gebunden. Eine Gattung (genre) im literaturwissenschaftlichen Horizont ist eine sprachliche Äußerung, die erstens über eine bestimmte formale Gestalt verfügt, zweitens ein bestimmtes Repertoire an Motiven aufweist und drittens in einem bestimmten soziokulturellen Kontext (Sitz im Leben) verankert ist. Letzteres spiegelt sich auch in der Intention und der Richtung, die mit der jeweiligen sprachlichen Äußerung verbunden ist, sei es, dass diese horizontal 63 Vor allem in älteren Kommentaren (z. B. Hölscher; Horst; Fohrer) spielen metrische Erwägungen eine Rolle, aber auch in den jüngeren Werken (z. B. Fokkelman) wird die Metrik berücksichtigt. 64 O. Loretz/I. Kottsieper, Colometry in Ugaritic and Biblical Poetry. Introduction, Illustrations and Topical Bibliography, UBL 5, Altenberge 1987; U. Nõmmik, Beobachtungen zur alttestamentlichen Weisheitsliteratur auf Grund der poetologischen Analyse (Kolometrie), in: T.R. Kämmerer (Hg.), Studien zu Ritual und Sozialgeschichte im Alten Orient, BZAW 374, Berlin/New York 2007, 227–239. 65 Ps 42,6/12/43,5; 42,10/43,2; 46,8.12; 49,13.21. 66 Vgl. dazu vor allem die Studien von van der Lugt, Rhetorical Criticism (mit einer ausführlichen Darstellung der Forschungsgeschichte), und von Webster, Strophic Patterns, sowie unter den Kommentaren Fohrer, J. Gray, Fokkelman und Clines. 67 Ps 9–10; 111–112; 119; 145; vgl. auch die Babylonische Theodizee, s.u. S. 35f. 68 Hi 3,3–12; 9,13–24; 12,17–24; 13,7–11; 41,2–26 u. a. 69 Hi 18,8–11; 19,13–16; 28,15–19; 41,17–22; vgl. Jes 35,5–6 und dazu Watson, Poetry, 350.
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(von Mensch zu Mensch) angelegt ist, wie in einer lehrhaften Sentenz oder einem Rechtsspruch, sei es, dass sie vertikal (vom Menschen zu einer Gottheit oder von einer Gottheit zum Menschen) ausgerichtet ist, wie in einem Gebet oder einem Gottesspruch (Orakel). Die neuzeitliche Erforschung der atl. Gattungen geht nach Vorarbeiten von Johann Gottfried Herder (1744–1803) und Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849) auf Hermann Gunkel (1862–1932) zurück. Im Blick auf das Hiobbuch wurde die gattungsgeschichtliche Forschung vor allem durch Claus Westermann (1956) und Georg Fohrer (1959; 1963), in neuerer Zeit von Ronald E. Murphy (1981), John E. Hartley (1988), Katherine J. Dell (1991) und Bruce Zuckerman (1991) sowie – unter Aufnahme theoretischer Ansätze des Literaturwissenschaftlers Michail Michailowitsch Bachtin (1895–1975) – von Carol Newsom (2003) weitergeführt. Eine Zusammenstellung von Gattungsbestimmungen für die einzelnen Teile des Buches und für das Gesamtwerk bieten Françoise Mies (2003), Markus Witte (2007), Bernhard Klinger (2007) und Timothy Jay Johnson (2009).70 Vor einer Bestimmung der Gattung des gesamten Buches sollen hier aber zunächst die Gattungen und Sprachformen der einzelnen Teile vorgestellt werden. 5.4.1 Sprachformen und Gattungen des Prologs und Epilogs
Der Prolog und der Epilog sind in Kunstprosa abgefasst, d. h. in einer sich zahlreicher poetischer Stilmittel bedienenden, aber nicht metrisch strukturierten Sprache. Makrokompositionell lässt sich die Rahmenerzählung als eine lehrhafte Novelle oder weisheitliche Lehrerzählung bezeichnen. Erzähltechnisch findet diese ihre nächsten atl. Parallelen in den Büchern Rut und Jona sowie in breiter ausgestalteter Form in der Josephsgeschichte (Gen 37–50*), im Esterbuch und in den Danielerzählungen (Dan 1–6). Die nächsten außerbiblischen Parallelen bilden die wohl im 6. Jh. v. Chr. entstandene aram. Erzählung vom weisen Achikar71 und die vielleicht aus dem 8. Jh. v. Chr. stammende akkad. Erzählung vom armen Mann von Nippur.72 Im Einzelnen verwendet die Rahmenerzählung des Hiobbuches auch Elemente aus dem Märchen, so das Motiv des großen Reichtums Hiobs oder der Schönheit seiner Töchter in Hi 1,3 bzw. 42,15,73 aus der Sage, so die Zeichnung Hiobs im Stil eines Patriarchen analog zu den Erzvätern in Gen 12–35 oder die szenische Zweiheit (Jhwh und der Satan, Hiob und der Bote, Hiob und seine Frau, Jhwh und Eliphas), und aus dem Mythos, so das Motiv der Götter-/Gottessöhne und des himmlischen Hofstaates (Hi 1,6–12; 2,1–6). Poetisch gestaltet ist die Doxologie Hiobs in 1,21, die als inhaltliches Zentrum 70 Mies, Le genre littéraire, 336–369; Johnson, Eye, 15–38; Klinger, Leiden, 22–48; Witte, Hiobs viele Gesichter, 37–64. 71 TUAT III, 320–347; JSHRZ.NF II/2. 72 TUAT III, 174–180; siehe dazu H.-P. Müller, Mensch, 101–120; ders., Hiobrahmenerzählung, 21–39. 73 Siehe dazu auch K. Schmid, Hiob, 27.
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der (ursprünglich selbstständigen) Erzählung angesehen werden kann.74 Hinzu kommen ironische Passagen (vgl. Hi 2,3). 5.4.2 Sprachformen und Gattungen der Hiobdichtung
Die wesentlichen Sprachformen der Hiobdichtung kommen aus den Bereichen der Weisheit,75 der Psalmen und des Rechts. Aus der Weisheit stammt zunächst der Spruch oder die weisheitliche Sentenz (hebr. māšāl „Gleichnis/Parabel“, παροιμία/παραβολή), die zu Spruchreihen kombiniert das Grundgerüst von Spruchsammlungen und Spruchbüchern bildet. Der Spruch kann eine belehrende (didaktische, paränetische), zur Reflexion anregende (diskursive, konfrontative, kritische, meditative) oder diese bündelnde (resultative), auf Überzeugung setzende (persuasive) und zu einem bestimmten Handeln motivierende oder direktive Funktion haben. Dabei lassen sich prinzipiell drei Anwendungsbereiche unterscheiden: Im Ethos mahnt ein Spruch zu richtigem sozialem Verhalten, in der Kosmologie deutet er die Natur und ihre Phänomene, in der theologischen Reflexion artikuliert er die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes.76 Vorbilder und Parallelen zu den israelitisch-jüdischen Sprüchen und Spruchsammlungen finden sich im gesamten alten Orient, in Ägypten, teilweise auch im antiken Griechenland. Im mesopotamischen Raum sind dies vor allem sum. und akkad. Sammlungen von weisheitlichen Mahnungen,77 in der aram. Literatur die wohl aus dem 8./7. Jh. v. Chr. stammenden Sprüche des Achikar,78 in Ägypten die vom Alten Reich (2655–2310 v. Chr.) bis zur Zeit des Hellenismus nachgewiesenen Lebenslehren,79 in der paganen griech. Welt die Spruchweisheit in Gestalt des Sprichworts (παροιμία), der Sentenz (γνώμη), des situationsbezogenen Denkspruchs (ἀπόφθεγμα) und des Rates (ὑποθήκη).80 In allen genannten Texten finden sich zahlreiche sprachliche und motivische Parallelen zu Sprüchen im Hiobbuch. Sodann kommen aus der Weisheit die Streitrede, die das Grundmuster aller Freundesreden bildet, die auf Vermittlung von Einsicht und auf Erziehung zielende Lehrrede/Instruktion (Hi 27,11–23, vgl. Spr 1–9; 30),81 das Lehrgedicht (Hi 28, vgl. Spr 8),82 Meditationen und Reflexionen über die Hinfälligkeit S.u. S. 47; 52f. Siehe dazu ausführlich S. 26–34. 76 Siehe dazu den Exkurs zur alttestamentlichen ,Theodizee-Literatur‘ auf S. 31–33. 77 Lambert, BWL, 96–107; 213–282; 311–317; 338–341ANET, 425–427; COS 1.174; 1.175; TUAT III, 23–43; 163–173. 78 TUAT III, 320–347; JSHRZ.NF II/2. Der auf der Nilinsel Elephantine gefundene Papyrus stammt aus dem 5. Jh. v. Chr. Texte aus Achikar werden nach der Anordnung der Kolumnen von I. Kottsieper in TUAT III zitiert. Zu den unterschiedlichen Anordnungen siehe die Synopse bei Weigl, Achikar-Sprüche, 851–860. 79 Brunner, Weisheitsbücher; TUAT III, 191–319; TUAT.NF VIII, 312–347. 80 Strömberg, Sprichwörter; ders., Proverbs; Althoff/Zeller, Worte. 81 Zu einer Differenzierung der Lehrrede hinsichtlich unterschiedlicher pädagogischer Konzepte siehe Schipper, Proverbien, 48. 82 Vgl. zudem Ps 1; 19; 37; 49; 73; 78; 104; 105; 106; 112; 119; Sir 1; 24. 74 75
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und Vergänglichkeit menschlicher Existenz (Hi 14, vgl. Ps 49; 90; Pred 3) und zumindest teilweise die Aufzählung von Schöpfungswerken in den Gottesreden (vgl. besonders Hi 38–39). Zentrale Begriffe der Weisheit, die im Hiobbuch verwendet werden, sind bîn „einsichtig sein/verstehen/wahrnehmen“ und bînāh „Einsicht/Verstehen/ Klugheit“, jādaʿ „wissen/erkennen“ und daʿat „Wissen/Erkenntnis“, ḥākam „weise sein“, ḥākām „weise“ und ḥåkmāh „Weisheit“, ʿårmāh „Klugheit“ und hiśkîl „verständig sein/einsehen“. In der Übersetzung dieses Kommentars werden diese, soweit kontextuell möglich und sinnvoll, konkordant übersetzt. Aus der Sprache der Psalmen stammen zunächst die in der 2. P. Sg. an Gott gewandten Klagen und Bitten Hiobs, die zentrale Motive aus der Gattung der Klage eines Einzelnen aufnehmen und weiterführen, nämlich a) die Klage zu, über und gegen Gott, b) die Klage über das eigene Leid, c) die Klage über die feindlich erlebte Umwelt, d) die Bitte um eine Wende der Not und e) das Bekenntnis des Vertrauens auf Gott. Sodann wurzeln in der Sprache der Psalmen hymnische Elemente in einzelnen Reden Hiobs,83 der Freunde,84 Elihus (vgl. Hi 36,22–37,13) und Gottes (Hi 38–41). Insofern die atl. Klagen und Hymnen tief in der altorientalischen Gebetssprache verankert sind, weist das Hiobbuch auch hier zahlreiche motivische und strukturelle Parallelen zu Gebeten aus Ägypten, Mesopotamien und Syrien auf. Die Parallelen betreffen vor allem die Elendsschilderungen, die Fragen nach Dauer, Grund und Ziel der Not, die Beschreibung des Leidens unter der Abwesenheit oder dem Zorn Gottes, die Verwendung von Metaphern bei der Schilderung der Not sowie die Thematisierung menschlicher Verfehlungen. Die Gebete Hiobs wie auch einzelne atl. Klagegebete (Ps 6; 13; 22; 88 u. v. a.) berühren sich hier insbesondere mit mesopotamischen Handerhebungsgebeten (Šu-illa-Gebete), so genannt aufgrund des mit diesen Gebeten verbundenen Ritus der Erhebung der rechten Hand, und mit Herzberuhigungsklagen (EršaḫungaGebete), so genannt nach deren Ziel, das Herz der erzürnten Gottheit, auf die der Beter sein Leiden zurückführt, zu beruhigen.85 Bei den Hymnen sind es vor allem die Motive der Gerechtigkeit und Weisheit der gepriesenen Gottheit, zumeist der Götter Šamaš und Marduk, mitunter auch ihres Wirkens bei der Erschaffung und Bewahrung des Lebens, welche die altorientalischen Gebete mit den atl. Lobgebeten und lobpreisenden Elementen im Hiobbuch teilen. Während aber die mesopotamischen und äg. Gebete an unterschiedliche Göttinnen und Götter gerichtet sind, wenden sich die Klagen, Bitten und hymnenähnlichen Stücke im Hiobbuch wie die atl. Psalmen durchgehend und ausschließlich an Jhwh. Vgl. Hi 9,5–13; 10,8–12; 12,7–10; 12,13–25; 23,8–9.13–14; 26,5–14. Vgl. Hi 5,9–16; 11,7–9; 22,12. 85 Eine Auswahl entsprechender Gebete in neuerer Übersetzung bieten TUAT II, 645–783, und TUAT.NF VII, 1–99, sowie Lenzi, Akkadian Prayers, und Maul, Herzberuhigungsklagen. Einen paradigmatischen Vergleich zwischen atl. und akkad. Klagegebeten (am Beispiel der Šu-illa-Gebete Ištar 2 und Ištar 10 sowie der Ps 22 und 38) mit einem steten Seitenblick auf die Klagen im Hiobbuch bietet Zernecke, Gott und Mensch. 83 84
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Gerade in den psalmistischen Passagen der Hiobdichtung zeigt sich ein starker Rekurs auf mythische Motive, vor allem aus dem über den mesopotamischen, kleinasiatischen und syr. Raum verbreiteten Meereskampf-/Chaoskampfmythos. So kann Hiob sein Leiden in die chaotische Urzeit, die vor der Schöpfung herrschte, einschreiben (vgl. Hi 3,3–9) oder sich als vom Schöpfergott niedergerungener „Urzeitdrache“ bezeichnen (7,12). Wenn zur Darstellung von Gottes Macht auf die von ihm gedemütigten „Helfer Rahabs“ (9,13, vgl. 26,13) oder die Durchbohrung der „flinken Schlange“ (26,12) verwiesen wird, dann leuchten dahinter ebenso mythische Motive auf wie im Schöpferlob der „Gottessöhne“ (b enê ʾ ælohîm) in der ersten Gottesrede (38,7) oder wie in den Ausführungen über den Leviatan in der zweiten großen Gottesrede (40,25, vgl. 3,8). Die im Hiobbuch verwendeten mythischen Motive ragen traditionsgeschichtlich mitunter weit in das 2. und 1. Jt. v. Chr. zurück und haben zahlreiche Parallelen in der altorientalischen und der griech. Literatur (Hesiod, Homer).86 Durchgehend handelt es sich im Hiobbuch um einen poetischen Gebrauch dieser mythischen Bilder und Motive, mit denen literarisch gespielt wird und die im Dienst einer bestimmten Theologie stehen. Sie sind Ausweis der hohen Bildung der Autoren des Hiobbuches (‚Bildungsmythologie‘) und fügen sich in einen mytho-literarischen Diskurs der persischen und vor allem hellenistischen Zeit, der sich nicht nur im Bereich der jüdischen Dichtung, hier vor allem in (proto-)apokalyptischen Schriften (vgl. Jes 24–27; 1Hen), sondern auch der paganen Literatur (vgl. die alexandrinische Dichterschule) zeigt.87 Gisela Fuchs (1993) hat die Rezeption und Transformation des Chaoskampfmythos in der Hiobdichtung unter Berücksichtigung des äg., mesopotamischen, kleinasiatischen, ug. und griech.-röm., teilweise auch indischen Materials breit aufgearbeitet und für eine originelle Gesamtdeutung des Hiobbuches fruchtbar zu machen versucht. Auch wenn sich einzelne der von ihr für den Mythos namhaft gemachten Bilder und Motive traditionsgeschichtlich und literarisch anders herleiten lassen, so wie beispielsweise die Bildworte und Gleichnisse aus der Pflanzenwelt, die sich eher der einfachen Naturbeobachtung verdanken als einem Mythos vom Weltenbaum,88 tragen ihre Beobachtungen zu einem vertieften Verständnis der entsprechenden Verse oder Abschnitte bei. Aus dem Bereich des Rechts stammen neben einem reichen juridischen Vokabular (dîn „richten“, rîb „einen Rechtsstreit führen/rechten/streiten“ bzw. „Rechtsstreit“, šāpaṭ „richten“ und mišpāṭ „Gericht/Recht/Rechtsfall“) erstens die Aufforderung Gottes zum Rechtsstreit (Hi 9,2.15–35; 13,13–27; 23,3– 7; 31,35–37), zweitens die Anlehnung an die Form des Reinigungseides samt 86 Zu einem gemeinsamen levantinischen Motivschatz, der den Alten Orient mit dem antiken Griechenland verbindet und zu den Wegen der (gegenseitigen) Beeinflussung siehe grundsätzlich C. Penglase, Greek Myths and Mesopotamia. Parallels and Influence in the Homeric Hymns and Hesiod, London/New York 1994 (Nachdr. 1997); West, East Face, und W. Burkert, Die Griechen und der Orient. Von Homer bis zu den Magiern, München 2003, sowie zu zahlreichen Einzelbeispielen J.P. Brown, Israel and Hellas, I–III. 87 Siehe dazu auch H.-P. Müller, Mond, 218, der dieses Phänomen als „dichterisch-spielende Reproduktion versunkener mythischer Motive“ bezeichnet. 88 Vgl. Fuchs, Mythos, 265–282. Die Einzelauslegung zeigt, wo tatsächlich ein mythisches Motiv vorliegt.
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einzelner materialer Entfaltungen des großen Unschuldsbekenntnisses in Hi 31 und drittens einzelne Motive in der Beschreibung des schlimmen Schicksals der Frevler (Hi 15,20–35; 18,5–21; 20,5–29), die sich – wie Dtn 28* und prophetische Droh- und Unheilsworte – eng mit Nichtigkeitsflüchen in vorderorientalischen Vertragstexten, vor allem in den neuassyrischen Vasallenverträgen Asarhaddons mit den medischen Fürsten/Vasall Treaties of Esarhaddon (VTE, 672 v. Chr.) berühren.89 Auf prophetische Sprachformen werden gelegentlich die Beschreibung der nächtlichen Vision und Audition in Hi 4,12–21 (vgl. 33,14–16) und die soziale Anklage Hiobs in Hi 22,5–9 zurückgeführt.90 Beide Elemente können aber auch aus der Weisheit abgeleitet werden, insofern diese auch mantische und divinatorische Aspekte besitzt91 und die Mahnung zu einem gerechten sozialen Verhalten die weisheitliche Ethik prägt. Vor allem in den weisheitlichen Streitreden, die ein besonderes argumentatives und rhetorisches Profil aufweisen, aber auch in einzelnen Klagen Hiobs und in den Gottesreden finden sich Elemente von Ironie und Parodie. 5.4.3 Das Hiobbuch als Werk sui generis
Insbesondere in seinem poetischen Hauptteil weist das Hiobbuch eine eigentümliche Mischung weisheitlicher, psalmistischer und juridischer Gattungen auf. Eine Ableitung der Dichtung und daraus folgend des gesamten Buches aus nur einer Gattung oder Sprachform, sei es der Klage,92 der weisheitlichen Streitrede oder dem Recht93, wird der kompositionellen und literargeschichtlichen Vielfalt des Buches nicht gerecht. Diese Einschätzung gilt auch für die in jüngerer Zeit von Klinger und Johnson vertretenen Gattungsbestimmungen, denen es jeweils an einer traditions- und redaktionsgeschichtlichen Differenzierung mangelt. Während Klinger das Hiobbuch als ein zwischen 300 und 200 v. Chr. komponiertes, literaturgeschichtlich unter dem Einfluss der attischen Tragödie stehendes Drama versteht,94 betrachtet es Johnson unter einseitiger Anwendung SAA II, Nr. 6; TUAT I, 160–176; COS 4.36, 155–166. Vgl. Fohrer, 51. 91 Siehe dazu und zur sogenannten kosmotheistischen Weisheit S. 27–31. 92 So z. B. Westermann, Aufbau; vgl. auch Gese, Lehre, 74–78, der auf die mutmaßliche Gattung eines „Klageerhörungsparadigmas“ rekurrierte – zu einer Kritik an dieser These siehe bereits Fohrer, 33. 93 So nach älteren Vorschlägen von H. Richter, Studien (1959), und Scholnick, Lawsuit Drama (1975), sowie in einzelnen Abschnitten Habel (1985), in neuerer Zeit umfassend Magdalene, Scales (2007), mit der These, das Hiobbuch sei literarisch nach dem Muster eines gerichtlichen Prozesses, wie er sich aus neubab. Rechtsurkunden aus dem 7.–5. Jh. v. Chr. rekonstruieren lasse, gestaltet, die einzelnen Figuren (Gott, der Satan, Hiob, die Freunde, Elihu) erfüllten unterschiedliche Rollen (Kläger, Ankläger, Angeklagte, Richter, Zeugen) in einem Gerichtsverfahren, und die mehrfach im Hiobbuch erwähnten schriftlichen Dokumente stünden für Anklageschriften Hiobs (Hi 19,23–24) oder Gottes (Hi 13,26; 31,35). Zu einer knappen juridischen Lektüre des gesamten Hiobbuches siehe auch K. Schmid, Gott als Angeklagter, 105–136. 94 Klinger, Leiden, 128–320; 331–336; vgl. dazu auch Hirschfeld, Book, 9–36; siehe dazu auch S. 43f. 89 90
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eschatologischer Relektüren des Hiobbuches in der frühen Rezeptionsgeschichte als eine Apokalypse im Werden.95 Dass das Hiobbuch Elemente von Offenbarungsschilderungen (Hi 4,12–21; 19,25–27; 33,23–25; 42,2–6) und in seinen jüngsten Schichten eschatologische Splitter (Hi 14,12aβ; 19,28–29; 29,18–20; 31,11–12.23.28) enthält,96 rechtfertigt aber nicht zu seiner Gesamtbestimmung als (Proto-)Apokalypse. Die Gattungsmischung ist geradezu ein Merkmal des Hiobbuches, zumal der Hiobdichtung. Ähnliches zeigt sich z. B. auch bei der bab. Theodizeedichtung ludlul bēl nēmeqi97 oder der äg. Prophezeiung d. Neferti 98, die beide zur Auseinandersetzungsliteratur bzw. Vorwurfdichtung gehören. Durch die Verlegung einzelner Gattungen aus einem bestimmten Sitz im Leben und aus für die Verwendung dieser Gattungen typischen Literaturbereichen in die Hiobdichtung und in die Hioberzählung haben jene einen charakteristischen Sitz im Hiobbuch erhalten. Mitunter haben einzelne Gattungen in ihrem neuen Kontext der Hioberzählung und der Hiobdichtung eine andere als ihre angestammte Funktion. Bisweilen zeigt sich eine gezielte Verfremdung (,misuse‘), so wenn beispielsweise ein Motiv aus dem Schöpferlob in der Anklage Gottes wiederkehrt (vgl. Hi 7,17 mit Ps 8,5–6 oder Hi 23,8–9 mit Ps 139). Vor dem Hintergrund der Gattungsmischung sowie der ironischen und parodistischen Passagen haben, jeweils mit unterschiedlichen Akzentuierungen, Katherine J. Dell und Bruce Zuckerman ,Parodie‘ als eine übergreifende literaturwissenschaftliche Kategorie für das gesamte Hiobbuch vorgeschlagen.99 Dabei versteht Dell unter Parodie ein ,parasitic genre‘100 und eine literarische Technik, bei der bewusst traditionelle Gattungen und Traditionen aufgenommen und spielerisch neu kodiert werden. Aufseiten der Leserschaft setzt dies eine große Vertrautheit mit den rezipierten Gattungen und Traditionen voraus, um die entsprechenden Anspielungen und Echos zu identifizieren. Zum Phänomen der Gattungsmischung und Gattungsverfremdung kommt eine explizite oder implizite Bezugnahme auf andere, dem Hiobbuch vorausgehende Texte hinzu. So zeigt die Erforschung der intertextuellen Bezüge, die methodisch starke Impulse von der semiotischen Analyse Umberto Ecos und von der ,innerbiblischen Schriftauslegung‘ Michael Fishbanes erhalten hat,101 dass das Hiobbuch nicht nur auf Texte aus der älteren Weisheit (Spr 10–29*) und aus prophetischen Büchern (Jesaja/Deuterojesaja; Jeremia) sowie auf einzelne Psalmen anspielt.102 Es greift auch gezielt auf Texte Johnson, Eye, 77; 105 u.ö. Vgl. dazu Feldmar, Fortschreibungen. 97 S.u. S. 36f und dazu Sitzler, Vorwurf, 85f; Oshima, Babylonian Poems, 9–34; Dell, Where Shall Wisdom Be Found, 54–59; Gerhards, Gott, 39–68. 98 Siehe dazu Blumenthal, Prophezeiung, 1–27, hier: 10. 99 Dell, Wisdom, 33–50; Zuckerman, Job the Silent; vgl. auch Greenstein, Job, XXf u.ö. Zu einem ironischen Gesamtverständnis des Hiobbuchs siehe bereits Whedbee, Comedy. 100 Dell, Wisdom, 34. 101 Im Blick auf das Hiobbuch siehe Fishbane, Jeremiah IV; ders.; The Book of Job, 86–98. 102 Ps 8; 25; 32; 34; 38; 39; 94; 102; 104; 107; 139, siehe dazu Kynes, Psalm, der zudem intertextuelle Bezüge zwischen dem Hiobbuch und Ps 1 und 73 diskutiert, und zu den Bezügen zwischen Hi und DtJes J.J. Kwon, Scribal Culture and Intertextuality. Literary and Historical Relationships between Job and Deutero-Isaiah, FAT II/85, Tübingen 2016. 95 96
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der Torah, zumal des Deuteronomiums (besonders auf Dtn 4–6; 28; 32) zurück und führt mit diesen – wie mit anderen zentralen literarischen Überlieferungen des antiken Israel und Juda auch – einen kritischen Dialog.103 In methodischer Hinsicht ist jedoch zu betonen, dass Gattungsmischung, Parodisierung und Intertextualität eine literarische Technik und in erster Linie ein literarisches Profil beschreiben, aber kein hinreichendes literargeschichtliches Kriterium darstellen, um beispielsweise die literarische Einheitlichkeit des Hiobbuches zu beweisen. Denn selbstverständlich können auch spätere Bearbeiter, die aus einem ähnlichen literarisch gebildeten Milieu wie der mutmaßlich ursprüngliche Verfasser stammen, eine solche Technik anwenden. In eine Gattungsbestimmung müssen literar-, traditions- und redaktionsgeschichtliche Erwägungen ebenso einfließen wie literaturwissenschaftliche und rezeptionsästhetische Aspekte.104 Angesichts der literargeschichtlichen Komplexität des Hiobbuches empfiehlt es sich, das Gesamtwerk weiterhin als ein Werk sui generis zu bezeichnen, thematisch der Auseinandersetzungsliteratur oder Vorwurfdichtung zuzuweisen105 und in ihm zugleich eine besondere Form von kreativer und kritischer Schriftauslegung zu sehen. In diesem Sinn lässt es sich als ein polyphoner Text verstehen,106 der einen vielschichtigen literarischen Diskurs widerspiegelt – und gleichzeitig sein Publikum zu einer aktiven Mitarbeit an der Beantwortung der in diesem Buch verhandelten Fragen herausfordert. Aufgabe der Auslegung ist, diesen Diskurs aber nicht nur synchron zu beschreiben, sondern auch in seinen einzelnen literargeschichtlichen Stufen,107 seinen unterschiedlichen theologiegeschichtlichen Positionen und seinen verschiedenen literarischen ,Endgestalten‘ nachzuzeichnen.
6. Die Geisteswelt des Hiobbuches Literatur Adams, S.L.: Wisdom in Transition. Act and Consequence in Second Temple Instructions, JSJ.S 125, Leiden/Boston 2008. – Assmann, J.: Der „leidende Gerechte“ im alten Ägypten. Zum Konfliktpotential der ägyptischen Religion, in: C. Elsas/H.G. Kippenberg (Hg.), Loyalitätskonflikte in der Religionsgeschichte (FS C. Colpe), Würzburg 1990, 203–224. – Ders., Ma ’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 21995 (2006). – Clines, D.J.A./Lichtenberger, H./ Müller, H.-P. (Hg.): Weisheit in Israel, ATM 12, Münster u. a. 2003. – Freuling, G: „Wer eine Grube gräbt …“ Der Tun-Ergehen-Zusammenhang und sein Wandel in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, WMANT 102, Neukirchen-Vluyn 2004. – García Martínez, F. (Hg.): Wisdom and Apocalypticism in the Dead Sea Scrolls and in the Biblical Tradition, BEThL CLXXVIII, Leuven 2003. – Goff, M.J.: Discerning Wisdom. The Sapiential Literature of the Dead Sea Scrolls, 103 Vgl. dazu prinzipiell auch Köhlmoos, Auge, sowie speziell zu Bezügen zwischen dem Hiobbuch und dem Dtn, aber auch der Priesterschrift K. Schmid, Schriftauslegung, 241–261; ders., Authors, 145–153; ders., Hiob, 36–55; 69f; Greenstein, Parody, 66–78; Heckl, Hiob, 381–392; Witte, Hiobs viele Gesichter, 121–132. 104 Witte, Hiobs viele Gesichter, 62f. 105 S.o. S. 7. 106 Newsom, Contest, 3–31; siehe dazu auch im Anschluss an Newsom Müllner, Erkenntnis, 167–180, sowie im Blick auf das theologische Zusammenspiel der verschiedenen Buchteile K. Schmid, Hiob, 19–32; 33–55. 107 Siehe dazu S. 45–59.
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VT.S 116, Leiden/Boston 2007. – Harrington, D.J.: Wisdom Texts from Qumran. The Literature of the Dead Sea Scrolls, London 1996. – Hempel, C./Lange, A./Lichtenberger, H. (Hg.): The Wisdom Texts From Qumran and the Development of Sapiential Thought, BEThL 159, Leuven 2002. – Heim, K.M.: The Phenomenon and Literature of Wisdom in Its Near Eastern Context and in the Biblical Wisdom Books, in: M. Sæbø (Hg.), Hebrew Bible/Old Testament. The History of Its Interpretation, III/2, Göttingen 2015, 559–593. – Janowski, B.: Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999. – Murphy, R.E.: The Tree of Life. An Exploration of Biblical Wisdom Literature, Grand Rapids 32010. – Oorschot, J. van: Weisheit in Israel und im frühen Judentum, VuF 48 (2003) 59–89. – Perdue, L.G.: Wisdom Lite� rature. A Theological History, Louisville/London 2007. – Rad, G. von: Weisheit in Israel, Neu�kirchen-Vluyn 1970 (Neuausg. hg. v. B. Janowski, Neukirchen-Vluyn 2013). – Schipper, B.U.: Kosmotheistisches Wissen. Prov 3,19f. und die Weisheit Israels, in: S. Bickel u. a. (Hg.), Bilder als Quellen. Images as Sources. Studies on ancient Near Eastern artefacts and the Bible inspired by the work of Othmar Keel, OBO.S, Fribourg/Göttingen 2007, 487–510. – Westermann, C.: Wurzeln der Weisheit. Die ältesten Sprüche Israels und anderer Völker, Göttingen 1990. – Witte, M.: „Weisheit“ in der alttestamentlichen Wissenschaft, ThLZ 137 (2012) 1159–1176. – Wright, B.G./Wills, L.M. (Hg.): Conflicted Boundaries in Wisdom and Apocalypticism, SBLSymS 35, Atlanta 2005.
Das Buch Hiob stammt geistes- und ideengeschichtlich aus der Welt der altorientalischen Weisheit. Im AT bezeichnet der Begriff „Weisheit“ (ḥåkmāh, σοφία) zunächst in einem technischen Sinn handwerkliches Wissen und Kunstfertigkeit (vgl. Ex 31,1–11; 35,30–35). In einem weitergehenden Sinn steht er für ein auf Erfahrung beruhendes Differenzierungs- und Orientierungsvermögen, mittels dessen der Mensch sich in der Welt zurechtfindet und das Leben bewältigt. Weisheit zielt in diesem Sinn auf ein gelingendes Leben und erweist sich als Lebenskunde. Ihr Ausgangspunkt ist die genaue Beobachtung von typischen Phänomen in der Natur und in der Kultur. Genaues Hinsehen (bîn, νοέω) vermittelt dementsprechend „Einsicht/Klugheit“ (bînāh, ἐπιστήμη/ σύνεσις/φρόνησις). Weisheit ist verdichtete, über Generationen weitergegebene und behutsam an neue Lebensverhältnisse angepasste Erfahrung. Aus Erfahrung, die zu einem Vertrautwerden (jādaʿ, οἶδα) mit etwas führt, entstehen so Wissen und Erkenntnis (daʿat, σύνεσις/αἴσθησις/γινώσκω). Der gedankliche Hintergrund ist hierbei die Vorstellung, dass die Schöpfer- oder Urhebergottheit in diese Welt eine gerechte Ordnung eingesenkt hat. Eine solche Vorstellung von Weisheit, die auf einer den gesamten Kosmos durchwaltenden Ordnung basiert und die sich durch Beobachtung und Erfahrung prozessual erschließt, teilt das AT im Grundsatz mit Ägypten und dem alten vorderen Orient, in dem sich vergleichbare Denkfiguren bereits seit dem 3. Jt. v. Chr. nachweisen lassen. Die Befolgung der kosmischen Ordnung zeigt dementsprechend dem Einzelnen und der Gemeinschaft den „Weg des Lebens“ (Spr 6,23). Sie verspricht Gerechtigkeit und Glück in jeder Beziehung: Weisheit gilt als „ein Baum des Lebens“ (Spr 3,18). Konstitutiv ist die Überzeugung, dass es zwischen dem Tun und dem Ergehen eines Menschen oder einer Gemeinschaft einen engen Zusammenhang (Tun-Ergehen-Zusammenhang/Tat-Folge-Zusammenhang) und innerhalb der Gesellschaft ein Netz von sozialen Verantwortlichkeiten (konnektive Gerechtigkeit) gibt. Bestimmend ist eine synthetische Wahrnehmung der Wirklichkeit: Tat und Folge, Individuum und Gesellschaft werden in einer engen Verflechtung gesehen. Gerechtigkeit (ṣ edāqāh, ṣædæq; δικαιοσύνη) erscheint als ein Maßstab des
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Handelns und als ein Lebensraum. Hierbei steht der Begriff der Gerechtigkeit in einem relationalen Sinn für eine heilvolle Beziehung.108 Wer gerecht (ṣaddîq; δίκαιος) handelt, d. h. wer sich der Gemeinschaft und der in ihr geltenden sozialen und religiösen Normen entsprechend verhält, erlebt Gerechtigkeit (vgl. Spr 13,9). Gerechtigkeit und Leben (ḥajjîm, ζωή) bilden einen engen Konnex weisheitlicher Existenz und weisheitlicher Wirklichkeitsdeutung (vgl. Spr 11,19; 12,28; 21,21).109 Als ein weiser Mensch (ḥākām, σοφός) gilt also, wer sich und seine Umwelt genau beobachtet, wer offen ist für neue Erfahrungen, wer auf die Weisungen seiner Vorfahren hört und sein Leben und Verhalten an der gerechten Weltordnung ausrichtet. Daher kommt der Tradition eine hohe Bedeutung zu: Weisheit erscheint als eine Addition von Lebenserfahrung. Wenn Weisheit eine prozesshafte Addition von Lebenserfahrung ist, dann erscheint derjenige, der sich nicht um eine exakte Wahrnehmung seiner Lebenswelt kümmert und der die Erfahrung vorangegangener Traditionen missachtet, als dumm (k esîl, ἄφρων/ ἀσεβής) und als töricht (ʾæwîl, ἄφρων/ἀσεβής). Die typisierte Gegenüberstellung des Weisen und des Toren spiegelt sich in zahlreichen weisheitlichen Sentenzen des AT wider. In der Gegenüberstellung des Schweigers und des Hitzigen oder Heißen in der äg. Weisheit besitzt sie ein Pendant. Das eigentliche Thema der Weisheit als einer intellektuellen Fähigkeit und als einer geistig-moralischen Haltung ist die Anthropologie und die Ethik. Die Fokussierung auf den Menschen und sein Handeln kennzeichnet die israelitisch-jüdische Weisheit, wie sie sich literarisch in der hebr. Bibel, in der Septuaginta und im nicht kanonisch gewordenen frühjüdischen Schrifttum niedergeschlagen hat. Die anthropologische und ethische Konzentration ist aber auch charakteristisch für die äg., mesopotamische und griech. Weisheit. Die Weisheit aus der Umwelt stellt einen steten Referenzpunkt für die israelitisch-jüdische Weisheit dar, sei es als traditionsgeschichtliche oder als literargeschichtliche Quelle, sei es als strukturelle Parallele oder als ein bewusstes Gegenüber, mit dem ein kritisches Gespräch geführt wird. Insofern die weisheitliche Deutung der Wirklichkeit alle Dimensionen menschlichen Lebens umfasst – die Familie und die Gesellschaft, die unmittelbare natürliche Umgebung und die kosmische Weite –, lässt sich Weisheit auch in lebenskundliche Bildung (edukatives Wissen) und in kosmologisches Wissen untergliedern.110 Das kosmologische Wissen schließt astronomische, divinatorische (mantische) und theologische Kenntnisse ein. Zwischen beiden Bereichen der Weisheit kann es Überschneidungen geben. Sie treffen sich funktional hinsichtlich einer Orientierung in Raum und Zeit. Bei der lebenskundlichen Bildung stehen die Erde und die Gegenwart einschließlich der (nahen) Vergangenheit und der (nahen) Zukunft im Mittelpunkt. Dagegen sind der Himmel sowie die Protologie und die Eschatologie ein zentraler Gegenstand des kosmologischen oder kosmotheistischen Wissens. Wenn das Wissen auf eine besondere göttliche Offenbarung zurückgeführt wird, Witte, Gerechtigkeit, 37–67. Siehe dazu auch Janowski, Anthropologie, 261–269; 503–508. 110 Zu dieser Differenzierung siehe Schipper, Kosmotheistisches Wissen, 487–510. 108 109
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kann von inspirierter Weisheit gesprochen werden. Diese findet sich literarisch in späten Fortschreibungen des Buches Hiob (vgl. Hi 4,12–21; 32,8.18)111, im Danielbuch und noch deutlicher in besonderen mystischen Lehren aus Qumran.112 In Verbindung mit prophetischen und apokalyptischen Vorstellungen begegnet diese Sonderform inspirierter kosmologischer Weisheit zum Beispiel in den „Himmelsreisen Henochs“ im frühjüdischen Ersten Henochbuch (1Hen 17–36). Die weisheitlichen Reflexionen über die Wege, die dem Menschen ein gelingendes Leben ermöglichen sollen, sind weder zeitlich auf nur eine Epoche der israelitisch-jüdischen Religionsgeschichte noch formal auf eine bestimmte Gattung der Literaturgeschichte beschränkt. Sie finden sich von den Anfängen der israelitischjüdischen Weisheitsliteratur im 8. Jh. v. Chr., wie sie sich in den ältesten Sammlungen in den Proverbien erhalten haben (Spr 10–29), bis zu deren Ausgang im 1./2. Jh. n. Chr.113 Ihre jüngsten Ausläufer aus vorchristlicher Zeit sind weisheitliche Texte aus Qumran114 und die Sapientia Salomos (1. Jh. v. Chr./1. Jh. n. Chr.). Die Sentenzen des Pseudo-Phokylides (1. Jh. v. Chr./1. Jh. n. Chr.), der Mischnatraktat Pirqe Avot (Sprüche der Väter) aus dem 2./3. Jh. n. Chr. und die Weisheitsschrift aus der Kairoer Geniza (WKG)115 belegen ihr Fortleben in jüdischen Schriften der Spätantike und des Mittelalters. Je nach Erfahrungshorizont, Funktion, literarischer Komplexität und Entstehungszeit lassen sich für die atl. Weisheit modellhaft und in Analogie zu den Kulturen in der altorientalischen Umwelt vier Träger- und Tradentenkreise unterscheiden: 1) die Sippenweisheit und die Familie, 2) die am Königshof und an den Heiligtümern tradierte Weisheit sowie die Ausbildung von Schreibern und Diplomaten, 3) die Bildungsweisheit (Schulweisheit), 4) die katechetische Weisheit und die Gemeinde. Ob es im antiken Israel und Juda am Königshof und an den Tempeln einen eigenen ,Berufsstand‘ der Weisen und Schriftgelehrten neben Priestern und Propheten gab116 oder ob nicht vielmehr damit zu rechnen ist, dass es zwischen verschiedenen Wissenstraditionen und den sie repräsentierenden Gruppen Überschneidungen sowie sozialgeschichtlich zu differenzierende Entwicklungen gab, ist eine offene Frage. Das Hiobbuch geht jedenfalls literatursoziologisch auf die Bildungs- oder Schulweisheit zurück. Seine Träger sind in umfassendem Sinn Schriftgelehrte S.u. S. 53f. 4QInstruction/1Q26; 4Q415–418; 4Q423; 4QMysteries/1Q27; 4Q299–301 (Maier, Qumran- Essener, I, 237f; II, 426–502 bzw. I, 238–240; II, 252–270; Goff, Discerning Wisdom, 9–68; 69–103). 113 Siehe dazu Küchler, Weisheitstraditionen, 176–206; 553–592; von Lips, Weisheitliche Traditionen; G. Stemberger, Sages, Scribes, and Seers in Rabbinic Judaism, in: Perdue (Hg.), Scribes, 295–319. 114 Siehe die unter Anm. 112 genannten Texte sowie 4QWiles of the Wicked Woman/4Q184; 4QSapiential Work/4Q185; 4QWords of the Maśkîl to All/4Q298; 4QWays of Righteousness/4Q420–412; 4Q424; 4QBeatitudes/4Q525 und zur Sache Harrington, Wisdom Texts; Hempel/Lange/Lichtenberger, Wisdom Texts; Goff, Discerning Wisdom. 115 Siehe dazu Rüger, Weisheitsschrift, 15, der gegenüber der von Berger, Weisheitsschrift, vertretenen Frühdatierung in die Zeit um 100 n. Chr., aus sprachlichen und sachlichen Gründen eine Entstehung zwischen dem 6./7. und dem 12. Jh. wahrscheinlich macht. 116 Vgl. Jer 18,18; Spr 25,1, aber auch die weisheitlichen Sentenzen in der in Tell Amarna gefundenen Korrespondenz zwischen dem Pharao und kanaanäischen Stadtfürsten der Spätbronzezeit (1500–1200 v. Chr.) (Moran, The Amarna Letters). 111 112
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(literati), die Zugang zu den unterschiedlichsten Wissenskonzeptionen hatten. Es setzt die traditionsgeschichtliche Entwicklung und Differenzierung der israelitisch-jüdischen Weisheit voraus, die von einer eher implizit religiösen, nicht areligiösen, Alltags- oder Lebensweisheit zu einer explizit religiösen, theologisch reflektierten und problematisierten Weisheit führt. Die in persischer und hellenistischer Zeit erfolgte ausdrückliche Theologisierung der Weisheit basiert auf politischen, geistesgeschichtlichen und ökonomischen Erfahrungen und Faktoren in der Zeit zwischen dem frühen 6. Jh. v. Chr. und dem ausgehenden 4. Jh. v. Chr. Diese Faktoren spiegeln sich in unterschiedlichem Maß auch im Hiobbuch. Zu ihnen gehören: 1) der Zusammenbruch des judäischen Königtums 587 v. Chr. und die damit verbundene Verlagerung der Schreibertätigkeiten vom Königshof hin zum 520/515 v. Chr. wieder errichteten Jerusalemer Tempel als der nun zentralen Stätte der Schriftkultur sowie von der Ausbildung von Beamten hin zum Unterricht von Schriftgelehrten und zur Weitergabe weisheitlicher Traditionen in kleinen Zirkeln von Gelehrten in Lehrhäusern und Synagogen; 2) die theologische Aufarbeitung des Untergangs des Königtums und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels, also der zwei Institutionen, die je für sich als wichtigste Repräsentationen der kosmischen Weltordnung angesehen wurden; 3) die im Gefolge der Ausbreitung jüdischen Lebens über den gesamten östlichen Mittelmeerraum bis nach Persien intensivierte Begegnung mit mesopotamischer und äg. sowie persischer und griech. Weisheit. Im Einzelnen finden sich im Hiobbuch vier wesentliche Facetten der sogenannten Theologisierung der Weisheit, wie sie sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten in der Literatur aus der Zeit des Zweiten Tempels (520/515 v. Chr. bis 70 n. Chr.) niedergeschlagen hat: 1) die Jahweisierung der Weisheit, d. h. die ausdrückliche Verbindung und Begründung weisheitlicher Lebensregeln und weisheitlicher Gottes- und Welterkenntnis mit dem Handeln und dem Wesen Jhwhs. Als Ziel gilt ein Leben in der Furcht Gottes (jirʾat ʾ ælohîm/jhwh, griech. zumeist εὐσέβεια117) und in der Ausrichtung an dem von Jhwh geforderten Ethos, nämlich an Gerechtigkeit im Sinne eines der Lebensgemeinschaft entsprechenden Verhaltens und an Barmherzigkeit (ḥæsæd, ἔλεος) im Sinne eines verlässlichen und beständigen Verhaltens (ʾæmæt, ἀλήθεια). 2) Mit der Jahweisierung der Weisheit geht aber auch eine Problematisierung weisheitlicher Denkformen einher, ein Phänomen, das häufig als „Krise der Weisheit“ bezeichnet wird, mit Jan Assmann aber besser als „Weisheit der Krise“ zu beschreiben ist.118 So bewirkt die enge Anbindung weisheitlichen Denkens an Jhwh, der im Schatten der theologischen Bewältigung der Zerstörung Jerusalems und der Begegnung mit bab. Marduk- und persischer Ahuramazda-Theologie immer stärker als der eine und einzige Schöpfer der Welt und als alleiniGelegentlich begegnet hierfür auch der von der LXX geprägte Begriff θεοσέβεια (Hi 28,28LXX; Gen 20,11 LXX; Sir 1,25 [G]; Bar 5,4; 4Makk 7,6.22; 17,15). 118 Assmann, Der „leidende Gerechte“, 218–223. 117
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ger Garant von Gerechtigkeit profiliert wird, auch eine kritische Reflexion der weisheitlichen Weltordnungsvorstellung. Die Erfahrung, dass gerade diejenigen, die sich an die Gebote der im Laufe der späten Perserzeit und der frühen hellenistischen Zeit zur allgemeinen jüdischen Norm gewordenen Torah halten, in Konflikte mit sich absolut setzenden Institutionen wie dem hellenistischen Herrscherkult geraten und wegen ihrer Torahtreue verfolgt werden, führt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vorstellung eines göttlich gewährleisteten Tun-Ergehen-Zusammenhangs.119 Das Ringen um die Gerechtigkeit Gottes – und damit verbunden um die Gerechtigkeit des Menschen – wird geradezu zu einem Kennzeichen der jüdischen Literatur und Theologie der hellenistischen Zeit. Die Bindung kosmischer, kollektiver und individueller Gerechtigkeit an den einen und einzigen Gott und die Rückführung allen Geschehens, des Guten und des Bösen, auf dessen Macht, mithin der Monotheismus, erweisen sich hier wie in anderen Religionen, in denen die Verfügung über Recht und Gerechtigkeit zum Monopol einer hervorgehobenen Gottheit oder eines persönlichen Schutzgottes wird, als eigentlicher geistesgeschichtlicher Ort, an dem die Frage nach der Theodizee aufbricht. Dass die Frage nach der Theodizee auch durch bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen, durch soziale Ausdifferenzierungen und wirtschaftliche Umbrüche veranlasst sein kann, haben sozialgeschichtliche Auslegungen wahrscheinlich gemacht.120 Die Bücher Hiob, Kohelet (3. Jh. v. Chr.) und Jesus Sirach (frühes 2. Jh. v. Chr.) sowie einzelne Psalmen (Ps 37; 49; 73), aber auch Passagen in der apokalyptischen Literatur sind komplexe Zeugen der alttestamentlichen ,Theodizee-Literatur‘.
Die alttestamentliche ,Theodizee-Literatur‘ 121
Exkurs
Crenshaw, J.L. (Hg.): Theodicy in the Old Testament, Philadelphia/London 1983. – Graupner, Literatur A./Oeming, M. (Hg.): Die Welt ist in Verbrecherhand gegeben? Annäherungen an das Theodizeeproblem aus der Perspektive des Hiobbuches, BThSt 153, Neukirchen-Vluyn 2015. – Laato, A./ Moor, J.C. de (Hg.): Theodicy in the World of the Bible, Leiden 2003. – Kaiser, O.: Der Gott des Alten Testaments. Theologie des Alten Testaments, I, UTB 1747, Göttingen 1993, 139–156. – Müller, H.-P.: Theodizee? Anschlußerörterungen zum Buch Hiob, ZThK 89 (1992) 249–279. – Vorländer, H.: Ist Gott gerecht? Theodizee und Monotheismus im Alten Testament unter besonderer Berücksichtigung der Theologie Deuterojesajas, BEAT 63, Berlin u. a. 2020.
119 Vgl. dazu auch die grundsätzlichen religionsgeschichtlichen Überlegungen von Assmann, Der „leidende Gerechte“, 203–206. Eine Typologie unterschiedlicher Antworten des Hiobbuches auf den Umgang mit dem Tun-Ergehen-Zusammenhang bietet M. Oeming, „Jetzt aber hat mein Auge dich geschaut“. Was hat Hiob über Gott und seine Gerechtigkeit gelernt?, in: Graupner/ Oeming, Welt, 21–41. 120 Vgl. dazu Albertz, Hintergrund, 366; Crüsemann, Hiob, 373–393; van der Toorn, Sources, 267f. 121 Der Exkurs bietet einen modifizierten Auszug aus meinem Beitrag Vom Glauben an den Allmächtigen und von der Bosheit des Menschen, der in dem von A. Käfer, J. Frey und J. Herzer hg. Band Die Rede von Gott Vater und Gott Heiligem Geist als Glaubensaussage (Tübingen 2020, 155–175, hier: 166–169) erschienen ist.
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In der theologischen Reflexion der Gerechtigkeit des einen Gottes Jhwh, der hinter allem steht, was geschieht (Hi 1,21), und in der Auseinandersetzung mit der Erfahrung unschuldigen Leidens lassen sich im AT grundsätzlich vier Typen unterscheiden.122 1) Nach Typ A gilt die Gerechtigkeit Gottes unbedingt. Was einzelne Menschen oder Gruppen als Ungerechtigkeit Gottes erfahren, sei die Folge eines stets gerecht richtenden Gottes (vgl. Hi 8,3–4 bzw. Dan 9,7–16; Klgl 1,18). Wo sich der einzelne Mensch oder eine Gruppe als ungerecht gerichtet erlebe, habe er oder sie sich selbst noch nicht genau geprüft, ob nicht doch, bewusst oder unbewusst, göttliche Normen verletzt worden seien (vgl. Hi 13,23; 33,9–12 bzw. Klgl 3,39–40). Als eine Variante dazu erscheint die Vorstellung, das als (ungerechtfertigte) Strafe erlebte Leiden sei eine Prüfung (,Versuchung‘) oder eine Erziehungsmaßnahme Gottes, die letztlich der Bewährung oder der Reifung diene.123 Gott erscheint in diesem Typ wesentlich als Lehrer.124 In beiden Fällen dieses Typs ist es aber seitens des Menschen grundsätzlich möglich, sich Gott und der Gemeinschaft mit ihm entsprechend zu verhalten und somit ein Gerechter und als solcher gesegnet zu sein.125 2) Nach Typ B ist Gerechtigkeit ein exklusives Merkmal Gottes, von dem der Mensch in geschöpflich bedingter Ungerechtigkeit prinzipiell unterschieden ist. 126 Leidenserfahrungen gründen dementsprechend in der Kreatürlichkeit des endlich und fragmentarisch geschaffenen Menschen. Das Phänomen, dass es angesichts der gleichen geschöpflichen Konstitution unterschiedliche Schicksale gibt, dass der eine leidet, während der andere ein glückliches Leben führt, entzieht sich nach diesem Modell menschlichem Verstehen. Gerechtigkeit, die im Blick auf die Gerechtigkeit Gottes die vom Menschen als heilvoll erlebte Gemeinschaft mit Gott ist, kann nach diesem Typ nur von Gott selbst geschenkt werden, beispielsweise durch die Gabe seines heiligen Geistes (Ps 51; 1QHa IV,26; VIII,1–15) oder durch eine grundlegende Wesensänderung des Menschen (Jer 31,33; Ez 36,26). 3) Bei Typ C wird die Spannung zwischen dem Glauben an die Gerechtigkeit Gottes und der Erfahrung diesseitiger Ungerechtigkeit eschatologisch aufgelöst, insofern der gerechte Gott den Gerechten jenseitig mit dem ewigen Leben belohnt.127 Diese Lösung kann in prophetischen und apokalyptischen Erwartungen eines Völker- oder Weltgerichts universale oder kosmische Dimensionen annehmen.128 Strukturell entspricht diese Lösung der Vorstellung von der endzeitlichen Durchsetzung der Herrschaft Gottes.129 4) In Typ D wird das Wesen Gottes neu bestimmt. Hier zeigen sich zwei Varianten: a) Nach der einen wird unter Wahrung des monotheistischen Bekenntnisses, demzufolge Gott das Helle und das Dunkle geschaffen habe (Jes 45,7), Gutes und Böses schicke (Hi 2,9–10; Klgl 3,38), auch Ungerechtigkeit in das Wesen und Handeln Gottes eingebettet. Diesen Weg geht auch die für Hi 42,7–8 verantwortliche Hand, die am Ende des Buches Gott sagen lässt, Hiob habe im
122 Vgl. dazu auch mit einer etwas anderen Schwerpunktsetzung und im Blick auf die alttestamentliche Prophetie J.L. Crenshaw, Theodicy in the Book of the Twelve, in: P.R. Reddit/A. Schart (Hg.), Thematic Threads in the Book of the Twelve, BZAW 325, Berlin/New York 2003, 175–191. 123 Vgl. Hi 33,16–17; 40,8LXX; Ps 94,12; Sir 2,1–18; SapSal 3,1–12; Jdt 8,24–27. 124 Finsterbusch, JHWH als Lehrer; Pouchelle, Dieu éducateur. 125 Vgl. Ps 1; 5,12; Spr 3,33; Sir 14,1f.20; 4Q525 frgm. 2 II + 3,1–3. 126 Vgl. Hi 4,17–19; 15,14–16; 25,4–6 (zur Einordnung dieser Texte in die Redaktionsgeschichte des Hiobbuches s.u. S. 53f und die Auslegung); 1Kön 8,46; Ps 143,2; Pred 7,20; 1QHa V,19–22. 127 Vgl. in unterschiedlicher Ausprägung Ps 49; 73; Ez 37; Dan 12; 1Hen 22; 2Makk 7,14; SapSal 3,1; Hi 42,17aLXX; 4Q385 frgm. 2,7–8 und dazu Witte, Ewigkeit, 95–115. 128 Vgl. Jes 24; 34,2–4; Joel 4; Hab 3; Sach 12; 14; Dan 12; 1Hen 1–5; 25,4; 93 + 91,12–17; SibOr 3,669–701. Zu der in hellenistischer Zeit erfolgten traditionsgeschichtlichen Wandlung der Vorstellung des Gerichts an einzelnen Völkern hin zum Gericht an den Völkern siehe O.H. Steck, Der Abschluß der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur Frage der Vorgeschichte des Kanons, BThSt 17, Neukirchen-Vluyn 1991, 23. Zu verschiedenen frühjüdischen Gerichtsvorstellungen siehe knapp K.L. Yinger, Judgment, The Eerdmans Dictionary of Early Judaism (2010), 853–855. 129 Vgl. Jes 24,23; 52,7LXX; Obad 21; Mi 4,7; Sach 14,9.16; PsSal 17,3–4; SibOr 3,767; Dan 7,13–14.
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Gegensatz zu seinen Freunden „recht“ (n ekônāh; LXX: ἀληθές „Wahres“) geredet. Dieses Urteil schließt auch Hiobs klagende Beschreibungen Gottes als Dämon und Frevler (vgl. Hi 9,20–22; 16,9–16), seine Berufung auf die eigene Gerechtigkeit (Hi 13,16–17; 27,5–6; 31,1–40*) und seine Bestreitung der vergeltenden Gerechtigkeit Gottes (Hi 21; 24,1–12) ein.130 Zu dieser Variante zählt auch die (möglicherweise unter stoischem Einfluss stehende) Annahme des Sirachbuches, das Böse sei das notwendige Gegenüber des Guten im Kontext einer grundsätzlich gut geschaffenen Welt (vgl. Sir 33,7–15 [H]).131 b) Nach der anderen Ausformung wird der strikte Monotheismus aufgeweicht, insofern negative Erfahrungen analog zu dualistisch oder polytheistisch ausgerichteten religiösen Symbolsystemen (wieder) auf das Wirken menschen- und gottfeindlicher Wesen zurückgeführt werden, die Gott (zumindest vorübergehend) gewähren lasse (vgl. 1Hen 6–11). Die Rückführung der Leiden Hiobs auf den Satan gehört nur scheinbar zu dieser Konzeption (vgl. Hi 1,6–12; 2,1–7, vgl. Jub 17,15–18).132 Insofern zwischen Jahwe und dem Satan kein Antagonismus besteht, der Handlungsspielraum des Satans zwecks der Prüfung Hiobs vielmehr durch Jahwe begrenzt ist, handelt es sich hierbei theologisch um ein Seitenstück zur Variante 4a, das sich der poetischen Personifikation bedient und auf denselben Verfasserkreis wie 2,9–10 und 42,7–8 zurückgeht.133
3) die Personifikation der Weisheit, d. h. die Interpretation der Weisheit als personifizierte Mittlerin der Offenbarung Jhwhs, die entweder als ,Frau Weisheit‘ zu einem gelingenden Leben einlädt (vgl. Spr 9), als kosmische Größe vom Menschen gesucht werden muss (vgl. Spr 8,22–36; Sir 24; 51,13–30; SapSal 6,22–9,18) oder die sich dem Zugriff des Menschen entzieht (vgl. Hi 28). 4) die Nomisierung der Weisheit, d. h. die Verbindung von Weisheit und Torah, so dass die Torah als schriftgewordene Weisheit erscheint und dieser Mensch weise ist, der ein an der Torah ausgerichtetes Leben führt (vgl. Sir 21,11; 24; Bar 3,9–4,4 und als Vorstufe Dtn 4,5–6). Damit einher geht die Identifikation des Weisen (ḥākām, σοφός) mit dem Gerechten (ṣaddîq, δίκαιος) und des Toren (kesîl/ʾ æwîl, ἄφρων/ἀσεβής) mit dem frevler/Gottlosen (rāšāʿ, ἀσεβής, vgl. Spr 11,30; 23,24; Pred 9,1; 4Q299 frgm. 2 II,4 bzw. Hi 16,11).134 Der positiven Rezeption der mosaischen Torah in der Weisheit steht aber gerade im Hiobbuch eine kritische Auseinandersetzung mit der in ihr vertretenen Bestimmung des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Leben, von göttlicher Offenbarung und menschlicher Erkenntnis gegenüber. Die gleichfalls in der frühjüdischen Weisheit feststellbare Aufnahme heilsgeschichtlicher Themen aus dem Pentateuch und den deuteronomistisch bearbeiteten Geschichtsbüchern sowie geschichtstheologischer Traditionen, wie sie sich insbesondere in Sir 44–49 und in SapSal 10–19 zeigt, begegnet Siehe dazu ausführlich die Auslegung von Hi 42,7–8. Siehe dazu U. Wicke-Reuter, Göttliche Providenz und menschliche Verantwortung bei Ben Sira und in der Frühen Stoa, BZAW 298, Berlin/New York 2000, 224–273; Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott, 43–59 (55–58). 132 Siehe die Auslegung von Hi 1,6–12; 2,1–7, sowie zur Sache Fabry, „Satan“, 269–291; Day, Adversary; White, Yahweh’s Council, 109–119; Rudnig-Zelt, Teufel, 1–20. 133 Vgl. Spieckermann, Satanisierung Gottes, 433–436, der allerdings Hi 1,6–12; 2,1–10 und 42,7–9 zum Grundbestand der Hiobnovelle zählt; doch s.u. S. 47; 53f. 134 Zum Gegenüber des (leidenden) Gerechten und seiner Gegner siehe grundlegend Ruppert, Der leidende Gerechte. 130 131
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im Hiobbuch aber ebenso wenig wie ausführliche eschatologische Reflexionen (vgl. SapSal 1–6).135
7. Literarische Parallelen aus dem alten Orient und der klassischen Antike Literatur Zu Textausgaben und Übersetzungen siehe das allgemeine Literaturverzeichnis (1.9) Oshima, T.M./Kohlhaas, S. (Hg.): Teaching Morality in Antiquity: Wisdom Texts, Oral Traditions, and Images, ORA 29, Tübingen 2018. – Sitzler, D.: „Vorwurf gegen Gott“. Ein religiöses Motiv im Alten Orient (Ägypten und Mesopotamien), StOR 32, Wiesbaden 1995. – Soden, W. von: Das Fragen nach der Gerechtigkeit Gottes im Alten Orient, in: Ders., Bibel und Alter Orient. Altorientalische Beiträge zum AT, hg. v. H.-P. Müller, BZAW 162, Berlin/New York 1985, 57–76. – Toorn, K. van der: The Ancient Near Eastern Literary Dialogue as a Vehicle of Critical Reflection, in: G.J. Reinink/H.L.J. Vanstiphout (Hg.), Dispute Poems and Dialogues in the Ancient and Mediaeval Near East, OLA 42, Leuven 1991, 59–75. – Uehlinger, C: Das Hiob-Buch im Kontext der altorientalischen Literatur- und Religionsgeschichte, in: T. Krüger u. a. (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, AThANT 88, Zürich 2007, 97–163.
Die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit und die Problematisierung des Leidens eines Menschen, der sich den in seinem gesellschaftlichen und religiösen Umfeld geltenden Normen gemäß verhält, hat im Alten Orient eine lange und vielfältige literarische Vorgeschichte. Sie lässt sich punktuell bis in das 3. Jt. v. Chr. zurückverfolgen.136 7.1 Mesopotamische Parallelen Literatur Mattingly, G.L.: The Pious Sufferer: Mesopotamia’s Traditional Theodicy and Job’s Counselors, in: W.W. Hallo (Hg.), The Bible in the Light of Cuneiform Literature, Scripture in Context III, New York 1990, 305–348. – Moran, W.L.: The Babylonian Job, in: R.S. Hendel (Hg.), The Most Magic Word. Essays on Babylonian and Biblical Literature, CBQ.MS 35, Washington 2002, 182–200. – Müller, H.-P.: Die Hiobrahmenerzählung und ihre altorientalischen Parallelen als Paradigmen einer weisheitlichen Wirklichkeitswahrnahme, in: W.A.M. Beuken (Hg.), The Book of Job, BEThL XCIV, Leuven 1994, 21–39. – Ders.: Keilschriftliche Parallelen zum biblischen Hiobbuch. Möglichkeit und Grenze des Vergleichs, in: Ders., Mythos – Kerygma – Wahrheit. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament in seiner Umwelt und zur Biblischen Theologie, BZAW 200, Berlin/New York 1991, 136–151. – Sedlmeier, F.: Ijob und die Auseinandersetzungsliteratur im alten Mesopotamien, in: T. Seidl/S. Ernst (Hg.), Das Buch Ijob. Gesamtdeutungen – Einzeltexte – Zentrale Themen, ÖBS 31, Frankfurt/M. u. a. 2007, 85–136. – Spieckermann, H.: Ludlul bēl nēmeqi und die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, in: S.M. Maul (Hg.), tikip santaki mala bašmu (FS R. Borger), Cuneiform Monographs 10, Groningen 1998, 329–341.
Im mesopotamischen Bereich finden sich theodizeeanaloge Dichtungen, die mit dem Hiobbuch vier strukturelle Voraussetzungen teilen, die für die Infrage135 Zu eschatologischen Glossen in Hi 14,12aβ; 19,28–29; 29,18–20; 31,11–12.23.28 s.u. S. 57–59 sowie die Auslegung der Stellen. 136 Vgl. dazu Sitzler, Vorwurf; Uehlinger, Hiob-Buch; Loretz, Götter, 177–210; Sedlmeier, Auseinandersetzungsliteratur; Laato/de Moor, Theodicy; Oshima/Kohlhaas, Teaching.
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stellung der Gerechtigkeit eines Gottes oder der Götter insgesamt wesentlich sind: 1) die Existenz eines Schuldbegriffs, 2) die Hochschätzung des Individuums, 3) die Relativierung des Polytheismus durch den Glauben an eine persönliche Gottheit, die als für das Schicksal des einzelnen Menschen in besonderer Weise verantwortlich und als Schutz vor bösen Mächten betrachtet wird, und 4) die Vorstellung einer Vergeltung von Gut und Böse in diesem Leben, verbunden mit der Annahme einer durch die Götter grundsätzlich gewährleisteten gerechten Weltordnung.137 a) Die makrokompositionell nächste Parallele zur gesamten Hiobdichtung stellt die Babylonische Theodizee (BT) dar.138 In ihrer redaktionellen ,Endgestalt‘ stammt sie aus der Zeit um 800 v. Chr. Kopien sind in der Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal (669–630 v. Chr.) belegt und bis in die hellenistische Zeit nachweisbar. Die BT bietet ein poetisch gestaltetes Wechselgespräch zwischen einem leidenden Gerechten und seinem Freund. Im Verlauf dieses Dialoges fällt auch die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit (Z. 70–77.251.265– 275). Die BT und die Hiobdichtung berühren sich vor allem in sechs Punkten: 1) in den Redeeröffnungen, 2) in Motiven zur Beschreibung des Leidens des Gerechten (Einsamkeit, Krankheit und Verfolgung durch die Gottheit), 3) in Hinweisen auf die Unergründlichkeit Gottes und dessen Schöpfermacht, 4) hinsichtlich der Funktion der Vergeltung, 5) in der klagenden Beschreibung des Wohlergehens von Menschen, die sich nicht an die geltenden ethischen und religiösen Normen halten („die Gottlosen/Frevler“) und in der Klage über soziale Umwälzungen sowie 6) in Unschuldsbekenntnissen des Dulders.139 Im Abschlusswort des Freundes (Z. 276–286) wird wie in einzelnen Abschnitten des Hiobbuches festgestellt, dass dem Menschen eine bestimmte geschöpfliche Verfasstheit zukomme. Dabei wird die These, dass die Götter den Menschen mit Lügen und Unwahrheit ausstatteten (Z. 279–280), beispielhaft am Verhalten der Menschen entfaltet, die dem Reichen schmeicheln und den schutzlosen Armen misshandeln (Z. 281–286). Z. 279–280 dienen so als versteckte Anklage gegen die Götter, indem sie diese für das Unrecht unter den Menschen verantwortlich machen.140 Z. 276–286 bewirken eine Resignation und eine Aufgabe des Glaubens an eine gerechte Gottheit (vgl. Z. 135). Eine Gegenüberstellung von Gott und Mensch mittels einzelner Gerechtigkeitsbegriffe wie im Hiobbuch findet im Abschlusswort des Freundes in der BT nicht statt. Der wesentliche makrokompositionelle Gegensatz zur Hiobdichtung besteht darin, 137 Vgl. dazu ausführlich von Soden, Gerechtigkeit, 71–73, sowie grundsätzlich zu einem auf Typologie, Analogie und religionsinternen Spezifika beruhenden Vergleich zwischen Texten aus dem antiken Israel und seiner Umwelt Janowski, Hymnen, 197–221. Zur bleibenden theologischen Bedeutung des Begriffs der Vergeltung siehe auch B. Janowski, Die Tat kehrt zum Täter zurück, in: Ders., Gerechtigkeit, 167–191. 138 Lambert, BWL 63–91; 302–310; 345; TUAT III, 143–157; COS 1.154; Oshima, Babylonian Poems, 150–167 (Text) und 115–149; 343–375; 439–464 (Einleitung, philologische Notizen, Partitur). 139 In der Auslegung werden jeweils Begriffs- und Motivparallelen zwischen der BT und der Hiob dichtung genannt. Siehe dazu auch Dell, Where Shall Wisdom Be Found, 59–63. Zu möglichen sozialgeschichtlichen Analogien siehe Albertz, Hintergrund, 351–357. 140 Vgl. dazu auch entsprechende Überlegungen bei Cicero, nat. deor. 75.
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dass in der BT der leidende Gerechte dem Verweis auf die durch die Götter gewirkte Bosheit des Menschen unmittelbar zustimmt (Z. 287), um göttliches Erbarmen bittet (Z. 295–297) und damit das Streitgespräch endet, ohne dass ein Gott oder eine Göttin auf den Disput zwischen dem Dulder und seinem Freund reagiert. Eine direkte göttliche Intervention in das weisheitliche Streitgespräch erfolgt nicht. b) Ein älteres Seitenstück zur BT stellt eine aus der Zeit des Königs Hammurabi (1728–1686 v. Chr.) stammende, aber nur fragmentarisch erhaltene akkad. Dichtung dar, die unter der Inventarnummer Louvre AO 4462 (Ein Mann und sein Gott) zitiert wird.141 c) Die von seinem ersten Bearbeiter als Sumerischer Hiob/SH bezeichnete Dichtung aus dem 3. Jt. v. Chr. ist in strengem Sinn keine theodizeeanaloge Dichtung und gehört nicht zur Weisheitsliteratur.142 Im SH wird weder die göttliche Gerechtigkeit in Frage gestellt noch handelt es sich um einen Dialog. Es liegt vielmehr eine Klage eines Einzelnen vor, die ihre größten strukturellen und motivischen Parallelen zum Hiobbuch in Hiobs Elendsmeditationen (Hi 3; 7; 10; 14; 16; 19; 30) besitzt. Innerhalb dieser Klage des SH findet sich aber die mit Hi 4,17 par. vergleichbare Wendung (Z. 101–103): Man sagt, (und zwar) weise Jünglinge, ein rechtes (und) richtiges Wort: „(Noch) nie hat einen sündlosen Sohn seine Mutter geboren, (auch) wer sich abmüht, erreicht (es) nicht, einen sündlosen éren-Arbeiter hat es seit ferner Zeit nicht gegeben!“143
Die Frage der göttlichen Gerechtigkeit wird damit auf die Ebene der Anthropologie verschoben. Ähnliche Formulierungen begegnen auch in akkad. und heth. Bußgebeten144 sowie in der äg. Lehre des Amenemope 19,18–21 (um 1100 v. Chr)145. Am Schluss bekennt im SH der Beter seine Sünden, die ihn sein persönlicher Schutzgott hat erkennen lassen, er erlebt die Erhörung seines Gebets und seine Restitution (vgl. Hi 42,10). d) Auch bei der bab. Dichtung Ludlul bēl nēmeqi („Preisen will ich den Herrn der Weisheit“/Lud.)146 und deren möglichem Vorläufer, der in einer ug. Kopie aus dem 13. Jh. v.Chr vorliegen könnte (RS 25.460),147 handelt es TUAT III, 135–140. TUAT III, 102–109; ANET, 589–591; COS 1.179. 143 Übersetzung von W.H.Ph. Römer, in: TUAT III, 107. 144 Vgl. z. B. den Auszug aus einem akkad. Gebet mit Sündenbekenntnis Z. 132–134 (TUAT II, 779) oder das Zweite Pestgebet des heth. Königs Muršili II. A Rs. 10’-19’ (TUAT.NF VIII, 119). 145 TUAT III, 224–250; TUAT.NF VIII, 328–347; Brunner, Weisheitsbücher, 234–256; Lichtheim, AEL II, 146–163. Vgl. auch die Feststellung, dass die Herzen der Menschen die guten Gebote des Schöpfergottes übertreten, im äg. Sargspruchtext Nr. 1130 aus dem 3./2. Jt. v. Chr. (TUAT II, 507–510, hier: 508 [Z. 463c–464a]), vgl. von Lieven, „Ich habe nicht befohlen“, 175–181). 146 Lambert, BWL 21–62; 283–302; 343–345; Annus/Lenzi, Ludlul; TUAT III, 110–135; COS 1.153; Oshima, Babylonian Poems, 78–114 (Text) und 3–77; 169–342; 376–438 (Einleitung, philologische Notizen, Partitur); siehe auch Spieckermann, Ludlul, 329–341, und Gerhards, Gott, 39–75. 147 Klage eines Dulders mit Gebet an Marduk (TUAT III, 140–143). Dieser Text ist – neben vielen anderen – ein wichtiger literarischer Beleg für den interkulturellen und intersprachlichen Kontakt zwischen Mesopotamien und dem syrisch(-palästinischen) Raum im 2. Jt. v. Chr. 141 142
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sich um die ausführliche Klage eines Dulders mit einem Gebet an den Gott Marduk. Dieses Werk gehörte im 7. Jh. v. Chr. wohl zu den klassischen bab. Texten; Kopien sind auch noch aus spätbab. Zeit bekannt.148 Die ursprünglich wohl 480 Verse (verteilt auf vier Tafeln) umfassende Dichtung Lud. weist zahlreiche Parallelen zu atl. Klageliedern auf.149 Mit dem Hiobdialog ergeben sich formale und inhaltliche Überschneidungen vor allem bei der Beschreibung des Leidens (als Folge des göttlichen Zorns) und der Entfremdung von den Nächsten, bei der Betonung der Unschuld des Leidenden sowie der Ferne und Unergründlichkeit der Götter (I,31–32; II,36–38).150 Die Wende seiner Not erlebt der Leidende in Lud. in einer (vierfachen) Traumoffenbarung. Sie steht bei allen motivischen Unterschieden makrokompositionell neben den Gottesreden des Hiobbuches (Hi 38,1; 40,6, vgl. aber auch 4,12–21 und 33,14–30). In diesen Träumen erfährt der Leidende die Reinigung durch einen Beschwörungspriester, der die Vergebung seiner Sünden und seine Gesundung folgen. In einem Flussordal wird er von den gegen ihn erhobenen Vorwürfen entlastet und schließlich restituiert. Die Dichtung gipfelt (soweit angesichts des fragmentarischen Zustandes gegenwärtig erkennbar) in einem Dank- und Lobgebet an Marduk und seine Gattin Zarpanitu, die allein aus dem Todeszustand zurück ins Leben rufen können.151 Das Gotteslob erscheint als eine entscheidende Form des Umgangs mit dem Leiden. Im Gegensatz zum Hiobbuch spielt im Lud. die priesterliche Vermittlung eine wesentliche Rolle. e) Schließlich ist auf weisheitliche Streitgespräche zu verweisen, die wie die Hiobdichtung Fragen der Erkenntnis und der Lebensorientierung dialogisch und diskursiv behandeln, unter ihnen insbesondere der Pessimistische Dialog und der Dialog zwischen Šūpē-amēli und seinem Vater,152 sowie auf weisheitliche Lehrreden wie z. B. die Instruktionen des Shuruppak.153
Lambert, BWL, 26; Oshima, Babylonian Poems, 5. Vgl. Ps 39,12–14; 35,13; 88,9; Jer 12,6; 20,6; Klgl 3,4. 150 TUAT III, 116. Siehe dazu auch Dell, Where Shall Wisdom Be Found, 54–59; Hays, Hidden Riches, 321–337; Janowski, Anthropologie, 609f (Q 84). 151 Lud. IV,103–106 (TUAT III, 134) = Lud. V,73–77 (Oshima, Babylonian Poems, 110f). 152 Lambert, BWL, 139–149; 323–327; TUAT III, 158–163; COS 1.155, bzw. Dietrich, Šūpēamēli. Zur Gattung der vorderorientalischen Streitgespräche, zu denen auch Tier- und Pflanzenfabeln gezählt werden können (Lambert, BWL, 150–212; 328–338; TUAT III, 180–187; Jiménez, Disputation Poems) siehe auch Reinink/Vanstiphout, Dispute Poems. 153 Lambert, BWL, 92–95. 148 149
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7.2 Ägyptische Parallelen Literatur Assmann, J.: Der „leidende Gerechte“ im alten Ägypten. Zum Konfliktpotential der ägyptischen Religion, in: C. Elsas/H.G. Kippenberg (Hg.), Loyalitätskonflikte in der Religionsgeschichte (FS C. Colpe), Würzburg 1990, 203–224. – Blumenthal, E.: Die Prophezeiung des Neferti, ZÄS 109 (1982) 1–27. – Dies.: Hiob und die Harfnerlieder, ThLZ 115 (1990) 721–729. – Fox, M.V.: Egyptian Onomastica and Biblical Wisdom, VT 36 (1986) 302–310. – Lieven, A. von: „Ich habe nicht befohlen, dass sie Unrecht tun.“ Das Theodizee-Problem im Alten Ägypten, in: T.M. Oshima/S. Kohlhaas (Hg.), Teaching Morality in Antiquity: Wisdom Texts, Oral Traditions, and Images, ORA 29, Tübingen 2018, 175–181. – Quack, J.F.: „Sage nicht: ,Der Frevler gegen Gott lebt heute‘; auf das Ende sollst du achten!“ Gedanken der spätägyptischen Literatur zum Problem des Bösen in der Welt, in: B. Ego/U. Mittmann (Hg.), Evil and Death. Conceptions of the Human in Biblical Early Jewish, Greco-Roman and Egyptian Literature, DCLS 18, Berlin/Boston 2015 (2017), 377–409. – Schellenberg, A.: Hiob und Ipuwer. Zum Vergleich des alttestamentlichen Hiobbuches mit ägyptischen Texten im Allgemeinen und den Admonitions im Besonderen, in: T. Krüger u.a. (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, AThANT 88, Zürich 2007, 55–79. – Schneider, T.: Hiob 38 und die demotische Weisheit (Papyrus Insinger 24), ThZ 47 (1991) 108–124.
Aus Ägypten sind eine Reihe von weisheitlichen Texten bekannt, welche die Vorstellung der göttlichen Weltordnung (Ma’at), das Verhältnis von politischer und sozialer Ordnung einerseits und Chaos (Isfet) andererseits, die Güte und Gerechtigkeit des Schöpfergottes und die Frage göttlicher Vergeltung kritisch reflektieren. In literarischer und thematischer Hinsicht bieten vor allem die folgenden Texte charakteristische Parallelen zum Hiobbuch: a) Die Mahnworte des Ipu-wer („Admonitions“)154 enthalten eine Klage über politische und soziale Missstände angesichts einer umfassenden politischen Krise in Ägypten. Der Text stammt vielleicht aus der Zeit um 2000 v. Chr.155 Im Rahmen der Beschreibung der Missstände erfolgen schwere Vorwürfe gegen den Schöpfergott bzw. gegen den für die Aufrechterhaltung der Ordnung verantwortlichen König. Zu dieser Passage finden sich motivische Parallelen in Hi 21 und Hi 24.156 Interessanterweise findet sich auf der Rückseite eines Papyrus, der die Mahnworte des Ipu-wer enthält, ein großer Hymnus auf den Sonnengott, der als Urgott, Schöpfer, Herrscher, Richter, Erhalter, höchstes Wesen und „Herr des Alls“ über allen Göttern steht (Pap. Leiden I 344 verso [ÄHG Anhang Nr. 1]). Damit vergleichbar sind die hymnischen Passagen in Hi 25; 26; 36–37; 38–39, mittels derer den vorangehenden Klagen Hiobs ein starkes Bekenntnis zur Gültigkeit der Gerechtigkeit des Schöpfergottes gegenübergestellt ist.157 b) Das Gespräch eines Lebensmüden mit seinem Ba158 bietet eine prosaisch gerahmte poetische Auseinandersetzung eines leidenden Weisen mit seinem Fecht, Vorwurf; Hornung, Dichtung, 77–94; Lichtheim, AEL I, 149–163; COS 1.42. Der bisher einzige erhaltene Papyrus (Pap. Leiden I 344) dieses Textes stammt aus der Zeit 1580–1200 v. Chr.; vgl. dazu insgesamt Schellenberg, Hiob und Ipuwer. 156 Vgl. auch Klagen über das Chaos in der Welt in der Prophezeiung d. Neferti (Blumenthal, Prophezeiung, 3–6). 157 In Auszügen übersetzt und knapp kommentiert von J. Assmann, ÄHG, 549–562. 158 Hornung, Dichtung, 106–109; Lichtheim, AEL I, 163–169; COS 3.146. Siehe dazu ausführlich Barta, Gespräch, sowie Assmann, Der „leidende Gerechte“, 209–218, der den Text gezielt mit dem Hiobbuch vergleicht. 154 155
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Ba, die wohl noch im 2. Jt. v. Chr. verfasst wurde.159 Während der Weise einen traditionellen Vergeltungsglauben vertritt, sich angesichts des Leids nach dem Tode sehnt und auf ein gerechtes Totengericht hofft, propagiert sein Ba, d. h. seine Lebenskraft oder Bewegungsseele eine ,moderne‘ Jenseitsvorstellung und ruft zum Lebensgenuss auf. In einzelnen Passagen berührt sich dieses theologische Streitgespräch mit Lebensklagen Hiobs in Kap. 3; 7; 9–10; 14; 17; 19 sowie hinsichtlich der Beschreibung sozialer Nöte mit 24,13–17. c) Zu den Klagen Hiobs über die menschliche Hinfälligkeit und Vergänglichkeit lassen sich aus dem äg. Bereich die Harfnerlieder zum Vergleich heranziehen.160 Dabei handelt es sich um poetische Reflexionen über das Leben im Diesseits und im Jenseits, die häufig einem blinden Harfenspieler in den Mund gelegt sind und die bei Gastmählern und Totenfeiern gesungen wurden. Angesichts der Unausweichlichkeit des Todes und der Unsicherheit jenseitiger Existenz rufen diese Lieder, ähnlich wie das biblische Koheletbuch, zur Bewusstwerdung der eigentlichen Sterblichkeit, zum memento mori, und zum Lebensgenuss, zum carpe diem, auf. Die Harfnerlieder stammen im Wesentlichen aus der Zeit des Neuen Reichs (1527–1070 v. Chr.), reichen aber, wie das Lied des Antef161 zeigt, bis ins Mittlere Reich zurück (2040–1660 v. Chr.). In einzelnen Motiven leben diese, wie das Klagelied auf der Grabstele der Taiemhotep162 (71–42 v. Chr.) verdeutlicht, bis in die römische Zeit fort.163 d) Das Die Klagen des Bauern oder Der redekundige Oasenmann genannte Werk164 bietet eine Erzählung aus der Zeit zwischen 2040 und 1650 v. Chr., in die neun ausführliche poetisch gefasste Reden eines Bauern eingelegt sind, der angesichts erfahrener politischer Willkür vor den Behörden bis hinauf zum Pharao sein Recht einfordert. Diese Dichtung ist formal ein besonderes Zeugnis weisheitlicher Rhetorik samt ironischer und satirischer Elemente und spiegelt die Auflösung sozialethischer Normen in einer Krisenzeit wider. Der Text bietet vor allem Parallelen zu Hi 22; 24; 29 und 31.165 e) Hinsichtlich der diskursiven und kritischen Ausrichtung der Hiobdichtung zeigen sich Parallelen in dem literarischen satirischen Brief im Pap. Anastasi I aus dem 13. Jh. v. Chr.166 und in weisheitlichen Dialogen, zum Teil in 159 Auch diese Dichtung ist bisher nur auf einem einzigen Papyrus (Pap. Berlin 3024) aus der Zeit der 12. Dynastie (1991–1786 v. Chr.) belegt. 160 Hornung, Dichtung, 153–158; Lichtheim, AEL I, 193–197; AEL II, 115f.; TUAT II, 905– 908; Blumenthal, Hiob, 721–730. 161 TUAT II, 905f. 162 TUAT II, 543f. 163 Brunner, Grundzüge, 27f.; 87f.; Blumenthal, Hiob, 721–729. 164 Hornung, Dichtung, 9–27; Lichtheim, AEL I, 169–184; COS 1.43. Die vier bisher bekannten Papyri, die dieses Werk (fragmentarisch) enthalten, stammen alle aus dem Mittleren Reich (2134–1715 v. Chr.). 165 Zu einer Typisierung möglicher Antworten auf die Frage nach der Bestrafung böser Taten der Menschen (im Diesseits durch den Staat oder die Götter, im Jenseits durch ein göttliches Gericht) siehe Quack, „Sage nicht“, 377–409. 166 Erman, Literatur, 270–294; ANET, 475–479. H.-W. Fischer-Elfert, Die satirische Streitschrift des Papyrus Anastasi I. Übersetzung und Kommentar, ÄA 44, Wiesbaden 1986.
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der Gestalt von Tierfabeln, die in den umfangreichen demotischen Mythos vom Sonnenauge integriert sind.167 f) Eine besondere Parallele zum Hiobbuch findet sich im 125. Spruch des sogenannten Totenbuches aus dem 15. Jh. v. Chr., das bis in die römische Zeit tradiert wurde.168 Dieser Spruch bietet ein mit Hiobs Unschuldsbekenntnis (Hi 31) vergleichbares negatives Sündenbekenntnis, d. h. eine stereotype Aufzählung von Taten, die der Verstorbene im Falle des Totenbuches in seinem Leben nicht begangen hat.169 Das darin zum Ausdruck kommende Ethos spiegelt sich auch in den Lebenslehren sowie in den Biographien wider, die vom Alten Reich bis in die römische Zeit nachweisbar sind. g) Einzelne ethische und religiöse Mahnungen, die sich vor allem in den Freundesreden der Hiobdichtung sowie in Hi 31 finden und die form- und geistesgeschichtlich auf die vorderorientalische Spruchweisheit zurückgehen, besitzen ältere Vorläufer und Parallelen in den Lebenslehren. Dies sind zu Spruchreihen zusammengefasste oder aus Sprüchen komponierte Unterweisungen eines Schülers durch seinen Lehrer; zu ihnen zählen vor allem die Lehre für König Merikare, die Lehre eines Mannes für seinen Sohn, die Lehre des Ani und die Lehre des Amenemope, die sich auch in den Proverbien niedergeschlagen hat (vgl. zum Teil wörtlich Spr 22,17–23,11), sowie das Große Demotische Weisheitsbuch (Phibis)170. Insbesondere das weit verbreitete, vielleicht noch aus vorptolemäischer Zeit stammende Große Demotische Weisheitsbuch,171 das auch zahlreiche Parallelen zum Buch Jesus Sirach aufweist, berührt sich mehrfach thematisch mit dem Hiobbuch hinsichtlich der Vorstellung von der Unverfügbarkeit und Unergründlichkeit Gottes, dessen freier Wille nicht dem TunErgehen-Zusammenhang unterliege.172 Mitunter sind die äg. Lehren in einen erzählenden Rahmen eingebunden, so z. B. die Lehre des Papyrus Brooklyn 47.218.135 oder die Lehre des Anchscheschonqi/Chascheschonqi, die auf Demotisch tradiert sind und wohl aus dem 6./5. Jh. v. Chr. stammen.173 h) Schließlich berührt sich die Aufzählung kosmologischer und naturkundlicher Phänomene in den Gottesreden des Hiobbuches mit einzelnen Abschnitten aus Listen (Onomastika), in denen Erscheinungen aus der geschöpflichen Welt (vielleicht als Schul- und Schreibübungen) aufgezählt werden und die in der 167 TUAT III, 1038–1077. Zur literaturgeschichtlichen Einordnung dieses Mythos und zu seiner Bedeutung für den weisheitlichen Diskurs über Gut und Böse siehe Quack, Literaturgeschichte, III, 148–160; ders., „Sage nicht“, 384–386. Zu den Fabeln siehe auch Anm. 152 auf S. 37. 168 Hornung, Dichtung, 121–128; Lichtheim, AEL II, 124–132; TUAT II, 510–518. 169 Vgl. dazu Kunz-Lübke, Hiob prozessiert. 170 Häufig wird dieser Text auch nach seinem wichtigsten Textzeugen, dem Pap. Insinger benannt. 171 Brunner, Weisheitsbücher, 295, datiert es vorsichtig auf die Zeit um 300 v. Chr., Lichtheim, AEL III, 184, in die spätere Ptolemäerzeit. Hoffmann/Quack, Anthologie, 272, sprechen sich für die frühe Saitenzeit (7. Jh. v. Chr.) aus. 172 Brunner, Weisheitsbücher; Lichtheim, AEL, I, 58–80; 134–139; AEL II, 135–163; AEL III, 159–217; Schneider, Hiob 38 und die demotische Weisheit. Zu den demotischen Weisheitstexten siehe auch Hoffmann/Quack, Anthologie, 263–341; Quack, Literaturgeschichte, III, 111–173; ders., „Sage nicht“, 377–409; von Lieven, „Ich habe nicht befohlen“, 175–181. 173 Hoffmann/Quack, Anthologie, 263–271; 308–335.
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Einleitung als „Lehre“ (äg. sb3jt) bezeichnet werden können (z. B. das äg. Onomastikon des Amenope).174 Insgesamt bestehen die Parallelen zwischen dem Hiobbuch und den äg. Texten vor allem hinsichtlich der didaktischen und kritischen Tendenz sowie hinsichtlich einzelner Motive und theologischer Denkfiguren. Eine genaue strukturelle und inhaltliche Parallele zum Hiobbuch findet sich unter den äg. Texten nicht. Zudem sind bei den äg. Texten die charakteristische Jenseitsvorstellung und die hohe Bedeutung, die dem Staat bzw. dem Pharao bei der Aufrechterhaltung der politischen und sozialen Ordnung zugemessen wird, zu bedenken. 7.3 Nordwestsemitische Parallelen Loretz, O.: Götter – Ahnen – Könige als gerechte Richter. Der „Rechtsfall“ des Menschen vor Gott Literatur nach altorientalischen und biblischen Texten, AOAT 290, Münster 2003. – Weigl, M.: Die aramä ischen Achikar-Sprüche aus Elephantine und die alttestamentliche Weisheitsliteratur, BZAW 399, Berlin/New York 2010.
a) Die seit 1929 in der nordsyrischen Küstenstadt Ugarit (Rash Shamra), einem in der späten Bronzezeit bedeutenden Stadtstaat, entdeckten Mythen, Epen, Orakel und Gebete spielen nicht nur für die Geschichte der nordwestsemitischen Sprachen eine wichtige Rolle,175 sondern auch für die Erhellung des Hintergrunds einzelner mythischer Motive. Vor allem aus dem Bereich der Wettergottmythologie, des Chaosdrachenkampfes und der Vorstellung eines Götterberges finden sich Parallelen zum Hiobbuch. Die aus der Zeit zwischen 1500–1200 v. Chr. stammenden ug. Texte sind aber nicht als literarische Vorlagen der Verfasser des Hiobbuches zu verstehen, sondern als ein Reservoir mythischer Vorstellungen, die über Jahrhunderte hinweg bekannt waren und sich in zahlreichen biblischen und außerbiblischen Texten des 1. Jt. v. Chr. mitunter als Archaismen erhalten haben. Im Hiobbuch belegen sie die Vertrautheit und das literarische Spiel mit unterschiedlichen Mythologemen. Über diese punktuellen Berührungen zwischen ug. Texten und dem Hiobbuch (insbesondere in den kosmologisch geprägten Kap. 3; 9; 26 und 38) hinaus findet sich mit dem (fragmentarisch erhaltenen) Keret/Kirta-Epos (KTU 1.14–16)176 ein konkreter Text, der gelegentlich zum Vergleich mit der Hioberzählung in Kap. 1–2 und 42,7–17 herangezogen wird. So erzählt das Keret/Kirta-Epos in seinem Rahmenteil vom Unglück, das über den rechtschaffenen König Keret/ Kirta hereinbricht und ihm die Familie raubt, von einer daran anschließenden Trauerklage (KTU 1.14 I,i,7–30 vgl. Hi 1,14–21) und von der Gabe einer neuen 174 A.H. Gardiner, Ancient Egyptian Onomastica, I–II, Oxford 1947; G. von Rad, Hiob 38 und die altägyptische Weisheit [1955], in: ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, ThB 8, München 1958, 262–271; A. Cavigneaux, Art. „Lexikalische Listen“, RLA 6 (1980–1983) 609– 641. Aufgrund gattungsgeschichtlicher und soziokultureller Unterschiede warnt Fox, Onomastica, 302–310, vor einem zu unmittelbaren Vergleich zwischen den äg. Onomastika und Hi 38–39. 175 S.o. S. 10 Anm. 29. 176 TUAT III, 1213–1253; TUAT.NF VIII, 237–267.
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Familie und neuen Segens (KTU 1.15 II,ii,21–27; iii,5–25 vgl. Hi 42,10.13). Dabei wird auch das königliche Ethos des Einsatzes für Arme und Witwen erwähnt (KTU 1.16 III,vi,33–34.45–50 vgl. Hi 29; 31). Im Zentrum finden sich andere Handlungsstränge als im Hiobbuch. Wegen der fragmentarischen Überlieferung und offener kompositionsgeschichtlicher Fragen ist die Gesamtdeutung des Epos umstritten. b) Literatur- und sprachgeschichtlich näher am Hiobbuch steht der aram. Achikar-Roman.177 Mit dem Hiobbuch teilt dieser das Phänomen der redaktionellen Verknüpfung einer (jüngeren) Prosaerzählung mit einem (älteren) poetisch gefassten Teil. Letzterer bietet eine Reihe von Spruch- und Motivparallelen zum Hiobbuch, insbesondere zu den atl. Proverbien, zu Kohelet und zum Sirachbuch, aber auch zu demotischer Literatur.178 In seinem narrativen Teil erinnert der Achikar-Roman, dessen Stoff im 1. Jt. v. Chr. von Mesopotamien über Syrien bis nach Ägypten bekannt war und der in zahlreichen Rezensionen in unterschiedlichen Sprachen179 aus der Spätantike bekannt ist, stärker an das Danielbuch und an das deuterokanonische Tobitbuch.180 c) Das fragmentarisch erhaltene aram. Gebet des Königs Nabonid aus Höhle 4 in Qumran (4QOrNab/4Q242)181 aus dem 1. Jh. v. Chr. bietet die motivische Parallele eines gottgesandten Leidens an einem bösen Geschwür (vgl. Hi 2,7) und nennt den Ortsnamen Teman (tjmn, vgl. Hi 2,11). Tendenziell entspricht das Gebet Nabonids mit der über einen jüdischen Weisen vermittelten Hinwendung des bab. Königs zum wahren Gott aber stärker dem Danielbuch als dem Buch Hiob (vgl. Dan 3,31–4,34). d) Nach einem Vorschlag von Erhard Blum könnte die Kombination II/B der Wandinschriften vom Tell Dēr ʿAllā als weisheitlicher Dialog über Vergänglichkeit und Verantwortung aus der Zeit um 800 v. Chr. (?) im Stile der aus Mesopotamien bekannten weisheitlichen Streitgespräche zum Vergleich herangezogen werden.182 e) Einzelne motivische Parallelen finden sich schließlich in aram. Gebeten auf dem in demotischer Schrift abgefassten Pap. Amherst 63.183 Diese Parallelen verdanken sich der Formensprache, die das Hiobbuch mit den Psalmen teilt.
S.o. S. 20. Siehe dazu ausführlich Weigl, Achikar-Sprüche. 179 Bekannt sind Rezensionen auf Syrisch, Arabisch, Armenisch, Altslawisch, Äthiopisch und Türkisch. 180 Siehe dazu A.-K. Wigand, Gegen das Antlitz des Königs stehe nicht auf! Die aramäische Achikarkomposition im Kontext des perserzeitlichen Elephantine, Diss.theol. Humboldt-Universität zu Berlin 2020. 181 Beyer, ATTM I, 223f; II, 139; Erg.Bd., 104; Maier, Qumran-Essener II, 185f; TUAT II, 935f; COS 1.89, 285f. 182 TUAT II, 138–147; TUAT.NF VIII, 459–474; E. Blum „Verstehst du dich nicht auf die Schreibkunst …?“, in: M. Bauks u. a. (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5) (FS B. Janowski), Neukirchen-Vluyn 2008, 33–51. 183 TUAT II, 930–934; COS 1.99, 309–327; van der Toorn, Papyrus Amherst. Der in demotischer Schrift abgefasste Papyrus stammt aus dem 4. Jh. v. Chr., die darin enthaltenen Texte sind wohl älter. 177 178
Literarische Parallelen aus dem alten Orient und der klassischen Antike
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7.4 Griechische Parallelen Hirschfeld, A.: Is the Book of Job a Tragedy?, in: L. Batnitzky/I. Pardes, I. (Hg.), The Book of Job. Literatur Aesthetics, Ethics, Hermeneutics, Perspectives on Jewish Texts and Contexts 1, Berlin u. a. 2015, 9–36. – Kallen, H.M.: The Book of Job as a Greek Tragedy with an essay (1918). Introduction by the late professor G.F. Moore, New York 1959. – Lloyd-Jones, H.: The Justice of Zeus, Sather Classical Lectures 41, Berkeley u. a. 1971. – May, H.G.: Prometheus and Job. The Problem of the God of Power and the Man of Wrath, AThR 34 (1952) 240–246. – Murray, G.: Prometheus and Job, in: P.S. Sanders (Hg.), Twentieth Century Interpretations of the Book of Job. A Collection of Critical Essays, Englewood Cliffs 1968, 56–65. – Simon, U.: Job and Sophokles, in: D. Jasper (Hg.), Images of Belief in Literature, London u. a. 1984, 42–51. – Wildberg, C.: Die Gerechtigkeit des Zeus in den Dramen des Euripides, in: J. Jeremias (Hg.), Gerechtigkeit und Leben im hellenistischen Zeitalter, BZAW 296, Berlin/New York 2001, 1–20.
a) Insbesondere seit Robert Lowths Studie De sacra Poesi Hebraeorum (1753) wurde das Hiobbuch immer wieder mit griech. Tragödien verglichen. Johann Gottfried Herder (1782/1787) stellte die Klagen Hiobs den Chorgesängen der klassischen Tragödien zur Seite: „Mit einer schönen Elegie [gemeint ist Kap. 3] fängt Hiob an und er schließt meistens seinen Spruch mit einer dergleichen rührenden Wehklagen. Diese sind wie der Chor des alten Trauerspiels: sie machen den Inhalt allgemein und menschlich.“184
Horace M. Kallen (1918) vertrat dann die einseitige, aber einflussreiche These, das Hiobbuch sei letztlich eine ins Hebräische übertragene Umformung einer Tragödie im Stile des Euripides (485/4–406 v. Chr.). Daran schlossen sich vor allem thematisch orientierte Vergleiche zwischen dem Hiobbuch, der dem Aischylos zugeschriebenen Tragödie Der Gefesselte Prometheus und einzelnen Tragödien des Sophokles an. In neuerer Zeit haben sich Françoise Mies (2003/6) und Bernhard Klinger (2007) umfassend dem Vergleich des Hiobbuches mit den griech. Dramen gewidmet.185 Auch wenn die klassischen Tragödien annähernd zeitgleich zum mit einem breiten Forschungskonsens in das 6./5.–4./3. Jh. v. Chr. datierten Hiobbuch entstanden sind, so ist doch ungeklärt, auf welchen Wegen Hebräisch schreibende jüdische Autoren in vor- bzw. frühhellenistischer Zeit mit griech. Literatur Bekanntschaft machen konnten. So steht im Mittelpunkt des Vergleichs wie bei den vorderorientalischen Texten auch hier nicht die Frage einer direkten literarischen Beziehung im Mittelpunkt, sondern die Interpretation struktureller, inhaltlicher oder tendenzieller Analogien. Diese betreffen in erster Linie die Thematisierung der Gerechtigkeit des Schöpfergottes, die insgesamt für die klassische Tragödie eine zentrale Bedeutung hat.186 Hierbei lässt sich zeigen, dass Aischylos das Problem der Theodizee „durch die Idee von der Heilsamkeit des Leidens und von den mit menschlicher Sittlichkeit unvereinbaren Methoden göttlicher Strafgerechtigkeit [und] Sophokles durch Verzicht auf rationale Erklärung und durch eine demütige Beugung unter den Herder, Geist (zitiert nach der Ausgabe von Suphan, 318). Mies, Le genre littéraire, 336–369; Klinger, Leiden; vgl. auch Hirschfeld, Book. 186 W. Schmid, Die griechische Literatur, HAW VII/I,4, 546–553. 184 185
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keinem Menschenwitz verständlichen Ratschluß der allein weisen Gottheit“ zu lösen versucht,187 während Euripides weitgehend von der Unberechenbarkeit der Götter ausgeht und die Frage der Theodizee letztlich aufgibt.188 Die unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach der Gerechtigkeit der Götter und der göttlichen Gerechtigkeit eines zum Haupt des Pantheons oder zur Gottheit schlechthin aufgestiegenen Gottes (Zeus), welche die griech. Literatur und Philosophie im Laufe ihrer Geschichte von Homer und Hesiod bzw. von Platon bis zur Stoa und zur Orphik gefunden hat, sind im Blick auf das Hiobbuch und seine verschiedenen Antworten vor allem aus ideengeschichtlicher Perspektive interessant.189 Sie gehören aber – wie auch ihre Ausläufer in der römischen Philosophie – nicht im engeren Sinn zu den literarischen Parallelen des Hiobbuches, auch wenn sich hinsichtlich des literarischen Dialogs natürlich das Werk Platons (428/7–348/7 v. Chr.) für einen Vergleich anbietet190 und hinsichtlich der bzw. einer Funktion des Hiobbuches als Trost- und Lebensbuch191 dem biblischen Werk auch einzelne Schriften Senecas (gest. 65 n. Chr.), wie z. B. dessen Trostschrift für Marcia, an die Seite gestellt werden können. b) Hinsichtlich der im Hiobbuch verarbeiteten Spruchweisheit192 bieten die unter dem Namen des Theognis von Megara (6. Jh. v. Chr.) tradierten Elegien einzelne Parallelen, während sich die hellenistische kosmologische und naturkundliche Lehrdichtung, inbesondere die Phainomena des Aratos von Soloi (315–245 v. Chr.), mit den Gottesreden (Hi 38–41) in gewisser Weise vergleichen lassen. Zumindest für die griech. Übersetzer des Hiobbuches193 kann dann eine literarische Bekanntschaft mit den griech. Tragödien und der alexandrinischen Dichterschule (Apollonios Rhodios, Kallimachos) angenommen werden. 7.5 Zusammenfassung Für alle genannten Texte aus dem mesopotamischen, äg., nordwestsemitischen und griech. Bereich gilt, dass ihr je besonderer kultureller und religiöser Kontext und ihre je spezifische literarische und formale Eigenart zu beachten sind. W. Schmid, Die griechische Literatur, HAW VII/I,2, 734. W. Schmid, Die griechische Literatur, HAW VII/I,4, 551; vgl. auch Wildberg, Gerechtigkeit, 1–21. 189 Siehe dazu T. Eber, Art. „Theodizee“, DNP 12/1 (2002) 317f, und unter den entsprechenden Quellen insbesondere Platon, apol. 30c–d („der Weise ist über das Leiden erhaben“); rep. 617e („Gott ist schuldlos“); Epikur, frgm. 374u (nach Lactanz, ira, 13,19); Cicero, nat. deor. 3,75–93, und aus der Spätantike Sextus Empiricus, P.H. 3,9–12; Plotin, enneades 1,8; 3,2. 190 Vgl. dazu den Klassiker von K. Fries, Das philosophische Gespräch von Hiob bis Platon, Tübingen 1904. 191 Vgl. M. Oeming/W. Drechsel, Das Buch Hiob – ein Lehrstück der Seelsorge?, in: T. Krüger u. a. (Hg.), Das Buch Hiob, 421–440; M. Oeming, Die Dialoge mit Frau und Freunden, in: Ders./Schmid, Hiobs Weg, 35–56. 192 S.o. S. 21; 29. 193 S.u. S. 62–65. 187
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In den meisten Fällen von Berührungen mit dem Hiobbuch handelt es sich um motivische Anklänge und Vorstellungskomplexe, die auf einem gemeinsamen geistigen Substrat im östlichen Mittelmeerraum und in Vorderasien beruhen und sich auf eine in der Levante seit dem 3. Jt. v. Chr. nachweisbare weisheitliche Denkform und mythische Wirklichkeitsauffassung zurückführen lassen. Die nächste Parallele zum Hiobbuch als einer dialogischen und kritischen Auseinandersetzung mit der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes bietet die BT. Eine direkte Beeinflussung des Hiobbuches durch eines der genannten Werke aus der vorderorientalischen Umwelt ist nicht nachweisbar. Insgesamt präsentiert sich das Hiobbuch, auch wenn es tief in der Geisteswelt das Alten Orients und der südlichen Levante verankert ist, als ein Werk ganz eigener literarischer und vor allem theologischer Art.
8. Die Entstehung des Hiobbuches und die Vielfalt seiner Theologien Oorschot, J. van: Die Entstehung des Hiobbuches, in: T. Krüger (Hg.), Das Buch Hiob und seine Literatur Interpretationen, AThANT 88, Zürich 2007, 165–184. – Syring, W.-D.: Hiob und sein Anwalt. Die Prosatexte des Hiobbuches und ihre Rolle in seiner Redaktions- und Rezeptionsgeschichte, BZAW 336, Berlin/New York 2004. – Vermeylen, J.: Métamorphoses. Les rédactions successives du livre de Job, BEThL 286, Leuven 2015. – Wanke, R.M.: Praesentia Dei. Die Vorstellungen von der Gegenwart Gottes im Hiobbuch, BZAW 421, Berlin/Boston 2013. – Ders.: Die Redaktionsgeschichte des Hiobbuches als Spiegel des Ringens um eine theologische Lösung des Theodizeeproblems, in: A. Graupner/M. Oeming (Hg.), Die Welt ist in Verbrecherhand gegeben?, BThST 153, NeukirchenVluyn 2015, 43–74.
Das Hiobbuch ist das Produkt einer langen Kompositions- und Redaktionsgeschichte, nicht das literarisch einheitliche Werk eines einzelnen Autors. Am besten lässt es sich als ein in mehreren Phasen gewachsenes Gespräch innerhalb eines Kreises von schriftgelehrten Weisen oder innerhalb einer Weisheitsschule beschreiben. Diese verfügten über ein hohes Maß an interkulturellem mythologischen Bildungsgut und eine umfangreiche Kenntnis israelitisch-jüdischer Schriften. Die Grundfragen des Hiobbuches nach der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen sowie nach dem Wesen Gottes und des Menschen werden in immer wieder neuen Richtungen durchdacht. Hierbei wird ein kritischer Diskurs mit unterschiedlichen Theologien geführt: sowohl mit sich stärker auf Alltagserfahrungen und ältere Traditionen beziehenden weisheitlichen Wirklichkeitsdeutungen als auch mit einer sich auf eine spezifische Offenbarung beziehenden Theologie, wie sie vor allem von der Torah repräsentiert wird. Auch wenn sich dieser im Hiobbuch widerspiegelnde theologische Dialog verschiedenen Autoren und Zeiten verdankt, so lässt sich dieses Buch gleichwohl als sinnvolle literarische Einheit lesen. Aus literatur- und theologiegeschichtlichen Gründen, aber auch aus sozialgeschichtlichen Erwägungen (vgl. die Einzelauslegung von Kap. 24; 30; 34) dürfte das Hiobbuch im Wesentlichen zwischen dem 5. und dem 3. Jh. v. Chr. entstanden sein. Die Erfahrungen der Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr. und des Babylonischen Exils liegen also schon eine geraume Zeit zurück, auch wenn sie
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noch nachwirken. Einzelne Passagen (der Grundschicht) sind über die Funde aus Qumran paläographisch für die Zeit zwischen 225/150 v. Chr. belegt.194 Das um 190/180 v. Chr. entstandene Sirachbuch setzt sich bereits kritisch mit dem Hiobbuch und seinen verschiedenen Redaktionsschichten auseinander. 195 Dabei steht das Sirachbuch tendenziell den jüngeren Schichten des Hiobbuches nahe, insbesondere den Elihureden (Hi 32–37). Dass sich der oder die Verfasser des um 200 v. Chr. entstandenen Tobitbuches inhaltlich und strukturell am ursprünglichen Hiobbuch orientieren,196 lässt sich trotz einzelner motivischer Parallelen nicht beweisen. Erst die lat. Fassung des Tobitbuches bezieht sich ausdrücklich auf das Hiobbuch.197 Der Beginn der literargeschichtlichen Erforschung des Hiobbuches fällt zeitlich mit dem Aufkommen der historisch-kritischen Bibelwissenschaft im 17./18. Jh. zusammen.198 Sie setzt mit der Frage nach dem literargeschichtlichen Verhältnis zwischen den Prosatexten in Hi 1–2 und 42,7–17 einerseits und der Dichtung in 3,1–42,6 andererseits sowie der Beobachtung von Kohärenzstörungen im sogenannten dritten Redegang (Hi 21/22–27/28) ein, erstreckt sich dann auf die Frage der Ursprünglichkeit der Elihureden (Hi 32–37) und einzelner Passagen in der zweiten großen Gottesrede (Hi 40,6–41,26) und bezieht schließlich das gesamte Hiobbuch in die Frage nach seiner literarischen Geschichte ein. Mit dem Ausgang des 19. Jh. liegen, wie in anderen Bereichen der alttestamentlichen Literaturgeschichte, alle wesentlichen literarkritischen Beobachtungen zum Hiobbuch auf dem Tisch. Diese werden im Laufe des 20. Jh. um gattungs-, religions- und traditionsgeschichtliche Erkenntnisse erweitert bzw. in deren Licht modifiziert und seit den 1980er Jahren in redaktionsgeschichtliche Synthesen überführt. Die literarischen Wachstumsspuren des vorliegenden Buches zeigen sich vor allem an vier Punkten, wobei die Forschung, soweit sie literarhistorische Fragen nicht ausblendet und Kohärenzstörungen als bewusste, dramaturgisch bedingte Stil- und Kunstmittel eines einzigen Autors beurteilt,199 in der jeweiligen literargeschichtlichen Beurteilung und Zuordnung der redaktionellen Schichten differiert. S.o. S. 11f. Vgl. F.V. Reiterer, Das Verhältnis Ijobs und Ben Siras, in: W.A.M. Beuken (Hg.), The Book of Job, BEThL 114, Leuven 1994, 405–429; R. Egger-Wenzel, Der Gebrauch von תמםbei Ijob und Ben Sira. Ein Vergleich zweier Weisheitsbücher, in: F.V. Reiterer (Hg.), Freundschaft bei Ben Sira, BZAW 244, Berlin/New York 1996, 203–238). 196 So D. Dimant, Use and Interpretation of Mikra in the Apokrypha and Pseudepigrapha, in: M.J. Mulder/H. Sysling (Hg.), Mikra, CRINT II/1, Assen/Philadelphia 1988, 379–419, hier: 417f. Insbesondere die Parallele der Gespräche zwischen Hiob und seiner Frau (Hi 2,9–10) und zwischen Tobit und Hanna (Tob 2,14) könnte hier in Anschlag gebracht werden, wobei die Beziehung zwischen beiden Texten auf der Ebene der Septuaginta noch enger ist (Witte, Hiobs viele Gesichter, 140–151). 197 S.o. S. 6. 198 Siehe dazu ausführlich Witte, Hiobs viele Gesichter, 13–35. 199 Repräsentativ für einen solchen ,holistic approach‘ oder ein ,close reading‘, das sich auf die ,Endgestalt‘ des Buches konzentriert, sind vor allem angelsächsische Kommentare, vgl. z. B. Janzen; Habel; Whybray; Balentine; J.H. Walton; Longman III oder Seow. 194 195
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1) Zunächst ist strittig, wie das literargeschichtliche Verhältnis zwischen der Rahmenerzählung und der Dichtung zu beurteilen ist. Für die Annahme, dass der Rahmen bzw. Teile von ihm und die Dichtung aus unterschiedlichen Händen stammen, sprechen – unbeschadet der Tatsache, dass der Prolog und der Epilog in der ,Endgestalt‘ eine wichtige hermeneutische Rolle spielen –,200 erstens das unterschiedliche Bild Hiobs – einerseits der gottergebene Dulder, andererseits der gegen Gott klagende Rebell –, zweitens inhaltliche Widersprüche in der Zeichnung der Leidenssituation Hiobs (vgl. Hi 2 versus Hi 19), drittens theologische Unterschiede hinsichtlich der Rückführung des Leidens auf Gott selbst (Hi 1,21) bzw. auf eine innergöttliche Auseinandersetzung – symbolisiert im Gespräch zwischen Jhwh und dem Satan (1,6–12; 2,1–7) –, und viertens die Möglichkeit, Kap. 1(–2) unmittelbar mit 42,(7–10).11–17 zu einer literarisch und theologisch in sich stimmigen Erzählung verbinden zu können. In der Forschung finden sich zur Lösung dieser literargeschichtlichen Fragen im Wesentlichen drei konkurrierende Antworten: a) Der Dichter des Dialogs habe eine ihm schriftlich oder mündlich vorgegebene Erzählung aufgenommen und diese punktuell für seine Zwecke als Prolog und Epilog modifiziert, ohne alle Widersprüche zu glätten.201 b) Die Rahmenerzählung und die Dichtung bzw. Vorstufen dieser beiden seien ursprünglich selbstständige und voneinander unabhängige Kompositionen, die erst durch eine dritte Hand miteinander verbunden worden seien.202 Eine literaturgeschichtliche Analogie zu dieser Entstehung bietet die bereits genannte aram. Erzählung vom weisen Achikar, die sekundär mit älteren poetisch gefassten Weisheitssprüchen verknüpft wurde.203 c) Die Rahmenerzählung sei sekundär um die ältere Dialogdichtung herumund auf diese hingeschrieben worden.204 Eine literaturgeschichtliche Analogie könnte die äg. Prophezeiung d. Neferti205 bilden; allerdings ist nicht sicher, ob die Erzählung, die den weissagenden Sprüchen vorangeht, tatsächlich erst später ergänzt wurde. 2) Ein weitgehender Konsens der literargeschichtlichen Forschung besteht darin, dass der sogenannte dritte Redegang, d. h. der Redewechsel zwischen Hiob und den Freunden zu seinem Ende hin, spätestens ab Kap. 24,13 nicht in seiner ursprünglichen Form vorliegt. In 24,13–24(25); 27,7–23 und 26,5– 14 vertritt Hiob eine Position, wie sie bis dahin die Freunde vertreten haben 200 Siehe dazu pointiert K. Schmid, Hiob, 19–33, der „die Annahme einer Entstehung des Rahmens nicht unter Absehung der Dialoge“ für wahrscheinlich hält (a.a.O, 18; Hervorhebung von mir). 201 Vgl. z. B. Fohrer; J. Gray; Vermeylen, Métamorphoses, 180–191; u. v. a. 202 Vgl. z. B. Maag, Hiob, 17f (die mittels 2,11–13 und 42,7–9 gerahmte Dichtung, ohne die Elihureden, einerseits, und die Erzählung 1,1–2,10; 42,[10].11–17 wurden sekundär miteinander verknüpft); Syring, Hiob, 168; Wanke, Praesentia Dei, 412–418. 203 Angesichts der fragmentarischen Überlieferung des Papyrus ist umstritten, ob die jüngere Erzählung den Sprüchen einfach vorgeschaltet (so Lindenberger, in: OTP 2, 480; Niehr, JSHRZ II/2, 21) oder als Rahmen um die Erzählung gelegt wurde (so z. B. Kottsieper, in: TUAT III, 321). 204 Heckl, Hiob, 473f; zu Vorläufern dieser These im 18. und 19. Jh. siehe Witte, Leiden, 192, und Syring, Hiob, 25–33. 205 Lichtheim, AEL, 139–145; TUAT II, 102–110; Blumenthal, Prophezeiung, 1–27.
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und wie er sie selbst in Kap. 29–31 (wieder) negiert. In 28,1–28 liegt im Kern ein ursprünglich selbstständiges Gedicht auf die verborgene Weisheit vor, das eine mit den Gottesreden vergleichbare Lösung des Hiobproblems andeutet, ohne aber einen Impuls auf die folgenden Reden auszuüben. Während in Kap. 4–15 jeweils drei Freunde Hiobs vollständig durchkomponierte Reden halten, findet sich in Kap. 22–28 nur eine mit den vorangegangenen Freundesreden vergleichbare Rede, die zugleich die Merkmale eines Schlusswortes trägt (Kap. 22), sowie eine poetische These aus nur fünf Versen (Kap. 25), die bereits in Kap. 4 und Kap. 15 Gesagtes wiederholt. In 27,1 und 29,1 liegen für die gesamte Dichtung einmalige Redeeinleitungen vor. Strittig ist, ob der Befund im Bereich von Hi 24–28 mittels der Annahme a) einer Kürzung, wie sie für die ursprüngliche griech. Übersetzung wahrscheinlich ist,206 b) einer Umstellung, wie sie empirisch durch eine Blattvertauschung im griech. Sirachbuch bzw. eine andere Anordnung einzelner Kapitel in der griech. Überlieferung der Bücher Jeremia, Ezechiel und Proverbien nachweisbar ist, c) einer Zitation oder Imitation der gegnerischen Position oder d) einer (stufenweisen) Ergänzung mit dem Ziel einer theologischen Modifikation zu erklären ist.207 3) Mit wenigen, allerdings prominenten Ausnahmen ist sich die literargeschichtliche Forschung darin einig, dass die Reden des vierten Gesprächspartners Elihu in Kap. 32–37 einen jüngeren Einschub darstellen.208 Kompositionell zerreißen die Kap. 32–37 mit einem in Prosa gefassten Prolog und vier langen poetisch gestalteten Monologen den unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Herausforderungsreden Hiobs und den Gottesreden. So zielt Hiobs Wunsch nach einer direkten Gottesbegegnung in 31,35–37 unmittelbar auf die Rede(n) Gottes.209 In den Überschriften der Gottesreden in 38,1 und 40,6 wird vorausgesetzt, dass zuletzt Hiob geredet hat. Nur in den Reden Elihus wird Hiob namentlich genannt bzw. namentlich angesprochen. 210 Allein S.u. S. 62. Einen breiten Überblick über unterschiedliche Modelle (bis 1994) bietet Witte, Leiden, 1–55. Dieser Überblick ist um redaktionsgeschichtliche Vorschläge von Strauß, R.M. Wanke und Vermeylen sowie die editionsgeschichtlich argumentierenden Vorschläge von Clines (2006) und Fox (2018) zu ergänzen. Clines rekonstruiert als dritte Bildadrede 25,1; 26,2–4; 25,2–6; 26,5–14 und als dritte Zopharrede 27,7–10.13–27; 24,18–24; 27,18–23 und verlegt Kap. 28, wie Greenstein, Job, 160, an den Schluss der vierten Elihurede (Kap. 37), während Fox, Speaker, 21–38, Hi 28 zur dritten Rede Zophars erklärt. 208 Vgl. dazu die Forschungsüberblicke bei Wahl, Schöpfer, 189–207; Pilger, Erziehung, 4–20; Lauber, Weisheit, 1–40. Unter den neueren Kommentaren erwägen z. B. Gordis und Hartley eine Abfassung durch den einen Autor des Hiobbuches, vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, während Habel und Seow entschieden ihre Ursprünglichkeit vertreten und Clines lediglich eine falsche Positionierung annimmt (siehe die nächste Anm.). Zur Annahme der Ursprünglichkeit siehe auch R. Andersen, Elihu, 75–94. 209 Siehe dazu ausführlich Kutsch, Unschuldsbekenntnis, 308–335, sowie Clines, 708f, der daraus aber keine redaktionsgeschichtlichen Schlüsse zieht, sondern diesen Befund editionsgeschichtlich erklärt, insofern in der Stammhandschrift, die dem Vorläufer des MT zugrundeliegt, die Kolumnen, die Hi 32–37 enthielten, versehentlich von ihrer ursprünglichen Position zwischen Kap. 27 und Kap. 28 hinter Kap. 31 gelangt seien (vgl. ders., Putting Elihu in his Place: A Proposal for the Relocation of Job 32–37, JSOT 29 [2004] 243–253). 210 Vgl. Hi 32,12; 33,1.31; 34,5.7.35.36; 35,16; 37,14. 206 207
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in den Elihureden wird – mit Ausnahme von 11,4 und 22,13 – mittels einer eigenen Zitationsformel aus vorangegangenen Reden der Freunde und Hiobs zitiert.211 Dabei werden einzelne zentrale Begriffe und Wendungen aus den vorangegangenen Reden übernommen, ohne dass ganz wörtlich zitiert wird. In dieser leicht verfremdenden oder variierenden Zitation zeigt sich jeweils der besondere Akzent der Argumentation Elihus. Literaturgeschichtlich sind die Elihureden trotz ihrer direkten Anreden eines Gegenübers in einem noch stärkeren Maß als die ursprünglichen Reden des Buches theologische Traktate bzw. Lehrreden. In ihrem monologischen, argumentativen und paränetischen Charakter haben die Elihureden ihre nächsten literaturgeschichtlichen Parallelen innerhalb des AT zum einen im Buch der Sprüche (vgl. Spr 22,17–29; 30,1–33; 31,1–9) und im Koheletbuch, zum anderen in den Theodizeeperikopen und im großen Schöpferlob des Sirachbuches.212 Noch häufiger als in den Reden Hiobs und der drei Freunde finden sich rhetorische Stilmittel.213 Demgegenüber werden in den Elihureden weniger Bilder und Metaphern als in den anderen Reden des Buches verwendet. Sprachlich weisen die Elihureden einen stärkeren Einfluss des Aramäischen auf als der übrige Text. Gegen die Annahme, der ursprüngliche Dichter lasse seinen Protagonisten Elihu bewusst aramaisierend reden, spricht, dass die Reden des Eliphas, Bildad und Zophar keine entsprechende dialektale Färbung aufweisen, wie dies in analogen Fällen der Komödien des griech. Dichters Aristophanes (um 445/444– 380 v. Chr.) möglich ist, der mitunter einzelnen seiner Figuren unterschiedliche griech. Dialekte in den Mund legt. Auffällig ist auch, dass der hebr. Text von Kap. 32–37 insgesamt schlechter überliefert ist als die anderen Abschnitte des Buches und in einem höheren Maß als sonst Konjekturen nötig sind. Die antiken Versionen unterscheiden sich hier häufiger vom MT und untereinander als in anderen Teilen des Buches. In der ursprünglichen griech. Übersetzung sind die Elihureden wesentlich kürzer als im MT.214 Inhaltlich nehmen die Elihureden mit ihrem Hinweis auf Gott als gerechten Schöpfer teilweise die von den Gottesreden gebotene Lösung des Hiobproblems vorweg. Einzelne kosmologische und meteorologische Vorstellungen in Kap. 36–37, so vor allem die Ausführungen zum Wasserkreislauf in 36,27–28, fallen differenzierter aus als die entsprechenden Teile in den Gottesreden. Die Frage der theologischen Bedeutung der Elihureden ist indessen ganz unabhängig von ihrer kompositions- und redaktionsgeschichtlichen Einordnung. Die Tatsache, dass die Elihureden einen entscheidenden Beitrag zu den im Hiobbuch verhandelten Fragen leisten, beweist jedenfalls keine Ursprünglichkeit. 211 Vgl. Hi 32,13 mit 11,5; 15,17–18; Hi 33,9–11 mit 9,21; 13,18–27; 16,17; Hi 33,12 mit 9,16; Hi 34,5–9 mit 22,2; 27,2–6 und Hi 35,3 mit 7,20. 212 Vgl. Sir 15,11–18,14; 33,7–15; 40,1–11; 41,1–13 bzw. Sir 42,15–43,33 und dazu Lauber, Weisheit, 435–440; Vermeylen, Métamorphoses, 340–342. 213 Vgl. dazu Wahl, Schöpfer, 149–154; Lauber, Weisheit, 186–189; 200–203; 219–222; 240– 242; 251–253; 264–268; 280–282. 214 Zu den sekundären Kürzungen der LXX s.u. S. 62.
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Im kanonischen Hiobbuch erfüllen die Elihureden einerseits eine retardierende Funktion. Sie bieten nach dem dramatischen Redewechsel zwischen Hiob und seinen drei Freunden und nach Hiobs direkter Herausforderung Gottes zum Rechtsstreit einen Ruhepol. Dazu kommt in der ,Endgestalt‘ ein ironisches Element: Hiob wartet auf Gott – und Elihu kommt, jedenfalls zunächst. Andererseits führen die Elihureden, vor allem der vierte Monolog in Kap. 36–37, auch ausführlich auf die abschließende Gottesrede hin. So wird die Epiphanie Gottes, die im ursprünglichen Dialog nur mittels der Überschrift in 38,1 („Und Jhwh antwortete Hiob aus dem Sturm und sagte“) angedeutet war, durch die breite Schilderung der Gewittertheophanie in 36,33; 37,1–22 eindrucksvoll vorbereitet. 4) Schließlich vermuten weite Kreise der Forschung, dass die Gottesreden (Kap. 38–41) sekundär aufgefüllt wurden. Umstritten sind der Umfang der Ergänzungen sowie die Ursprünglichkeit von zwei (bzw. drei) Gottesreden (38,1– 39,30; 40,1–2; 40,6–41,26) und zwei Antworten Hiobs (40,3–5; 42,1–6). Für die These der redaktionellen Bearbeitung der Gottesreden können die unterschiedliche Tendenz der Reden in Kap. 38–39 einerseits und in Kap. 40–41 andererseits, die formalen Unterschiede im Strophenbau und in der Bildwahl sowie der Neuansatz zu einer Gottesrede mit anschließender kurzer Hiobrede in 40,1–2.3–5 geltend gemacht werden.215 Wie eingangs ausgeführt, ist der vorliegende Kommentar einem redaktionsgeschichtlichen Zugang verpflichtet: Passagen, die gemäß sprachlicher, formaler, inhaltlicher und tendenzkritischer Analysen sekundär sind, werden als Fortschreibungen verstanden, die den jeweils vorlaufenden Text modifizieren und interpretieren und die sich bestimmten theologiegeschichtlichen Strömungen im antiken Judentum zuordnen lassen. Hierin besteht der Fortschritt der redaktionsgeschichtlichen Forschung gegenüber der älteren literarund gattungskritischen Forschung, die als sekundär eingestufte Abschnitte zumeist nur als unspezifische Interpolationen bestimmte.216 Die hier vorgelegte redaktionsgeschichtliche Auslegung nimmt die Beobachtung literarischer Nähte auf und versucht, die Leserschaft mit in die Entstehungs-, Rezeptions- und Interpretationsprozesse des Hiobbuches selbst hineinzunehmen und an der vielfältigen, mitunter widersprüchlichen theologischen Diskussion, die in diesem Buch von verschiedenen jüdischen Weisen geführt wird, teilhaben zu lassen. Dabei soll auch deutlich werden, wie der jeweils ältere Text im Licht des jeweils jüngeren gelesen werden kann. Gegenüber einer ‚synchronen‘ Exegese oder eines ‚close reading‘, die ausschließlich am ‚Endtext‘ orientiert sind, ist in diesem Kommentar die literargeschichtliche Tiefendimension in die Auslegung eingebettet und selbst ein Gegenstand der Auslegung. Denn wie allein schon die verschiedenen Versionen des Hiobbuches in der LXX und in 11QTgHi sowie die zahlreichen punktuellen Varianten innerhalb der Überlieferung des Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei van Oorschot, Gott, 231–259, sowie die Einleitung zur Auslegung der Gottesreden, S. 593–595; 638f. 216 Hölscher; Fohrer; aber auch noch J. Gray. 215
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MT zeigen, gibt es den einen ,Endtext‘ gar nicht. Vergleichbar der Besichtigung einer über Jahrhunderte erbauten und ausgestatteten Kathedrale wird in dem vorliegenden Kommentar ein Gang durch das Hiobbuch vorgenommen, bei dem sowohl das Gesamtkunstwerk als auch seine einzelnen Bauelemente je für sich, in ihrer übergreifenden Funktion für die jeweilige Bauphase und in ihrer Modifikation durch jeweils jüngere Zusätze in den Blick genommen werden. So werden hier auf der literarischen Ebene modellhaft sechs bzw. sieben Entstehungsphasen unterschieden. Inhaltliche Kriterien zur Unterscheidung der an diesem Diskurs beteiligten Größen sind neben der Anthropologie, Kosmologie und Theologie auch die Antworten auf die Frage nach dem Grund und Ziel des (unschuldigen) Leidens, nach den Möglichkeiten der Erkenntnis und nach der Gültigkeit der Torah des Mose, wie sie vor allem durch das Dtn in seinen verschiedenen dtn.-dtr. Stufen repräsentiert wird. Die Analyse zeigt, dass einzelne Fortschreibungen im Hiobbuch (wie in der gesamten atl. Literatur) mitunter sehr kleinteilig und ohne substanzielle Auswirkung auf die grundsätzliche kompositionelle Struktur des jeweils vorlaufenden Werkes sein können und doch von weitreichender theologischer Bedeutung sind. Beispielhaft für die große Wirkung kleiner Ergänzungen sind die Fortschreibungen in Hi 19,25–29 oder in Hi 31. Dass sich in den verschiedenen Schichten des Hiobbuches mitunter dieselben literarischen Techniken zeigen, wie z. B. die bewusste Mischung und Verfremdung von Gattungen, Ironie und Parodie oder die kritische relecture älterer Texte,217 entspricht dem schriftgelehrten Milieu, aus dem das Hiobbuch stammt, und ist kein Hinweis auf die Abfassung durch einen einzigen Autor. Wie jede historische Rekonstruktion besitzt das hier zugrunde gelegte Entstehungsmodell hypothetischen Charakter. Sein Wert kann sich daran bemessen, inwieweit es dazu beiträgt, einen Text aus einer räumlich und zeitlich fernen Welt als Deutung von Wirklichkeit so zu erschließen, dass sowohl die Fragen seiner Zeit, auf die er zu antworten versucht, als auch sein Potential zum gegenwärtigen Verstehen von Leben freigelegt werden. Forschungsgeschichtlich verdankt sich das hier vertretene Modell umfassender redaktionsgeschichtlicher Analysen, wie sie seit den 1980er Jahren unter anderem von Victor Maag (1982), Jacques Vermeylen (1986; 2015), Theresia Mende (1990), Markus Witte (1994), Wolf-Dieter Syring (2004), Jürgen van Oorschot (2007), Urmas Nõmmik (2010), Roger Marcel Wanke (2013; 2015) und Stephan Lauber (2013) mit unterschiedlichen Akzentuierungen vorgenommen wurden. Hinsichtlich einer Korrelation der erhobenen literarischen Schichten mit zeitgeschichtlichen Ereignissen, wie dies z. B. Mende und Vermeylen versuchen,218 übt der vorliegende Kommentar eine gewisse Zurückhaltung. Er differenziert die festgestellten Bearbeitungen in erster Linie tendenz- und traditionsgeschichtlich, wenngleich auch er davon ausgeht, dass die an der Komposition des Hiobbuches beteiligten gelehrten Kreise Siehe dazu oben S. 19–26. In diesem Sinn grundsätzlich auch Crüsemann, Hiob und Kohelet, 386–391; Albertz, Hintergrund, 352–355; 357–368; Perdue, Wisdom Literature, 77–135; K. Schmid, Hiob, 63–70. 217
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die religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche reflektierten, die das Judentum in persischer und hellenistischer Zeit erlebte.219 Ein solcher Ansatz verbindet diesen Kommentar grundsätzlich mit den Studien von R.M. Wanke, der die verschiedenen Schichten im Blick auf deren kritische Haltung gegenüber bestimmten Traditionen (Kult, Weisheit, Recht) unterscheidet. Hierbei spiegeln sich die verschiedenen literarischen Schichten und ihre Theologien in besonderer Weise in der unterschiedlichen Profilierung der Figur Hiobs. Die Keimzelle des Buches bildet eine – hinsichtlich ihrer genauen Gestalt und lokalen Herkunft allerdings nicht mehr rekonstruierbare – Erzählung von einem sich im Leiden bewährenden frommen Mann namens Hiob. Inwieweit die in Ez 14,14.20 überlieferte Sentenz von den drei gerechten Männern der Vorzeit, Daniel, Hiob und Noah, tatsächlich auf eine alte Tradition zurückgeht und sich für eine Rekonstruktion der ursprünglichen Hioberzählung verwenden lässt, ist angesichts der komplexen Redaktionsgeschichte des Ezechielbuches in der gegenwärtigen Forschung umstritten. Die Existenz eines oder gar des Hiobbuches lässt sich aus der Notiz in Ez 14 nicht ableiten. Auf die Erwähnung Hiobs in Ez 14,14 greift aber offenbar Sir 49,9 (HB) zurück, wo Hiob im Rahmen des ,Lobs der Väter‘ (Sir 44–49) als Prophet unmittelbar im Zusammenhang mit Ezechiel und vor der Erwähnung der zwölf (kleinen) Propheten erscheint: 8 Ezechiel sah ein Gesicht und beschrieb die Formen des Thronwagens. 9 Und er erwähnte auch Hiob, {den Propheten}, der alle Wege der Gerechtigkeit erfüllte. 10 U nd auch die zwölf Propheten: Ihre Gebeine mögen [aufsprossen von ihrer (Grab-)Stätte], weil sie Jakob stärkten und ihm halfen durch [……………………………………………]. (Sir 49,8–10 [HB])220
Die Hioberzählung bot den Stoff für eine zweifache, ursprünglich selbständige literarische Verarbeitung: zum einen in poetischer Form in Gestalt einer mit der Lebensklage Hiobs in Kap. 3 einsetzenden und mit einer Gottesrede in Kap. 38–39 endenden Hiobdichtung (Ia, Hiobdichtung A), zum anderen in prosaischer Form in Gestalt einer Hiobnovelle (Ib), die im Wesentlichen Kap. 1 und 42,11–17 umfasste und ausweislich ihres Sprachstils und ihrer innerbiblischen Bezüge kein altes „Volksbuch“221 darstellt, sondern eine kleine theologische Lehrerzählung, vergleichbar den Büchern Jona und Rut. Beide Hiobwerke – die große Hiobdichtung und die kleine Hiobnovelle – mit ihrem je eigenen theologischen Profil stammen in ihren Grundgestalten vermutlich aus persischer Zeit, wobei die Hiobdichtung sprachlich und traditionsgeschichtlich den etwas älteren Eindruck macht. 219 Siehe dazu Kessler, Sozialgeschichte, 138–192; Gerstenberger, Israel, 74–115; Haag, Zeitalter, 33–111; Lipschits/Oeming, Judah; Lipschits/Knoppers/Albertz, Judah. 220 Hiob wird nur in der hebr. und syr. Version von Sir 49,9 genannt; zum Problem des Textes siehe Witte, Texte und Kontexte, 23–37. 221 So aber Budde, XIII; Duhm, VII–VIII; Fd. Delitzsch, Hiob, 5–16; Gese, Lehre, 71–73, und in neuerer Zeit Vermeylen, Métamorphoses, 180 („un récit de type populaire“); 183–189. Zur Forschungsgeschichte siehe Syring, Hiob, 33f.
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Die ursprüngliche Dichtung problematisiert die Verlässlichkeit und Gerechtigkeit des Schöpfergottes. Sie konfrontiert die Vorstellung des Tun-ErgehenZusammenhangs und der Entsprechung von Frömmigkeit und Wohlergehen mit der Vorstellung der absoluten Freiheit und Fremdheit Gottes. An die Stelle der im Dialog zwischen Hiob, seinen Freunden und Gott ausführlich meditierten und kritisierten traditionellen weisheitlichen, kultischen, rechtlichen und torahtheologischen Leidensdeutungen setzt sie das Mysterium des kosmischen Handelns Gottes, das sich menschlicher Rationalität entzieht und das der Mensch nur schweigend annehmen kann. Indem die Gottesrede auf Hiobs schlussendliche Berufung auf die Torah in Kap. 31 nicht eingeht, unterstreicht sie, dass die Einhaltung der Torah letztlich nicht das Leben und Überleben des Menschen garantiere. Dieses liege vielmehr allein in der Hand Gottes, des Herrn des Kosmos und der Zeit. Dessen Weltplan sei aber vom Menschen nicht durchschaubar, wenngleich sich Gott dem einzelnen Menschen jeweils neu – und damit nicht nur ein für allemal wie in der Sinaitheophanie – auch offenbare. Die ursprüngliche Hiobnovelle hat ihr literarisches und theologisches Zentrum im Lobpreis Gottes, der Leben schenkt und Leben nimmt (1,21). Leiden erklärt sie indirekt als eine Bewährungsprobe des Frommen. Die Gültigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs und der Gerechtigkeit Gottes stellt sie nicht in Frage. Die Hiobdichtung und die Hiobnovelle wurden zunächst getrennt überliefert und getrennt redaktionell bearbeitet. Die wesentliche Bearbeitung der noch selbstständigen Dichtung stellt die sogenannte Niedrigkeitsredaktion dar. Sie hat das Motiv der geschöpflichen Unwürdigkeit des Menschen vor Gott in Hi 4,12–21 und 15,11–16 eingefügt sowie die dritte Bildadrede (25,1–6) und das Abschlussbekenntnis Hiobs in 40,3–5; 42,2–6* komponiert, wodurch die Hiobdichtung B (II) entstanden ist. Die Niedrigkeitsredaktion bewahrt strukturell die Dialektik der ursprünglichen Hiobdichtung. Hinsichtlich eines vertieften Sündenverständnisses berührt sie sich theologiegeschichtlich eng mit späten Psalmen (Ps 51; 143) und einzelnen Passagen in den aus Qumran bekannten Lobliedern (1QHa).222 Leiden erklärt sie als eine Folge der menschlichen Disposition, ohne dass sich ein Grund benennen ließe, weshalb der eine Mensch leidet und der andere nicht. Charakteristisch für diese Redaktion ist, dass sie das ihr wichtige Theologumenon von der kreatürlichen Niedrigkeit und Unwürdigkeit des Menschen in eine Offenbarungsszene eingebaut hat (4,12–21) und am Ende die Gottesschau Hiobs betont (42,5). Die von der ursprünglichen Gottesrede in Hi 38–39 nicht angesprochenen Unschuldsbekenntnisse Hiobs (9,20; 13,18; 16,17–18; 23,10–12 u.a.) werden im Werk der Niedrigkeitsredaktion mit dem Hinweis auf die allgemeine menschliche Sündhaftigkeit entkräftet. Die dem leidenden Menschen, wie er durch Hiob 222 Vgl. 1QHa IX,22–23(24–25); XI,23–24(24–25); XII,29–30(30–31); XII,13–18; XX,24– 25(27–28); 1QS XI,9–10; Sir 17,30–32 (G; Syr); 1Hen 81,5; siehe dazu die Auslegung von Hi 4,12– 21. Vgl. auch Newsom, Reception, 108–114, die allerdings die qumranischen Texte einseitig nur aus der Perspektive der Rezeptionsgeschichte betrachtet.
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repräsentiert wird, angemessene Reaktion besteht nach dieser Redaktion in der ausdrücklichen Unterwerfung unter den Willen Gottes und der am Ende auf Widerspruch verzichtenden Annahme der eigenen Endlichkeit. Der theologischkosmologischen Antwort der ursprünglichen Hiobdichtung stellt die Niedrigkeitsredaktion eine anthropologisch-hamartiologische Antwort zur Seite: Weil der Mensch wesenhaft ein Gottloser (rāšāʿ) sei (4,17; 15,15; 25,4: 42,6), erweise er sich auch immer wieder als solcher und erfahre daher zu Recht, was Hiobs Freunde als Ergehen der Gottlosen beschreiben (15,20–35; 18,5–21; 20,5–29). Diese von einem starken Sündenbewusstsein geprägte Anthropologie übertrifft auch das spätdeuteronomische Sündenverständnis (Dtn 9) und bewahrt wie die Offenbarungsszene in 4,12–21 grundsätzlich die torahkritische Linie der ursprünglichen Dichtung. In vorgerückter persischer oder frühhellenistischer Zeit wurde die um die Niedrigkeitsredaktion erweiterte Dichtung mit der ursprünglichen Novelle redaktionell durch die Einlage von 2,11–13; 3,1 und 42,7–10* zu einem ersten Hiobbuch (III, Buch A) verbunden und inhaltlich um die Himmelsszenen (1,6–12; 2,1–7.8) sowie das Gespräch Hiobs mit seiner Frau (2,9–10) erweitert. Die leitende kompositionelle Idee der dafür verantwortlichen Buchredaktion war wohl die Bewahrung der unterschiedlichen literarischen Behandlungen der Hiobthematik in einem Werk. Auf die Buchredaktion könnten auch die Überschriften der Reden (3,2; 4,1; 6,1; 8,1; 11,1 usw.) zurückgehen.223 Für die Annahme, dass die Hiobdichtung zunächst ohne Überschriften tradiert wurde, könnte sprechen, dass z. B. die BT keine entsprechenden Überschriften aufweist und dass auch bei den griech. Tragödien ursprünglich keine explizite Angabe zur entsprechenden Figurenrede erfolgte.224 In der BT sind die Reden des leidenden Gerechten und seines Freundes aufgrund der akrostichischen Anlage der Strophen, die jeweils elf Verse enthalten, stilistisch klar voneinander abgesetzt. Insofern die Freundesreden in der Hiobdichtung aber sprachlich, stilistisch und inhaltlich eigene Profile aufweisen, ist es doch wahrscheinlicher, dass die Reden bereits in der ursprünglichen Dichtung eine entsprechende Überschrift hatten und dass die Buchredaktion aus diesen die Namen der Freunde für die kleine von ihr komponierte Szene in 2,11–13 übernommen hat. In theologischer Hinsicht führt die Buchredaktion mittels der Einfügung der Himmelsszenen narrativ-erläuternd in die Komplexität und Fremdheit Gottes, wie sie die ursprüngliche Dichtung prägt, ein. Explizit erscheint das Leiden Hiobs nun als Folge eines Tests Gottes, der den Satan innerhalb bestimmter, auch bis zum Abgrund des Lebens reichender Grenzen handeln lässt. Dabei unterstreicht die Buchredaktion die besondere Beziehung Gottes zu Hiob, indem sie Gott, von
Dies vermuten Kaiser, 125, und Wanke, Praesentia, 430. Siehe dazu S.A. Nitsche, Jesaja 24–27: ein dramatischer Text. Die Frage nach den Genres prophetischer Literatur des Alten Testaments und die Textgraphik der großen Jesajarolle aus Qumran, BWANT 166, Stuttgart 2006, 53f, der das Phänomen der fehlenden ausdrücklichen Anzeige eines Sprecherwechsels auch für alttestamentliche, insbesondere prophetische Texte nachzuweisen versucht. 223 224
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dem sie ausdrücklich als Jhwh spricht,225 entschieden das vorbildliche Verhalten und – im Gegensatz zu den Freunden –,rechte‘ Reden seines Dieners Hiobs (1,8; 2,3) anerkennen und Hiobs Schicksal wenden lässt (42,7–10). Der von der Buchredaktion erweiterte Prolog und der Epilog bestätigen in dieser Hinsicht, wenngleich literargeschichtlich sekundär, auch das Recht Hiobs, einzelne Ausführungen der Freunde zu bestreiten und sich selbst als ein Opfer von Gottes rätselhaftem Handeln zu verstehen. Das durch die Buchredaktion entstandene erste Hiobbuch im eigentlichen Sinn wurde sukzessive durch drei Bearbeitungen, die sich literarisch und theologisch noch klar profilieren lassen, erweitert. Die umfangreichste Bearbeitung des erstes Hiobbuchs geht auf die Elihuredaktion zurück (IV, Buch B). Die von dieser Redaktion eingeschriebenen Reden Elihus (Hi 32–37) betonen die Gerechtigkeit Gottes,226 intensivieren die Deutung des Leidens als Erziehungsmaßnahme Gottes („Leidenspädagogik“) und stellen mit dem Fürspracheengel in 33,23–25 dem Satan der erweiterten und nun als Prolog dienenden Novelle (1,6–12; 2,1–7) eine zugunsten des Menschen eintretende Figur gegenüber.227 Mit dem Motiv des Fürspracheengels korrigiert die Elihuredaktion aber auch das negative Bild der Engel in der Niedrigkeitsredaktion (vgl. 4,18; 15,15). Die Elihuredaktion, auf die wohl auch die Komposition der zunächst zweiten Gottesrede in 40,6–41,26 zurückgeht, verstärkt die Schöpfungstheologie der ersten Gottesrede (38,1–39,30) und bereitet diese als Theophanie mittels 37,1– 24 vor. Sie hält die Dynamik der Gottesvorstellung aufrecht und stellt klar, dass Gott als Schöpfer auch Wahrer des Rechts (40,6–14) und Bändiger chaosähnlicher Wesen in der Welt ist (40,15–41,26). Im Gegenüber zur ursprünglichen Dichtung teilt die Elihuredaktion die Theologie der Torah, wenn sie Gott als „Lehrer“ bezeichnet (36,22, vgl. Dtn 4,36; 8,5; 11,2). Dabei ist sowohl denkbar, dass die Elihureden bzw. eine Vorstufe dieser zunächst eine Art selbstständige Beischrift oder Kommentierung zu einem älteren Hiobbuch bildeten, in das sie in einem zweiten Schritt redaktionell eingefügt wurden,228 als auch, dass sie unmittelbar eine Fortschreibung darstellen; in diesem Fall wären dann die Komposition und Redaktion in einem Gang erfolgt.229 Die nachfolgende Majestätsredaktion (V, Buch C) rezipiert die Feststellung Elihus, der Mensch frage nicht nach seinem Schöpfer (35,10). Sie legt Hiob erkenntniskritisch gestimmte Hymnen in den Mund, so dass dieser bereits vor 225 Das Tetragramm erscheint ansonsten nur einmal im Zentrum der Hiobnovelle (Hi 1,21), in den Überschriften der Gottesreden (38,1; 40,1; 40,6) sowie in den Hiobantworten auf diese (40,3; 42,1) und in einer geprägten Wendung in dem mindestens sekundären Vers 12,9. Siehe dazu auch den Exkurs zu den Gottesbezeichnungen im Hiobbuch, S. 137–141. 226 Vgl. die auf diese Redaktion zurückgehende zweite, in der jetzigen Form des Hiobbuchs dritte Gottesrede in Hi 40,1–41,26. 227 Zum Nachweis, dass die Elihureden die Himmelsszenen voraussetzen, siehe Pilger, Erziehung, 151–153. 228 So z. B. Heckl, Hiob, 445–465; Lauber, Weisheit, 443f. 229 So die Mehrheitsmeinung unter den Auslegungen, welche die Elihureden für sekundär halten. Zur Frage der inneren literargeschichtlichen Differenzierung der Elihureden siehe die Auslegung, S. 491–590.
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den Reden Elihus und Gottes als ein weiser Lehrer seiner Freunde erscheint. Die Majestätsredaktion unterstreicht die Bedeutung der Gottesfurcht als dem Menschen angemessene Haltung, da echte Weisheit nicht zu erlangen sei (28,28) – auch nicht im Sinne der (später) mit der Weisheit identifizierten Torah (Sir 24). Die Kritik an Hiob, welche die Elihureden bestimmt, ist durch diese Redaktion ebenso wie seitens der ihr folgenden Gerechtigkeitsredaktion korrigiert, während gleichzeitig die Botschaft der Elihureden bewahrt wird und Elihu nicht zu den vom Zorn Gottes betroffenen Freunden Eliphas, Bildad und Zophar gerechnet wird. Die Majestätsredaktion steht durch die Lehrreden über Gottes Schöpferkraft (12,7–10; 26,5–14), Geschichtsmacht (12,12–25) und alleinige Verfügung über die dem menschlichen Erforschen verborgene Weisheit (12,13.16; 28,1–14.20–28), die sie Hiob in den Mund gelegt hat, theologisch der ursprünglichen Dichtung und der Buchredaktion nahe. Sie offenbart aber bereits vor dem Auftreten Gottes Einseitigkeiten in der Theologie der ursprünglichen Freundesreden und in der Anthropologie der um das Niedrigkeitsmotiv erweiterten Freundesreden. Aber auch der in seinem Elend Erhabene, der um die Grenzen menschlicher Erkenntnis weiß, braucht Belehrung durch Gott und zeigt sich gerade dadurch als wahrer Weiser. Die Majestätsredaktion betrachtet das menschliche Leid zwar nicht als erklärbar wie die Niedrigkeitsredaktion, aber doch in Ansätzen als untergeordnet, indem sie den leidenden Hiob zu einem lehrenden profiliert. Der leidende Hiob ist damit gerade im Leiden seinen Freunden ein Stück auf dem Weg mit und zu Gott voraus. Die das Buch in seiner heutigen Gestalt im Wesentlichen abschließende Gerechtigkeitsredaktion (VI, Buch D) hat die Stilisierung Hiobs durch die Majestätsredaktion fortgesetzt. Diese letzte profilierbare Bearbeitung lässt nun auch Hiob schon vor den Gottesreden die Vorstellung der innerweltlich wahrnehmbaren Gerechtigkeit vertreten (24,13–25; 27,7–10.13–23; 31,1–3). Indem sie die theologischen Schwerpunkte der vorangehenden Elihu- und Majestätsredaktion teilweise aufnimmt und in die Reden Hiobs einfügt (vgl. 9,2–4.5– 10.11–14)230 sowie eine kurze, nun dritte Gottesrede einbaut (40,1–2), entschärft sie Hiobs Klagen und Anklagen (vgl. 42,3a.4). Mit den Zusätzen zum großen Unschuldsbekenntnis in Kap. 31 (vgl. V. 1–3.38–40a, eventuell auch V. 11–12.23.28) bestätigt sie wie die Hiobnovelle die Integrität Hiobs und betont dessen absoluten Vorbildcharakter. Dieser weiß, dass Gott alle Frevel in der Welt kennt (24,13–17a und 31,1–3) und dass er die Bösen bestraft (24,17b– 25; 27,7–10.13–23; 31,2). Die Frage nach dem Leiden, auf welche die Freunde in der ursprünglichen Dichtung die Antwort hatten, es diene der Strafe bzw. der Erziehung (singulär in 5,17 und ausführlich in den Elihureden), nivelliert die Gerechtigkeitsredaktion. Sie hegt die kritische Auseinandersetzung mit der Torah, welche die ursprüngliche Dichtung bestimmt, gerechtigkeitstheologisch ein und bewirkt letztlich eine Angleichung der Theologien im Buch Hiob an die Theologie der Torah. 230 Diese Passage könnte tendenziell auch von der Majestätsredaktion sein (vgl. Hi 26,1–14). Gerade bei den jüngsten Fortschreibungen sind die Grenzen nicht immer ganz scharf zu ziehen.
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Der Prozess der produktiven Fortschreibung des bzw. eines hebr. Hiobbuches dürfte spätestens im ausgehenden 3. Jh. v. Chr. zu einem Abschluss gekommen sein. An seinem Ende steht prinzipiell die Vorlage für die im MT und in den antiken Übersetzungen überlieferten Gestalten des Hiobbuches.231 Gleichwohl hat der hebr. Text auch danach noch punktuelle Bearbeitungen erfahren (VII, Buch E). Dazu gehören u. a. einzelne eschatologisch ausgerichtete Glossen, die hinsichtlich des Gerichtsgedankens der Gerechtigkeitsredaktion nahestehen.232 Die jüngsten punktuellen Ergänzungen (mitunter nur eines Wortes) und Glossierungen des hebr. Textes wurden teilweise vor, teilweise parallel zur und teilweise nach der Anfertigung der antiken Übersetzungen vorgenommen. Dabei ist für die antiken Übersetzungen selbst ein längerer Entstehungs- und Überlieferungsprozess anzunehmen, infolge dessen es vor allem in den griech. und lat. Versionen eine große Vielzahl von Varianten gibt. In der heute im MT vorliegenden Gestalt besitzt das Hiobbuch eine literarische und theologische Komplexität, die sich einer einlinigen Deutung entzieht. Der literarisch gewachsene kritische Diskurs traditioneller weisheitlicher, kultischer, rechtlicher und torahtheologischer Denkmuster bietet vielmehr eine Pluralität von Anthropologien, Theologien und Leidensdeutungen und fordert zu einer über die einzelnen Wörter und Sätze des Buches stets neu nachdenkenden Lektüre heraus. Schematisch stellt sich die literarische Entstehungsgeschichte des Hiobbuches, wie sie in diesem Kommentar vertreten wird, wie folgt dar:
Ia Hiobdichtung A
Ib Hiobnovelle (HN)
3,2–26; 4,1–24,12*; 27,1–6* + 29,2–31,37*; 38,1–39,30*
1,1–3a.(3b).4.5*.13–21 + 42,11*.12–13. (14–15).16–17
Eigentliche Hiobdichtung (HD): theologischkosmologische Überwindung des Vergeltungs denkens bzw. des ,Hiobproblems‘ und Kritik an der Torah als Heilsweg
Theologische Lehrerzählung von der Bewährung des Gerechten im Leid
II Hiobdichtung B Erweiterung der Hiobdichtung A um: 4,12–21; 15,11–16; 25,1–6; 40,3–5 + 42,2.3aβ.5–6 Niedrigkeitsredaktion (NR): anthropolo gisch-theologische Lösung des ,Hiobproblems‘
231 232
S.u. S. 59–69. Hi 14,12aβ; 19,28–29; 29,18–20; 31,11–12.23.28; siehe dazu auch Feldmar, Fortschreibungen.
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III Buch A: Verbindung der Hiobdichtung B mit der Hiobnovelle Einbau von: 1,(3b).5* (kî … bilbābām), vgl. 1,22; 2,10 1,6–12; 2,1–7: Himmelsszenen, Ausbau der Prädikation Hiobs und einzelner Motive der Dichtung 2,8–10: Szene von Hiob und seiner Frau, abhängig von der zweiten Himmelsszene 2,11–13: Freundeszene, die Namen sind aus den Überschriften der Dichtung entlehnt 3,1: Brückenvers von der Erzählung zur Dichtung mit Bezug auf die Himmelsszenen 42,7–10.11aβ.γ: Verdikt über die Freunde, das Gottes- und Hiobbild entspricht dem der Himmelsszenen Buchredaktion (BR): Verschärfung des ,Hiobproblems‘ durch den Beginn mit dem Hiobbild aus 1,1 und narrativ-erläuternde Hinführung zum komplexen Gottesverständnis der ursprünglichen Dichtung (HD)
IV Buch B: Einschreibung der Elihureden und der zweiten (dritten) großen Gottesrede in Buch A Einbau von: 32,1–37,24: Elihureden (weitgehend literarisch einheitlich, leichte Glossierungen) 40,6–14: 2.[3.] Gottesrede (Technik und Tendenz der Einfügung par. Kap 32–37) Ȥ Aufsplittung der bisherigen einen Hiobantwort (40,3–5; 42,2.3aβ.b.5–6) in zwei Antworten (+ 42,1) 40,15–41,26: Behemot und Leviatan („Schultexte“) Elihuredaktion (ER): gerechtigkeitstheologische und leidenspädagogische Lösung – Annäherung an die Theologie der Torah
V Buch C: Punktuelle Einf ügung von erkenntniskritischen Hymnen in Reden Hiobs und Erweiterung der ersten Gottesrede in Buch B Einbau von: 12,7–13,2 26,1–14 27,1*; 27,11–12; 28,1–14.(15–19).20–28; 29,1 39,13–18 Majestätsredaktion (MR): Aufwertung Hiobs als Reaktion auf die Elihureden und theologisch-philosophische Lösung mit Nähe zur ursprünglichen Dichtung (HD) und zur Buchredaktion (BR)
Die frühe Rezeptionsgeschichte des Hiobbuches
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VI Buch D: Punktuelle Einf ügungen von Bekenntnissen Hiobs zur göttlichen Gerechtigkeit in Buch C Einbau von: 9,2–14 (oder MR?) 12,4–6 (oder ursprünglich?) 24,5–8.(9).13–25 27,7–10.13–23 30,1aγ–8 31,1–3.38–40a 40,1–2; 42,3aα.4
oder eschatologische Glossen: 14,12aβ; 19,28–29; 29,18–20; 31,11–12; 31,23; 31,28
Gerechtigkeitsredaktion/„Endredaktion“ (GR): weitere Aufwertung Hiobs und Restitution des Vergeltungsgedankens – stärkste Annäherung an die Theologie der Torah
VII Buch E: Zusätze unterschiedlicher Herkunft und Glossen in Buch D 5,5aβ; 5,10; 5,22; 6,6aβ; 6,10b; 6,14; 6,27; 7,4b (?); 7,11b (?); 7,20aα.21aα; 9,24b; 10,1b (?); 10,3b; 10,15b; 10,17b; 10,22b (?); 11,6.8–9 (vgl. MR); 11,19b; 12,7a*; 13,17; 13,27b (?); 13,28; 14,1a*; 14,3–4; 14,5b; 14,7b; 14,12aβ (GR?); 14,14aα; 15,18–19; 15,24b*; 15,28b; 15,30aα; 15,31; 17,4; 17,8–10; 18,4aα; 19,28–29 (GR?); 20,10–11; 20,16–17; 20,23aα; 20,26b; 20,29a*; 21,11; 21,17b; 21,33b; 22,12; 22,17–18; 22,24–25; 24,9 (GR?); 27,5a*; 27,6a* (GR?); 27,8a* (GR?); 29,17; 29,18–20 (GR?); 29,25b; 30,12a*; 30,15a*; 31,7b; 31,11–12 (GR?); 31,23 (GR?); 31,28 (GR?); 31,34b; 31,35b; 31,40b; 32,2aβ.b–4 (?); 33,15aβ; 33,19a*; 34,29b–30; 36,7b; 36,11b; 36,12a*; 37,7; 37,17; 38,11a*; 39,1a*; 39,4a*; 39,28; 40,23b*; 42,14–15 (?).
9. Die frühe Rezeptionsgeschichte des Hiobbuches Die Redaktionsgeschichte des Hiobbuches spiegelt die intratextuelle Rezeptions- und Aneignungsgeschichte. Mit den antiken Übersetzungen ins Aramäische, Griechische, Syrische und Lateinische sowie den ausdrücklichen Bezugnahmen und Neudichtungen in jüdischen und christlichen Schriften der hellenistisch-römischen Zeit beginnt die inter- und extratextuelle Rezeptionsund Auslegungsgeschichte. Insofern gerade die frühe Rezeption des Hiobbuches bestimmte Linien, zumeist der spätesten Schichten, aufgreift,233 gehört sie letztlich zur Geschichte der Fortschreibungen dieses Buches hinzu und ist in gewisser Weise Teil seiner Redaktionsgeschichte. Inhaltliche Besonderheiten aller antiken Übersetzungen zeigen sich vor allem in der Profilierung Hiobs und bei einzelnen Gottesaussagen. So verstärken die antiken Versionen in Fortsetzung der intratextuellen Redaktionsgeschichte das Bild Hiobs als leidenden Gerechten, der sein Schicksal in Gottesfurcht und Weisheit bewältigt, mit jeweils charakteristischen Besonderheiten. Sie gleichen den Hiob der Dichtung dem Hiob der Erzählung weiter an und intensivieren die späten eschatologischen Fortschreibungen. In die hier gebotene Auslegung wird die früheste 233
Vgl. z. B. Hi 14,12aβ; 19,28–29; 29,18–20 mit HiLXX 42,17a; siehe die Auslegung.
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Rezeptionsgeschichte, insbesondere so, wie sie sich in den aram. Übersetzungen (Targumen), in der Septuaginta und im TestHiob zeigt, zumindest punktuell einbezogen. 9.1 Die Targume zum Hiobbuch Literatur Zu den Textausgaben und Übersetzungen siehe das allgemeine Literaturverzeichnis (1.3) THB 1C (2017), 181–187. – Gold, S.L.: Understanding the Book of Job: 11Q10, the Peshitta and the Rabbinic Targum. Illustrations from a synoptic analysis of Job 37–39, Ph.D. Diss. Wolfson College University of Oxford 2007. – Luther, R.: Hiob in Qumran. Der Beitrag der Hiobhandschriften aus Qumran zur Text- und Literargeschichte des Hiobbuches. Diss.theol. Humboldt-Universität zu Berlin 2021. – Mangan, C.: Some Observations on the Dating of Targum Job, in: K.J. Cathcart/K.F. Healy (Hg.), Back to the Sources. Biblical and Near Eastern Studies (FS Dermont Ryan), Dublin 1989, 67–78. – Newsom, C.A.: The Reception of Job in the Dead Sea Scrolls, in: in: S.C. Jones/C. Roy Yoder, „When the Morning Stars Sang“ (FS C.L. Seow), BZAW 500, Berlin/Boston 2018, 99–114. – Shepherd, D.: Targum and Translation. A Reconsideration of the Qumran Aramaic Version of Job, SSN 45, Assen 2004 – Weiss, R.: התרגום הארמי לספר איוב. The Targum of Job, Tel Aviv 1979. – York, A. D.: A Philological and Textual Analysis of the Qumran Job Targum (11QtgJob), Ph.D. Diss. Cornell Univ. 1973 (Ann Arbor Univ. Microfilms 1974). – Zuckerman, B.: The Process of Translation in 11QtgJob. A Preliminary Study, Ph.D. Diss. Yale 1980. – Ders.: Two Examples of Editorial Modification in 11QtgJob [Job 36,14; 34,31], in: G.A. Tuttle (Hg.), Biblical and Near Eastern Studies (FS W.S. LaSor), Grand Rapids 1978, 269–275. – Ders.: Art. „Job, Targums of“, ABD 3 (1992) 868–869.
Nach einer Notiz im Talmud (bShab 115a; jShab 15c) gab es zur Zeit Gamali els des Älteren (1. Jh. n. Chr.) eine aram. Hiobübersetzung. Auf welches Targum sich die Notiz genau bezieht, ist jedoch unklar. Die in Höhle 11 in Qumran gefundene aram. Hiobübersetzung (11QTgHi) ist aus sprachlichen und traditionsgeschichtlichen Gründen in die Zeit um 100 v. Chr. zu datieren, die Hs stammt paläographisch aus dem 1. Jh. n. Chr. 11QTgHi stellt die bisher älteste bekannte schriftliche aram. Übersetzung eines biblischen Buches überhaupt dar. Sprachgeschichtlich ist es dem qumranischen Aramäisch bzw. dem Standard Jewish Literary Aramaic zuzuweisen.234 In seinen erhaltenen Fragmenten von 38 Kolumnen repräsentiert es den Makrotext von Hi 17,14–42,11(12), im Vergleich zum MT sind 20 % des Hiobbuches erhalten. Gelegentlich findet sich eine andere Anordnung einzelner Kola als im MT,235 teilweise erscheinen Segmentierungen, die sich mit der späteren masoret. Parascheneinteilung berühren.236 11QTgHi bietet eine weitgehend wörtliche Übertragung, so dass mitunter davon Abstand genommen wird, diesen Text als Targum zu bezeichnen.237 Allerdings setzt 11QTgHi charakteristische Akzente beim Hiobbild und bei der Sündenvorstellung. Hiobs „Reden“ erscheint als „Wissen“ (11QTgHi zu 21,3). Die „Weisheit“ der Freunde und Elihus hingegen 234 Vgl. D. Shepherd, 11. Job 11.3.3 Targum and Qumran Aramaic Versions, in: THB 1C (2017), 185. 235 So im Bereich von Hi 7,16–18 und 42,3; siehe jeweils die Übersetzung und Auslegung. 236 Kutsch, Textgliederung, 221–228. 237 Siehe dazu Newsom, Reception, 105f.
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wird nur als „Worte“ bezeichnet (11QTgHi zu 32,10.17). Gelegentlich werden Hiobs Anklagen gegen Gott entschärft (11QTgHi zu 24,25). Hiob hält nicht nur für seine Gefährten Fürbitte, sondern um seinetwillen werden ihnen ihre Sünden vergeben (11QTgHi zu 42,9–10). In einzelnen Unterschieden gegenüber dem MT berührt sich 11QTgHi mit der Hiob-LXX,238 so dass die Annahme einer ähnlichen Vorlage oder eines vergleichbaren Übersetzungsmilieus naheliegt. 11QTgHi weist aber nicht die Lücken der Hiob-LXX auf.239 Korrekturen in der Handschrift zeigen, dass das Targum eine Revision erlebt hat. Sie sind, wie die Setzung von Leerräumen (Spatien) zwischen einzelnen Sinneinheiten,240 Indizien dafür, dass Differenzen gegenüber dem MT nicht nur auf einer anderen Vorlage beruhen oder der Übersetzung geschuldet sind, sondern auch auf Schreiber zurückgehen können. Inhaltliche Spezifika, anhand derer sich 11QTgHi einer bekannten jüdischen Gruppe der hellenistisch-römischen Zeit zuordnen ließe, finden sich nicht. In Höhle 4 von Qumran wurden Fragmente eines weiteren Hiob-Targums gefunden (4Q157/4QTgHi), das paläographisch aus der Zeit um 40–50 n. Chr. stammt und Reste der Übersetzung von Hi 3,4–9 und 4,16–5,6 bietet, die sich nicht substantiell vom MT unterscheiden. Neben diesen zwei antiken Hiob-Targumen aus Qumran steht ein entstehungsgeschichtlich sehr komplexes spätantikes bzw. frühmittelalterliches rabbinisches Targum, das über weite Strecken keine Übersetzung im engen Sinn mehr ist, sondern immer wieder exkursartig Einzelerklärungen bietet. Es berührt sich mit Traditionen im bab. und palästinischen Talmud und in verschiedenen Midraschim. Mitunter lassen sich hier mehrere Übertragungen eines Verses unterscheiden, so dass zwischen einem Tg1 und einem Tg2, gelegentlich auch einem Tg3 unterschieden werden kann. Sprachlich weist das rabbinische Targum Lehnwörter aus dem Griechischen, Lateinischen und Persischen auf und gehört zum Late Jewish Literary Aramaic.241 Für die eigentliche Textkritik hat es einen eingeschränkten Wert, es ist aber, wie Übereinstimmungen mit 11QTgHi zeigen, für diese nicht völlig bedeutungslos. Wichtig ist das rabbinische Targum vor allem in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht. So berührt es sich in seinen kommentierenden Erweiterungen, etwa in den Einspielungen der biblischen Sintfluterzählung und der Vätergeschichte (Abraham, Isaak, Ismael, Jakob, Esau),242 238 Vgl. die Anmerkungen zur Übersetzung. Gelegentlich finden sich auch Überschneidungen gegen den MT mit der Peschitta. 239 S.u. S. 62–65. 240 Leerzeilen oder Leerräume finden sich in 11QTgHi zwischen 17,16/18,1; 19,29/20,1; 22,30/23,1; 24,25/25,1; 25,6/26,1; 26,14/27,1; 32,1/32,2; (34,9/34,10); (36,29aα/aβ); (38,24a?/b); 40,5/40,6; 41,26/42,1; 42,6/42,7; 42,11/42,12. Siehe dazu auch Kutsch, Textgliederung, 226f, der allerdings noch nicht die hier genannten Kleinspatien zwischen Versen bzw. Versteilen und die Spatien zwischen 22,30/23,1 und 25,6/26,1, die nach der Rekonstruktion von DJD anzunehmen sind, verzeichnet, und der damit rechnet, dass 11QTgHi bewusst mit 42,11 geendet habe. 241 Shepherd, in: THB 1C (2017), 182. 242 Vgl. TgHi zu 4,8; 7,17; 22,16–17; 24,2 bzw. zu Hi 2,9; 3,19; 4,7.10–11; 5,17; 12,6; 14,18; 15,10; 30,19.
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der Torah,243 der Eschatologie (,jüngstes Gericht‘ und ,Auferstehung‘)244 oder der Angelologie245 gelegentlich mit patristischen Auslegungen des Hiobbuches. Dadurch ist es auch ein wichtiger Zeuge für strukturelle Parallelen zwischen jüdischer und christlicher Bibelhermeneutik in der Spätantike und für die wechselseitigen Beeinflussungen von rabbinischer und altkirchlicher Exegese.246 9.2 Das Hiobbuch in der Septuaginta247 Literatur Zu Textausgaben und Übersetzungen siehe das allgemeine Literaturverzeichnis (1.4) THB 1C (2017), 175–181; 190–198. – Cook, J.: The Septuagint of Job, in: Ders./Kooij, A. van der: Law, Prophets, and Wisdom. On the Provenance of Translators and their Books in the Septuagint Version, CBET 68, Leuven u. a. 2012, 175–221. – Cox, C.E.: The Historical, Social, and Literary Context of Old Greek Job, in: XII Congress of IOSCS, Leiden 2004, SCSt 54, Atlanta 2006, 105–116. – Dhont, M.: Style and Context of Old Greek Job, JSJ.S 183, Leiden u. a. 2018. – Fernández Marcos, N.: The Septuagint Reading of the Book of Job, in: W.A.M. Beuken (Hg.), The Book of Job, BEThL 114, Leuven 1994, 251–266. – Gammie, J.G.: The Septuagint of Job: Its Poetic Style and Relationship to the Septuagint of Proverbs, CBQ 49 (1987) 13–31. – Gard, D.H.: The Exegetical Method of the Greek Translator of the Book of Job, JBL.MS 8, Philadelphia 1952. – Gentry, P.J.: The Asterisked Materials in the Greek Job, SCSt 38, Atlanta 1995. – Gerleman, G.: Studies in the Septuagint I. Book of Job, Lunds Universitets Årsskrift. N.F. Avd. 1. BCox 43. N.r 2, Lund 1946. – Gorea, M.: Job repensé ou trahi? Omissions et raccourcis de la Septante, EtB.NS 56, Paris 2007. – Heater, H.: A Septuagint Translation Technique in the Book of Job, CBQ.MS 11, Washington 1982. – Kutz, K.: The Old Greek of Job: A Study in Early Biblical Exegesis. Ph.D. Diss. University of Wisconsin 1997. – Mangin, D.: Le texte court de la version grecque du livre de Job et la double interprétation du personnage jusqu’au IIe siècle, Ph.D. Diss. Université d’Aix-Marseille I 2005. – Verbeke, E.: Hebrew Hapax Legomena and their Greek Ren�dering in LXX Job, Diss. Katholieke Universiteit Leuven 2011. – Witte, M.: Job, in: S. Kreuzer (Hg.), Einleitung in die Septuaginta, LXX.H 1, Gütersloh 2016, 407–421.
Im 2./1. Jh. v. Chr. wurde das bzw. ein hebr. Hiobbuch wohl in Alexandria auf der Basis einer vormasoretischen Vorlage ins Griechische übersetzt.248 Dieser auch Old Greek (OG) oder ursprüngliche Hiob-LXX genannte Text ist um ca. 18 % kürzer als das masoret. Hiobbuch.249 Im Vergleich zum hebr. Hiobbuch stellt die ursprüngliche griech. Übersetzung somit eine Kurzfassung dar, womit ein ähnlicher Fall wie bei der Überlieferung des Jeremiabuches vorliegt. Vor allem im Schlussdrittel weist der OG zunehmend Lücken im Vergleich zum MT auf, die darauf hindeuten, dass die Übersetzer selbstständig Text ausgelassen haben und Vgl. TgHi zu 3,16–17; 5,7; 11,8; 22,22; 24,13; 30,4; 36,33; 37,21. Vgl. TgHi zu 1,6.21; 2,11; 3,17; 5,4.7; 5,4; 10,16; 11,17; 14,14; 15,21; 17,6; 20,26; 28,5; 36,7; 38,17.23 (siehe dazu knapp Mangan, Targum, 16). 245 Vgl. TgHi zu 1,6; 25,2; 28,7. 246 Vgl. dazu Dassmann, Akzente 42; 55; Witte, Hiobs viele Gesichter, 171–189. 247 Der Abschnitt bietet einen kurzen Auszug aus meiner ausführlichen Darstellung der HiobLXX im Handbuch der LXX (LXX.H 1, 407–421). 248 J. Ziegler, Beiträge zum griechischen Job, MSU 18, AAWG 3/147, Göttingen 1985; ders., Der textkritische Wert der Septuaginta des Buches Job (1934), in: Ders., Sylloge, Ges. Aufs. zur Septuaginta, MSU 10, Göttingen 1971, 9–28; Witte/Kepper, Job, 1007–1056. 249 Die Kürzel LXX und OG werden in der Forschung nicht einheitlich gebraucht; die hier verwendete Terminologie folgt Cook, Wisdom, 26f; Fernández Marcos, Job, 251f; Cox, Iob, 668f. 243 244
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makrotextlich keine wesentlich andere Vorlage als die hinter dem MT stehende hatten. Andererseits hat der griech. Text auch Überschüsse. Der Charakter der ursprünglichen griech. Hiob-Übersetzung schwankt zwischen einer wörtlichen Übertragung, einer Anpassung an die griech. Sprach- und Denkwelt und einer literarischen Übersetzung.250 Das Grundmerkmal der hebr. Poesie, der Parallelismus membrorum,251 ist bewahrt, das Buch ist nicht in ein für die klassisch griech. Dichtung übliches Versmaß gebracht. Gelegentlich greifen die Übersetzer auf Formelverse aus anderen Büchern der LXX zurück oder wiederholen bereits übersetzte Wendungen aus dem Hiobbuch selbst. Mitunter werden zur Übersetzung (notwendigerweise) Begriffe verwendet, die auch in der paganen griech. Mythologie oder Philosophie verankert sind.252 Damit ist das Hiobbuch in seiner griech. Gestalt auch ein Teil der antiken griech. Literatur- und Religionsgeschichte. Inhaltliche Besonderheiten der Hiob-LXX betreffen das Gottes- und Menschenbild sowie die Stilisierung Hiobs. Die LXX kennzeichnet Hiob ausdrücklich als einen Gerechten (1,1; 32,1; 40,8). Sie bietet im Prolog über den hebr. Text hinausgehend eine lange Klage der Frau Hiobs über den Verlust ihrer Kinder (2,9a–e), erklärt die Freunde Hiobs zu Königen (2,11; 42,17e), zählt Hiob zu den Menschen, die einst auferstehen werden (42,17a), und ordnet Hiob in einem Zusatz zum Epilog (42,17b–d) genealogisch in die Familie Esaus ein (vgl. Gen 36,33). Die genealogische Verortung in 42,17b–e berührt sich sehr eng mit der griech. Hiobparaphrase des jüdisch-hellenistischen Exegeten Aristeas.253 Dieser von Euseb von Cäsarea (260/264–339/340 n. Chr.) über die Vermittlung des Alexander Polyhistor (um 100–40 v. Chr.) gebotene Auszug aus dem Werk des Aristeas Über die Juden bietet im Wesentlichen eine Nacherzählung des Hiobrahmens ohne Himmelsszenen unter Nennung der zum Trost gekommenen Könige Eliphas, Bildad und Zophar sowie Elihus und geneaologischer Angaben zu Hiob aus Gen 36,10.33. Umstritten ist, ob Aristeas die Quelle für den LXX-Epilog darstellt,254 ob umgekehrt Aristeas von HiLXX 42,17b–e abhängig ist,255 oder ob beide auf eine gemeinsame mündliche Tradition zurückgegriffen haben.256 Die über die diesseitsorientierte hebr. Hiobdichtung hinausgehende Vorstellung der Auferstehung in der LXX begegnet dann im literarisch von dieser abhängigen Testament Hiobs und in weiten Teilen der altkirchlichen Rezeption von Hi 19,25–27.257 Mit der Übersetzung der hebr. Gottesbezeichnung šaddaj mittels des Begriffs παντοκράτωρ „Allherrscher“ unterstreicht die Hiob-LXX schließlich den Gedanken der göttlichen Allmacht. 250 Zur Beschreibung der Übersetzungstechnik siehe vor allem die Studien von Heater, Technique, und Dhont, Style. 251 S.o. S. 13–15. 252 Z. B. ᾅδης für š eʾôl („Unterwelt“) oder ψυχή für næpæš („Leben“) – vgl. dazu kritisch Dhont, Style, 43–46. 253 FGH 725 (= Bd. III C 2, 680), übersetzt in JSHRZ III, 293–296; OTP II, 855–858. 254 Gerleman, Studies, 74; Walter, Aristeas, in: JSHRZ III, 293. 255 Schaller, Das Testament Hiobs und die Septuaginta, 402; Reed, Job, 38f. 256 R. Doran, Aristeas the Exeget, in: OTP II, 856f. Zur Diskussion siehe auch Cook, Septuagint, 216f; C. Cox, 11 Job, 11.3.1 Septuagint, in: THB 1C (2017), 175–181, hier: 175. 257 S.u. S. 68f sowie den Ausblick auf die Wirkungsgeschichte von Hi 19,25–27, S. 314–315.
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Neben dem OG stehen drei weitere, nur fragmentarisch erhaltene, antike griech. Übersetzungen jüdischer Herkunft, die auf Aquila (Aq), Symmachos (Sym) und Theodotion (Th) zurückgeführt werden. Origenes (185–254 n. Chr.) präsentiert sie in der dritten, vierten und sechsten Spalte der von ihm erstellten Hexapla.258 Hinzu kommen die in ihrer Herkunft umstrittenen Fragmente der bei einzelnen Kirchenvätern als ὁ ἑβραῖος/τὸ ἑβραϊκόν (= Ebr) bezeichneten Übersetzung(en).259 Das Th zugeschriebene Material dürfte auf eine im frühen 1. Jh. n. Chr. entstandene Neuübersetzung des hebr. Hiobbuches zurückgehen und damit den Aq (um 100 n. Chr.) und Sym (um 150 n. Chr.) zugewiesenen Übertragungen vorausgehen.260 Ein gemeinsames Merkmal von Th, Aq und Sym ist ihre zunehmende Annäherung an den hebr. Text. Die erhaltenen Fragmente belegen, dass die Übersetzungen von Th, Aq und Sym dem Grundbestand des hebr. Hiobbuches entsprachen, also auch die im OG fehlenden Passagen enthielten. Zudem zeigen die Hiobzitate bei Paulus,261 das TestHiob und der Berliner Pap. 11778 (mit Fragmenten zu Hi 33,23–24; 34,10–15),262 dass bereits vor Th, Aq und Sym unterschiedliche Rezensionen der griech. Hiobübersetzung im Umlauf waren.263 Der in den großen Codices der LXX tradierte und als ,kirchlicher Text‘ der LXX bezeichnete griech. Hiobtext geht auf die textkritische Arbeit des Origenes zurück, der die im OG gegenüber dem MT fehlenden, zumeist aus Th nachgetragenen Stücke mittels der textkritischen Zeichen eines Asteriskos (*) und Metobelos (.) als Zusätze markiert hat. Überschüsse, die Origenes im griech. Text gegenüber dem MT erkannte, sind mittels eines Obelos (/) gekennzeichnet. Nach der textkritischen Standardausgabe des griech. Hiobbuches von Joseph Ziegler (LXXZi) sind 389 Stichen asterisiert. Alle griech. Handschriften und Codices repräsentieren grundsätzlich den durch Origenes angereicherten Mischtext, wenngleich im Laufe der Textüberlieferung die textkritischen Zeichen des Origenes zumeist ausgelassen wurden. Übersetzungs- und sprachgeschichtlich handelt es sich bei dem ,kirchlichen Text‘ um eine problemati258 Diese Übersetzungen sind u. a. über Randnotizen zu einzelnen LXX-Handschriften, den HiobKommentar des Olympiodor und die Syrohexapla (Syh), eine im 7. Jh. erstellte syr. Übersetzung der Hexapla des Origenes, erhalten. Sie werden im zweiten Apparat von Ziegler, Iob, aufgeführt und sind von Meade, Edition, und Woods, Edition, textkritisch ediert; zu ihrer Beschreibung siehe knapp J.D. Meade, 11 Job. 11.3.5 Hexaplaric Greek Translations, in: THB C 1 (2017), 190–196. In den Fußnoten zu der in diesem Kommentar gebotenen Übersetzung sowie in der Auslegung werden punktuell charakteristische Varianten von Th, Aq und Sym notiert. 259 Für Hi verzeichnet Ziegler, Iob, Überreste des Ebr zu 1,15.22; 2,3.5.8; 3,3; 4,15; 7,20; 9,9.13; 10,16; 13,11.19.27; 14,8.11; 15,7.14.27; 16,12; 18,15; 19,6.28; 20,5.14; 36,30; 38,30; 40,27. 260 Gentry, The Asterisked Materials, 494–499. 261 Röm 11,35 (vgl. Hi 41,3); 1Kor 3,19 (vgl. Hi 5,12–13); Phil 1,19 (vgl. Hi 13,16); siehe dazu unten S. 69f. 262 Der Berliner Pap. 11778 aus der Zeit um 220 n. Chr. gehört zusammen mit dem Pap. Oxyrhynchus L. 3522 (1. Jh. n. Chr., Stücke zu Hi 42,11–12), dem Pap. Chester Beatty XVIII (3. Jh. n. Chr., Stücke zu Hi 9,2.12–13) und dem Pap. Florenz Bib. Laur. PSI 1163 (4. Jh. n. Chr., Stücke zu Hi 1,19–2,1; 2,6–9) zu den ältesten griech. Hiob-Handschriften (vgl. Ziegler, Iob, 14; Cox, in: THB 1C, 175; L.H. Blumell, A New LXX-Fragment Containing Job 7:3–4 and 7:9, TynB 66 [2015] 95–101). 263 Vgl. dazu Schaller, Septuaginta, 377–406; Ders., Textcharakter, 21–26.
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sche Kombination, da zwei unterschiedlich geartete Übersetzungen ineinander geschoben sind.264 Im ausgehenden 3. Jh. oder frühen 4. Jh. n. Chr. erlebte der griech. Text eine auf Lukian von Antiochia (ca. 250–312 n. Chr.) zurückgeführte Revision (lukianische oder antiochenische Revision), die auf eine Anpassung an den griech. Sprachgebrauch zielte. Sie begegnet u. a. im Codex Alexandrinus (5. Jh.) und im Codex Venetus (8. Jh.) sowie in den Hiobkommentaren von Johannes Chrysostomos und Julian dem Arianer.265 Zur Text- und Überlieferungsgeschichte der Hiob-LXX gehören dann auch die alten Übersetzungen ins Lateinische,266 Koptische (Sahidische und Bohairische),267 Christlich-Palästinische Aramäisch,268 Armenische,269 Georgische,270 Altslawische,271 Äthiopische,272 Syrische (in Gestalt der Syrohexapla)273 und Arabische.274 Sie stammen aus der Spätantike und dem Mittelalter und sind durchgehend christlicher Herkunft, gehen aber teilweise auf einen vororigenistischen Text zurück (so im Fall der altlateinischen und der sahidischen Übersetzung). Aus dem Bereich der frühen Auslegungsgeschichte der Hiob-LXX soll hier auf Origenes’ Homilien über das Buch Hiob sowie die großen altkirchlichen Hiobkommentare von Julian dem Arianer (4. Jh. n. Chr.), Didymos dem Blinden (313–398), Johannes Chrysostomos (gest. 407) und Olympiodor von Alexandria (495–570) sowie die in Katenenkommentaren erhaltenen Fragmente der Auslegung durch Polychronios von Apamea (gest. um 430) hingewiesen werden.275
264 Siehe dazu auch C.E. Cox, Origen’s Use of Theodotion in the Elihu Speeches, The Second Century, A Journal of Early Christian Studies 3 (1983) 89–98, hier: 97f.; P.J. Gentry, The Asterisked Materials in the Greek Job, Textus 19 (1998) 141–156, hier: 141. 265 Zur Beschreibung der lukianischen Rezension und deren Textzeugen siehe ausführlich Ziegler, Iob, 86–111, und knapp Cox, in: THB 1C, 176. 266 S.u. S. 67. 267 F. Feder, 11 Job. 11.4.2 Coptic Translations, in: THB 1C (2017), 209–211. 268 Siehe dazu C. Müller-Kessler, 1.4.9 Christian Palestinian Aramaic Translation, in: THB 1A (2016), 385–393. Zum Hiobbuch liegen bisher nur Fragmente über Palimpseste und Lektionare vor. 269 C. Cox, 11 Job. 11.4.5 Armenian Translations, in: THB 1C (2017), 224–227. 270 A.M. Bruni, 11 Job. 11.4.6 Georgian Translations, in: THB 1C (2017), 227–228. 271 A.M. Bruni, 11 Job. 11.4.7 Old Church Slavonic Translations, in: THB 1 C (2017), 228–236. 272 C. Niccum, 11 Job. 11.4.3 Ethiopic Translation(s), in: THB 1C (2017), 211–213. Aus kanonsgeschichtlicher Perspektive ist hieran bemerkenswert, dass in frühen äth. Codices das Hiobbuch mit dem Danielbuch überliefert wurde, während es in späteren Bibelausgaben zwischen dem Ersten Henochbuch und dem Korpus der Salomonischen Schriften angeordnet wurde (a. a. O., 211). 273 P.J. Gentry, 11 Job. 11.4.4 Job, Proverbs, Canticles, and Qohelet in Late Syriac Translations, in: THB 1C (2017), 213–224. 274 Daneben sind christlich-arab. Hiob-Übersetzungen aus dem Syrischen und dem Koptischen bekannt (M.L. Hjälm, 11 Job. 11.4.8. Arabic Translations, in: THB 1 C (2017), 236–239). Von den christlich-arab. Übersetzungen sind zeitgleich entstandene jüdisch-arabische Hiob-Übersetzungen zu unterscheiden, die auf dem MT beruhen. Unter diesen ragt, auch wegen des ihr beigegebenen Kommentares, die von Saadia Gaon (882–942) hervor (siehe dazu Ecker, Job-Übersetzung; Goodman, Theodicy; I. Sasson, 11. Job 11.3.8. Arabic Translations, THB 1C [2017], 202–206). 275 Siehe dazu die entsprechenden Ausgaben von Pitra und von D. Hagedorn/U. Hagedorn, die Anthologie von Simonetti/Conti, Ancient Christian Commentary, sowie den vom Centre d’Analyse et de Documentation Patristiques herausgegebenen Sammelband.
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Einleitung
9.3 Das Hiobbuch in der Peschitta Literatur Zu Textausgaben und Übersetzungen siehe das allgemeine Literaturverzeichnis (1.5) THB 1C, 187–190. – Gold, S.L.: Understanding the Book of Job: 11Q10, the Peshitta and the Rabbinic Targum. Illustrations from a synoptic analysis of Job 37–39, Ph.D. Diss. Wolfson College University of Oxford 2007. – Rignell, L.G.: Notes on the Peshiṭta of the book of Job, ASTI 9 (1973) 98–106. – Szpek, H.M.: On the Influence of the Septuagint on the Peshitta, CBQ 60 (1998) 112–119. – Dies.: Translation Technique in the Peshitta to Job. A Model for Evaluating a Text with Documentation from the Peshitta to Job, SBL.DS 137, Atlanta 1992.
Die in der syr. Bibel (Peschitta) tradierte Übersetzung stammt wohl aus dem 2. Jh. n. Chr., die ältesten erhaltenen Handschriften der syr. Hiobübersetzung sind aus dem 6. Jh. Die syr. Übersetzung beruht auf einer hebr. Vorlage, die dem Konsonantentext des MT nahesteht, aber nicht mit der Vorlage des MT identisch ist. Differenzen innerhalb von Syr deuten darauf hin, dass die Übersetzung in mehreren Stufen entstanden ist.276 Ob Syr jüdischen oder christlichen Ursprungs ist und ob ein Einfluss der LXX vorliegt, ist umstritten.277 Punktuelle Hinweise auf ein Leben nach dem Tod oder die Auferstehung, die sich in dieser Form nicht im MT finden (vgl. Syr zu Hi 28,13; 30,23; 42,6), werden gelegentlich als Beispiele für die Eintragung christlicher Glaubensgrundsätze angeführt,278 obgleich sich diese Vorstellungen bereits in jüdischen Eschatologien der hellenistisch-römischen Zeit finden und auch im rabbinischen Hiob-Targum belegt sind.279 Sicher ist, dass die Peschitta die Bibel des syr. Christentums (in seinen verschiedenen Konfessionen) wurde. Auch wenn Syr, wie die LXX, literarisch und theologisch zunächst als ein Werk für sich betrachtet werden muss und bei Unterschieden gegenüber dem MT (und gegenüber den anderen antiken Versionen), z. B. bei der besonderen Betonung der Prüfung Hiobs (vgl. HiSyr 7,15.18; 36,21), die spezifische Übersetzungstechnik zu beachten ist, so muss auch die syr. Übersetzung bei der Rekonstruktion des hebr. ,Urtextes‘ berücksichtigt werden. Schließlich bildet die in die Peschitta eingeflossene Hiob übersetzung die Textgrundlage für einzelne christlich-arabische Hiobübersetzungen, die im Mittelalter entstanden sind, als im Bereich der syr. Kirchen das Syrische immer stärker vom Arabischen verdrängt wurde.280
276 Rignell, Peshitta, 363–382; Szpek, Translation Technique, 269f.; I. Carbajosa, 11 Job 11.3.4 Peshitta, in THB 1C (2017), 187–190. 277 Zur Diskussion siehe Rignell, Peshitta, 365–379, der einen Einfluss der LXX auf die HiPeschitta für nicht nachweisbar hält, sowie Szpek, Translation Technique, 269, die einen solchen Einfluss nicht ausschließt. 278 Rignell, Peshitta, 369. 279 S.o. S. 61. 280 S.o. S. 65 Anm. 274.
Die frühe Rezeptionsgeschichte des Hiobbuches
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9.4 Das Hiobbuch in den lateinischen Bibelübersetzungen Zu Textausgaben und Übersetzungen siehe das allgemeine Literaturverzeichnis (1.6) THB 1C, 198–202; 207–209. – Trenkler, A.: Die beiden Rezensionen von Augustins Adnotationes in Iob im Licht von Hieronymus’ erster Ijob-Übersetzung. Genetische Analysen aufgrund der ältesten Codex-Fragmente Inguimbertinus 13 und Ashburnhamianus 95, FKD 111, Göttingen 2017. – Vicchio, S.J.: The Image of the Biblical Job: A History. II. Job in the Medieval World, Eugene 2006, 4–24. – Warns, G.-D.: Die Textvorlage von Augustins Adnotationes in Iob. Studien zur Erstfassung von Hieronymus’ Hiob-Übersetzung iuxta Graecos, FKDG 112, Göttingen 2017. – Ziegler, J. (Hg.): Iob, Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum XI/4, Göttingen 1982, 37–40.
Das Hiobbuch wurde bereits in der Spätantike mehrfach ins Lateinische übersetzt. Wohl aus dem 2. Jh. n. Chr. stammt die nur fragmentarisch in Zitaten bei Kirchenvätern erhaltene Vetus Latina (VL), die – wie die sahidische (koptische) Übersetzung – auf einem griech. vororigenistischen Ausgangstext beruht und christlichen Ursprungs ist. Aus Zitaten bei Kirchenvätern geht hervor, dass die VL des Hiobbuches (wie auch anderer atl. Bücher) in unterschiedlichen Versionen existierte. Zwecks Kanalisierung der pluralen lat. Texüberlieferung unternahm Hieronymus unter Heranziehung der Hexapla (und wohl auch eines hebr. Textes) eine Revision der Hiob-VL. Diese ist in drei Handschriften (Laγ [8. Jh., Abbruch mit Hi 38,16], Laμ [11. Jh.], Laβ [12. Jh.]) erhalten.281 La ist wie die Syrohexapla und die armenische Übersetzung ein wichtiger Zeuge für die durch Origenes gesetzten Asteriskoi und Obeloi.282 Besonders wirkmächtig wurde die in den Jahren 391ff von Hieronymus angefertigte lat. Übersetzung des hebr. Textes, die dann in die Vulgata eingegangen ist.283 Bei aller Treue gegenüber dem hebr. Text weist die Hiob-Vg spezifisch christliche Vorstellungen auf (u. a. in Hi 14,4; 19,25–27). In der Gestalt der Vg hat das lat. Hiobbuch im abendländischen Christentum bis zur Reformation sowie im römisch-katholischen Bereich bis ins ausgehende 19. Jahrhundert seine Wirkung auf die Bibelauslegung, die Frömmigkeit und die Kunst entfaltet. Zu den frühesten umfassenden Hiobauslegungen, die auf einem lat. Text beruhen, gehören u. a. die Annotationes in Iob und der sermo LII (de beato Iob) Augustins (354–430), der Hiobkommentar Julians von Eclanum (ca. 386–455) und die Moralia in Iob Gregors des Großen (gest. 604).284 281 Siehe dazu Ziegler, Iob, 37–40, und J.-C. Haelewyck, 11 Job. 11.4.1 Vetus Latina, in: THB 1C (2017), 207–209, sowie ausführlich Trenkler, Rezensionen, und Warns, Textvorlage. Nach den sehr detaillierten Analysen von Trenkler und Warns repräsentieren die drei Handschriften drei von Hieronymus vorgenommene Revisionen. Gegenüber der von Trenkler und Warns vorgenommenen Indizierung (T für die aus Tours bekannte Hs, die in die Ausgabe der Vetus Latina von Petrus Sabatier 1743 eingegangen ist, B für die aus der Bodleian Bibliothek bekannte und S für die aus St. Gallen bekannte) bleibe ich bei der in den Textausgaben von Lagarde und Caspari sowie im Apparat der LXX-Ausgabe von Ziegler verwendeten Indizierung (Laμ, Laβ, Laγ). 282 S.o. S. 64. In Laγ sind diese Zeichen nicht gesetzt. 283 Zur Beschreibung der Übersetzungstechnik des Hieronymus siehe knapp J. Soenksen, 11. Job 11.3.7 Vulgate, in: THB 1C (2017), 199–200. 284 Zu den Textausgaben siehe das Literaturverzeichnis (1.10).
Literatur
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Einleitung
9.5 Das Testament Hiobs Literatur Zu Textausgaben und Übersetzungen siehe das allgemeine Literaturverzeichnis (1.7) Begg, C.: Comparing Characters: The Book of Job and the Testament of Job, in: W.A.M. Beuken (Hg.), The Book of Job, BEThL CXIV, Leuven, 1994, 435–445. – Dochhorn, J.: Das Testament Hiobs als exegetischer Text. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Hiob-Septuaginta, in: W. Kraus/M. Karrer (Hg.), Die Septuaginta – Texte, Theologien, Einflüsse, WUNT 252, Tübingen 2010, 671–688. – Haralambakis, M.: The Testament of Job. Text, Narrative and Reception History, LSTS/JSPS 80, London u. a. 2012. – Knibb, M.A./Horst, P.W. van der (Hg.): Studies on the Testament of Job, MSSNTS 66, Cambridge 1989. – Kugler, R.A./Rohrbaugh, R.L.: On Women and Honor in the Testament of Job, JSP 14 (2004) 43–64. – Omerzu, H.: Das bessere Erbe. Die privilegierte Stellung der Töchter Hiobs im Testament Hiobs, in: K. Greschat/H. Omerzu (Hg.), Körper und Kommunikation. Beiträge aus der theologischen Genderforschung, Leipzig 2003, 57–93. – Rahnenführer, D.: Das Testament des Hiob und das Neue Testament, ZNW 62 (1971) 69–93. – Schaller, B.: Das Testament Hiobs und die Septuaginta des Buches Hiob, Bib 61 (1980) 377–406. – Wahl, H.M.: Elihu, Frevler oder Frommer? Die Auslegung des Hiobbuches (Hi 32– 37) durch ein Pseudepigraphon (TestHi 41–43), JSJ 25 (1994) 1–17.
Das TestHiob bildet die älteste bekannte Nach- und Neudichtung des Hiobbuches. Es ist auf Griechisch abgefasst und geht auf die Hiob-LXX zurück. Das TestHi gehört literarisch zur mit dramatischen und midraschartigen Elementen angereicherten Testamentenliteratur285 und stammt aus dem 1./2. Jh. n. Chr. Vermutlich ist es in jüdischen Kreisen entstanden, wurde aber, soweit bisher erkennbar, nur im christlichen Bereich überliefert. Makrokompositionell erscheint das TestHiob als eine Ermahnungs- und Erbauungsrede Hiobs, der am Vorabend seines Todes die Geschichte seines Leidens, seiner Bewährung und Restitution erzählt. Einzelne z. T. wörtlich aus der LXX übernommene Passagen sind breit ausgemalt. Hiob wird als überreicher und wohltätiger heidnischer Herrscher vorgestellt. Die von ihm erduldeten Leiden sind die bewusst in Kauf genommene Folge seiner Konversion zu dem einen und wahren Gott und der Zerstörung von Götzenbildern, wodurch der Zorn des Satans hervorgerufen wird. Hiob ist hier ganz der über sein Leid erhabene, von den Freunden stets nur kurz unterbrochene, weise Lehrer, der wie ein Athlet den Kampf mit dem Satan aufnimmt (TestHi 27,3) und den Titel eines „Menschen/Mannes Gottes“ (ἄνθρωπος τοῦ θεοῦ, TestHi 53,4) führt. Als Weiser verfügt er auch über verborgenes Wissen (vgl. TestHi 33,2–9; 37,7–8; 38,6; 42,2; 47,1–11; 52,2.9). Dadurch kommt er neben den exemplarisch Gerechten und als apokalyptische Seher verehrten Noah286 und Daniel287 zu stehen, denen er bereits hinsichtlich seines untadeligen Wandels geglichen hatte (Ez 14,14.20; Sir 44,1; 49,9 [HB]). Ebenso tritt er an die Seite Henochs, mit dem er die über die Gottesreden 285 Vgl. dazu Charlesworth, OTP, I, 773–995; Feldman/Kugel/Schiffman, Outside the Bibel, II, 1671–1899; Embry/Herms/Wright, Early Jewish Literature, II, 597–669; JSHRZ III/1–3; JSHRZ.NF I/7. 286 Zur Verbindung von Hiob und Noah vgl. die Erweiterungen in Tg zu Hi 22,19; zu Noah selbst vgl. 4Q534; 1Hen 106–107; Jub 4–10; 1QGenAp 2; 1Q19 und Josephus, ant. Iud. 1, 72– 108 (3,1–9); dazu D. Dimant, Noah in Early Jewish Literature, in: M.E. Stone/T.A. Bergen (Hg.), Biblical Figures Outside the Bible, Harrisburg 1998, 123–150. 287 Vgl. Dan 7–12.
Die frühe Rezeptionsgeschichte des Hiobbuches
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vermittelten kosmologischen Kenntnisse teilt.288 Eine besondere Rolle spielen im TestHi Frauen: Sitidos, Hiobs erste Frau, die vor seiner Restitution stirbt (TestHi 21–27; 39–40); Dina, die Tochter Jakobs, die Hiob nach seiner erneuten Segnung heiratet (TestHi 1,5–6), wodurch er vollständig ins Judentum eintritt, und die Töchter, die von ihrem Vater angesichts seiner Heimholung ins Reich Gottes magische Gürtel erhalten, mittels derer sie in der „Sprache der Engel“ reden und besondere Lieder und Gebete verfassen (TestHi 46–50). Elihu, der im kanonischen Hiobbuch die Rolle eines göttlichen Anwalts spielt, mutiert hingegen zur Inkarnation des Satans (TestHi 41–43). 9.6 Hiob und das Hiobbuch im Neuen Testament289 Burchard, C.: Hiob unter den Propheten. Ein biblisches Exempel im Jakobusbrief (5,11), in: C. Nau- Literatur erth/R. Grieshammer (Hg.), Begegnungen (FS B.J. Diebner), DBAT, Dielheim 1999, 13–18. – Gray, P.: Points and Lines: Thematic Parallelism in the Letter of James and the Testament of Job, NTS 50 (2004) 406–426. – Hainthaler, T.: „Von der Ausdauer Ijobs habt ihr gehört“ (Jak 5,11). Zur Bedeutung des Buches Ijob im Neuen Testament, EHS XXIII/337, Frankfurt/M. u. a. 1988. – Herzer, J.: Jakobus, Paulus und Hiob. Die Intertextualität der Weisheit, in: T. Krüger u. a. (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, AThANT 58, 2007, 329–350. – Karrer, M.: Job, der Gerechte: Beobachtungen zum Hiobbuch der Septuaginta, in: M. Meiser u. a. (Hg.), Die Septuaginta. Geschichte, Wirkung, Relevanz, WUNT 405, Tübingen 2018, 66–89.– Schaller, B.: Das Testament Hiobs und die Septuaginta des Buches Hiob, Bib 61 (1980) 377–406. – Ders.: Der Textcharakter der Hiobzitate im paulinischen Schrifttum, ZNW 71 (1980) 21–26. – Witte, M.: Ijob, in: F. Wilk/M. Meiser (Hg.), Die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der Septuaginta, LXX.H 6, Gütersloh (in Vorb.).
Das Verzeichnis der loci citati vel allegati im Novum Testamentum Graece (282012) listet zu 78 Stellen aus dem Hiobbuch Randverweise im NT auf. Hierbei handelt es sich ganz überwiegend um Parallelen zu Wörtern oder Motiven, die sich auch im Hiobbuch finden, die aber keine direkte Bezugnahme durch die ntl. Autoren auf das Hiobbuch erkennen lassen. Dazu gehören Motive wie das SichFernhalten vom Bösen (HiLXX 1,1.8; 2,3; 1Thess 5,22), das Wandeln des „Teufels“ (διάβολος) auf der Erde (Hi 1,7LXX; 1Petr 5,8; Apk 12,9), die Unerforschlichkeit Gottes (Hi 5,9; 9,10; Röm 11,33), die Wundertätigkeit und Allmacht Gottes (HiLXX 10,13; 42;2; Mk 14,36; Mt 19,26),290 die Erschaffung des Lichts aus der Finsternis (Hi 37,15LXX; 2Kor 4,6) oder die Bezeichnung des Menschen als „ein von einer Frau Geborener“ (γεννητὸς γυναικός)291. Mitunter basiert die verzeichnete Parallelität nur auf einer im Griechischen verbreiteten Redewendung, die zufällig auch einmal in der Hiob-LXX und bei Paulus begegnet.292 Hinzu kommen aber intertextuelle Bezüge, die sich im Kontext einer kanonischen und christologisch Vgl. 1Hen 17–36; 72–82. Der Abschnitt bietet einen kurzen Auszug aus meiner Darstellung der Rezeptionsgeschichte der Hiob-LXX im Handbuch der LXX (LXX.H 6). 290 Aus diesem Gegenüber ergibt sich auch eine besondere typologische Entsprechung zwischen Hiob und Jesus Christus. 291 HiLXX 11,2; 14,1; 15,14; 25,4; Mt 11,11; Lk 7,28. 292 Vgl. z. B. ἐλπὶς σωτηρίας (Hi 2,9; 1Thess 5,8); σύνοιδα ἐμαυτῷ (Hi 27,6; 1Kor 4,4). 288 289
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Einleitung
orientierten Lektüre der LXX ergeben, wie sie für weite Teile der altkirchlichen (und mittelalterlichen christlichen) Auslegung der LXX typisch ist. Hier kann Hiob typologisch als Vorbild Christi verstanden oder Christus als endzeitliche Überhöhung Hiobs gedeutet werden. Unter den im NTG genannten Randverweisen zählen dazu z. B. die Gegenüberstellung der Verspottung Hiobs und Jesu (Hi 30,10 LXX; Mt 26,67), die Korrelation der Hoffnung Hiobs auf eine Reinigung von seinen Sünden (καθαρισμὸς τῆς ἁμαρτίας) mit der durch Jesus Christus gewirkten Sündenvergebung (Hi 7,21 LXX; Hebr 1,3) oder die Kennzeichnung Jesu Christi als Mittler (μεσίτης), der entsprechend Hiobs Wunsch zwischen Gott und Mensch vermittelt (Hi 9,33LXX; Hebr 12,24). Echte ntl. Zitate aus der Hiob-LXX sind nur Hi 5,12–13 in 1Kor 3,19, Hi 41,3 in Röm 11,35 und Hi 13,16 in Phil 1,19.293 Der Wortlaut des Zitats in Phil 1,19 entspricht der LXX. Dagegen zeigen die Textgestalten von Hi 5,12– 13 in 1Kor 3,19 und von Hi 41,3 in Röm 11,35, dass Paulus auf einen griech. Text zurückgegriffen hat, der nach einem hebr. Text rezensiert wurde und der mit dem in der LXX tradierten Text nicht identisch ist.294 Thematisch stehen die Hiobzitate in 1Kor 3,19 und in Röm 11,35 im Kontext der paulinischen Verhältnisbestimmung von Gotteserkenntnis, Gerechtigkeit und menschlicher Weisheit.295 Ob die einzige namentliche Nennung Hiobs im NT in Jak 5,10–11 auf das Hiobbuch oder auf eine im antiken Judentum verbreitete Hiobtradition zurückgeht, ist umstritten.296 Die Nennung des für christliche Existenz vorbildhaften Hiob im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Beispiel der leidenden Propheten könnte auf ein Verständnis Hiobs als Prophet hindeuten, wie es auch in Sir 49,9 (HB) begegnet.297 9.7 Die Stellungen des Hiobbuches im biblischen Kanon Literatur Beckwith, R.: The Old Testament Canon of the New Testament Church and its Background in Early Judaism, London 1985 (32003), 194; 452–464. – Brandt, P.: Endgestalten des Kanons. Das Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel, BBB 131, Berlin/Wien 2001, 148–171; 186.
Die besondere extratextliche literarische und theologische Bedeutung des Hiobbuches spiegelt sich in seiner Aufnahme unter die heiligen Schriften des Judentums und des Christentums. Dieser grundsätzlichen Kanonizität, Schaller, Textcharakter, 21–26; Herzer, Jakobus, 331. Schaller, Textcharakter, 21–26. 295 Herzer, Jakobus, 339–350. 296 Zur Diskussion siehe Rahnenführer, Testament, 86; Schaller, Textcharakter, 21; Burchard, Hiob, 16f; Gray: Points, 420–426; Vicchio, Image, I, 140–143; Herzer, Jakobus, 333–338; D.C. Allison, A Critical and Exegetical Commentary on the Epistel of James, ICC, London/New York 2013, 717–721. 297 Burchard, Hiob, 18; Witte, Texte und Kontexte, 23–37. Zu weiteren Beziehungen zwischen dem Jakobusbrief und dem Hiobbuch siehe die Auslegungen von Hi 1,21 und von 42,17LXX. 293 294
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die im Gegensatz zum Koheletbuch und zum Hohelied im antiken Judentum offenbar nie umstritten war, steht die hohe Varianz hinsichtlich der genauen Position gegenüber. So kann das Buch Hiob in jüdischen Bibelhandschriften z. B. zwischen Ps und Spr oder zwischen Spr und Pred, zwischen Spr und Klgl, zwischen Hhld und Klgl, zwischen Ps und Pred, zwischen Spr und Rut, zwischen Spr und Dan, zwischen Spr und Chr, zwischen Spr und Hhld, zwischen Rut und Spr, zwischen Est und Dan sowie zwischen Klgl und Est eingeordnet sein. Gemeinsam ist allen jüdischen Bibelhandschriften die grundsätzliche Zuordnung zum dritten Hauptteil der hebr. Bibel, zu den Schriften (Ketubim oder Hagiographen). Es gehört damit zu den Büchern der hebr. Bibel, die der Torah und den diese nach rabbinischem Verständnis auslegenden Prophetenbüchern (Nebiim) mutmaßlich entstehungsgeschichtlich und inhaltlich nachgeordnet sind. Die Einordnung des Buches Hiob unter die Ketubim spiegelt einerseits die relativ späte literarische Entstehung und Aufnahme in den werdenden Kanon wider. Andererseits spricht aus seiner Aufnahme unter die Ketubim die ihm zugemessene exemplarische Bedeutung für die religiöse Bewältigung der Gegenwart. Folgt man bei einer kanonischen Lektüre z. B. der Anordnung der Hagiographen, die durch die „Kanonsperikope“ im bab. Talmud (bBB 14b) nahegelegt wird und die u. a. auch im CodL und im CodA anzutreffen ist, dann rahmen die Psalmen und die Sprüche das Hiobbuch. Mit den Psalmen geht ihm dann die Anweisung zum richtigen Beten in Bitte, Dank, Lob und Klage voraus, die mit einer Glücklichpreisung dessen einsetzt, der Tag und Nacht die Torah bedenkt (Ps 1, vgl. Hi 1,1), und die in einem den ganzen Kosmos zum Gotteslob einladenden Lobpreis gipfelt (Ps 150, vgl. Hi 38,1–42,6). Mit den Proverbien folgen Mahnungen zu einem von Weisheit und Gottesfurcht geprägten Leben (Spr 1, vgl. Hi 1,1; 28,28), die punktuell gleichfalls die Erfahrung des ungerechten Leidens thematisieren (vgl. Spr 24,1–2.19–20) und die am Ende auf die unvergleichliche Schöpfermacht Gottes und seine Weisheit blicken und sich zur Begrenztheit menschlicher Weisheit bekennen (Spr 30,1–9, vgl. Hi 28,12–13; 42,1–6). Sowohl die Frage nach dem richtigen Beten als auch die Frage nach der Weisheit und der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis gehören zu wesentlichen Motiven des Hiobbuches, so dass seine Rahmung mit dem Buch der Psalmen und dem Buch der Sprüche eine sachgemäße Lesehilfe seitens der für diese Anordnung der Schriften verantwortlichen jüdischen Tradenten darstellt. Andere Positionierungen eröffnen dementsprechend andere ,kanonische Lektüren‘. Auch in den alten Codizes, die dem Kanon der sich auf die Septuaginta beziehenden orthodoxen Kirchen zugrundeliegen, finden sich unterschiedliche Positionierungen des Hiobbuches. So erscheint das Hiobbuch z. B. im Codex Vaticanus zwischen Hhld und SapSal, im Codex Alexandrinus zwischen Ps und Spr und im Codex Sinaiticus nach SapSal und Sir als letztes Buch des AT. Letzteres soll möglicherweise eine typologische Korrelation zwischen dem exemplarischen leidenden Gerechten des AT und Jesus Christus andeuten.298 298
Vgl. K. Schmid, Hiob, 84f.
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Einleitung
Im Kanon der römisch-katholischen und der evangelischen Kirchen, der hinsichtlich der Reihenfolge der biblischen Bücher auf die Vulgata zurückgeht, steht das Buch Hiob nach dem Buch Ester und vor dem Psalter.299 Nach den auf die Vergangenheit blickenden Geschichtsbüchern eröffnet es hiermit den zweiten Teil des AT, den Abschnitt der für die Gegenwart entscheidenden Lehrbücher, dem sich die in die Zukunft schauenden prophetischen Bücher anschließen. Wird dementsprechend das Buch Ester als ein ‚Vorwort‘ zum Buch Hiob gelesen, so geht dem exemplarisch frommen Hiob der beispielhaft integre Mardochai (Est 10,3) voraus. Wie das Buch Ester ist das Buch Hiob ein Werk, das letztlich von einer Rettung erzählt. Dass zwischen dem Buch Ester und dem Buch Hiob besondere Beziehungen bestehen, ist bereits der rabbinischen Exegese aufgefallen, die Hiob aufgrund der Notiz, seine ihm am Ende geschenkten Töchter seien die „schönsten auf der ganzen Erde“ gewesen (Hi 42,15), in das Zeitalter des Ahasveros, d. h. des Perserkönigs Xerxes I. (485–465 v. Chr.), verlegt (vgl. bBB 15b mit Bezug auf Est 2,2). Die Einordnung des Buches Hiob unter die Lehrbücher im römisch-katholischen und im evangelischen Kanon spiegelt wie seine Positionierung in der Hebräischen Bibel das Verständnis als beispielhaftes Lebensbuch. Seine Position an der Nahtstelle von Geschichtsund Lehrbüchern verdankt es wohl seiner narrativen Einleitung (Hi 1,1–3) und dem an die Abraham- und Jakobsgeschichten (Gen 12–50) erinnernden Milieu einerseits und seinem poetischen Hauptteil andererseits, der dasselbe masoret. Akzentsystem wie der Psalter und die Proverbien aufweist. In der Peschitta (Syr), die im Christentum neben der Septuaginta und der Vulgata die wichtigste (spät-)antike Übersetzung der hebr. Bibel darstellt, folgt das Hiobbuch unmittelbar auf den Pentateuch.300 Im Hintergrund könnte die Einordnung Hiobs in das Zeitalter der Patriarchen stehen, wie sie bereits der Epilog der LXX aufgrund der Gleichsetzung mit Jobab vollzieht (HiLXX 42,17 vgl. Gen 36,33–34), oder die auch im bab. Talmud (bBB 14b) und bei einzelnen Kirchenvätern geäußerte Vermutung, Mose sei der Verfasser des Buches Hiob301 – eine Meinung, die noch Johann David Michaelis (1717–1791), einer der Begründer der neuzeitlichen historischen Bibelkritik, vertritt.302
299 Vgl. das entsprechende Dekret des Tridentinischen Konzils, Tridentinum Sessio IV 8.4.1546 (DS 1502). 300 Zu weiteren Positionierungen des Hiobbuches in der syr. Tradition bzw. in den verschiedenen syr. Konfessionen siehe Brandt, Endgestalten, 218–234. 301 Vgl. z. B. Julian der Arianer, Hiobkommentar, Einleitung (Hagedorn, 1–3); Leontius von Byzanz, In Iob, 86; 94 (CCSG 17, 214); Polychronios von Apamea, frgm. in Iob Prolog 3 (Hagedorn/Hagedorn, Katenen IV, 37f). 302 J.D. Michaelis, Einleitung in die göttlichen Schriften des Alten Bundes, I/1, Hamburg 1787, 72–92.
Ausblick auf die weitere Rezeptionsgeschichte des Hiobbuches
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9.8 Ausblick auf die weitere Rezeptionsgeschichte des Hiobbuches EBR 14 (2017), 305–404. – Batnitzky, L./Pardes, I. (Hg.): The Book of Job. Aesthetics, Ethics, Literatur Hermeneutics. Perspectives on Jewish Texts and Contexts 1, Berlin u. a. 2015. – Bessermann, L.L.: The Legends of Job in the Middle Ages, Cambridge 1979.. – Budde, R.: Job, LCI II (1970) 407– 414. – Centre d’Analyse et de Documentation Patristiques (Hg.): Le livre de Job chez les Pères, CBiPa 5, Strasbourg 1996. – Dassmann, E.: Akzente frühchristlicher Hiobdeutung, JAC 31 (1988) 40–56. – Glatzer, N.N.: The Dimensions of Job: A Study and Selected Readings, New York 1969. – Hiobthemen in Bildern von Michelangelo Buonarotti, der spätantiken und der mittelalterlichen Buchmalerei, Georges de la Tour, Käthe Kollwitz, Ernst Barlach und Barnett Newmann, Text v. G. Heidecker, hg. v. der Ev. Medienzentrale in Bayern, Nürnberg o. J. – Huber, P.: Hiob. Dulder oder Rebell? Byzantinische Miniaturen zum Buch Hiob in Patmos, Rom, Venedig, Sinai, Jerusalem und Athos, Düsseldorf 1986. – Johns, A.H.: Art. „Job“, Encyclopaedia of the Qur’an III (2003) 49–51. – Ders., A.H.: Narrative, Intertext and Allusion in the Qur’anic Presentation of Job, Journal of Qur’anic Studies 1 (1999) 1–25. – Langenhorst, G.: „Sein haderndes Wort” (Paul Celan). Hiob in der Dichtung unserer Zeit, in: T. Seidl/S. Ernst (Hg.), Das Buch Ijob. Gesamtdeutungen. Einzeltexte. Zentrale Themen, ÖBS 31, Frankfurt/M. u. a. 2007, 279–306. – Ders.: Hiob unser Zeitgenosse. Die literarische Hiob-Rezeption im 20. Jahrhundert als theologische Herausforderung, Theologie und Literatur 1, Mainz 21995. – Ders.: Ijob – Vorbild in Demut und Religion, in: H. Schmidinger (Hg.), Die Bibel in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts II, Mainz 1999, 259–280. – Larrimore, M.: The Book of Job. A Biography, Princeton/Oxford 2013. – Mertin, J.: Hiob – religionsphilosophisch gelesen. Rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen zur Hioblektüre Herders, Kants, Hegels, Kierkegaards und zu ihrer Bedeutung für die Hiobexegese des 18. und 19. Jahrhunderts, Diss. Microfiche Paderborn 1990. – Oberhänsli-Widmer, G.: Hiob in jüdischer Antike und Moderne. Die Wirkungsgeschichte Hiobs in der jüdischen Literatur, NeukirchenVluyn 2003. – Dies.: Hiobtraditionen im Judentum, in T. Krüger u. a. (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, AThANT 88, Zürich 2007, 315–328. – Papadaki–Oekland, S.: Byzantine Illuminated Manuscripts of the Book of Job. A Preliminary Study of the Miniature Illustrations. Its Origin an Development, Athen 2009 (zu den Abbildungen siehe auch: https://en.wikipedia. org/wiki/Book_of_Job_in_Byzantine_illuminated_manuscripts). – Schüßler, W./Röbel, M. (Hg.): Hiob – transdisziplinär. Seine Bedeutung in Theologie und Philosophie, Kunst und Literatur, Lebenspraxis und Spiritualität, Herausforderung Theodizee. Transdisziplinäre Studien 3, Berlin 2013. – Seidel, H.: Hiob, der Patron der Musiker, in: J. Hausmann/H.-J. Zobel (Hg.), Alttestamentlicher Glaube und biblische Theologie (FS H.D. Preuss), Stuttgart 1992, 225–232. – Seow, C.L. (Hg.): The Many Faces of Job. I. The Premodern Period, HBR 5/1. II. The Modern Period in the West, HBR 5/2. III. Globalized Job, HBR 5/3, Berlin/Boston (in Vorb.). – Terrien, S.: The Iconography of Job through the centuries: Artists as Biblical Interpreters, University Park 1996. – Vicchio, S.J.: The Image of the Biblical Job. A History. I. Job in the Ancient World. II. Job in the Medieval World. III. Job in the Modern World, Eugene 2006. – Wessel, K.: Art. „Hiob“, Reallexikon der byzantinischen Kunst III (1972) 131–152. – Witte, M. (Hg.): Hiobs Gestalten. Interdisziplinäre Studien zum Bild Hiobs in Judentum und Christentum, SKI.NF 2, Leipzig 2012.
Mit der Notierung der Bezugnahmen auf das Hiobbuch im frühjüdischen Schrifttum (Sir 49,9 [HB; Syr]; Tob 2,15Vg) und im Neuen Testament,303 der Beschreibung der antiken Übersetzungen und der Vorstellung des Testaments Hiobs sowie der Diskussion der unterschiedlichen Positionierungen des Hiobbuches im biblischen Kanon wurden bereits wichtige Etappen der frühen Rezeptionsgeschichte angesprochen. Entsprechend seiner grundsätzlichen existentiellen Thematik hat das Hiobbuch eine überaus reiche Wirkung in der Frömmigkeit, in der Theologie und in der Kunst erzielt. Dies gilt über die Zeiten hinweg für das Judentum und das Christentum sowie für den Islam. Letz303
S.o. S. 6; 52; 86 bzw. 69f.
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Einleitung
terer kennt nicht nur die mehrfache Erwähnung Hiobs/ʾAjjūbs im Koran,304 sondern auch vielfältige Legenden, die in dieser Form weder im Judentum noch im Christentum vorhanden sind, auch wenn sie im Einzelnen auf spätantike jüdische und/oder christliche Traditionen zurückgehen mögen, sowie diverse Gräber und Quellen des Propheten Hiob (nabī ʾAjjūb).305 Innerhalb der Rezeptionsgeschichte sind es jeweils bestimmte Aspekte und Themen des Hiobbuches und der Hiobfigur, die zu unterschiedlichen Zeiten ein besonderes Interesse finden, der Artikulation existentieller Fragen dienen und einen Resonanzraum jeweils aktueller Erfahrungen und Krisen bilden. Im Gefolge der (Wieder-)Entdeckung der Rezeptionsgeschichte und ihrer Bedeutung für gegenwärtiges Verstehen (nicht nur) biblischer Texte liegen inzwischen zahlreiche monographische Untersuchungen sowie Aufsatz- und Bildbände zur Aneigungs- und Wirkungsgeschichte des Hiobbuches vor. Ihr Spektrum reicht von der frühchristlichen Plastik und Katakombenmalerei über mittelalterliche Singspiele und Illustrationen in jüdischen und christlichen Bibelhandschriften bis zu Theodizeereflexionen in der Philosophie der Aufklärung, zur jüdischen Dichtung nach der Shoah306 oder zu der sich ausdrücklich auf Hiob berufenden filmischen Thematisierung des Leidens des Gerechten und der Gerechtigkeit Gottes.307
Vgl. Koran, Sure 4,161(163); 6,84–89; 21,83–84; 38,(40)41–44. So werden z. B. Hiobgräber in der Nähe des syrischen Nawā (Dēr ʾAjjūb), 85 km südlich von Damaskus, oder auf dem Ǧebel Atin in Salalah im Oman verehrt. Hinter der Vielzahl von Hiobsbrunnen steht die Tradition von der wunderbaren Heilung Hiobs mittels einer Quelle (vgl. Koran, Sure 38,41[42]; Grünbaum, Beiträge, 269f; Apt, Hiobserzählung, 28). Zu einer überlieferungsgeschichtlichen Analyse dieser Traditionen siehe H.-P. Müller, Mensch, 37–39, und Vicchio, Image, II, 77–79. 306 K. Wolff, Hiob 1943. Ein Requiem für das Warschauer Getto, Berlin 21984. 307 R. Zwick, Hiob im Kino. Die Theodizeefrage im Spiegel aktueller Filmkomödien, in: Schüßler/Röbel, Hiob – transdisziplinär, 173–190; R. Burnette-Bletsch, Art. „Job (Book and Person) XI. Film“, EBR 14 (2017) 370–374; Th.A. Rudnig, „Irgendetwas läuft hier völlig falsch.“ der Film „A Serious Man“ (Ethan and Joel Coen) als Adaption des Hiobstoffes, in: C. Körting/R.G. Kratz (Hg.), Fromme und Frevler. Studien zu Psalmen und Weisheit (FS H. Spieckermann), Tübingen 2020, 459–468. 304 305
I. Hi 1–2 Der Prolog 1,1 Es war (einmal) ein Mann im Land Uz, Hiob war sein Name. Und jener HN Mann war fromm und aufrichtig und gottesfürchtig und hielt sich vom Bösen fern. 2 Und ihm wurden sieben Söhne und drei Töchter geboren. 3 Und sein Besitz betrug siebentausend Schafe und Ziegen und dreitausend Kamele und fünfhundert Gespann Rinder und fünfhundert Eselinnen und eine sehr große Dienerschaft. – Und jener Mann war größer als alle Söhne Qedems1. – 4 Und seine Söhne veranstalteten regelmäßig2 ein Gelage, jeweils im Haus eines an dessen Tag. Sie sandten dann hin und riefen ihre drei Schwestern, um mit ihnen zu essen und zu trinken. 5 Und wenn die Tage des Gelages im Kreis herum gegangen waren, sandte Hiob hin und heiligte sie. Er machte sich dann jeweils früh am Morgen auf und brachte Brandopfer dar gemäß ihrer gesamten Anzahl. BR Denn Hiob sagte: Vielleicht haben meine Söhne gesündigt und Gott in ihrem Herzen ‚gesegnet‘3. HN So tat4 es Hiob alle Tage. 6 Nun geschah es eines (gewissen) Tages, dass die Söhne Gottes kamen, um BR sich vor Jhwh aufzustellen; und auch der Satan kam mitten unter ihnen. 7 Da sagte Jhwh zu dem Satan: Woher kommst du gerade? Und der Satan antwortete Jhwh und sagte: Vom Umherziehen auf der Erde und vom Herumwandeln auf ihr. 8 Und Jhwh sagte zu dem Satan: Hast du dein Herz auf5 meinen Diener Hiob gerichtet? Denn es gibt keinen so wie ihn auf Erden, ein Mann: fromm und aufrichtig, gottesfürchtig6 und sich vom Bösen fernhaltend. 9 Und der Satan antwortete Jhwh und sagte: Fürchtet Hiob Gott etwa ohne Grund? 10 Hast du nicht ihn und sein Haus umhegt und alles, was ihm gehört, ringsherum? Das Wort qædæm kann sowohl für den Osten als auch für die Vorzeit stehen; siehe die Auslegung. Das Pf. consec. steht hier zum Ausdruck der wiederholten Handlung (J/M § 119v). 3 D. h.: geflucht; siehe dazu wie auch zu den analogen Verwendungen der Wurzel brk in Hi 1,11; 2,5 und 2,9 die Auslegung. 4 Das Impf. ist hier frequentativ gebraucht (J/M § 111e; 113e; Waltke/O’Connor § 31.2b). 5 Viele Hss lesen wie in Hi 2,3 die Präp. ʾæl anstelle der Präp. ʿal, die sowohl „auf“ als auch „gegen“ bedeuten kann, häufig aber synonym zu ʾæl ist. 6 Einige Hss; Syr; Aq; Vg bieten wie in V. 1 eine Kopula. 1
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Hi 1–2 Der Prolog
Das Werk seiner Hände hast du gesegnet, und sein Besitz breitet sich aus auf der Erde. 11 Aber strecke doch deine Hand aus, und berühre alles, was ihm gehört: Ob er dich dann nicht in dein Angesicht ‚segnen‘ wird? 12 Und Jhwh sagte zu dem Satan: Siehe: Alles, was ihm gehört, ist in deiner Hand, nur gegen ihn (selbst) strecke deine Hand nicht aus! Da ging der Satan hinaus, fort vom Angesicht Jhwhs. HN 13 Nun geschah es eines (gewissen) Tages, als seine Söhne und seine Töchter aßen und Wein tranken im Haus ihres erstgeborenen Bruders, 14 dass ein Bote zu Hiob kam und sagte: Die Rinder7 waren gerade beim Pflügen und die Eselinnen weideten an ihrer Seite, 15 da fiel Saba8 ein und nahm sie gefangen, und sie schlugen die jungen Leute mit der Schärfe9 des Schwertes, und nur ich allein rettete mich, um dir zu berichten. 16 Dieser redete noch, da kam ein anderer und sagte: Feuer Gottes fiel vom Himmel und verbrannte die Schafe und Ziegen und die jungen Leute und fraß sie, und nur ich allein rettete mich, um dir zu berichten. 17 Dieser redete noch, da kam ein anderer und sagte: Die Kaśdim machten drei Abteilungen und breiteten sich um die Kamele herum aus10 und nahmen sie gefangen, und sie schlugen die jungen Leute mit der Schärfe des Schwertes, und nur ich allein rettete mich, um dir zu berichten. 18 Dieser redete noch11, da kam ein anderer und sagte: Deine Söhne und deine Töchter aßen und tranken gerade Wein im Haus ihres erstgeborenen Bruders, 19 und siehe: Ein großer Wind kam von der Wüste herüber12 und berührte13 die vier Ecken des Hauses, und es fiel auf die jungen Leute und sie starben, und nur ich allein rettete mich, um dir zu berichten. 20 Da erhob sich Hiob und zerriss sein Obergewand und schor seinen Kopf und fiel auf die Erde und verneigte sich 21 und sagte: Nackt bin ich aus dem Schoß meiner Mutter gekommen, und nackt werde ich dorthin zurückkehren. 7 bāqār wird hier einmal als Fem., einmal als Mask. konstruiert, was von einigen Hss vereinheitlicht wird. 8 D. h.: die Sabäer. 9 Wörtl.: „für den Mund/das Maul“. Dieser Ausdruck könnte entweder darauf zurückgehen, dass Schwerter im Alten Orient mitunter einen als Raubtierkopf gestalteten Knauf hatten, oder darauf, dass das Schwert selbst als Raubtier verstanden wurde (vgl. O. Keel, Wirkmächtige Siegeszeichen im Alten Testament, OBO 5, Freiburg [Schweiz]/Göttingen 1974, 77–79). 10 D. h.: überfielen diese. 11 Anstelle von ʿad ist wie in V. 16 und in V. 17 mit vielen Hss ʿôd zu lesen; zur gelegentlichen Austauschbarkeit von ʿad und ʿôd siehe CTAT 50/5, 49. 12 Wörtl.: „von jenseits der Wüste“. 13 Nachdem rûaḥ „Wind“ zunächst wie in der Mehrzahl seiner atl. Belege als Fem. konstruiert wurde, wird es jetzt als Mask. konstruiert (wajjiggaʿ), was grammatisch möglich ist, aber die Bestimmung des Subjekts (bewusst) in der Schwebe lässt (vgl. V. 11).
Hi 1–2 Der Prolog
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Jhwh hat gegeben, und Jhwh hat genommen, der Name Jhwhs sei gesegnet. 22 In all diesem sündigte Hiob nicht und äußerte nichts Anstößiges in BR Hinsicht auf Gott. 2,1 Nun geschah es eines (gewissen) Tages, dass die Söhne Gottes kamen, BR um sich vor Jhwh aufzustellen; und auch der Satan kam mitten unter ihnen, um sich vor Jhwh aufzustellen.14 2 Da sagte Jhwh zu dem Satan: Von wo kommst du? Und der Satan antwortete Jhwh und sagte: Vom Umherziehen auf der Erde und vom Herumwandeln auf ihr. 3 Und Jhwh sagte zu dem Satan: Hast du dein Herz auf meinen Diener Hiob gerichtet? Denn es gibt keinen so wie ihn auf Erden, ein Mann: fromm und aufrichtig, gottesfürchtig und sich vom Bösen fernhaltend. Noch immer hält er an seiner Frömmigkeit fest, aber du hast mich gegen ihn aufgestachelt, ihn zu verschlingen ohne Grund15. 4 Und der Satan antwortete Jhwh und sagte: Haut für Haut, und alles, was einem Mann gehört, gibt er für sein Leben. 5 Doch16 strecke deine Hand aus, und berühre sein Gebein und sein Fleisch: Ob er dich dann nicht in17 dein Ansicht ‚segnen‘ wird? 6 Und Jhwh sagte zu dem Satan: Siehe: Er ist in deiner Hand – nur: Sein Leben bewahre! 7 Da ging der Satan hinaus, weg vom Angesicht Jhwhs; und er schlug Hiob mit einem bösen Geschwür, von seiner Fußsohle bis zu seinem Scheitel. 8 Und er nahm sich eine Scherbe, um sich mit ihr zu schaben, während er mitten im Staub18 saß. 9 Da sagte seine Frau zu ihm: Noch immer hältst du an deiner Frömmigkeit fest.19 ‚Segne‘ Gott und stirb!
V. 1bβ fehlt im OG (vgl. V. 6) und wird daher gelegentlich als Glosse beurteilt (Hölscher; Fohrer). ḥinnām gehört zum Infinitivsatz, nicht zum Vordersatz (so aber G/K § 111 l; Weiser). 16 Einige Hss lesen wie in V. 11 mit Kopula w eʾûlām „aber … doch“. 17 Viele Hss lesen wie in V. 11 die Präp. ʿal „vor“. 18 Oder: „in der Asche“ (vgl. Fohrer; Hartley; Seow). 19 Der Satz wird zumeist als Frage (ohne ausdrückliches Fragepronomen) verstanden (vgl. LXX); doch siehe die Auslegung. 14
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Hi 1–2 Der Prolog
10 Und er sagte zu ihr: Wie eine von den Törinnen redet, so redest du. Das Gute sollten wir von der Gottheit annehmen, doch das Böse sollten wir nicht annehmen? In all diesem sündigte Hiob nicht mit seinen Lippen. 11 Und die drei Freunde Hiobs hörten all das Böse, das über ihn gekommen war, und sie kamen, jeder von seinem Ort: Eliphas der Temaniter, Bildad der Schuachiter und Zophar der Naamatiter. Und sie trafen sich gemeinsam, um zu kommen, ihm ihre Anteilnahme zu bezeugen und ihn zu trösten. 12 Und sie hoben ihre Augen auf aus der Ferne und erkannten ihn nicht und hoben ihre Stimme auf und weinten. Und sie zerrissen jeder sein Obergewand und streuten sich Staub auf ihre Häupter, himmelwärts. 13 Und sie setzten sich mit ihm auf die Erde, sieben Tage und sieben Nächte; und keiner redete ein Wort zu ihm, denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war. Literatur Lux, R.: Der leidende Gerechte als Opfer und Opferherr in der Hiobnovelle (2004), in: Ders., Ein Baum des Lebens. Studien zur Weisheit und Theologie im Alten Testament, ORA 23, Tübingen 2017, 20–30. – Ders., Narratio – Disputatio – Acclamatio. Sprachformen des Leidens und seiner Überwindung im Hiobbuch (2005), in: Ders., Baum des Lebens, 31–45. – Maag, V.: Hiob. Wandlung und Verarbeitung des Problems in Novelle, Dialogdichtung und Spätfassungen, FRLANT 128, Göttingen 1982, 20–90. – Michel, A.: Ijob und Abraham. Zur Rezeption von Gen 22 in Ijob 1–2 und 42,7–17, in: Ders./H.-J. Stipp (Hg.), Gott, Mensch, Sprache (FS W. Groß), ATSAT 68, St. Ottilien 2001, 73–98. – Müller, H.-P.: Die Hiobrahmenerzählung und ihre altorientalischen Parallelen als Paradigmen einer weisheitlichen Wirklichkeitswahrnahme, in: W.A.M. Beuken (Hg.), The Book of Job, BEThL XCIV, Leuven 1994, 21–39. – Ruiten, J. an: Abraham, Job and the Book of Jubilees. The Intertextual Relationship of Genesis 22:1–19, Job 1:1–2:13 and Jubilees 17:15–18:19, in: E. Noort/E. Tigchelaar (Hg.): The Sacrifice of Isaac. The Aqedah (Genesis 22) and Its Interpretations, Themes in Biblical Narrative 4, Leiden 2002, 58–85. – Spieckermann, H.: Die Satanisierung Gottes. Zur inneren Konkordanz von Novelle, Dialog und Gottesreden im Hiobbuch, in: I. Kottsieper u. a. (Hg.), „Wer ist wie du, Herr, unter den Göttern?“ Studien zur Theologie und Religionsgeschichte Israels (FS O. Kaiser), Göttingen 1994, 431–444. – Syring, W.-D.: Hiob und sein Anwalt. Die Prosatexte des Hiobbuches und ihre Rolle in seiner Redaktions- und Rezeptionsgeschichte, BZAW 336, Berlin/New York 2004. – Veijola, T.: Abraham und Hiob. Das literarische und theologische Verhältnis von Gen 22 und der Hiob-Novelle, in: C. Bultmann u. a. (Hg.), Vergegenwärtigung des Alten Testaments. Beiträge zur biblischen Hermeneutik (FS R. Smend), Göttingen 2002, 127–144. – Weiss, M.: The Story of Beginning. Job 1–2: A Literary Analysis, Jerusalem 1983. – White, E.: Yahweh’s Council. Its Structure and Membership, FAT II/65, Tübingen 2014. – Willi-Plein, I.: Ein untadeliger Mensch. Zum Menschenbild der Hiobdichtung, in: M. Bauks u. a. (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). Aspekte einer theologischen Anthropologie (FS B. Janowksi), Neukirchen-Vluyn 2008, 553–564.
Aufbau und Sprachformen
In acht Szenen wird der Leser zweimal von der Erde in den Himmel und von dort wieder zurück bis in den Staub der Erde geführt. Auf die Vorstellung Hiobs, seines Glücks und seiner Frömmigkeit (I: Hi 1,1–5), die zugleich als Exposition des gesamten Buches dient, folgt der erste Blick in die himmlische Welt, wo Jhwh und der Satan am Beispiel Hiobs das Verhältnis zwischen Glück und Glaube problematisieren (II: 1,6–12). Zurück auf der Erde werden vier Schläge gegen Hiob geschildert (III: 1,13.14–19), bevor die Reaktion des frommen Dulders beschrieben und ein Summarium des Erzählers geboten
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Hi 1–2 Der Prolog
werden (IV: 1,20–21.22). Erneut werden die Leser in den Himmel entrückt und werden dort Zeugen eines verschärften Disputs zwischen Jhwh und dem Satan über die Verhältnismäßigkeit der Mittel im Fall der göttlichen Schläge gegen Hiob (V: 2,1–6). Umfasste die Darstellung der ersten Unglücksfälle sieben Verse, so verdichtet sich die Schilderung des letzten Schlags gegen Hiob auf nur einen einzigen Vers (VI: 2,7). War die erste Reaktion Hiobs monologisch gestaltet und ließ der Erzähler Hiob seine Frömmigkeit mittels einer Doxologie ausdrücken (1,21), so sehen die Leser den Leidenden nun in einem kurzen Dialog mit seiner Frau; das Bekenntnis seiner Frömmigkeit erscheint in Gestalt einer rhetorischen Frage (VII: 2,8–10). Der Bericht vom Trostbesuch der drei Freunde Hiobs (VIII: 2,11–13) beschließt einerseits den Prolog, andererseits leitet er zur Dialogdichtung über. Insgesamt fügen sich die acht Szenen des Prologs zu der kompositionellen Struktur A – B1 – B2 – B3 – B1’ – B2 ’ – B3’ – C. A: 1,1–5 B1: 1,6–12 B2: 1,13–19 B3: 1,20–22 C: 2,11–13
(Himmel) (Erde) (Erde)
// // //
B1’: 2,1–6 B2’: 2,7 B3’: 2,8–10
(Himmel) (Erde) (Erde)
Durch den gesamten Prolog zieht sich eine stereotype Zwei- bzw. Viergliedrigkeit. Hiobs Frömmigkeit wird in zwei Wortpaaren genannt (1,1b). In vier zeitgleich gedachten Ereignissen verliert Hiob seinen Besitz und seine Nachkommen (1,13–19). Der erste Bußritus Hiobs umfasst vier Schritte (1,20). Der poetisch gefasste Lobpreis in 1,21 besteht aus vier Stichen. Den zwei Himmelsszenen (1,6–12; 2,1–6) stehen vier Szenen auf der Erde gegenüber (1,13–19.20–22; 2,7.8–10). Narrativ ist der Prolog wie eine Sage strukturiert. So treten höchstens zwei Personen gleichzeitig handelnd oder sprechend auf. Die Erzählhaltung (point of view) entspricht grundsätzlich der auktorialen Erzählsituation bzw. der des allwissenden Erzählers. Dabei herrscht eine unpersönliche Erzählweise vor, die überwiegend beschreibt, berichtet und Handlungen szenisch darstellt. Knappe Erzählerkommentare finden sich nach der Vorstellung Hiobs in 1,1 und 1,3b noch in 1,22 und in 2,10b. Die LXX weist punktuell charakteristische Überschüsse gegenüber dem MT Text- und auf (so in 1,1; 1,4; 1,21 und besonders in 2,8–10). Diese dürften durchgehend Literarsekundär sein. Hi 2,1bβ ist der erste Vers(teil), der in der von Origenes über- geschichte arbeiteten Fassung der LXX nachgetragen wurde.20 20 So mit LXXRa (vgl. Gentry, Asterisked Materials, 537; Woods, Edition, 66f; Cox, NETS-Job). Der Nachtrag wird in den Zeugen für den asterisierten Text auf Aq und Th zurückgeführt. Nach LXXZi findet sich der erste Asteriskus in Hi 7,8.
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Hi 1–2 Der Prolog
Auch wenn der Prolog in der vorliegenden Gestalt einen kunstvollen Aufbau aufweist, so ist er literargeschichtlich nicht aus einem Guss. Vorschläge zur literarischen Schichtung wurden in neuerer Zeit von Wolf-Dieter Syring, Roger Marcel Wanke und Jacques Vermeylen vorgelegt.21 Syring (2004) begrenzt die Grundschicht der ursprünglichen Hioberzählung auf Hi 1,1a.2–3.13– 20a.21aα (mit 42,11aα.b.12b–13?), Wanke (2013) auf Hi 1,1a.2–3a.13–20 (mit 42,11aα.b.12b–17) und Vermeylen (2015) auf Hi 1,1a.2–3.13–20a.21aβ.b (mit 42,10aα.11–13.16b–17 als „récit ‚archaïque‘“).
Nach der hier vorausgesetzten Analyse besteht der Prolog aus einer Grundschicht in Kap. 1, die stufenweise um die Himmelsszenen in 1,6–12 und das gesamte Kap. 2 erweitert wurde.22 Die deutlichste literarische Naht besteht zwischen 1,12 und 1,13. Das Possessivsuffix in 1,13 „seine Söhne und seine Töchter“, das nach dem vorliegenden Text auf den Satan zurückweisen würde, ist nur sinnvoll auf den zuletzt in V. 5 genannten Hiob zu beziehen.23 Für die Annahme, die V. 6–12 seien sekundär, spricht weiterhin, dass sich in der Schilderung der Schläge gegen Hiob in 1,13–19 keine Hinweise auf die Aktivität des Satans finden. In der Reaktion Hiobs auf sein Unglück erscheint als Ursache des Leidens ausschließlich Jhwh selbst, aber nicht der Satan (1,21). Wenn die erste Himmelsszene literargeschichtlich sekundär ist, dann gilt dies auch von der zweiten Himmelsszene (2,1–6). Mit der zweiten Himmelsszene verknüpft und dementsprechend sekundär sind 1) der Bericht vom zweiten Schlag gegen Hiob (2,7–8), 2) die davon abhängige Schilderung des Dialogs zwischen Hiob und seiner Frau (2,9–10a), die sprachlich auf die besondere Verwendung von „segnen“ (berak) in 1,11 und 2,5 und auf die Rede Jhwhs in 2,3 zurückgreift, sowie 3) die Erzählerkommentare in 1,22 und 2,10b, Hiob habe nicht gesündigt (ḥāṭāʾ), die ebenfalls auf 1,11 bzw. 2,5b reagieren. Auf der Linie dieser Notizen und dem thematischen Schwerpunkt der Himmelsszenen, dem Motiv des „Segnens Gottes“, liegt auch die ausdrückliche Begründung des vorsorgenden Opfers Hiobs für seine Kinder, weil diese möglicherweise gesündigt haben (ḥāṭāʾ, 1,5aα*.β von kî bis bilbābām, vgl. 1,22; 2,10b), so dass dieser Versteil gleichsam redaktionell ist. Dies könnte auch für die Einordnung Hiobs unter die b enê-qædæm in 1,3b gelten, wodurch der Erzählfluss zwischen 1,3a und 1,4 unterbrochen wird. Hingegen dürfte die vierfache Kennzeichnung Hiobs als frommer Mann in 1,1b zum ursprünglichen Bestand der Novelle gehören und den Himmelsszenen ein wesentliches Motiv geliefert haben (vgl. 1,8; 2,3). Nach der Ausgrenzung der Himmelsszenen und der davon abhängigen Abschnitte des Prologs ergibt sich eine dreigliedrige Erzählung, bestehend aus einer Exposition Syring, Hiob, 54–104, 168; Wanke, Praesentia Dei, 79–120; 430; Vermeylen, Métamorphoses, 183–189; vgl. dazu auch unten die Auslegung von Hi 42,7–18. Zu älteren Schichtungsvorschlägen siehe Syring, Hiob, 37–40. 22 Die ausdrückliche Rückführung der Himmelsszenen auf eine andere Hand findet sich erstmals 1847 bei Heiligstedt, XVII–XX; zum forschungsgeschichtlichen Hintergrund siehe Syring, Hiob, 32. 23 LXX hat dies verdeutlicht: „die Söhne Hiobs“. 21
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(1,1–3a.5*), einem Hauptteil (1,13–19) und einem Schluss (1,20–21). Bereits diese Erzählung geht nicht auf ein altes „Volksbuch“ zurück,24 sondern erscheint als eine kunstvoll konstruierte Lehrerzählung (Hiobnovelle). In ihrem Mittelpunkt steht der beispielhaft gesegnete Hiob, der unverschuldet ins Unglück gerät und sein von Gott geschicktes Leid demütig annimmt. Diese Erzählung fand ihre ursprüngliche Fortsetzung in 42,11–17*. Ihre kompositionelle und theologische Mitte besitzt sie in dem poetisch formulierten und dreimal das Tetragramm verwendenden Bekenntnis Hiobs zu Jhwh, das mit dem Lobpreis Jhwhs endet (jhwh meborāk). Hi 42,12 nimmt genau diese Worte in umgekehrter Folge auf, indem nun der neue Segen über Hiob beschrieben wird (jhwh berak): Der gottesfürchtige Hiob deutet sein Schicksal als ein Handeln Jhwhs, der in Freiheit gibt und nimmt. Hiob bewährt sich so im Leid und wird dementsprechend von Jhwh neu gesegnet. Leiden dient der Bewährung des Frommen. Natürlich weiß Hiob nichts von den Geschehnissen am himmlischen Hofstaat. Insofern könnte als Argument gegen die literarkritische Isolierung der ersten Himmelsszene der auktoriale Erzählstil des Verfassers angeführt werden, der die Leser mehr als seinen Helden wissen lässt. Zwei weitere Beobachtungen sprechen aber gegen eine Ursprünglichkeit der Himmelsszenen und für die vorgeschlagene literarkritische Differenzierung. Zum einen sind die Himmelsszenen im Gegensatz zu der genannten Grundschicht begrifflich und motivisch eng mit der Dialogdichtung in Kap. 3,2–42,6 vernetzt. Dies zeigt sich u. a. am Begriff „umherwandeln“ (hālak Hitp.) in 1,7; 2,2; 18,8; 22,14 und 38,16, an der Bezeichnung Hiobs als Gottes Diener (ʿæbæd) in 1,8; 3,19 und 7,2, am Motiv vom göttlichen Umzäunen (śûk/sākak) Hiobs in 1,10 und 3,23, am Begriff „ohne Grund“ (ḥinnām) in 1,9; 2,3 und 9,17, am Motiv von der Hand (jad) Gottes, die Hiob „berührt“ (nāgaʿ), in 1,11 und 19,21, an der Wendung „an seiner Frömmigkeit/Gerechtigkeit festhalten“ (hæḥæzîq b etummātô/b eṣidqātô) in 2,3; 2,9 und 27,6, am Motiv vom Verschlingen (bālaʿ) in 2,3 und 10,8 sowie an der Beschreibung der körperlichen Leiden Hiobs in 2,4–8 und 7,5; 19,20.
Zum anderen bieten die Himmelsszenen mit der Figur des Satans, der Jhwh zum Schlag gegen Hiob verführt, eine andere theologische Erklärung des Leidens als die Grundschicht, in der allein Jhwh als die Ursache des Leidens Hiobs erscheint. Eine ähnliche Veränderung des Gottesbildes findet sich in dem nicht kanonisch gewordenen, nur auf Äthiopisch vollständig vorliegenden Jubiläenbuch (2. Jh. v. Chr.) und einer damit vergleichbaren aus Qumran bekannten hebr. Nacherzählung von Gen 22. So geht in 4Q225 im Gegensatz zu Gen 22 die Aufforderung an Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern, nicht ausschließlich auf Jhwh zurück, sondern auf den mit dem Satan vergleichbaren „Fürsten der Anfeindung“ (śar masṭ emāh), der Gott zur Versuchung Abrahams anstiftet:
24
S.o. S. 52.
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Hi 1–2 Der Prolog Und danach wurde Abraham ein Sohn geboren, und er gab ihm den Namen Isaak. Und der Fürst der Anfeindung kam zu Gott und feindete (sṭm) Abraham im Blick auf Isaak an. Da sagte Gott zu Abraham: Nimm deinen Sohn, den Isaak, deinen einzigen, den du liebst, und bringe ihn mir als Brandopfer dar. (4Q225 frgm. 2 I,8–12, vgl. Jub 17,16).25
Die Einführung der drei Freunde Hiobs (2,11–13) dient dann der literarischen Vorbereitung der Dichtung. Die Notiz in 42,11, der zufolge Hiob von seinen Verwandten besucht wurde (vgl. 42,11aα.b), deutet darauf hin, dass die Freundesszene in einer älteren Gestalt der Novelle nicht enthalten war und die Namen der Freunde aus den Überschriften der Reden in 4,1; 8,1 und 11,1 entlehnt sind. 1,1–5 Die Vorstellung des frommen und gesegneten Hiob 1,1 Das Buch beginnt wie ein Märchen. Bewusst lautet das erste Wort des Buches abweichend von der klassischen atl. Erzählweise nicht waj ehî („und es geschah“), sondern ʾiš hājah („es war [einmal] ein Mann“).26 Das erste Wort des Buches beginnt mit dem ersten Buchstaben des hebr. Alphabets (ʾ) – ein erstes Zeichen dafür, worum es im Folgenden geht: um Erstes, um Grundlegendes der Existenz. Berücksichtigt man, dass die klassischen hebr. Erzählungen mit einem historisierenden Narrativ beginnen und dass sich die einzige echte syntaktische Parallele zu Hi 1,1 in der Eröffnung der Nathanparabel in 2Sam 12,1 findet, könnte man des Weiteren aus diesem Buchanfang schließen, der Verfasser wolle seine Erzählung aus dem Horizont der Geschichte herausheben und als Fiktion, als Gleichnis (māšāl) stilisieren.27 In der LXX ist dieses Moment verstärkt, wenn der Beginn mit ἄνθρωπός τις ἦν übersetzt wird, was in der Eröffnung von Gleichnissen oder Beispielerzählungen begegnet.28 Erstaunlicherweise wird zunächst nicht der Name des Mannes, dessen Geschick im Mittelpunkt des Buches steht, mitgeteilt, sondern sein Herkunftsort: das Land Uz. Aus israelitischer Perspektive handelt es sich damit um einen Ausländer.
25 Newsom, Reception, 106f, vermutet, dass die Passage im Jubiläenbuch von Hi 1–2 abhängig sei; denkbar ist aber auch eine parallele theologiegeschichtliche Entwicklung. 26 Vgl. 2Sam 12,1; 1Kön 21,1; Est 2,5; Hhld 8,11; Jes 5,1. 27 Vgl. Fz. Delitzsch, 43; Gordis, 10, und dazu den Beginn des Bekenntnisses eines Anhängers der Göttin Mut in seinem Grab in Theben (Nr. 9, um 1250 v. Chr.): „Es war einmal ein Mann aus dem südlichen Heliopolis, ein wahrer Schreiber in Theben; Simut war sein Name von seiner Mutter her, genannt Kiki, gerechtfertigt.“ (Übersetzung von J. Assmann, ÄHG 173, 401; vgl. TUAT II, 879–882 und dazu P. Vernus, Littérature et autobiographie. Les inscriptions de S3–Mwt surnommé Kyky, RdE 30 (1978) 115–146, besonders 115–119; 144) sowie die Eröffnung der vielleicht aus dem 8. Jh. v. Chr. stammenden akkad. Erzählung Der arme Mann von Nippur 1–3: „Ein Mann aus Nippur, dürftig und arm, Gimil-Ninurta sein Name, ein sehr bedrückter Mensch, saß in seiner Stadt Nippur gequält da.“ (Übersetzung von W. von Soden, TUAT III, 175). 28 Vgl. BelDr 2; Lk 14,2; 16,1; Aesop, fab. Syntipae phil. 2,1; siehe auch Apg 10,1–2; JosAs 1,3.
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Uz
Exkurs
Donner, H.: Pilgerfahrt ins Heilige Land. Die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4.– Literatur 7. Jh.), Stuttgart 22002. – Fartacek, G.: Pilgerstätten in der syrischen Peripherie. Eine ethnologische Studie zur kognitiven Konstruktion sakraler Plätze und deren Praxisrelevanz, Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.PH 700, Wien 2003, 64–67. – Görg, M.: Ijob aus dem Lande ῾Ūṣ. Ein Beitrag zur „theologischen Geographie“, BN 12 (1980) 7–12. – Knauf, E.A.: Supplementa Ismaelitica 4. Ijobs Heimat, BN 22 (1983) 25–29. – Ders.: Hiobs Heimat, WO 19 (1988) 65–83. – Schmitt, G.: Die Heimat Hiobs, ZDPV 40 (1985) 56–63. – Simon, J.: The Geographical and Topographical Texts of the Old Testament. A Concise Commentary in XXXII Chapters, Leiden 1959. – Wetzstein, J.G.: Das Hiobskloster in Hauran und das Land Uz, in: Fz. Delitzsch, Das Buch Iob, BC IV/2, Leipzig 21876, 550–604. Als Orts- und Landschaftsname erscheint Uz in der Wortverbindung ʾæræṣ (hā-)ʿûṣ „Land Uz“ in Hi 1,1; Jer 25,20 und Klgl 4,21. Die LXX übersetzt in Hi 1,1 mit Ausitis, worin ihr der jüdischhellenistische Exeget Aristeas (2./1. Jh. v. Chr.)29 und das TestHiob 28,7 (1./2. Jh. n. Chr.)30 folgen, während die griech. Übersetzer Aquila und Theodotion einfach Ους transkribieren. Über den MT hinausgehend, bietet die LXX die Landschaftsbezeichnung Ausitis noch in Hi 32,2 und in einem nur in der LXX überlieferten Epilog zum Hiobbuch in 42,17b. Vg bietet Ausitis (in Jer 25,20) und Hus (in Klgl 4,21 und Hi 1,1). In der Forschung werden im Wesentlichen zwei Lokalisierungen diskutiert: Edom und Aram. 1) Für eine Lokalisierung im Bereich Edom kann auf Gen 36,28 (par. 1Chr 1,42); Klgl 4,21; Jer 25,20 und Hi 42,17bLXX („Ausitis an den Grenzen Idumäas und Arabiens“) verwiesen werden. Der antike Geograph Claudius Ptolemäus (2. Jh. n. Chr.) berichtet von Ausitern im ostarabischen Bereich (geogr. 5, 19,2). Für eine Verortung in Nordwestarabien, im Ḫeǧaz, könnte auch eine safatenische (altsüdarabische) Inschrift sprechen, in der das arab. Äquivalent zu Uz ʿAuḍ als Stammes- oder Landschaftsname auftaucht.31 Eine junge islamische Tradition ist die sich auf Hi 1,1 beziehende Verehrung des Grabes Hiobs in Salalah im Oman. 2) Für eine Lokalisierung in Aram sprechen Gen 10,23; 22,21 und 1Chr 1,17. Eine Verortung von Uz im aram. Bereich, genauer im Hauran oder im Safa-Gebiet, legt zudem eine Notiz bei Josephus (1. Jh. n. Chr.) nahe, der zufolge Ουσης der Gründer der nordostjordanischen Landschaft der Trachonitis und von Damaskus war.32 Bereits seit altkirchlicher Tradition, die möglicherweise auf jüdische Wurzeln zurückgeht und die sich auch in islamischen Traditionen niedergeschlagen hat, wird die Heimat Hiobs in Südsyrien in und um Karnaia/Carneas (aš-Šēḫ Saʿd) gesucht.33 So wird dort auf Ruinen eines byzantinischen Hiobsklosters (Dēr ʾAjjūb), auf eine Quelle Hiobs, auf einen Stein Hiobs und – an unterschiedlichen Punkten – auch auf das Grab Hiobs (s. o.) verwiesen.34 Nicht überzeugend ist die Zusammenstellung von Uz mit dem äg. Wort ʿd bzw. ʿ3d, das die Wüstenrandzone bezeichnet.35 Allerdings gibt es bereits eine frühjüdische Verbindung von Hiob mit Ägypten, wenn Hiob alias Jobab als Herrscher über ganz Ägypten bezeichnet (TestHiob 28,7) und zu den Hofleuten des Pharao gezählt wird.36 Einzelne Hss des rabbinischen Hiob-Targums haben das Land Uz schließlich mit Armenien identifiziert. Auf einen aram. Hintergrund einerseits und einen edomitischen Hintergrund andererseits verweisen auch die Belege für die Verwendung von Uz als Personenname in Gen 10,23 (par. 1Chr 1,17, vgl. 1QM 29 JSHRZ III, 295. Zum Verhältnis zwischen der Hiobparaphrase des Aristeas und der LXX siehe die Auslegung der Nachschrift in Hi 42,17LXX. 30 JSHRZ III, 348. 31 Knauf, Hiobs Heimat, 68. 32 Vgl. Josephus, ant. Iud. 1, 145 (6,4); zur Trachonitis siehe auch Lk 3,1 und Strabo, geogr. 16, 2,16.20. 33 Zur Lage vgl. Tübinger Bibelatlas, B VI 10; Koordinaten: 2473.2495; 32 °50’11 N/36 °02’12 O. 34 Vgl. Schmitt, Heimat; Donner, Pilgerfahrt, 110f; 116f. 35 So aber Görg, Ijob, 12. 36 Vgl. jSota 5,8; Oberhänsli-Widmer, Hiob, 91.
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II,11); 22,21; 36,28 (par. 1Chr 1,42) und Jdt 8,1. Die LXX transkribiert in diesem Fall zumeist als Ως bzw. als Ωξ. Bei Josephus finden sich die Formen Ουσης und Ουξος.37 Vg transkribiert Us und Hus. In Gen 10,23, einer Passage der Völkertafel der Priesterschrift, erscheint Uz neben Hul, Geter und Masch als Sohn Arams und als Enkel Sems. Er gilt dementsprechend als Eponym eines aram. Stamms. In 1Chr 1,17 wird er direkt als Sohn Sems neben Aram geführt. Nach Gen 22,21, einer quellenmäßig schwer einzuordnenden Liste der Söhne Nahors und Milkas, ist Uz ein Bruder von Bus und Kemuel, „dem Vater der Aramäer“, steht also offenbar ebenfalls für einen aram. Stamm. In Gen 36,28–29 zählt Uz zu den „Stammesfürsten der Horiter in Seir“ und ist folglich ein Edomiter (vgl. 1Chr 1,42). In der Genealogie der Judit ist Uz (Ωξ) der Sohn eines Joseph und Großvater der Heldin (Jdt 8,1). Eine geographische Verortung lässt sich aus diesem künstlich gebildeten Stammbaum nicht erheben. In beiden möglichen Fällen einer geographischen Lokalisierung (Aram, Edom) liegt Uz in einem östlichen Grenzgebiet Palästinas außerhalb Israels (vgl. Hi 1,3).
So stellt sich die Frage, ob der Erzähler nicht wagte, einem Israeliten das Geschick eines leidenden Gerechten zuzuschreiben und diesem scharfe Klagen gegen Israels Gott Jhwh in den Mund zu legen. Dies ist jedoch kaum anzunehmen, denn die Klage vor Jhwh, die sich bis zur Anklage gegen den als feindlich erfahrenen Gott steigern kann, gehört zu den Grundmustern der atl. Gebete (vgl. Ps 22,1–2; Jer 20,7). Möglicherweise fühlte sich der Erzähler an eine alte Tradition gebunden, die das im Folgenden Geschilderte im Land Uz, sei es nun in Edom oder in Aram, verortete. Der eigentliche Grund der Lokalisierung des Geschehens in Uz (ʿûṣ) liegt aber tiefer als die Frage nach der Geographie. So kennt das Hebräische neben dem Nomen ʿûṣ ein gleichlautendes Verb, mit der Bedeutung „einen Plan fassen/raten“ (vgl. Jes 8,10; Ri 19,30). Dabei handelt es sich um eine Nebenform des auch im Hiobbuch mehrfach belegten Verbs jāʿaṣ „raten/beraten“ (vgl. 3,14; 12,17; 26,3). Beide Verben (ʿûṣ und jāʿaṣ) hängen eng mit dem Nomen ʿeṣāh „Rat/Ratschluss/Plan“ zusammen, das im Hiobbuch eine zentrale Rolle spielt.38 Demzufolge heißt es zu Beginn des Buches Hiob: „Es war ein Mann im Land des Ratens.“ So ahnen die Leser schon nach den ersten Worten, was sie im Folgenden erwartet: ein Raten und ein Rätseln. Zunächst wird sich Jhwh mit dem Satan beraten (1,6–12), dann wird Hiobs Frau dem Dulder raten, Gott zu ,segnen‘ und zu sterben (2,9–10). Schließlich werden Hiob und seine Freunde einander raten und gemeinsam rätseln (3,1–28,28), bevor Jhwh den kosmischen Ratschluss (ʿeṣāh) endgültig skizziert (38,2) und Hiob sich in diesen Rat einfügt (42,3). Letztlich rät der Leser, der die Aufgabe der fortlaufenden Enträtselung hat. Zutreffend schrieb bereits Maimonides (1135/38–1204), dass der Verfasser mittels der Verwendung des Homonyms ʿûṣ schon zu Beginn der Lektüre die Leser auffordere, das im Buch Hiob enthaltene Gleichnis zu erwägen, die darin enthaltenen Lehren zu erfassen, diese zu verstehen und den wahren Glauben zu sehen.39 Erst in einem zweiten Atemzug wird der Name des Helden mitgeteilt. In Alliteration mit dem Eröffnungswort des Buches ʾîš heißt dieser ʾijjôb – „Wo ist der
Josephus, ant. Iud. 1, 145 (6,4); 1, 153 (6,5). Vgl. Hi 5,13; 10,3; 12,13; 18,7; 21,16; 22,18; 29,21; 38,2; 42,3; vgl. Ginzberg, Legends, II, 231; V, 384; Didymos, Kommentar, zu Hi 1,1 (Henrichs, I, 10); Greenstein, 4. 39 Maimonides, Führer der Unschlüssigen (III, 22), Bd. 3, 131. 37 38
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Vater?“.40 Der Satzname thematisiert die Frage nach dem Schöpfer, dem Garanten von kosmischer und individueller Ordnung, dem Stifter und Erhalter von Gerechtigkeit im Leben des Einzelnen und der Welt und somit Grundfragen der Existenz: Das Hiobbuch ist ‚Rede von den ersten Dingen‘. Nur diesen Namen teilt der Erzähler mit, die Leser erfahren nichts über den Namen des Vaters oder der Sippe Hiobs. Erst in einem historisierenden Nachtrag der LXX wird Hiob über die Gleichsetzung mit dem in der Genesis genannten Jobab (Gen 36,33– 34) geneaologisch verortet (HiLXX 42,17b–c). Im hebr. Original fehlt jede Einordnung Hiobs in einen Stammbaum, die sonst typisch für eine althebr. Erzählung ist (vgl. Gen 11,26–29). Hiob, der Jemand aus dem Land des Ratens, ist keine Figur der Historie, auch nicht der fiktiven, sondern des protologischen Gleichnisses. Anstelle der Genealogie des Helden steht die Charakteristik als fromm, aufrichtig, gottesfürchtig und sich vom Bösen fernhaltend. Vierfach unterstrichen erscheint der Mann namens Hiob als ein Muster an Religiosität und Moralität. In Begriffen, die ihren ursprünglichen Sitz im Leben im Bereich der Weisheit haben,41 wird Hiob als exemplarisch frommer und weiser Mensch vorgestellt. Allerdings verfügen die Begriffe, mit denen Hiob charakterisiert wird und die losgelöst von ihrem literarischen Kontext im Hiobbuch eindeutig termini technici der Frömmigkeit sind, über eine merkwürdige Ambivalenz. Hiob ist ethisch vollkommen, rechtschaffen, integer, er ist tām.42 Bezeichnenderweise beginnt das erste Wort der vierfachen Qualifikation Hiobs mit dem letzten Buchstaben des hebr. Alphabets, taw, im Kontrast zur Eröffnung des Buches mit dem ersten Buchstaben. Schon auf der Mikroebene des Buches zeigt sich, dass es im Hiobbuch um Erstes und Letztes gehen wird. Hierbei ist das Wort tām doppeldeutig: Hiob ist voll-endet, schon am Anfang ist er am Ende (vgl. das Verb tāmam in Lev 26,20). Die Ambivalenz wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass der von derselben Wurzel wie tām abgeleitete Begriff tāmîm nicht nur „fromm“ bedeutet,43 sondern zumeist das makellose Opfertier bezeichnet (vgl. Ex 12,5; 29,1; Lev 1,3): Hiob ist das tadellose, vollkommene Opfer. Hiob ist aufrichtig (jāšār), er ist geradlinig gegenüber Gott und den Menschen (vgl. Spr 2,7.21; 3,32; 11,3; 14,2). Hiob kennzeichnet damit ein Wesenszug, der gelegentlich auch mit den Begriffen „gerecht“ (ṣāddîq) oder „unschuldig“ (nāqî) bezeichnet werden kann und der sich in einem gemeinschaftsgerechten Verhalten zeigt (Hi 4,7; 8,6; 23,7). Hiob entspricht den Anforderungen, welche die religiöse Gemeinschaft mit Gott und die soziale Gemeinschaft mit seiner Umwelt an ihn stellen. Und doch wird er, der Aufrechte und Gerade, sich schon bald von Gott gekrümmt erleben (9,20; 19,6). Hiob ist gottesfürchtig (jāreʾ ʾ ælohîm). Doch zur frommen Ehrfurcht (4,6; 15,4; 28,28)44 wird sich bei Hiob existenzielle Furcht vor dem Numinosen Zur philologischen Herleitung des Namens s.o. S. 6f. Vgl. Spr 3,7; 14,16; 16,6; 29,10; Ps 25,21; 37,37. 42 Vgl. Hi 1,8; 2,3; 9,20–22; Ps 25,21; 37,37; 64,5; Spr 29,10. 43 Vgl. Gen 6,9 (Noah); 17,1 (Abraham); 11QPsa XXVII,3 (David); Dtn 18,13 (Israel); 4Q223– 224 frgm. 2 III,18 (vgl. Jub 36,23) (Lea). 44 Vgl. des Weiteren Ex 18,21; Jes 50,10; Mal 3,16; Ps 15,4; 19,10; 25,12.14; 37,37; 111,10; Spr 1,7; 3,7; 31,30; Sir 1,11–21 (G). 40 41
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gesellen. Wie der gottesfürchtige Abraham in der Erzählung von der Opferung Isaaks (Gen 22,12) fürchtet auch Hiob Gott und will sich doch nicht vor diesem angesichts der Bedrohung durch ihn fürchten (Hi 9,35). Eine ähnliche Ambivalenz der Gottesfurcht vertritt das spätweisheitliche Koheletbuch (vgl. Pred 7,18; 8,12). Hiob ist einer, der sich vom Bösen fernhält (sār merāʿ), er flieht (sûr) vor dem, was dem Leben schadet (rāʿ). Das Meiden, das sich Fernhalten vom Bösen ist das Merkmal eines Weisen45 und eines gottgefälligen Lebens (Jes 59,15). Aber neben das Ethos der Abgrenzung vom Bösen (Hi 1,8; 2,3; 28,28) tritt bei Hiob die existenzielle Begegnung mit dem Bösen (2,7; 30,26; 42,11). Auch hier ist das Hebräische doppeldeutig, insofern rāʿ (griech. πονηρός) das Böse oder den Bösen bezeichnen kann. Die LXX qualifiziert, über den MT hinausgehend,46 Hiob ausdrücklich als einen „Gerechten“ (δίκαιος). Dies bezieht sich einerseits auf Ez 14,14 (vgl. auch Sir 49,9 [HB]) und hat sich andererseits in den Über- und Unterschriften einzelner griech. Hiobhandschriften niedergeschlagen. Insgesamt wird die „Gerechtigkeit“ (δικαιοσύνη) Hiobs in der LXX stärker betont als im MT (vgl. HiLXX 6,29; 12,4; 32,1; 33,12). Eine solche sekundäre Anlagerung des Epithetons „gerecht“ an Frömmigkeitsaussagen einzelner Figuren ist auch an anderen Stellen des AT nachweisbar (vgl. z. B. Gen 6,9 für Noah).47 Im Horizont der antiken griech. Literatur teilt Hiob dieses Prädikat z. B. mit Sokrates (vgl. Aristoteles, rhet. 1357b). 1,2–3 An der Seite von Hiobs ethischer und religiöser Integrität steht sein persönliches und wirtschaftliches Gedeihen. Hiob ist nicht nur der Modellfall menschlicher Sittlichkeit, sondern auch göttlichen Segens: Sieben Söhne und drei Töchter – hyperbolische Zahlen aus der Welt des Märchens, der Sage (vgl. Rut 4,15) und des Mythos (vgl. Baʿal-Zyklus V,v,8–11)48 – sind ebenso wie der Reichtum an Vieh (vgl. 1Sam 25,2; 2Kön 3,4), aus dem sich auf einen sehr großen Besitz von Acker- und Weideland sowie von Handelswaren49 schließen lässt, und sein Besitz an Knechten ein Zeichen der Vollkommenheit (vgl. Ps 127,3–5; 128,3).50 Sie stellen Hiob neben die Erzväter Israels, Abraham, Isaak und Jakob.51 Hiobs Vgl. Spr 3,7; 4,27; 14,16; 16,6.17; Ps 34,15; 37,27; Sir 38,10. Übersetzungstechnisch könnte es sich um eine doppelte Wiedergabe von jāšār handeln (vgl. Dhont, Double Translation, 477–480). 47 C. Levin, Der Jahwist, FRLANT 157, Göttingen 1993, 111. 48 KTU 1.5 V,8–11 (TUAT.NF VIII, 228). 49 Für den Transport wurden Kamele und Esel benutzt (siehe dazu P. Riede, Art. „Kamel“, wibilex 2010 (Zugriffsdatum: 6.11.2020) (https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/23148/); ders., Art. Esel“, wibilex 2010 (Zugriffsdatum: 6.11.2020) (https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/171820/). Dass in V. 2 ausdrücklich Eselinnen genannt werden, erklärt sich vor dem Hintergrund, dass diese Junge zur Welt bringen und Milch geben können und somit als wertvoller galten als männliche Esel (vgl. Horst mit Hinweis auf Gen 32,15–16). 50 Zur Betonung des besonderen Reichtums, der in TestHiob 9–15 (unter Rückgriff auf Motive aus Hi 29 und 31) noch vergrößert und als Mittel der Barmherzigkeit Hiobs gegenüber den Armen stilisiert wird, vgl. auch die Stilisierung Appus im heth. Appu-Märchen A I,9–15, der allerdings (zunächst) keine Kinder hat (TUAT III, 848). 51 Vgl. Gen 13,2; 24,35; 26,13–24; 30,43. 45 46
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Frömmigkeit und Wohlstand kennzeichnen sein besonderes Glück. Dabei vermittelt die syntaktische Fügung von V. 1–3a den Eindruck, dass Hiobs Glück im Sinn der Vorstellung eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs bzw. konnektiver Gerechtigkeit die Konsequenz seiner Frömmigkeit darstellt.52 Die Vorstellung Hiobs schließt mit der möglicherweise sekundär eingefügten Notiz der einzigartigen Stellung Hiobs unter den b enê qædæm (V. 3b). Auch hier greift der Versuch, die Angabe im Sinne „Söhne des Ostens/Ostleute“53 geographisch zu erklären, zu kurz. Der Begriff qædæm bezeichnet nicht nur räumlich das, was beim Sonnenaufgang vor Augen liegt, den „Osten“, sondern auch das zeitlich Vorangegangene, „die Urzeit“ oder „die Vorzeit“54. Die „Urzeit“ aber gilt im antiken Denken als die Zeit beispielhafter Setzungen. Grundlagen der Existenz gründen in der Urzeit. In den Urzeitmythen werden Gegenwartserfahrungen ätiologisch und paradigmatisch reflektiert (vgl. Gen 2,8). So verweist auch die Angabe, Hiob sei bedeutender als alle „Söhne der Urzeit“ gewesen, auf den außergewöhnlichen, gleichnishaften und überzeitlichen Charakter seines Geschicks. Auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ korrespondiert dies mit der Charakteristik Hiobs in 1,1b. Die Verse dienen der erzählerischen Entfaltung der besonderen Frömmigkeit 1,4–5 Hiobs. Das Bild der regelmäßig im eigenen Haus der Söhne (vgl. 2Sam 13,7–8; 14,31) feiernden Kinder unterstreicht Hiobs Familiensegen und blickt zugleich auf den Untergang der Nachkommenschaft voraus (1,13.19). Mit den Begriffen jôm („Tag“) und barek („segnen“) finden sich zwei Leitwörter der gesamten Hiobnovelle. Unklar ist, ob die Versammlung zu einem Festmahl jeweils am Geburtstag eines Sohnes stattfindet (V. 4aβ, vgl. Hi 3,1; Gen 40,20 [Geburtstag des Pharao]), jeweils an einem Tag der Woche, so dass jeden Tag bei einem Sohn gefeiert wird, oder ob einfach reihum (jeweils sieben Tage lang) im Kreise der Kinder gefeiert wird. Der Schwerpunkt liegt jedenfalls auf der Betonung des Wohlstandes der Kinder Hiobs (vgl. Lk 16,19) und auf der besonderen religiösen Sorge ihres Vaters. Ohne Vermittlung eines Priesters heiligt (qiddeš) Hiob seine Söhne; d. h. er macht sie fähig, an der dann folgenden Opferhandlung teilzunehmen (vgl. Ex 19,10; Jos 7,13; 1Sam 16,5). Wie Noah nach der Sintflut (Gen 8,20) und Abraham auf Morija (Gen 22,13) bringt er selbst Brandopfer (ʿolôt) dar, Opfer, bei denen das Opfertier, abgesehen von unreinen Bestandteilen, vollständig verbrannt wird (vgl. Lev 1). Mit beiden Figuren, Noah und Abraham, verbindet Hiob auch die Kennzeichnung als einzigartigen Frommen (vgl. Gen 6,9; 17,1; 22,12), der sich in der Krise bewährt. So fällt für den Leser der Genesis ein ganz besonders Licht auf Hiob. Insbesondere die Parallelen zwischen Gen 22 und Hi 1 sind schon den Rabbinen aufgefallen. Sie haben im Talmud und im Midrasch eine heftige DisSiehe dazu die Einleitung S. 27f; 30f. Vgl. Gen 29,1, Ri 6,3; 7,12; 1Kön 5,10; Jes 11,14; Jer 49,28; Ez 25,4; siehe auch die äg. Erzählung des Sinuhe § 8,7; 25,11; 31,2 (TUAT III, 884–911, hier: 890f; 901; 904) sowie die Einleitung der Prophezeiung d. Neferti (Blumenthal, Prophezeiung, 2: „ein Weiser aus dem Osten“). 54 Vgl. Dtn 33,15; Jes 19,11; Ps 68,34; Sir 16,7 (HA/B). 52 53
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kussion entfacht, ob Abrahams oder Hiobs Frömmigkeit höher einzuschätzen sei.55 In literarhistorischer Perspektive stellt sich die Frage nach der literarischen Beziehung zwischen beiden aus einem weisheitlichen Umfeld der persischen oder hellenistischen Zeit stammenden Kunsterzählungen über Gottes Wesen und seine Gerechtigkeit.56 Wie Abraham sich bei der Prüfung seiner Gottesfurcht am frühen Morgen auf den Weg macht, um Isaak zu opfern (Gen 22,3), so bringt Hiob am frühen Morgen, d. h. zu der Zeit, die dem antiken Menschen als die günstigste für die heilsame Begegnung mit der Gottheit gilt (Ps 46,6), sein Opfer. Die LXX lässt über den hebr. Text hinausgehend Hiob zusätzlich „ein Kalb als ein Sündopfer für sie“ opfern (1,5LXX, vgl. 42,9–10 LXX) und verdeutlicht so, dass es sich um ein stellvertretendes und vorsorgendes Sühneopfer handelt (vgl. Lev 4,2–3). Vielleicht – so konkretisiert der Buchredaktor – haben Hiobs Söhne in ihrem Denken an und über Gott (vgl. Spr 16,9) ihr Ziel verfehlt und hierdurch gesündigt (ḥāṭāʾ). Als mögliche Zielverfehlung erscheint das stille Fluchen (wörtl.: Segnen, ber akû!, s. u.) der Söhne, das abschätzige oder leichtfertige Denken von Gott, aus dem der Missbrauch des göttlichen Namens fließen kann (Ex 20,7; Dtn 5,11). Dass beim Wein ein unbedachtes Wort fallen kann, ist den Weisen bewusst (vgl. Spr 20,1; Sir 31,30) – es muss ja nicht gleich zu den Auswüchsen kommen, welche die Erzählungen von Noahs Weinberg (Gen 9,20–27), Lots Töchtern (Gen 19,30–38) oder Belsazars Frevel (Dan 5) veranschaulichen. Ungelöst ist die Frage, ob das Wort ber akû („sie segneten“) hier ein textlich ursprünglicher Euphemismus für „fluchen“ ist oder ob spätere Schreiber aus frommer Scheu ein originales qill elû („und sie schmähten/sie machten niedrig“, vgl. Hi 3,1) durch ber akû ersetzt haben.57 Angesichts der wichtigen Rolle, die das Motiv des Segens im Prolog und Epilog spielt, und angesichts der Tatsache, dass der Begriff berak zur Beschreibung der Kommunikation zwischen Gott und Mensch siebenmal in der Rahmenerzählung begegnet,58 dürfte die Form ber akû textkritisch nicht zu beanstanden und die Doppeldeutigkeit im Sinn von „segnen“ und „absagen“ beabsichtigt sein.59 Die Frage nach dem Grund und Ziel des Segens als einer Form der Begegnung zwischen Gott und Mensch erscheint so als ein zentrales Problem des Prologs und damit des gesamten Hiobbuches. In seiner skrupulösen Frömmigkeit ist Hiob ein Ideal des Frommen, wie ihn die aus dem 1. Jh. v. Chr. stammenden Psalmen Salomos beschreiben: 55 Vgl. Witte, Hiobs viele Gesichter, 171–189; Assmann, Der „leidende Gerechte“, 203 („Abraham – nicht Hiob – ist der paradigmatische ‚leidende Gerechte.‘“). 56 Vgl. dazu Veijola, Abraham und Hiob; A. Michel, Ijob und Abraham, 73–98. 57 Einen eindeutig negativen Begriff verwenden LXX; Syr und Tg, während Aq; Th und Vg dem Wortlaut des MT genau entsprechen. 58 Vgl. Hi 1,5.10.11.21; 2,5.9; 42,12. In der Dichtung erscheint die Wurzel brk nur zweimal im zwischenmenschlichen Zusammenhang in 29,13 (b erākāh „Segen“) und in 31,20 (berak). Siehe dazu ausführlich Leuenberger, Segen, 418–443. 59 Vgl. 1Kön 21,10.13; Ps 10,3, siehe dazu auch CTAT 50/5, 1–4, und Seow, 271, der die Verwendung von brk als Antiphrase und Ironie erklärt.
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Der Gerechte prüft in jeder Hinsicht sein Haus, um Unrecht zu beiseitigen in seiner Übertretung. Er sühnt für seinen Irrtum mit Fasten und demütigt seine ‚Seele‘. Und der Herr reinigt jeden frommen Mann und sein Haus. (PsSal 3,7–8, vgl. PsSal 6,5).
Der erste Dialog zwischen Jhwh und dem Satan
1,6–12
Mit der ersten Himmelsszene meldet sich eine andere literarische Stimme als 1,6 in den vorangegangenen Versen: Die Buchredaktion öffnet einen Blick in den Himmel und lässt das Leiden Hiobs an dem Tag (jôm) beginnen, da sich die Söhne Gottes vor Jhwh versammeln und der Satan das Verhältnis zwischen erlebtem Glück und gelebter Religion problematisiert (1,6–12). Die Häufung des Begriffs Tag (jôm) in 1,4–6 deutet darauf hin, dass der Verfasser der ersten Himmelsszene die eigentlich neutrale Wendung „und es geschah eines Tages“ (waj ehî hajjôm V. 6) auf einen ganz bestimmten Tag bezieht. Der unmittelbare Anschluss der Formel waj ehî hajjôm an die Wendung „alle Tage“ (kålhajjāmîm), mit der V. 5 schließt, und der Parallelismus zwischen V. 5b und V. 8bα sprechen dafür, diesen Tag in einem der Tage zu erblicken, an dem der fromme Hiob Gott Opfer darbringt, um seine Söhne vorsorglich zu entsühnen (V. 5). Der Tag der stellvertretenden Sühne Hiobs für seine Kinder wird so zum Tag seiner stellvertretenden Prüfung für Gott. Mit dem Motiv der Söhne Gottes/der Götter (b enê hāʾ ælohîm) greift dieser Verfasser auf ein bekanntes Motiv aus der Welt des Mythos zurück. Im Hintergrund steht die im gesamten Alten Orient und der klassischen Antike verbreitete Vorstellung von einem himmlischen Hofstaat, dem himmlischen Heer (ṣābāʾ, vgl. Gen 2,1 und die Bezeichnung Jhwhs als jhwh ṣ ebāʾôt),60 das den höchsten Gott des Pantheons umgibt (vgl. 1Kön 22,19–22; Ps 82,1; 89,8).61 Doch während in den aus dem nordsyrischen Ugarit bekannten spätbronzezeitlichen Texten die bn ilm als die Söhne des Göttervaters El ganz in die Welt des lebendigen Mythos und des Polytheismus gehören,62 sind hier die Gottessöhne oder die Elohim-Wesen, „die Gottwesen“, wie sich die Wendung b enê hāʾ ælohîm auch übersetzen lässt, in den Glauben an den einen Gott Jhwh eingeordnet. Vielleicht mit Ausnahme des schwer datierbaren Ps 29, der in seinem Grundbestand wohl in die Königszeit zurückreicht, gehören alle atl. Belege für die
Vgl. Ps 24,10; 46,8.12.; 48,9; 84,2.4.9.13; 103,21. Vgl. z. B. den ug. Baʿal-Zyklus IV,iii,14 (TUAT.NF VIII, 214), das ug. Kirta-Epos II,ii,7.11 (TUAT.NF VIII, 252f), das akkad. Gilgm. XI, 119–120 (TUAT III, 732), das akkad. Šu-illa-Gebet Sin 1 17 (Lenzi, Akkadian Prayers, 392f, 400), die phön. Jechīmīlk-Inschrift (KAI 4,4–5; TUAT II, 584) oder ein phön. Beschwörungsamulett aus Arslan Taş (KAI 27,10) sowie aus der klassischen Antike z. B. Homer, Il. 8, 2–4 oder Pindar, O. 7,34 (J.P. Brown, Israel, II, 54–80, 105). 62 Vgl. KTU 1.4 iii,14; KTU 4.377 19; KTU 4.609 8 u. 19; KTU 4.623 6. 60
61
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b enê hāʾ ælohîm der Zeit des Zweiten Tempels an.63 Bezeichnenderweise häufen sich die jüdischen Belege für die Wendung b enê hāʾ ælohîm in Schriften aus hellenistischer Zeit. Die Gottessöhne erscheinen hier, wie in Hi 1,6; 2,1 und 38,7, als Jhwh untergeordnete, dienende Wesen, die sich regelmäßig zur Audienz im Thronsaal des himmlischen Königs Jhwh, speziell auch zum Gericht im Kreise des göttlichen Thronrats, einfinden.64 Insofern ist die Übersetzung der LXX, die den Begriff b enê hāʾ ælohîm mit ἄγγελοι τοῦ θεοῦ („Engel Gottes“)65 wiedergibt, durchaus zutreffend. Das Bild der familia dei erscheint als himmlisches Gegenüber zur Familie Hiobs.66 Unter den Söhnen Gottes erscheint auch der Satan (ha-śāṭān). Der Text lässt offen, ob dieser einer der Söhne Gottes ist. Die Setzung des Artikels deutet darauf hin, dass der Begriff śāṭān in Hi 1,6–12; 2,1–7 als Funktionsbezeichnung gebraucht ist (vgl. Sach 3,1–2) und (noch) nicht als Eigenname (vgl. 1Chr 21,1 im Gegenüber zu 2Sam 24,1). Gemäß der Etymologie und des Wortgebrauchs handelt es sich um einen „Anfeinder“,67 um einen „Ankläger“ vor Gericht (vgl. Ps 109,6) oder um einen „Hinderer“ (vgl. Num 22,22.32). Erst die Wiedergabe der LXX mit διάβολος („Verleumder“; VL/La: diabolus; Vg: satan; Aq: ὁ σατάν; Syr: ṣṭnʾ)68 bereitet den Weg für die spätere Gleichsetzung des Satans mit dem „Teufel“ (gräzisiert als σατανᾶς in Mt 3,23; Mt 4,10 u. a.).69 In Hi 1,6– 12; 2,1–7 wie auch in Sach 3,1–2 erscheint der Satan nicht als Gegner oder als Feind Jhwhs, auch nicht als Personifikation des Bösen, sondern als ein himmlisches Wesen, das Jhwhs Wort und Werk kritisch hinterfragt und kritisch spiegelt, als eine dichterisch personifizierte Selbstreflexion und Funktion Jhwhs. Dabei wird der Fragende in 1,6 zunächst selbst zum Gefragten. Im Kontext einer rechtsgeschichtlichen Gesamtdeutung, wie sie Rachel F. Magdalene (2007) vorgeschlagen hat,70 initiiert die Anklage, die der Satan vor dem himmlischen Hofstaat gegen Hiob und gegen Gott erhebe, den eigentlichen Prozess Hiobs. Die satanische Anklage Hiobs laute auf Gotteslästerung (Hi 1,11). Mit Hiob befinde sich aber auch Gott auf der Anklagebank, da dieser Hiob fälschlich als tadellosen Frommen betrachte und zu Unrecht gesegnet habe. Aus dieser doppelten Anklage folgt nach der Logik des von Magdalene rekonstruierten neubabylonischen Rechtsverfahrens eine prozessuale Überprüfung Hiobs, die nachweisen soll, dass im Fall Hiobs nicht nur eine strafbare Gesinnung, sondern eine strafbare Handlung vorliege. Einmal in Gang gesetzt, müsse dieser falsche Rechtsstreit bis zu seinem Ende ausgetragen werden. Die Hintergründe kenne bzw. erkenne aber nur eine rechtsgeschichtlich geschulte Leserschaft des Hiobbuches. 63 Vgl. Gen 6,2.4; Ex 15,11; Dtn 32,8 (nach 4Q37); Ps 89,7; zu einem vergleichbaren Gebrauch von ʾelîm/ʾ ælohîm siehe auch Ex 15,11; 32,43 (nach 4Q44); Ps 82,1. Siehe dazu den Exkurs zu Engeln im AT auf S. 146–148. 64 Siehe dazu Hartenstein, Angesicht, 88. 65 In diesem Sinn auch TgHi: „Die Söhne der Engel“. 66 Vgl. Lux, Baum des Lebens, 37. 67 Vgl. 1Sam 29,4; 1Kön 5,18; 11,14; Ps 38,21; 109,4; Sach 3,1. Entsprechend übersetzt Th in Hi 1,7 treffend mit ἀντικείμενος, vgl. grApkEsr 3,15; 4,37; 4,43, 2Thess 2,4; 1Tim 5,14. 68 Vgl. SapSal 2,24; SachLXX 3,1–2 sowie im nicht kanonisch gewordenen frühjüdischen Schrifttum TestHiob 3,3; 17,1; 26; TestSedr 4,5; 5,3; TestNaph 3,1; 8,4.6; TestAsser 3,2; VitAdEv 15,3; 16,1. 69 Vgl. dazu C. Breytenbach, Art. „Satan IV.”, DDD (21999) 730f; Day, Adversary; Fabry, „Satan“, 269–291; White, Yahweh’s Council, 109–119; Rudnig-Zelt, Teufel, 1–20. 70 Magdalene, Scales, 95–126; s.o. S. 24 Anm. 93.
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Der erste Satz im Munde Jhwhs – im gesamten Buch Hiob – ist eine Frage: 1,7 Gottes Reden beginnt im Hiobbuch mit Fragen (vgl. 38,2.4). Der Dichter lässt den von den Fragen adressierten Satan mit einem Wortspiel antworten, das auf dessen Titel und Funktion verweist. Der Satan kommt vom Umherschweifen (šûṭ) und vom Umherwandeln (hithallek) auf der Erde. Der Text erinnert an die Paradieserzählung: „Und sie (d. h. der Mensch und seine Frau) hörten die Stimme von Jhwh Elohim, als er im Garten umherwandelte …“ (Gen 3,8). Die Parallele gibt den Hinweis auf eine Funktion und einen Ort des Satans in Hi 1,6–12: Er wandelt auf der Erde.71 Den Bildhintergrund könnte gemäß der Formulierung (hithallek baʾāræṣ) das Phänomen von Agenten und Meldereitern im Perserreich liefern, die den Großkönig über Vorgänge in den einzelnen Verwaltungsbereichen des von Persien bis Ägypten reichenden Imperiums informierten (vgl. Sach 1,10–11; Herodot, hist. 8, 98).72 Daneben mag auch noch die mythische Vorstellung vom Besuch der Götter auf der Erde zwecks Prüfung der Menschen stehen.73 Betrachtet man die Verwendung des Verbs hithallek („herumwandeln/lustwandeln“) im Buch Hiob, so zeigt sich eine merkwürdige Ironisierung das atl. Weltbildes: Der Satan wandelt auf der Erde (1,7), Gott am fernen Himmelskreis (22,14) und Hiob (vermeintlich) in den Tiefen der Urflut (38,16) – die Welt scheint auf den Kopf gestellt. Schon im ersten Zwiegespräch zwischen Jhwh und dem Satan klingt ein Thema an, welches das gesamte Buch durchzieht: die Frage nach der Ordnung in der Welt. Jhwhs Fragen setzt sich fort. Erneut arbeitet der für die Einfügung von 1,6– 1,8 12 verantwortliche Dichter mit einem Wortspiel und beschreibt so die Aufgabe des Satans: „Hast du dein Herz auf/wider (ʿal) meinen Knecht Hiob gerichtet (haśamtā)“ (V. 8a, vgl. 1Chr 21,1). Die verwendete Präp. ʿal ist doppeldeutig: Geht es in einem neutralen Sinn nur um die Aufmerksamkeit des Satans oder in einem negativen Sinn um dessen Feindschaft gegen Hiob? – Soviel ist klar: Der Satan erscheint als eine zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch verkehrende und beide Welten kritisch reflektierende Größe. Dabei kann die Reflexion von Welt und Mensch, von Gott und Mensch gebrochen und verzerrt sein. Jetzt erst kommt Hiob wieder ins Spiel – im Munde Jhwhs, als Gottes Diener bzw. Knecht (ʿæbæd)74. Im Kreis der Gottessöhne wird der unvergleichliche Gottesknecht zum Thema. Unter Rückgriff auf die einführende Vorstellung Hiobs in 1,1 wird dessen beispielhafte Frömmigkeit betont und um die Bezeichnungen „mein Diener“ und „keinen wie ihn auf der Erde“ erweitert. Nur die Buchredaktion bezeichnet Hiob ausdrücklich als Diener Jhwhs, wodurch seine Nähe zu Mose herausgestellt wird.75 Ein ähnliches Prädikat der Unvergleichlichkeit (V. 8b) erhalten im AT nur noch Joseph 71 Vgl. als Zitat von Hi 1,7 und 2,2 in der griech. Rezension G der apokryphen Fragen des Bartholomäus (53) (Markschies/Schröter, Apokryphen I/1, 801). 72 I. Willi-Plein, Haggai, Sacharja, Maleachi, ZBK.AT 24.4, Zürich 2007, 63. 73 Siehe dazu auch West, East Face, 122–124. 74 Vgl. Ex 32,13; Dtn 34,5; Ri 2,8; 2Sam 7,5; Ps 132,10; Jes 42,1; 49,3; 52,13; 53,11. 75 Vgl. Num 12,7–8; Jos 1,2. Zu den Bezügen zwischen Hiob und Mose siehe ausführlich Rohde, Knecht, 177–220.
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(Gen 41,39) sowie Daniel und seine Freunde (Dan 1,19).76 Im Testament Abrahams (1./2. Jh. n. Chr.) wird die Kennzeichnung auf Abraham angewendet, dem „noch nicht einmal Hiob glich“ (TestAbr A 15,15; B 13,23).77 1,9–11 Aus dieser nun sechsfachen Prädikation Hiobs greift der Satan nur eine heraus: die Gottesfurcht, das Prädikat, das schon sprachlich am offensichtlichsten die Beziehung des Menschen zu Gott, die Religion, beschreibt. Dabei deutet die Wortstellung in V. 9 darauf hin, dass die Wurzel jrʾ hier nicht als Verbalnomen gebraucht ist, wie eindeutig in 1,1 und 1,8, sondern als „Perfekt“ – dies deuten einige Ausleger in dem Sinn, der Satan stelle fest, dass Hiob bis jetzt Gott gefürchtet habe.78 Die „Gottesfurcht“, der Anfang der Weisheit (Spr 1,7), wird zum Ausgangspunkt, die Motive für Hiobs Glauben, und damit für Glauben schlechthin herauszufinden. Denn Hiob ist der Glaubende schlechthin („es gibt keinen wie ihn auf der Erde“). „Fürchtet Hiob Gott etwa ohne Grund?“ Die Fortsetzung der Frage gibt die Richtung für das doppeldeutige „ohne Grund“ (ḥinnām) an. Der Begriff ḥinnām ist äußerst schillernd und umfasst verschiedene Bedeutungsnuancen wie „umsonst“, „grundlos“, „ohne Grund“ oder „vergebens“.79 Gott hat Hiob schützend umhegt (śaktā – wieder ein Spiel mit dem Wort śāṭān)80 und „das Werk seiner Hände“ gesegnet (vgl. 1,2–3; Dtn 2,7; 28,12; 30,9). Deshalb, so die Logik des Satans, hat Hiob auch allen Grund, fromm zu sein. Geht dieser Grund verloren – poetisch ausgedrückt mit der sich durch das Hiobbuch ziehenden Metapher der Hand Gottes, die Hiob berührt (nāgaʿ), d. h. schlägt81 – geht auch die Frömmigkeit zugrunde. Legt die Exposition in V. 1–2 den Gedanken nahe, dass Hiobs Wohlstand Folge seiner Frömmigkeit sei (vgl. Ps 128,4), so fragt der Satan nun kritisch, ob nicht vielmehr die Frömmigkeit die Folge des Wohlstands sei. Bedingt der Glaube Glück oder das Glück Glauben? Diese Frage nach der Beziehung zwischen Glück und Glauben steht am Anfang der Leiden Hiobs. Hiob, der Gottesknecht, wird – wie Abraham in Gen 22,1.12 – zum Testfall für die Motivation der Gottesfurcht. Wird Hiob, der sich darum sorgte, dass seine Söhne Gott in ihrem Herzen fluchten, dann Gott selbst offen ins Angesicht fluchen? Die Wendung ʾim-loʾ („wenn nicht“), die häufig als elliptische Fluchformel („verflucht sei ich, wenn nicht …“) im Sinn von „ganz gewiss“ gebraucht wird (vgl. Num 14,28; Jos 22,24), ist hier eher im Sinn der vorsichtigen Frage gemeint. 82 Darüber hinausgehend ist zu bedenken, dass mit der Prüfung Hiobs auch Gott
Vgl. auch das äg. Märchen von den zwei Brüdern 1,4 (TUAT.E, 155). JSHRZ III, 241; 244. 78 Gordis; Seow. Auch LXX und Vg differenzieren, indem sie in Hi 1,1 und 1,8 adjektivisch (LXX) bzw. partizipial (Vg) und in 1,9 verbal übersetzen. Syr und Tg bieten durchgehend ein Partizip. 79 Siehe dazu M. Klopfenstein, ( ִחּנָ םḥinnām), in: Ders., Leben aus dem Wort. Beiträge zum Alten Testament, BEATJ 40, Bern 1996, 117–121; Ebach, Hiobs Post, 15–31; S.E. Balentine, „For No Reason“, Interpretation 57 (2003) 349–369. 80 Zu sākak im Sinn des positiven Umgebens durch Gott vgl. 4Q434 frgm. 1 I,11. 81 Vgl. Hi 5,18; 6,9; 19,21; 23,2; 30,21; siehe dazu Mies, Job, 61–83. 82 Zur Diskussion siehe Leuenberger, Segen, 429. 76 77
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selbst der Prüfung durch den Satan unterzogen wird. Hi 1,6–12 erzählt somit von einem doppelten Test. Gott lässt sich auf den Test ein. Mit der Vollmacht ausgestattet, Hiob alles zu 1,12 nehmen, was ihm gehört, mit der einzigen Ausnahme, ihn selbst zu berühren, entfernt sich der Satan von Jhwhs Angesicht. Fließt nun Glück aus Glauben oder Glauben aus Glück? Was ist das für ein Gott, der seinen Knecht ausliefert? Wo ist der göttliche Vater? Wer ist der göttliche Vater? Wer ist Gott? Auch die zweite Szene des Prologs endet mit einem Fragezeichen. Das Gespräch zwischen Jhwh und dem Satan wird häufig als „Wette“ bezeichnet und hat unter dieser Bezeichnung eine prominente Wirkungsgeschichte erzielt,83 obgleich in Hi 1 der für die Wette konstitutive Einsatz und der Gewinn für den, der mir seiner Behauptung Recht behalten wird, fehlen. Treffender ist es, von einer Prüfung oder Versuchung Hiobs zusprechen. In diesem Sinn subsumiert der Exeget Aristeas die Hioberzählung ausdrücklich unter dem terminus technicus πειράζω „versuchen“ (vgl. Gen 22,1 LXX),84 der in Hi 1–2 offenbar bewusst vermieden wird. Bei den Kirchenvätern erscheint Hiob dann als ein Beispiel der Versuchung.85 Der erste Schlag gegen Hiob Zurück auf der Erde lässt der Buchredaktor wieder den Erzähler der ursprünglichen Novelle zu Wort kommen. Das Unglück bricht über Hiob an dem Tag herein, da sich seine Kinder im Hause seines Erstgeborenen ihres Lebens freuen. Die als Botenberichte gestaltete Schilderung der Schläge ist von einer stereotypen Gleichzeitigkeit gekennzeichnet. Der Überfall der Sabäer (V. 15, vgl. 6,19; Gen 10,7; 25,3), das Herabfallen des Gottesfeuers (V. 16, vgl. Num 11,1–3; 1Kön 18,38; 2Kön 1,10),86 der Raubzug der Kaśdim und der von dem gefürchteten Wüstenwind (vgl. Jer 4,11–12; Ez 17,10; Hos 13,15) verursachte Einsturz des Hauses, in dem sich Hiobs Kinder gerade aufhalten (V. 18–19) – all das ereignet sich an einem Tag.87 Vier Kräfte des Himmels (V. 16/V. 19) und der Erde (V. 15/17) – die sich von einem syrisch-palästinischen Standpunkt den vier Himmelsrichtungen zuordnen lassen: die Sabäer im Süden, die Blitze Jhwhs im Westen,88 die Kaśdim 83 Vgl. J.W. Goethe, Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust, hg. u. kommentiert v. E. Trunz, München 2010 (Nachdr.), 312–314 (Mephistopheles zum Herrn: „Was wettet Ihr? den sollt Ihr noch verlieren, / Wenn Ihr mir die Erlaubnis gebt, / Ihn meine Straße sacht zu führen!“); F.Y. Albertini, Hiob 2,1–7A. Aspekte zur „Wette“ zwischen Gott und dem Satan in der jüdischen Philosophie des Mittelalters und der Neuzeit, in: Witte (Hg.), Hiobs Gestalten, 63–74. 84 FGH 725 (= Bd. III C 2, 680) 10; JSHRZ III, 295. 85 Vgl. z. B. ConstAp VI,5,41; Clemens v. Alexandria, strom. 2, 20,103–104; Origenes, hom. in Iob zu Hi 42,10 (PG 17, 105,12f); Athanasius, hom. de passione 28 (PG 28, 233,10). 86 LXX spricht, vielleicht aus theologischen Erwägungen, nur von einem Feuer. Siehe dazu auch Houtman, Himmel, 275–281. 87 In ähnlicher Weise werden im ug. Kirta-Epos die Schicksalsschläge, die Kirta treffen, geschildert (I,i,6–25 [TUAT.NF VIII, 241f]). 88 Im Hintergrund steht die Vorstellung der vom Mittelmeer her aufziehenden Regen- und Gewitterwolken (Hartley, 77).
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im Norden und der Wüstenwind (Scirocco. arab. el-ḫamsīn) im Osten89 – symbolisieren die Gewalt, mit der das Leiden über Hiob hereinbricht. In der Mehrzahl der atl. Belege steht Saba (š ebāʾ) für ein Land oder ein Volk in Südarabien, im Gebiet des heutigen Jemen (vgl. Gen 10,7.28; 25,3), das vor allem aufgrund seines (Weihrauch-)Handels berühmt war.90 Da in Hi 6,19 Saba im Parallelismus zu Teman (temāʾ) steht, wird hinter den Sabäern in Hi 1,15 aber zumeist ein Stamm in Nordarabien vermutet, der auch in der Aufzählung tributpflichtiger Stämme (neben Masa und Teman) an den westlichen Grenzen des neuassyrischen Reichs erwähnt wird.91 Auch wenn hinter den hier genannten Kaśdim wohl ein aram. (Beduinen-)Stamm in Mesopotamien steht, lässt die Bezeichnung doch auch an die aram. Bevölkerungsgruppe in Südbabylonien denken, aus der in neubabylonischer Zeit die herrschende Dynastie der Chaldäer stammte (625–539 v. Chr.) und die in keilschriftlichen Quellen als Kašdu und als Kaldu bekannt sind.92 Im AT werden diese unter dem König Nebukadnezzar II. auch für die Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr. verantwortlich gemacht,93 so dass sie als Chiffre für eine brutale, gottfeindliche Macht schlechthin stehen (Hab 1,6), die gleichwohl von Jhwh gerichtet werden wird (Jes 13,19). Dass tatsächlich die Kinder Hiobs sterben und nicht die Knechte, wie sich aufgrund der Verwendung desselben Wortes (neʿārîm) in 1,15.16.17 vielleicht nahelegen könnte, und auch nicht nur die Söhne, ergibt sich erstens aus der ausdrücklichen Nennung der Söhne und Töchter in V. 18b, zweitens aus der parallelen Anlage der ersten und der zweiten Hiobsbotschaft (V. 14b–15 // V. 18b–19), bei der jeweils zunächst eine Umstandsbeschreibung und dann die Meldung der Katastrophe erfolgt, drittens aus der Steigerung der Unglücksfälle und viertens aus der dreifachen Ausrichtung des Prologs auf die Kinder Hiobs (V. 4.13.18).94 In der LXX ist die Identifikation eindeutig, insofern diese hier von τὰ παιδία (gegenüber τοὺς παῖδας in V. 15 und V. 17 bzw. τοὺς ποιμένας in V. 16) spricht (vgl. 17,5LXX). Zudem klagt die Frau Hiobs in LXX ausdrücklich über den Verlust ihrer Kinder (s. u. zu 2,9); ähnlich eindeutig sind dann auch die Hiobparaphrase des Exegeten Aristeas95 und das TestHiob 18,1; 39,8. Im spätantiken dritten (hebr.) Henochbuch 23,14 wird Hi 1,19 im Rahmen einer meteorologisch-schriftgelehrten Auflistung biblischer Belege für von Gott gesandte Winde zitiert. 89 Wörtl.: „von jenseits der Wüste“. Hierbei liegt hier der Akzent nicht auf der besonderen Gewalt des Windes. Seow, 280, erwägt daher, es handele sich um einen Sturm, wie er das Nahen Jhwhs in einer Theophanie kennzeichne (vgl. Jer 23,19; 30,23; Sach 9,14). 90 Vgl. Ps 72,10; Jes 60,6; Theophrast, h. plant. 9, 4,2; Strabo, geogr. 16, 4,2; Plinius, nat. 6, 154 (Rackham, II, 454f). Zur Gewinnung des Weihrauchs aus dem Harz des Weihrauchbauchms (boswellia sacra) siehe Häusl, Garten, 62f. 91 Vgl. H. Tadmor, The Inscriptions of Tiglath-Pileser III. Critical Edition, with Introduction, Translation and Commentary, Publication of the Israel Academy of Sciences and Numismatics. Fontes ad res Judaicas spectantes, Jerusalem 22007, 142f (Summ. 4:27’), 168f (Summ. 7:r3’), 200f (Summ. 13:9’). 92 Siehe dazu D.O. Edzard, Art. „Kaldu (Chaldäer)“, RLA 5 (1980) 291–297. 93 Vgl. Jer 21,9; 22,25; 32,4; 2Chr 36,17; Jer 39,8. 94 Zur Erwähnung der neʿārîm in Hi 29,5 s. u. die Auslegung von Hi 29. 95 Frgm. 1,3 (τὰ τέκνα αὐτοῦ) (vgl. JSHRZ III, 295).
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Die erste Reaktion Hiobs oder das Gotteslob des Geschlagenen
1,20–24
Ehrlich, U.: The Nonverbal Language of Prayer. A New Approach for Jewish Liturgy, TSAJ 105, Literatur Tübingen 2004. – Gruber, M.I.: Aspects of Nonverbal Communication in the Ancient Near East, StP 12/I–II, Rom 1980. – Pham, X.H.T.: Mourning in the Ancient Near East and the Hebrew Bible, JSOT.S 302, Sheffield 1999.
Der syntaktische Anschluss von V. 20 an V. 19 und die Aufnahme eines der 1,20 Leitwörter der Botenberichte (nāpal „fallen“) sprechen dafür, dass der Erzähler die Reaktion Hiobs eben an dem einen Unglückstag lokalisiert. Aus dieser Erzählfolge spricht die Erfahrung der Gleichzeitigkeit von schlimmen Ereignissen. Im Leiden überstürzen sich die Ereignisse, die Ordnung der Zeit gerät dem Leidenden durcheinander. Dem Einbruch des Chaos stellt der Dichter den Ritus des Geschlagenen gegenüber. In einem Selbstminderungsritus96 mit dem Zerreißen des Obergewandes, dem Scheren des Haupthaares, dem Niederfallen zur Erde und der demütigen Verneigung (Proskynese)97 sowie dem Elendsruf und Gotteslob artikuliert Hiob seinen Schmerz. Im Ritus findet Hiob Halt, im Ritus bettet er sein Unglück in seinen Glau- 1,21 ben ein. Der, dessen Name ein Ruf nach dem göttlichen Vater ist, bekennt sich in poetischer und mythischer Sprache zu seiner Herkunft aus der Mutter Erde.98 Die Erfahrung des Leidens wirft auf die Eckpunkte der Existenz zurück: Anfang und Ende des Lebens treten vor Augen. Das in der Weisheit der Völker bewahrte uralte Wissen von der Nacktheit des Menschen in der Welt stellt sich ein. Lautete die Frage der ersten Himmelsszene „Wer ist Gott?“, ergibt sich jetzt die Frage „Was ist der Mensch?“ (vgl. Hi 7,17; Ps 8,5; 144,3). In der Krise seiner Existenz fragt der Mensch nach sich selbst – und erkennt sich als nackt: Leiden entblößt. Doch in seiner Blöße preist Hiob seinen Gott. Dreimal legt ihm der Dichter den Gottesnamen in den Mund: Jhwh ist es, der gibt, und Jhwh ist es, der nimmt. Für den, der hinter allem, was geschieht, seinen Gott am Werk sieht, muss der Gott des Glücks auch der Gott des Unglücks sein. Der Gott, der in die Existenz rief, ist es, der aus ihr abruft; der Gott, der segnet, ist auch der Gott, der flucht. Dem Gottesschlag – und für den Verfasser von 1,21 ist 96 Vgl. Gen 37,34; Jos 7,6; 2Sam 1,1–2; 3,31; Jes 15,2; Jer 7,29; Klgl 1,1; 2,10; Ez 26,16; Am 8,10; Mi 1,16; Esr 9,3.5; 1Makk 4,36–40; Homer, Il. 18, 23–27; Gilgm. VIII (TUAT III, 711– 715: ausführliche Beschreibung der Trauer von Gilgameš über seinen Freund Enkidu); Kirta-Epos I,i,26–30 (TUAT.NF VIII, 242); siehe dazu Pham, Mourning, 16–27. 97 Der terminus technicus für das demütige und anbetende Sich-Niederwerfen (šḥh, Hitpalel) wird bezeichnenderweise nur hier im Hiobbuch gebraucht (vgl. Gen 22,5; Ex 20,5; Dtn 4,19; Jes 2,8), er umfasst hier die Aspekte der Trauer und der Anbetung (vgl. Carasik, Janus Parallelism, 149–154). 98 Vgl. Pred 5,14; Ps 139,13–15; Sir 17,1 (G); 40,1.11; Tob 3,6; SibOr 8,96–97; 1QHa XXIIIbottom, 4–5 (23,24–25) (in Aufnahme von Gen 3,19); Pap. Insinger 30,6 (TUAT III, 313). Zur Parallelisierung des (realen) Mutterleibes, aus dem der Lebende kommt, mit dem (mythischen) Mutterschoß der Erde, in den der Verstorbene eingeht, siehe auch Wolff, Anthropologie, 149f; Janowski, Anthropologie, 63. Zu entsprechenden Formulierungen in paganen griech. und lat. Inschriften und literarischen Texten siehe H.-P. Müller, Mensch, 86–99.
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klar, dass Gott selbst Hiob schlug – steht das Gotteslob des Geschlagenen zur Seite. In der Sprache der Psalmen lässt der Dichter Hiob den Namen, d. h. das Wesen Gottes selbst, „segnen“ (meborāk, vgl. Ps 96,2; 103,1; 113,2). Auf der Oberfläche des um die Himmelsszenen erweiterten und durch diese theologisch besonders problematisierten Textes hat der Satan Recht behalten: Hiob ,segnet‘ Gott (vgl. Hi 1,11). Aber in der Tiefenstruktur des Textes zeigt sich, dass das Wort berak hier in seinem eigentlichen Sinn für „segnen“ gebraucht ist.99 Die LXX bietet noch einen über den MT hinausgehenden Stichos („wie es dem Herrn gefallen hat, so ist es geschehen“). Der Zusatz findet sich auch in der von Hieronymus nach der LXX angefertigten lat. Übersetzung des Hiobbuches sowie in einigen Hss der Vg in der Gestalt sicut domino placuit, ita factum est. Er unterstreicht die besondere Ergebenheit Hiobs in sein Schicksal. Der Vers bildet den literarischen und theologischen Höhepunkt des Prologs. Er gehört zu den Wurzeln für die Deutung Hiobs als einem Vorbild an Geduld, das sich von Jak 5,11 über das Testament Hiobs (1,5; 27,7) und die lat. Fassung von Tob 2,12 durch die Geschichte der jüdischen, christlichen und islamischen Hiobrezeption zieht.100 Die besondere Betonung der „Geduld“ (ὑπομονή) Hiobs in Jak 5,10–11 und seines durch Gott geschenkten glücklichen Endes (τέλος) könnte eine von Jakobus formulierte Zusammenfassung vor allem der Rahmenerzählung des Hiobbuches darstellen (vgl. Hi 1,21–22; 2,9; 42,10–11). Allerdings ist auch der häufige Gebrauch der Verbalwurzel ὑπομένω im griech. Hiobbuch und die vom MT abweichende Textform von Hi 19,26aβ zu berücksichtigen.101 Möglicherweise blickt die Erwähnung des durch die Barmherzigkeit Gottes (Jak 5,11) erwirkten Endes auch auf die Auferstehungsnotiz in Hi 42,17aLXX zurück (vgl. Jak 1,12).
1,22 Die Zusammenfassung aus der Hand des jüngeren Verfassers, der die skrupulöse Frömmigkeit Hiobs eigens hervorhebt (vgl. 1,5) und der mit der Einfügung der Himmelsszenen die Frage nach der Beziehung zwischen Gott und Mensch sowie nach dem Wesen beider theologisch radikalisiert, legt Hiobs Doxologie (V. 21) zutreffend aus: Hiob gibt Gott keinen Anstoß (tiplāh), d. h. kein Zeichen, dass er von Jhwh als seinem Gott abfällt (vgl. Jer 23,13). Hiob zeigt sich als Ideal des Weisen und Verständigen (mebîn, vgl. Spr 8,9; 17,24), der, wie es in einem weisheitlichen Text aus Qumran heißt, in Rechtschaffenheit (ṣdq) redet und keine „haltlosen Worte“ (dbrj twplh) äußert (4Q525 frgm. 14 II,27–28). Die LXX betont auch hier noch stärker als der MT die Untadeligkeit Hiobs, S. o. zu Hi 1,5. Im bab. Talmud dient Hi 1,21 als ein Schriftbeleg für die Aufgabe, Gott für das Schlechte wie für das Gute zu preisen (bBer 60b; vgl. mBer IX,5). Daneben wird der Vers in der alten Kirche auch als ein Beispiel für Hiobs Gerechtigkeit verstanden, insofern Hiob „nackt von Sünde“ gewesen sei (Clemens v. Alexandria, strom. 4, 25,160). 101 HiLXX 6,11; 7,3; 9,4; 14,14; 17,13; 22,21, vgl. ἀναμένω in Hi 2,9a (vgl. auch 4Makk 7,22–23), die Buchüberschriften in den Minuskeln 130 und 261 („die Ehrensäule der Geduld des gerechten Hiob“) sowie TestHiob 1,5; TobVg 2,12; Jak 5,11; 1Clem 26,3; Tertullian, De patientia 14,5; Clemens v. Alexandria, strom. 4, 17,106,3; ApkPl (lat.) 49 (Silverstein/Hilhorst, 166f) u. a. und dazu Schaller, JSHRZ III, 326f; Dassmann, Akzente, 40–45; Hainthaler, Ausdauer. 99
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der „in keiner Weise vor dem Herrn sündigte“ und Gott gegenüber kein Zeichen von Unbesonnenheit (ἀφροσύνη)102 gab. Der zweite Dialog zwischen Jhwh und dem Satan
2,1–6
Die zweite Himmelsszene unterscheidet sich im Aufbau nicht von der ersten, 2,1–2 bietet aber inhaltlich charakteristische Differenzen. In 2,1 wird gegenüber 1,6 ausdrücklich vermerkt, dass der Satan auch kam, um sich vor Jhwh aufzustellen (2,1bβ).103 Die Prädikation Hiobs im Munde Jhwhs wird um ein siebtes Element erweitert: Hiob hält an seiner Frömmigkeit (tûmmāh, vgl. 2,9; 27,5; 31,6; Spr 11,3), an seiner religiösen und moralischen Integrität, fest. Hiob bleibt auch im Leid sich selbst und seinem Gott treu. Doch der Schöpfer bereut die Schläge gegen sein Geschöpf. Der Dichter spielt erneut mit den Worten, wenn er Jhwh sagen lässt, der Satan 2,3 habe ihn gegen Hiob aufgestachelt (t esîtenî). So hat das hier verwendete Wort sût den Nebensinn der Verführung (vgl. 1Chr 21,1): Der verführte, der aufs Kreuz gelegte Gott! Das ist ein Gedanke, der, so Rabbi Jochanan im bab. Talmud (bBB 16a), nicht geäußert werden dürfte, wenn er nicht in der heiligen Schrift stünde.104 Hiob, der Gott grundlos (ḥinnām) fürchtete, hat nun einen Grund, Gott zu fürchten, weil dieser ihn grundlos (ḥinnām) geschlagen hat. Im Gegensatz zu Hi 1,9, wo das Wort ḥinnām betont an erster Stelle der Rede des Satans steht, erscheint es in 2,3 ebenso betont an letzter Stelle: Es bildet den Deutungsrahmen für die Prüfung Hiobs. Dieser Vers ist theologisch doppelt wichtig. Zum einen unterstreicht er die Ursächlichkeit Gottes am Leiden Hiobs (vgl. Klgl 3,3–4), indem er die Erkenntnis des Dulders nun als Gottesrede bietet: Gott hat Hiob verschlungen (bālaʿ, vgl. 10,8).105 Wieder bedient sich der Verfasser alter My thologeme. In den altorientalischen und griech. Mythen tritt das Chaoswesen, sei es die bab. Tiamat, der ug. Gott des Todes Mot (hebr. mawæt), der heth. Kumarbi, der griech. Kronos oder auch die im Jenseits agierende äg. Allesfresserin, als Verschlinger auf (vgl. Jon 2,1; Jer 51,34; Ps 69,16). Hier nun erscheint Jhwh als Chaosmacht. Gott wird für Hiob zum Chaosungeheuer. Weil für den Dichter der Himmelsszenen – wie auch für die Verfasser und Redaktoren der Dialogdichtung – Gott der Urheber von Hiobs Leiden ist, taucht der Satan im Epilog ebenso wenig wie in der Dichtung wieder auf. Der Satan erfüllt eine literarische und theologische Funktion: Er ist das personifizierte Zwiegespräch Gottes mit sich selbst. Zum anderen deutet der Dichter mit 2,3 eine Richtung 102 Dies könnte auf das hebr. Wort nebālāh zurückgehen (so J. Gray), das in Hi 42,8 (vgl. auch 2,10) eine besondere Rolle spielt. ἀφροσύνη ist ein Standardäquivalent der LXX für nebālāh (vgl. Dtn 22,21; Ri 19,23–24; 20,6.10; 1Sam 25,25; 2Sam 13,13), vgl. auch die Wiedergabe von nābāl mit ἄφρων in Ps 13(14),1; 39(38),9; 523(52),1; 74(73),18.22; 92(91),6. 103 In LXX fehlt dieser Versteil, so dass er gelegentlich als sekundär angesehen wird (vgl. Fohrer). 104 LXX bietet dann auch anstelle von „aufstacheln“ ein einfaches „sagen“. 105 Vgl. Klgl 2,5; Ps 21,10; Jes 25,8.
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zur Verhältnisbestimmung von Glück und Glaube an: Glück ist weder Grund und Ursache für Glauben noch Zeichen für Glauben. 2,4–5 Doch weil Hiob noch nicht am Ende ist und weil ein Mensch nach allgemeiner Erfahrung alles dafür tut, um selbst am Leben zu bleiben, steht ihm ein zweiter Test bevor. Ob hinter der merkwürdigen Redewendung „Haut für Haut“ die Vorstellung eines adäquaten Tausches, möglichweise von Tierhäuten, unter Beduinen steht, ist unsicher. Innerhalb der Hiobdichtung wird der Begriff der (nackten) „Haut“ (ʿôr) zu einem Schlüsselbegriff für das Schicksal Hiobs.106 Gott selbst hat Hiob mit „Haut“, d. h. mit Leben überzogen (10,11). Die „Haut“ bezeichnet die den Menschen äußerlich schützende Schöpfergabe (vgl. denselben Gedanken in mythischer Sprache in Gen 3,21).107 Dass V. 4 nicht nur allgemein spricht, sondern Hiob speziell im Blick hat, zeigt die auf 1,1 zurückgreifende Formulierung: „Der Mann (ʾîš)“ werde alles, seinen Besitz und seinen Glauben, für sein Leben (næpæš) geben. Der schillernde Begriff der næpæš (in LXX zumeist ψυχή), wörtlich die „Kehle“, in weitergehender Bedeutung das „Leben“ in Parallele zu dem Wort ḥajjāh (in LXX zumeist ζωή),108 mit dem Nebensinn der Bedürftigkeit und des Angewiesenseins auf Belebung, 109 meint hier nicht die „Seele“ im Sinn der Psyche als ein Teil des oder am bzw. im Menschen, sondern steht für die ganze Person Hiobs, sofern er am Leben ist, für Hiobs „Ich“. Auch an den weiteren Vorkommen dieses für das atl. Menschenverständnis wichtigen Begriffs im Hiobbuch ist jeweils kontextuell zu entscheiden, wie næpæš zu übersetzen und wie der mit diesem Begriff transportierte besondere anthropologische Aspekt genau zu bestimmen ist.110 Wo sich das Wort næpæš nicht durch ein passendes Äquivalent, wie „Kehle/Schlund“, „Verlangen“, „Leben“, „Lebenskraft“, ein (betontes) Personalpronomen, den Zusatz „selbst“ oder „eigen“, passend wiedergeben lässt, ist es als Seele in einfachen Anführungszeichen übersetzt. Auf diese Weise soll einerseits die semantische Differenz gegenüber dem deutschen Wort „Seele“ verdeutlicht werden, andererseits die poetische Struktur und die spezifische anthropologische Vorstellung des jeweiligen sprachlichen Ausdrucks bewahrt werden.111 Mit der Wendung „Gebein und Fleisch“ (ʿæṣæm, bāśār) spielt der Dichter zwei weitere für die atl. Anthropologie grundlegende Begriffe ein. Wie næpæš können sie, zumal als Wortpaar, für den gesamten Menschen stehen. Hier kennzeichnen sie die personale Identität (vgl. Gen 2,23; 29,14; 2Sam 5,1; 1Chr 11,1) und das gott-
Vgl. Hi 7,5; 10,11; 19,20.26; 30,30, vgl. Klgl 3,4; 4,8; 5,10. Siehe dazu Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 163–167. 108 Vgl. Hi 33,18.20.22.28; 36,14; Ps 33,19; 143,3; Sir 51,6. 109 Wolff, Anthropologie, 33–55; C. Westermann, Art. nǽfæš Seele, THAT II (62004) 71–96; Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 45–54; Janowski, Anthropologie, 52–58. 110 Vgl. die entsprechenden Ausführungen zu Hi 3,20; 6,7.11; 7,11.15; 9,21; 10,1; 11,20; 12,10; 13,14; 14,22; 18,4; 19,2; 21,25; 23,13; 24,12; 27,2.8; 30,16.25; 31,30.39; 32,2; 33,18.20.22.30; 36,14; 41,13. 111 Zum Problem siehe ausführlich K. Müller, Lobe den Herrn. 106 107
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geschenkte Leben (vgl. Hi 10,11).112 Ein Schlag auf das „Gebein und Fleisch“, real vorgestellt als schwere Krankheit, führt zur existentiellen Krise, die auf die eigene Sünde und den strafenden Zorn Gottes zurückgeführt und in der Klage vor Gott ausgesprochen werden kann (vgl. 33,21; Ps 38,4; Klgl 3,4).113 Die Frage ist, wie Hiob auf eine solche Krise reagiert und ob er zum Erhalt des nackten Lebens seine Integrität, sich selbst aufgibt. Um diese Frage zu beantworten, lässt der Dichter Jhwh Hiob selbst in die 2,6 Hand des Satans geben, doch nicht bedingungslos: Hiob muss am Leben bleiben. Im Hintergrund steht die sich durch zahlreiche Passagen des AT ziehende Vorstellung von einer auf das Diesseits beschränkten Beziehung zu Jhwh. 114 Die Toten preisen Jhwh nicht. Nur der lebendige Hiob, und sei er noch so zerschunden und dem Totenreich nahe, kann Antwort auf die Frage nach dem Grund seines Glaubens geben. Die Hoffnung der Verfasser von Ps 49,16; 73,24–26; Dan 12,1–3, dass Gott aus der Scheol errettet, dass die Gottesgemeinschaft den Tod überdauert oder dass die „Seelen der Gerechten“ unsterblich sind (SapSal 3,1), ist hier nicht im Blick. Pointiert lauten die letzten Worte der Rede Jhwhs an den Satan: „Ihn selbst bewahre (š emor)!“. Der zweite Schlag gegen Hiob Dem Verlust des Besitzes und der Kinder folgt der Verlust der eigenen Gesundheit. Der Eingriff in die Integrität und Identität Hiobs ist bis ins Letzte gesteigert. Der, der das Böse (rāʿ) mied (1,1), wird von der Fußsohle bis zum Scheitel mit „einem bösem Geschwür“ (š eḥîn rāʿ) geschlagen. Ob š eḥîn ein Geschwür bezeichnet, z. B. Lepra tuberculosa, oder ob es für eine mit Bläschen versehene Entzündung der Haut und der Fleischteile des Körpers steht (vgl. Lev 13), ist unsicher. Aus Mesopotamien sind umfangreiche diagnostische und therapeutische Texte aus dem 2. und 1. Jt. v. Chr. bekannt, in denen die unterschiedlichsten Erkrankungen der Haut thematisiert werden.115 Das Motiv der Erkrankung Hiobs zieht sich durch den gesamten Dialog (vgl. 7,5; 19,17.20; 30,17.30). Die Frage der genauen medizinischen Bestimmung ist aber gegenüber der Frage, wer denn nun Hiob so schwer schlug und welche Folgen diese Erkrankung hat, von untergeordneter Bedeutung. Denn auch hier formuliert der Dichter doppeldeutig: „Und er schlug Hiob“ (V. 7b). Auf der Ebene der klassischen Grammatik ist der Satan aus V. 7a das Subjekt des Schlages. Wenn jedoch das lautliche Zusammenspiel der direkt aufeinanderfolgenden Worte 112 Wolff, Anthropologie, 56–63; Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 165–170; Janowski, Anthropologie, 138–145. 113 Zur Vorstellung, Leiden sei eine Folge des göttlichen Zorns, s.o. S. 22; 37. 114 Vgl. Ps 6,6; 88,6–13; 115,17–18; Sir 14,11–19; 17,27–28 (G); Jes 38,18–19. Das Motiv des fehlenden Gotteslobs der Verstorbenen kennen auch akkad. Gebete (vgl. Janowski, Anthropologie, 620 [Q 99] mit dem Beispiel eines Gebets an Marduk). 115 Eine kleine Auswahl bietet TUAT.NF IV, 275–283; V, 84–90; siehe auch Scurlock/Andersen, Diagnoses, 208–241.
2,7
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jahweh wajjaḵ und die Selbstbezichtigung Jhwhs in 2,3, er habe Hiob verschlungen, beachtet werden, so wird deutlich, dass der Dichter auch hier die Urheberschaft Jhwhs am Leiden Hiobs nicht ausschließt. Jhwh ist es, der mit einem bösen Geschwür von Kopf bis Fuß schlägt (vgl. Dtn 28,35) – so wie nach einem aram. Gebet aus dem 2./1. Jh. v. Chr., das dem bab. König Nabonid (aram. nbnj/Nabonay) in den Mund gelegt ist, der Aussatz von Gott geschickt wird (4QOrNab/4Q242 frgm. 1–3): 1 Die Worte des Ge[be]tes, das Nabonay, der König von [Ba]bel, [der Groß]könig, betete, [als er geschlagen war] 2 mit dem schlimmen Ausschlag auf Befehl des Gott[es] in Teman. [Ich, Nabonay], 3 war geschlagen 2 [mit dem schlimmen Ausschlag] 3 während sieben Jahren, und seit [der] (Zeit) war i[ch] wie [ein Tier. Aber ich betete zu dem Allerhöchsten,] 4 und er hat meine Sünde verziehen. Er hatte einen Wahrsager, und zwar einen Juden au[s den Deportierten, und dieser sprach zu mir:] 5 Mache (es) bekannt und schreibe (es) nieder, damit dem Namen [des höchsten Gott]es Ehre und Ruhm erwiesen wird. [Und dementsprechend habe ich (es) geschrieben: Ich] 6 war mit dem schlimmen Ausschlag in Teman geschlagen [auf Befehl des allerhöchsten Gottes, und ich] 7 betete sieben Jahre [zu] Göttern aus Silber und Gold, [Bronze und Eisen,] 8 Holz, Stein, (und) Lehm, da [ich glaub]te, daß s[ie] Götter waren [...]116
Hiob, der Gottesknecht, erfährt an sich den Fluch, den Jhwh nach der Theologie der Deuteronomisten über das ungehorsame Gottesvolk verhängt (vgl. Dtn 28,15–68).117 Hiobs Schicksal ist das Geschick der von Gott Verfluchten: Dtn 27,11 Und Mose gebot dem Volk an diesem Tag […] 28,15 Wenn du aber nicht gehorchen wirst der Stimme des Herrn, deines Gottes, und wirst nicht halten und tun alle seine Gebote und Rechte, die ich dir heute gebiete, so werden alle diese Flüche über dich kommen und dich treffen: […] 31 Dein Rind wird vor deinen Augen geschlachtet werden; aber du wirst nicht davon essen. Dein Esel wird vor deinem Angesicht mit Gewalt genommen und nicht zu dir zurückkommen. Dein Schaf wird deinen Feinden gegeben werden, und niemand wird dir helfen. 32 Deine Söhne und deine Töchter werden einem andern Volk gegeben werden, dass deine Augen zusehen müssen und täglich vor Verlangen nach ihnen vergehen, und in deinen Händen wird keine Kraft sein. 33 Den Ertrag deines Ackers und alle deine Arbeit wird ein Volk verzehren, das du nicht kennst, und du wirst geplagt und geschunden werden dein Leben lang 34 und wirst wahnsinnig werden bei dem, was deine Augen sehen müssen. 35 Der Herr wird dich schlagen mit bösen Geschwüren an den Knien und Waden, dass du nicht geheilt werden kannst, von den Fußsohlen bis zum Scheitel. 36 Der Herr wird dich und deinen König, den du über dich gesetzt hast, unter ein Volk treiben, das du nicht kennst noch deine Väter, und du wirst dort andern Göttern dienen: Holz und Stein. 37 Und du wirst zum Entsetzen, zum Sprichwort (māšāl) und zum Spott werden unter allen Völkern, zu denen der Herr dich treibt. (Dtn 27,11; 28,15.35–37 LB)
All das hat Hiob getroffen – Hiob, der von schwerer Krankheit entstellte Mensch, ist zum Sprichwort, zum Gleichnis (māšāl) geworden (vgl. 17,6). Mit der Erkrankung, die im Alten Orient auf das Handeln von Dämonen oder
Übersetzung von W.C. Delsman, in: TUAT II, 935f. Zu den motivischen Parallelen in Nichtigkeitsflüchen des altorientalischen Vertragsrechts vgl. z. B. VTE § 39 (TUAT I, 170); zur Parallele zwischen Hiobs Erfahrung und der Fluchandrohung in Dtn 28 siehe auch K. Schmid, Schriftauslegung, 250f. 116 117
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einer Gottheit zurückgeführt wurde, war der vorübergehende Ausschluss vom Kult und aus der menschlichen Gemeinschaft verbunden. Durch die Krankheit geriet der einzelne Mensch in einen Status der Unreinheit und erschien als von Gott gestraft. Doch Hiob hatte dem Gebot Jhwhs gehorcht: Er war redlich und aufrichtig, gottesfürchtig und mied das Böse. Das wusste auch seine Frau. Die Gottesfrage des Geschlagenen
2,8–10
Wieder sehen die Leser Hiob am Boden (vgl. 1,20), nun mit einer Tonscherbe 2,8 in der Hand, um den Schorf des geschundenen Leibes zu schaben – mitten in einem Haufen von Staub und Asche: das eine Wort ʾepær bezeichnet beides (vgl. 42,6). Das Bild ist das prosaische Gegenüber zu Hiobs poetischem Bekenntnis seiner geschöpflichen Blöße (1,21). Die Tonscherbe, der Staub und der Schoß der Mutter Erde sind Symbole der Geschöpflichkeit und Hinfälligkeit. Dem aus Ton Geformten (Gen 2,7) bleibt nur Staub zum Lindern seines Leidens. Die Dynamik, die Hiobs erste rituelle Reaktion mit dem Aufstehen, den ekstatischen Gesten und dem Niederfallen kennzeichnete, ist dem fortwährenden Sitzen (jāšab) gewichen.118 Staub ist zu Staub geworden (Gen 2,7; 3,19). LXX lässt Hiob auf einem Misthaufen, einem Schutthaufen (arab. mazbala) außerhalb seiner Stadt (ἔξω τῆς πόλεως) sitzen (2,8LXX) und somit das Schicksal eines schwer Aussätzigen erleiden, der sich von seiner gewohnten Umwelt entfernen muss, um diese nicht mit dem Krankheitsdämon zu infizieren (vgl. Lev 13,46; 14,40). Dieses Bild, das stark auf die bildende Kunst gewirkt hat, wurde zum Typos für die Darstellung des Christus im Elend.119 Es besitzt aber nicht die Tiefe des kürzeren hebr. Textes: Hiob ist im Staub, ganz unten (vgl. Sir 40,3), im Grenzbereich des Todes120 – aber er lebt. In der kurzen Rede der Frau verbindet der Dichter hintergründig die Worte 2,9 Jhwhs und des Satans (vgl. 2,3 bzw. 1,11b; 2,6b). Dabei bleibt in der Schwebe, ob die Frau Hiobs konstatiert, dass Hiob noch an seiner Frömmigkeit festhält, oder ob sie die Frage stellt, wie lange er dies noch tun werde.121 Diese Doppeldeutigkeit schwingt auch in dem Aufruf, Gott zu „segnen“ (berak) mit (vgl. 1,5.11; 2,5). Sind die imperativisch formulierten Worte der Frau im Sinne des Mitleidens gemeint, insofern nach Lev 24,15–16 derjenige, der Gott flucht, dem Tod verfallen ist, und der Tod für Hiob demzufolge eine Erlösung von seinen Leiden wäre?122 Sind sie bittere Ironie („dann segne Gott halt weiterhin!“) oder Zu jāšab im Kontext von Trauersituationen vgl. Jes 3,26; Jon 3,6 (Gruber, Aspects, 460– 463; Pham, Mourning, 58). 119 Vgl. R. Budde, Art. „Job“, 409; H. Sachs/E. Badstübner/H. Neumann, Christliche Ikonographie in Stichworten, Leipzig 31988, 180; M. Büchsel, Klage und Anklage. Emotionale Kontrastierungen und Inversionen im Hiob-Salomon-Portal in Chartres, in: Witte (Hg.), Hiobs Gestalten, 83–116. 120 Vgl. Hi 7,5; Ps 22,16; Jes 26,19; Dan 12,2. 121 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 122 Auch grammatisch liegt das Gewicht auf dem zweiten Imperativ (vgl. J/M § 116f; Diehl, Imperativ, 56; 95). 118
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sind sie resignierende Bestätigung der Frömmigkeit Hiobs, der auch angesichts des über ihn hereingebrochenen Unglücks Gott segnet (vgl. 1,21)?123 Wirkungsgeschichtlich hat dieser Vers (auch infolge der Reaktion Hiobs in V. 10) der Frau Hiobs, vor allem im Christentum, eine sehr negative Rezeption beschert: So erscheint sie z. B. bei Augustin (354–430) als „Gehilfin des Teufels“ (adiutrix diaboli) in der lat. Rezension C der apokryphen Fragen des Bartholomäus als verfehltes Mittel des Antichristen, um Zugriff auf die Seele Hiobs zu bekommen.124 Bei einzelnen Kirchenvätern wird sie im Licht von Gen 3,6; Tob 2,11–14 und Sir 25,24 (G) mit Eva verglichen.125 LXX bietet anstelle der kurzen Rede der Frau Hiobs eine lange Klage der ihrer Kinder beraubten Mutter, die an Klagen in griech. Tragödien erinnert:126 9 sagte seine Frau zu ihm: Wie lange wirst du standhaft sein 9e Also: Sage irgendein Wort zum Herrn und stirb!
Ob dieser Überschuss der LXX auf ein nicht erhaltenes Targum oder einen nicht erhaltenen Midrasch zurückgeht oder selbstständig von den griech. Übersetzern des Hiobbuches (aus Versatzstücken der Dichtung) gestaltet wurde, ist umstritten.127 Einen Kontrast zu dieser Klage bietet die Stilisierung der Mutter der Sieben Märtyrer in 4Makk 16,5–13, die angesichts des drohenden Todes ihrer Söhne gerade nicht auf die Mühsal ihrer Schwangerschaft verweist, sondern diese ermahnt, um der Frömmigkeit willen zu sterben. 2,10 Hiob jedenfalls versteht den Rat seiner Frau als törichtes, als gottverachtendes Gerede (vgl. Jes 32,6). Ganz ähnlich weist Appu im heth. Appu-Märchen seine Frau zurück: „Du bist [eine Frau], (ja) weiblich bist du [und] kannst nicht wisZur Diskussion siehe Willi-Plein, Mensch, 560–562, und Leuenberger, Segen, 433f. Diese Kennzeichnung Augustins wird über die Jahrhunderte hinweg häufig zitiert, vgl. z.B. L. Pollio, Vom ewigen Leben der Kinder Gottes, Leipzig 1585, erste Predigt Abschnitt 17; Horst, 28; Seow, 305. Zu den Fragen des Bartholomäus siehe Markschies/Schröter, Apokryphen I/1, 779. 125 Zu Hiobs Frau siehe ausführlich Seow, Job’s Wife, und Witte, Hiobs viele Gesichter, 133–164. 126 In spitzen Klammern steht der textliche Überschuss, den die LXX gegenüber dem MT aufweist; der Kursivsatz zeigt die Differenzen zwischen der LXX und dem MT. Zu Parallelen in griech. Tragödien vgl. Euripides, Med. 797–798; 1029–103; Tro. 757–760; Hec. 155–165 und dazu Witte, Hiobs viele Gesichter, 146f. 127 Siehe dazu Kutz, Old Greek, 10–12; Cook, Septuagint, 185–193; Cox, in: THB 1C, 176; Witte, Job, in: LXX.H 1, 415. 123 124
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sen“ (A I, 36–37).128 Die patriarchale Struktur der altorientalischen Gesellschaft und ihr androzentrisches Rollenverständnis, das auch in der oben zitierten altkirchlichen Rezeption fortlebt, schlägt sich hier unmittelbar literarisch nieder (vgl. Hi 31,9–10). Sodann reagiert Hiob mit einer vom Dichter als rhetorische Frage129 gestalteten Sentenz, die auf derselben Linie wie der Lobpreis in 1,21 liegt. Der Weise weiß um die Ambivalenz Gottes: Es ist derselbe Gott, der baut und niederreißt, der schlägt und verbindet, der Leben schenkt und Leben nimmt (vgl. 5,18; Klgl 3,38) – töricht (nābāl) ist, wer von Gott nur das Gute erwartet oder wer gar Gottes Existenz ganz leugnet (vgl. Ps 14,1). Denn entweder wird er der Komplexität der Wirklichkeit nicht gerecht oder er entmachtet Gott, indem er das Böse aus dessen Wirkungsbereich ausgliedert und einer widergöttlichen Macht zuordnet. Für den weisen Gottesdiener Hiob aber ist die von einem, von seinem Gott gesetzte Wirklichkeit komplex und paradox zugleich (vgl. Pred 7,14; Sir 11,14). Mit dem Merismus „Gutes und Böses“ beschreibt der Dichter eine Ganzheit. Zwei polare Begriffe beschreiben die Fülle. „Gutes und Böses“ meint einfach alles – wieder klingt die Erzählung vom Gottesgarten mit seinem Baum an, der die Erkenntnis von Gut und Böse, d. h. umfassendes Wissen, schenkt (vgl. Gen 2,17; 3,5.22). Weil für Hiob alles von Gott bewirkt wird, muss auch sein Leiden von seinem Gott kommen, vor dem er sich völlig entblößt sieht und an dem er dennoch als an seinem Grund festhalten muss: Hiob fürchtet Gott wirklich grund-los. Der einzige Grund seiner Gottesfurcht ist Gott selbst. Dabei bleibt offen, ob mit dem abschließenden Ausdruck „mit seinen Lippen“, der gegenüber dem parallel gebauten Summarium in 1,22a einen Überhang darstellt, angedeutet werden soll, Hiob habe zwar nicht mit Worten, wohl aber „mit dem Herzen Gott geflucht“ (vgl. 1,5b; Jes 29,13; Sir 12,16).130 Die atl. (und antike) Vorstellung vom Weisen, der seine Lippen, d. h. seine Sprache und damit sich selbst im Griff hat, spricht eher dafür, hier ein genaues Pendant zu 1,22a zu sehen: Wer seinen Mund hütet, bewahrt sein Leben, wer seine Lippen aufsperrt, hat Verderben. (Spr 13,3, vgl. Spr 10,19; 21,23; Sir 1,29 [G]; Ps 39,1–3; Jak 3,2).
Die Aufrichtigkeit der Worte korrespondiert im Fall des Weisen mit der Aufrichtigkeit der Person (vgl. Spr 16,23; Hi 33,3). Auch nach dem zweiten Schlag gibt Hiob Gott keinen Anstoß. Hiobs Frau bleibt namenlos – im Gegensatz zur späteren Tradition im Judentum, wo sie aufgrund eines schriftgelehrten Spiels mit dem Wort nebālāh („Törin“, „Torheit/Schandtat“) mit Dina, der Tochter Jakobs, identifiziert wird (vgl. Gen 34,7; TgHi 2,9; BerR XIX zu Gen 3,12). Nach diesem kurzen Dialog ist von ihr nur noch zweimal die Rede: In seiner großen Klage über die Entfremdung, die er von seiner Familie erfährt, klagt Hiob, dass sein Atem Übersetzung von A. Ünal, in: TUAT III, 849. Zu einem Fragesatz ohne entsprechendes Fragepronomen vgl. GK § 150a. 130 In diesem Sinn versteht das rabbinische Targum Hi 2,10, vgl. dann auch bBB 16a. 128 129
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(rûaḥ) seine Frau anwidere (19,17), und in 31,9–12 gibt Hiob im Kontext einer bedingten Selbstverfluchung für den Fall, dass er sich eines sexuellen Vergehens schuldig gemacht hätte, seine Frau hypothetisch preis. Das TestHiob hat das Motiv des Gestanks, der von Hiob aufgrund seiner Krankheit ausgeht, drastisch ausgemalt: So können sich die Freunde Hiobs dem Erkrankten nur mittels Abbrennen von geruchsminderndem Weihrauch nähern (TestHiob 31,1–4).131 In der frühchristlichen Ikonographie und in mittelalterlichen Bibelillustrationen hält sich Hiobs Frau einen Schleier vor Mund und Nase.132
Teilrelief auf dem Sarkophag des röm. Stadtpräfekten Junius Bassus (317–359 n. Chr.) © akg-images / André Held, www.akg-images.de
Der stinkende Atem des vom Siechtum Gezeichneten hält selbst die nächsten Familienangehörigen auf Distanz. Doch rûaḥ ist mehr als der bloße Atem, rûaḥ ist der Lebensgeist. Hiobs Lebensgeist ist seiner Frau fremd geworden. Das Leiden hat ihn von seiner Frau entfremdet. Die innigste Lebensgemeinschaft zweier Menschen (Gen 2,24) bleibt von dem Gottesschlag nicht unberührt. In der unmittelbaren Begegnung mit Gott steht der Mensch allein. Die dich131 Vgl. auch TestHiob 32,8; 34,4; 35,2; 2Makk 9,9 und die von Grünbaum (Sagenkunde, 263) und Apt (Hiobserzählung, 21) mitgeteilten arab. Legenden, nach der Hiob wegen seines Körpergeruchs sein Dorf verlassen musste, sowie Cassiodor, Expositio in Ps 37 (zitiert bei Schaller, JSHRZ III, 350). 132 Vgl. Huber, Hiob, 78, Nr. 43; 158, Nr. 111; Hoogland Verkerk, Job, 20–29; Seow, Job’s Wife, Fig. 1 (nach S. 360).
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teste Gotteserfahrung ist zugleich die Erfahrung tiefer menschlicher Einsamkeit. Darüber kann auch die Ankunft der drei Freunde bei Hiob nicht hinwegtäuschen. Hiob steht hier in einer Linie mit Abraham auf Morija (Gen 22), mit Mose auf dem Sinai (Ex 32–33), mit Elia am Horeb (1Kön 19) und mit Jesus in Gethsemane (Lk 22,39–46). Die Ankunft der Freunde Hiobs
2,11–13
Die kleine Szene von der Ankunft der Freunde, welche die LXX wohl aufgrund der Gleichsetzung von Hiob mit dem in der edomitischen Königsliste Gen 36,33–34 genannten Jobab und aufgrund der königlichen Züge Hiobs in Kap. 29 in den Rang von Königen erhebt, 133 dient literarisch als Überleitung zur Dialogdichtung. Die Reihenfolge, in der die drei Freunde Eliphas von Teman, Bildad von Schuach und Zophar von Naaman genannt werden, entspricht der Reihenfolge, in der sie in der Dialogdichtung reden. Insofern Eliphas von Teman in 42,7–9 als Repräsentant der Freunde Hiobs und ihrer Theologie erscheint und entsprechend der altorientalischen und antiken Vorstellung, dass das Rederecht in einer Versammlung zuerst dem ältesten Teilnehmer zusteht (vgl. 32,4.6–10),134 dürfte Eliphas älter als seine zwei Begleiter Bildad und Zophar sein (vgl. auch 15,10).
Die Namen und die Herkunft der Freunde Hiobs
Exkurs
Abel, F.-M.: Géographie de la Palestine, ÉtB, I–II, Paris 21933–1938. – Bartlett, J.R.: Edom and Literatur Edomites, JSOT.S 77, Sheffield 1989. – Dion, P.-E.: Les Araméens du Moyen-Euphrate au VIIIe siècle à la lumière des inscriptions des maîtres de Suhu et Mari, in: J.A. Emerton (Hg.), Congress Volume Paris 1992, VT.S 61, Leiden 1995, 53–73. – Edelman, D.V. (Hg.): You Shall not abhor an Edomite for he is your brother. Edom and Seiʿr in History and Tradition, Atlanta 1995. – Knauf, E.A.: Alter und Herkunft der edomitischen Königsliste Gen 36,31–39, ZAW 97 (1985) 245–253. – Ders.: Hiobs Heimat, WO 19 (1988) 65–83. – Ders.: Art. „Meunim“, ABD 4 (1992) 801f. – Ders.: Supplementa Ismaelitica 4. Ijobs Heimat, BN 22 (1993) 25–29. – Ders./Herion, G.: Art. „Bildad“, ABD 1 (1992) 741f. – Lipiński, E.: Apladad, Or. NS 45 (1976) 53–74. – Müller, H.-P.: Hiob und seine Freunde. Traditionsgeschichtliches zum Verständnis des Hiobbuches, ThSt(B) 103, Zürich 1970. – Parpola, S.: The Correspondence of Sargon II, Part I. Letters from Assyria and the West, SAA 1, Helsinki 1987.– Schaudig, H.: Die Inschriften Nabonids von Babylon und Kyros’ des Großen samt den in ihrem Umfeld entstandenen Tendenzschriften. Textausgabe und Grammatik, AOAT 256, Münster 2001. – Schwemer, D.: Die Wettergottgestalten Mesopotamiens und Nordsyriens im Zeitalter der Keilschriftkulturen, Wiesbaden 2001. – Weippert, M.: Edom. Studien und Materialien zur Geschichte der Edomiter auf Grund schriftlicher und archäologischer Quellen, Diss./Habil.-Schr. Tübingen 1971.
133 134
HiLXX 2,11; 42,17e, vgl. TestHiob 28,2; 29,3; TobVg 2,15; TgHi. Vgl. zudem 1Kön 12,6–15; Sir 7,14; 32[35],7–9.
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Eliphas der Temaniter: Bei dem männlichen Personennamen Eliphas (ʾljpz, nach der masoret. Vokalisation ʾ ælîpaz) handelt es sich um einen Satznamen, bestehend aus dem mit dem Possessivsuffix der 1. P. Sg. versehenen Nomen ʾel („Gott“) und der Verbalwurzel pûz („siegen“), für die es zwar im biblischen Hebräisch keinen Beleg gibt, die aber im Arab. als fāza nachgewiesen ist. Dieser Name ist ein Bekenntnissatz „Mein Gott ist Sieger/mein Gott siegt“. Die in der Forschung gelegentlich auch vertretene Deutung „Mein Gott ist Feingold“ (vgl. hebr. paz) oder „Mein Gott ist flink“ (vgl. hebr. pāzaz) ist philologisch möglich, aber unwahrscheinlich. Epigraphisch begegnet der Name in safatenischen (altnordarab.) Inschriften als ʾljpwz. In der LXX erscheint er zumeist in der Form Ελιφας, in der Vg als Eliphaz. Der auf Griech. schreibende jüdische Philosoph Philon von Alexandria (ca. 25 v. Chr. – 40 n. Chr.) deutet den Namen als „Gott hat mich verstreut“ (Philon, congr. 56,2); im Hintergrund dieser Erklärung steht wohl die Verbindung mit dem Verb nāpaṣ/pûṣ („verstreuen/ausbreiten“, vgl. Gen 9,19; 10,18). In griech. Gestalt begegnet der Name auch als Φασαηλος und wird als solcher u. a. von Angehörigen des idumäischen Geschlechts, aus dem auch König Herodes d. Gr. stammte, getragen (Josephus, ant. Iud. 14, 121 [7,3]). In Gen 36, dem Geschlechtsregister Esaus, erscheint Eliphas als erstgeborener Sohn Esaus und der Kanaanäerin Ada, der Tochter des Hethiters Elon.135 Über die Gleichsetzung von Esau mit Edom (Gen 36,1.8) ist Eliphas ein Edomiter. Eliphas selbst gilt nach Gen 36,11–12 als Vater von Teman, Omar, Zepho (LXX: Zophar), Gaetam, Kenas und Amalek136, 1Chr 1,36 rechnet noch Timna dazu (vgl. Gen 36,40 im Gegensatz zu Gen 36,12.22). Gen 36,15–16 kennzeichnet die Söhne des Eliphas als „Fürsten im Lande Edom“, wobei ihnen noch der „Fürst Korach“ zugeordnet wird, der nach Gen 36,5 (par. 1Chr 1,35) aber als Sohn Esaus und der Kanaanäerin Oholibama, der Tochter des Horiters Ana Ben Zibon, geführt wird. Die widersprüchlichen genealogischen Zuweisungen zeigen, dass es sich bei dem Geschlechtsregister Esaus in Gen 36 um eine aus unterschiedlichen Quellen zusammengesetzte Liste handelt. Ihre genaue Herkunft ist unklar. Ob der Name im Hiobbuch bzw. einer dieser vorlaufenden älteren Hiobüberlieferung, aus der Esau-Toledot (Gen 36) oder allgemein aus der Welt altvorderorientalischer Personennamen in das Hiobbuch aufgenommen wurde, um der Figur des Eliphas ein besonderes Profil zu geben, lässt sich nicht entscheiden. Eine Verbindung zwischen dem Eliphas des Hiobbuches und dem namensgleichen Erstgeborenen Esaus (Gen 36,4) hat erst die nachbiblische Tradition hergestellt.137 Im Hiobbuch erscheint Eliphas durchgehend mit der Herkunftsbezeichnung „der Temaniter“ (ha-têmānî). Zumeist wird dies mit Teman (têmān) in Verbindung gebracht. Teman bezeichnet im AT entweder eine Landschaft in Edom (vgl. Am 1,12), dient als Synonym für ganz Edom (vgl. Jer 49,7; Jer 49,20) oder steht entsprechend seiner Etymologie (von jāmîn „rechts“) allgemein für den Süden (vgl. Hab 3,3). Ob Teman auch in den Inschriften aus Kuntillet ʿAǧrūd (KAgr (9):9,5; KAgr (9):10,2 [HAE I, 62–64]) vorkommt und dort als ein Epitheton des Gottes Jhwh gebraucht wird, ist umstritten. Für die Verbindung von Eliphas mit dem edomitischen Teman spricht, dass 1) Eliphas in Gen 36 der Name eines Edomiters ist und 2) Edom nach Jer 49,7 und Obadja 8 als Stätte besonderer Weisheit gilt. Allerdings kann die Bezeichnung têmānî sprachlich auch auf eine Herkunft aus der nordwestarab. Oasenstadt Tema (Tajmāʾ) hindeuten.138 So wird Tema als wichtiges überregionales Handelszentrum auch in Hi 6,19 genannt (vgl. auch Jes 21,14; Jer 25,23). In dem in Qumran gefundenen aram. Gebet des Nabonid (4QOrNab/4Q242 [TUAT II, 935f]), das einerseits auf den zehnjährigen Aufenthalt des bab. Königs Nabonid (552–543 v. Chr.) in der Oasenstadt Tema anspielt,139 andererseits enge Motivparallelen zu Hi 2 (und besonders zu Dan 3,31–4,34) aufweist (s. u. zu Hi 2,7–8), wird das Leiden Nabonids auf einen „Befehl des Gottes in Tema“ zurückgeführt.
Gen 36,4.10.15, vgl. 1Chr 1,35–36; 4Q252 IV,1 (als Kommentar zu Gen 36,12). Vgl. 4Q252 IV,1; Ex 17,8–16; Num 24,20; 1Sam 15,2. 137 Vgl. Wiernikowski, Hiob, 34. 138 Vgl. Knauf, Alter, 249f. 139 Vgl. die Nabonid-Chronik II,5.10 (TUAT.NF II, 40f), das sogenannte Strophengedicht Nabonids II (Schaudig, Inschriften, 563–578), und die Harran-Stele des Nabonid I (Schaudig, Inschriften, 486–499). 135 136
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Bildad der Schuachiter: Der männliche Personenname Bildad (bldd, nach der masoret. Vokalisation bildad) leitet sich vermutlich von dem akkad. Gottes- und Personennamen Apil-Adda/Apil-Adad/AplaAdad ab, der sich gehäuft seit dem 8. Jh. v. Chr. in neuassyrischen Inschriften findet.140 Als Gottesname ist er auch auf einem Siegel belegt, das in Beerscheba gefunden wurde (COS 2.125A). Er bedeutet wie der verwandte aram. bzw. hebr. Name Birhadad/Barhadad (vgl. KAI 201,1–2; 310,2; TUAT I, 625; TUAT.E, 178f) bzw. Benhadad (vgl. 1Kön 15,18.20,1) „Sohn des (Gottes) Hadad“. In einer griech. Inschrift aus Dura Europos begegnet der Name in der Gestalt Αφλαδ im 1. Jh. n. Chr.141 Gelegentlich wird auch eine Rückführung auf den in altsüdarab. Inschriften nachgewiesenen Namen Birdād vertreten.142 In LXX und den davon abhängigen griech. Texten erscheint der Name zumeist in der Schreibweise Βαλδαδ, ebenso vokalisiert in Vg Baldad. Im AT kommt der Name nur im Buch Hiob vor. Bildad trägt immer das Epitheton „der Schuachiter“ (ha-šûchî), wodurch er als ein Bewohner von Schuach (šû aḥ) gekennzeichnet wird. In der quellenmäßig schwer einzuordnenden Liste der Söhne Abrahams und Keturas (Gen 25,1–4) begegnet das Wort Schuach als Personenname neben Simran, Jokschan, Medan, Midian und Jischbak (Gen 25,2; 1Chr 1,32). Diese erscheinen als Väter unterschiedlicher arab. und aram. Stämme im Osten Palästinas (Gen 25,6). Wahrscheinlich ist Schuach mit dem am mittleren Euphrat, südöstlich der Mündung des Chabur, gelegenen Gebiet Suchu (Suchi) zu identifizieren (Tübinger Bibelatlas, B IV 13, Koordinaten: 34 °30’ N, 42 ° O). Suchu ist in akkad. Inschriften seit dem 2. Jt. v. Chr. belegt. Seit dem 9. Jh. v. Chr. stand es zunehmend unter aram. Einfluss.143 In Briefen an den assyrischen König Sargon II. (722–705 v. Chr.) taucht Suchu als Weidegebiet arab. Beduinen auf.144 Für die Zusammenstellung Bildads, des Schuachiters, mit Suchu spricht die enge Verbindung des Namens Apla-Adad (hier für den Gott) mit Suchu.145 Die politische und wirtschaftliche Bedeutung Suchus im 1. Jt. v. Chr. zeigt sich u. a. an dem Tribut, den der Statthalter Marduk-apal-uṣur an den assyrischen König Salmanassar III. (858–824 v. Chr.) entrichten musste,146 oder in einer Inschrift des Statthalters Ninurta-kudurrī-uṣur von Suchu und Mari (Mitte 8. Jh. v. Chr.), der von einem Überfall auf eine Karawane aus Tema und Saba spricht.147 Von einem palästinischen Standort aus gesehen wird Bildad als aus dem Nordosten kommend verstanden. Zophar der Naamatiter: Eine überzeugende sprachliche Herleitung des männlichen Personennamens Zophar (ṣpr/ṣwpr, nach der masoret. Vokalisation ṣopar/ṣôpar) ist bisher nicht gelungen. Möglich ist ein Zusammenhang mit dem hebr. Wort ṣippôr „Vogel“, das auch als männlicher und weiblicher Personenname verwendet werden kann (in Num 22,2 als Name des Vaters des Moabiterkönigs Balak bzw. in Ex 2,21 in der Form Zippora als Name der Frau des Mose). Zophar bedeutet in diesem Fall „kleiner/ junger Vogel“. In LXX und den davon abhängigen griech. Texten erscheint der Name zumeist in der Schreibweise Σωφαρ, ebenso in Vg Sophar. In der hebr. Bibel kommt der Name nur im Buch Hiob vor (2,11; 11,1; 20,1; 42,9). LXX bietet ihn noch in einem Nachtrag in 42,17e, in Gen 36,11.15 (par. 1Chr 1,36) anstelle von ṣ epô (ṣ epî), einem Sohn des Esaunachkommens Eliphas, und für unterschiedliche hebr. Äquivalente in Varianten zu Num 32,35; 1Chr 1,40; 7,35 und 19,16. Zophar wird stets an dritter Stelle hinter Eliphas und Bildad genannt, wodurch er als der jüngste der drei gekennzeichnet wird. Darauf spielt möglicherweise auch sein Name „junger Vogel“ an. Zophar trägt immer das Epitheton „der Naamatiter“ (ha-naʿ amātî), wodurch er als ein Bewohner von Naama gekennzeichnet wird. Die Lokalisierung ist unsicher. Eine Verbindung des Ortsnamens Naama (naʿ amāh) mit dem für unterschiedliche männliche und weibliche Figuren im AT geLipiński, Apladad; Schwemer, Wettergottgestalten, 626–628. Lipiński, Apladad, 69f. Knauf/Herion, Bildad, 741f. 143 Dion, Les Araméens, 57. 144 Parpola, Correspondence, Nr. 82. 145 Vgl. Dion, Les Aramées, 72; COS 2.115B Anm. 5; Schwemer, Wettergottgestalten, 625f. 146 Vgl. die Darstellung im vierten Register des sogenannten Schwarzen Obelisken Salmanassars III., abgebildet in: ANEP Nr. 351–355. 147 COS 2.115B, hier: IV 26b’–38’; TUAT.NF II, 84–88, vgl. Hi 6,19; zu weiteren Suchu-Annalen und Erwähnungen Suchus in akkad. Texten siehe COS 2.115C; 2.115D; ANET, 275; 304; 482; 559; ANEP Nr. 533; TUAT I, 356f. 140 141 142
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Hi 1–2 Der Prolog
brauchten Personennamen Naam (naʿam) bzw. Naama (naʿ amāh)148 ist nicht erkenntlich. Angesichts der außerisraelitischen Verortung Hiobs und der anderen Freunde ist es unwahrscheinlich, dass der Erzähler Zophar aus dem in Jos 15,41 genannten und in Juda gelegenen Naʿama kommen lässt. In der Forschung wird eine Lokalisierung in Arabien oder im aram. Bereich diskutiert. Für die arab. Lösung können dabei unterschiedliche namensidentische Ortslagen in Nordwest- und in Zentralarabien149 und die Bezeichnung eines sabäischen (altsüdarab.) Stamms als nʿmt geltend gemacht werden.150 Auch die Beschreibung Zophars in LXX als „König der Minäer“ könnte für eine arab. Lokalisierung sprechen. So sind die Minäer, d. h. die Bewohner von Maʿīn (Tübinger Bibelatlas, B V 22, Koordinaten: 15 °30’; 44 °30’), ein südarab. Volk, das seit etwa 400 v. Chr. den Weihrauchhandel von Westarabien bis Ägypten und Phönizien dominierte.151 Wenn Zophar mit dem in Gen 36,11.15 genannten Zepho gleichgesetzt wird (vgl. LXX),152 liegt eine Lokalisierung in Edom nahe. Für die Verortung im aram. Raum könnte dagegen auf die Ortslagen ʿAin Sofar („die Gelbe Quelle“) im Libanon an der Straße von Beirut nach Damaskus oder ʿAin Noʿēme (Nuʿēma) bei Deraʿa (Darʿā) im Hauran verwiesen werden.153 Da von einem palästinischen Standort aus gesehen Eliphas der Temaniter aus dem Süden und Bildad der Schuachiter aus dem Nordosten zu Hiob kommen, liegt es näher, das Naʿama Zophars im Norden zu suchen.
2,11–12 Die drei Freunde Hiobs kommen aus weit voneinander entfernten Orten: Hiob und das im Hiobbuch behandelte Thema haben eben eine universale Dimension.154 Dabei lässt sich die Wahl der Namen der Freunde, zumal „Eliphas“ und „Bildad“, auch als dichterisches Programm verstehen. So wird sich durch die Reden des Eliphas („Mein Gott ist Sieger“) die Überzeugung des allmächtig handelnden, souveränen Gottes ziehen (vgl. Hi 4–5; 15; 22). Sofern der Dichter bei Teman an Edom dachte, ist die Ambivalenz der Beziehung zwischen Israel und seinem südöstlichen Nachbarn, wie sie sich in den Erzählungen von den beiden Brüdern Jakob und Esau (Gen 25–36), in prophetischen Strafsprüchen155 oder in Dtn 23,8 niedergeschlagen hat, eingespielt: Eliphas kennzeichnet einerseits tiefe Verbundenheit mit Hiob, andererseits große Distanz. Durchgehend, auch bei den schärfsten Anklagen gegen Hiob, bleibt er aber ein Freund, ein Nächster (re aʿ) Hiobs. Auf kanonischer Ebene ergibt sich zudem als besondere intertextuelle Beziehung das Gegenüber zum Theophaniepsalm in Hab 3: Eliphas kommt aus einem Gebiet, von dem aus sich Jhwh offenbart (Hab 3,3, vgl. Dtn 33,2; Ri 5,4–5), Eliphas wird von einer besonderen Offenbarung berichten (4,12–21) und schließlich mit Hiob und seinen Gefährten die „Reden Gottes“ (38,1; 40,6) erleben. Entsprechend wird Bildad gemäß seinem Namen „Sohn des Wettergottes Hadad“ in seinen Reden versuchen, Gottes gerechtes Handeln in der Welt mittels des Hinweises auf die Erfahrung früherer Generationen ver-
Vgl. 1Chr 4,15 bzw. Gen 4,22; 1Kön 14,21 par. 2Chr 12,13. Abel, Géographie I, 287. 150 Knauf, Hiobs Heimat. 151 Knauf, Meunim, 802; zur Übersetzung ausgewählter minäischer Inschriften siehe TUAT I, 663–665; II, 623–625; 627. Dass es sich bei μιναῖος in der Hi-LXX um eine einfache Vertauschung der Konsonanten (Metathese) von nʿmtj handele (so Reed, Job, 38), ist eher unwahrscheinlich. 152 Gordis, 22f. 153 Fohrer, 106; Lévêque, Job, I, 89f. 154 Vgl. Görg, Ijob, 12. 155 Am 1,11–12; Jes 34,5; Jer 49,7–22, Ez 25,13; Ob. 148 149
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teidigen zu können, und sich doch am Ende von dem Gott aus dem Sturm mit Eliphas und Zophar eines besseren belehren lassen (38,1; 42,7–9).156 Wie die zum Trost kommenden Freunde vom Unglück Hiobs erfuhren, sagt der Erzähler nicht. Das rabbinische Targum und der bab. Talmud haben diese Leerstelle geschlossen: Als die Freunde sahen, dass die Bäume ihrer Gärten verwelkt waren und dass sich die Speise ihrer Mahlzeiten in das Fleisch wilder Tiere verwandelt und sich der Wein ihrer Feste zu Blut verändert hatte, kamen sie, jeder von seinem Platz, und deshalb wurden sie von dem Platz, der für sie in der Hölle vorbereitet war, gerettet. (TgHi 2,11)
Daneben findet sich im bab. Talmud die Tradition, die drei Freunde hätten magische Kronen besessen, die Hinweise auf das Schicksal der anderen gaben (bBB 16b). Inhaltlich bietet die kleine Szene das Muster eines zeit- und kulturübergreifenden seelsorgerlichen Verhaltens (vgl. Jub 36,22). In vier, stilistisch mittels Alliterationen und Assonanzen besonders betonten Schritten lässt der Dichter die Freunde sich dem Leidenden nahen: Am Anfang steht das Hören des Unglücks, das in Bewegung setzt. Die Bewegung zielt auf ein gemeinschaftliches Gehen, um gemeinsam Mitleid zu bezeugen (nûd)157 und zu trösten (niḥam). Doch vor dem eigentlichen Trösten steht das genaue Hinsehen („sie hoben ihre Augen auf“) und das Wahrnehmen der Fremdheit („sie erkannten ihn nicht“). Das Gesehene verlangt den Ritus, ererbte und erlernte Gesten zur Bewältigung des Außerordentlichen, hier ist es die Klage, die Züge der Trauer- und Totenklage annimmt.158 Die Freunde erheben ihre Stimme, weinen und zerreißen wie Hiob selbst ihr Obergewand. Vor dem im Staub (ʾepær) Hockenden (2,8), vor dem, der nun selbst dem Staub gleicht, bestreuen sie sich mit Staub (ʿāpār, vgl. Klgl 2,10) und nehmen so teil an dessen Schicksal. Im Ritus verdeutlichen sie sich selbst ihre Geschöpflichkeit und nehmen sie die Reaktion auf das eigene Vergehen vorweg. Im gen Himmel gerichteten Wurf des Staubs symbolisiert sich die Abwehr möglicher von dort kommender Gefahr und die stumme Anklage gegen den, der das Böse (rāʿ) über Hiob brachte.159
156 Mathys, in: Kaiser/Matyhs, Hiob, 132, vermutet hinter der Wahl der Namen zudem das Stilmittel des Atbaš, demzufolge ein Wort, das mit dem ersten Buchstaben des Alphabets (ʾ ) beginnt, mit einem Wort, das mit dem letzten Buchstaben des Alphabets (t) beginnt, zusammengestellt ist, ein Wort, das mit dem zweiten Buchstaben des Alphabets (b) beginnt, mit einem Wort, das mit dem vorletzten Buchstaben des Alphabets beginnt (š), korrespondiert usw., was aber nur im Fall von Eliphas von Teman und Bildad von Schuach aufgeht. 157 Vgl. Ps 69,21; Jer 15,5; 16,5; 22,10; Nah 3,7; Gruber, Aspects, 406f. 158 Vgl. Gen 37,33–34; 50,10; Jos 7,6; 1Sam 31,13; 2Sam 13,19; Ez 27,20; Jer 6,26; Klgl 2,10; 2Makk 10,25; 14,15; Homer, Il. 18, 23–27; Gruber, Aspects, 409; 456–460; Pham, Mourning, 25–27; 45. 159 Siehe dazu auch Houtman, Himmel, 353. Dass der Ausdruck „himmelwärts“ in der LXX fehlt, dürfte theologische Gründe haben und nicht auf eine ursprünglichere Lesart als die des MT hinweisen (so aber J. Gray).
110 2,13
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Nach den ekstatischen Gebärden kehrt Ruhe ein. Die Freunde sitzen wie Hiob auf dem Boden,160 auf derselben Augenhöhe wie der Leidende, sieben Tage und sieben Nächte, ein Vollmaß an Zeit, entsprechend der Dauer der Trauer um einen Toten.161 (11) Sodann der scharfsinnige El [ ] (12), der Kluge, stieg von seinem Thron, setzte sich (13) auf den Schemel, vom Schemel setzte er sich (14) auf die Erde. Er schüttete Asche (15) der Trauer auf sein Haupt, Staub der Erniedrigung (16) auf seinen Schädel. Als Kleid bedeckte er sich (17) mit einem Schurz. Die Haut mit einem Stein (18) kratzte er auf, die beiden Locken mit einem Schermesser. (19) Er verletzte Wangen und Kinn. (20) Er zerfurchte das Rohr seines Armes, er zerfurchte (21) wie einen Garten die Brust, wie ein Tal zerfurchte er (22) den Rücken. Er erhob seine Stimme und rief: (23) „Baʿal ist tot! Was wird aus der Sippe des Sohnes (24) des Dagan, was wird aus der Menge der Anhänger (25) des Baʿal. Ich will hinabsteigen in die Unterwelt!“ (Aus der Totenklage Els über Baʿal im ug. Baʿal-Zyklus V,vi,11–25)162
Die Fülle des Leids und des Schmerzes braucht Fülle der Trauer. Schweigend sitzen die Freunde Hiobs da. Dieses Schweigen gründet nicht nur in der Sprachlosigkeit,163 die Leiden verursacht (vgl. Ps 39,3), sondern bezeugt auch das tiefe Wissen darum, dass Seelsorge nicht mit dem Reden, sondern mit dem genauen Hören und Sehen beginnt.164 Die Freunde erweisen sich so als wahre Nächste, was in der rabbinischen Tradition zu der Sentenz geführt hat: „entweder einen Freund wie die Freunde Hiobs oder den Tod“ (bBB 16b).
Auch dieser Ausdruck hat in LXX kein Äquivalent. Vgl. Gen 50,10; 1Sam 31,13; Sir 22,12; Jdt 16,24 sowie die siebentägige Trauer von Gilgameš angesichts des Todes seines Freundes Enkidu (Gilgm. Meissner-Millard-Tafel ii [TUAT III, 665]) und von Nabonid angesichts des Todes seiner Mutter (Adad-guppi-Stele 1.III,21–32 [Schaudig, Inschriften, 513, vgl. TUAT II, 474]). 162 Übersetzung von H. Niehr, in: TUAT.NF VIII, 229. 163 Im Hebr. wird diese besonders durch die figura etymologica ʾên dober ʾelâw dābār („keiner redete Rede zu ihm“) unterstrichen (vgl. Buber, Schriftwerke, 280). 164 Vgl. Pham, Mourning, 27, 29. 160 161
II. Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs 3,1 2
Danach öffnete Hiob seinen Mund und verfluchte seinen Tag.
Und Hiob hob an und sagte:
3 Zugrunde gehe der Tag, an dem ich geboren ward, und die Nacht, die sagte: „Empfangen ist ein Mann.“ 4 Jener Tag: Es1 werde Finsternis! Eloah kümmere sich nicht um ihn von droben, und kein helles Licht strahle über ihm. 5 Finsternis löse ihn aus und dunkler Schatten, eine schwere Wolke wohne auf ihm, Verfinsterung2 überfalle ihn. 6 Jener Tag3: Dunkelheit ergreife ihn, er verbinde sich4 nicht mit den Tagen des Jahres, unter die Zahl der Monde komme er nicht. 7 Siehe: Jene Nacht, sie werde unfruchtbar! Kein Jubel komme über sie. 8 Die, die das Meer5 verfluchen, sollen sie verwünschen, die, die bereit sind, den Leviatan zu wecken. 9 Die Sterne ihrer Dämmerung sollen sich verfinstern, sie hoffe auf das Licht, aber es komme nicht, und sie erblicke nicht die Wimpern6 der Morgenröte.
Oder: „er“, d. h. der Tag. Doch siehe die Auslegung. Anstelle von kimrîrê jôm „wie Bitterkeiten des Tages“ (vgl. Sir 11,4 [HA/B]; 1QHa XIII,34[36]) lies kamrîrîm (vgl. kmr bzw. kamrîr), wobei jôm zu streichen ist. Gordis sieht in Anlehung an rabbinische Auslegungen in merîrî einen Ausdruck für Dämonen (vgl. DCH, s.v. merîrî II). Zur Diskussion (und Verteidigung des MT) siehe Grabbe, Philology, 29–31, und Seow. 3 Der MT liest „Nacht“. Die Bildwelt von V. 6 und der betonte Beginn von V. 7 mit hinnēh „siehe“ deuten darauf hin, dass erst in V. 7 ausdrücklich von der Nacht gesprochen wird. 4 Anstelle von jiḥad „er erfreue sich“ (Qal von ḥdh I, vgl. CTAT 50/5, 7–12) lies nach Sym und Tg jeḥad (Qal von jḥd, vgl. Gen 49,6; LXX; Vg). Gordis und Seow vermuten, dass der Dichter beide Bedeutungen („sich freuen“ und „sich zugesellen“) impliziert habe. Zu erwägen wäre auch die Vokalisation jeḥād „er sehe“ (Nif. von ḥdh II, vgl. hzh; HAL; DCH; Hi 34,29 – Grabbe, Philology, 32–35). 5 Anstelle von jôm „Tag“ lies aufgrund des Parallelismus jām; zur Diskussion siehe Grabbe, Philology, 35–38; Wikander, Job 3,8, 265–271; Seow. 6 Die Bedeutung von ʿapʿappajim ist nicht ganz gesichert. Die häufige Parallelisierung mit ʿajîn „Auge“ (vgl. Jer 9,17; Hi 41,10 u.ö.) spricht dafür, dass das Wort etwas an den Augen (Lid, Wimpern) oder das Auge selbst bezeichnet (vgl. Hi 16,16); zur Diskussion siehe ausführlich Clines und Seow. 1 2
BR HD
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Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs
10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Denn er7 hat die Pforten meines Schoßes nicht verschlossen und die Mühsal vor meinen Augen nicht verborgen. Wozu bin ich nicht vom Mutterleib an gestorben, aus dem Schoß gekommen, und nicht sogleich verschieden? Warum kamen mir Knie entgegen und weshalb Brüste, so dass ich trinken konnte? Ja, dann läge ich und könnte ruhen, dann schliefe ich und hätte Ruhe, – bei Königen und Ratgebern von Welt, die Ruinen(stätten) für sich bauten, oder bei Vornehmen, die (viel) Gold besaßen, die ihre Häuser mit Silber(schätzen) füllten, oder wie eine Fehlgeburt versteckt, die8 nicht war, wie kleine Kinder, die nicht das Licht erblickten. – Dort haben die Frevler aufgehört mit Toben9, und dort ruhen die, deren Kraft erschöpft ist. Miteinander sind die Gefangenen in Ruhe, hören nicht (mehr) die Stimme des Treibers. Klein und groß: Dort ist er, und der Diener ist frei von seinem Herrn10.
20 21 22 23
Wozu gibt er11 dem Mühseligen das Licht und das Leben denen, deren ‚Seele‘12 bitter ist, denen, die auf den Tod warten, aber er ist nicht da, so dass sie nach ihm graben mehr als nach Schätzen, denen, die sich auf einen (Stein)haufen13 freuen, die jauchzten, wenn sie ein Grab fänden, dem Mann, dessen Weg verborgen ist und den Eloah selbst eingehegt hat?
7 Zumeist wird „die Nacht“ als Subjekt verstanden. Der Wortgebrauch von sgr „verschließen“, die Strophik von Kap. 3 und die Parallelität von V. 10 und V. 20 sprechen dafür, „Gott“ als noch nicht ausdrücklich genanntes Subjekt zu verstehen. Seow nimmt ein unpersönliches „man“ an. Ohne Angabe der vorgenommenen Textänderung setzt J. Gray, 139, Hiob als Subjekt ein („Because I did not close up the doors …“). 8 Anstelle von ʾæh ejæh „ich wäre nicht gewesen“ lies in Parallele zur Konstruktion eines asyndetischen Relativsatzes in V. 16b hājāh (vgl. Beer, Text, 19). 9 Wörtl.: „Aufregung“ (rogæz wie in V. 26). 10 Wörtl.: „seinen Herren“; ʾadonâw steht hier im Sinn eines Intensiv-Pl. (G/K § 124i) und spielt auf Gott als den Herrn (ʾ adonāj, vgl. Hi 28,28) selbst an. 11 D. h.: Gott. LXX; Syr; Vg; TgHss verstehen jtn/jitten passivisch als „ist gegeben“. 12 Sofern das Wort næpæš hier mit dem traditionellen Übersetzungsäquivalent „Seele“ wiedergegeben wird, ist es durchgehend in einfache Anführungszeichen gesetzt, um anzudeuten, dass sich der Bedeutungsgehalt von næpæš und Seele unterscheiden. Zum Problem siehe die Auslegung von Hi 2,4–5. 13 Anstelle von gîl „Jubel“ lies gal „Steinhaufen“, gemeint ist ein Grabhügel (vgl. Hi 8,17; 15,28; Seow verweist zudem auf den Gebrauch im rabbinischen Hebr., vgl. mSota IX,2; bShab 34a). Zur Beibehaltung des MT siehe Grabbe, Philology, 38–41; CTAT 50/5, 14–16; Clines.
Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs
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Denn gleich14 meiner Speise kommt mein Seufzen, so dass mein Schreien15 sich ergießt wie Wasser. Denn gewaltiger Schrecken packte mich und kam über mich, und wovor ich mich gefürchtet habe, das kommt nun an mich. Ich war nicht ohne Sorge und habe nicht geruht und hatte keine Ruhe, da kam schon wieder Aufregung.
Blumenthal. E.: Hiob und die Harfnerlieder, ThLZ 115 (1990) 721–730. – Dell, K.: „Cursed be the Literatur Day I was Born!“ Job and Jeremiah Revisited, in: Dies./W. Kynes (Hg.), Reading Job Intertextually, LHBOTS 574, New York u. a. 2013, 106–117. – Fishbane, M.: Jeremiah IV 23–26 and Job III 3–13, VT 21 (1971) 151–167. – Fuchs, G.: Die Klage des Propheten. Beobachtungen zu den Konfessionen Jeremias im Vergleich mit den Klagen Hiobs (Erster Teil), BZ.NF 41 (1997) 212–228. –Dies.: „Du bist mir zum Trugbach geworden“. Verwandte Motive in den Konfessionen Jeremias und in den Klagen Hiobs (Zweiter Teil), BZ.NF 42 (1998) 19–38. – Ha, K.-T.: Frage und Antwort. Studien zu Hiob 3 im Kontext des Hiobbuches, HBS 46, Freiburg i. Br. 2005. – Jacobsen, T./Nielsen, K.: Cursing the Day, SJOT 6 (1992) 187–204. – Loretz, O.: „Schwarze Magie“ des Tages in Ugarit und Israel (KTU 1.6 VI 45b–53; 1.14 I 19–20; 1.4 VII 54–56; Hi 3,8). Altorientalische „schwarzen Magie“ in Altsyrien-Palästina, in: Ders., Götter – Ahnen – Könige als gerechte Richter. Der „Rechtsfall“ des Menschen vor Gott nach altorientalischen und biblischen Texten, AOAT 290, Münster 2003, 475–512. – Noegel, S.B.: Job iii 5 in the Light of Mesopotamian Demons of Time, VT 57 (2007) 556–562. – Pezzoli-Olgiati, D.: Leben und Tod, Unterwelt und Welt. Strategien der Kontingenzbewältigung in Hiob 3, in: T. Krüger u. a. (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, AThANT 88, Zürich 2007, 441–454. – Wikander, O.: Job 3,8. Cosmological Snake-Charming and Leviathanic Panic in an Ancient Near Eastern Setting, ZAW 122 (2010) 265–271.
Der Fluch Hiobs über den Tag der eigenen Geburt setzt dem siebentägigen Schweigen ein Ende. Das erste Wort gehört dem Leidenden, nicht den Tröstenden. Die Lippen dessen, der Gott lobte (1,21) und der sich in allem, was ihm bisher widerfahren war, nicht gegen Gott verfehlte (2,10), öffnen sich zum Schrei über die Not der eigenen Existenz. Hatte Hiob bisher mit einem Bekenntnis zu seiner geschöpflichen Vergänglichkeit, mit einem Lobpreis Jhwhs und mit einer Mahnung reagiert, alles, Gutes und Böses, von Gott anzunehmen, so äußert er sich nun in einer langen Klage. Diese entpuppt sich als eine scharfe Anklage Gottes des Schöpfers. Die Klage verfügt über eine doppelte Überschrift (V. 1–2), an die sich drei gleichmäßig aufgebaute Strophen anschließen (V. 3–9|10–19|20–26). Der jeweils erste Vers einer Strophe stellt eine Art These dar, die in den folgenden Versen entfaltet wird. Im Mittelpunkt der Eröffnungsstrophe (A: V. 3.4–9) steht die Verwünschung der eigenen Existenz, entfaltet am Vernichtungswunsch über den Tag der Geburt (V. 3a) und über die Nacht der Empfängnis (V. 3b). Die merkwürdige Umkehrung der natürlichen Reihenfolge in V. 3 („Empfängnisnacht“ – „Geburtstag“) ist charakteristisch für die folgenden Verse, in denen 14 lipnê steht in vergleichendem Sinn (vgl. Hi 4,19b; 1Sam 1,16). Will man bei der Bedeutung „vor“ bleiben, stellt sich die Frage, ob dies räumlich oder zeitlich zu verstehen ist. Kaum überzeugend ist der Vorschlag von Seow, 371f, gemäß Ps 56,2–3 lḥmj als loḥ amî/loḥ amaj „mein Widersacher“ zu vokalisieren und dies auf Gott zu beziehen. 15 Wörtl.: „meine Schreie“; der Pl. steht hier im Sinn eines Intensiv-Pl.
Aufbau und Sprachformen
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Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs
mehrfach die logische Sequenz umgekehrt ist (vgl. V. 10a „sterben“ gegenüber V. 10b „verscheiden“ mit Gen 25,8).16 Mittels dieser Umkehrung wird zum einen das im jeweils ersten Kolon Gesagte besonders betont, andererseits Hiobs Beschreibung der chaotischen Verkehrung seiner Weltordnung unterstrichen. Das Korpus der zweiten Strophe (B: V. 10.11–19), die nicht, wie zumeist angenommen, erst mit V. 11, sondern schon mit V. 10 beginnt,17 bietet eine Anklage Gottes, der Mühsal auferlegt. Dabei wird der in der Strophenüberschrift (V. 10) thematisierte Todeswunsch zunächst individuell (V. 11–13), dann kollektiv ausgeführt (V. 17–19). Zwischen beiden Teilen steht eine ebenfalls aus drei Bikola bestehende Reflexion über die Allgemeinheit des Todesgeschicks (V. 14–16). Der Schlussteil der Rede (C: V. 20.21–26) wiederholt die Anklage gegen Gott. Die in der Strophenüberschrift (V. 20) genannte Lebensmüdigkeit wird zunächst nach ihrer allgemeinen Seite dargestellt (V. 21–23), anschließend nach ihrer individuellen (V. 24–26), so dass sich im Blick auf die zweite Strophe (V. 10–13.14–16.17–19) eine chiastische Anlage zeigt. Hinsichtlich der Gesamtstruktur des Hiobdialogs bildet die Eingangsklage Hiobs nicht die erste Rede eines ersten Redegangs, sondern ein kompositionelles Gegenstück zur Herausforderungsrede in Kap. 29–31, das wie diese auf die direkte Antwort Gottes in Kap. 38–39 zielt. Das grundlegende Sprachmuster, auf dem Hi 3 basiert, ist das Klagegebet eines Einzelnen, dem etwa die Hälfte der im Psalter versammelten Gebete angehören und in dem die an Gott gerichtete Klage über eine gegenwärtig erfahrene Not ausgesprochen wird. Im Gegensatz zum Klagegebet eines Einzelnen im Psalter fehlen in Hi 3 die Elemente der direkten Anrede Gottes in der 2. P. Sg. und vor allem die an Gott gerichtete Bitte um die Wende der Not und die Errettung vor bzw. aus dem Tod (vgl. Ps 88,2–14). Auch das in einzelnen Individualklagen des Psalters enthaltene Vertrauensbekenntnis und Lobgelübde erscheinen nicht.18 So erweist sich Hi 3 als eine auf die Elemente der Beschreibung der leidvollen Situation und der Frage nach Grund und Ziel des Leidens verdichtete Klage, die sich zur Anklage Gottes entfaltet. Hinzu kommen Elemente des Fluchwunsches, der Verwünschung und der Jenseitsbeschreibung. Mehrfach verwendet der Dichter das Stilmittel der Personifikation unbelebter Größen (Tag, Nacht, Finsternis, Morgenröte, Sterne, Schatten) und gebraucht hochmythologische Bilder, vor allem aus der im gesamten Alten Orient, in Kleinasien und im antiken Griechenland bekannten Tradition des Chaoskampfes. Zudem arbeitet der Dichter mit einzelnen Texten aus den israelitisch-jüdischen Schriften, vor allem mit dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht in Gen 1,1–2,3 und der dtr. Fluchankündigung in Dtn 28.19 Ob er zur Komposition von Hi 3 auch auf die sekundär Jeremia in den Mund gelegte Verfluchung der eigenen Geburt in Jer 20,14–18 zurückgegriffen hat, die sich Watson, Poetry, 330f. Vgl. Fokkelman, 206. 18 Vgl. Ps 6,10–7; 13,6; 42,12; 43,5. 19 Siehe dazu auch K. Schmid, Hiob, 36f; 43f. 16 17
Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs
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bis in einzelne Begriffe, Wendungen und Bilder mit Hi 3,1–11 berührt,20 ist umstritten. Literargeschichtlich denkbar ist auch die umgekehrte Richtung. Es könnte sich aber auch um eine literarisch voneinander unabhängige, jedoch motivisch und formgeschichtlich eng miteinander verwandte und in einem vergleichbaren weisheitlichen Milieu vorgenommene Ausgestaltung einer alten Fluchformel handeln.21 Die Vorstellung, einzelne Unglückstage zu verfluchen und damit das an diesem Tag Geschehene wenn nicht rückgängig, so doch unwirksam machen zu können, ragt tief in magisches Denken zurück und ist literarisch für Mesopotamien seit dem 3. Jt. v. Chr. belegt.22 Die Vorstellung spiegelt die hohe Bedeutung, die ein geregelter und berechenbarer Zeitablauf für die (menschliche) Existenz überhaupt hat. In (Fest-)Kalendern, Tages- und Monatslisten sowie Horoskopen hat sie sich im Alten Orient und Ägypten schriftlich schon im 3. Jt. v. Chr. niedergeschlagen. Der Rückgriff des Hiobdichters auf alte Mythologeme, u. a. auf Motive aus dem Chaoskampfmythos,23 und auf die Schriften Israels sind literaturgeschichtlich Kennzeichen seiner hohen Bildung. Inhaltlich dienen sie einem doppelten Ziel: einerseits dem poetischen Ausdruck der besonderen Situation Hiobs, insofern der Mythos und das Symbol in der existentiellen Krise Sprache verleihen, andererseits der theologischen Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition, insofern die hier zitierten, angespielten oder parodierten Gattungen und Texte aus der Überlieferung in einem neuen Kontext ausgelegt, dabei kritisch kommentiert oder einzelne in ihnen vertretene Positionen widerlegt werden. So spiegelt sich hier der gelehrte Diskurs, aus dem das Hiobbuch stammt und an dem diejenigen, die das Buch lesen, teilhaben. In dem aus Höhle 4 in Qumran bekannten Targum zum Hiobbuch Text- und (4QTgHi/4Q157 Kol. I) sind nur wenige Wörter der Übersetzung von 3,4–9 Literarerhalten. Sie sind mit dem Text, wie er vom MT repräsentiert wird, identisch. geschichte Die doppelte Überschrift in 3,1 und 3,2 verdankt sich der redaktionellen Verknüpfung der Hiobnovelle, deren erster Teil, nun angereichert um die Himmelsszenen (1,6–12; 2,1–6), die Szene von der Krankheit Hiobs (2,7–8), das Gespräch Hiobs mit seiner Frau (2,9–10) und die Szene von der Ankunft der Freunde Hiobs (2,11–13), als Prolog dient, und der Hiobdichtung, die ursprünglich einmal mit der Klage Hiobs in 3,2(3) einsetzte. Hi 3,1 geht wohl auf den Buchredaktor zurück, der mit dem Begriff „Tag“ (jôm) ein Leitwort sowohl des Prologs (vgl. 1,5.6.13; 2,1) als auch der folgenden Klage (vgl. 3,3)
20 Vgl. Hi 3,1b.3a.4a mit Jer 20,14; Hi 3,3b mit Jer 20,15; Hi 3,10–11 mit Jer 20,17–18 (Hi 10,18–19 mit Jer 20,14–18); siehe dazu Fuchs, Klage, 215–223; Dell, Cursed, 108–110; K. Schmid, Hiob, 39f. 21 Siehe dazu H. Bezzel, Die Konfessionen Jeremias. Eine redaktionsgeschichtliche Studie, BZAW 378, Berlin/New York 2007, 253f. 22 Vgl. Jacobsen/Nielsen, Cursing the Day, 187–192, die Beispiele aus dem Atr. III,iii,32–37 (TUAT III, 641) und dem Gilgm. XI,117–121 (TUAT III, 732f) anführen. 23 Vgl. dazu Fuchs, Mythos, 11–14, 65–69; Scriba, Geschichte, 64–70.
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Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs
aufgreift. Mit dem Wort qillel „verfluchen“, dem im Kontrast zu ʾārar24 etwas schwächeren Ausdruck für einen Fluch, fasst er den Inhalt von 3,3–26* zusammen. Zudem bietet er mit dem Fluch Hiobs über seinen Tag eine Variation des vom Satan angekündigten Fluchs Hiobs gegenüber Gott. Hi 3,1 signalisiert so den Wandel Hiobs vom demütigen Dulder zum klagenden Rebell.25 Hi 3,2 stellt die eigentliche Überschrift der Rede dar. Sie entspricht den Standardüberschriften der Hiobreden in der Dialogdichtung.26 Kap. 3, das mit der Verwünschung der eigenen Geburt, der Lebensklage und der Todessehnsucht alle für die Entfaltung des Dialogs mit den Freunden wesentlichen Elemente enthält, erscheint im jetzigen Buchkontext als Weiterführung und als Explikation der kurzen Reden Hiobs in 1,21 und 2,10. Die redaktionell gebildeten Szenen der Erkrankung Hiobs und seines Sitzens im Staub (2,7–8), des Gesprächs mit seiner Frau (2,9–10) und der stummen Anteilnahme seiner Freunde (2,11–13) bilden die Kulisse und verstärken die Dramatik der Klage. Die Klage selbst ist literarisch weitgehend einheitlich. An zwei Stellen (V. 4–9; V. 14–16) könnte nachgearbeitet worden sein. In V. 4–9 finden sich gehäuft Trikola, während Kap. 3 ansonsten, wie der ganz überwiegende Bestand der gesamten Hiobdichtung, aus Bikola besteht.27 Will man nicht mit einer umfassenden Glossierung rechnen,28 die sich einer Erklärung der mitunter seltenen Wörter in dieser Passage verdankt, so könnten die Trikola auch bewusst zum Auftakt der Klage und zur stilistischen Hervorhebung der aus Hiob herausbrechenden Rede gewählt sein. Auffällig bleiben aber das zweite Kolon in V. 4, in dem ausdrücklich Gott (ʾ ælô ah) genannt wird (vgl. V. 23), während in V. 10 und V. 20 von Gott nur indirekt in der 3. P. Sg. gesprochen wird, sowie die unmittelbar aufeinander folgende Nennung von „Tag“ und „Nacht“ in V. 5b und V. 6a. Letzteres könnte erst auf eine Verschreibung in V. 5b und eine fehlerhafte Ergänzung in V. 6a zurückgehen.29 Ursprünglich dürften nur in V. 3, der die erste Strophe einleitet, in einem Bikolon „Tag“ und „Nacht“ nebeneinander genannt worden sein, während V. 4–6 das Tagmotiv und V. 7–9 das Motiv der Nacht entfalteten. Sodann scheinen V. 14–16, die Hiobs Todessehnsucht exkursartig ausmalen und die aus dem strophischen Muster von Kap. 3 herausfallen, nachgetragen zu sein, wobei V. 16 besser direkt hinter V. 13 passen wür-
24 Zumeist in der Fluchformel ʾārûr „verflucht“ (vgl. Gen 3,14; 4,11; Dtn 27,15–26; Dtn 28,16– 19; Jer 20,14–15); gelegentlich können qll und ʾrr auch synonym gebraucht werden (vgl. Gen 12,3; Ex 22,28). Auch inschriftlich ist die Verwendung von ʾrr, qll und qbb in Fluchformeln breit belegt (T.G. Crawford, Blessing and Curse in Syro-Palestinian Inscriptions of the Iron Age, AmUSt VII/120, Frankfurt/M. u. a. 1992). 25 Vgl. K. Schmid, Hiob, 38. 26 Vgl. Hi 6,1; 9,1; 12,1; 16,1; 19,1; 21,1; 23,1; 26,1. Im MT spiegelt sich die Differenz zwischen 3,1 und 3,2 auch darin, dass 3,1 zum Abschnitt 2,11–13 gezählt und 3,2–26 als ein Abschnitt betrachtet wird. 27 S.o. S. 14. 28 Zur Annahme, V. 4aα.5aβ.6aα.9aβ seien sekundär, siehe Hölscher; Horst; Fohrer. Loretz, Götter, 481–485, betrachtet V. 4–6.9 insgesamt als sekundär „(e)ingefügtes Zitat“ und V. 23 als eine Glosse. 29 Siehe die Anm. zur Übersetzung.
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de.30 Als Beschreibung allgemeiner Todesverfallenheit haben diese Verse zahlreiche Parallelen im Alten Orient und der klassischen Antike.31 Der Tag des Leidenden
3,1–2
Nach dem siebentägigen Schweigen „öffnet“ (pātaḥ) Hiob seinen Mund. Der 3,1 Ausdruck findet sich in der Einleitung prophetischen, weisheitlichen oder doxologischen Redens.32 Hier markiert er einen Kontrast zum Schweigen der leidenden Gerechten in Jes 53,7 und Ps 39,10.33 Wie die folgenden Verse zeigen und wie die Parallele in Jer 20,14–18 nahelegt,34 ergeht Hiobs Fluch (qillel) über den Tag seiner Geburt. Was dem Weisen an sich verwehrt ist (vgl. Sir 7,27 [G]; 23,14 [G])35 und was als Zeichen des Sünders gilt (vgl. Jes 45,9–10; PsSal 3,9), erscheint hier als einziger Ausweg: Weil Hiob sich in seinem Leben vernichtet sieht, unterstellt er den Eintritt in das Leben der Vernichtung. So haftet dem Begriff qālal im Piel, ausgehend von der Grundbedeutung „leicht/gering sein“, auch die Bedeutung „gering machen/vernichten“ an (vgl. Gen 8,21; Neh 13,25; Jer 15,10). Das Leben hat für Hiob seine Schwere (kābôd), seine Würde (vgl. 19,9; 29,20) verloren und ist bedeutungslos geworden. Die Leser, die darum wissen, dass Hiobs Unglückstag im Himmel beginnt (1,6.13; 2,1), erkennen in 3,1–6 zugleich einen Fluch über diesen Himmelstag. Der Fluch Hiobs über seinen Geburts- und Schicksalstag kehrt die Sehnsucht nach einem Kind (vgl. Gen 30,1) um und entfaltet sich zu einem Fluch über die personal erlebte Zeit – nicht aber zu einer Verfluchung Gottes, wie es der Satan in Erwägung gezogen hatte (2,4–5). Ob Hiobs Fluch sich tatsächlich verwirklicht oder ob er sich wie ein grundloser Fluch (qilelat ḥinnām) verflüchtigt (vgl. Spr 26,2), muss sich zeigen. Das Leiden wirft Hiob auf den Beginn seiner Existenz zurück und lässt ihn deren Ende ersehnen. Die Geburtsstunde (3,3) und der Todestag (3,13.21) bilden die Eckpunkte seines Leidens. In der Krise des Leidens treten die Krisenzeiten der Existenz in den Blick: Anfang und Ende des Lebens. Zeiträume werden übersprungen, indem die Zeit zwischen Geburt und Gegenwart ausgeblendet bleibt, wohingegen die Zeit des vor Augen stehenden Todes unendlich lang (3,13) dargestellt wird. Der Tod selbst erhält hier – einmalig im AT, vergleichbar aber mit dem dritten Gedicht im äg. Gespräch des Lebensmüden mit seinem Ba – den Wert, der sonst nur dem Leben beigemessen wird:
Fohrer und Horst halten nur V. 16 für sekundär. Weiser stellt V. 16 vor V. 14 und de Wilde vor V. 13. J. Gray, der die Frage der Ursprünglichkeit von V. 16 offen lässt, positioniert ihn vor V. 12 und ändert die Negation loʾ in die Wunschpartikel lû. 31 S.u. die Auslegung von V. 13–16.17–19. 32 Vgl. Ez 3,2.27; 24,27; Hi 33,2 (ähnlich auch 32,20); Ps 51,17; 78,2. 33 K. Schmid, Hiob, 38. 34 Vgl. auch Gen 40,20; Hos 2,5; Pred 7,1; Sir 40,1; Erra-Mythos (Išmun und Erra) IV,88–91 (TUAT III, 796f); Sophokles, Oid. T. 1349–1355; Oid. K. 1224–1225; Euripides, Tro. 636–637. 35 Vgl. auch Achikar X,2 (TUAT III, 336; TAD C1 1.80; Weigl, Achikar-Sprüche, 79–82). 30
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Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs Der Tod steht heute vor mir wie das Genesen eines Kranken, wie wenn man ins Freie tritt nach einem Leiden. Der Tod steht heute vor mir wie der Duft von Weihrauch, wie Sitzen unter dem Segel am Tag des Windes. Der Tod steht heute vor mir wie der Duft der Lotosblüten, wie Wohnen am Rand der Trunkenheit. Der Tod steht heute vor mir wie die Klarheit des Himmels wie wenn ein Mensch die Lösung seines Rätsels findet. Der Tod steht heute vor mir wie der Wunsch eines Menschen, sein Heim wiederzusehen, nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbrachte.36
3,2 Die Wendung wajjaʿan … wajjoʾmar, die stereotyp die folgenden Reden der Dichtung eröffnet, wird zumeist mit „und er antwortete und sagte“ übersetzt. Da Hiob aber als erster das Schweigen bricht und redet, liegt es nahe, ʿānāh (I) als feierliche Eröffnung einer Rede mit „anheben“ wiederzugeben (vgl. Dtn 21,7; 25,9; 27,14; Jes 14,10)37 und diese Übersetzung bei allen folgenden gleichlautenden Redeüberschriften beizubehalten. 3,3–9 Die Umkehrung der Zeiten 3,3 Der stilistisch mittels Alliteration und Paronomasien hervorgehobene Wunsch Hiobs nach dem Untergang „seines Tages“ blickt auf den Anfangspunkt des Lebens und bezieht doch die fortdauernde Existenz im Strom der Zeit mit ein. In V. 3b kann das Wort „Mann“ (gæbær), auch wenn es für die Bezeichnung eines Neugeborenen unpassend erscheint und in der Parallele in Jer 20,15 von der Geburt eines „männlichen Kindes“ (ben zākār, vgl. Jes 66,7; Hi 3,3LXX: ἄρσεν) gesprochen wird, beibehalten werden. So korrespondiert die Selbstbezeichnung des Leidenden als gæbær mit V. 23. Sie hat in Klgl 3,1 eine direkte Parallele und steht eindeutig mit Hi 16,21, 38,3 und 40,7 in Verbindung (vgl. auch 10,5; 34,9). Der gæbær, der hier seinen Geburtstag und damit seine gesamte Existenz in Frage stellt, ist der gæbær, der sich von Gott mit Unheil umringt sieht (3,23), der Gott darum bittet, dass er ihm Recht verschaffe (16,21), und der abschließend von Gott selbst zu seinem Standort im Kosmos befragt wird (38,4). 3,4–6 Hiobs Herabrufung der Chaosmacht des Dunkels bildet die Antithese zu Gottes erstem Schöpfungswort (Gen 1,3, vgl. Jes 40,26; Ps 33,6). Dem Schöpferwort „es werde Licht (ʾôr)“ steht der Schrei des gequälten Geschöpfs „es werde 36 Übersetzung von D. Hornung, Dichtung, 108f.; siehe dazu auch Assmann, Der „leidende Gerechte“, 209–218. 37 In LXX und Vg sind die Wörter („und Hiob hob an und“) offenbar bewusst ausgelassen.
Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs
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Finsternis (ḥošæk)“ gegenüber. Schon der Beginn der Klage Hiobs verbalisiert die Gottesfrage unter dem Aspekt der Zeit und der kosmischen Ordnung: Ist Gott, der hier erstmals im Hiobbuch unter der seltenen Bezeichnung Eloah erscheint, als der Schöpfer auch der Herr der Zeit? Ist er als Gott in der dem Menschen entzogenen Sphäre des Himmels auch für die Geschehnisse auf der Erde zuständig? Mit diesen Fragen wird auch die priesterliche Schöpfungs- und Ordnungstheologie (Gen 1,1–2,3), welche die Torah eröffnet, problematisiert. Das ist innerhalb der Dialogdichtung ein erster Hinweis darauf, dass es im Hiobbuch auch um die Torah und ihre Theologie(n) gehen wird. Der Wunsch Hiobs nach der Umkehrung der Zeiten (vgl. Am 8,9–10)38 und seine Sehnsucht nach der Ausgliederung seiner Zeit aus dem Lauf der Zeit zielen auf eine Bestreitung von Gottes Herrschaft über die Zeit. An die Stelle des Fragens (dāraš) Gottes nach dem Menschen, hier mit dem Nebensinn der Sorge um den Menschen (V. 4aβ, vgl. Ps 8; 139; 144, doch siehe auch Hi 10,6), soll die Beziehungslosigkeit zu Gott im Dunkel des Todes treten. Die sonst dem heilvollen und befreienden Handeln Gottes zugeschriebene Funktion der Auslösung und Erlösung (gāʾal, V. 5), sei es im Rahmen von Israels Exodus aus Ägypten, sei es in der Herausführung aus dem Babylonischen Exil,39 wird hier der Finsternis (ḥošæk) zugewiesen. Dazu tritt erläuternd der mindestens in der masoret. Punktation so verstehbare und von der LXX in diesem Sinn aufgefasste Begriff „Todesschatten“ (ṣalmawæt, σκιὰ θανάτου), der ursprünglich wohl tiefste Finsternis bezeichnet.40 Die Erfahrung Hiobs, dass das Chaos in sein Leben einbricht, artikuliert 3,7 sich im radikalen Wunsch der Unfruchtbarkeit. Im Blick auf jene eine Nacht, da Hiobs Mutter empfing, soll grundsätzlich Unfruchtbarkeit herrschen. Wie der Ruf „es werde Finsternis“ (V. 4) Gottes Schöpferhandeln verneint, so steht der Ruf „sie werde unfruchtbar (galmûd)“ der göttlichen Mehrungsverheißung (Gen 1,28) entgegen und karikiert den urzeitlichen Jubel (r enānāh/rānan) über den Schöpfer (Hi 38,7) und die Freude über das neu entstandene Leben (Jer 20,15). Hiobs irrealer Wunsch verdichtet sich zur Anfrage an den Schöpfer, ob dieser das Chaos tatsächlich zu bannen vermöge. Das Erleben des Chaos im eigenen Leben setzt das kollektive Gedächtnis urzeitlicher Chaoserfahrungen frei. Der Leidende greift zur Bewältigung seines gegenwärtigen Geschicks auf 3,8 den Mythos zurück. Die urzeitlichen Chaoswesen, das Meer (jām)41 und der Meeresdrache (liwjātān, „der sich Windende“),42 sind für den Leidenden wieder 38 Die Parallele zu Am 8,10 (k ejôm mār „wie einen bitteren Tag“) ist für Seow ein entscheidendes Argument, an der Lesart des MT (kîmrîrê jôm) festzuhalten (siehe die Anm. zur Übersetzung); dagegen sprechen die Doppelung von jôm (vgl. V. 4) und die Objektsuffixe in V. 5. 39 Vgl. Ex 6,6; 15,13; Jes 41,14; 43,14; 44,6.22–23; Ps 107,2; zu Hi 19,25 s. u. die Auslegung von Hi 19. 40 Vgl. Hi 12,22; 16,16 (v.l.); 24,17; 28,3; Ps 23(22),4; 44(43),20; 107(106),3; 106(107),14; Jes 9,1; Jer 13,16 und siehe dazu Grabbe, Philology, 27–29; D. Van Acker, צלמות, An Etymological and Semantic Reconsideration, JNSL 43 (2017) 97–123. 41 Vgl. die Anm. zur Übersetzung sowie Hi 7,12; 9, 13–14; 26,12–13. 42 Vgl. Hi 40,15–41,26; Ps 74,13–14; 89,10–11; Jes 27,1, Baʿal-Zyklus III,iii,38–42; V,i,1–3.27– 30 (TUAT.NF III, 206, 224f) und dazu C. Uehlinger, Art. „Leviathan“, DDD (21999) 511–515; M. Korpel, Art. „Leviathan I. Ancient Near East and Hebrew Bible/Old Testament“, EBR 16 (2018)
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Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs
lebendig. Die Motivik ragt weit zurück in den altorientalischen Mythos vom urzeitlichen Kampf gegen die Chaoswasser, wie er sich im bab., kleinasiatischen und nordwestsemitischen Raum findet und je nach regionaler Ausprägung des Pantheons vom Kampf Marduks gegen Tiamat (vgl. EnEl. IV) oder Baʿals gegen den Meeresgott Jammu, zu dessen Helfern auch die Schlange Lotan (ltn) gehört, erzählt.43 Hiobs Leid erscheint als Widerspruch zur Schöpfungsordnung. Die einst von Jhwh selbst in die Schranken verwiesenen, von ihm zum Spiel degradierten (vgl. 38,8–11; 41,3; Ps 104,26), nun aber der Verfügung der Magier (vgl. Num 22,5–6) unterstellten Mächte des Meeres und des Leviatans, die nun wieder geweckt werden sollen,44 dienen als Chiffre für Hiobs Verneinung der göttlichen Schöpfermacht. Die LXX hat diesen Vers erheblich entmythisiert, indem sie erstens das Subjekt des Satzes im Singular bietet, womit nur Gott selbst gemeint sein kann, und zweitens aus dem Leviatan ein namenloses Seeungeheuer bzw. einen großen Fisch (κῆτος) macht.45 3,9 Jhwhs Fähigkeit, Licht in die Finsternis zu bringen (38,12; Gen 1,3–5.14–19; Jes 45,7),46 konkurriert mit Hiobs Wunsch, die Nacht, in der er empfangen wurde, möge nie mehr die Sterne der Morgendämmerung und die Morgenröte erblicken (vgl. Jes 13,10).47 Umwälzungen des Lebens bringen den Ruf nach Umkehrung aller Zeiten hervor. Letztlich soll es überhaupt nicht mehr Morgen werden. Erneut berühren sich die Worte Hiobs mit einem spät dem Jeremiabuch zugewachsenen und gleichsam in ein kritisches Gegenüber zu Gen 1 tretenden Text: 23 Ich sah das Land, und siehe, es war wüst und leer, sah zum Himmel, und er war finster. 24 Ich sah die Berge an, und siehe, sie bebten und alle Hügel wankten. 25 Ich sah, und siehe, 292–295; Brüning, Seeungeheuer, 250–255. Zu der vergleichbaren Größe Rahab siehe Hi 9,13; 26,12; Sir 43,25 (HM); Ps 89,10–11; Jes 51,9. 43 Vgl. EnEl. IV (TUAT.NF VIII, 106–112); Baʿal-Zyklus III,iii, 37–42; V,i,1–3.27–30 [TUAT. NF VIII, 206, 224f]). Für eine heth. Version des Drachenkampfmythos siehe die Mythe von Illu yanka (TUAT.NF VIII, 146–149). Aus dem äg. Bereich ist z. B. auf die mythische Wasserschlange Apep (Apophis) zu verweisen, mit welcher der Sonnengott kämpft (Schöpfungsmythos am Tempel von Esna XV [206,11] [TUAT III, 1084]; Spruch zur Abwehr des Apophis auf der Metternichstele [TUAT II, 360]) oder auf die Niederwerfung des „Gierigen (der Gier) des Wassers“ durch den Schöpfergott Re (Lehre d. Merikare P 130 [TUAT II, 835]). In rabbinischen Traditionen lebt der Mythos vielfältig fort (vgl. bGit 56b). Siehe dazu auch C. Uehlinger, Art. „Leviathan“, DDD (21999) 511–515; K. Spronk, Art. „Rahab“, DDD (1999) 684–686; R. Adelman, Art. „Leviathan II. Judaism“, EBR 16 (2018) 295f; Fuchs, Mythos, 11–14. 44 Zur Verwendung dieses Motivs in spätantiken aram. Zauberschalen siehe Wikander, Job 3,8, 266–271, der auch darauf verweist, dass in einer aram. Zauberschale aus Nippur offenbar Hi 3,8 mit der mutmaßlich ursprünglichen Lesart jām zitiert wird. 45 Vgl. HiLXX 9,13; 26,12; 41,25; Gen 1,21 LXX; Jon 2,1 LXX. Demgegenüber transkribieren Aq und Sym hier und in Hi 40,25 λευιαθαν. 46 Umgekehrt kann Jhwh als der gepriesen werden, der das Licht in Finsternis verwandelt (Am 5,8, vgl. Jer 13,16; Ps 105,28). 47 Wenn man im Begriff liwjātān zudem eine Bezeichnung des Sternbildes des Drachen sieht (Brüning, Seeungeheuer, 251f), wird die Beziehung der auch stilistisch eng miteinander verbundenen V. 8 und 9 noch deutlicher (vgl. auch Hi 26,12–13). Zu der mythopoetischen Bezeichnung der „Wimpern der Morgenröte“ vgl. auch Sophokles, Ant. 100–104, und zur Beschreibung des von der Morgenröte gebrachten Lichts Homer, Il. 19, 1–2.
Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs
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da war kein Mensch, und alle Vögel unter dem Himmel waren weggeflogen. 26 Ich sah, und siehe, das Fruchtland war eine Wüste, und alle seine Städte waren zerstört vor dem Herrn und vor seinem grimmigen Zorn. (Jer 4,23–26 LB)
Die Anklage Gottes
3,10–19
Hiob weiß um Gottes Schöpfertätigkeit. In Umkehrung des atl. Motivs von 3,10 Gott, der den Mutterschoß zur Empfängnis öffnet und verschließt und der somit hinter Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit steht (vgl. Gen 16,2; 20,18; 1Sam 1,5–6),48 lässt der Dichter Hiob sich schon von Beginn seiner Existenz an den Tod wünschen. Gott, von dem hier nur indirekt in der 3. P. Sg. gesprochen wird (vgl. Jer 20,17), hat vor Hiob das Leid (ʿāmāl) nicht verborgen. Mit dem Wort ʿāmāl ist ein Schlüsselbegriff der atl. Anfragen an die Gerechtigkeit Gottes in die Dichtung eingeführt,49 der in mehrfacher Brechung zur Beschreibung der Situation Hiobs auftaucht (vgl. 7,3; 11,16 bzw. 4,8; 15,35; 20,22). In der späten Weisheit wird dieser Begriff zum Merkmal menschlicher Existenz.50 In der traditionellen Sprachform der Klage eines Einzelnen ruft Hiob nach 3,11–12 dem Grund und Ziel seines Leidens (Ps 10,1; 22,2; 43,2; Gen 25,22). Hiob erfährt sich im Leiden als ungefragt ins Dasein geworfen und wünscht sich zurück in das Ungeborensein (10,18, vgl. Jer 20,18; 4Esr 5,35). Die Knie, die Hiob entgegen kamen, sind nicht die Knie des Vaters, auf die das neugeborene Kind gelegt wurde,51 sondern, wie die Brüste, die ihn stillten, die seiner Mutter, aus deren Schoß er kam (vgl. Sir 40,1).52 Diese Beschreibung ist wirklichkeitsgetreu.53 Zugleich dürfte der Dichter aber mit dem Wort „Knie“ (bæræk, birkājîm), das an die Wurzel brk II (Piel „segnen“) und das davon abgeleitete Nomen b erākāh („Segen“) anlautet, auch einen Kontrapunkt zu den Begriffen des Verfluchens und Verwünschens (V. 8) setzen. In seinem dreifachen „wozu“ (lāmmāh) und „warum“ (maddû aʿ, mah) sucht der unfreiwillig ins Leben Gesetzte nach dem Sinn seiner Existenz. Bezeichnenderweise wird die Kette der Fragen mit dem aus der Klage stammenden und final orientierten „Wozu“ des göttlichen Handelns eröffnet, an das sich das rückwärtsgewandte, in der weisheitlichen Reflexion beheimatete „Warum“ anschließt. Die Rätselhaftigkeit der eigenen Existenz gebiert den Todeswunsch (vgl. Pred 4,2; Tob 3,6.15;
Siehe dazu auch Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 57–63. Vgl. Jer 20,18; Hab 1,3; Ps 25,18; 73,5. 50 Vgl. Hi 5,6–7; Ps 90,10; Pred 1,3; 2,21–22.24; 3,13; 1QHa XIX,19(22). 51 Vgl. Gen 50,23; Cornelius, 257. 52 Vgl. Jes 66,2; Janowski, Anthropologie, 66f (mit Abbildung einer Tonfigur, vgl. IPIAO III, 71). 53 Zum Verständnis von Schwangerschaft und Geburt im alten Ägypten siehe Janssen/Janssen, Growing up, 1–12, zu entsprechenden Darstellungen stillender Mütter in der altorientalischen Bildkunst siehe z. B. Keel, Bildsymbolik, 182 (Abb. 277); IPIAO IV, 97 (Nr. 1179–1181; vgl. auch Nr. 1388). 48 49
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Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs
4,2; 1Makk 2,7.13), wie ihn auch die äg. oder die antike griech. Dichtung aussprechen kann.54 3,13–16
Dem durch übermäßiges Leid in heillose Unruhe Versetzten tritt nur der Tod als Ruhespender vor Augen: Besser zu sterben als ein leidvolles Leben und besser ewige Ruhe als fortdauernden Schmerz. (Sir 30,17)
Der Tod wird in dieser Aussage bevorzugt, da in ihm Empfindungslosigkeit herrscht (vgl. Hi 14,21; Pred 9,5–6.10, Lukrez, nat. 3, 863–869). Der vierfachen Frage nach dem Grund und Ziel seines Lebens steht der vierfache Wunsch Hiobs nach der endgültigen Ruhe gegenüber (V. 13), die allen Menschen gleichermaßem zukommt (vgl. 21,23–26), den Begüterten und den Elenden – einerseits verdeutlicht an den Königen in ihren Nekropolen (ḥārābôt, V. 14) und den Fürsten in ihren reich gefüllten Mausoleen (bāttîm, V. 15), andererseits an den in der Erde verscharrten Totgeburten (vgl. Num 12,12; Ps 58,9; Pred 6,3–4) und den schon als kleine Kinder Verstorbenen, die nie die Fülle des Lebens spürten (V. 16).55 3,17–19 Die Finsternis des Totenreichs, das hier nicht mit dem im AT gebräuchlichen Wort Scheol (š eʾôl), sondern einfach zweimal als „dort“ (šām, vgl. Hi 1,21) bezeichnet wird,56 scheint dem Leidenden heller als das Licht des bedrückten Lebens. Merkwürdigerweise wird in V. 17 erstmals im Buch Hiob der Begriff der Frevler/Gottlosen (r ešāʿîm, in der LXX überwiegend ἀσεβεῖς) gebraucht. Er bezeichnet in den Psalmen zumeist unterschiedliche feindliche Gruppen des einzelnen Beters oder der betenden Gemeinschaft.57 In den Sprüchen und weisheitlich geprägten Psalmen steht er häufig für das Gegenteil eines Gerechten (ṣaddîq)58 oder Aufrichtigen (jāšār),59 aber auch als Ausdruck für gewalttätige Unterdrücker von Armen, Witwen und Waisen (vgl. Ps 94,3). Vor allem in den Reden der Freunde des zweiten Redegangs werden die r ešāʿîm zum negativen Gegenüber des Frommen und zum Inbegriff eines gottlosen Verhaltens und Handelns, das gemäß der Vorstellung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs ein böses Schicksal und schließlich die Vernichtung durch Gott selbst zur Folge hat.60 54 Vgl. z. B. die Klagen des Ipuwer (Hornung, Dichtung, 80f; COS 1.42, 95) bzw. Theognis, eleg. 1, 425–428; Sophokles, Oid. K. 1225; Euripides, frgm. 449. 55 Vgl. Ištars Abstieg in die Unterwelt (neuassyr. Fassung) 34–36 (TUAT III, 761); Lied des Antef (TUAT II, 905); Klagelied der Taiemhotep (TUAT II, 543f); Simonides, frgm.15. 56 So auch im äg. Gespräch des Lebensmüden (Hornung, Dichtung, 109). 57 Vgl. Ps 10; 17,9–14; 55,4; 68,3; 109,2; 140,9–10, siehe dazu G. Gerleman, Art. ršʿ frevelhaft/ schuldig sein, THAT II (62004) 813–818, besonders 815f. 58 Vgl. Spr 3,33; 10,3.6–7.11.16.20; 12,10; 13,9; 15,6.29 u.ö.; Ps 1,5–6; 11,5; 37,12.16–17.21.32 u. ö. 59 Vgl. Spr 11,5.19; 12,6; 14,11; 15,8; 21,8; 29,27. 60 Vgl. Hi 8,22; 11,20; 15,20–35; 18,5–21; 20,5–29; zur Sache s. o. S. 27f sowie zum negativen Pendant eines gerechten und aufrichtigen Menschen Ruppert, Der leidende Gerechte.
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Hiob wird dies allerdings heftig bestreiten, zunächst verhalten (9,22–24), dann breit ausgeführt (21,7–34). In 3,17 erscheinen die r ešāʿîm als Mächtige, welche die Welt in Aufregung (rogæz) versetzen, und als Gegenüber zu denen, die mit ihrer Kraft am Ende sind. Der Begriff rāšāʿ hat hier wie in 24,6 den Nebensinn des reichen Ausbeuters. Der Tod macht alle gleich,61 er ebnet alles ein, auch das Leid. Der Tod schenkt den (Kriegs-)Gefangenen (V. 18a)62 Ruhe, er lässt den Ruf des Antreibers (nogæś)63, der auf Erden, sei es in Ägypten oder in Babylon, unterdrückte (V. 18b),64 verstummen und verwischt den Unterschied zwischen Bedeutenden und Unbedeutenden, zwischen Armen und Reichen, Weisen und Toren (V. 19a, vgl. Ps 49). In diesem Sinn meint die Wendung šām hûʾ nicht nur die Allgemeinheit des Todesgeschicks, sondern auch die Gleichheit aller im Tod (vgl. Ps-Phok 112–113; SibOr 8,107–108).65 Soziale Differenzen sind nach dieser Beschreibung – im Gegensatz zur Schilderung der Unterwelt in Jes 14,9–21 und Ez 32,18–28 – im Tod aufgehoben. In diesem Sinn konnte sich auch der Stoiker Seneca (gest. 65 n. Chr.) äußern: Ach, welche Unkenntnis ihres eigenen Elends verraten doch diejenigen, die den Tod nicht als die Erfindung der Natur preisen und ihre Hoffnung auf ihn stellen, sei es, daß er das Glück in sich birgt oder dem Unglück steuert, sei es, daß er dem Lebensüberdruß und der Müdigkeit des Greises ein Ende macht […] Er macht den Knecht frei, dem Herrn zum Trotz; er löst die Kette der Gefangenen; er entreißt dem Kerker auch die, denen schrankenlose Despotengewalt jeden Ausweg daraus versperrt hatte. Verbannten, deren Auge immer sehnsüchtig nach der Heimat gerichtet ist, zeigt er, daß nichts darauf ankomme, in welchem Lande man sein Grab finde. Wenn bei Verteilung eines Gesamtbesitzes das Schicksal fehlgegriffen und von Natur Gleichberechtigte teils zu Herren, teils zu Knechten gemacht hat, dann ist es der Tod, der alles wieder gleich macht. (Seneca, Trostschrift an Marcia, Kap. 20).66
Im Tod erfährt sich der Diener (ʿæbæd)67 als von seinem Herrn befreit (V. 19b, vgl. Dtn 15; Jer 34; Jes 58,6), selbst der Gottesdiener (vgl. Hi 1,8; 2,3 bzw. 14,13) – in diesem Sinn konnten die Rabbinen den Vers verstehen, wenn sie ihn kollektiv auf Israel beziehen,68 das im Tod von der Erfüllung der Gebote befreit werde. In vielerlei Hinsicht stehen die Todessehnsucht Hiobs, das in seiner Klage beschriebene Bild des Totenreichs und die Vorstellung von der Vgl. Hi 21,26; Ps 49,11; Pred 2,16; Sir 40,1–4. Vgl. Ps 9,11; 79,11; 102,21; 107,10; Jes 14,17; Sach 9,11–12; Klgl 3,34. 63 LXX modifiziert (zeitgeschichtlich bedingt?) zu „Steuereintreiber“ (vgl. HiLXX 39,7; EsrLXX 4,7.18.23; 1 Makk 1,29). 64 Vgl. Ex 3,7; 5,6.10.13–14; Jes 9,3; 14,1–4. 65 Zur kritischen Diskussion der Wendung šām hûʾ siehe GK § 135aN und Seow. 66 Übersetzung von O. Apelt, Seneca, I, 239. 67 Dieses Wort kann den Diener, den Knecht und den Sklaven bezeichnen. Hier wird es wie auch an den anderen Stellen im Hiobbuch mit „Diener“ übersetzt, um die Querbezüge zu 1,8; 2,3; 42,7.8 zu verdeutlichen (vgl. LXX, die mit Ausnahme von 1,8 und 4,19 ʿæbæd duchgehend mit θεράπων übersetzt). 68 Vgl. Wiernikowski, Hiob, 36, siehe dazu auch die kollektiven Deutungen des ʿæbæd in Jes 42,1–4; 49,1–6; 52,13–53,12 in der frühjüdischen und in der mittelalterlichen jüdischen Exegese (H. Haag, Der Gottesknecht bei Deuterojesaja, EdF 233, Darmstadt 21993, 3–58). 61 62
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Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs
Freiheit im Tod (nicht im Leben) quer zur atl. Hochschätzung des Lebens und Schilderung der Scheol. Exkurs
Tod, Begräbnis und Totenreich im alten Israel und im Alten Testament
Literatur Barstad, H.M.: Art. „Sheol“, DDD (21999) 768–770. – Berlejung, A./Janowski, B. (Hg.): Tod und Jenseits im Alten Israel und in seiner Umwelt: Theologische, religionsgeschichtliche, archäologische und ikonographische Aspekte, FAT 64, Tübingen 2009. – Eberhardt, G.: JHWH und die Unterwelt. Spuren einer Kompetenzausweitung JHWHs im Alten Testament, FAT II/23, Tübingen 2007. – Fischer, A.A.: Tod und Jenseits im Alten Orient und Alten Testament. Eine Reise durch antike Vorstellungs- und Textwelten, SKI.NF 7, Leipzig 2014. – Healey, J.F.: Das Land ohne Wiederkehr: Die Unterwelt im antiken Ugarit und im Alten Testament, ThQ 177 (1997), 94–104. – Janowski, B.: Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019, 83–89; 491–499. – Keel, O.: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996, 53–60. Unmittelbar nachdem im antiken Israel/Palästina ein Mensch verstorben war, erfolgte wegen der klimatischen Verhältnisse und aus religiösen Gründen die Bestattung. Ein schnelles Begräbnis sollte zum einen der rasch einsetzenden Verwesung zuvorkommen. Zum andern sollten die von dem Toten ausgehenden und im Umfeld des Toten tätigen Dämonen in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt werden. Das Begräbnis war Angelegenheit der Familienangehörigen (vgl. Am 6,10). In der Regel wurde der Leichnam in einem aus dem Felsen gehauenen Kammergrab bestattet. Archäologisch sind Kammergräber nachgewiesen, in denen sich auf drei Seiten Grablegen und in der Mitte eine Grube für die Knochen der Verwesten befand. Nach der Verwesung wurden die Knochen des Verstorbenen eingesammelt und der Verstorbene so „zu seinen Vätern versammelt“ (Gen 25,17). Ein Erdbegräbnis war nur in felsarmen Gegenden üblich. Verbrennungen des Leichnams wurden nur bei Verbrechern vollzogen (Jos 7,15; 2Kön 23,4). Durch das Verbrennen des Leichnams sollte (wie auch im Fall der Steinigung) die Existenz des Toten vollständig ausgelöscht werden. Den Toten wurden Gegenstände aus dem persönlichen Besitz als Grabbeigaben mitgegeben. Archäologisch nachgewiesene Funde von Schalen in Gräbern deuten auf die Vorstellung von Totenspeisung und die Verehrung der Toten im Ahnenkult hin. Zur Warnung an Grabräuber wurden an den Wänden des Grabes Fluchformeln eingeritzt (vgl. Grabinschrift Nr. 1B aus Jerusalem/Silwān, 7. Jh. v. Chr. [HAE I, 261–265]). Die Gräber befanden sich außerhalb der Dörfer und Städte. Nur Könige durften innerhalb der Stadtmauern begraben werden (2Kön 21,26; 23,30; 2Chr 16,14). An das Begräbnis schloss sich eine ausgedehnte Trauerzeit an. Die Trauer stellte ein stark ritualisiertes Geschehen dar. Sowohl die Totenklage durch eigens dafür bestellte Klagefrauen als auch die einzelnen Trauerriten zielen einerseits auf eine Abwehr der Mächte des Todes, sind also apotropäische Riten. Zugleich dienen sie der Ablösung von dem Toten, sind also Trennungsriten, und helfen bei der Integration der Trauernden in die Gemeinschaft der Hinterbliebenen, die nun in einem spezifischen Verhältnis zu den als Ahnen verehrten Vorfahren stehen. Im Einzelnen sind im atl. (und altorientalischen) Bereich als Trauerriten belegt (Hi 1,20; 2,12; Ps 30,12; Klgl 2,10; Est 4,1–4): Tragen von Trauerkleidung (Sack), Weinen, Fasten, Verzicht auf Waschen, Ausreißen der Haare, sich Wälzen im oder Bestreuen mit Staub.69 Das Grab (qæbær) des Toten, das im AT auch als Grube (bôr oder šaḥat) bezeichnet wird, stellt einerseits ein Abbild der Scheol, der Unterwelt, dar. Andererseits bildet das Grab den Zugang zur Scheol
69
Siehe dazu ausführlich Pham, Mourning, 16–27.
Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs
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als dem endgültigen Aufenthalt der Toten. Die Scheol (š eʾôl, griech. zumeist ᾅδης/Hades)70 ist das Unland, der Ort der totalen Öde (abgeleitet von šāʾāh I „öde daliegen“, vgl. Jes 6,11 und den Begriff šôʾāh in Hi 30,3.14; 38,27)71, weniger wahrscheinlich der Ort der Totenbefragung (abgeleitet von šāʾal „fragen“, vgl. 1Sam 28). Sie wird als ein riesiges unterirdisches Grab oder auch als eine unterirdische Stadt mit Toren vorgestellt,72 wo die Toten schattenhaft als Totengeister (r epāʾîm)73 vor sich hinvegetieren. In ihr herrscht nach älterer nordwestsemitischer, im AT noch in Spuren greifbarer Vorstellung der Gott Mot(u)/„Tod“ (môt; mawæt), der „König der Schrecken“ (Hi 18,14).74 Die Unterwelt erscheint als dunkler, vom Licht abgeschiedener Raum, als Stätte der Finsternis (vgl. Hi 10,21–22; 17,13; Ps 88,7).75 Metaphorisch kann sie wie das Grab als „Staub“ (ʿāpār) bezeichnet werden (Hi 7,21; 17,16; Ps 7,6; 22,16). Die Scheol gilt als „das Land ohne Wiederkehr“ (Hi 10,21; 16,22; ähnlich Hi 7,8–9)76 bzw. das „Land des Vergessens“ (vgl. Hi 7,8–10; 10,20–22; 13,28–14,22; 17,13–16). Abgesehen von der punktuellen Erscheinung im Raum oder bei der Totenbefragung (1Sam 28), gilt eine Rückkehr in die Welt der Lebenden als ausgeschlossen. Die Beziehung zu Jhwh ist, so zumindest in der älteren Geschichte der Jhwh-Verehrung, abgeschnitten: Jhwh gilt als ein Gott der Lebenden. Die Toten loben Jhwh nicht mehr (vgl. Ps 6,6; 88,11; Jes 38,18; aber auch noch Sir 17,28 [G]). Die Sterblichkeit des Menschen kann im AT unterschiedlich begründet werden. Gemeinsamer Vorstellungshintergrund ist die Unabänderlichkeit des Todesgeschicks. a) Nach der Vorstellung von Gen 2,7 und 3,19 ist der Mensch sterblich, weil er geschöpflich ist. Seine Kreatürlichkeit bedingt seine Vergänglichkeit (vgl. Pred 3,21). Somit gehört der Tod ebenso zum Leben wie die Geburt und bildet ein Existential des Menschen. b) Nach Gen 3,22 ist der Tod des Menschen eine Strafe Gottes: Weil urgeschichtlich Adam, der Mensch, und Eva, seine Frau, gegen das Gebot Gottes verstoßen und vom Baum in der Mitte des Gartens gegessen haben, hat Gott ihnen den Zugriff auf den Baum des Lebens verwehrt. Unmythisch gesprochen bedeutet dies: Der Mensch hat, weil er immer wieder gegen Gottes Gebot verstößt, keine Möglichkeit, sich selbst ewiges Leben zu verschaffen, sondern ist zur Sterblichkeit verdammt. c) In ähnlicher Weise wird in Ps 90,9 der Tod des Menschen auf den Zorn Gottes zurückgeführt. Auch hier steht die Vorstellung im Hintergrund, dass der Mensch aufgrund seiner Sünde, über die Gott zürnt, vergänglich ist.
70 Vgl. Hi 7,9; 11,8; 14,13; 17,13.16; 21,13; 26,6 (Th); Ps 6,5. Daneben verwendet LXX die Bezeichnungen τάρταρος (vgl. 40,20; 41,24; Spr 30,16) und ἄβυσσος (vgl. 28,14; 38,16), wodurch die Aussagen der Hiob-LXX über das Totenreich neben Unterweltsvorstellungen aus der griech. Umwelt treten (siehe zu diesen R. Foß, Griechische Jenseitsvorstellungen von Homer bis Plato. Mit einem Anhang über Vergils sechstes Buch der Aeneis, Aachen 1997). 71 Vgl. zudem im Sinn von Verwüstung Jes 10,3; 47,11; Ps 35,8; 63,10; Zeph 1,6. 72 Vgl. Hi 38,17; Spr 7,27; entsprechende Beschreibungen der „sieben Tore“ der Unterwelt in dem akkad. Mythos IŠtars Abstieg in die Unterwelt (TUAT III, 761–766). 73 Vgl. Hi 26,5; Ps 88,11; Jes 14,9; 26,14. Zu den r epāʾîm und ihrem Verhältnis zu den ug. rpʾm („Heiler“), den vergöttlichten Ahnen der ug. Dynastie (KTU 1.20–22 [TUAT.NF VIII, 296–301), siehe die Auslegung von Hi 26,5. 74 Vgl. entsprechend in der bab.-assyr. Unterweltstopographie den Gott Nergal und in der griech. Mythologie den Gott Pluto. Zum Gott Mot (als einem der Söhne Els) in den ug. Mythen siehe z. B. den Baʿal-Zyklus V,i–vi (TUAT.NF VIII, 224–229) und dazu J.F. Healy, Art. „Mot“, DDD (21999) 598–603. 75 Vgl. Ištars Abstieg in die Unterwelt (neuassyr. Fassung) 4.7.9 (TUAT III, 761); Nergal und EreŠkigal (Sultantepe-Version) III, D, 2, 5 (TUAT III, 772f). Zur Ausstattung von Gräbern mit Lampen im alten Syrien-Palästina siehe Cornelius, 270f. 76 Vgl. Ištars Abstieg in die Unterwelt (neuassyr. Fassung) 1.5–6 (TUAT III, 761), Nergal und Ereškigal (Sultantepe-Version) III, A, C, 1 (TUAT III, 772f); BT 10 (TUAT III, 147); Homer, Il. 23, 75–76; Hesiod, theog. 769–773; Anakreon, frgm. 50,12. Zu jüngeren Beispielen in der griech. und röm. Literatur siehe West, East Face, 154f, und J.P. Brown, Israel II, 325.
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Die Mehrzahl der atl. Texte, auch der literargeschichtlich jüngsten, ist von der Endgültigkeit des Todes überzeugt: Der Tod ist eine von Gott gesetzte, absolute Grenze (vgl. Sir 14,12), Leben im Vollsinn des Wortes ist nur in dieser Welt möglich. Daraus erklärt sich in besonderer Weise die Hoffnung auf ein langes Leben (vgl. Sach 8,4; Jes 65,19–29) und auf ein Fortleben in der Erinnerung der Lebenden und der nachfolgenden Generationen (vgl. 2Sam 18,18; Spr 10,7; Ps 112,6). Ein großes Unglück stellt dementsprechend das fehlende Gedenken (zekaer) dar (vgl. Hi 18,17; 24,20). Das AT weist in dieser Hinsicht – wie entsprechende Texte aus Mesopotamien, aber im Gegensatz zu äg. Vorstellungen – eine starke Diesseitsorientierung auf. Es enthält aber einzelne Passagen, welche die Vorstellung von einem „Leben nach dem Tod“ reflektieren, und zahlreiche Abschnitte, die aus der späteren Perspektive eines Glaubens an ein Leben nach dem Tod als solche gelesen werden können. Die Hoffnung auf eine Überwindung des Todesgeschicks, die sich im Judentum in hellenistischer Zeit entfaltet, begegnet atl. im Wesentlichen in drei Vorstellungskreisen: a) als postmortale Aufnahme in Gottes Herrlichkeit (kābôd, griech. δόξα, vgl. Ps 73,23–24), wodurch der einzelne Fromme am Schicksal des zu Gott entrückten Henoch (Gen 5,22–24; Sir 44,16; 49,14) und Elia (2Kön 2,3; Sir 48,9) teilhat, ausgedrückt durch den terminus technicus lāqaḥ (griech. λαμβάνω, προσλαμβάνω, ἀναλαμβάνω „hinwegnehmen“) (vgl. Ps 49,16; 1Tim 3,16), b) als endzeitliche Auferweckung oder Auferstehung der Gerechten zum ewigen Leben und der Ungerechten zur ewigen Schande (vgl. Dan 12,1–3 bzw. Jes 26,19; Dan 12,13; 2Makk 7,9), c) als Unsterblichkeit der ‚Seele‘ (vgl. Ps 49,16; SapSal 3,1; 1Hen 22) – erst in diesen aus hellenistisch-römischer Zeit stammenden Texten steht das Wort næpæš (griech. ψυχή) im engeren Sinn für einen Teil des bzw. am Menschen.77 Charakteristisch für diese drei Vorstellungskreise ist ihr gemeinsamer geistesgeschichtlicher Hintergrund. So entstammen sie alle der Erfahrung, dass eine weltimmanente ausgleichende Gerechtigkeit ausbleibt. Die Erfahrung, dass auch der Gerechte leiden muss, und das gleichzeitige Festhalten am Glauben an Jhwhs lebensbejahende Gerechtigkeit lassen die Hoffnung aufkeimen, dass der Gerechte ein besonderes Todesgeschick haben werde. d) Neben diese drei individuell ausgerichteten Vorstellungskreise tritt die universale Vorstellung, dass Jhwh einst den Tod vollständig entmachten werde (Jes 25,6–8; 26,7–21). Im Hintergrund steht eine schrittweise Übertragung von Funktionen anderer Gottheiten auf Jhwh, eine sogenannte Kompetenzerweiterung Jhwhs. Die Zuschreibung von Eigenschaften und Handlungen eines Sonnengottes, der als oberster Richter auch Licht ins Reich der Toten bringt und Herr über Leben und Tod ist, d. h. eine Solarisierung sowie eine konsequente Schöpfungstheologie, Universalisierung und Monotheisierung der älteren Rede von Jhwh spielen hier eine wesentliche Rolle: Weil der Gott Israels zugleich der Schöpfer der ganzen Welt ist und weil Jhwh zugleich der einzige Gott ist, kann das Totenreich seinem Zugriff nicht dauerhaft entzogen sein und hat er auch die Macht über den das Leben zerstörenden Tod (Hi 26,5; Ps 139,8; Am 9,2; Hos 13,14). Nach den eschatologischen Texten der in hellenistischer Zeit verfassten Jesaja-Apokalypse (Jes 24–27) wird Jhwh seine universale Macht am Ende der Zeiten und im Kontext des Weltgerichts über die Völker offenbaren. Die atl. Hoffnung auf eine Überwindung der Todesgrenze hat somit drei Wurzeln: 1) die Weiterführung der Reflexion über Jhwhs Wahrung von Gerechtigkeit und Tätigkeit als Richter, 2) die Entfaltung der Vorstellung von Jhwhs universaler Königsherrschaft und Schöpfertätigkeit und 3) die konsequente Verknüpfung von Monotheismus und personaler Gottesvorstellung. Zur Ausgestaltung der frühjüdischen (und frühchristlichen) Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod kommen darüber hinaus Motive aus Ägypten und Persien, deren Unterwelts- und Jenseitsvorstellungen sich von denen des syrisch-palästinischen und assyrisch-babylonischen Raums vor allem im Blick auf ein postmortales Gericht und eine postmortale Existenz sehr stark unterscheiden, sowie aus der Welt der Mysterienreligionen.
77
S.o. S. zu Hi 2,4 und zu Ps 49 Witte, Ewigkeit, 67–93.
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Fortgesetzte Anklage Gottes
3,20–26
Ein viertes Fragewort (lāmmāh) nimmt das Stakkato der Anfragen Hiobs 3,20 nach dem Ziel seiner Existenz wieder auf (V. 10–11). Wozu gibt Gott dem Mühseligen (ʿāmel, vgl. V. 10) das Leben? Für die, deren ,Seele‘ (næpæš) bitter geworden ist,78 deren Lebenskraft aufgezehrt ist (vgl. Jes 38,15), ist das Leben kein Geschenk (vgl. Pred 4,1–3). Gott ist die Quelle von Licht und Leben (Ps 27,1; 36,10; 56,14), doch in Umkehrung der Vertrauensaussagen der Psalmen erscheint ein von Mühsal (ʿāmāl) geprägtes Leben nicht lebenswert (vgl. Rut 1,21–22). Auch wenn der Vers allgemein formuliert ist, so verbirgt sich hinter dem Mühseligen auch Hiob selbst. Begriffe des Todes (māwæt), der Bestattung (gal79, qæbær) und der Freude 3,21–23 (sāmaḥ, śûś, vgl. Jes 66,10; Ps 40,17 par. 70,5; 68,4) sind hier in paradoxer Weise miteinander verknüpft und unterstreichen die Dringlichkeit der Fragen des Lebensmüden (V. 21–22, vgl. Apk 9,6). Hiob ist der Lebensmüde, er ist der Mann (gæbær),80 den Gott selbst umzäunt (V. 23). War mit Ausnahme des vielleicht sekundären Versteils 4aβ von Gott bisher nur indirekt mittels des im Verbalbegriff enthaltenen Personalpronomens die Rede (vgl. V. 10 und V. 20), so benennt Hiob jetzt ausdrücklich Gott als Urheber seines Unglücks. War Gottes Umhegen (sākak/śûk) in der Rede des Satans ein Zeichen für Hiobs Glück (vgl. 1,10), so erscheint dies nun als Symbol für sein Leid (vgl. 19,8). Über Hiobs Lebensweg (dæræk) liegt der dunkle Schleier des für Hiob bedrohlich nahen Gottes (vgl. Klgl 3,2–7).81 Die Nähe Gottes, die in Ps 139 ein Grund zum dankbaren Staunen des Beters ist (V. 5), zeigt sich hier als schwere Bedrückung (vgl. Hi 23,2). Die bereits in der prosaischen Schilderung der Unglücksschläge Hiobs fest- 3,24–26 gestellte Gleichzeitigkeit von schlimmen Erfahrungen spiegelt sich nun auch poetisch in den Schlussversen der Eingangsklage: Im Leiden überstürzen sich die Ereignisse. Die Klage ist zu Hiobs täglichem Brot geworden (vgl. 6,2; 23,2; Ps 42,4),82 Seufzen das Merkmal seines Lebens (Ps 6,7; 31,11; 38,10; 102,6). Das Leid bricht aus ihm wie ein Wasserfall und erschallt wie das Gebrüll eines Löwen (š eʾāgāh, V. 24).83 Das Bild unterstreicht das im Leidensschrei Hiobs
Vgl. Hi 7,11; 10,1; 21,25; 27,2; Spr 31,6; 1Sam 1,10; Jes 38,15. Siehe die Anm. zur Übersetzung sowie zu gal Jes 25,2; 37,26; Jer 9,1o; 51,37. 80 Man beachte den lautlichen Anklang an das letzte Wort im vorgehenden Vers qābær/qæbær („Grab“). 81 Die Größe, der Hiobs Weg verborgen ist, wird nicht explizit genannt. Vermutlich ist Hiob selbst gemeint, der keine Einsicht in den vor ihm liegenden Lebensweg hat. Demgegenüber versteht Greenstein, XXIXf; 15, den Vers als Anspielung auf Jes 40,27 und betrachtet daher Gott als die Größe, vor der Hiobs Weg verborgen sei (vgl. Hi 21,22; 22,13–14). 82 Vgl. SH 11.44 (TUAT III, 104.106). 83 Vgl. Ps 22,2; 32,3; Jes 38,13; bzw. Hi 4,10; Jes 5,29; Sach 11,3; 1Makk 3,4. 78 79
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Hi 3 Die Eingangsklage Hiobs
artikulierte Chaos. Die Zeit verliert durch den gewaltigen Schrecken (paḥad),84 der Hiob gepackt hat (V. 25), ihre Übersichtlichkeit. Der Vierklang der Not, die wider Erwarten über Hiob gekommen ist,85 dreimal ausgedrückt durch das Verb bôʾ, einmal durch das dem Aramäischen entlehnte Verb ʾātāh, setzt die vierfache Frage nach dem Grund (vgl. V. 11–13.20) fort und bildet im jetzigen Textzusammenhang die poetisch formulierte Reaktion auf die vier Hiobsbotschaften des Prologs (1,14–19). „Aufregung“, „Aufwallung“ (rogæz, V. 26; wie in V. 17, vgl. 14,1) wird unter dem Eindruck einer Kaskade von Zerstörungen eines ruhigen und sorglosen Lebens zum Signum für die Zeit. Im Leiden währt die Gegenwart unendlich lang: „Leben müssen“ und „nicht Sterben dürfen“ sind die Kennzeichen von Hiobs Zeit. Hiob verflucht seine gottgegebene Existenz, weil er den Fluch, den Mose in der Torah über die von Jhwh Abfallenden spricht, an sich selbst verwirklicht sieht: 65 Dazu wirst du unter jenen Völkern keine Ruhe haben, und deine Füße werden keine Ruhestatt finden. Denn der Herr wird dir dort ein bebendes Herz geben und erlöschende Augen und eine verzagende Seele, 66 und dein Leben wird immerdar in Gefahr schweben; Nacht und Tag wirst du dich fürchten und deines Lebens nicht sicher sein. 67 Morgens wirst du sagen: Ach dass es Abend wäre!, und abends wirst du sagen: Ach dass es Morgen wäre!, vor Furcht deines Herzens, die dich schrecken wird, und vor dem, was du mit deinen Augen sehen wirst. (Dtn 28,65–67 LB)
Hiob erfährt an sich genau das, wovor er nach der Theorie der Weisen eigentlich verschont sein sollte (Spr 3,13+23–26). Vielleicht deutet der in betonter Endstellung der gesamten Rede stehende Begriff rogæz (V. 26) schon an, dass Hiob seine Situation als Folge des göttlichen Zorns deutet.86 Doch mit dieser Deutung und in den seinen Fluch begleitenden Fragen bekennt sich Hiob zu Gott, in dessen Hand er sich unausweichlich weiß. Es sind die Fragen, die ihn, den Lebensmüden, am Leben halten. Johannes Brahms hat diesen Worten, im Verbund mit Klgl 3,14; Jak 5,11 und dem Luther-Choral Mit Fried und Freud fahr ich dahin, in der vierstimmigen Motette Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligem? Töne verliehen (1878/79, op. 74 Nr. 1).
Stilistisch besonders betont durch die figura etymologica paḥad pāḥadtî und das fünffache Homoioteleuton auf -î in V. 25, fortgesetzt in V. 26 durch dreimaligs -tî, wodurch in besonderer Weise das „ich“ Hiobs betont wird. 85 Vgl. Hi 30,26; Jer 8,15; 14,19; BT 27–33 (TUAT III, 148). 86 Vgl. rogæz in Hab 3,2; Sir 5,6 (HA/C) sowie sachlich Hi 14,13; 16,9; 19,11. In diese Richtung weist auch die Übersetzung der LXX mit ὀργή („Zorn“). 84
III. Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden Hi 4–5 Die erste Rede des Eliphas 4,1
Und Eliphas der Temaniter hob an und sagte:
2 3 4 5 6
Wirst du, wenn man ein Wort an dich versucht, müde? Aber die Worte zurückhalten, wer vermag (denn) das? Siehe: Du hast viele zurechtgewiesen1 und stärktest2 schlaffe Hände, einen Strauchelnden richteten deine Worte auf, und gebeugte Knie festigtest du. Doch jetzt, da es an dich kommt, wirst du müde3, da es dich selbst berührt, bist du tief erschreckt. Ist nicht deine (Gottes-)Furcht deine Zuversicht, deine Hoffnung die4 Vollkommenheit deiner Wege?
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Bedenke doch: Wer ging jemals als Unschuldiger zugrunde, und wo sind die Aufrichtigen je vernichtet worden? Jedoch habe ich gesehen: Die, die Übel pflügen, und die, die Unheil säen, die ernten dieses auch. Vom Atem Eloahs gehen sie zugrunde, und vom Hauch seiner Nase5 vergehen sie. Das Brüllen des Löwen und die Stimme des Leu und die Zähne der Junglöwen werden ausgeschlagen6. Der Löwe7 geht zugrunde ohne Beute, und die Jungen der Löwin zerstreuen sich. 12
Aber zu mir stahl sich ein Wort, und ein Flüstern von ihm vernahm mein Ohr,
1 Die Existenz einer Wurzel jsr II im Sinn von „stärken“ (vgl. HAL; DCH) ist unsicher, diese Einschätzung gilt auch für den von Noegel, Janus Parallelism, 43f, vermuteten Janus-Parallelismus, demzufolge jsr sich in der Bedeutung von „zurechtweisen“ auf V. 2b zurückbeziehe, während jsr in der im Aram. belegten Bedeutung von „binden“ auf V. 3b vorausschaue. 2 Die PK in V. 3b(–4) ist abhängig von der AK in V. 3a (vgl. J/M § 112dN). 3 Zur Punktation als Impf. consec. (wattelæʾ) vgl. Hi 14,10; 7,18; 34,24 und zur präsentischen Wiedergabe siehe G/K § 111t; J/M § 118q. 4 Anstelle von w etom „und die Vollkommenheit“ lies tom. 5 D.h.: vom Schnauben seines Zorns; siehe dazu die Auslegung. 6 nittāʿû (von ntʿ, einem mit ntṣ gleichbedeutenden hap. leg., vgl. Ps 58,7) bezieht sich als Zeugma auf V. a und V. b, die parallel, nicht antithetisch, zu verstehen sind. Das Pf. hat faktischen bzw. gnomischen Sinn. 7 LXX: „Ameisenlöwe“ (vgl. Physiologus Nr. 20 [Treu, Physiologus, 40f]).
HD
NR
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
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in Gedanken aus nächtlichen Gesichten, wenn Tiefschlaf auf die Menschen fällt:
14 Schrecken begegnete mir und ein starkes Beben und ließ alle meine Knochen sehr erschrecken, 15 und ein Wind glitt8 an meinem Gesicht vorbei, ein Sturm9 erschauderte mein Fleisch. 16 Es trat hin10 – aber sein Aussehen konnte ich nicht erkennen –, eine Gestalt dicht vor meinen Augen, ein Säuseln und eine Stimme höre ich: 17 „Kann der Mensch vor Eloah gerecht sein oder vor seinem Schöpfer rein der Mann? 18 Wenn11 er schon seinen Dienern nicht traut, seine Boten des Irrtums bezichtigt, 19 wieviel mehr dann diejenigen, die Lehmhäuser bewohnen, deren Grundmauern im Staub liegen, man zermalmt sie schneller als eine Motte. 20 Vom Morgen bis zum Abend zerschlägt man sie, ohne Beachtung12 gehen sie für immer zugrunde. 21 Wird nicht ihre Zeltschnur samt ihnen ausgerissen, so dass sie sterben – und (zwar) nicht in Weisheit?“ HD 5,1 2 3
Rufe doch, ob es einen gibt, der dir Antwort gibt, und an wen der Heiligen willst du dich wenden? Ja, den Toren wird der Unmut töten,13 und den Einfältigen wird der Eifer sterben lassen. Ich14 selbst sah einen Toren15 Wurzeln schlagen, aber ich verwünschte16 seine Stätte unversehens.
8 Zum Gebrauch der PK nach AK im vorangehenden Vers im Sinn der Vergangenheit siehe J/M § 113o; zum mask. Gebrauch von rûaḥ siehe die Anm. zu Hi 1,19. 9 Anstelle von śaʿ arat „das Haar (meines Fleisches/Leibes)“ lies ś eʿārāh (vgl. Hi 9,17; 38,1; Ps 107,25). Seow erklärt die masoret. Form als einen Archaismus von ś eʿārāh und übersetzt dann auch mit „Sturm“. 10 Das Subjekt ist unklar, möglicherweise sind nach jaʿamôd einige Wörter ausgefallen. 11 hen zur Einleitung eines Konditionalsatzes (vgl. Hi 9,11–12; 12,14–15; 13,15; 15,15; 19,7; 23,8; 25,5; 26,14; 27,12; 40,23) ist ein Aramaismus (vgl. J/M § 167l). 12 meśîm steht elliptisch für meśîm leb (vgl. Hi 1,8; 2,3 bzw. Hi 23,6; Jes 41,20). 4QTgHi bietet mnjn „Zahl“ (so García Martínez/Tigchelaar, Dead Sea Scrolls, I, 304; ATTM I, 284; Puech, Targum, 137) oder mnjḥ „Ruhe“ (DJD VI, 90). 13 Nach 4QTgHi ist wohl der Tor Subjekt: „Tötet nicht der Tor ...?“ (hlʾ skl jq[ṭl]). 14 4QTgHi: „und/aber ich“ (wʾnj), vgl. LXX. 15 4QTgHi: „Frevler“ (ršʿ) , vgl. DJD VI; ATTM I, 284; Tigchelaar/Martínez, Dead Sea Scrolls, I, 304. Dagegen schlägt jetzt Puech, Targum, 137–139, die Lesart dmʿ (bʿh) „criait (un suppliant)“ vor. Zum Parallelismus von ʾ æwîl und rāšāʿ vgl. 4Q177 II,15 (4Q177 frgm. 9,7). 16 Oder als aramaisierender Inf. Nif. (anstelle von hiqqôb) „sie (die Wohnstätte) war verwünscht“ (vgl. BHS; DCH, allerdings unter der Annahme einer Wurzel qbb III „vertrocknen“). Die von BHS vorgeschlagene Korrektur in wajjeʿāqer „und sie wurde zerstört“ ist ebenso unnötig wie die Änderung in jûqab nach der arab. Wurzel waqaba „ausgelöscht sein“ (so J. Gray). Bei der von Eliphas
Hi 4–5 Die erste Rede des Eliphas
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4 Seine Söhne werden fern von jeder Hilfe sein, und im Tor werden sie zermalmt17, [und zwar ohne Retter]18. 5 Was sie19 ernteten, wird der Hungrige essen, und zu den Dornen20 wird man es holen, und die Falle21 lechzt nach ihrem Vermögen. 6 Ja, Übel geht nicht aus dem Staub hervor, und aus dem Erdenboden sprießt keine Mühsal, 7 sondern der Mensch gebiert22 selbst die Mühsal, wie23 die Jungen Reschephs in die Höhe fliegen. 8 Ich aber würde mich an El wenden und vor ihn24 meine Sache bringen. 9 Er erschafft Großartiges, das unerforschlich ist, Wunderbares, so dass es nicht zu zählen ist, 10 er, der Regen auf das Angesicht der Erde gibt und Wasser auf das Angesicht der Fluren sendet, 11 um die Niedrigen in die Höhe zu bringen, so dass die Trauernden Hilfe erlangen25.
ausgesprochenen Verwünschung ist die erfolgte Zerstörung vorausgesetzt (vgl. CTAT 50/5, 21f). Hartley und Clines erwägen einen deklarativen Sinn des MT. Seow legt die Wurzel nqb im Sinn von „bemerken“ zugrunde, versteht V. 3 als synonymen (nicht antithetischen) Parallelismus und löst pitʾom nicht adverbial, sondern adjektivisch auf. 17 4QTgHi: „verdammt“ (htqdjšw), vgl. zu dieser Lesart jetzt Puech, Targum, 137; 139f. 18 Die Worte w eʾên maṣṣîl schießen kolometrisch über und könnten im Zusammenhang der Glossierung von V. 5 nachgetragen sein, vgl. 4QTgHi, wo diese Wörter kein Äquivalent haben (Puech, Targum, 139). 19 Anstelle von q eṣîrô „seine Ernte“ lies qāṣ erû (vgl. LXX; Syr [Sg.]). 20 Der Text ist unsicher. Anstelle von miṣṣinnîm „aus den Dornen“ ist entweder ṣ enînîm zu lesen oder nach einem (allerdings nur erschlossenen) hap. leg. māṣān (vgl. DCH) māṣānîm. BHS schlägt die Lesart ʾ alummîm ṣ enumîm „harte (d.h. unfruchtbare) Garben“ vor (vgl. Gen 37,7; 41,23; Ps 126,6). Eine Fülle von Änderungsvorschlägen verzeichnen Clines und Seow. Letzter konjiziert selbst w eʾillem ṣinnîm jiqqāḥehû („und der Stumme wird es mit Körben wegnehmen“), wobei „der Stumme“ für den Schwachen an sich stehe und ṣinnîm nach dem aram. Wort ṣinnāʾ zu erklären sei. 21 Das Wort ṣammîm ist unsicher, gemäß der Parallele zu pāḥ in Hi 18,9 könnte es eine „Falle“ bezeichnen (vgl. Ges18; CTAT 50/5, 26f). Möglicherweise ist aber ṣ emêm (= ṣ emeʾîm) „die Durstigen“ zu lesen (vgl. Aq; Sym [Sg.]; Syr [Sg.]; Vg; Ps 107,5) und das Verb w ešāʾap entsprechend in den Pl. w ešāʾ apû zu korrigieren (vgl. Weiser). Seow legt die im Mittelhebr. und Aram. bekannte Wurzel ṣmm „drängen“ zugrunde (vgl. Hartley) und versteht unter dem ṣammîm einen Bedrängten oder Behinderten. 22 Anstelle von jûllād „ist geboren“ lies jôlid (vgl. Hi 15,35). 23 Zum Vergleich zweier Tatsachen mittels eines einfachen waw vgl. Hi 12,11; 14,11–12; 24,19; 34,3; Spr 17,3; 25,3; 26,3.9.14; 27,21 u.ö. (J/M § 174h.). Dagegen versteht Clines das waw als reine Kopula und V. 7b als Folgesatz. 24 Anstelle von ʾæl-ʾ ælohîm könnte aus kolometrischen Gründen ʾelâw „zu ihm“ gelesen werden (vgl. Horst). Die Paronomasie ʾûlam und ʾ ælohîm sowie das Homoioteleuton ʾ ælohîm ʾāśîm sprechen für die Beibehaltung des MT. Die LXX bietet „Herrscher von allem“, was der Gottesbezeichnung šaddaj entspricht, mit der ʾel häufig im Parallelismus steht (vgl. Hi 8,3.5; 13,3; 15,25; 22,17.26; 23,16; 27,2.11.13; 33,4; 34,10.12; 35,13). 25 Wörtl.: „erhoben sind zu Hilfe“ bzw. „hoch/fest im Glück sind“.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Er zerbricht die Pläne der Listigen, so dass ihre Hände keinen Erfolg bringen. Er fängt die Weisen in ihrer Klugheit, so dass der Rat der Verschlagenen sich überstürzt. Am hellichten Tag treffen sie auf Finsternis, und wie in der Nacht tasten sie am hellen Mittag. Aber er rettet vor dem Schwert, vor ihrem Mund26, und aus der Hand des Starken den Armen, so dass der Geringe wieder Hoffnung hat und das Unrecht seinen Mund verschließt.
17 Siehe:27 Glücklich ist der Mensch, den Eloah zurechtweist, daher verachte die Züchtigung Schaddajs nicht! 18 Denn er selbst vermag Schmerz zu bereiten und zu verbinden, zu zerschlagen, und seine Hände vermögen zu heilen. 19 In sechs Nöten wird er dich erretten, und in sieben wird dich Böses nicht berühren. 20 In der Hungersnot kauft er dich los vom Tod und in der Schlacht aus den Händen des Schwertes. 21 Vor28 der Geißel der Zunge wirst du verborgen sein, und vor Gewalt musst du dich nicht fürchten, wenn sie kommt. 22 Über Gewalt und Hunger wirst du lachen, und vor wilden Tieren fürchte dich nicht. 23 24 25 26 27
Denn mit den Steinen des Feldes wirst du einen Bund haben29, und die Tiere auf freiem Feld werden mit dir in Frieden leben. Und du sollst wissen, dass dein Zelt Frieden haben wird; wenn du deine Wohnstatt untersuchst, wirst du nichts vermissen. Und du sollst wissen, dass dein Nachwuchs groß sein wird und deine Sprößlinge (so zahlreich) wie das Gras der Erde. Du wirst in voller Reife zum Grabe kommen, wie man den Garbenhaufen einbringt zu seiner Zeit. Siehe: Das haben wir erforscht, dass es so ist, wir haben es gehört, du aber erkenne es für dich.
26 Aufgrund des Parallelismus könnte erwogen werden, anstelle von mippîhæm ein Synonym zu ʾæbjôn in V. 15b zu lesen (vgl. BHK: jātôm „die Waise“; BHS: mupāḥ „den Geschnappten“; J. Gray: måḥårab „den Verwüsteten“). Der betonte Abschluss der Strophe in V. 16b mit pîhā spricht dafür, den MT beizubehalten (vgl. CTAT 50/5, 30). 27 Aus kolometrischer Sicht könnte hinneh gestrichen werden (vgl. viele Hss; LXX; Syr; Vg). Allerdings kann es auch den Neueinsatz markieren und stilistisch eine Anakrusis darstellen, vgl. Hi 28,28 und zur Sache Watson, Poetry, 110f. 28 Anstelle von b ešôṭ „in/im Umfeld der Geißel“ lies miššôt (vgl. HsK195; LXX; Syr; Vg). Dagegen schlägt BHS vor, b ešuṭ „wenn (die Zunge) umherschweift“ zu lesen. 29 Wörtl.: „wird dein Bund/Vertrag sein“ (vgl. Hi 40,28).
Hi 4–5 Die erste Rede des Eliphas
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Beuken, W.A.M.: Eliphaz: One among the Prophets or Ironist Spokesman? The Enigma of Being Literatur a Wise Man in One’s Own Right (Job 4–5), in: T. Krüger u.a. (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, AThANT 88, Zürich 2007, 293–314. – Brown, K.: The Vision in Job 4 and Its Role in the Book. Refraiming the Development of the Joban Dialogues, FAT II/75, Tübingen 2015. – Nõmmik, U.: Die Freundesreden des ursprünglichen Hiobdialogs. Eine form- und traditionsgeschichtliche Studie, BZAW 410, Berlin/New York 2010. – Scherer, A.: Lästiger Trost. Ein Gang durch die Eliphas-Reden im Hiobbuch, BThSt 98, Neukirchen-Vluyn 2008. – Yu, C.: A Ridiculous God. Job Uses Psalm 8.5 [4] To Respond To Eliphas, in: M.J. Boda u.a. (Hg.), Inner Biblical Allusion in the Poetry of Wisdom and Psalms, LHBOTS 659, London u.a. 2019, 84–102.
Mit der ersten Rede des Eliphas beginnt der eigentliche Redewechsel zwischen Hiob und seinen Freunden, der ursprünglich aus zwei Redegängen (Kap. 4–14; 15–21) und einem abschließenden Streitgespräch zwischen Eliphas und Hiob (Kap. 22–24,12) bestand. Dabei bietet die erste Eliphasrede das Grundmuster für alle weiteren Freundesreden. Auf einen einleitenden Teil, der sich in der 2. P. Sg. direkt an Hiob wendet, folgt ein Hauptteil, in dem die Situation Hiobs vor dem Hintergrund der traditionellen Weisheit bedacht wird, bevor in einem Schlussteil eine direkte Anwendung der weisheitlichen Weltsicht auf Hiob und Mahnungen an den Leidenden erfolgen. Typisch für die Freundesreden ist, dass einzelne wichtige Begriffe aus der vorangegangenen Hiobrede aufgenommen und mit einer anderen Bedeutung wiederverwendet werden. Insgesamt zeigt sich schon in der ersten Eliphasrede, dass der Dialog zwischen Hiob und seinen Freunden weniger linear als vielmehr meditativ-kreisend und spiralförmig verläuft. Dabei heben sich die Eliphasreden hinsichtlich ihrer besonderen lexematischen und syntaktischen Gestaltung von den anderen Freundesreden ab und kennzeichnen Eliphas auch auf sprachlich-stilistischer Ebene als den Wortführer der Freunde (vgl. 42,7).30 Die erste Eliphasrede bildet eine Mahn- und Trostrede. Sie beabsichtigt, Hiob zum rechten Verhalten im Leiden anzuleiten. Dieses erweise sich im Verzicht auf die Klage (5,1), in Demut und in Hoffnung auf den gerechten Gott, der mittels Leiden erziehe (5,8.17). Dabei spiegelt Eliphas die gegenwärtig angefochtene Identität Hiobs mit dessen gesicherter Identität in der Vergangenheit. Der Klage über das gegenwärtige Leid stellt Eliphas kollektive Erfahrungen gegenüber, die einerseits die Selbstverantwortlichkeit des Menschen, andererseits die Barmherzigkeit eines wundertätigen und erziehenden Gottes unterstreichen. Die klar gegliederte Rede besteht aus sieben Strophen zu je fünf Bikola (4,2–6|7–11|5,1–5*|6–9+11|12– 16|17–21|23–27). In 4,12–21 liegt ein zweigliedriger Exkurs (V. 12–16|17–21) vor. Die Rede wird mit einer direkten Anrede Hiobs und einem Hinweis auf seine bisherige Gottesfurcht als Grund des Trostes im Leid eröffnet (A: 4,2–6). Im Hauptteil (B: 4,7–5,16) wird in vier Strophen die von Gott gewahrte weltimmanente Vergeltung beschrieben. Dabei dienen Bilder vom selbstverschuldeten Untergang des Frevlers (4,7–11) und des Toren (5,1–5*) sowie die Gegenüberstellung von der grundsätzlichen Verantwortlichkeit des Menschen (5,6–9+11) und der Gerechtigkeit Gottes, der den Frommen auch im Leid bewahrt (5,12– 16), als Explikationen. Der Exkurs (4,12–21) beschreibt ein nächtliches Offen30
Siehe dazu auch die Einleitung S. 8 und S. 363 sowie A. Michel, Herausstellungstrukturen, 134.
Aufbau und Sprachformen
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
barungserlebnis, in dessen Verlauf Eliphas die geschöpflich bedingte Ungerechtigkeit des Menschen vor Gott mitgeteilt wird. Die Rede gipfelt in zwei Strophen, die Hiob eine heilvolle Zukunft in Aussicht stellen (C: 5,17–21|23–27). Ein Summarium, das auf die kollektive Lebenserfahrung der Freunde verweist und dies als die Grundlage weiterführender und damit das Leid bewältigender Erkenntnis benennt, beschließt die Rede (5,27). Die wichtigsten Sprachformen der Rede stammen aus der Spruchweisheit, die sich gleichermaßen im AT wie im Alten Orient und im antiken Griechenland findet.31 Eingebettet in parallel konstruierte Sentenzen wird auf der Basis alltäglicher und natürlicher Erfahrung und Beobachtung eine lebensfördernde Orientierung weitergegeben. Ebenfalls aus dem Bereich der Weisheit stammt der Zahlenspruch (vgl. 5,19–22). Zu den Sprachformen der Weisheit kommen Elemente aus dem kollektiven Gotteslob, dem Hymnus, in dem Gott als der Schöpfer und Herr der Geschichte gepriesen wird (5,9–16). Der Exkurs in 4,12–4,21 bedient sich der traditionsgeschichtlich in der Prophetie beheimateten Visions- und Auditionsschilderung und bietet eine eigentümliche Mischung weisheitlicher, prophetischer und priesterlich-kultischer Begriffe und Motive. Hinzu kommen Elemente aus der Überlieferung des Pentateuchs, vor allem des Deuteronomiums, und der dtr. bearbeiteten Eliaüberlieferung (1Kön 17–21; 2Kön 1–2). Theologiegeschichtlich zeigt dieser Abschnitt die in einer jüngeren Phase der Weisheit erfolgende Verbindung weisheitlicher und prophetischer Motive (‚inspirierte Weisheit‘), die eine der Wurzeln der frühjüdischen Apokalyptik bildet. Die Rollen, die Eliphas in der ‚Endgestalt‘ dieser Rede ausfüllt, sind somit die des Weisen, des Propheten und des Priesters sowie des Hymnikers. Die gesamte Argumentation der ursprünglichen Eliphasrede basiert auf einer doppelten Vorstellung: Erstens wird zwischen moralischem und religiösem Verhalten einerseits und dem persönlichen Schicksal andererseits eine Entsprechung gesehen. Zweitens wird aus dem persönlichen Geschick eines Menschen auf dessen moralisches und religiöses Verhalten zurückgeschlossen. Diese Vorstellung wird von einer doppelten theologischen Überzeugung begleitet: Erstens sei Gott gerecht und vergelte jedem Menschen weltimmanent. Zweitens sei Gott barmherzig und reagiere auf Buße und Gebet. Der Exkurs in 4,12– 21 wird von der theologischen Überzeugung bestimmt, dass Gott als Schöpfer allein und absolut gerecht (ṣaddîq) sei und es dementsprechend menschlicherseits gar keine Möglichkeit gebe, sich zu Gott in ein rechtes Verhältnis zu setzen (ṣdq). Im Kontext der ‚Endgestalt‘ des Hiobbuches taucht hier erstmals ein Derivat von der Wurzel ṣdq auf, die im gesamten AT eine zentrale Rolle zur Beschreibung des Verhältnisses von Gott, Welt und Mensch darstellt und die eine wesentliche inhaltliche Achse des Hiobbuches darstellt.32
31 Vgl. Lambert, BWL, 213–282; Alster, Sumerian Proverb Collection 3 (COS 1.174, 563–567); Weigl, Achikar-Sprüche; Strömberg, Sprichwörter; ders., Proverbs; Althoff/Zeller, Worte. 32 Siehe dazu die Auslegung von Hi 8,4 sowie Janowski, Anthropologie, 262.
Hi 4–5 Die erste Rede des Eliphas
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In einem aus Höhle 4 in Qumran bekannten Targum zum Hiobbuch Text- und (4QT gHi/4Q157 Kol. II) sind Fragmente der Übersetzung von 4,16–5,6 Literarerhalten, die abgesehen von kleinen Unterschieden33 mit dem Text, wie er vom geschichte MT repräsentiert wird, identisch ist. Die Beschreibung des nächtlichen Offenbarungserlebnisses in 4,12–21 unterscheidet sich metrisch, motivisch, traditionsgeschichtlich und theologisch stark von der Grundtendenz der Rede. V. 12 (11:15) und V. 13 (17:17) weisen ein anderes kolometrisches Muster als die Verse der Eingangsstrophen (V. 2: 15:15 bzw. V. 7: 16:15) auf. V. 17 ist der längste Vers der gesamten Rede. V. 16 bietet ein Bild metrischer Unausgeglichenheit, wobei weder die Streichung eines Kolons als Glosse34 noch die Annahme, ein Kolon sei ausgefallen,35 zu einer den ersten beiden Strophen parallelen Einheit zu je fünf Bikola führt. Vielmehr dürfte ein Trikolon vorliegen. So besteht Abschnitt 4,12–21 aus zwei Strophen zu je vier Bikola mit je einem Trikolon. Sprachlich hebt sich 4,12 durch den Beginn mit Waw-Apodosis markant von V. 11 ab. Der Vers bietet mit šemæṣ („Gerücht“) ein im Hiobbuch nur noch in 26,14 auftauchendes, insgesamt im AT sehr seltenes Wort. V. 14–15 enthalten gleichfalls zahlreiche für die Hiobdichtung einmalige Konstruktionen bzw. Begriffe.36 Die semantische Besonderheit von V. 16 wird durch die innerhalb des Hiobbuches nur hier begegnenden Begriffe temûnāh und demāmāh sowie den nur noch in dem sekundären Vers 41,1 vorkommenden Begriff marʾæh unterstrichen. Könnte die metrische Unruhe in V. 12–21 als poetische Betonung der Erregtheit des Eliphas angesichts des ihm sich nahenden Mysteriums gedeutet werden, so überrascht doch, dass die subjektiv mindestens ebenso erregten Klagen Hiobs über das von ihm erfahrene Leid metrisch wesentlich ausgewogener sind. Die genannten Auffälligkeiten sprechen dafür, 4,12–21 als eine von 4,2–11 zu literargeschichtlich isolierende Größe zu betrachten, die über die auf 4,2 (dābār ʾelæ̂kā) anspielende Wendung weʾelaj dābār in 4,12 eine redaktionelle Anknüpfung an das Vorangegangene besitzt. Während in 4,2–11 und 5,1–27 die weisheitliche These vertreten wird, dass die Menscheit aus Frevlern und Gerechten besteht und der gerecht handelnde Gott seine Gerechtigkeit dadurch erweist, dass er den Frevler vernichtet und den Frommen bewahrt (4,8–11; 5,12–16), steht hinter 4,12–21 die von spätprophetischer Anthropologie und Theologie geprägte Vorstellung von der grundsätzlichen Verderbtheit des Menschen, der Gott gegenüber immer im Defizit ist und dessen Leiden eine gerechte Konsequenz seiner geschöpflichen Disposition ist. In der zweiten Eliphasrede (15,14–16) und in der dritten Bildadrede (25,4–6) begegnet dieses Motiv von der kreatürlichen Unwürdigkeit des Menschen leicht variiert als Erweiterung der Argumentation der Freunde wieder. Auch dort ist es literargeschichtlich sekundär. Dasselbe gilt für die knappe Zitation von 4,17a in Hi 9,2. Die Texte gehen alle auf die NiedrigkeitsSiehe die Anm. zur Übersetzung von Hi 5,3 und 5,4. So allerdings Fohrer und Hesse, die weloʾ -ʾakkîr marʾehû tilgen. 35 Vgl. Hölscher und de Wilde. 36 Vgl. pḥd Hif.; qrʾ II; r eʿādāh; smr (Piel; nur noch in Ps 119,20); ś eʿārāh. 33 34
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redaktion zurück, die das Verhältnis zwischen Gott und Mensch grundsätzlich mit dem Gegenüber von geschöpflich bedingter Sündhaftigkeit des Menschen und absoluter göttlicher Gerechtigkeit und Heiligkeit bestimmt.37 Dass Hi 4,12–21 in der Eliphasrede einen Fremdkörper darstellt, haben in jüngerer Zeit auch noch einmal Ken Brown (2015) und Edward L. Greenstein (2019) betont.38 Ihre These, der zufolge diese Verse ursprünglich an das Ende von Hiobs Eingangsklage (3,1–26) gehörten, da die Vision in der zweiten Eliphasrede in Hi 15,11 als Zitat von Hiobworten eingeführt werde, sich Elihu in Hi 33,15 auf 4,12 als Offenbarungserlebnis Hiobs beziehe (vgl. auch 32,2 und 35,2 mit 4,17), Hiob selbst mehrfach auf ,seine‘ Vision rekurriere (vor allem in Kap. 7; 9; 14) und diese in 42,1–6 selbst korrigiere, ist allerdings aus poetologischen, kompositions- und redaktionsgeschichtlichen Gründen problematisch.
Weitere Zusätze zur ersten Eliphasrede bilden, neben V. 5aβ,39 zum einen die hymnische Explikation in 5,10, die das syntaktisch über den Infinitivus constructus verbundene Verspaar von 5,9.11 unterbricht, zum anderen die Verheißung in 5,22. So fällt 5,22 aufgrund der Verdoppelung von V. 20a, V. 21b und V. 23b, des Beginns mit Lamed gegenüber dem dreifachen Einsatz des Zahlenspruchs in V. 20–21 mit dem präpositionalen Beth und des im Hiobbuch nur noch in dem sekundären Vers 30,3 begegnenden aram. Wortes kāpān („Hunger“)40 aus dem Aufbau der sich von V. 17–21 über fünf Bikola erstreckenden Strophe. Erwägenswert ist die Annahme, die gesamte hymnische Beschreibung in 5,9–17 aus formgeschichtlichen und terminologischen Gründen als Fortschreibung anzusehen.41 Allerdings fügt sich der Abschnitt in das strophische und gedankliche Grundmuster der Rede. Anders als die Offenbarungspassage in 4,12–21 entspricht der hymnische Abschnitt in 5,9–17 der Theologie, welche die erste Eliphasrede in 4,2–11; 5,1–8 prägt, so dass er sich als ursprüngliche Begründung der Ermahnung des Eliphas in 5,8 lesen lässt.
37 Siehe dazu ausführlich Witte, Leiden, sowie im Anschluss daran Kaiser, 80, und Nõmmik, Freundesreden, 20f, sowie mit Modifikationen Vermeylen, Métamorphoses, 328 (Zusatz seitens der „dritten Buchredaktion“) und Wanke, Praesentia Dei, 388–392 (Rückführung auf die „Elihu-Redaktion“). 38 E. Greenstein, The Extent of Job’s First Speech, in S. Vargon u.a. (Hg.), Studies in Bible and Biblical Exegesis (FS M. Cohen), Ramat-Gan 2005, 245–262; ders., Job, 16, sowie breit entfaltet bei K. Brown, Vision, 65–98; 147–160. 39 Vgl. Hölscher, Fohrer. Dagegen verbindet J. Gray Hi 4,21a mit 5,5aβ zu einem Bikolon, verlegt 5,2 (als Glosse?) hinter 4,21b und positioniert 5,1 zwischen 5,7 und 5.8. 40 Das aram. Lehnwort kāpān begegnet in der hebr. Bibel nur in Hi 5,22; 30,3 (Wagner, Aramaismen, Nr. 133). Demgegenüber vokalisiert Greenstein (ebenfalls als Aramaismus) kepin („Steine“, vgl. Hi 30,6). 41 Kaiser; Nõmmik, Freundesreden, 28–32; Wanke, Praesentia Dei, 78; 409 (Zusatz der „Elihu-Redaktion“); Vermeylen, Métamorphoses, 329 (Hi 5,17–27 als Ergänzung der „dritten Buchredaktion“).
Hi 4–5 Die erste Rede des Eliphas
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Die Gottesbezeichnungen im Buch Hiob
Exkurs
Dalferth, I.U./Stoellger, Ph. (Hg.): Gott nennen. Gottes Namen und Gott als Name, RPT, Tü- Literatur bingen 2008. – Oorschot, J. van/Witte, M. (Hg.): The Origins of Yahwism, BZAW 484, Berlin/ Boston 2017. – Witte, M.: The Development of God in the Old Testament. Three Case Studies in Biblical Theology, CrStHB 9, Winona Lake 2017.
Die erste Eliphasrede bietet nicht nur das Grundmuster für alle weiteren Freundesreden, sondern verwendet auch die vier wichtigsten Gottesbezeichnungen, die in der ursprünglichen Dialogdichtung auftauchen. Während im Prolog und im Epilog das Tetragramm jhwh und das Appellativum ʾ ælohîm bzw. hā-ʾ ælohîm („Gott“ bzw. „die Gottheit“) begegnen, erscheint in der Dichtung das Tetragramm nur einmal in einer geprägten Wendung, die vermutlich sekundär ist (12,9, vgl. Jes 41,20), sowie in den Überschriften der Gottesreden und der Antworten Hiobs auf diese (38,1; 40,1.6; 42,1). Ansonsten wird Gott in der Dichtung mit den Begriffen ʾ ælôah, šaddaj oder ʾel sowie einmal (in dem ebenfalls sekundären Vers 28,28) als ʾ adonāj bezeichnet. Letztlich sind in der Hiobdichtung die verschiedenen Gottesbezeichnungen mit Ausnahme des Tetragramms, das an den Schlüsselstellen der Überschriften zu den Gottesreden gleichsam als Hinweis auf die Theophanie verwendet wird, austauschbar. Der Wechsel in der Dichtung dürfte poetisch bedingt sein. Der Verzicht auf die Verwendung des Tetragramms in der Dichtung und die konzentrierte Verwendung in den Überschriften der Gottesreden könnte damit zusammenhängen, dass Hiob und seine Freunde im Verlauf des Dialogs von der allgemeinen zur speziellen Gotteserkenntnis gelangen. Im traditionsgeschichtlichen Hintergrund steht möglicherweise das priesterschriftliche Konzept der gestuften Offenbarung Gottes, zunächst unter der Bezeichnung ʾ ælohîm als Gott der Schöpfung, šaddaj als Gott der Väter und jhwh als Gott des Mose (vgl. Gen 1,1; 17,1; Ex 6,2–3): Hiob und seine Freunde durchlaufen im Dialog dementsprechend den Weg der Gotteserkenntnis von der Schöpfung bis zu einer modifizierten (Sinai-) Offenbarung. Die Leser, die vom Prolog herkommen, und der Hiob des Prologs haben diesen Weg schon hinter sich (vgl. 1,6–12 bzw. 1,21). 1) Der Name des Gottes Israels und Judas, jhwh, erscheint in der hebr. Bibel ca. 6800mal, die genaue Zahl schwankt je nach Codex und Zählweise.42 Welcher biblische Text den ältesten Beleg bietet, ist in der Forschung umstritten. Die ältesten sicheren außerbiblischen Nachweise finden sich in Inschriften aus dem 9./8. Jh. v.Chr.43 Wie in der hebr. Bibel erscheinen epigraphisch die Langform jhwh und die Kurzformen jhw und jh. Die Aussprache „Jahwe“ ist hypothetisch, da die hebr. Texte zunächst als Konsonantentexte überliefert wurden. Seit etwa 300 v.Chr. wurde das Tetragramm aus Ehrfurcht, den Gottesnamen zu nennen, als ʾ adonāj („[mein] Herr“), später auch aram. als š emāʾ („der Name“) gelesen. Nach der im frühen Mittelalter durch die Masoreten vorgenommenen Eintragung von Vokalzeichen in die Konsonantentexte wurde das Tetragramm entweder dem Wort ʾ adonāj entsprechend mit den Vokalen a-o-a oder dem Wort š emāʾ entsprechend mit den Vokalen e-a versehen. E. Jenni, Art. Jhwh Jahwe, THAT I (62004), 701–707, hier: 704, zählt 6828 Belege. Vgl. die Stele des Königs Mescha von Moab (KAI 181; HTAT Nr. 105), die Grabinschrift von Ḫirbet el-Kōm Nr. 3 (HAE I, 202–211) sowie Votivinschriften aus Kuntillet ʿAǧrūd (HAE I, 47–64). 42 43
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Dies führte im Mittelalter im christlichen Kontext zu der falschen Aussprache „Jehowah“. Im 19. Jh. setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Name wohl „Jahwe“ lautete, was auch durch Transkriptionen von jhwh bei griech. Kirchenvätern nahegelegt wird. Die in der Zeit des Zweiten Tempels (ab 520/515 v.Chr.) einsetzende Ehrfurcht vor dem Gottesnamen spiegelt sich auch in jüdischen Handschriften aus hellenistisch-römischer Zeit, die gelegentlich das Tetragramm in althebräischer („phönizischer“) Schrift schreiben, während der sonstige Text in Quadratschrift, der sich seit dem 5. Jh. v.Chr. für das Hebr. durchsetzenden „aramäischen“ („assyrischen“) Schrift, oder in griech. Buchstaben abgefasst ist.44 Philologisch könnte jhwh auf eine Verbalwurzel hāwāh („fallen“, vgl. arabisch hawaj „fallen“, „wehen“) zurückgehen. Demzufolge wäre das Lexem jhwh ein Verbalname im Sinn von „er weht“/„er lässt wehen“. Dies konvergiert mit der Typologie Jhwhs als Wettergott.45 Die biblische Überlieferung verbindet diesen Namen in Ex 3,14 mit dem hebr. Verb hājāh („sein/werden“), was philologisch möglich ist, und deutet ihn als „Ich bin, der ich bin“ bzw. „Ich bin der sich stets wirksam Erweisende“. Die Anfänge und Ursprünge der Jhwh-Verehrung liegen im Dunkeln. Den Aufstieg von einem lokal begrenzt verehrten Gott zum Schöpfer der Welt und Herrn der Geschichte erlebte Jhwh im Laufe der Geschichte Israels und Judas. In der ersten Hälfte des 1. Jt. v.Chr. wurde Jhwh Dynastie- und Hauptgott der Königreiche Israel und Juda. Dabei wurden wichtige Aspekte des wesensverwandten Gottes Baʿal, in geringerem Maß auch des Gottes El sowie einer Sonnengottheit auf ihn übertragen. Im Gefolge der theologischen Aufarbeitung des Zusammenbruchs der Staaten Israel 722 v.Chr. bzw. Juda 587 v.Chr. und im Milieu einer sich auch bei anderen Religionen des Vorderen Orients im 6./5. Jh. v.Chr. zeigenden Tendenz zur Monotheisierung wurde Jhwh zum allein zu verehrenden Gott des Judentums. In ihrer monotheistischen ‚Endgestalt‘ bestreitet die hebr. Bibel dann die Existenz jeglicher Gottheit neben Jhwh. Im Hiobbuch ist diese Sicht vorausgesetzt. In den antiken und mittelalterlichen Bibelübersetzungen wird das Tetragramm unterschiedlich wiedergegeben. Entsprechend der jüdischen Tradition, jhwh als ʾ adonāj zu lesen, übersetzen die griech., die lat. und die syr. Bibel zumeist mit den Äquivalenten für „Herr“ (griech. κύριος, lat. dominus, syr. morjoʾ). In den aram. Bibelübersetzungen (Targumen) erfolgt eine Wiedergabe als jwj oder jjj. Das Hiob-Targum aus Qumran (11QTgHi) gebraucht anstelle des Tetragramms das Appellativum ʾlhʾ („Gott“). In der Lutherbibel wird ebenfalls mit „Herr“ übersetzt, wobei dieses mit Kapitälchen geschrieben ist, um es von dem gleichfalls mit „Herr“ übersetzten Wort ʾ adonāj zu unterscheiden (vgl. Spr 1,7 mit Hi 28,28). So verfährt jetzt auch die Einheitsübersetzung, die in der Fassung von 1980 noch an 144 Stellen Jahwe geboten hatte. Die Zürcher Übersetzung gibt mit „(der) Herr“ wieder. 2) Die Gottesbezeichnung ʾ ælohîm bzw. hā-ʾ ælohîm erscheint in der hebr. Bibel 2600mal,46 davon 11mal in der Hioberzählung und sechsmal in der Hiobdichtung. Sie ist zugleich die erste Gottesbezeichnung im Tanach (vgl. Gen 1,1). ʾ ælô ah begegnet 58mal in der hebr. Bibel und ist auf junge, vor allem poetische Texte beschränkt (41mal in Hiob, je 4mal in den Psalmen und in Dan, je zweimal in Dtn 32 und Hab, einmal in Jes 44,8; Spr 30,5; 2Chr 32,15; Neh 9,17).47 Mit Ausnahme von Ps 18,32; Dan 11,37–39; 2Chr 32,15 und Dtn 32,17 steht ʾ ælô ah jeweils für den wahren Gott, für Gott schlechthin. Etymologisch handelt es sich bei den Gottesbezeichnungen ʾ ælô ah und ʾ ælohîm um Weiterbildungen des Wortes ʾel. Dabei dürfte ʾel auf eine Verbalwurzel ʾûl (II „vorne/stark/erster sein“) zurückgehen. Während ʾ ælô ah morphologisch ein Vokativ sein könnte, ist ʾ ælohîm morphologisch eine Pluralbildung. In der hebr. Bibel erscheint die Bezeichnung ʾ ælohîm a) entsprechend seiner philologischen Entstehung als Begriff für „Götter“ (vgl. Ex 12,12; 18,11; Ps 86,8), b) als Bezeichnung für gottgestaltige Wesen, die zum himmlischen Hofstaat Jhwhs gehören (vgl. Gen 1,26), c) als Appellativum für „Gott“, „Gottheit“, d) als Bezeichnung für Jhwh im Sinn von „Gott schlechthin“.
44 Ein Beispiel dafür ist das griech. Hiobfragment des Pap. Oxyrhynchos Nr. 3522 aus dem 1. Jh. n.Chr., der in Hi 42,11–12 das Tetragramm in althebräischen Buchstaben bietet. 45 Siehe dazu auch den Exkurs auf S. 374. 46 Zählung nach W.H. Schmidt, Art. ʾ ælōhīm Gott, THAT I (62004), 153–167, hier: 154. 47 In den Schriften aus Qumran ist ʾ ælô ah bisher achtmal belegt (einschließlich der Zitate aus Hab 1,11), in den hebr. Fragmenten des Sirachbuches gesichert zweimal (Sir 35,13 und 45,23 [jeweils in HB]).
Hi 4–5 Die erste Rede des Eliphas
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Als Intensiv- oder Hoheitsplural drückt das Wort ʾ ælohîm aus, dass Jhwh alle göttlichen Wesen in sich zusammenfasst. In einzelnen Abschnitten der hebr. Bibel wird der Jhwh-Name aus Scheu vermieden und der Begriff ʾ ælohîm als Ersatz für das Tetragramm verwendet (vgl. den sogenannten „elohistischen Psalter“, Ps 42–83). Andere Textgruppen wählen die Bezeichnung ʾ ælohîm anstelle des Jhwh-Namens, um die Universalität des Gottes Israels zu betonen (vgl. die sogenannten „elohistischen“ Abschnitte des Pentateuchs in Gen 20–22 oder das Buch Jona). Schließlich erscheint die Bezeichnung ʾ ælohîm bewusst in einem Kontext, der die gesamte Menschheit bzw. den Bereich der Schöpfung im Blick hat (vgl. die priesterschriftlichen Abschnitte in Gen 1–2,3; 5,1–32*; 6–9* oder das Buch Kohelet). In den antiken Übersetzungen wird ʾ ælohîm zumeist mit einem Äquivalent für „Gott“ wiedergegeben: Die LXX bietet hier zumeist θεός („Gott“) bzw. ὁ θεός („der Gott“/„die Gottheit“), Vg deus („Gott“), Syr ʾaloh/ʾalohoʾ („Gott“). Luther, die Zürcher Bibel und die Einheitsübersetzung übersetzen „Gott“. 3) Die Gottesbezeichnung ʾel erscheint im AT 238mal,48 davon viermal in der Pluralform ʾelîm (Ps 29,1; 89,7; Dan 11,36; Ex 15,11). Im Hiobbuch erscheint ʾel nur in der Dichtung (56mal). Außerbiblisch begegnet die Bezeichnung ʾel im gesamten semitischen (mit Ausnahme des äthiopischen) Bereich (vgl. ug., phöniz., aram., arab., akkad.). Der Begriff wird sowohl in einem appellativen Sinn für Gott verwendet als auch in einem spezifischen Sinn zur Bezeichnung eines besonderen Hochgottes, oft des höchsten Gottes El (vgl. ug., phöniz., aram., akkad., altsüdarab.). Gemäß der sprachgeschichtlichen Rückführung von ʾel auf ʾûl (s.o.) bedeutet El ursprünglich entweder „Kraft“ oder „Führer“. El ist eine allgemeinsemitische Universalgottheit mit unterschiedlichen Erscheinungsformen und lokalen Haftpunkten. Über die Textfunde aus der nordsyrischen Stadt Ugarit (Ras Shamra) ist die Rolle Els in einem mit den kanaanäischen Stadtstaaten des 2. Jt. v.Chr. in gewisser Hinsicht vergleichbaren soziokulturellen Kontext gut belegt. So kommt El im ug. Pantheon die höchste Autorirät zu. El ist der Götterkönig, der an der „Quelle der Flüsse“, dem mythischen Nabelpunkt der Erde thront. El gilt als der „Vater der Göttersöhne (bn ilm)“ und „der Vater der Menschen“. Daneben wird El in den ug. Epen sehr häufig als der „Stier“ oder als der „Wohlwollende und Barmherzige“ bezeichnet. El gilt als der Schöpfer und der Besitzer des Geschaffenen. Er ist der Repräsentant umfassender Macht, der in gewissem Abstand zum Menschen steht und nur bei entscheidenden Ereignissen eingreift. Gleichwohl ist El, wie die in Ugarit gefundenen Opferlisten zeigen, kultisch verehrt worden. Im Laufe der israelitisch-jüdischen Religionsgeschichte hat Jhwh bestimmte Wesensmerkmale von El geerbt. So beinhaltet die Bezeichnung Jhwhs als El im AT die Charakterisierung als höchsten Repräsentanten der Götterwelt. In der hebr. Bibel erscheint der Begriff ʾel a) zur Bezeichnung des von Jhwh unterschiedenen kanaanäischen Hochgottes El (vgl. Ez 28,2; Jes 14,13), b) zur Bezeichnung von Jhwh untergeordneten Göttern (vgl. Ex 15,11; Ps 29,1), c) als Titel Jhwhs (vgl. Jes 40,18; 43,12; 45,22; 46,9; Gen 33,20), d) als Appellativum für „Gott“ (vgl. Mi 7,18; Dan 11,36; Ps 44,21: „fremder Gott“, Dtn 32,12: „anderer Gott“), e) als Bezeichnung für den Gott Israels im Sinn von „Gott schlechthin“ (vgl. Num 23,8: par. jhwh, Hi 5,8: par. ʾ ælohîm) und f) als Kontrastbegriff zu „Mensch“ (vgl. Jes 31,3; Ez 28,9; Hi 25,4). Die antiken Versionen und die modernen Übersetzungen geben ʾel zumeist mit „Gott“ wieder. Gelegentlich findet sich auch die etymologisierende Übersetzung mit ὁ ἰσχυρός „der Starke”, so in der Theodotion-Version von Hi 22,13; 33,29; 34,31; 36,22.26; 37,5.10; inhaltlich unterstreicht der Begriff die Handlungsfähigkeit und -mächtigkeit Gottes. 4) Die Gottesbezeichnung šaddaj begegnet in der hebr. Bibel insgesamt 48mal, sei es in der Wortverbindung ʾel šaddaj (vgl. Gen 17,1; 28,3; 35,11; 43,14; 48,3; Ex 6,3; Ez 10,5), sei es alleinstehend, wobei im Parallelismus dann die Gottesbezeichnungen ʾ ælô ah (vgl. 5,17), ʾel (vgl. 8,3) oder ʿ æljôn („der Höchste“, vgl. Ps 91,1) erscheinen können. Hinzu kommen drei theophore Eigennamen in einer priesterschriftlichen Liste in Num 1,5–12 (Schedeur, Zurischaddaj, Ammischaddaj). Die überwiegende Zahl der Belege findet sich in der Hiobdichtung (31mal). Sowohl die etymologische als auch die religionsgeschichtliche Herkunft des Begriffs sind unsicher. Im Wesentlichen werden drei Thesen vertreten: a) Es handele sich um eine ursprünglich kanaanäische Bezeichnung einer 48
Zählung nach W.H. Schmidt, Art. ʾēl Gott, THAT I (62004), 142–149, hier: 142.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
eigenständigen Gottheit. b) Es liege eine Kombination von zwei ursprünglich selbstständigen kanaanäischen Götternamen ʾel und šaddaj vor. c) Es handele sich um die Verbindung der Gottesbezeichnung ʾel mit dem Epitheton šaddaj. Nicht ausgeschlossen ist eine ursprüngliche Verbindung des Epithetons šaddaj mit dem Wettergott Baʿal(-Hadad), der auf dem Berg Zaphon, dem 1770 m hohen mons Casius/Ǧebel el-Aqraʿ, thront.49 Der Zusammenhang des hebr. Wortes šaddaj mit dem Wort šdjn, womit in der ammonitischen (?) Inschrift vom Tell Dēr ʿAllā (KAI 312 I,6[8])50 eine Art Untergötter bezeichnet werden, ist nicht ganz klar (vgl. hebr. šed „Dämon“, vgl. Dtn 32,17; Ps 106,37). Sprachgeschichtlich hängt šaddaj wahrscheinlich mit dem akkad. Wort šadû („Berg“, adj. šaduah „der, der das Gebirge bewohnt“) zusammen. Als ein erstarrtes Appellativum bedeutet der Name dann „mein Berg“ im Sinne von „mein Schutz“ und dient als Bezeichnung des persönlichen Schutzgottes des einzelnen Beters. Die Gottesbezeichnung šaddaj begegnet ausschließlich in exilisch-nachexilischen Texten. Wahrscheinlich wird dieser Name von einzelnen israelitisch-jüdischen Verfassern, denen bewusst war, dass Israel nicht immer schon Jhwh verehrte, als eine archaisierende Gottesbezeichnung verwendet. So gebraucht die Priesterschrift, auf die möglicherweise die Einführung (wenn nicht gar die besondere Prägung) dieser Gottesbezeichnung im israelitisch-jüdischen Schrifttum zurückgeht, die Wendung ʾel šaddaj für die Zeit der Patriarchen (vgl. Gen 17,1; 28,3; 35,11; 48,3). Während P für die Epoche der Schöpfung von Gott als Elohim spricht, gebraucht sie den Jhwh-Namen erst ab der Moseoffenbarung in Ex 6,3. Die Hiobdichtung stellt mittels der Gottesbezeichnung šaddaj den universalen und paradigmatischen Charakter der Frage nach dem Leiden des Gerechten dar. Die Wiedergabe der Gottesbezeichnung ʾel šaddaj bzw. šaddaj schwankt in den antiken Übersetzungen: Die LXX bietet die Übersetzungen ὁ θεός („der Gott/die Gottheit“, in Gen und Ex verbunden mit dem Possessivsuffix „mein/dein/ihr Gott“), ὁ ἐπουράνιος („der Himmlische“, Ps 67,15LXX), ὁ ἱκανός („der sich selbst Genügende“) oder ὁ παντοκράτωρ („der Allherrscher“), letzteres dominiert in der ursprünglichen Hiobübersetzung, während Th in 21,15; 31,2; 40,2 mit ὁ ἱκανός übersetzt. Vg gibt diesen Gottesnamen mit omnipotens wieder. Syr übersetzt mit ḥasînoʾ „der Mächtige“. In 11QTgHi wird, soweit angesichts des fragmentarischen Überlieferungszustandes erkennbar, šaddaj entweder mit ʾ lhʾ („Gott“, vgl. 22,3.17) oder mit mrʾ („Herr“, vgl. 34,12) übersetzt. Im Targum bleibt die Bezeichnung unübersetzt. Luther und Zürcher Bibel folgen Vg und übersetzen mit „der Allmächtige“. 5) Die Gottesbezeichnung ʾ adonāj, die ab etwa 200 v.Chr. den Jhwh-Namen fast völlig ersetzt, findet sich explizit einmal in Hi 28,28 und einmal in einer Anspielung in 3,23. Dieser Begriff begegnet in der hebr. Bibel, sei es absolut oder in Kombination mit einer anderen Gottesbezeichnung, insgesamt 439mal.51 Die Form ʾ adonāj stellt eine nur auf Gott bezogene Verbindung des Wortes ʾ adôn mit dem Pluralsuffix für die 1. P. Sg. dar und bedeutet „mein Herr“ im Sinn von „mein Herr schlechthin“.52 Die Etymologie dieses Wortes ist unsicher. Hierbei konkurrieren folgende Vorschläge einer Ableitung: a) von altsüdarab. ʾadûn „Befehl“, b) von arab. ʾidûn „Auftrag“, „Aufruf“, c) von äg. jdnw „Verwalter“, „Stellvertreter“, d) von hebr. dûn „herrschen“ und e) von akkad. danānum „mächtig sein“. Am wahrscheinlichsten sind die Ableitungen d) und e). Über die Lesung des Tetragramms als ʾ adonāj und die Übersetzung des Jhwh-Namens mit κύριος bzw. dominus wurde der Charakter Jhwhs als eines ursprünglich israelitischen und judäischen Gottes universalisiert und an die Gottesvorstellungen der Antike und des Alten Orients angepasst. Zugleich liegen hier die Wurzeln für die Verwendung des Gottestitels „Herr“ in der christlichen Tradition. Eine entscheidende theologische Funktion dieser Gottesbezeichnung ist die Relativierung menschlicher Macht. Der Titel des „Herrn“ steht letztlich keinem Kaiser oder König zu, sondern allein Gott. Die Bezeichnung Jhwhs als Herr ist einerseits ein Bekenntnis zu Jhwhs Autorität, die alle Lebensbereiche des Menschen umgreift, andererseits ein Ausdruck grenzenlosen Vertrauens auf die Stärke Jhwhs.
49 Vgl. Baʿal-Zyklus III,iii,29–31 (TUAT.NF VIII, 205f); Pap. Amherst 63 XII,13; XIII,15/16 (TUAT II, 933f; van der Toorn, Papyrus Amherst, 66; 67f). 50 Vgl. TUAT II, 138–147; TUAT.NF VIII, 459–474. 51 Zählung nach E. Jenni, Art. ʾādōn Herr, THAT (62004), 31–38, hier: 32. 52 Zur Diskussion siehe Waltke/O’Connor § 7.4.3e–f.
Hi 4–5 Die erste Rede des Eliphas
141
6) Mehrfach steht als Gottesbezeichnung einfach das Personalpronomen der 3. P. Sg. hûʾ im Sinne eines „er selbst/er allein/er“ (vgl. Hi 23,13).53 In drei Fällen (24,18; 28,3; 37,21) ist umstritten, ob hûʾ ein göttliches oder menschliches Subjekt meint (vgl. dazu die Auslegung).
Das vorsichtige Wort des Trösters
4,1–6
Die Überschrift gibt Name und Herkunftsort des Redners an (vgl. den Exkurs zu 2,11–13) und leitet die Rede wie in 3,1 mit der Formulierung „er hob an und sagte“ ein.54 Tastende Rhetorik und ein doppelter Rekurs auf Hiobs Vergangenheit kennzeichnen den Auftakt der ersten Freundesrede.55 Hiobs Worte provozieren Widerworte. Eliphas kann angesichts von Hiobs Fluch über seinen Tag nicht schweigen, weil der Weise einen Tag nicht vor seinem Ende verflucht (V. 2).56 Dabei beginnt die erste Rede des Eliphas in ihrer Eröffnungsstrophe mit vorsichtigen Fragen an Hiob und erinnert diesen an seine eigene Fähigkeit, andere zurechtzuweisen bzw. lebensförderlich zu (er-)mahnen (jāsar)57 und dadurch zu stärken (ḥāzaq) (V. 3–4, vgl. 29,12–16.25; Jes 35,3; Hebr 12,12). Diese Fähigkeit Hiobs muss sich in der eigenen Krise bewähren, damit sich an ihm nicht die Erfahrung bestätigt, dass es Weise gibt, die vielen als weise erscheinen, sich selbst aber nicht helfen können (Sir 37,19 [G, HD]). Eliphas nimmt Hiobs letzte Worte auf und seine gegenwärtige Situation ernst: Das Leid sei über Hiob gekommen (bôʾ, vgl. 3,24–26) und habe diesen schwer getroffen (nāgaʿ, vgl. 1,11; 2,5; 5,19; 6,21). Dem Gottesschrecken (3,26; 4,5) stellt Eliphas die Gottesfurcht entgegen. Der absolut gebrauchte Begriff jirʾāh (vgl. 15,4; 22,4) steht hier elliptisch für die Wendung jirʾāt jhwh („die Furcht Jhwhs“) als Terminus für Frömmigkeit, Glauben, Religion (vgl. 6,14; 28,28).58 Die Gottesfurcht Hiobs (vgl. 1,1.8.9; 2,3; Ps 25,12), die Eliphas ausdrücklich anerkennt, und die persönliche Integrität Hiobs sollen Zuversicht (kislāh)59 und Hoffnung (tiqwāh) schenken (vgl. Spr 24,14). Erstmals blitzt hier der Begriff der Hoffnung auf, der sich wie ein
4,1
Vgl. zudem Hi 5,18; 9,22; 11,11; 21,22; 22,18; 23,6; 28,23.24; 31,4; 34,29; 37,12. Vgl. Hi 8,1; 11,1; 15,1; 18,1; 20,1; 22,1; 25,1 bzw. 6,1; 9,1; 12,1; 16,1; 19,1; 21,1; 23,1; 26,1. 55 Zu diesem Redeauftakt vgl. BT 13–15.56 (TUAT III, 147.149). 56 Vgl. Spr 27,1; Pred 11,6; Sir 11,26 (G); Achikar X,2 (TUAT III, 336; TAD C1 1.80; Weigl, Achikar-Sprüche, 79–82). 57 Das Verb, das gelegentlich im Parallelismus mit „lehren“ (lāmad Piel, vgl. Ps 94,10.12, bzw. jārāh Hif., vgl. Jes 28,26) gebraucht werden kann, hat seinen eigentlichen Ort in der elterlichen und weisheitlichen Erziehung (vgl. Spr 19,18; 29,7; 31,1), kann aber auch mit Gott als Subjekt gebraucht werden (vgl. Dtn 8,5 sowie mit dem Substantiv mûsār in Hi 5,17; s.u.). 58 Vgl. Ps 19,10; 34,12; 111,10; Spr 1,7.12; 2,5; 8,13; 9,10; 10,27; 14,26; 15,16.33; 16,6; 19,23; 22,4; 23,17. 59 Vgl. kæsæl, in Hi 8,14; 31,24; Ps 49,14; 78,7; Spr 3,26. 53 54
4,2–4
4,5 4,6
142
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
roter Faden durch die Dichtung zieht.60 Die Vollkommenheit (tom)61 des früheren Lebensweges (dæræk) erscheint als ein heilsamer Kontrast zum gegenwärtigen verborgenen Weg (dæræk) (3,23) und gilt als ein Grund der Hoffnung (Spr 13,6; Ps 37,37). Der Rückblick auf die frühere Zeit soll die Gegenwart erträglich machen und Zukunft ermöglichen. Eliphas’ starke Hinwendung zu Hiob zeigt sich auch auf sprachlich-stilistischer Ebene, indem das vierfach gebrauchte Possessivsuffix der 2. P. Sg. -kā ein besonderes Homoioteleuton bildet. 4,7–11 Die Erfahrung des Trösters I 4,7 An die mahnende erste Strophe schließt die mit einem weisheitlichen Erinnerungsruf (zekār-nāʾ) eingeleitete und als Frage formulierte These an, dass der Unschuldige (nāqî) und der Aufrechte (jāšār, vgl. 1,1.8; 2,3), selbst wenn sie eine Zeit der Leiden durchlebten, letztlich nicht zugrundegingen (ʾābad, vgl. Ps 1,6; 37,25.37; Sir 2,10–11 [G]) – letzteres hatte sich Hiob gerade angesichts seiner gegenwärtigen Situation gewünscht (3,3). Der tastenden Rhetorik der ersten Strophe folgt fordernde Rhetorik in Gestalt des Imperativs, sich zu erinnern (zākar), zu vergegenwärtigen, wobei auch hier Eliphas anerkennt, dass Hiob unschuldig ist (vgl. 9,23; 17,8). 4,8–9 Unterstrichen wird dies durch den Hinweis auf die persönliche Erfahrung (vgl. die Verwendung der Reflexionsformel rāʾîtî)62, nach der umgekehrt die Frevler von Gott vernichtet werden.63 Die Erfahrung gilt als ein wesentlicher Ausgangspunkt der Weisheit, sie schlägt sich hier in der als Gegensatzspruch formulierten Darstellung der Vergeltung nach ihrer Lohn- (V. 7) und ihrer Strafseite (V. 8–9, vgl. Ps 7,15–17) nieder. Die von Eliphas ins Spiel gebrachte Gegenüberstellung „Gerechter – Frevler“ hat zahlreiche Parallelen in der Spruchweisheit (vgl. Spr 10,5)64. In der Wortwahl von V. 8 zeigt sich ein in der synthetischen Lebensauffassung des Alten Orients65 wurzelnder und für die Hiobdichtung und ihre Kommunikationsstruktur typischer äquivoker Wortgebrauch: So steht der Begriff ʿāmāl („Mühsal“) im Mund Hiobs für ein gottgeschicktes Leiden (3,10.20, vgl. Ps 90,10), im Mund des Eliphas bedeutet ʿāmāl hingegen selbstgewirktes Unheil (vgl. 5,6–7; Ps 10,7). Die Verbindung der Beschreibung von Tun und Ergehen (4,8) mit dem Motiv von Gottes Zorn (ʾap, 4,9)66 zeigt, dass 60 Vgl. Hi 5,16; 6,8; 7,6; 8,13; 11,18.20; 14,7.19; 17,15; 19,10; 27,8 bzw. (3,9); 6,19; 7,2; 17,13; 30,26 und dazu die Studie von Mies, L’espérance, die ganz dem Motiv der Hoffnung im Hiobbuch gewidmet ist. 61 Vgl. die Charakteristik Hiobs als tām in Hi 1,1.8; 2,3; 27,5–6. 62 Vgl. Hi 5,3; Spr 24,32; Ps 37,25.35; Pred 1,14; 2,13; 3,10; 5,12. 63 Zum Bildwort vgl. Spr 14,22; 22,8; Hos 8,7; 10,12–13; Sir 7,3; Gal 6,7; Hesiod, frgm. 286. 64 Vgl. zudem Spr 10,7.16.28; 11,3.5.6.8.27.28.30; 12,5.7.26; 13,9.13.15; 14,22.32; 15,27.28 und dazu Westermann, Wurzeln, 91–101. 65 Zum Hintergrund dieser terminologischen Ambivalenz vgl. den Klassiker von Fahlgren, ṣedaḳa, 4; 52f, und K. Koch, Spuren, 97. 66 Die Grenze zwischen eigentlichem und übertragenem Gebrauch des Begriffs ʾap („Nase“; „Zorn“) ist hier fließend; siehe dazu Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 76–78.
Hi 4–5 Die erste Rede des Eliphas
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im Horizont der Hiobdichtung der Begriff der „Vergeltung“ treffend ist. Denn es ist Gott selbst, der handelt. Der „Zorn Gottes“, in seiner Dynamik durch die Metaphern des Atems (nešāmāh)67 und des Windes (rûaḥ) illustriert (vgl. Ps 18,16; Jes 40,7; 4Q381 frgm. 29,3),68 ist hier, wie auch sonst im AT, eine Chiffre für die strafende Gerechtigkeit Gottes – klassisch ausgedrückt in der Gnadenformel (Ex 34,6–7 par.). So ergeht der Zorn Gottes im AT nie grundlos.69 Damit deutet sich bereits in der zweiten Strophe der ersten Eliphasrede ein grundlegendes Problem an, das den gesamten Dialog der Freunde bestimmen wird: Wie fügen sich die Einschätzung Hiobs als eines Unschuldigen (4,6–7) und die Überzeugung, dass nur der Schuldige von Gottes Zorn getroffen werde (4,8–9), zur Erfahrung Hiobs, vom Zorn Gottes getroffen zu sein? Mit dem Bild des brüllenden, zähnefletschenden und raublustigen Löwen, 4,10–11 das fünf verschiedene Wörter für diesen verwendet und das als Bestätigung der vorangehenden Sentenz dient, greift der Dichter einerseits ein im Alten Orient, im AT und in den jüdisch-hellenistischen Schriften beliebtes Symbol für den Frevler auf (vgl. Ps 7,3).70 Andererseits blickt er auf Hiobs Klageruf in 3,24 zurück (vgl. Ps 22,2; 32,3; 38,9): Hiob ist der brüllende Löwe, dessen Schrei (š eʾāgāh) nun implizit als unbesonnenes Gebrüll erscheint (vgl. Spr 19,12; 20,2; Sir 4,30).
Ein Exkurs: Das Offenbarungserlebnis des inspirierten Weisen
4,12–21
Auf die beiden Eingangsstrophen (V. 2–6|7–11), die jeweils fünf Bikola umfassen, kolometrisch ausgewogen71 sowie formal nach vorne und hinten abgeschlossen sind, folgt die Schilderung einer nächtlichen Audition und Vision (vgl. Jes 6; Ez 3; Dan 10). Eliphas zieht gewissermaßen das Gewand des Propheten an, wodurch er in die Nähe von Mose, Bileam und Elia gerät. Die Redeeröffnung in 4,2 nachahmend (vgl. dābār), setzt die Schilderung 4,12–16 der Offenbarung als Hörerlebnis ein (V. 12, vgl. Jes 22,4), 72 das als Traumund Nachtgesicht bestimmt wird (V. 13, vgl. 20,8; Jo 3,1). Dem tiefen Schlaf 67 Tg identifiziert die göttliche nešāmāh mit der göttlichen Memra, der „Rede“, als Ausdruck für den in der Welt handelnden Gott (vgl. Tg zu Hi 32,8; 33,4; 37,10). Im Hintergrund steht wohl das Verständnis von nešāmāh als „Sprachgeist“, wie es in TO und TPsJ zu Gen 2,7 deutlich wird und wie es K. Koch als Grundbedeutung für nešāmāh annimmt (K. Koch, Spuren, 238–248). 68 Vgl. Pap. Amherst 63 VIII,9 (COS 1.99, 315) / IX,9 (van der Toorn, Papyrus Amherst, 57). 69 Siehe dazu ausführlich Jeremias, Zorn Gottes; Kratz/ Spieckermann (Hg.), Divine Wrath. 70 Vgl. Ps 17,12; 22,14; 35,16; 57,5; 58,7; Sir 13,18–19 (HA); 1QHa 13,9–10(11–12); BT 61–62 (TUAT III, 150). Zu einer mythologischen Deutung dieses Bildwortes vgl. Fuchs, Mythos, 97f; 212. Auch Menschen, die andere ausbeuten, können mit Löwen verglichen werden (vgl. Ez 22,25; Zeph 3,3, Spr 28,15; Sir 13,19), ebenso Gegner des Frommen (vgl. Ps 10,9; 17,12; 22,14), fremde politische Mächte (vgl. Jer 2,14–15; Nah 2,12–13) oder Jhwh selbst, der gewaltsam auftritt, sei es vernichtend (vgl. Hi 10,16; Am 1,2; Hos 5,14), sei es rettend (vgl. Jes 31,4; Hos 11,10). Siehe dazu ausführlich Strawn, Lion, 51f; 273; 298f, sowie die Auslegung von Hi 10,16–17 und von Hi 38,39–40. 71 Nur in Hi 4,5a liegt ein gewisses kolometrisches Übergewicht vor; wattelæʾ (vgl. 4,2a) ist allerdings syntaktisch fest verankert. 72 Zur Formulierung in V. 12a vgl. auch Jer 23,30 und zu einer möglichen (theologiegschichtlichen) Beziehung dieser beiden Texte K. Schmid, Hiob, 47f.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
(tardemāh) wird hier wie in Gen 2,21 und 15,12 eine besondere numinose Qualität zugewiesen. Der Moment der absoluten menschlichen Passivität scheint für göttliches Handeln prädestiniert zu sein (vgl. 33,15–18, wo 4,13 aufgegriffen wird). Die Vorstellung, dass Träume eine besondere Offenbarungsqualität besitzen, begegnet in zahlreichen Kulturen bis heute. Sie war im gesamten Alten Orient und der klassischen Antike weit verbreitet und hat sich als solche auch im AT niedergeschlagen.73 Dabei finden sich in diesem eine positive Würdigung des Traums, insofern er eine von Gott gewirkte Möglichkeit der Vermittlung besonderen Wissens darstellt. Dementsprechend ist es die Aufgabe eines begabten Mantikers oder Traumdeuters, die im Traum geschauten Bilder zu erklären (vgl. Gen 40–41; Dan 2; 4).74 Daneben begegnet im AT auch eine negative Wertung von Träumen und der Traumdeutung als Mittel der religiösen Praxis, die nicht mit dem Jhwh-Glauben vereinbar ist (vgl. Dtn 13; Jer 23,27–32). In der bab. Theodizeedichtung Ludlul bēl nēmeqi spielen Traumoffenbarungen bei der Bewältigung des Leidens eine entscheidende Rolle: Ein Mann, übergroß war er an Ge[stalt], 10 an den Gliedern war er herrlich, mit neuem Gewand angetan. Weil im Halbschlaf seine Umrisse der Gestalt entbehrten, war er mit Schreckensglanz bekleidet, mit Furchtbarkeit angetan. Er kam herein und trat hin zu meinen Häupten, [ich sah] hin, da wurden gelähmt meine Muskeln. 15 [Er sagte]: „Dein Herr hat [mich] gesandt; [. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ]. [Har]re aus, dann sage ich [. . . . . . . . . . .]; der König zürn[te . . . . . . . . . . . .]“. Sie schwiegen und . . . . [. . . . . . . . . . . .]; 20 die mich gehört hatten, [. . . . . . . . ]. (Lud. III,9–20)75 73 Vgl. Gen 20,3–8; 31,10–17.24; 37,5–10; 40,5, 41,11; Num 12,6; 22,20; 1Sam 28,6.15; 1Kön 3,5–15; Jo 3,1; KAI 270 A (ein Ostrakon aus Elephantine); KAI 312 I,1–2 (Inschrift vom Tell Dēr ʿAllā; [TUAT II, 139f; TUAT.NF VIII, 466]); Gilgm. IV,15–25 (TUAT III, 691); eine Traumoffenbarung an den assyr. König Assurbanipal (ANET, 606). Zu weiteren Beispielem in sum., akkad., heth., altsüdarab., äg. und ug. Texten unterschiedlicher Gattungen (Omina, Orakel, Rituale, Gebete, Mythen) siehe TUAT I, 23–36; II, 89–92; 149–151; 269f; 796–799; III, 649f; 660f; 668f; 679–681; 1191; 1219; TUAT.NF IV, 47–49; 359–362; 373–381, und dazu S.A. Butler, Mesopotamian Conceptions of Dreams and Dream Rituals, Münster 1998; A. Zgoll, Traum und Welterleben im Antiken Mesopotamien. Traumtheorie und Traumpraxis im 3.–1. Jahrtausend v.Chr. als Horizont einer Kulturgeschichte des Träumens, AOAT 333, Münster 2006; N. Shupak, A Fresh Look at the Dreams of the Officials and of Pharao in the Story of Joseph (Genesis 40–41) in the Light of Egyptian Dreams, JANES 30 (2006) 103–138. Aus der Fülle von Traumschilderungen und Traumdeutungen in der klassischen griech. und röm. Literatur, die vielfältige mythische, philosophische und medizinische Traumdiskurse widerspiegelt, sei hier nur auf die Ätiologie von Träumen bei Euripides, Iph. T. 1259–1269, hingewiesen und als ein Beispiel der Traum der Atossa in Aischylos, Pers. 176–200, genannt; siehe dazu auch G. Weber, Traum und Alltag in hellenistischer Zeit, ZRGG 50 (1998) 22–39, sowie L. Hermes, Traum und Traumdeutung in der Antike, Zürich/Düsseldorf 1996. 74 In Mesopotamien ist dafür eine ganze Reihe religiöser Spezialisten und Spezialistinnen, wie Seher (bārû) und „Frager/in“ (šāʾiltu), zuständig. Die umfangreichste akkad. Quelle hierfür bildet das sogenanne assyrische Traumbuch, eine Sammlung von Traumomina aus dem 7. Jh. v.Chr. (TUAT.NF IV, 47–49). 75 Übersetzung von W. von Soden, in: TUAT III, 127 (vgl. Oshima, Babylonian Poems, 95).
Hi 4–5 Die erste Rede des Eliphas
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V. 14–15 beschreiben die subjektiven Umstände der Offenbarung und den Schrecken, der Eliphas ergreift (vgl. Ps 94,19; 119,120). Dieser sieht sich von einem göttlichen Sturm (rûaḥ, ś eʿārāh) umgeben.76 Der Redaktor, der die Passage 4,12–21 einfügte, greift hier bereits auf die Klage Hiobs in 9,17 und auf die abschließenden Gottesreden (38,1; 40,6) voraus. Im Hintergrund steht die Sprache einer Theophanieschilderung (1Kön 19,11; Nah 1,3, vgl. Dan 10,6; 1QHa XIII,18[20]). Der stilistisch betonte Offenbarungsschrecken (vgl. die doppelte Verwendung der Wurzel pḥd in V. 14) steht dem Lebensschrecken Hiobs gegenüber (3,25–26). Dass es sich tatsächlich um eine Vision handelt, unterstreicht V. 16. Dabei stehen der Begriff „Gestalt“ (t emûnāh, vgl. Num 12,8; Dtn 4,12) für das Gesehene („meine Augen“, vgl. Num 24,15) und die Wendung „ein Säuseln und eine Stimme“ (demāmāh wāqôl) für das Gehörte (vgl. auch den Begriff „hören“ sowie 1Kön 19,12).77 Auch wenn Eliphas nicht das genaue Aussehen (marʾæh) der ihm vor Augen stehenden Gestalt (vgl. Ez 1,26; Dan 10,16) erkennt, so sieht er – wie der Beter von Ps 17,15 – offenbar mehr als Israel am Gottesberg (vgl. Dtn 4,12) und er hört – wie die Beter der aus Qumran bekannten Sabbatopferlieder – die leise Stimme Gottes (demāmāh).78 Anschaulichkeit und Unanschaulichkeit prägen dieses Geschehen gleichermaßen.79 Im Gegensatz zum hebr. Text betont die LXX in Übereinstimmung mit Dtn 4,12 und 1Kön 19,11–12, dass Eliphas nichts gesehen habe. Den Inhalt der von Eliphas erlebten Offenbarung bilden die aus einem Drei- 4,17–21 schritt von rhetorischer Frage (V. 17), Vergleich/comparatio (V. 18) und Folgerung/conclusio a maiore ad minus (V. 19) mit anschließender Entfaltung/ explicatio (V. 20–21) bestehenden Verse zur kreatürlichen Unwürdigkeit des Menschen vor Gott. Die Verse, die eine Kombination priesterlicher und weisheitlicher Sprache darstellen, gehören eng mit der Schilderung der Umstände der Offenbarung in V. 12–16 zusammen.80 Einerseits führen V. 12–16 auf die Mitteilung eines besonderen Satzes hin, bedürfen also der Fortsetzung, andererseits blieben V. 17–21 ohne Einleitung, wenn sie an V. 11 angeschlossen würden. Inhaltlich ergibt sich aufgrund der grundsätzlichen anthropologischen und harmatiologischen Aussage in 4,17–21 eine erhebliche Spannung zum Kontext. Die Scheidung der Menschheit in Gerechte und Frevler (4,7–8) ist hier aufgegeben. Ein Mensch als Kreatur kann vor Gott nicht gerecht oder im Recht (ṣādaq) 4,17 sein. Der Begriff ṣādaq changiert zwischen beiden Bedeutungen, hinzu kommt 76 Siehe die Anm. zur Übersetzung sowie zur Parallele von rûaḥ und ś eʿārāh/s eʿārāh Jes 41,6; Ez 1,4; Ps 107,25; 148,8. 77 Zur Konvergenz und Divergenz von Hi 4,16 und 1Kön 19,12 siehe auch K. Schmid, Hiob, 48–50. 78 Vgl. 4Q405 frgm. 19,7; frgm. 20 II – 21 – 22,7–8.12–13. 79 Vgl. Hartenstein, Angesicht, 135, und zum traditionsgeschichtlichen Verhäis zwischen Hi 4,16 und dem atl. Bilderverbot ebd. S. 137. 80 Weiser und Clines konzentrieren die Offenbarung auf Hi 4,17. Die Mehrheit der Exegeten sieht zu Recht in 4,17–21 den Inhalt der geheimnisvollen Mitteilung an Eliphas. J. Gray bezieht sogar noch das von ihm hinter V. 21b gestellte Bikolon 5,2 (als Glosse) mit ein, während er V. 21a zwischen 5,5a und 5,5b verlegt.
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der Aspekt des Rechtbehaltens. Die jeweilige Bedeutung ist kontextuell und literargeschichtlich zu erheben. So dominiert in der Grundschicht der Dichtung und in den Elihureden die Bedeutung des Im-Recht-Seins oder des Rechtbehaltens, wohingegen in der Niedrigkeitsredaktion die Bedeutung des Gerechtseins im Vordergrund steht. Bewusst wird in 4,17 der Mensch mit dem Wort ʾ ænôš bezeichnet, bei dem der Aspekt der Sterblichkeit mitklingt (vgl. griech. βρότος „der Sterbliche“; Ps 8,5; 90,3; 103,15; 144,3). Ebenso bewusst verwendet der Verfasser das göttliche Epitheton des Schöpfers (ʿośæh, Hi 31,15; 32,22; 35,10; 40,19, vgl. 10,8–9),81 vor dem ein Mann (gæbær, wie in 3,3 und 3,23) nicht rein (ṭāhar) sein kann. Die Aussage ist allgemein gehalten, vor dem Hintergrund des Gebrauchs des Wortes gæbær in der Hiobdichtung aber auch direkt auf Hiob gemünzt (vgl. 14,10.14). Die im AT für körperliche, sittliche und kultische Reinheit verwendete Wurzel ṭāhar ist hier in einem allgemeinen Sinn zur Kennzeichnung menschlicher Sündhaftigkeit gebraucht (vgl. Spr 20,9), die nur durch göttliche Barmherzigkeit überwunden werden kann (vgl. Ps 51,3– 4).82 Reinheit ist somit ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Gott und Mensch. Der Vers spiegelt ein in der Zeit des Zweiten Tempels zunehmend vertieftes Bewusstsein menschlicher Sünde wider, der vor allem in Texten priesterlicher Herkunft und schließlich im Schrifttum aus Qumran (vgl. besonders 1QHa; 1QS) mit umfassenden Reinheitsgeboten und Reinigungsriten zu begegnen versucht wird. Dabei wird durchgehend Gott als die Größe angesehen, die letztlich Sünde vergibt und Reinheit ermöglicht.83 4,18 Der Abstand zwischen Gott und Mensch wird zusätzlich durch die Betonung der Unwürdigkeit der Engel (ʿ abādîm, malʾākîm)84 gegenüber Gott unterstrichen (vgl. 15,15). Exkurs
Engel im Alten Testament
Literatur Fabry, H.-J.: „Satan“ – Begriff und Wirklichkeit. Untersuchungen zur Dämonologie der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, in: A. Lange u.a. (Hg.), Die Dämonen – Demons. Die Dämonologie der israelitisch-jüdischen und frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Umwelt, Tübingen 2003, 269–291. – Hamori, E.: „When Gods Were Men“. The Embodied God in Biblical and Near Eastern Literature, BZAW 384, Berlin/New York 2008. – Heijne, C.H. van: The Messenger of the Lord in Early Jewish Interpretations of Genesis, BZAW 412, Berlin/New York 2010. – Reiterer, F.V./ Nicklas, T./Schöpflin, K. (Hg.): Angels. The Concept of Celestial Beings – Origins, Development and Reception, DCLY 2007, Berlin/New York 2007.
Vgl. Ps 119,73; Spr 14,31; 17,5; Jes 17,7; 27,11; 44,2; 51,13; Jer 33,2. F. Mass, Art. ṭhr rein sein, THAT I (62004) 646–652, hier: 650. 83 In der griech.-orthodoxen Liturgie der Salbung findet Hi 4,17 (in der Form der LXX), gerahmt von den Versen Ps 142,2 LXX und Röm 3,19, Verwendung (vgl. Constantelos, Holy Scriptures, 58). 84 Vgl. Hi 33,23; Gen 48,16; Ex 23,20; 33,2; Jes 44,26; 63,9; Ps 91,11; 103,20; 104,4; 148,2; Dan 10,17. 81 82
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Religionswissenschaftlich versteht man unter Engeln geheimnisvolle Wesen unterschiedlichster Art und Herkunft, die zwischen der Welt der Götter und der Welt des Menschen vermitteln. Solche numinosen Zwischenwesen finden sich in allen Religionen des Alten Vorderen Orients. Religionspsychologisch sind sie entweder Ausstrahlungen des Göttlichen oder personifizierte gute Schutzkräfte des Menschen. Religionsgeschichtlich handelt es sich bei den Engeln häufig, zumal im monotheistischen Bereich, um depotenzierte Götter, die einem bzw. dem einen Hochgott oder der einen Hochgöttin untergeordnet werden. Der wichtigste Begriff für Engel in der hebr. Bibel ist malʾāk, „Bote“. Aus dieser Bezeichnung lässt sich die wesentliche Funktion von Engeln ablesen: Sie sind Überbringer von Botschaften Jhwhs an den Menschen; der Schwerpunkt liegt auf dem Sender, dem Empfänger und dem Inhalt der überbrachten Botschaft, nicht aber auf der Seinsweise oder der Gestalt des Boten. Neben dem Begriff malʾāk kann die Wendung benê (hā-)ʾ ælohîm/benê ʾelîm „Söhne Gottes“ Engel bezeichnen.85 Die Engel gehören gemäß dieser Bezeichnung dem näheren Umkreis Jhwhs an (vgl. auch Gen 28,12; 32,2; Ps 104,4; 148,2). Sie sind Mitglieder seines himmlischen Hofstaates und erfüllen eine vor Gott dienende86 und lobpreisende Funktion (vgl. Hi 1,6; 2,1; 38,7; Ps 148,1–2), mitunter agieren sie auch als eigentliche Schutzengel (Ps 91,11–12). Im Gegensatz zur nicht kanonisch gewordenen Literatur der jüdischen Schriften aus hellenistischer und römischer Zeit kennt die hebr. Bibel nur zwei Engelnamen: Gabriel (vgl. Dan 8,16; 9,21) und Michael (Dan 10,13.21; 12,1). Im deuterokanonischen Tobitbuch begegnet Raphael, der als „einer der sieben heiligen Engel die Gebete der Heiligen“ vor Gott bringt (vgl. Tob 5,4; 12,15; Apk 8,3). Die in den geschichtlichen Büchern der hebr. Bibel häufig belegte Wendung malʾāk jhwh „der Engel Jhwhs“ bezeichnet nicht eigentlich eine einzelne Figur, sondern steht für die personifizierte Führungs- und Rettungsqualität Jhwhs im Blick auf die Vor- und Frühgeschichte Israels.87 In den jüdischen (und späteren christlichen) Apokalypsen findet sich die spezielle Funktion eines Engels als Deuteengel (angelus interpres). Dieser hat die Aufgabe, ausgewählten meschlichen Visionären göttliche Botschaften zu entschlüsseln (vgl. Sach 1,9–6,5) oder zu überbringen (vgl. TestJos 6). Im Speziellen führt der Deuteengel einen Visionär in die himmlischen Geheimnisse ein und vermittelt besondere Kenntnisse über die Organisation des Kosmos und den Ablauf der Geschichte. Im jüdischen Schrifttum der hellenistisch-römischen Zeit ist die Engelvorstellung stark ausgeweitet. Der Ausbau eines Engelglaubens ist die Kehrseite der Transzendierung Gottes. Während Gott in die Ferne rückt, haben Engel die Aufgabe, die Anwesenheit des Göttlichen zu repräsentieren. Einzelne Handlungen und Offenbarungen Gottes werden auf unterschiedliche, mit Eigennamen versehene Engel übertragen. So kommt es zu einer eigenständigen und vielfältigen Angelologie. In jüdischen Apokalypsen (vgl. 1–2Hen, grApkEsr, syrBar), aber auch in den aus Qumran bekannten Sabbatopfergesängen (4QShirShab/4Q400–407), werden die Engel einzelnen Klassen zugewiesen (Seraphim,88 Kerubim,89 Ophannim,90 Wächter,91 Heilige92). Die Engel erfüllen hier eine besondere Funktion im endzeitlichen Gericht als Anklage-, Straf-, Gerichts- und Todesengel. Der Gerechte untersteht dem Schutz eines Fürspracheengels oder mehrerer himmlischer Fürbitter,93 die aber auch
85 S.o. S. 89f; Hi 1,6; 2,1; 38,7; Gen 6,1–4; Dtn 32,8 (nach 4Q37); Ps 29,1; 89,7 und explizit HiLXX 1,6; 2,1; DtnLXX 32,8.43: ἄγγελοι [τοῦ] θεοῦ. 86 Daher können sie wie in Hi 4,18 auch als ʿ abādîm „Knechte/Diener“ bezeichnet werden. 87 Vgl. Gen 16,7–11; 22,11.15; Ex 3,2; 14,19; 23,20–21; 33,2; Ri 2,1–5; 6,11–24. 88 Vgl. Jes 6,2. 89 Vgl. 4Q204 VI,24; 4Q286 frgm. 1 II,2; 4Q403 frgm. 1 II,15; 4Q405 frgm. 20 II 21–22,3.7–8. 90 Vgl. 4Q286 frgm. 1 II,2; 4Q385 frgm. 4(6),10–13; 4Q403 frgm. 1 II,15; 4Q405 frgm. 20 II 21–22,3.9. 91 Vgl. CD-A II,18; 1Q20 II,1; 4Q202 IV,6; 4Q204 VI,9 u.ö. im „Wächterbuch“ (1Hen 1–36). 92 Vgl. Hi 5,1; 15,15; Sach 14,5; Sir 42,17; Ps 89,6.8; Dan 7,18.27; 8,13.24; 1QS XI,18; 1QM XII,1; 4Q400 frgm. 1 I,3; 1Hen 12,2; Jub 33,12; PsSal 17,43. In Spr 9,10; 30,3 wird q edošîm zumeist im Sinn eines Intensivplurals auf Gott bezogen, doch dürften auch hier die „Engel“ gemeint sein. 93 Vgl. Tob 12,12.15; Sach 1,12; Jub 30,20; 1Hen 47,1–2; 104,1; TestLev 3; 5; TestDan 6; TestAss 6; TestNaph hebr. 9,2.
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generell für die Menschen eintreten können (vgl. 1Hen 9,3; 15,2; 39,5; 40,6). Teilweise erscheinen Engel als Schutzmächte im Leben der Frommen (vgl. TestJos 6; Tob 5,4), teilweise als himmlische Krieger (vgl. 2Makk 11,6; 15,22–23) oder nach dem Tod der Frommen als Begleiter in die Welt Gottes (TestAbr A 9; 14; TestHi 52,8).
4,19–21 Das Vernichtungshandeln Gottes, das in 4,8–11 und 5,12–14 nur die Frevler trifft, ergeht hier über alle Menschen, die metaphorisch als Bewohner von Häusern aus Lehm (vgl. Gen 2,7) und Staub (vgl. Gen 3,19) bezeichnet werden.94 Zur Betonung der Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens dienen das Bild der leicht zu zerquetschenden Motte (V. 19, vgl. Ps 39,12)95 und die Wendung, „vom Morgen bis zum Abend“ zerschlagen zu werden (V. 20, vgl. Jes 38,15; Ps 90,5–6). Das Bild der ausgerissenen Zeltschnur (jætær I, V. 21, vgl. Jes 38,12) verdeutlicht den unvermittelten Untergang.96 Ein Doppelvers, der das unaufhörliche, von keiner Anteilnahme begleitete Sterben von Menschen konstatiert, beschließt die düstere Szene, deren letztes Wort – ganz im Gegensatz zum Haupttenor der ersten Eliphasrede – eine grundsätzliche Absage an menschliche Weisheit (ḥåkmāh) ist (V. 21, 36,12, vgl. Spr 30,1–4; Pred 7,23–24; Dan 2,30). Das Motiv der geschöpflichen Unwürdigkeit des Menschen besitzt Parallelen in altorientalischen Vorwurfdichtungen,97 in atl. Buß- und Klagepsalmen und Weisheitssprüchen98 sowie insbesondere im Schrifttum aus Qumran (1QHa; 1QS). Die Erkenntnis der grundsätzlichen Sündhaftigkeit begründet das Erschrecken, sei es des Eliphas, sei es des unbekannten Beters von 1QHa XII,33(34)–37(38): 33 … doch ich – Zittern und Beben haben mich erfasst, und all 99 zerbrechen. Und mein Herz zerfließt wie Wachs vor Feuer und meine Knie gehen dahin 34 wie Wasser, das am Abhang ausgegossen ist. Denn ich gedachte meiner Verschuldungen (ʾšmh) mitsamt der Untreue meiner Väter, als Frevler (ršʿjm) gegen deinen Bund aufstanden 35 und Schurken gegen dein [W]ort. Und ich sagte in meiner Sünde (pšʿ): Ich bin entlassen aus deinem Bund. Aber als ich der Kraft deiner Hand gedachte mitsamt 36 der Fülle deines Erbarmens, da hielt ich mich aufrecht und stellte mich auf, und mein Geist wurde fest im Stand vor der Plage. Denn [ich] stüt[zte mich] 37 auf deine Gnadenerweise und (auf) die Fülle deines Erbarmens. Denn du sühnst (kpr) die Verschuldung (ʿwwn), um den Menschen zu reinig[en] von Schuld (ʾšmh) durch deine Gerechtigkeit (ṣdqh).
Solche Reflexionen, die vor allem in den Hodajot aus Qumran (1QHa) in Elendsmeditationen und Hymnen eingegliedert sind, bestimmen das Wesen des Menschen mit Niedrigkeitsbegriffen, konkretisieren es sündentheologisch und verschärfen die Distanz von Gott und Mensch.100 Der Mensch ist, wie der Vgl. Hi 10,9; 33,6; Sir 17,32. Vgl. Hi 13,28; 27,18; Jes 50,9; 51,8. Die häufig vorgenommene Änderung von jitrām in j etedām („ihr Zeltpflock“, vgl. Jes 33,20), da jætær I zumeist (Bogen-)Sehne bedeutet (vgl. CTAT 50/5, 16–20), ist unnötig (vgl. Fohrer; Hartley). 97 BT 276–286 (TUAT III, 156f); SH 101–103 (TUAT III, 107); Lehre d. Amenemope 19,18 (TUAT.NF VIII, 341); siehe dazu Witte, Leiden, 100–105. 98 Vgl. Ps 143,2; 1Kön 8,46; Pred 7,20; Spr 20,9; Ps 51,5–7; Sir 7,5 (Syr; Vg); 17,29–32; 1Hen 81,5 (auch hier als eine durch eine besondere Offenbarung vermittelte Erkenntnis). 99 Das Wort grmj ist in der Hs nachgetragen. 100 Vgl. 1QHa IX,22–23(24–25); XI,23–24(24–25); XII,29–30(30–31); XX,24–25(27–28); 1QS XI,9–10; Sir 17,30–32 (G; Syr); 1Hen 81,5. 94 95 96
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Verfasser von 4,17 unter Rückgriff auf den kultisch geprägten Begriff (ṭāhar „rein sein“, vgl. Lev 11,32; 13,6.13.17) formuliert, vollkommen von der Sünde durchdrungen.101 Er erscheint in ungeheurem Abstand zu dem allein gerechten Gott.102 Eine echte funktionale Analogie zu Hi 4,12–21 findet sich trotz der oben genannten motivischen Parallelen aber weder in den altorientalischen Vorwurfdichtungen noch in atl. Psalmen und Weisheitssprüchen noch in den Qumrantexten, in denen die negative Anthropologie durch das Wissen um die Möglichkeit der durch Gott an seinen Auserwählten gewirkten Reinigung und Gabe des Heiligen Geistes aufgefangen wird.103 So bildet die Offenbarungsszene in 4,12–21 in der ursprünglichen Rede des Eliphas einen Fremdkörper, deren weisheitlich optimistischen Grundtenor sie mittels der Annahme einer absoluten Ungerechtigkeit des Menschen vor Gott konterkariert: Vor Gott kann es, wenn überhaupt, nur eine relative Gerechtigkeit geben. Ob dem sich von Gott ohne erkennbaren Grund in ein lebensunwertes Dasein geworfenen Hiob die Worte vom grundsätzlichen Makel selbst der Engel (4,18) zu helfen vermögen? Dem Leser des Prologs, der Hiob als einzigartigen ʿæbæd kennt (1,8; 2,3) und weiß, dass Gott in der Tat auf diesen sein Vertrauen setzt (ʾmn Hif.), kann diese Szene nur als groteskes Missverständnis des Eliphas erscheinen. Ebenso spiegelt die Konklusio des Eliphas, dass menschliches Leben flüchtig wie das einer Motte sei (4,19) und stündlich zugrunde gehe (ʾābad, 4,20) – so richtig sie in anthropologischer Perspektive ist (vgl. Ps 39; 90; Jes 40,6) – im Kontext des Dialogs mit dem, der sich am Zugrundegehen (ʾābad) erlebt (3,3), eine gescheiterte Kommunikation. Mit der sich auf eine Offenbarung, die der Sinaitheophanie nachempfunden ist und die diese hamartiologisch vertieft,104 stützenden Sentenz, dass vor Gott kein Mensch gerecht (ṣdq) sein könne, ist die Frage nach Recht (ṣædæq, griech. zumeist τὸ δίκαιον)105 und Gerechtigkeit (ṣ edāqāh, griech. zumeist δικαιοσύνη)106 ausdrücklich in das Hiobbuch eingedrungen. Erst jetzt und erst im Munde eines Freundes wird das Leid Hiobs explizit in eine Beziehung zum Recht gesetzt und mithilfe juridischer und kultisch-ritueller Begriffe und Kategorien zu deuten versucht. Im Kontext des Torahdiskurses, der im Hiobbuch geführt wird, spiegelt das Nachtgesicht des Eliphas eine auch gegenüber der späten Fortschreibung in Dtn 9,4–6 radikalisierte Sündenvorstellung und negative Anthropologie sowie die Vorstellung einer über die einmalige mosaische Offenbarung (Dtn 3,24; 4,12) hinausgehenden fortlaufenden Gottesschau (vgl. Hi 42,5f).
Vgl. Hi 15,16; 1QHa V,20(31)–23(33); XII,29(30); XXIItop,7–8. Vgl. Hi 40,3–5 mit 1QHa XII,30(31) und Hi 42,2–6* mit 1QHa IX,21(23); XVIII,3–6(5–8); XX,31–32(34–35); XXIIbottom, 9–10 (22,28–29). 103 Vgl. 1QHa VIII,12(22); IX,32(34); XI,21(22); XII,37(38); XV,6–7(9–10).34(37); XVII,32; XX,11–12(14–15); 1QS XI,14–14. 104 Vgl. Dtn 4,12.15.33.36. 105 Vgl. Hi 6,29; 8,3.6; 29,14; 31,6; 35,2; 36,3. 106 Vgl. Hi 27,6; 33,26; 35,8; 37,23. 101 102
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
5,1–5 Die Erfahrung des Trösters II 5,1 Der Imperativ „rufe doch!“ (qerāh-nāʾ, vgl. 4,7), der direkt an das Bild des brüllenden Löwen in 4,10–11 anknüpft, eröffnet eine wiederum aus fünf Bikola bestehende Strophe, die sich stilistisch und inhaltlich eng mit 4,7–11 berührt. Im Hintergrund der rhetorischen Frage des Eliphas steht die Vorstellung der fürsprechenden Engel, die hier als „Heilige“ (qedošîm; LXX: ἄγγελοι ἅγιοι) bezeichnet werden (vgl. 15,15).107 In 33,23–25 wird diese Vorstellung, die im Gegensatz zu der zuvor vertretenen These von der Unwürdigkeit der Engel steht (4,18), weiter entfaltet werden.108 Hiobs Schrei über die Not seiner irdischen Existenz stellt Eliphas das Bild der schweigenden Engel gegenüber. Auf der Folie des Prologs mit seinen Himmelsszenen (1,6–12) erscheint dies wie die negative Zeichnung der Engel in 4,18 als scharfe Ironie. Im unmittelbaren (und literargeschichtlich älteren) Textzusammenhang dient 5,1 allerdings, wie die Fortsetzung zeigt, dazu, das in den Augen des Eliphas ungebührliche und unnütze, letztlich tödliche Klagen Hiobs zu tadeln und Hiob so vor noch größerem Unheil zu warnen. Gleichwohl wird Hiob im Verlauf des Dialogs genau dies tun: seinem Unmut, seinem Schmerz (kaʿaś, V. 2) freien Lauf lassen (vgl. 6,2; 10,17; 17,7) und vor allem Gott herausfordern, dass er ihm antworte (ʿānāh, V. 1, vgl. 9,16; 13,22; 23,5; 31,35). 5,2–5 In der begründenden Entfaltung seiner gut weisheitlichen These, dass maßloses Klagen und Eifern Kennzeichen des Toren (ʾ æwîl) und des Einfältigen (potæh/pætî) sei und letztlich zum Tode führe,109 beruft sich Eliphas erneut auf die persönliche Erfahrung (V. 3, vgl. 4,8). Dabei kommt, wie häufig in weisheitlichen Sentenzen, ein Pflanzenbild zur Anwendung.110 Inhaltlich bietet die Sequenz eine Darstellung der strafenden Vergeltung am Frevler und – entsprechend einem für den gesamten Alten Orient und die Antike nachweisbaren korporativen Denken – an seinen Kindern (V. 4–5, vgl. 20,10; 27,14; Ps 37,25; 109,9–10). Das Szenario, erstens des unversehens vom Unglück betroffenen Toren, zweitens der Verwünschung (qābab), die angesichts der Zerstörung seiner Wohnstätte ausgesprochen wird, drittens der Hilflosigkeit seiner Kinder, denen im Tor, d.h. an der Stätte der Gerichtsbarkeit,111 Rechtsbeistand fehlt (vgl. Spr 22,22), und viertens des Verlustes seiner Habe, soll Hiob von der Klage abhalten. Vor dem Hintergrund des Prologs wirkt dies aber wie eine Perversion der Lage Hiobs (vgl. 1,14–19). 107 S.o. den Exkurs auf S. 146–148 sowie speziell zu Hi 5,1 und der Rolle der Engel bei einem himmlischen Gericht D. Iwanski, Courtroom Imagery. The Neclected Background of Job 5,1, in: N. Calduch-Benages (Hg.), Wisdom for Life (FS M. Gilbert), BZAW 445, Berlin/Boston 2014, 84–95. Demgegenüber denkt Houtman, Himmel, 171, bei den qedošîm in Hi 5,1 (15,15; Dan 4,10.14.20) an die „Himmelskörper“, „in denen sich nach altorientalischer Vorstellung die Himmelsbewohner manifestieren“. 108 Vgl. Tob 3,11+16 (G I); 12,12; Sach 1,12; TestLev 3,5; TestAbr 14; TestDan 6. 109 Vgl. Spr 5,22–23; 10,14.21; 12,16; 14,3; 17,28; 20,3; 27,3; Sir 8,4; 30,24; Pap. Insinger 29,1 (TUAT III, 313). 110 Vgl. Hi 8,16–17; 15,32; 18,16; 19,10; 24,19–20.24; 29,19. 111 Vgl. Hi 29,7; 31,21; Dtn 25,7; 2Sam 15,2; Jes 29,21; Am 5,10; Spr 22,22; Rut 4,11.
Hi 4–5 Die erste Rede des Eliphas
151
Der Rat des Trösters
5,6–11
Mit „denn“ (kî) ist der Einsatz einer neuen, sich über fünf Bikola erstreckenden 5,6–7 Strophe gekennzeichnet (V. 6–9+11). Die Strophe, die durch begründende Rhetorik geprägt ist, wird durch die These eröffnet, „Frevel“ (ʾāwæn) und Mühsal (ʿāmāl) seien nicht naturgegeben, sondern vom Menschen geschaffen (vgl. 4,8). Der Hinweis des Eliphas auf die Selbstverantwortlichkeit des Menschen dient zugleich als Antwort auf die Frage Hiobs nach dem Wesen des Menschen. Die masoret. Punktation, nach welcher der Mensch zur Mühsal bzw. zum Unheil geboren ist,112 steht unter dem Einfluss des Einschubs von 4,17–19. Das Bildwort der in die Höhe fliegenden „Söhne Reschephs“ ist nicht ganz klar. Die LXX trifft möglicherweise mit der Übersetzung „Jungen des Geiers“ das Richtige. Dabei basiert die LXX vielleicht auf der inschriftlich belegten Verbindung des ursprünglich in Syrien und Phönizien, später auch in Ägypten verehrten und in hellenistischer Zeit mit Apollon gleichgesetzten Gottes Rescheph mit Vögeln.113 Möglicherweise sind mit den benê ræšæp aber auch „Söhne der Flammen“ gemeint, d.h. Funken, die in die Höhe stieben (vgl. Sir 43,17 [HM]).114 Im Zentrum der Strophe steht der Rat des Eliphas, Hiob möge sich im 5,8 Gebet an Gott wenden (vgl. 8,5; 11,13; 22,27). Der Vers ist dadurch, dass von den neun hebr. Wörtern acht mit demselben Buchstaben (ʾ) beginnen, stilistisch besonders hervorgehoben. Das hier für „beten“ gebrauchte Wort dāraš („suchen“) ist ursprünglich in der Orakelbefragung beheimatet.115 In späterer Zeit wird es auch als terminus technicus für „studieren“, speziell in Bezug auf das Studium der Torah, verwendet (vgl. Esr 7,10; Sir 32,15 [HB]; CD-A VI,7).116 Hiob, der in seiner Lebensklage über Gott sprach (Kap. 3), wird damit aufgefordert, im Du sein Wort vor Gott zu bringen und so dessen Barmherzigkeit zu finden (vgl. Dtn 4,29–31). Damit weist Eliphas zugleich die falsche Richtung der bisherigen Worte Hiobs auf. Doch was hilft der Rat, nun seinerseits Gott zu Siehe die Anm. zur Übersetzung. Vgl. Aq; Sym; Vg; Syr; Dtn 32,24 LXX; Sir 43,14.17 (G) sowie KAI 26 A II,10–11; Fuchs, Mythos, 70f; Scriba, Geschichte, 85 (Anm. 11); siehe dazu auch zu Hi 6,4 sowie E. Lipiński, Rešāfīm: From Gods to Birds of Prey, in: A. Lange u.a. (Hg.), Mythos im Alten Testament und seiner Umwelt (FS H.-P. Müller), BZAW 278, Berlin/New York 1999, 255–259. 114 Vgl. Hartley. Insofern Rescheph, dem bab. Gott Nergal entsprechend, auch als Gott der Pest bekannt war, interpretiert Clines die aufsteigenden Söhne Reschephs als Pestdämonen, mittels derer metaphorisch die Folgen des Fehlverhaltens des Menschen beschrieben würden. Ähnlich setzt Seow Rescheph direkt mit der Pest gleich. Zum Tod bringenden Rescheph siehe z.B. das ug. Kirta-Epos I,i,18–19 (TUAT.NF VIII, 242), zu einer eisenzeitlichen Darstellung mit Keule/ Schwert und Schild IPIAO IV Nr. 1275 (ihre eigentliche Blüte hat diese Ikonographie in der Spätbronzeit, vgl. IPIAO III Nr. 928). 115 Vgl. Gen 25,22; Ex 18,15; Dtn 23,22; 1Kön 22,8; Zeph 1,6; Jes 8,19; 11,10; 19,3; Jer 21,2; Am 5,6; Ps 14,2; 22,27; 69,33; 77,3; siehe dazu G. Gerleman, Art. drš fragen nach, THAT I (62004) 460–467. 116 Vgl. zudem 4Q159 frgm. 5,6; 4Q174 frgm. 1–2 I,11; 4Q177 II,5 (4Q177 frgm. 10–11,5) und die Bezeichnung bêt midrāš „Lehrhaus“ (Sir 51,23 [HB]). 112 113
152
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
suchen, demjenigen, der selbst von Gott nicht aufgesucht (dāraš) werden will (3,4; 10,6), weil er sich von diesem lebensbedrohlich eingekesselt sieht (3,23)? 5,9–11 Die Strophe wird mit einer doppelten hymnischen Prädikation der Schöpfermacht Gottes beschlossen. Gott vollbringt Unausforschliches und Unberechenbares (ʾên ḥeqær).117 Dies spürt auch Hiob. Doch Eliphas verwendet den Ausdruck im Sinn der heilvollen Wundertaten Gottes in kosmologisch-meteorologischer (V. 10; 36,26; Ps 136,4) und in sozialer Hinsicht (V. 11),118 während er für Hiob Gottes rätselhafte Vernichtungstat bezeichnet (vgl. 9,10). Der splitterhafte Hinweis auf Gott als Spender des Regens und damit als Herrn über das Wasser (V. 10) bildet im jetzigen Kontext eine Replik auf Hiobs Beschwörung der urzeitlichen Chaoswasser (3,8). Er lässt einen Gedanken aufblitzen, der in der apologetischen Beschreibung von Jhwh als dem einen und einzigen Wahrer der kosmischen Ordnung, verdeutlicht an seiner Lenkung des Wasserkreislaufes (vgl. Jes 41,18; 44,3; Jer 14,22; Ps 147,8), in den Reden Elihus und Gottes selbst breit entfaltet wird (36,26–29; 37,5–13; 38,22–30). Motivgeschichtlich gründet er in der Vorstellung vom Regen spendenden Wettergott.119 Ein Hymnus, der seinen ursprünglichen Ort im Tempelkult hatte und sich in persischer und hellenistischer Zeit auch vom Kult lösen und zum gelesenen bzw. meditierten Gotteslob entwickeln konnte, dient hier im Munde des Eliphas als Mahnung und Trost. 5,12–16 Das Gotteslob des Trösters In der ebenfalls aus fünf Distichen bestehenden Strophe wird das in V. 9 und V. 11 generell ausgedrückte Gotteslob geschichtlich entfaltet. Dabei beschreibt Eliphas zunächst Gottes strafendes, dann sein rettendes Handeln (V. 12–14 bzw. V. 15–16). Die partizipial formulierte Darstellung polarer Handlungen Gottes an unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, einerseits typisiert durch die Weisen (mit dem Nebensinn der Listigen), Verschlagenen und Starken, die orientierungslos (vgl. Jes 59,10) und sprachlos werden (vgl. Ps 107,42), andererseits durch die Armen und Niedrigen, die vor lebensbedrohlichen Worten (vgl. V. 21)120 und Taten gerettet werden und die neue Hoffnung bekommen,121 dient bereits als indirekte Verheißung an Hiob, der in den beiden folgenden Strophen wieder direkt von Eliphas angesprochen wird. Betont, und durch ein 117 Vgl. Hi 9,10; 34,24 LXX; 36,26; Jes 40,28; Ps 76,20LXX; 145,3; 147,5; Spr 25,3; Röm 11,33. Der bekenntnisähnliche Satz Hi 5,9 findet (in der Gestalt der Fassung der LXX) vielfache Verwendung in der griech.-orthodoxen Liturgie (vgl. Constantelos, Holy Scriptures, 14; 57). Zur Stilfigur, die Größe mittels eines negierten Ausdrucks besonders zu betonen, siehe auch Alonso Schökel, Manual, 130. 118 Zum Motiv der göttlichen Erhöhung der Niedrigen oder Erniedrigten vgl. 1Sam 2,7; Ps 75,8; 113,7; 138,6; Spr 3,34 LXX (zitiert in 1Petr 5,5 und Jak 4,6); Sir 7,11; Lk 1,52. 119 Vgl. z.B. im ug. Kirta-Epos III,iii,5–11 (TUAT.NF VIII, 262). 120 Zum Bild des Schwertes in V. 15 vgl. Ps 52,4; 55,22; 57,5; 59,8; 64,4; 140,4.12; Sir 28,18 (G). 121 Vgl. dazu z.B. auch den Lobpreis des Gottes Ninurta (I–X [1–20]) als Beistand der Schwachen gegenüber den Starken, den W.R. Mayer auf der Basis spätbabylonischer Textzeugen ediert hat (Mayer, Hymnus, 20–23; 28–29).
Hi 4–5 Die erste Rede des Eliphas
153
vierfaches Homoioteleuton auf -ā unterstrichen, endet die Strophe mit der Aussicht auf eine Beendung von „Unrecht“ (ʿawlāh). Dieses Wort zieht sich durch die Hiobdichtung und wird, entsprechend der Wurzel ʿwl („Unrecht tun“) und ihrer Derivate (ʿāwæl „Unrecht“; ʿawwāl „einer, der Unrecht tut“), in diesem Kommentar fortlaufend mit „Unrecht“ übersetzt,122 obgleich es in keinem etymologischen Zusammenhang mit der Wurzel ṣdq „(ge)recht sein“ und ihren Derivaten (ṣaedaeq „Recht“, ṣ edāqāh „Gerechtigkeit“, ṣaddîq „gerecht“) steht. Paulus zitiert Hi 5,12–13 in 1Kor 3,19 im Rahmen seiner Kontrastierung von göttlicher und menschlicher Weisheit.123 Die Polarität des göttlichen Handels ist ein Charakteristikum hymnischer Sprache im Alten Orient und kennzeichnet die umfassende Wirkmacht des so beschriebenen Gottes, in dessen Macht es steht, himmlische und irdische Verhältnisse umzukehren und umfassende Gerechtigkeit herzustellen (V. 16b, vgl. 2,10; Ps 107,40–41; Jes 45,7; Tob 13,2).124 So beginnt die bab. Dichtung Ludlul bēl nēmeqi mit einem Hymnus auf das polare Handeln des Gottes Marduk: 1 Ich will preisen den Herrn der Weisheit, den umsich[tigen] Gott; [er] zürnt zur Nachtzeit, verzeiht (aber) am Tage. [Ich will preisen] Marduk, den Herrn der Weisheit, den umsich[tigen] Gott; er zürnt zur Nachtzeit, verzeiht (aber) am Tage, 5 dessen Grimm wie ein Gewittersturm eine Steppe (bewirkt), dessen Wehen (aber) schön ist wie das des Morgenwindes. Sein Zorn ist nicht abzuwehren, seine Wut ist ein Flutsturm; fürsorglich (aber) ist sein Sinn, sein Gemüt zum Verzeihen bereit. Bei dem das schwere Gewicht seiner Hände der Himmel nicht tragen kann, 10 sein Zugriff (aber) sanft ist, den Todgeweihten aufhält. Marduk, bei dem das Gewicht seiner Hände der Himmel nicht tragen kann, sein sanfter Zugriff (aber) den Todgeweihten aufhält. Durch [seinen] Zorn werden die Gräber geöffnet; durch sein Erbarmen läßt er aus der Katastrophe den Gefallenen aufstehn. (Lud. I,1–14)125
Die Verheißungen des Trösters
5,17–27
Mit einem aus dem bisherigen Metrum herausfallenden Makarismus (ʾašrê, 5,17 griech. μακάριος „glücklich ist/wohl dem“)126 wird der Schlussabschnitt der Rede eingeleitet, der aus reinen Verheißungen an Hiob besteht. Bei einem Makarismus oder Glückwunsch handelt es sich um eine genuin weisheitliche Sprachform, die sich auch im Schrifttum von Qumran (vgl. 4Q525 frgm. 2 II+3) und nicht zuletzt in den „Seligpreisungen“ der Bergpredigt (vgl. Mt 5,3–11) nieder122 Vgl. Hi 6,29.30; 11,14; 13,7; 15,16; 22,23; 24,20; 27,4; 36,23 bzw. 34,10.32 und 18,21; 22,15 (conj.); 27,7; 29,17; 31,3. 123 Siehe dazu die Einleitung S. 69 sowie Herzer, Jakobus, 343–345; Schaller, Textcharakter, 23f. 124 Zur Beziehung zwischen Hi 5 und Ps 107 siehe auch Kynes, Psalm, 87–89. 125 Übersetzung von W. von Soden, in: TUAT III, 110–135, hier: 114f; vgl. Oshima, Babylonian Poems, 78; siehe auch das Šu-illa-Gebet Marduk 4 1–2 (Lenzi, Akkadian Prayers, 296, 308). 126 Vgl. Ps 1,1; 32,1–2; 89,16; 144,15; Spr 3,13; 28,14; Jes 30,18; 56,2; Dan 12,12.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
geschlagen hat. Im Hiobbuch kommt der Makarismus bezeichnenderweise nur hier vor, wobei er von der ebenfalls in der Sprache der Weisheit beheimateten negativen Mahnung (Vetitiv) begleitet wird. Die Glücklichpreisung dessen, den Gott zurechtweist (jākaḥ Hif., vgl. Ps 94,12; Spr 3,11–12; PsSal 10,1), bietet eine weitere Deutung des Leidens. Der Begriff jākaḥ (Hif.) hat wohl seinen ursprünglichen Sitz im Bereich des Rechts, näherhin in einem Schlichtungsverfahren, und bezeichnet dort ein Feststellen, was recht ist. Vor allem in weisheitlichen Texten hat er die Bedeutung „zurechtweisen/erziehen“ und kann synonym zu dem in 4,3 (einmalig) im Hiobbuch verwendeten Wort jāsar gebraucht werden. Theologisch wird der Begriff zur Kennzeichnung Gottes als Richter (vgl. Gen 31,42; Ps 50,8.21; Hi 22,4) sowie als Erzieher und Lehrer (vgl. Ps 6,2; 38,2; 39,12) verwendet. Im Hiobbuch ist er sowohl in seinem juridischen als auch seinem pädagogischen Sinn ein Leitwort.127 Nach der Interpretation des Leidens als Folge selbstgewirkter Schuld und als Strafe des zürnenden Gottes (vgl. 4,8–9) sowie – im Kontext des Einschubs in 4,12–21 – als Folge grundsätzlicher menschlicher Sündhaftigkeit wird in 5,17 das Leiden als göttliche Erziehungsmaßnahme (mûsār „Zucht“, hier weniger „Bildung“) verstanden.128 Im Blick auf das Verständnis des Leidens Hiobs bedeutet dies jedoch: Leiden ist nicht sinnlos – am Ende des gottgeschickten und demütig angenommenen Leidens steht die gottgewirkte Wende des Leidens. In den Reden des Elihu wird die hier nur kurz anklingende Vorstellung von einer göttlichen Leidenspädagogik breit entfaltet (33,13–30). Die Parallelen in Ps 94,12 und Spr 3,11–12, aber auch zu Ps 1 und zu PsSal 10 und 14,1–3 erschließen einen weiteren Horizont: Die Erziehung durch Gott findet ihr Pendant in Gottes Unterweisung aus der Torah (Ps 94,12). Ohne dass hier der Begriff der Torah fällt (vgl. aber Hi 22,22), wird Hiob aufgerufen, aus ihr zu lernen (vgl. Ps 1,2; Dtn 4,10.36), und nicht, wie in 3,4 und 3,24–26 angeklungen, die in ihr grundgelegte Vorstellung von der göttlichen Schöpfungs- und Gerechtigkeitsordnung zu bestreiten. Damit spielt Eliphas neben der Rolle des Weisen, des Propheten und des Priesters auch die des Lehrers der Torah. Die Züchtigung Gottes gilt in besonderer Weise dem, den Gott so liebt, wie ein Vater (ʾāb) seinen Sohn liebt (Spr 3,11–12, vgl. Dtn 32,6) – erneut erweist sich der Name Hiobs („Wo ist der Vater?“) als Programm: Der Vater ist da, für Hiob aber nur allzu nah. 5,18–21 Die grundsätzliche These vom ambivalenten Handeln des einen Gottes, der verwundet und verbindet (vgl. Dtn 32,39; Hos 6,1–2),129 wird durch einen dreizeiligen gestaffelten Zahlenspruch mit Überschrift bzw. Titelzeile (V. 19) und doppelter Ausführung bzw. Liste (V. 20–21.22) entfaltet.130 Die erste Zeile nennt das gemeinsame Merkmal der beschriebenen Objekte und die Zahl 127 Vgl. Hi 5,17; 6,25–26; 9,33; 13,3.10.15; 15,3; 16,21; 19,5; 22,4; 23,7; 32,12; 33,19; 40,2; zur Begriffsgeschichte siehe G. Liedke, Art. jkḥ feststellen, was recht ist, THAT I (62004) 730–732. 128 Siehe dazu auch Finsterbusch, JHWH als Lehrer, 20–21; 33f. 129 Vgl. die Klage eines Dulders mit Gebet an Marduk (RS 25.460) 34–39 (TUAT III, 142f). 130 Vgl. Hi 33,14.29; 40,5; Ps 62,12–13; Spr 6,16 (G); 30,15–31; Sir 23,16 (G); 25,7–11 (G); 26,5–6 (G); 50,25; Dtn 32,30; 2Kön 13,19; Jes 17,6; Am 1,3–2,16; Achikar IX,14–16 (TUAT III, 335; TAD C1 1.187–189; Weigl, Achikar-Sprüche, 493–506) sowie Steinman, Numerical Sayings, 288–297; Bühlmann/Scherer, Stilfiguren, 64f; Watson, Poetry, 144f.
Hi 4–5 Die erste Rede des Eliphas
155
derer, die dieses Merkmal besitzen. Die Liste führt die einzelnen Objekte auf und beschreibt deren spezifische Ausprägung des gemeinsamen Merkmals. Während der einfache Zahlenspruch in der Titelzeile nur eine Zahl nennt (vgl. Spr 30,24), enthält der gestaffelte Zahlenspruch zwei Zahlen, von denen die zweite um eins größer ist als die vorangegangene. Traditionsgeschichtlich stehen im Hintergrund des Zahlenspruchs wohl die Rätselfrage und magische Vorstellungen von der besonderen Bedeutung und Symbolik einzelner Zahlen. Mit dem hier vorliegenden Zahlenspruch, der nicht nur besonders ausführlich ist, sondern auch durch eine große Vielfalt von Stilmitteln geprägt ist – so beginnen die V. 19–21 jeweils mit demselben Buchstaben, hinzu kommen Paronomasien und Homoioteleuta – soll Hiob eindrücklich, fast suggestiv das Heilshandeln Gottes vor Augen gestellt werden. Die einzelnen Fallbeispiele (Hungersnot; Krieg; Verleumdung; Gewalttat; wilde Tiere, die für den Menschen in vorindustriellen Zeiten besonders bedrohlich waren) stehen stereotyp für die Fülle des Unheils (V. 20–22),131 das Gott überwinden kann. Punktiert man in V. 21 šûṭ („umherschweifen“)132 anstelle des masoret. šôṭ („Geißel“, vgl. 9,23)133, so ergibt sich auf der Ebene des ,Endtextes‘, wie schon über die Verwendung des Wortes nāgaʿ („berühren“) in 5,19 (vgl. 2,5.7) ein direkter Bezug zu den Himmelszenen und zur Figur des Satans, der auf der Erde herumschweift (šûṭ, vgl. 1,7; 2,2) und Hiob verleumdet (vgl. Sir 28,17 [G]; 51,2; Jer 18,18; PsSal 12,1). Synchron gelesen, muss die Verheißung des Eliphas Hiob wie bittere Ironie erscheinen.
Pointiert endete diese Strophe ursprünglich mit der Zusage an Hiob, er brauche sich nicht zu fürchten, wenn das Unheil komme (bôʾ, V. 21, vgl. 3,24–26; 4,5; Spr 3,25). Der Vers wurde offenbar ergänzt, um die in der Titelzeile genannten sie- 5,22 ben Übel (vgl. Spr 24,16), die Hiob treffen könnten (nāgaʿ, vgl. 4,5; 2,5), ausdrücklich zu konkretisieren. Er schließt mit der „Fürchte-dich-nicht-Formel“, die ihren eigentlichen Ort in prophetischen Heilszusagen (Heilsorakel) und göttlichen Selbstvorstellungsreden hat.134 Im Rahmen des erweiterten Zahlenspruchs V. 19–22 korrespondiert diese Formel mit dem die Liste in V. 20 eröffnenden Heilsbegriff pādāh, der Gottes rettendes und bewahrendes Handeln des einzelnen Beters (vgl. Ps 31,6; 34,23), die Befreiung Israels aus Ägypten (vgl. Ex 13,13; Dtn 7,8; Ps 78,42) oder aus Babylon (Jes 35,10; 51,11; Jer 31,11) bezeichnen kann und der hier metaphorisch für den Freikauf vom nahenden Tod steht (vgl. 33,28; Ps 49,8.16; Hos 13,14).
Vgl. Ps 33,19; 1Kön 8,37; Jes 51,19; Ez 14,21; PsSal 15,7. Siehe die Anm. zur Übersetzung sowie J. Gray. 133 Zur Wendung „Geißel der Zunge“ vgl. auch Sir 26,6 (G). Entsprechend bittet der Beter von PsSal 12 um Bewahrung vor Verleumdung. 134 Vgl. Gen 15,1; 26,24; Jes 43,1; 44,2; Klgl 3,57; aus der Umwelt des alten Israel vgl. z.B. die aram. Zakkur-Inschrift A 13 (KAI 202; TUAT I, 627) oder die neuassyr. Prophetensprüche an Asarhaddon (K. 4310) I,25.31; II,16 (TUAT II, 56f). 131 132
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
5,23–25
Mit einem betonten „denn“ (kî) setzt in V. 23 die Schlussstrophe (V. 23–27) ein, in der Eliphas dem leidenden Hiob in strahlenden Farben eine glückliche Zukunft vor Augen stellt. Insbesondere die in V. 24–26 stilistisch und syntaktisch ähnlich konstruierten Ausführungen stehen mit den Beschreibungen beispielhafter Rettungen in V. 19–21(22) in Beziehung.135 Erneut klingen Heilsbeschreibungen der Torah an (vgl. Dtn 28,11–12). Die Heilsankündigung setzt bei der wirtschaftlichen Lebensgrundlage ein. Der Dichter verdeutlicht dies an einem Acker, der von Steinen, die hier personifiziert als Vertragspartner Hiobs erscheinen, befreit und daher fruchtbar ist, und an der Verschonung von wilden Tieren, welche die Herden bedrohen (vgl. V. 22). Sodann schreitet die Verheißung den Wohnraum, die Nachkommenschaft und den Lebensabend ab. Charakteristisch ist die zweifache Verwendung der Wurzel šālam „vollendet werden/heil bzw. unversehrt bleiben“, die hier einmal verbal zur Beschreibung des friedlichen Zusammenlebens Hiobs mit den wilden Tieren (V. 23b) und einmal nominal zum Ausdruck der künftigen Unversehrtheit (šālôm) des Wohnens Hiobs gebraucht wird (V. 24a, vgl. 21,9; Spr 3,33). Der Begriff šālôm beinhaltet alles, was der leidende Hiob von seinem Gott erwartet: ṣ edāqāh („Gerechtigkeit“), mišpāṭ („Recht“) und ḥæsæd („Barmherzigkeit“). Damit korrespondiert die Zusage, dass Hiob in seiner Wohnstatt nichts vermissen werde (ḥāṭāʾ V. 24b)136 – der in theologischem Kontext als Ausdruck für „sündigen“ gebrauchte Begriff ḥāṭāʾ wird hier in abgeblasster Bedeutung verwendet. In den Heilsbildern des Eliphas erscheint Hiobs künftiges Glück in einen paradiesischen Frieden eingebettet, wie er nach mythischer Vorstellung universal in der Urzeit herrschte (vgl. Gen 1,29) und endzeitlich wiederhergestellt werden wird (Jes 11,6–8; 65,25; Hos 2,20, vgl. auch Mk 1,13). Hiob werde gewissermaßen die urgeschichtliche, damit paradigmatische Verheißung reicher Nachkommenschaft an sich erfüllt sehen (Gen 1,28, vgl. Jes 48,19). Er werde eine Umkehrung der Strafsprüche erleben, die den Urmenschen trafen (Gen 3,17–19). Offenbar greift auch hier der Dichter wie schon in Hi 3 auf die biblische Urgeschichte in Gen 1–9 zurück: Dem „negativen“ Schöpferwort Hiobs (3,3–4 versus Gen 1,3) stellt er mittels Eliphas den lebensfördernden Gehalt des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts gegenüber. Vor dem Hintergrund des im Prolog erzählten Todes der Söhne und Töchter Hiobs muss eine Ankündigung des künftigen Kinderreichtums (V. 25, vgl. Dtn 28,4.11) gleichwohl wie eine Flucht vor der gegenwärtigen Not und wie Hohn erscheinen. 5,26 Den Gipfelpunkt der Verheißungen des Eliphas bildet der Ausblick auf Hiobs Tod im reifen Alter (vgl. Gen 15,15; 25,8; 35,29). Vor dem gedanklichen Hintergrund, dass Leben im Vollsinn des Wortes auf ein Leben vor dem Tod 135 Siehe dazu auch die von der ,Endgestalt‘ des Textes ausgehende Strukturanalyse von Steinman, Numerical Sayings, 289–297, der zufolge sich Hi 5,17–18 und 5,27 als Rahmen sowie 5,20– 22 und 5,24–26 als Entfaltungen des in 5,19 eingeführten Zahlenspruchs entsprächen, der in 5,23 seine Mitte habe. 136 Zur Annahme in Hi 5,24 sei pāqad sowohl im Sinn von „suchen“ (so im Blick auf V. 24a) als auch im Sinn von „vermissen“ (so im Blick auf V. 24b) gebraucht, siehe Noegel, Janus Parallelism, 44–46.
Hi 4–5 Die erste Rede des Eliphas
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beschränkt ist und dass der Tod eine absolute Grenze darstellt, hinter der nur noch ein schattenhaftes Dahinvegetieren möglich ist, erscheint die Ankündigung des gesegneten Lebensendes als besondere Heilszusage: Hiob, der sich angesichts der Übermacht des Leidens nach einem schnellen Tod sehnt (3,10–23), wird ein ferner Tod zur rechten Zeit vor Augen gestellt (vgl. Pred 7,17).137 Für Eliphas gilt der Satz der traditionellen Weisheit, dem zufolge es für alles einen rechten Zeitpunkt (ʿet, griech. καιρός) gebe.138 Damit widerspricht Eliphas dem leidenden Hiob, für den die Ordnung der Zeit durcheinandergeraten ist und der sich angesichts des in sein Leben eingebrochenen Chaos eine Umkehrung der Zeiten wünscht. Das Ende des Buches gibt, literargeschichtlich sekundär, Eliphas Recht (42,17), wenn auch anders, als von diesem erwartet (42,7–9). Im Ersten Clemensbrief (um 100 n.Chr.) wird der gesamte Abschnitt Hi 5,17– 26 im Zusammenhang mit der Ermahnung über den Wert der gegenseitigen Zurechtweisung in der christlichen Gemeinde zitiert (1Clem 56,6–15). Die Rede mündet in dem Summarium, Hiob möge auf die gemeinschaft- 5,27 liche Erfahrung der Freunde hören und aus dieser für sich (lāk) lernen. Das gegenwärtige Erleben des Einzelnen wird nachdrücklich mit der sich auf die Vergangenheit beziehenden Erfahrung der Vielen konfrontiert. Den Schlusspunkt setzt der dreifache Aufruf, zur Erkenntnis (daʿ-lāk) zu kommen. Das Wort jādaʿ („erkennen/wissen“), das erstmals in der ersten Eliphasrede (5,24– 25) und insgesamt 73–mal im Hiobbuch erscheint,139 zieht sich, ähnlich wie der Begriff des Hoffens und der Hoffnung, als roter Faden durch das Buch. Es signalisiert, dass im Buch Hiob nicht nur das Wesen Gottes und des Menschen, Fragen der Gerechtigkeit und das Verhältnis von Glück und Glaube diskursiv behandelt werden, sondern auch Formen und Wege menschlicher Erkenntnis. Weiß der Mensch, wissen Hiob und seine Freunde tatsächlich um gut (ṭôb) und böse (rāʿ ) (Gen 3,22), um das, was dem Leben dient und was ihm schadet? Bezeichnenderweise wird im gesamten Hiobbuch in seinen verschiedenen literarischen Schichten mit einer Ausnahme nur Hiob das Bekentnnis „ich habe erkannt/ich weiß“ (jādaʿtî) in den Mund gelegt.140 Damit wird Hiob als die Figur profiliert, an und mit der die Leser selbst Erkenntnis lernen sollen.
137 Vgl. auch Achikar X,7 (TUAT III, 336; TAD C1 1.85; Weigl, Achikar-Sprüche, 127) und im äg. Bereich ÄHG 172, 25–28 sowie zu einer Klage über den vorzeitigen Tod die phön. Eschmunazar-Inschrift: „ich wurde dahingerafft nicht zu meiner Zeit (bl ʿtj)“ (KAI 14,2–3, vgl. Z. 12; TUAT II, 590–592). 138 Vgl. Ps 1,3; Pred 3,1–11; Sir 51,30 – mit der Zuspitzung auf das Handeln Gottes zur rechten Zeit: Hi 38,32; Ps 104,27; 145,15; Spr 15,23; Sir 39,16. 139 Hinzu kommen noch fünf Belege für das Nomen deʿ a und elf Belege für das Nomen daʿat, die jeweils „Wissen/Erkenntnis“ bedeuten. 140 Hi 9,2.28; 10,13; 13,2.18; 19,25; 21,27; (23,3); (29,16); 30,23; 42,2 sowie einmalig im Munde Elihus (32,22), in dessen Reden es besonders auch um Aspekte der Erkenntnis geht (vgl. 34,2–4.33–36).
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Hi 6–7 Die erste Rede Hiobs HD 6,1
Und Hiob hob an und sagte:
2 Ach würde doch nur mein Schmerz gewogen und mein Verderben1 gleichsam auf die Waage gehoben, 3 ja, dann erwiese es sich schwerer als der Sand der Meere, (allein) darum sind meine Worte stammelnde. 4 Ja, die Pfeile Schaddajs stecken tief in mir, deren Grimm2 mein Geist nun trinkt, Eloahs bittere Schrecken, sie treten3 vor mir an. 5 Schreit der Wildesel über frischem Gras, oder brüllt der Ochse über seinem Futter? 6 Isst man Fades ohne Salz, oder schmeckt der Schleim des Eibischs4? 7 Meine ‚Seele‘ weigert sich, etwas anzurühren, sie ekelt5 sich vor meinem Brot wie vor etwas Unreinem6. 8 Würde meine Bitte doch erfüllt, und gäbe Eloah mir Hoffnung! 9 Und entschlösse Eloah sich und zermalmte mich, machte er doch seine Hand frei und schnitte mich ab. 10 Und dies wäre mir dann ein Trost, dass ich hüpfen wollte im Schmerz ohne Mitleid. Denn ich habe die Worte des Heiligen nicht verhehlt. 11 Was ist meine Kraft, dass ich ausharrte, und was mein Ende, dass ich noch Geduld aufbrächte7?
1 Anstelle von whjtj/w ehajjātî ist mit dem Qere whwtj/w ehawwātî zu lesen (vgl. einige Hss; LXX; Syr; Vg; Tg; Hi 6,30; 30,13). 2 ḥemāh könnte hier auch mit „Gift“ übersetzt werden (vgl. Syr; Tg; Fohrer; Clines; Seow, vgl. Dtn 32,24.33), doch spricht die Parallele zu Hi 21,20 für die Wiedergabe mit „Grimm“ (vgl. LXX; Vg). In Hi 19,29 und 36,18 ist unsicher, ob die Lesart ḥemāh ursprünglich ist. 3 Die Annahme einer Wurzelʿrk II nach arab. ʿaraka im Sinn von „quälen“ (vgl. BHS; DCH) ist angesichts der militärischen Konnotation von ʿrk unnötig (vgl. Ri 20,22; 1Sam 17,8; 1QM II,9). 4 Die Bedeutung von ḥallāmût ist nicht ganz gesichert; es könnte sich auch um einen Ausdruck für „Ochsenzunge“ (vgl. KAHAL) oder für „Schleim des Eidotters“ (vgl. DCH) handeln. Auch die antiken Übersetzungen unterscheiden sich hier stark untereinander; zur Diskussion siehe Seow, der selbst eine Korruption und falsche Vokalisierung von ursprünglich brjq ḥlmwt „Leere eines Traums“ erwägt, sowie ausführlich Eckstein, Semantik, 57–67. 5 Anstelle von hemmāh „diese (sind)“ lies zih amāh, Subjekt ist næpæš (vgl. Hi 33,20; sowie 9,21; 10,1). 6 Anstelle von kidwê „wie das Unreine/die Krankheit (meines Brotes)“ lies kidwaj (vgl. Hölscher). BHS schlägt kedê (b edê) vor, wohl im Sinn von „sofern (es mein Brot) ist“/„sooft ich esse“. Zun einer Deutung des MT im Sinne von verdorbenem Brot („Fadenziehen“) siehe Eckstein, Semantik, 67–81. 7 Wörtl.: „meine ‚Seele‘ (næpæš) lang machte/streckte“.
Hi 6–7 Die erste Rede Hiobs
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12 Habe ich denn Kraft wie Steineskraft, oder ist mein Fleisch aus hartem Erz? 13 Gibt es denn gar keinen Beistand mehr für mich, und ist jeder Erfolg von mir gewichen? 14 Wer Barmherzigkeit an seinem Freund unterlässt8, der wird auch die Furcht vor Schaddaj aufgeben. 15 16 17 18 19 20
Meine Brüder haben getrogen wie ein Wadi, wie das Bett von Bächen, die vorüberziehen, die trübe sind vom (tauenden) Eis, auf denen der Schnee dunkel wird9. Zur Zeit, da sie ausgetrocknet werden,10 vergehen sie, wenn es heiß wird, verschwinden sie von ihren Orten. Karawanen11 winden sich auf ihrem Weg, steigen in der Öde auf und gehen zugrunde. Temans Karawanen blickten aus, Sabas Handelszüge hofften für sich. Sie mussten sich schämen, weil sie12 vertrauten, sie kamen bis dahin und wurden enttäuscht.
21 22 23
Doch jetzt seid ihr (zu) nichts13 geworden, ihr seht Schrecken, so dass ihr euch fürchtet. Ist es denn so, dass ich gesagt habe: „Gebt mir, und von eurer Kraft schenkt mir etwas, und rettet mich aus der Hand des Feindes, und aus der Hand der Gewalttätigen kauft mich los?“
24
Lehrt mich, so will ich gewiss schweigen, und worin ich geirrt habe, lasst mich verstehen.
8 Anstelle von lammās „dem Schmelzenden/Verzweifelnden (gebührt)“ (vgl. Seow, der eine Wurzel mws als Nebenform zu mss annimmt) lies entweder lammāš (von mwš I „unterlassen“, vgl. LXX; Syr; Tg; Vg; Hi 23,13; Jes 54,10) oder lammoʾes (von mʾs I „verachten“, vgl. einige Hss). In beiden Fällen steht l- für „was das betrifft, der“. BHS empfiehlt die Lesart loʾ māʾas mere aʿ „Nicht lehnt der Freund ab“. 9 Nach ʿlm II „dunkel sein“ (HAL; DCH), möglich wäre auch die Übersetzung „sich versteckt“ (nach ʿlm I). Unsicher ist eine Wurzel ʿlm III „stark werden/anschwellen“ (DCH; Ges18 s.v. ʿlm II); vgl. Grabbe, Philology, 51–54, der auch eine (dialektale) Variante von ʿrm I („aufhäufen“, vgl. Ex 15,8) diskutiert (vgl. DCH ʿlm IV), in diesem Sinn dann Clines (jitʿārem „er ist angeschwollen“). Zu einer ausführlichen Diskussion siehe Eckstein, Semantik, 82–136; 248 („an denen sich der Schnee rarmacht“). 10 So unter der Voraussetzung, dass das hap. leg. zrb eine Variante zu ṣrb ist und V. a und V. b ganz parallel sind (vgl. DCH; Weiser). Legt man die arab. Wurzel zrb/zariba zugrunde, ergibt sich entweder die Übersetzung „abfließen/versiegen“ (KAHAL) oder „überfließen (sollten)“ (Ges18; Grabbe, Philology, 54f). 11 Anstelle von ʾårḥôt lies hier und im folgenden Vers ʾor eḥôt (vgl. Gen 37,25; Jes 21,13). 12 Anstelle von bāṭāḥ lies bāṭāḥû (vgl. Syr; Tg). 13 So nach dem Ketib; zum substantivischen Gebrauch von loʾ siehe CTAT 50/5, 39. Damit erübrigen sich Änderungen in leʾal (vgl. Hi 24,25) oder in lî „mir“ (vgl. HsR552 ; LXX; Syr).
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
25 Was haben die Worte der Aufrichtigkeit gekränkt, und was weist Zurechtweisung von euch zurecht? 26 Gedenkt ihr denn, Worte zurechtzuweisen? Aber für den Wind sind die Worte eines Verzweifelten.14 27 Ja, über eine Waise würdet ihr (das Los) werfen und würdet verhandeln über euren Nächsten. 28 29 30
Aber jetzt entschließt euch, wendet euch zu mir, ob ich selbst euch ins Angesicht lüge. Kehrt doch um, damit kein Unrecht geschehe, ja, kehrt um,15 noch ist meine Gerechtigkeit bei mir16. Gibt es denn auf meiner Zunge Unrecht, oder nimmt mein Gaumen nicht Verderben wahr?
7,1 Hat der Mensch nicht nur Kriegsdienst auf der Erde, sind seine Tage nicht wie die eines Tagelöhners? 2 (Er ist) wie ein Diener, der nach Schatten lechzt, und wie ein Tagelöhner, der auf seinen Lohn hofft. 3 So sind mir nun Monate des Nichtigen zugeteilt, und gegeben sind mir Nächte der Mühsal. 4 Wenn ich liege, dann sage ich: „Wann stehe ich wieder auf?“ – aber er misst17 den Abend, und ich bin satt an Unrast bis zur Dämmerung.18 5 Mein Fleisch ist mit Maden bekleidet und mit einer Kruste, [Staub],19 meine Haut ist verharscht und dahingeflossen. 6 Meine Tage waren schneller als ein Weberschiffchen und sind vergangen ohne jede Hoffnung. 7 8
Bedenke, dass mein Leben nur ein Hauch ist, dass mein Auge nicht umkehrt, Gutes zu sehen. Das Auge, das mich sieht, wird mich nicht mehr erblicken.
14 Der MT bietet hier zwei unterschiedliche Lexeme für „Worte“, in V. 26a das aus dem Aram. stammende Wort millāh, das 34–mal im Hiobbuch erscheint (bei nur 38 Belegen in der hebr. Bibel insgesamt), und in V. 26b wie in V. 25 das genuin hebr. bedeutungsgleiche Wort ʾemær. 15 So nach dem Qere šubû (vgl. V. 29a). Seow vermutet eine falsche Worttrennung und liest wšb jʿd ṣqdj bh bzw. wešubu jāʿed ṣidqî bāh: „Refrain, let my righteousness witness against it (malice)“. 16 Anstelle von bāh „darin/also solche da“ lies bî (vgl. J. Gray). 17 middad ist synonym zu minnû (von mnh) in V. 3, implizites Subjekt ist Gott (vgl. Ps 39,5), nicht der Abend bzw. die Nacht, die sich in die Länge zieht (so aber CTAT 50/5, 41). BHK und BHS erwägen ûmiddê „und sooft/und wie oft (ist es Abend)“; vgl. Fohrer und Seow mit einer Verlegung des Atnachs unter ʾāqûm und dem Verständnis von næšæp als (Abend-)Dämmerung. 18 Will man ein viertes Kolon erhalten, sind umfassendere Ergänzungen und eine Änderung der masoret. Versgliederung nötig (vgl. Hölscher; Horst). 19 Das kolometrisch überschießende und ohne Kopula angefügte Wort ʿāpār ist vermutlich eine Glosse zur Erklärung des hap. leg. gûš/gîš. Weitergehend ist der Vorschlag von J. Gray, ʿpr nach arab. ġafara „bedecken“ als Verb zu vokalisieren, als zweites Kolon wegûš ʿāpar ôrî „und eine Kruste/ Schorf bedeckt meine Haut“ zu lesen und rāgaʿ wajjimmāʾes als Glosse zu streichen.
Hi 6–7 Die erste Rede Hiobs
9 10 11
Deine Augen sind auf mir20, aber ich bin nicht mehr. Eine Wolke zieht vorüber und ist dahingegangen: So steigt nicht mehr hinauf, wer hinabstieg zur Scheol. Er wird nicht mehr zu seinem Haus heimkehren, und sein Ort wird ihn nicht mehr kennen. Doch ich, ich will nicht zügeln meinen Mund, ich will reden in der Not meines Geistes, ich will klagen in der Bitternis meiner ‚Seele‘.
12 13 14 15 16
Bin ich denn das Meer oder der Urzeitdrache, dass du eine Wache gegen mich aufstellen müsstest? Wenn ich sage: „Mein Lager tröste mich, meine Bettstatt nehme meine Klage auf“, dann schreckst du mich in Träumen, und in Gesichten überfällst du mich. Und du21 wähltest das Würgen meiner Kehle, (zogst) den Tod meinen Gebeinen (vor)22. Ich zerfließe23, werde nicht ewig leben, lass ab von mir, denn ein Windhauch sind meine Tage.
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17 Was ist der Mensch, dass du ihn großziehst und dass du auf ihn richtest dein Herz 18 und ihn untersuchst24 allmorgendlich und jeden Augenblick ihn prüfst? 19 Wie lange willst du nicht von mir wegblicken, von mir ablassen, bis ich meinen Speichel schlucke? 20 Habe ich gesündigt, was vermag ich dir anzutun, du Menschenhüter? Wozu hast du mich zum Angriffsziel erwählt, so dass ich dir25 selbst zur Last geworden bin? Oder: „gegen mich“. Zumeist wird die „Kehle“ (næpæš) als Subjekt verstanden, doch spricht die Parallele zu V. 14 für die obige Übersetzung (vgl. auch LXX; Syr), wobei dann der st. cstr. maḥanaq zu vokalisieren ist. Zu einer vergleichbaren Konstruktion von bḥr min „wählen/vorziehen“ vgl. Jer 8,9; Spr 8,19; 16,16; 21,3. 22 ʿaṣmôtaj wird häufig nach Hi 9,28 in ʿaṣṣebôtaj „meine Schmerzen/Leiden“ geändert (vgl. Fohrer; J. Gray), was aber angesichts des Parallelismus von næpæš und ʿæṣæm in Spr 16,24 und Jes 58,11 unnötig ist. 23 Wie in V. 5 nach mʾs II (vgl. Ps 58,8; Weiser). Dagegen übersetzt Horst nach mʾs I mit „verwerfen“ im Sinn von „ich bin es leid“; ähnlich Fohrer, der das Wort zu Unrecht als Glosse streicht (vgl. LXX), sowie Hartley und Clines. Seow schlägt zudem vor, māʾastî von V. 16a nach V. 15b zu verlegen und als asyndetischen Relativsatz zu ʿaṣmôtāj zu verstehen: „my body-frame that I abhor“. 24 Die Punktation als Impf. consec. ist unsicher (vgl. Hi 4,5; 14,10; 34,24; G/K § 111t; J/M § 118q). 25 ʿālaj („mir“) stellt eine frühe Schreiberkorrektur (tiqqûn sôperîm) dar. Die Anzahl solcher Korrekturen der mutmaßlich ursprünglichen Lesart, die in der Masora Magna mitgeteilt werden, schwankt in den rabbinischen Quellen zwischen sieben und 18 Stellen (Tov, Text, 52–54). Ursprünglich dürfte hier ʿāl kā („dir“, d.h. Gott) gestanden haben, so auch zwei Hss und die LXX (vgl. CTAT 50/5, 45f; 2Sam 15,33). Für das Hiobbuch ist eine Schreiberkorrektur noch zu 32,3 verzeichnet. 20 21
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
21 Und warum hebst du mein Vergehen nicht auf und lässt meine Schuld einfach vorübergehen? Denn jetzt muss ich mich zum Staub legen, und suchst du mich, so bin ich weg. Literatur Eckstein, J.: Die Semantik von Ijob 6–7. Erschließung ihrer Struktur und einzelner Lexeme mittels Isotopieanalyse, FAT II/125, Tübingen 2021. – Fishbane, M.: The Book of Job and Inner-Biblical Discourse, in: L.G. Perdue/W.C. Gilpin (Hg.), The Voice From Whirlwind, Nashville 1992, 86–98. – Frevel, C.: „Eine kleine Theologie der Menschenwürde”: Ps 8 und seine Rezeption im Buch Ijob, in: Ders., Im Lesen verstehen. Studien zu Theologie und Exegese, BZAW 482, Berlin/Boston 2017, 277–303. – Frevel, C.: Schöpfungsglaube und Menschenwürde im Hiobbuch. Anmerkungen zur Anthropologie der Hiob-Reden, in: T. Krüger (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, AThANT 88, Zürich 2007, 467–497. – Kynes, W.: My Psalm Has Turned into Weeping. Job’s Dialogue with the Psalms, BZAW 437, Berlin/Boston 2012. – Neumann-Gorsolke, U.: Herrschen in den Grenzen der Schöpfung. Ein Beitrag zur alttestamentlichen Anthropologie am Beispiel von Psalm 8, Genesis 1 und verwandten Texten, WMANT 101, Neukirchen-Vluyn 2004. – Ockinga, B.: Die Gottesebenbildlichkeit im Alten Ägypten und im Alten Testament, ÄAT 7, Wiesbaden 1984. – Yu, C.: A Ridiculous God. Job Uses Psalm 8.5 [4] To Respond To Eliphas, in: M.J. Boda u.a. (Hg.), Inner Biblical Allusion in the Poetry of Wisdom and Psalms, LHBOTS 659, London u.a. 2019, 84–102.
Aufbau und Sprachformen
Nach der Eröffnungsrede des Eliphas in Kap. 4–5 bieten die Kap. 6–7 die erste Rede Hiobs innerhalb des Redewechsels zwischen Hiob und seinen Freunden. Im Gegensatz zur Eingangsklage Hiobs in Kap. 3, die rein monologisch strukturiert ist, wendet sich diese erste eigentliche Rede Hiobs dialogisch in einem Du an ein doppeltes Gegenüber. Die Rede beginnt mit einer ausführlichen noch monologisch gehaltenen Einleitung (6,2–13). Es folgt ein zweigeteiltes Korpus, in dem Hiob zunächst direkt seine Freunde anredet (6,15–30), bevor er dann Gott im Du anspricht (7,7–21). Zwischen den beiden Abschnitten des Hauptteils steht eine nochmals monologisch gestaltete Elendsmeditation (7,1–6). Im Einzelnen gliedert sich die Rede Hiobs in zehn Strophen. Dabei umfasst eine Strophe in der Exposition jeweils sechs Bikola (6,2–7*|8–13*). Im ersten Hauptteil fügen sich zunächst sechs Bikola, sodann je drei Bikola zu einer Strophe (6,15–20|21–23|24–26|28–30). Im Zwischenstück bilden wieder sechs Distichen eine Strophe (7,1–6), während der zweite Teil des Korpus aus drei Stophen zu je fünf Bikola besteht (7,7–11|12–16|17–21*). In Kap. 7 findet sich in Ansätzen ein Schlussrefrain (7,6.16.21). Die wesentlichen Sprachformen dieser Rede stammen aus der Klage eines Einzelnen, aus der weisheitlichen Streitrede und aus der ebenfalls in der Weisheit beheimateten Reflexion über die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. Insbesondere zu Ps 39 finden sich zahlreiche Parallelen.26 Hinzu kommen weisheitliche Sprichwörter und Bildworte. Erstmals begegnet in Kap. 6–7 ein mit der Formel mî-jitten eingeleiteter Wunschsatz, der bis auf eine Ausnahme nur in Reden Hiobs erscheint,27 wie auch der mit lû eingeführte Wunsch nur in Hiobreden auftaucht (6,2; 16,4). 26 27
Vgl. Kynes, Psalm, 122–141. Hi 6,8; 13,5; 14,4.13; 19,23; 23,3; 29,2; 31,31; 31,35 – Ausnahme: 11,5.
Hi 6–7 Die erste Rede Hiobs
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Mit ihrer Verknüpfung einer direkten argumentativen Auseinandersetzung mit den Freunden und einer direkt vor Gott ausgebreiteten Klage, die sich zur Anklage Gottes entfaltet, bietet Kap. 6–7 das Grundmuster der weiteren Reden Hiobs innerhalb des Dialogs mit den Freunden. Dabei variiert in den folgenden Reden lediglich der Umfang der an die Freunde und der an Gott gerichteten Teile; die grundsätzlichen kompositionellen Elemente der Streitrede, der Klage und der Bitte bleiben konstant. Inhaltlich zeigen sich Variationen vor allem hinsichtlich der Thematisierung der Unschuld Hiobs. So nehmen die Unschuldsbekenntnisse, die in Kap. 6–7 lediglich drei Verse umfassen, in den kommenden Hiobreden stetig zu. Hi 7,8 ist der erste Vers, den Origenes in der Bearbeitung der griech. Über- Text- und setzung vollständig mit einem Asteriskus versehen und aus der Übersetzung des LiterarTheodotion (Th) nachgetragen hat.28 Möglicherweise haben ihn die ursprüng- geschichte lichen griech. Übersetzer aus theologischen Gründen ausgelassen, insofern sie den Gedanken, es könne etwas geben, was dem Blick Gottes nicht mehr zugänglich ist, als anstößig empfunden haben. Literargeschichtlich ist die Rede weitgehend einheitlich. Lediglich in 6,14 und 6,27 liegen wohl in den Text geratene Randbemerkungen eines antiken Lesers vor, die das regelmäßige Strophenmuster aufsprengen. In 7,20aα.21aα schlägt sich eine redaktionelle Bearbeitung nieder, welche die Position Hiobs theologisch modifiziert. Unsicher ist, ob die Trikola in 6,4.10; 7,4.11 ursprünglich sind. Während die Trikola in 6,4; 6,10 und 7,4 möglicherweise erst auf eine sekundäre Auffüllung eines ursprünglichen Bikolon (6,4aα+b; 6,10aα+aβ; 7,4aα+aβ) zurückgehen, könnte das Trikolon in 7,11 im Sinn einer Klimax den betonten Schlusspunkt der Strophe 7,7–11 markieren (vgl. dagegen 10,1). Gegen die Annahme, dass in V. 11 ein abschließendes Kolon ausgefallen sei,29 V. 11 also ursprünglich aus zwei Bikola bestanden habe, spricht das Strophenmuster. Dagegen sind die Gebete bzw. Gebetselemente in 7,7–21* (vgl. 9,25–34; 10,3–22; 13,20–28; 14,1*.2.5–22; und 17,3[–4]) keine späteren Ergänzungen.30 Gegenüber der kontextuellen Spannung, die das sachlich damit verwandte, funktional jedoch nicht identische und literargeschichtlich sekundäre Niedrigkeitsmotiv in der ersten Eliphasrede aufweist (4,17–19), sind die Elendsmeditationen Hiobs harmonisch in die jeweiligen Reden eingefügt. Sie bilden ein wesentliches Element der dreidimensional strukturierten Hiobreden, die sich an die Freunde (Dialog), an sich selbst (Monolog) und an Gott (Klage bzw. Gebet) wenden. Die Elendsmeditationen Hiobs dienen mit Blick auf das von Gott liebevoll geschaffene (vgl. 10,12 im Gegensatz zu dem brutalen Bild in 4,19) Nach Woods, Edition, 155, könnte die Ergänzung auch aus Aq stammen. So Fohrer und Kaiser, 81. Hölscher tilgt V. 11b. 30 So nach dem Vorschlag von Baumgärtel, Hiobdialog, 77–84; in jüngerer Zeit grundsätzlich, wenn auch mit unterschiedlichen Zuweisungen im Detail, Vermeylen, Job, 17–21; ders., Métamorphoses, 277–320 (als Teil der Hiob idealisierenden, „zweiten Buchredaktion“, und Wanke, Praesentia Dei, 149–217 (als Teil der „kultkritischen Bearbeitung“). 28 29
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
und doch vergehende Leben (7,7 und 14,7) als anthropologische Argumente gegen die Bedrohung durch Gott. Sie stehen jeweils in der Funktion eines Appells an das Mitleid Gottes und sind Ausdruck von Hiobs letzter Hoffnung: so im Anschluss an die Klagen über den maßlosen Schmerz in Kap. 6, über die als Willkür erfahrene Macht Gottes in Kap. 9* und Kap. 30 und über die fehlende Möglichkeit, mit Gott zu streiten in Kap. 13–14 sowie im Anschluss an die Anrufung Gottes als Richter in Kap. 16–17. 6,1–7 Das ungestüme Wort des Leidenden 6,1 Die Überschrift gibt wie in 3,1 nur den Namen des Sprechers ohne Herkunftsort an (im Gegensatz zu den Überschriften der Freundesreden) und leitet die Rede wie in 3,2 ein.31 6,2–3 Hiob beginnt mit dem eindringlichen Wunsch, seinen gegenwärtigen Schmerz (kaʿaś, vgl. 17,7) ernstzunehmen, und verteidigt sein Recht zur Klage. Nicht Unmut (kaʿaś, vgl. 5,1–2; Spr 27,3) – erneut zeigt sich der für die Hiobdichtung typische doppeldeutige Wortgebrauch –, sondern Gott selbst tötet und ist somit eigentlicher Grund der Klage (vgl. 3,24; 23,2). Der in der ersten Rede des Eliphas erteilte Hinweis auf die Vergangenheit Hiobs und auf die Erfahrung der Weisen sowie der Ausblick auf künftiges Glück erweisen sich für Hiob als ein Ausweichen vor der Gegenwart des Leidens. Dem sanften Wort des Trösters (vgl. 4,2) steht das ungestüme Stammeln (lāʿaʿ, vgl. Spr 20,25) des Leidenden gegenüber. Dieser vergleicht sein Leiden, seinen Ruin (hawwāh, vgl. Ps 38,13; 57,2; 91,3), hyperbolisch mit dem „Sand des Meeres“ (vgl. Gen 22,21; Jer 15,8) und möchte es in ein Verhältnis zu seinem Verhalten gestellt sehen, was metaphorisch durch den Vorgang des Wiegens32 ausgedrückt wird (vgl. 31,6; Spr 27,3). 6,4 Hatte Hiob in seiner Eingangsklage Gott nur indirekt als Urheber seines Leidens angesehen (3,23), so macht er diesen jetzt ausdrücklich für sein Leiden verantwortlich. Bewusst erscheint als erste Gottesbezeichnung in Hiobs Rede die letzte Gottesbezeichnung der Rede des Eliphas: Schaddaj (5,17). Dieser habe wie ein Krieger seine Pfeile auf ihn geschleudert (vgl. 16,12–13; 30,14),33 die wie die Pfeile des syrischen Gottes Rescheph (vgl. 5,7)34 oder des griech. Gottes Apoll die Pest brächten35 und Hiobs Geist, d.h. seine Lebenskraft (rûaḥ) ver-
Vgl. Hi 9,1; 12,1; 16,1; 19,1; 21,1; 23,1; 26,1. Stilistisch besonders hervorgehoben durch die figura etymologica šāqôl jiššāqel (V. 2a) 33 Vgl. Dtn 32,23–24; Ps 7,13; 38,3; 64,8; 91,5; 144,6; Ez 5,16; Hab 3,9; Klgl 3,12. 34 Vgl. dazu z.B. eine ug. Beschwörung gegen die Pfeile des Gottes Raschap/Rescheph (KTU 1.82 3–4 [TUAT II, 337]), s.o. S. 151 sowie I. Cornelius, The Iconograophy of the Canaanite Gods Reshef and Baʿal. c. 1500–1000 B.C.E., OBO 140, Fribourg/Göttingen 1994; H. Niehr, Zur Entstehung von Dämonen in der Religionsgeschichte Israels: Überlegungen zum Weg des Rešep durch die nordwestsemitische Religionsgeschichte, in: A. Lange u.a. (Hg.), Die Dämonen, Tübingen 2003, 84–107. 35 Vgl. Homer, Il. 1, 43–53.380–385; Homerische Hymnen III (An Apollon), 1–13 (Bernays/ Deitz, 32f); siehe dazu auch J.P. Brown, Israel II, 140f. 31 32
Hi 6–7 Die erste Rede Hiobs
165
gifteten.36 Noch deutlicher als in seiner Eingangsklage deutet Hiob sein gegenwärtiges Schicksal als Folge des göttlichen Zorns (vgl. Ps 88,17). Wie in Kap. 3 lässt sich das übergroße Leid nur in Begriffen des Mythos versprachlichen. Der maßlose und daher unwägbare Schmerz begründet den Schrei des Lei- 6,5–6 denden. Er gleicht dem Schrei des hungernden Esels (pæræʾ) in der Wildnis (im Kontrast zu 4,9–10, vgl. Jer 14,5–6). Zwei rhetorische Fragen mit Bildworten unterstreichen die Berechtigung der Klage Hiobs. Ist die Deutung des Tiervergleichs klar – angesichts von Futter brüllt das Vieh nicht –, so hängt das Verständnis des zweiten an der Identifikation der in V. 6b genannten Pflanze. Vermutlich handelt es sich um den Eibisch (althaea), der zu den Malvengewächsen gehört und dessen verschiedene Bestandteile zwar essbar sind, dessen Schleim aber ohne Gewürze wenig wohlschmeckend ist.37 Hiob, wörtlich seine næpæš (,Seele‘), ekelt sich vor seiner Speise wie vor 6,7 etwas Unreinem (vgl. 33,20; Sir 30,18).38 Dies ist ein Zeichen dafür, dass sein Lebensmut und seine Lebenskraft erschöpft sind und dass er am Rande des Todes steht (vgl. Ps 107,18). Der Todeswunsch des Leidenden
6,8–13
Dem in seiner Identität Zerbrochenen entfährt der Wunsch, Gott selbst möge 6,8–10 ihn zermalmen (vgl. 4,19). Gottes Hand hat Hiob so getroffen, dass er von ihr nicht die von Eliphas angekündigte Heilung erwartet (5,18). Gottes Hand ist für den Leidenden, der sein Leid von Gottes Händen gewirkt sieht (vgl. Ps 38,3), kein Trost (næḥāmāh).39 Nur das Zurückziehen dieser Hand und das Abschneiden des Lebensfadens (5,9) vermögen ihm noch Hoffnung (vgl. Hi 5,16) und Trost zu spenden. Der Todeswunsch der Eingangsklage kehrt hier wieder (3,11.20), doch nicht in Gestalt der Frage nach dem Verzug des Todes, sondern als Forderung, dem Leben, und damit dem Leiden jetzt ein Ende zu bereiten. Hiob unterstreicht seinen Wunsch, jetzt zu sterben, und weist damit die Ausblicke des Eliphas auf einen künftigen Tod zur rechten Zeit (5,15–26, vgl. 8,5–7; 11,15–20) scharf zurück. Ein späterer Ergänzer hat das merkwürdige Bild Hiobs, der in seinem Schmerz vor Freude über die Gewährung eines baldigen Todes hüpft (sālad)40, mittels des Bekenntnisses umgedeutet, Hiob habe Gottes Worte nicht verhehlt bzw. verborgen gehalten (6,10b, vgl. Ps 119,50). Der Zusatz blickt auf die NotiUnabhängig davon, ob man mit „Gift“ oder mit „Grimm“ übersetzt (siehe die Anm. zur Übersetzung), könnte im Hintergrund die für die Antike und den Alten Orient belegte Praxis von Giftpfeilen stehen (Seow). 37 Zohary, Pflanzen, 99. 38 Zur Appetitlosigkeit als einem auch in altorientalischen Texten beschriebenen Krankheitssymptom siehe Scurlock/Andersen, Diagnoses, 60. 39 Zum Motiv der Hand Gottes siehe die Ausführungen zu Hi 1,9–11. 40 Zu diesem hap. leg. und den differierenden Übersetzungen in den Versionen siehe Grabbe, Philology, 46–48. 36
166
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
zen über die Integrität Hiobs in 1,22 und 2,10 zurück und gebraucht mit der Bezeichnung Gottes als des Heiligen (qādôš) ein nur hier im Hiobbuch belegtes Epitheton.41 Damit setzt diese Ergänzung offenbar schon die sekundäre Gegenüberstellung des allein Heiligen und des unreinen Menschen in 4,17 voraus (vgl. Jes 6,3). Zudem deutet die Glosse mittels des Begriffs der „Worte“ Gottes an,42 dass sich Hiob im Verlauf des Dialogs verstärkt mit dem Hinweis des Eliphas auf die Treue zur Torah (vgl. 5,8.17.23–25) auseinandersetzen wird (vgl. 22,21–22; 23,11–12; 31,4–37). 6,11–13 Die rechte Zeit zu sterben ist für Hiob die leidvoll erfahrene Gegenwart, nicht eine fiktive Zukunft (5,11). Der Ausblick auf künftiges Glück (vgl. 5,24–26) greift angesichts der beschränkten Zukunftsfähigkeit und des gegenwärtigen Leidens nicht. Bereits für die antiken Versionen ist strittig, ob der Begriff „Ende“ (qeṣ) hier – wie im Sprachgebrauch der Qumranschriften43 und im nachbiblischen Hebräisch (vgl. bNed 41a: „bestimmte Zeit“) – zeitlich (vgl. LXX: χρόνος) oder eher inhaltlich (vgl. Aq: τέλος) zu verstehen ist. Für eine temporale Wiedergabe, und zwar im Sinn von Lebenszeit, sprechen der Parallelismus zwischen V. 11 und V. 12: (koaḥ // koaḥ; qeṣ // bāśār) und die Parallele in Ps 39,5. Der, dessen Kraft beschränkt ist (V. 11),44 erträgt angesichts der beschränkten menschlichen Kraft und fehlender Unterstützung keinen Zeitaufschub (V. 12–13, vgl. 21,21, Klgl 4,17). 6,14 Ebenfalls auf einen Nachtrag geht die textkritisch problematische Bemerkung zurück, dass fehlende menschliche Solidarität (ḥæsæd), hier speziell mit Hiob, mit der Preisgabe der Religion gleichzusetzen sei. Im Hintergrund der Sentenz45 steht die für die atl. Ethik typische unmittelbare Verbindung von Ethos und Glauben. Mit der „Furcht vor Schaddaj“46 ist ein Stichwort des Eliphas aus 4,6, der die Gottesfurcht Hiobs als Möglichkeit der demütigen Annahme des Leidens bezeichnete, aufgenommen und neu bestimmt. Zur Frömmigkeit gehört auch das Ertragen der verzweifelten Worte des leidenden Freundes, selbst wenn diese dem eigenen Welt- und Gottesbild widersprechen. Gottesfurcht bzw. Religion beinhaltet dementsprechend auch die Fähigkeit, das eigene Gottesbild stets einer Revision zu unterziehen. Religion, die diese Revision nicht vollzieht, wird zur Ideologie.
Vgl. Ps 22,4; 71,22; Jes 40,25; 48,17; 57,15; Hab 3,3. Vgl. Jos 24,27; Ps 107,11; 119,50. 43 Vgl. 1QHa XIII,11–12(13–14); XX,8(11); XXIVtop, 9 (24,13); XXIVbottom,7 (24,30); frgm. 58,5; 1QS IV,18; X,5. 44 Vgl. 26,2–3; 1QHa XI,24[25]–25[26]. Diese Selbstbeschreibung Hiobs steht ganz im Gegensatz zum später charakterisierten Behemot in Hi 40,18, siehe S. 658. 45 Vgl. 2Sam 16,17; Spr 11,12; 14,21; 17,17; Sir 6,14–17; 7,12. 46 Nur hier ist jir’āh mit der Gottesbezeichnung šaddaj verbunden, sonst stets mit jhwh oder ʾ ælohîm. 41 42
Hi 6–7 Die erste Rede Hiobs
167
Anklage der Tröster Mit der dritten Strophe beginnt der erste Hauptteil der Rede, in der nun die Freunde zunächst indirekt (V. 15–20), sodann direkt des fehlenden Mitleids angeklagt werden (V. 21–30). Dabei kehrt der Schlussvers der Strophe mit dem Wort hawwāh, das hier im Sinn von „Vergehen“ gebraucht ist (vgl. Ps 5,10), begrifflich zum Eingangsvers der gesamten Rede (V. 2) zurück und liefert die Begründung, weshalb die Hiob von Eliphas vor Augen gestellte Gleichung von moralischer und religiöser Integrität einerseits und unbeschwertem Leben andererseits nicht aufgeht. Die Verse bieten ein kunstvoll gestaltetes Bildwort, in dem Hiob seine Freunde, hier als Brüder angesprochen, mit einem Wadi vergleicht, das angesichts starken Regens zu einem reißenden Bach wird, sich durch mitgeführtes Eis trübt und sich nach Abfluss des Wassers unter sengender Hitze ebenso schnell wieder in ein völlig trockenes Tal verwandeln kann (vgl. Jer 15,18; Jes 58,11). Dem zur Seite steht das Bild von Karawanen (conj. ʾor eḥôt) aus der arabischen Oasenstadt Teman (vgl. 2,11; Jer 25,23) und Saba (vgl. 1,15),47 die durch die Wüste zogen (vgl. Ps 107,4), nach Wasser Ausschau hielten und bitter enttäuscht (ḥāpar)48 wurden, als sie dieses nicht fanden. Bereits die Rahmung der Strophe in V. 15a und V. 20b nimmt unmittelbar auf Hiobs Situation Bezug: Diejenigen, auf die er sein Vertrauen gesetzt hat, haben getrogen (bāgad)49 – sie sind bis hierher, d.h. bis zu Hiob gekommen, und stehen nun beschämt da (V. 20b). In drei Kurzstrophen (V. 21–23|24–26|28–30) erfolgt die explizite Anwendung der Bilder unberechenbarer Wadis und enttäuschter Karawanen auf die Freunde. Dabei stellt Hiob bei seinen Freunden einen dreifachen Mangel fest, der ihn nur noch tiefer ins Leiden reißt: den Mangel, der Konfrontation mit dem Leid standzuhalten und sich der eigenen Rolle als Tröster bewusst zu sein (V. 21–23), den Mangel, die Worte eines Leidenden richtig einzuschätzen (V. 24–26), und den Mangel, die moralische und religiöse Integrität Hiobs zu erkennen (V. 28–30). Damit reagiert Hiob dreifach ausdrücklich auf die Heilsverheißungen des Eliphas (5,17–26), wobei er seine Vorwürfe direkt an seine Eingangsklage rückbindet. Der Hinweis auf künftige Furchtlosigkeit des Leidenden (vgl. 5,21–22) überzeugt angesichts der eigenen Furcht der Tröster und angesichts des gegenwärtigen Leidens nicht (vgl. 3,24–25). Damit dreht Hiob den Vorwurf des Eliphas, er verhalte sich jetzt (ʿattāh) unweise, genau um (4,5, vgl. 13,4–5). In seiner Eingangsklage hat Hiob nichts von seinen Freunden gefordert (vgl. Jer 15,10), schon gar nicht, dass sie in die Rolle Gottes als seines Retters Vgl. dazu die im Exkurs zu Kap. 1–2 (S. 107) genannte Inschrift des Ninurta-kudurrī-uṣur von Suchu und Mari (Mitte 8. Jh. v.Chr.). 48 Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Dichter bewusst die mehrdeutige Wurzel ḥpr (I/II) verwendet, die auch „suchen/auskundschaften“ (vgl. Hi 3,21; 39,29) bezeichnen kann (vgl. Noegel, Janus Parallelism, 46–48). 49 Vgl. Klgl 1,2; Spr 2,22; 11,3.6; 13,2; 21,18; 22,12; 23,28. 47
6,15–30
6,15–20
6,21–30
6,21
6,22–23
168
6,24
6,25–26
6,27
6,28–30
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
eintreten (vgl. 5,15.20). Denn aus der Not loskaufen (pādāh) könne nur Gott (vgl. 5,22; Ps 78,42; 107,2; Jes 49,25). In der Schwebe bleibt, ob an menschliche oder göttliche Feinde gedacht ist. Der Rückschluss vom Leiden eines Menschen auf die Notwendigkeit eines züchtigenden Eingreifens Gottes (Hi 5,17) entbehrt des Nachweises der tatsächlichen Verfehlung des Leidenden, der sich vielmehr von Gott grundlos umzingelt sieht (3,23). Hiob ist sich keines „Irrtums“ (šāgāh, vgl. 19,4), der schwächsten Form einer Sünde (Lev 4,13; Num 15,22), bewusst. Deshalb fordert er die Freunde auf, ihn zu belehren (jārāh) und einsichtig zu machen (bîn). Wie schon in 5,24–27 an dem eindringlichen Hinweis für Hiob, er möge „erkennen“ (jādaʿ), deutlich wird, geht es im Hiobdialog in allen seinen literarischen Schichten in gut weisheitlichem Sinn auch um echte Erkenntnis. So werden sich die Freunde im Verlauf des Gesprächs gegenseitig zu (be-)lehren versuchen (8,10; 12,7–8; 27,11; 34,32), bis am Ende Gott seine Lektionen erteilt (38,1–42,6). Die Zurechtweisung (jôkî aḥ hôke aḥ) durch die Freunde erscheint dem, der sein Leid in Aufrichtigkeit (jošær, vgl. 1,1), d.h. mit bestem Wissen und Gewissen, ausgesprochen hat (vgl. 33,3), als grobes Missverständnis. Hiob macht die gegenteilige Erfahrung von Spr 16,13: Wahre Worte werden nicht immer gern gehört, im Gegenteil, sie können dem, der sich auf der richtigen Seite wähnt, in hohem Maße unangenehm sein (māraṣ, V. 25) – sie scheinen in den Wind gesprochen (V. 26). Die in Lev 19,17 vertretene Maxime, den Bruder nicht zu hassen, sondern ihn eindringlich zurechtzuweisen, um nicht durch ihn Schuld auf sich selbst zu laden, erweist sich hier als Bumerang. Der Vers, der aus dem strophischen Muster der Rede herausfällt, greift die Freunde in besonders scharfer Form an und stellt ihr Verhalten ähnlich wie der sekundäre V. 14 in einen spezifischen ethischen Kontext: Die rechtlose Waise und der Nächste sind nach den atl. Sozialgesetzen besonders zu schützen und stehen unter der Obhut Gottes (Dtn 10,18; Ps 10,18; 68,6; 146,9) – wer ihre Rechte missachtet, verstößt gegen göttliche Gebote50 und steht nach der Torah unter dem Fluch Gottes (Dtn 27,19). Erstmals legt Hiob ein kurzes Unschuldsbekenntnis ab, wie es in seinen späteren Reden immer wieder auftaucht.51 Er fühlt sich keiner Lüge schuldig und kann sehr wohl auch in seinen Worten Recht und Unrecht, Wahrheit und Täuschung52 unterscheiden (V. 29–30, vgl. 2,10; 24,25; 27,4; 34,6). Die in der Eingangsklage begrifflich nicht artikulierte Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen, nach einem möglichen Vergehen (ʿawlāh) und dem Bewusstsein des Rechts (ṣædæq, vgl. 29,14; 31,6; 35,2) ist nun, hervorgerufen durch die Rede des Eliphas, ausdrücklich thematisiert. Neben der Frage nach Gott dem Vgl. Ex 22,22; Dtn 24,17; Jes 1,17.23; Sach 7,10; Ps 82,3; Sir 35,17; Jak 1,27. Vgl. Hi 9,21; 10,7; 13,18; 16,17; 19,6; 23,7.10–12; 27,4–6; 29,12–16; 31,1–40. Siehe zu den genannten Texten auch das Unschuldsbekenntnis des Beters in Lud. II,23–32 (TUAT III, 122). 52 Das Wort hawwāh ist schildernd und bezeichnet etwas, das Verderben bringt, Unglück, aber auch Drohungen (vgl. dazu Noegel, Janus Parallelism, 48–50). 50 51
Hi 6–7 Die erste Rede Hiobs
169
Schöpfer deutet sich damit die Frage nach Gott dem Richter an. Die LXX bietet in V. 29 die charakteristische Modifikation, dass sich Hiob indirekt als ein Gerechter (δίκαιος) bezeichnet (vgl. 1,1 LXX), insofern er nicht wie im MT auf seiner Gerechtigkeit bzw. seinem Recht (ṣædæq) beharrt, sondern die Freunde auffordert, sich mit dem Gerechten (δίκαιος, ṣaddîq) zusammenzuschließen. Menschliches Elend und Hiobs Leid
7,1–6
In 7,1–6 beschreibt Hiob im Kontrast zu den Ausführungen des Eliphas in 5,9.17.23 sein Elend. Dabei reflektiert er grundsätzlich das Leben des Menschen. Menschliches Leben erscheint als Heeresdienst oder als Fron (vgl. 14,14), als 7,1–2 Tagelöhner- und Sklavendasein (vgl. 14,5–6).53 Erneut leuchtet das sich schon durch den Prolog und die Eingangsklage Hiobs ziehende Leitwort „Tag“ (jôm) auf (vgl. 7,6.16). Angesichts der Übermacht des Leidens wird das Leben zur Knechtschaft. Freiheit erhofft sich der von Gott Geknechtete (ʿæbæd) nur noch im Tod (vgl. 3,19). Die harte Arbeit des Knechts (vgl. Gen 31,40) und das Schicksal des rechtlosen Tagelöhners (vgl. Lev 19,13; Mal 3,5) werden hier zum Bild grundsätzlich fremdbestimmter menschlicher Existenz. Ob sich aus dem Gebrauch dieser Metapher auf die Herkunft des Hiobdichters aus dem Kreis einstmals begüterter, im Gefolge des Babylonischen Exils aber wirtschaftlich, politisch und geistig in die Krise geratener judäischer Aristokraten schließen lässt,54 ist umstritten. Dass der Hiobdichter, wie die Verfasser der anderen atl. Schriften zu einer kleinen schriftgelehrten Elite gehörte, ist klar. Die Fülle des Lebens verkommt dem Leidenden zur leeren Zeit (jarḥê-šāwʾ), 7,3–4 zur Sinnlosigkeit (vgl. Sir 30,17). Die Erfahrung des Misslingens, die Zeiten zu ändern (vgl. Hi 3,3–9), verdichtet sich für den, dem Unheil (ʿāmāl) zugewiesen ist, zur Vorstellung der Determiniertheit der Zeit (vgl. Hi 3,10.20; 5,6–7; Pred 2,23–24). Die Leidenszeit als wertlose Zeit erscheint Hiob als ein ihm von Gott zugewiesenes unveräußerliches Erbe (naḥalāh). Er erfährt die Zeit als von Gott gesetzte Grenze: Wer von rasender Unruhe getrieben ist (vgl. 3,24–26; Ps 56,9),55 kann diese Grenze weder am Tag noch in der Nacht, die ihm beide im Leid unerträglich lange werden (vgl. 7,13–14), überschreiten (vgl. 14,5; 16,22).56 Erneut erscheinen Bilder aus dem Fluch, der in der Torah über die53 Dass menschliches Leben von harter Arbeit geprägt und daher grundsätzlich mühselig ist, wird nicht nur in Gen 3,17–19 reflektiert (vgl. Pred 1,3; 2,22; 6,7), sondern auch in einzelnen altorientalischen Schöpfungsmythen, wenn es dort heißt, dass der Mensch zum Sklavendienst für die Götter erschaffen wurde (vgl. Atr. altbab. Fassung I,190–197 [TUAT III, 623]; spätbab. Fassung II, 69–80 [TUAT.NF VIII, 138]; EnEl. VI,5–8 [TUAT.NF VIII, 118]. 54 Crüsemann, Hiob und Kohelet, 387–393; vgl. auch Knauf, Hiobs Heimat, 73–77, der den Hiobdichter unter den judäischen Großgrundbesitzern (s.o. zu Hi 1,2–3 sowie zu Hi 31,38–40a) des 5. Jh. v.Chr. verortet, sowie Albertz, Hintergrund, 364f. 55 Zur Beschreibung von Schlaflosigkeit im Leid vgl. Ps 6,7; Sir 40,5–7; Lud. I,54.105; II,103; III,7 (TUAT III, 117.120.125.127); Klage eines Dulders mit Gebet an Marduk (RS 25.460) 18– 20 (TUAT III, 142). 56 Vgl. Lud. I,105–106 (TUAT III, 120).
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jenigen ergeht, die Jhwhs Gebote nicht beachtet haben (Dtn 28,67). Die von Eliphas beschriebene Freiheit Gottes im Umgang mit den Zeiten (5,9–26), die von den traditionellen Weisheitslehrern vertretene rechte Zeit (ʿet, 5,26; 15,32; 22,16), ist für Hiob zur festen Zeit geronnen (ḥoq, 14,5). 7,5–6 Vom Leiden, hier entfaltet als schwere Erkrankung (vielleicht Lepra), 57 die den von Gott geschenkten Körper (vgl. 10,11), das Fleisch und die Haut, schwer befallen hat,58 tief gezeichnet, nimmt Hiob nur noch die Flüchtigkeit der Zeit und die jähe Zerstörung jeder Hoffnung wahr.59 Das Gewürm, das sich in seinem Fleisch niedergelassen hat, und die verkrustete, schließlich zerfließende (eiternde) Haut kennzeichnen ihn schon als Toten (vgl. 7,16; Ps 58,8 bzw. Jes 14,11). Entsprechend beschreibt der aus der Unterwelt hervorgerufene Enkidu seinem noch lebenden Freund Gilgameš das Totenreich: 87 „Sage mir an, mein Freund, sage mir an, mein Freund, sage mir an die Ordnung der Unterwelt, die du sahst!“ „Ich sage (sie) dir nicht an, mein Freund, sage (sie) dir nicht an, mein Freund! 90 Wenn ich dir die Ordnung der Unterwelt, die ich sah, ansage, dann setze dich und weine!“ „Dann will ich mich setzen und weinen!“ „Meinen [Lei]b, den du mit frohem Herzen berührtest, frißt wie ein altes Kleid Ungeziefer! 95 [Mein Leib, den] du mit frohem Herzen berührtest, ist wie eine Spalte der Erde voll Staub!“ (Gilgm. XII,87–96)60
In TestHiob 20,8–9 ist das Bild des kranken Hiob drastisch ausgebaut, wenn es dort heißt, Hiob habe den Wurm, der aus seinem Leib herauskam, an dieselbe Stelle zurückgelegt und zu diesem gesagt, er solle dort bleiben, bis er von Gott einen anderen Befehl erhalte. Das schnell über den Webstuhl hin- und her sausende Weberschiffchen (V. 6) symbolisiert wie im Klagegebet, das dem erkrankten König Hiskia in den Mund gelegt ist (Jes 38,12), die Vergänglichkeit des Lebens. Dabei spielt der Dichter offenbar mit dem Homonym tiqwāh, das an der Mehrzahl seiner Belege in der hebr. Bibel für „Hoffnung“ steht (tiqwāh II), aber auch „Schnur“ (tiqwāh I) bedeuten kann (Jos 2,18.21) und insofern auch mit dem Bild des Webstuhls zusammenhängt.61 Auch wenn im alten Israel ein Lebensalter von 70 bis 80 Jah57 Aus Mesopotamien und Ägypten sind zahlreiche Texte zur Diagnose und Behandlung unterschiedlicher Hauterkrankungen bekannt (TUAT.NF V, 84–90; 222; 237–242; Scurlock/Andersen, Diagnoses, 208–241); vgl. auch Eckstein, Semantik, 192, die in Hi 7,5 eine Beschreibung der Nekrose, näherhin der schwarzen Färbung und des Absterbens (so nach ihrer Interpretation von mʾs II Nif.) der Haut sieht. 58 Vgl. Hi 2,7–8; 19,20; 30,30; Ps 38,6–9. 59 Vgl. Hi 7,16; 9,25–26; 17,10–11.15; Ps 39,5; 102,12. 60 Übersetzung von K. Hecker, in: TUAT III, 742. 61 Noegel, Janus Parallelism, 29; 50–52. Eckstein, Semantik, 209, legt die Bedeutung „Faden“ zugrunde und versteht Hi 7,6, nicht als Bild der Flüchtigkeit, sondern der „Fragilität einer feinen Webarbeit“, die vom „Webstand“ (ʾæræg) abgenommen, also nicht fortgesetzt werde (vgl. Jes 38,12).
Hi 6–7 Die erste Rede Hiobs
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ren als höchste Grenze erreichbar war (vgl. Ps 90,10), so lag die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes je nach Gesellschaftsschicht nur bei 35 bis 50 Jahren, so dass Bilder wie in Hi 7,5 und 9,25 oder wie in Ps 39,6–7 und 90,5–6 noch einmal eine ganz andere Dramatik entfalten.62 Bezieht man auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches die Eliphas sekundär in den Mund gelegte Szene (4,12–21) ein, so stellt Hiob in 7,1–6 der einmaligen Offenbarungsnacht seine fortwährenden Leidensnächte gegenüber. Die von Eliphas beschriebene menschliche Hinfälligkeit kontrastiert Hiob mit der von ihm erlebten Situation. Damit stimmt Hiob den Sätzen des Eliphas grundsätzlich zu, auch wenn sich für ihn aus diesen kein Trost und kein Sinn ergibt. Der nun folgende Appell an Gott ist durch diese Argumentation Hiobs aber zusätzlich motiviert. Die Klage über die eigene Vergänglichkeit
7,7–11
In 7,7–21* redet Hiob zu Gott selbst. Er nimmt damit den zentralen Rat des Eliphas in 5,8 auf, sich im Gebet an Gott zu wenden. Doch entgegen der von Eliphas empfohlenen demütigen Unterwerfung unter Gott bekräftigt Hiob mit dem Hinweis auf seine Vergänglichkeit das Recht zur Klage gegen Gott. Wie Eliphas Hiob dazu aufruft, sich zu vergegenwärtigen (zākar), dass der 7,7–8 Unschuldige letztlich von Gott bewahrt werde (4,7), so ruft nun Hiob Gott auf, sich zu vergegenwärtigen, dass sein Leben nur ein Windhauch sei (vgl. 10,9)63. Weil Hiobs Auge nichts Gutes mehr zu sehen erwartet (9,25, vgl. Ps 4,7), soll ihn künftig weder das Auge eines anderen noch Gottes Auge wahrnehmen (V. 8, vgl. 20,9). Verdichtet begegnet hier das für die Hiobdichtung so zentrale Motiv des Auges Gottes und Hiobs (vgl. 10,4).64 Das Hinabsteigen (jārad) in die Unterwelt, das für den Leidenden bereits 7,9–10 begonnen hat, wird ihn dem Blick Gottes entziehen. Gott wird ins Leere schauen, wenn Hiob in der Scheol65 unwiderruflich, wie eine dahinziehende und sich auflösende Wolke,66 verschwunden und aus dem Gedächtnis seiner Umwelt herausgefallen ist.67 Der, der jetzt schon aufgrund seines Leidens bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist (2,12), kann gar nicht mehr erkannt werden. Aus der Resignation des Leidenden spricht zugleich der Vorwurf an Gott, er werde einen seiner Verehrer verlieren. Den Hintergrund von Hiobs Anspielung auf die Beschränktheit des göttlichen Sehens bildet die Vorstellung, dass die Siehe dazu Wolff, Anthropologie, 178–189; Janssen/Janssen, Growing up, 194–203; Janowski, Anthropologie, 75–83. 63 Zu diesem Motiv siehe auch Ps 78,39; 89,48; 103,14; syrBar 14,10. 64 Siehe dazu ausführlich Köhlmoose, Auge. 65 Vgl. Hi 11,8; 14,13; 16,22; 17,13.16; 21,13; 24,19; 26,6; 30,23; Dtn 32,22; Jes 14,9; 57,9; Ez 32,21; Am 9,2; Ps 49,15; 86,13; 139,8; Spr 15,24; Sir 38,21; 51,6 und dazu den Exkurs zu Hi 3 auf S. 124–126. 66 Vgl. Hi 30,15; Hos 6,4; 13,3; Jes 44,22; SapSal 2,4. 67 Vgl. Hi 10,21; 14,10; Spr 2,18–19, Ps 103,15–16. 62
172
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Toten Gott nicht mehr loben.68 So steht mit Hiobs Identität auch die Identität Gottes auf dem Spiel. Der Hiobdichter teilt die konservative Sicht der Diesseitsbezogenheit der Jhwh-Verehrung.69 Die späteren Rabbinen haben aus Hi 7,9 geschlossen, Hiob habe die Auferstehung der Toten geleugnet (bBB 16a).70 7,11 Doch solange Hiob noch am Leben ist, will er seiner Klage freien Lauf lassen (vgl. 9,27; 10,1; 23,2; 27,2–4) – ganz im Gegensatz zum Rat der Weisen und zum weisheitlichen Ideal des demütigen Schweigens (vgl. Spr 10,19; 13,3; 17,28).71 Die plötzliche Wende vom Todeswunsch (6,9) hin zum Klageschrei des noch Lebenden entspricht der seelischen Verfassung des durch sein Leiden in die Enge und in die Verbitterung Getriebenen. Die Klage zielt darauf, die eigene Situation zu verstehen,72 und Gott letztlich zu einer Antwort, d.h. zu einer heilvollen Zuwendung zu bewegen (vgl. Ps 55,18; Jes 38,15–20). 7,12–21 Die Klage über die eigene Bedeutungslosigkeit In zwei ähnlich strukturierten Strophen beklagt Hiob die Erfahrung des ohnmächtigen Ausgeliefertseins an den als Dämon erfahrenen Gott. Die Klage wird jeweils mit einer rhetorischen Frage eröffnet, die sich an Gott den Schöpfer wendet (7,12 bzw. 7,17). Im Zentrum steht die Versprachlichung der Erfahrung des bedrohlich nahen Gottes und die Klage über die Verhältnismäßigkeit der Mittel in der Begegnung zwischen Gott und Mensch (7,13–15 bzw. 7,18–20, vgl. Ps 139,5; Klgl 3,9–10). Wie bereits in Kap. 3 gesehen, erfährt Hiob sein Leiden als Einbruch des Chaos in sein Leben. Die mythischen Bilder der chaotischen Urzeit dienen ihm zur Artikulation seines Unglücks. 7,12 Die Erfahrung der Leidenszeit als Chaoszeit äußert sich im Bild des einst vom Schöpfergott in der Urzeit niedergerungenen Meeresdrachen (tannîn).73 Das kämpferische Bild hat zahlreiche Parallelen in vorderorientalischen, vor allem nordwestsemitischen, und kleinasiatischen (hethitischen) Mythen und spiegelt die Verhaftung des Hiobdichters in der religiösen Symbolwelt des Alten Orients wider.74 In Gen 1,21 begegnet es in domestizierter Form, wenn dort nüchtern festgestellt wird, dass Gott die großen Meerestiere einfach geschaffen hat (vgl. Ps 104,26). Im Gegenüber von Gott und Mensch dient das Bild hier
68
1–2.
Vgl. Ps 6,6; 30,10; 88,11–13; 115,17–18; Jes 38,18–19; Sir 17,27 (G); Bar 2,17–18; 11QPsa XIX,
Vgl. Pred 3,20–21; Sir 14,17–19. Vgl. dazu Kalman, Job Denied the Resurrection?, 371–397. 71 Vgl. Lehre d. Amenemope 6,1–12; 7,7–10; 22,7–8 (TUAT.NF VIII, 331f; 343); Pap. Insinger 29,12 (TUAT III, 313). 72 Vgl. Hi 9,27; 10,1; 16,5; 21,4; 23,4. 73 Vgl. Hi 3,8 (v.l.); 9,13; 26,12–13; 38,8–11; 40,25–41,26; Ps 74,13; 89,10–11; Jes 27,1; 51,9; Jer 5,22; siehe dazu auch Riede, Spiegel, 120–132, sowie zu einer bildlichen Darstellung IPIAO IV Nr. 1314; 1315. 74 Siehe dazu ausführlich Fuchs, Mythos, 11–14; 74; 283f; Scriba, Geschichte, 64–70. 69 70
Hi 6–7 Die erste Rede Hiobs
173
dem Ausdruck der Maßlosigkeit, in der Hiob sich als gleichsam chaotisches Wesen von Gott angegriffen sieht. Gott selbst erscheint dem Leidenden als Dämon, der diesem keine Nacht- 7,13–14 ruhe als Möglichkeit des Trostes lässt (vgl. 6,10) und ihn stattdessen in Albträumen heimsucht.75 Ähnlich lässt Euripides (480–406 v.Chr.) Hekabe, die letzte Königin Trojas, klagen: O Glanz des Zeus! O düstere Nacht! Warum werde nachts ich aufgescheucht von Bildern des Schreckens, Gespenstern? Du heilige Erde, du Mutter der schwarzbeflügelten Träume, ich weise von mir das nächtliche Bild, das ich von meinem in Thrakien gehüteten Sohne und von Polyxene, meiner geliebten Tochter, im Traume erblickte, das furchtbare! Ihr Götter der Erde, beschützt meinen Sohn, der ganz allein noch, als Anker meines Geschlechtes, im schneeigen Thrakien weilt, vom Gastfreund des Vaters behütet! Es steht ein Unglück bevor. Ein Jammerlied wird die Jammernde anstimmen. Noch nie hat mein Herz so ruhelos geschaudert, gebebt. Wo kann ich nur sehen den göttlichen Helenos und wo Kassandra, ihr troischen Frauen, damit sie mir deuten die Träume? Sah ich doch den scheckigen Hirsch, von blutiger Kralle des Wolfes zerfleischt, erbarmungslos meinem Schoße entrissen. Und das auch erschreckt mich: Es hat sich gezeigt hoch über der Spitze des Grabmals der Geist des Achilleus; er forderte eine der kummerbeladenen troischen Frauen als Opfer! Von meiner, von meiner Tochter wendet ab, Daimonen, dies Unheil, ich flehe euch an! (Euripides, Hec. 67[68]–97)76
Hiobs nächtliche Vision offenbart hier keine Einsicht in das Wesen des Menschen, wie bei Eliphas (4,12–21, vgl. 33,14–15.19), sondern den reinen Schrecken Gottes (vgl. Sir 40,5–6; PsSal 6,3). Zum Motivschatz altorientalischer Klage- und Bittgebete gehört die Bitte um Verschonung vor bösen Träumen. 77 Zur Vermeidung oder Abwehr von Albträumen kennt der Alte Orient entsprechende Rituale:
75 Vgl. Lud. I,54 (TUAT III, 117); Klage eines Dulders mit Gebet an Marduk (RS 25.460) 1 (TUAT III, 141). 76 Übersetzung von D. Ebener, Euripides, I, 147. 77 Vgl. z.B. das Šu-illa-Gebet Anu 1 7 oder das Šu-illa-Gebet Gula 1a 13 (beide bei Lenzi, Akkadian Prayers, 221; 225 bzw. 249; 254).
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
55 Beschwörung, um einen schlechten Traum ins Gute zu wenden. 56 Ritual dafür: Seinen Fuß der (Körper)seite, auf der er lag, setzt er auf den Boden, rezitiert dreimal die Beschwörung. Dann 57 dreht er sich auf seine andere Seite, und das ihm drohende Übel ist vermieden.78
7,15–16 Hiob erlebt hier seinen Gott im Gewand des Totengottes, der im alten Israel wie in Ugarit unter dem Namen Mot und in Mesopotamien unter dem Namen Nergal bekannt war. Dass das Wort maḥanāq hier als ein Epitheton Mots im Sinn von „der Würger“ gebraucht und als Subjekt des Verses zu verstehen sei,79 ist aber angesichts der grammatischen Fügung des Satzes eher unwahrscheinlich: Es ist der eine Gott Jhwh selbst, von dem sich Hiob überfallen und an der Gurgel (næpæš) gepackt sieht (V. 15, vgl. Gen 32,23–33; Ex 4,24–26). Das Wort næpæš, an der Mehrzahl seiner atl. Belege zumeist mit „Seele“ (LXX: ψυχή) übersetzt und als solches ein Ausdruck für das Leben und die Lebenskraft des Menschen,80 hat hier seine ursprüngliche Bedeutung „Kehle“. Anstelle des Lebens hat dieser Gott den Tod seines Geschöpfes gewählt (vgl. Jer 8,3). Damit ist das atl. Bild vom lebensbejahenden Schöpfergott umgekehrt. Angesichts des Vergehens (māʾas ΙΙ wie in 7,5)81 und der Endlichkeit des Lebens, kann Hiob nur darum bitten, dass Gott von ihm ablässt (vgl. 10,20; 14,6). Wie in V. 6 wird das Leben mit einem Hauch (rûaḥ) verglichen, hier mit dem gelegentlich synonym dazu gebrauchten Wort hæbæl (vgl. Jes 57,13; Pred 1,14), das auch den Dampf oder Dunst bezeichnet und im übertragenen Sinn für Nichtigkeit, Wertloses und Vergänglichkeit steht. In dieser Bedeutung wird es zum Leitwort des Buches Kohelet (Pred 1,2; 12,8), wobei in dessen Gebrauch des Wortes hæbæl der Klang des Absurden mitschwingt. Letzteres erklärt auch die Wahl des Namens des urgeschichtlichen Abel (hebr. hæbæl; griech. Αβελ; Gen 4,1–17), dessen Schicksal in der Tat absurd ist. Das in Hi 7,16b gebrauchte Motiv ist charakteristisch für Vergänglichkeitsklagen, mittels derer Gottes Erbarmen erbeten wird (vgl. Ps 39,6–7; 62,10; 144,4). Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass der Hiobdichter hier, wie auch an anderen Stellen, die biblische Urgeschichte (Gen 1–9) im Blick hat und die Lesenden an die Erzählung von Kain und Abel denken lässt, in der es letztlich auch um eine Prüfung des Menschen, um die Frage nach dem Wesen des Menschen und um die Gerechtigkeit Gottes geht.82
Aus einem mesopotamischen Ritual, übersetzt von W. Faber, in: TUAT II, 270f. Vgl. DCH s.v. maḥ anāq; zur Kritik an dieser Deutung siehe auch Clines. Zur Bezeichnung eines Dämons oder einer Dämonin als „Würger“ vgl. eine Beschwörung aus Arslan Taș (KAI 27,4) und eine Opferliste aus Ugarit (KTU 1.39 [TUAT II, 308–310, hier 310,18]). Bleibt man beim MT und nimmt die næpæš als Subjekt (siehe die Anm. zur Übersetzung), fügt sich der Vers gut zu dem von Hiob v.a. in Kap. 3 geäußerten Todeswunsch (vgl. J. Dietrich, Tod, 12–17). 80 S.o. S. 98. 81 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 82 Vgl. dazu explizit TgNeof zu Gen 4. 78 79
Hi 6–7 Die erste Rede Hiobs
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In entsprechender Umkehrung schöpfungstheologischer Motivik variiert 7,17 Hiob das Bild des von Gott mit Macht und Herrlichkeit begabten, gottebenbildlich geschaffenen Menschen.83 Statt Wahrnehmung und Aufrichtung des Menschen zur Repäsentation des Schöpfergottes in der von Gott geordneten Welt deutet Hiob seine Vernichtung als Repräsentation des dämonischen Gottes in einer Welt des Chaos. Das Interesse Gottes am Menschen, hier mit fast denselben Worten ausgedrückt wie in der Frage Jhwhs an den Satan, ob Letzterer „sein Herz auf Hiob gerichtet habe“ (1,8, vgl. 2,3), bleibt dem seiner Gottesebenbildlichkeit entkleideten Hiob fraglich und ist kein Argument mehr für die Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit (vgl. Ps 144,3–4): 8 Was ist der Mensch? Wozu ist er nütze? Was ist das Gute und was das Böse an ihm? 9 Die Zahl der Tage eines Menschen kann viele Jahre betragen – vielleicht hundert. [Niemand aber kann den Todesschlaf berechnen.] 10 Wie ein Tropfen Wasser im Meer und wie ein Körnlein Sand, so gering sind des Menschen Jahre gegen einen Tag der Ewigkeit. 11 Darum hat der Herr Geduld mit ihnen und gießt seine Barmherzigkeit aus über sie. 12 Er sieht und weiß, wie bitter ihr Ende ist; umso reichlicher schenkt er seine Versöhnung. 13 Die Barmherzigkeit eines Menschen gilt allein seinem Nächsten; aber die Barmherzigkeit des Herrn gilt der ganzen Welt. Er weist zurecht, erzieht und belehrt und führt zurück wie ein Hirte seine Herde. 14 Er erbarmt sich aller, die sich erziehen lassen und eifrig seine Ordnungen befolgen. (Sir 18,8–14 [G] LB)
Der Hiobdichter legt Gen 1 und Ps 8 anders als Jesus Sirach aus: Er stellt dem Gotteslob des über die Ordnung der Schöpfung Staunenden die resignierte Frage des aus dieser Ordnung Gefallenen gegenüber. Zu dem Menschen, der sich und seine Welt vor dem Hintergrund des Handelns Gottes zu verstehen und zu deuten versucht, gehört beides: das ehrfürchtige Staunen und das angstvolle Klagen. Noch deutlicher als an anderen Stellen zeigt sich hier, dass das Hiobbuch nicht nur eine großartige Dichtung ist, sondern auch eine Form ,innerbiblischer Schriftauslegung‘. Diese lebt selbst von ihren buchimmanenten Fortschreibungen, die innerhalb der Redaktionsgeschichte und in der ‚Endgestalt‘ des Buches einen vielfältigen theologischen Dialog bilden. Im Fall von Hi 7,17 bedeutet dies auch eine Problematisierung der sekundär eingefügten Sentenz in 4,17–19, die vor das Paradox stellt, dass der Mensch vor Gott absolut unwürdig ist und doch das Interesse Gottes findet.84
83 84
Vgl. Gen 1,26–27; 5,1–2; 9,4–6; Ps 8,5; SapSal 2,23. Siehe dazu auch Yu, A Ridiculous God, 84–102.
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Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen
Exkurs
Literatur Janowski, B.: Die lebendige Statue Gottes. Zur Anthropologie der priesterlichen Urgeschichte, in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (FS O. Kaiser), BZAW 345/I, Berlin/New York 2004, 183–214. – Ockinga, B.: Die Gottesebenbildlichkeit im Alten Ägypten und im Alten Testament, ÄAT 7, Wiesbaden 1984. – Schellenberg, A.: Der Mensch, das Bild Gottes? Zum Gedanken einer Sonderstellung des Menschen im Alten Testament, AThANT 101, Zürich 2011. – Westermann, C.: Genesis. 1.Tl. Genesis 1–11, BK I/1, Neukirchen-Vluyn 1974, 203–214. Die Aussage von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen hat im AT selbst keine zentrale Bedeutung. Explizit findet sie sich nur in der priesterschriftlichen Urgeschichte (Gen 1,26–31; 5,1–3; 9,6) und in dem wohl auch in einem priesterlichen Umfeld entstandenen, möglicherweise von Gen 1 abhängigen Ps 8. Gegenüber älteren (vorkritischen), zumeist dogmatisch bedingten Deutungen handelt es sich bei der Gottesebenbildlichkeit nicht um eine partikulare Beschreibung des Menschseins im Blick auf besondere geistige oder leibliche Aspekte, sei es die Persönlichkeit, die Vernunft, die Geisthaftigkeit, eine unsterbliche Seele oder die äußere Gestalt, sondern um eine die gesamte Person des Menschen umfassende, funktional orientierte Beschreibung. So stammt die Rede von der Gottesebenbildlichkeit aus der ägyptischen, mesopotamischen und persischen (achämenidischen) Königsideologie, der zufolge der König den Schöpfergott auf Erden repräsentiert und für diesen stellvertretend herrscht und Kultur schaffend wirkt (das dominium terrae, vgl. Gen 1,26b.28; 9,2). In Gen 1,26 und Ps 8,5 ist die altorientalische Redeweise vom König als göttlichem Bild demo(kra)tisiert, 85 insofern jeder Mensch als ein Repräsentant Gottes auf Erden angesehen wird. Mit dieser urgeschichtlichen Zuschreibung der Gottesebenbildlichkeit verbindet sich in späteren priesterschriftlichen Texten (PS) die Vorstellung, dass die Gottesebenbildlichkeit ein Ziel des Menschen sei, das es erst zu erreichen gilt, indem der Mensch versucht, sich der Heiligkeit Gottes anzunähern und so Gott zu entsprechen (vgl. Lev 19,2). Vor allem in frühjüdischen Weisheitsschriften erscheint menschliche Barmherzigkeit als eine solche Form der Annäherung an Gott, den schlechthin Barmherzigen (vgl. Ps 112; Sir 4,10).86 Mit der Kennzeichnung Jesu Christi als wahres Ebenbild Gottes, auf das der Mensch hin geschaffen ist (Kol 1,15), liegt religionsgeschichtlich eine christologische Zuspitzung der Vorstellung der Weisheit als Gottes Ebenbild (vgl. SapSal 7) vor.
7,18–19 Die Erfahrung der Gleichzeitigkeit von Unglücksereignissen (vgl. 3,24–26; 7,4) wird von dem Gefühl der Alltäglichkeit des Leidens begleitet. Typisch für die Gattung der Klage des Einzelnen, die ihren unmittelbaren Anhalt im Leben hat, ist die Verallgemeinerung von Leidenserfahrungen (vgl. Ps 6,7; Klgl 3,3.14). Der Augenblick (rægaʿ) wird zum Dauerblick (V. 18) – Gott sucht Hiob heim (pāqad) und prüft (bāḥan, V. 18, vgl. Ps 11,4–5; 17,3), er blickt ihn pausenlos an (šāʿāh, V. 19; 10,20 [v.l.]; 14,6, vgl. Ps 39,14).87 Andernorts werden die Begriffe pāqad und šāʿāh für Gottes heilvolles Handeln verwendet (vgl. Hi 10,12 pequdāh).88 Hier erscheinen sie zum Ausdruck der göttlichen Bedrohung (vgl. Vgl. auch schon die äg. Lehre für Merikare (2100 v.Chr. [?]), P 130–138 (TUAT III, 835f). Siehe dazu Witte, Texte und Kontexte, 225–243. 87 Die Dichte der Unheilserfahrung wird durch die sprachliche Gestaltung von V. 18 als Chiasmus, eine Alliteration (libqārîm lirgāʿîm) und zwei Homoioteleuta (-nû … -nû; -îm … -îm) unterstrichen. 88 Vgl. Gen 21,1; Ex 3,16; 1. Sam 2,21; Jer 15,15; 32,5; Ps 80,15; Rut 1,6 bzw. Gen 4,4–5 (!); vgl. zum Motiv des heilvollen Blicks Gottes auch Ps 13,4; 33,13f; 59,5f; 138,6. 85 86
Hi 6–7 Die erste Rede Hiobs
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Ps 39,14)89 – ähnlich wie der Morgen, der für Hiob im Gegensatz zu herkömmlichen Heilsvorstellungen nicht zur Zeit der göttlichen Rettung (Ps 46,6),90 sondern der göttlichen Vernichtung wird. Gottes Nähe verwandelt sich in der Zeit des Leids zur Gefahr. Hiob erfährt 7,20–21 sich selbst als Zielscheibe (mipgāʿ V. 20aβ, vgl. 16,12–13; 36,32 [v.l.]; Klgl 3,12) und als Last (maśśāʾ) für Gott (V. 20b) – ein Gedanke, der von den Masoreten als so kühn betrachtet wurde, dass sie den Text änderten.91 Den Schlusspunkt dieser Strophe bildet wie in V. 16 ein die Unausweichlichkeit und Endgültigkeit des Todes in den Blick nehmendes Summarium (V. 21aγ.b, vgl. Lukrez, nat. 3, 1078–1079). Die Gewissheit des Todes und der Glaube, dass im Tod die Beziehung des Menschen zu Gott zerbrochen ist, dienen als letzte Argumente Hiobs, Gott zum Einlenken zu bewegen. Mit der Metapher vom Totenreich als Staub (vgl. 17,16; Ps 22,16.30; Dan 12,2) schließt die Rede Hiobs wie die des Eliphas mit einem Ausblick auf den Tod (5,26). Doch im Gegensatz zu dem ihm vor Augen gestellten Tod zur rechten Zeit erwartet Hiob seinen Tod zur Unzeit. Er befürchtet, Gott werde zu spät kommen. Betont endet die Rede in V. 21b mit einer Negation (ʾên). In 7,20aα.21aα.β liegt ein (wenn auch hypothetisch formuliertes) Sündenbekenntnis Hiobs vor. Dieses Bekenntnis fällt metrisch, kompositionell und inhaltlich aus der Rede heraus. Es lässt sich nicht ohne weiteres mit den folgenden Hiobreden harmonisieren (vgl. 9,20–21; 10,6.14–15; 13,23.26; 14,16– 17) und entspricht tendenziell der Theologie der sekundär eingefügten Elihureden (vgl. 34,31–32; 35,3.6–7; Ps 69,6). Hiobs Leid erscheint nun auch im Mund des Leidenden als Folge eines (möglichen) Fehlverhaltens. Die Souveränität Gottes wird damit unterstrichen. Der Einschub ist aufgrund seiner Begrifflichkeit bedeutsam, insofern er die drei wichtigsten atl. Wörter für „Sünde“ bietet (vgl. 13,23). Das Verb ḥāṭāʾ und die zahlreichen davon abgeleiteten Nomen ḥeṭʾ, ḥaṭṭāʾ, ḥaṭāʾāh, ḥāṭṭāʾāh, ḥāṭṭāʾt stellen den allgemeinsten Begriff für „sündigen/Sünde“ dar. Dieses Wort entspricht dem griech. Terminus ἁμαρτάνω („den Weg/das Ziel verfehlen“) bzw. ἁμαρτία („Zielverfehlung“) und bezeichnet den ausdrücklichen Verstoß gegen ein gegebenes Gebot oder Verbot (V. 20aα).92 Bei dem Wort ʿāwôn („Verkehrtheit“) tritt der ethische Aspekt hervor (V. 21aβ).93 Dabei setzt ʿāwôn das Bewusstsein der Schuldhaftigkeit voraus. Im Begriff ʿāwôn schwingt der Aspekt der Gesinnung mit. Am Bedeutungsgehalt von ʿāwôn zeigt sich besonders deutlich das atl. Verständnis der Sünde als einer umfassenden Unheilssphäre: So steht ʿāwôn sowohl für „Schuld“ und „Vergehen“ als auch für „Strafe“. Vgl. dazu Bosworth, A House of Weeping, 101–104. Siehe dazu B. Janowski, Rettungsgewißheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes „am Morgen“ im Alten Orient und im Alten Testament, Bd. I: Alter Orient, WMANT 59, Neukirchen-Vluyn 1989. 91 Vgl. Jehuda b. Ilai Mechilta zu Ex 15,7; Tiq Soph, siehe die Anm. zur Übersetzung. 92 Vgl. Hi 1,22; 2,10; 8,4a; 10,6b.14a; 13,23; 35,6a. 93 Vgl. Hi 10,6a.14b; 11,6; 13,23a; 14,17b; 15,5; 20,27; 22,5 89
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Stärker religiös geprägt ist das Wort pæšaʿ („Aufstand“, V. 21aα).94 Als pæšaʿ bedeutet Sünde Aufruhr gegen Gott, die Auflehnung des menschlichen Willens gegen den göttlichen Willen, eine frevelhafte Rebellion (vgl. 34,37). Hinzu kommt in 7,20 der nur hier im AT belegte Gottestitel „Menschenhüter“ (vgl. Spr 24,12; Ps 31,24; 64,2; Jes 27,3).95 In der LXX begegnet hier anstelle dessen das Gottesprädikat „der, der die Vernunft (νοῦς) der Menschen kennt“ (vgl. Hi 33,16 LXX); dieses hat einen Ort in der griech.-orthodoxen Liturgie.96 In Hiobs Anfrage, wozu ihm Gott seine Sünde nicht vergebe, schwingt dann aber auch bittere Ironie mit: Denn entweder ist die Distanz zwischen Gott und Mensch so groß, dass Gott von der Sünde des Menschen gar nicht getroffen wird (vgl. 35,5–6) – dann aber gerät die traditionelle Vorstellung von einem behütenden und bewahrenden, also einem am Menschen interessierten Gott in die Krise (vgl. Ps 32,7; 40,12; 121,3; Jes 42,6); oder Gott ist unbarmherzig, weil er keine Nachsicht mit dem Menschen übt, der schwer unter seinem Zorn leidet – dann ist die traditionelle Vorstellung von Gott, dessen Gnade und Vergebung stets seinen Zorn und seine Strafe übertrifft (vgl. Ex 34,6–7 par., vgl. Ps 39,9–14), hinfällig. Liest man auch diese Passage vor dem Hintergrund des diskursiven Umgangs des Hiobbuches mit zentralen theologischen Strömungen des antiken Judentums, so könnte man hier eine kritische Gegenüberstellung von priesterschriftlicher und dtr. Theologie sehen: „Schuld muss nicht bestraft, sondern vergeben werden.“97
Vgl. Hi 8,4b; 13,23b; 14,17a; 35,6b; 36,9. Häufiger wird Gott als einer, der den einzelnen Frommen oder Israel bewahrt (šomer), bezeichnet (vgl. Ps 116,6; 121,3–5; 127,1; 145,20; 146,6.9). 96 Constantelos, Holy Scriptures, 44. 97 K. Schmid, Gott als Angeklagter, 116. 94 95
Hi 8 Die erste Rede Bildads
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Hi 8 Die erste Rede Bildads 8,1
Und Bildad der Schuachiter hob an und sagte:
2 Wie lange willst du denn solche Dinge reden? Ja, ein starker Wind sind die Worte deines Mundes. 3 Beugt etwa El das Recht? Oder beugt Schaddaj Gerechtigkeit? 4 Wenn deine Söhne an ihm gesündigt haben, dann lieferte er sie in die Hand1 ihres Vergehens aus. 5 Wenn2 du aber nun nach El suchst und bei Schaddaj um Erbarmen flehst, 6 wenn du rein und aufrichtig bist, ja, dann wird er über dir erwachen, dann3 stellt er die Stätte deiner Gerechtigkeit wieder her. 7 Dagegen wird dein Früheres unbedeutend sein, und dein Zukünftiges wird gewaltig wachsen4. 8 9 10 11 12 13
Denn frage doch die frühere Generation, und bestätige5 die Forschung ihrer6 Väter. – Denn wir sind ein Gestern und wissen nichts, ja, ein Schatten sind unsere Tage auf der Erde. – Werden sie dich nicht belehren, dir berichten und aus ihrem Herzen7 Worte bringen? Kommt Papyrus ohne Sumpf hervor? Wächst Riedgras ohne Wasser? Noch ist es in seinem Trieb, wird nicht geschnitten, und schneller als alles Gras muss es vertrocknen. So sind die Wege8 aller, die El vergessen, und so geht die Hoffnung des Gottlosen zugrunde.
1 Zu dieser Auflösung von b ejad siehe Ges18 (s.v. šlḥ); zu erwägen ist auch die Übersetzung mit „wegen“ (vgl. Fohrer; Seow). 2 Gegen Horst, der ḥāṭāʾ aus V. 4 als nicht nochmals genanntes logisches Prädikat des mit ʾimʾattāh eingeleiteten Satzes und t ešaḥer als Beginn des Hauptsatzes versteht (so auch Nõmmik, Freundesreden, 56f), wird hier die Apodosis erst in V. 6aβ bzw. V. 6b gesehen. 3 Zum Gebrauch des Perf. consec. im Nachsatz eines Bedingungssatzes siehe G/K § 112gg; J/M § 176o. 4 Die Genusinkongruenz zwischen ʾaḥ arît und jiśgæh ist der Analogie zu hājāh geschuldet (vgl. J/M § 150k). 5 So nach dem MT; anstelle von kônen könnte aber auch nach Syr in bônen „achte auf “ geändert werden. 6 Die Ursprünglichkeit der Lesung ʾ abôtām ist umstritten; möglicherweise ist ʾ abôtênû „unserer Väter“ zu lesen; zum Gen. subj. vgl. Waltke/O’Connor § 9.5.2 n. 20; zur Diskussion siehe Seow. 7 leb steht hier, wie häufig, für Verstand/Wissen (vgl. 1Kön 5,9; Jer 5,21; Spr 6,32; 17,16; 28,26). 8 ʾårḥôt (vgl. Spr 1,19). LXX (τὰ ἔσχατα) las wohl ʾaḥ arît „Zukunft“ (vgl. V. 7), was gelegentlich für ursprünglich gehalten wird (vgl. Fohrer).
HD
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Sommerfäden9 sind seine Zuversicht, und ein Spinnennetz ist sein Vertrauen.
15 16 17 18 19
Er stütze sich auf sein Haus, aber es10 hat keinen Bestand, er halte sich fest an ihm, aber es11 steht nicht. Voll Saft ist er angesichts der Sonne, und um seinen Garten rankt sich sein Spross. Um Steinhaufen winden sich seine Wurzeln, zwischen12 Steinen hält er sich fest13. Wenn er14 ihn verschlingt von seinem Ort, dann verleugnet dieser ihn: „Ich sah dich nie.“ Siehe: Das ist die Freude15 seines (Lebens-)Weges, und aus dem Staub entsprosst16 ein andrer.
20 Siehe: El wird den Frommen nicht verachten, aber die Hand der Bösen wird er nicht festhalten, 21 bis17 er mit Lachen anfüllt deinen Mund und deine Lippen mit lautem Jubel. 22 Die aber, die dich hassen, werden sich mit Schande kleiden, und das Zelt der Frevler wird nicht mehr sein. Literatur Nõmmik, U.: Die Freundesreden des ursprünglichen Hiobdialogs. Eine form- und traditionsgeschichtliche Studie, BZAW 410, Berlin/New York 2010. – Riede, P.: „Ein Spinnenhaus ist sein Vertrauen“ (Hi 8, 14): Tiere in der Bildsprache der Hiobdialoge. Teil II: Der Frevler und sein Geschick, in: Ders., Im Spiegel der Tiere. Studien zum Verhältnis von Mensch und Tier im alten Israel, OBO 187, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 2002, 133–152.
Aufbau und Sprachformen
Mit der ersten Rede des Bildad von Schuach führt der Dichter den zweiten, gegenüber Eliphas wohl etwas jüngeren Freund Hiobs ein.18 Die erste Bildad rede bildet eine als Ringkomposition gestaltete Mahn- und Trostrede mit vier Strophen (V. 2–7|8–13|14–19|20–22). Sie besteht aus einer Einleitung (V. 2–7), 9 Der Text scheint verderbt zu sein. Die Rückführung von jāqôṭ auf eine sonst im biblischen Hebr. nicht belegte Wurzel qwṭ/qṭṭ II „zerbrechen“ (vgl. DCH; Grabbe, Philology, 58–60; Clines; Seow) ist unsicher. Hierzu existieren zahlreiche Emendationsvorschläge (vgl. Hartley; Clines). Am nächsten kommt dem Konsonantenbestand des MT die Lesart qûrê/qiššurê qajiṭ (vgl. BHS), wobei qajiṭ eine Nebenform zu dem geläufigen Wort qajiṣ „Sommer“ (vgl. Gen 8,22) ist. 10 Oder: „er“ (der Gottlose); doch siehe die Auslegung. 11 Vgl. die vorangehende Anm. 12 Anstelle von bêt „Haus“ ist entweder bên „unter“ zu lesen (vgl. HsK259) oder die mutmaßliche Präp. bêt (vgl. syr. bjt „zwischen“) anzunehmen (vgl. Clines [so auch für Spr 8,2; Ez 41,9]; Seow). 13 Anstelle von jæḥ æzæh „er wird sehen“ ist joḥæz (von ʾḥz) zu lesen. Die Existenz einer Wurzel ḥzh II „gegenüber sein“ (vgl. DCH) ist unsicher. 14 D.h.: Gott; nicht man (so aber Hartley; Clines; Seow). 15 So nach dem Subst. māśôś I, nicht als Inf. von mśś/mss „das Zerfließen“ (so aber Fohrer; Clines; vgl. LXX: καταστροφή „Zerstörung“). Die Annahme eines Subst. māśôś II „Verfaultes/Morschheit“ (vgl. KAHAL; DCH) ist unnötig. 16 Anstelle von jiṣmāḥû „sie entsprossen“ lies jiṣmāḥ (vgl. HsK92 ; LXX; Syr). 17 Zur Beibehaltung der masoret. Lesart ʿad vgl. CTAT 50/5, 48–50. 18 S.o. S. 105.
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der Entfaltung einer theologischen These (V. 8–19), der Anwendung der These auf Hiob (V. 21) und einer Schlussformel (V. 22). Die ersten drei Strophen haben jeweils sechs Bikola, die letzte nur noch drei. Die Sprachformen dieser Rede stammen im Wesentlichen aus der Spruchweisheit. In V. 11–13.14– 15.16–19 liegen drei Naturgleichnisse vor (vgl. 1Kön 5,13),19 die durch Endreime (V. 11.16)20 und Paronomasien (V. 10.11.16b.17a)21 stilistisch besonders geprägt sind. In diesen Naturbildern, die vor allem in der Weisheitsliteratur zahlreiche motivische Parallelen besitzen sowie überdies eine Reihe von Hapaxlegomena und seltenen Wörtern aufweisen, schlägt sich zugleich die Gelehrsamkeit und die dichterische Gestaltungskraft der Hiobdichter nieder (vgl. 40,15–41,26). Stilistisch ist zudem der häufige Wechsel von rhetorischen Fragen, Konditionalsätzen, Begründungssätzen und Hinweissätzen kennzeichnend. Enger zusammengehörende Bikola beginnen mehrfach mit demselben Wort (vgl. V. 4–6; V. 8–9; V. 10–11). Charakteristisch für die erste Bildadrede ist die Thematisierung des Schicksals der Frevler, der r ešāʿîm. Dieses wird durchgehend mit negativen Beispielen veranschaulicht und ist in den folgenden Freundesreden ein Standardelement (vgl. V. 22; 11,20; 15,17–35; 18,5–21; 20,4–29). Gedankliche Voraussetzung der Rede ist ebenso wie in der Grundschicht der ersten Eliphasrede die Vorstellung, dass Gott gerecht handelt (V. 3.20) und dass es menschliche Gerechtigkeit vor Gott gibt (V. 5–6). Im Mittelpunkt der Rede steht ein Traditionsbeweis zur Funktion der göttlichen Vergeltung (V. 8–13|14–19). Als Rahmen dienen die theologische Kernthese, Gott beuge nicht das Recht (V. 3.20), und die direkten Anreden Hiobs (V. 2.21–22). Damit ist die erste Rede Bildads ein Musterbeispiel für eine rhetorische Entfaltung der These von der universalen Gültigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs,22 die in der folgenden Antwort Hiobs in Kap. 9–10 mit gegenteiligen Erfahrungen kontrastiert wird.23 In der aus Höhle 4 in Qumran bekannten stichometrisch geschriebenen Hs 4QHib Text- und (4Q100) sind Teile der V. 15–17 erhalten. Abgesehen von zwei kleinen ortho- Literargraphischen Varianten sind diese identisch mit dem Text, wie er vom MT geschichte repräsentiert wird. In V. 6aβ, der in HsK18 fehlt, liegt eine Glosse vor. Ansonsten ist die Rede literarisch einheitlich. Zwar fallen auch V. 9 und V. 15 etwas aus dem kolometrischen Muster, sie fügen sich aber gut in die Strophik und die Argumentation, so dass sie zum ursprünglichen Bestand gezählt werden können.24
Westermann, Vergleiche, 100f. Vgl. auch V. 21. Vgl. auch die Alliterationen in V. 5 auf ʾ(a) und in 19 auf h-. 22 K. Schmid, Gott als Angeklagter, 117, spricht demgemäß vom „deuteronomistischen Paradigma“; zum geistesgeschichtlichen Hintergrund siehe die Einleitung S. 26–31. 23 Zu einer ähnlichen Gegenüberstellung mittels kontrastiver Sprüche in Spr siehe Luchsinger, Poetik, 212–214. 24 Anders Nõmmik, Freudesreden, 57f. 19 20 21
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8,1–7 Vom gerechten Gott oder das Wesen der doppelten Vergeltung 8,1 Die Überschrift gibt den Namen und den Herkunftsort des Redners an (vgl. den Exkurs zu 2,11–13) und leitet die Rede stereotyp wie in 3,2 ein.25 8,2 Die Eröffnungsfrage an Hiob korrespondiert mit der assertorischen Schlussformel (V. 21.22); äußerlich gekennzeichnet durch den jeweiligen Versbeginn mit „bis“ (ʿad)26 und die Assonanz von rûaḥ (V. 2) und t erûʿāh (V. 21), begrifflich und inhaltlich verbunden über den Terminus „Mund“ (pæh), den Hiob jetzt mit „leeren Worten“ (vgl. 7,11), Gott aber einst mit „Lachen“ füllen wird (V. 21, vgl. Ps 126,2). Bildad nimmt die ungezügelte Klage Hiobs (7,11) nur als starken Wind (rûaḥ, vgl. 6,24) wahr, versteht aber nicht den in ihr wohnenden Geist (rûaḥ).27 8,3 Die theologische These vom gerechten Walten Gottes, mit der Bildad auf Hiobs Klage über die in ihm steckenden Giftpfeile Gottes reagiert (6,4), wird im Schlussteil in V. 20 wiederaufgenommen, formal gekennzeichnet durch die miteinander korrespondierenden Versbeginne mit haʾel bz. hæn-ʾel, inhaltlich verknüpft über die zentrale Aussage, Gott erweise sein Recht und seine Gerechtigkeit dadurch, dass er den Frommen (tām) bewahre, die Frevler (mereʿîm/r ešāʿîm) aber verwerfe (vgl. 4,7–8; 34,10–12). Für Bildad ist Gott vollkommen gerecht (vgl. Gen 18,25; Dtn 32,4; Ps 99,4): Gott steht gerade dafür, dass das Recht (mišpāṭ) nicht gebeugt wird (vgl. Klgl 3,36) – er garantiert die gerechte Weltordnung (ṣædæq, ṣ edāqāh) und vergilt dem einzelnen Menschen je nach seinem Handeln. Betont verwendet der Dichter daher zweimal in einem Bikolon dasselbe Verb (ʿût Piel „beugen“). Für Hiob, den die Leser von 1,1 her als einen mustergültig Frommen (tām) kennen, kann das nur heißen, dass Gott sein Leid wenden wird. 8,4 Unvermutet bringt Bildad die Söhne Hiobs ins Spiel, die in seinen Augen Opfer ihrer eigenen Sünde sind. Was in der ursprünglichen Dichtung vermutlich eine allgemeine Sentenz zur individuellen Verantwortung darstellte (vgl. Jer 31,29; Ez 18,2; Klgl 5,7), erscheint vor dem Hintergrund des Prologs zum einen als Bestätigung für Hiobs Ahnung, seine Söhne könnten sich verfehlt haben (Hi 1,5), zum anderen als Deutung des Todes der Kinder Hiobs (1,2.19, vgl. 19,17; 29,5). Damit nimmt Bildad Hiobs Unschuldsbekenntnis in 6,28–30 auf und reagiert auf dessen Kennzeichnung Gottes als willkürlich oder dämonisch. Er sieht Gottes Identität durch die angefochtene Identität Hiobs nicht in Frage gestellt. Gegenüber der Rede des Eliphas wird das Leiden Hiobs aber nun weitergehend in den Rahmen von Recht, hier erstmals im Hiobbuch mit dem Terminus mišpāṭ (wörtlich: den Zustand von Integrität herstellen bzw. wahren) bezeichnet, und Gottes Gerechtigkeit (ṣædæq, Vgl. Hi 4,1; 11,1; 15,1; 18,1; 20,1; 22,1; 25,1 bzw. 6,1; 9,1; 12,1; 16,1; 19,1; 21,1; 23,1; 26,1. Aus diesem Grund sollte ʿad auch nicht, wie es häufig der Fall ist, in ʿod „noch“ umpunktiert werden, siehe die Anm. zur Übersetzung. 27 Vgl. BT 5–6.34 (TUAT III, 146.148). 25 26
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ṣ edāqāh) bzw. das Sündigen (ḥāṭāʾ) und die Verfehlung (pæšaʿ) des Menschen (vgl. die sekundäre Passage in 7,20aα.21aα.β) eingeordnet. Dabei zeigen die folgenden Verse die für den atl. Gerechtigkeitsbegriff typische Relationalität. So beschreibt „Gerechtigkeit“ als Beziehungsbegriff ein integres Gemeinschaftsverhältnis, im Falle Hiobs die ungestörte Beziehung zu seinem Gott. Von 8,3 an ziehen sich dann der Begriff mišpāṭ28 und Derivate von der Wurzel ṣdq29 als zentrale Deuteworte zur Beziehung zwischen Gott und Mensch wie auch zum zwischenmenschlichen Verhältnis mit einem Schwerpunkt in den sekundären Elihureden durch die Dichtung. Auf der Linie der individuellen Verantwortlichkeit liegt auch die vierfach 8,5–7 gestufte Verheißung Bildads, dass Gott Hiobs Gerechtigkeit (ṣædæq), d.h. die Gemeinschaft mit ihm wiederherstelle, wenn er Gott suche, zu ihm bete (V. 5, vgl. 5,8; 11,13), rein und integer sei (V. 6a). Der Vierklang fordert die vollständige religiöse, kultische und moralische Integrität Hiobs. „Gerechtigkeit“ (V. 6b) erscheint als Folge und als Summe von Glaube und Ethos. Auch hier wissen die Leser, die von dem sekundär vor die Dichtung gelegten Prolog herkommen, dass Hiob genau diese Punkte erfüllt (vgl. 1,1). Auf der Ebene des redaktionell um 4,12–21 erweiterten Textes stellt sich hingegen die Frage nach der Relation von 4,17 („die grundsätzliche Unreinheit des Menschen vor Gott“) und 8,6 („die Möglichkeit der Reinheit“, vgl. 11,4; 33,9). In beiden Fällen läuft aber der Rat Bildads ins Leere. Ohne den Prolog und ohne die Szene der nächtlichen Offenbarung vor Eliphas gelesen, wird die dreifache Funktion des Rates deutlicher, nämlich Hiob zur Hinwendung zu Gott zu bewegen, wodurch er sich als ein wahrhaft Weiser zeige (vgl. Sir 39,5 [G]), Hiob zum Nachdenken über seine eigene Integrität zu bringen (vgl. 11,4–5; 33,8–12) und Hiob eine positive Zukunft vor Augen zu stellen (vgl. 5,24–26). Wie schon in 5,24 deutet die Wurzel šālam das Heil an. Der spätere Zusatz in V. 6aβ unterstreicht die Aussicht auf ein heilvolles Handeln Gottes mittels des Motivs vom Erwachen Gottes,30 hinter dem die Vorstellung steht, dass die gegenwärtige Not auf die Untätigkeit oder Ferne Gottes zurückgehe. So impliziert das Motiv des aufwachenden Gottes sein Erscheinen zum Erweis seiner Macht, die Gerechtigkeit schafft (vgl. Jes 51,9; Ps 80,3). Doch die Imagination einer heilvollen Zukunft, die sich nach dem Epilog tatsächlich einstellen wird (vgl. 42,10.12), verfehlt, wie schon im Fall der ersten Rede des Eliphas, die eigentliche Frage Hiobs, mit welchem Ziel ihn Gott zu seinem Feind erklärt und ihn an den Rand des Todes gebracht habe (7,20– 21). Hatte Eliphas in 4,2–6 noch ausdrücklich Hiobs frühere Frömmigkeit anerkannt, so spricht aus der konditional formulierten Heilsankündigung Bil28 Vgl. Hi 9,19.32; 13,18; 14,3 (sek.); 19,7; 22,4; 23,4; 27,2; 29,14; 31,13; 32,9 (sek.); 34,4 (sek.); 34,6 (sek.); 34,12 (sek.); 34,17 (sek.); 34,23 (sek.); 35,2 (sek.); 36,6 (sek.); 36,17 (sek.); 37,23 (sek.); 40,8 (sek.). 29 Vgl. bereits in Hi 4,17 (sek.) und 6,29 sowie im Folgenden in 9,2 (sek.).15.20; 10,15; 11,2; 13,18; 15,14 (sek.); 22,3; 25,4 (sek.); 27,5; 29,14; 31,6; 32,2 (sek.); 33,12 (sek.); 33,32 (sek.); 34,5 (sek.); 35,2 (sek.); 35,7 (sek.); 36,3 (sek.); 40,8 (sek.). 30 Vgl. Ps 7,7; 35,23–25; 44,24; 57,9; 59,5–6.
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dads zumindest implizit der Zweifel an Hiobs einstiger Integrität. In diesem Sinn hat sich bereits Rabbi Chija bar Abba nach dem Midrasch zur Genesis (BerR LXXIX zu Gen 33,18) geäußert: So stehe in Hi 8,6, nicht, dass Hiob rein und redlich gewesen sei, sondern so sein werde, Hiob also in seiner Vergangenheit nicht rein und redlich gewesen sei.31 8,8–13 Von der Gefahr der Gottvergessenheit Im Zentrum von Kap. 8 steht ein Traditionsbeweis: Die Erfahrung der früheren Generation bestätige, dass den Frevlern ein böses Ende beschieden sei. Berief sich Eliphas auf die eigene Erfahrung (4,8; 5,3; 5,27) und (in der literargeschichtlich jüngeren Passage in 4,12–21) auf eine nächtliche Offenbarung, so greift Bildad nun auf die althergebrachte Weisheit zurück.32 8,8–10 Weil ein Menschenleben nicht ausreiche, um die Vielschichtigkeit des Lebens zu durchschauen, weil sich Weisheit nur langsam durch die Ansammlung von Lebenserfahrung aufbaue, verweist Bildad auf die Tiefe der Vergangenheit. Dabei geht er, sofern der Text hier richtig überliefert ist,33 noch auf die Generation der Großväter zurück (V. 8a, vgl. Sir 8,9). Das Bewusstsein um die Flüchtigkeit der Lebenstage besitzt auch Bildad (V. 9) – doch bei ihm ist dies nicht Ausdruck existentieller Betroffenheit wie bei Hiob (vgl. 7,1.4; 14,1–2; Ps 144,4),34 sondern ein Bekenntnis zur Begrenzheit menschlicher Erkenntnis, damit aber auch ein argumentatives Mittel, um Hiobs Äußerungen zu relativieren. Die Lehre, die Hiob sich wünscht (6,24), sollen Bildads Auffassung nach die Älteren geben (V. 10). Der Hinweis Bildads entspricht der Erkenntnistheorie der altorientalischen und antiken Weisheit (vgl. 12,12; Sir 2,10 [G]; 8,9) – und doch erscheint der Rückgriff auf die traditionelle Weisheit, hier ausgedrückt durch den Begriff „Herz“ (leb), der im AT und im Alten Orient, zumal in Ägypten,35 in einem umfassenden Sinn die Rationalität und Moralität des Menschen, mitunter die gesamte Person, bezeichnen kann,36 als ein Ausweichen vor der Gegenwart. 8,11–13 Ein typisch weisheitlicher Pflanzenvergleich (vgl. Ps 1,3; 37,2; Jer 17,5–8) illustriert den Gedanken von der vergeltenden Gerechtigkeit Gottes, der den Lebensweg (oder gemäß der LXX die Zukunft) und die Hoffnung des „Gottesverächters“ (ḥānep)37 zugrunde gehen lässt (vgl. 11,20; Spr 1,19; 10,28). Beide Vgl. Wünsche, Bereschit Rabba, 387; Wiernikowski, Hiob, 38. Vgl. Hi 15,18; Ps 78,3–4; Dtn 32,7; Sir 8,9; 25,4–6 (G). 33 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 34 Vgl. Ps 102,12; 109,23; Pred 6,12; 1Chr 29,15; SapSal 2,5; Euripides, Med. 1224; Pindar, P. 8,95–96; Horaz, carm. 4, 7,16. 35 Siehe dazu H. Brunner, Das Herz im ägyptischen Glauben, in: Ders., Das hörende Herz. Kleine Schriften zur Religions- und Geistesgeschichte, OBO 88, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1988, 8–41, und Mayer, Tätigkeiten, 332–340, sowie Abart, Lebensfreude, 35–38. 36 Vgl. Spr 2,2.10; 8,5; 15,28; 16,21.23; 18,15; Ps 90,12; Koh 10,2; Sir 51,20. 37 Vgl. Hi 13,16; 15,34; 17,8; 20,5; 27,8; 34,30; 36,13. 31 32
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Pflanzenbezeichnungen (gomæʾ „Papyrus“; ʾāḥû „Riedgras“) sind äg. Lehnwörter und könnten auf die Herkunft des Gleichnisses aus der äg. Weisheit hindeuten.38 Die an Flussufern und in Sümpfen (biṣṣāh, vgl. 40,21; Ez 47,11) wachsende tropische Papyrusstaude (Cyperus papyrus L.) war in der Antike vor allem im Nildelta verbreitet, sie war (und ist) aber auch in Israel, vor allem im oberen Jordantal, bekannt. Der Papyrus, aus dessen Stengeln in Ägypten bereits seit dem 16. Jh. v.Chr. Schreibmaterial hergestellt wurde, kann einen Durchmesser von 10 cm und eine Höhe von bis zu sechs Metern erreichen, ist dabei jedoch wie das Riedgras auf ständige Feuchtigkeit angewiesen.39 Fehlt diese, geht selbst der hochgewachsene Papyrus in Kürze ein und vertrocknet schneller als Gras.40 Ebenso ergeht es dem Frevler, der die Quelle des Lebens (vgl. Ps 36,10; Jer 2,13; 17,13), nämlich Gott, vergisst (V. 13, vgl. 20,6–8; Ps 1,3–4; 37,2). In der rabbinischen Tradition hat das erste Pflanzengleichnis eine charakteristische Allegorisierung erfahren: Wie nach Hi 8,11 Schilf und Ried nicht ohne Wasser wachse, so sei es Israel unmöglich, ohne die Torah zu leben.41 Von der Gefahr der Selbstsicherheit und der Zugriffsmöglichkeit Gottes
8,14–19
Eine doppelte Naturmetapher kritisiert die Selbstsicherheit des Frevlers. Dessen 8,14–15 „Hoffnung“, hier ausgedrückt mit den zu tiqwāh (V. 13, vgl. 27,8) synonymen Begriffen kæsæl (vgl. 31,24; Ps 78,7) und mibṭāḥ (vgl. 18,14; 31,24), sei so zerbrechlich wie das dünne Gewebe von Sommerfäden und Spinnennetzen (vgl. 27,18). Hoffnung, die nicht in Gott ihren Grund habe, trage nicht und habe keinen Bestand. Ohne dass Bildad Hiob hier direkt anredet, gibt er ihm zu verstehen, dass seine Hoffnungslosigkeit (7,6) Folge einer Gottvergessenheit und er selbst ein Gottesverächter sei. Indirekt ergibt sich für Hiob der dringende Rat, seine Hoffnung auf Gott zu setzen (Ps 71,5; Spr 22,19; Jer 17,7). Doch wie soll Hiob auf denjenigen hoffen, von dem er das Haus seiner Kinder vernichtet sieht (vgl. 1,19 im Gegenüber zu 8,15) und von dem er sich selbst in seinem Leben tödlich bedroht erlebt? Ein weiteres Pflanzengleichnis betont die jederzeit mögliche Zugriffsfähig- 8,16–18 keit Gottes. Nochmals wird das Schicksal des Frevlers in einem Bild, diesmal als sich ausbreitende und wuchernde Schlingpflanze beschrieben, bevor das Naturbild verlassen und summarisch die Anwendung auf den Frevler geboten wird (V. 18, vgl. Ps 37,35–36).42 Dabei ist das eigentliche Subjekt, das den Frevler verschlingt (bālaʿ), Gott, von dem hier indirekt in der 3. P. Sg. gesprochen Vgl. die Lehre d. Amenemope VI,1–12 (TUAT.NF VIII, 332). Zohary, Pflanzen, 137; Häusl, Garten, 146–149. 40 Vgl. Ps 90,5–6; 103,15–16; 129,6; Jes 40,6–7. 41 Josua b. Chananja, Mekhilta zu Ex 17,8 (vgl. Wiernikowski, Hiob, 21). 42 Dagegen versteht Greenstein Hi 8,16–19 als eine zu den vorangehenden Versen kontrastive Beschreibung des Schicksals des Gerechten. 38 39
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wird (vgl. 2,3). Die Folge ist, dass man den Frevler an der Stätte, an der er lebte, nicht mehr kennen will (vgl. 7,10; 20,9). Denn der plötzliche Tod, so die Logik der weisheitlichen Sequenz, offenbart post festum seine Gottlosigkeit und lässt die Umwelt auf Distanz gehen. 8,19 Das Summarium greift wie der Abschlussvers der zweiten Strophe (V. 13) auf die Wegmetaphorik zurück und konstatiert ironisch die Flüchtigkeit der Lebensfreude des Frevlers (vgl. 20,6–7). Der Staub symbolisiert dessen Vergänglichkeit und Bedeutungslosigkeit. Für Hiob, der sich selbst im Staub sieht, muss dies, ebenso wie der Verweis auf andere, die aus dem Staub aufsprossen werden,43 wie bitterer Hohn und wie eine Flucht vor der Wahrnehmung seiner eigenen Situation klingen. 8,20–22 Vom gerechten Gott oder das Wesen der doppelten Vergeltung Charakteristisch für die erste Bildadrede sind ihre schematischen Gegenüberstellungen von gerecht und ungerecht, rein und unrein, fromm und gottlos sowie ihre bedingten Heilsverheißungen an Hiob. Ähnlich wie Eliphas, allerdings nicht in derselben Ausführlichkeit und motivischen Vielfalt (vgl. 5,18–26), malt Bildad am Ende Hiob eine Zukunft aus, die sein einstiges Glück übertreffen wird – unter der Bedingung, dass Hiob Gott sucht, nicht umgekehrt (7,21). In den drei Abschlussversen der Rede wird diese Theologie auf den Punkt gebracht. 8,20 In der Sprache eines ursprünglich dem König zugesprochenen prophetischen Heilsorakels wird dem Frommen die Bewahrung durch Gott, der nicht verwirft (māʾas I, vgl. 36,5), zugesagt. Die Verheißung einer heilvollen Erwählung durch Gott leuchtet hier ebenso auf wie die göttliche Zusage des Beistandes und die Verheißung, sich nicht fürchten zu müssen.44 Sofern hinter V. 20 nicht nur eine königliche und weisheitliche Motivik sowie ein gemeinsamer Sprachgebrauch von Jes 41,8 und Hi 8,20 steht, sondern eine, wie auch in anderen Bereichen der Hiobdichtung nachweisbare Bezugnahme auf Texte aus Deuterojesaja,45 so wird Hiob indirekt das dem unter dem Exil leidenden Gottesknecht Israel zugesprochene Heil vor Augen gestellt. Eine charakteristische Modifikation bietet die LXX , die das Bild auf eine kultische Ebene verschiebt, wenn sie Bildad sagen lässt, Gott nehme keine Opfer der Frevler an (vgl. 20,6 LXX). 8,21 Die Lippen Hiobs, die sich zur Verfluchung der eigenen Existenz und zur leidvollen Klage vor Gott öffneten, sollen von Gott selbst mit Lachen (vgl. Ps 126,2) und mit stürmischem hymnischen Jubel (t erûʿāh) wie etwa im Dank-
Vgl. Hi 1,21 und die dort genannten Parallelen. Vgl. Jes 41,8–13; 42,6; Ps 73,23; 63,9. 45 W. Kynes, Job and Isaiah 40–55: Intertextualities in Dialogue, in: Dell/Kynes (Hg.), Job, 94–105. 43 44
Hi 8 Die erste Rede Bildads
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gebet eines Genesenen (vgl. 33,26) und im Gotteslob im Tempel (vgl. Ps 27,6; 33,3; 150,5) gefüllt werden.46 Scheinbar ohne direkten Bezug zur Klage Hiobs steht der Ausblick auf 8,22 das böse Ende der Frevler. Ein solcher Ausblick ist für die kommenden Freundesreden typisch. 47 Die kontrastive Gegenüberstellung vom Schicksal der Frommen und der Frevler ist charakteristisch für die Spruchweisheit (vgl. Spr 10,28; 14,11; Ps 1,6). Zudem ist der Vers durch das Possessivsuffix in V. 22a („deine Hasser“) und das Motiv der Schande (bôš, bošæt) an die vorausgegangene Rede Hiobs rückgebunden: So qualifiziert sich hier Bildad indirekt als ein Freund Hiobs und weist die Scham zurück, die denjenigen befällt, der auf die falschen Freunde vertraut hat (6,15–30).48 Genau wie das Schlusswort der Rede Hiobs in Kap. 6–7 lautet das letzte Wort der Rede Bildads „weg“ (ʾênænnû) – der Erwartung des unumkehrbaren Endes Hiobs (7,21) stellt Bildad aber das definitive Ende der Frevler gegenüber (vgl. 27,19). Die Negation steht hier im Sinn einer Bejahung des Lebens Hiobs, sofern dieser Gott sucht (V. 5a versus 7,21b) und Gott um Erbarmen (V. 5b versus 7,20b) bittet. Auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches erscheint diese Verheißung auch als eine Antwort auf die Hiob sekundär in den Mund gelegte Frage, warum ihm Gott – sofern er sich denn gegen ihn vergangen habe – nicht vergibt (7,21a). So hat Bildad einerseits sowohl in der ursprünglichen Dichtung als auch in ihrer erweiterten Fassung einzelne Elemente aus der letzten Rede Hiobs aufgenommen. Dennoch gehen seine an der Weisheit der Väter geschulten Ausführungen zur Gerechtigkeit Gottes in Vergangenheit und Zukunft an dem eigentlichen Problem Hiobs in der Gegenwart und an seinen Fragen zum Wesen Gottes und dem Grund seiner Heimsuchung durch Gott vorbei. Denn wie soll sich der von Gott Geschlagene an Gott wenden, wenn er diesen als einen das Leben vernichtenden Dämon erfährt? Andererseits erweist sich auf der Ebene der ,Endgestalt‘ des Buches die Verheißung Bildads als zutreffend: Gott wird den frommen (tām) Hiob (vgl. 1,1.8.; 2,3) nicht verwerfen.
46 Zu den „Lippen“ als Organ des Gottesjubels vgl. Ps 51,17; 63,4.6; 71,23; 119,171 und dazu Abart, Lebensfreude, 185–195. 47 Hi 11,20; 15,34–35; 18,21; 20,29, vgl. Ps 69,26. 48 Vgl. Ps 35,4.26; 40,15–16; 70,4; 109,29.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Hi 9–10 Die zweite Rede Hiobs HD 9,1 GR
Und Hiob hob an und sagte: 2 Wahrlich, ich weiß ja, dass es sich so verhält. Und wie kann der Mensch bei El gerecht sein? 3 Wenn er Lust haben sollte, mit ihm zu streiten, so kann er ihm nicht antworten eins auf tausend. 4 Ein weises Herz und starke Kraft (ist er) – Wer hat ihm je widerstanden und blieb unversehrt? 5 (Er,) der die Berge umwendet, ohne dass sie es wissen, und der sie umwälzt in seinem Zorn, 6 der die Erde erschüttert weg von ihrem Ort, so dass ihre Säulen erzittern müssen, 7 der der Sonne gebietet, so dass sie nicht scheint, und der die Sterne rundherum versiegelt, 8 der allein den Himmel ausspannt und über die Höhen des Meeres1 schreitet, 9 der den Aldebaran und2 den Orion erschafft und die Plejaden und die Kammern des Südens, 10 der Großartiges erschafft, so dass es unerforschlich ist, Wunderbares, so dass es nicht zu zählen ist. 11 Wenn3 er an mir vorübergeht, so sehe ich ihn4 nicht, gleitet5 er an mir vorbei, so nehme ich ihn nicht wahr. 12 Wenn er entreißt, wer kann ihn zurückhalten? Wer kann zu ihm sagen: „Was machst du da?“ 13 Eloah hält seinen Zorn nicht zurück, unter ihn duckten sich die Helfer Rahabs. 14 Um wieviel weniger kann ich6 ihm antworten, kann ich meine Worte ihm gegenüber wählen?
1 Anstelle von jām lesen zwei masoret. Hss und Editionen ʿāb („des Gewölks“), vgl. Jes 14,14. Die Lesart des CodL wird durch den CodA und die Versiones sowie die Motivik unterstützt. 2 Die Kopula we ist zu ergänzen (vgl. LXX; Syr; Vg). 3 Zur Einleitung eines Konditionalsatzes mit hen siehe die Anm. zu Hi 4,18. 4 Das waw-kopulativum aus w-jḥlp in V. 11b ist als Schluss-waw mit ʾrʾh „ich sehe“ aus V. 11a zu verbinden (ʾrʾh-w) und als Objektsuffix -û zu vokalisieren (vgl. Syr; Vg). 5 Siehe die vorhergehende Anm. 6 Erstmals erscheint hier im Hiobbuch das den Verbalsatz verstärkende Personalpronomen ʾānokî „ich“, das nur in Reden Hiobs (9,14.29.35; 12,3; 13,2.22; 14,15; 16,4; 21,3.4; 29,16; 42,4) und zweimal in Reden Elihus (33,9 [in einem Zitat aus einer Hiobrede]; 33,31) gebraucht wird; siehe dazu auch A. Michel, Herausstellungsstrukturen, 133.
Hi 9–10 Die zweite Rede Hiobs
15 16 17 18 19
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Der ich,7 wenn ich im Recht bin, keine Antwort erhalte8. Bei dem, der gegen mich richtet9, müsste ich um Gnade flehen. Wenn ich rufe, auf dass er mir antwortet,10 so glaube ich nicht, dass er meine Stimme zu Ohren bekommt. Er, der hart nach mir im Sturme schnappt und meine Wunden ohne Grund vermehrt, der mir nicht gewährt, meinen Lebensgeist wiederherzustellen,11 sondern mich nur mit Bitternissen sättigt. Wenn es um die Kraft des Starken geht: Hier ist er12 – und wenn um Recht, wer ist zu meinen Gunsten Zeuge13?
20 Wenn ich im Recht bin, erklärt er14 mich zu einem Frevler. Ich bin fromm, aber er erklärte mich für krumm. 21 Ich bin fromm, bin mir nichts bewusst, ich selbst15 verachte mein Leben. 22 Es ist eines, darum sage ich: „Den Frommen und den Frevler – er selbst vernichtet beide.“ 23 Wenn seine Geißel16 plötzlich tötet, spottet er über die Verzweiflung der Unschuldigen. 24 Die Erde ist in die Hand des Frevlers gegeben, das Angesicht ihrer Richter verhüllt er. Wenn denn nicht, wer ist es dann?17 Das einleitende ʾ ašær geht auf den Redaktor zurück, der V. 2–14 eingefügt hat, siehe die Auslegung. Anstelle von ʾæʿ ænæh „[ich] nicht antworten kann“ lies ʾæʿānæh (vgl. Syr; LXX; Th; Hi 9,16; 11,2; 19,7; Spr 21,13). 9 Ein Partizip Poal von šāpaṭ ist nur hier belegt (vgl. J/M § 59a), möglicherweise ist das Substantiv mišpāṭ „Recht“ zu lesen (vgl. Th; Hi 9,19.32; 13,18; 14,3; 19,7; ähnlich J. Gray: baʿal mišpāṭî „my opponent“). 10 Die Fortsetzung in V. 16b zeigt, dass wajjaʿ anenî syntaktisch qārāʾtî untergeordnet ist (vgl. Brockelmann, Syntax § 165a). 11 Zu dieser Auflösung der Wendung šwb (Hif.) + rûaḥ siehe auch Hartley und Seow. Denkbar wäre auch: „der mir nicht gewährt, wieder zu Atem zu kommen“ (vgl. Fohrer; Clines). 12 Da V. 19a im Vergleich zu V. 19b zu kurz ist und zudem fraglich ist, ob hinneh hier wirklich absolut gebraucht ist (so G/K § 147 b; Horst), ist zu überlegen, ob nicht hinneh hûʾ oder hinnehû zu lesen ist; Hartley und Clines ziehen darüber hinaus ʾammîṣ zu hinnehû: „er ist der einzig Starke“. 13 Anstelle von jôʿîdenî „(wer) lädt mich vor“ (vgl. Weiser) lies nach zwei Hss j eʿidenî (von ʿwd II, vgl. Seow; Hi 29,11). Sofern man bei einer Form von jāʿad (Hif., „vorladen“) bleiben will, empfiehlt sich jedoch, jôʿîdænnû „(wer) lädt ihn vor“ zu lesen (vgl. LXX [„Wer also wird seinem Urteil widerstehen?“]; Syr; Jer 49,19; 50,44). 14 Das im MT bezeugte Subjekt pî „mein Mund“ ist sekundär (vgl. aber Hi 15,6); die von BHK vorgeschlagene Lesart pîw „sein Mund“ entspricht dem Sinn des Verses, überlastet ihn aber kolometrisch. 15 napšî ist gegen die masoret. Versteilung aus kolometrischen Gründen als Subjekt zu V. 21b zu ziehen; dementsprechend ist anstelle von ʾæmʾas „ich verachte“ die 3. P. Sg. fem. timʾas zu lesen. Andere Ausleger füllen V. 21b frei auf (Horst: ṣādaqtî oder ṣaddîq ʾanî „ich bin im Recht“; vgl. Kaiser). 16 Oder: „Flut“ (so Fohrer nach šôṭ II, vgl. Jes 28,15.18; 1QHa XIV,35[38]); das Suffix der 3. P. Sg. ist zu ergänzen (šôṭô, vgl. Syr). 17 Die schwierige Wortfolge kann trotz bzw. gerade wegen der masoret. Vermutung (Sebir) beibehalten werden. Dagegen folgen Hölscher, Fohrer, J. Gray u.a. dem Sebir und ändern in ʾm-lʾ hwʾ mj ʾpwʾ; Clines erwägt auch ʾm-lʾ hwʾ ʾpwʾ mj. 7
8
HD
190 25 26 27 28 29
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Meine18 Tage waren schneller als ein Läufer, sie flohen und sahen nichts Gutes. Sie glitten vorbei wie Papyrusschiffe, wie der Geier herabstößt auf die Beute. Wenn ich sage19: „Ich will meine Klage vergessen, ein anderes Gesicht machen20 und fröhlich werden“, dann fürchte ich alle meine Schmerzen, ich weiß, dass du mich nicht unschuldig sein lässt. Ich soll mich ja als Frevler erweisen, wozu mühe ich mich vergeblich ab?
30 Wenn21 ich mich mit Schneewasser22 wüsche und mit Laugensalz meine Hände reinigte, 31 so würdest du mich doch in die Grube tauchen, und meine Kleider würden mich verabscheuen. 32 Ja, er ist kein Mann wie ich, dass ich ihm antworten könnte, dass wir zusammen vor Gericht gehen könnten. 33 Wenn23 es doch einen Schlichter gäbe zwischen uns, so dass der seine Hand auf uns beide legte, 34 damit er24 seinen Stock von mir wegnimmt und sein Schrecken mich nicht überfällt! 35 Ich will reden und ihn nicht fürchten, denn so steht es noch nicht um mich.25 10,1 Meine ,Seele‘ ekelt sich vor meinem Leben, ich will meiner Klage freien Lauf lassen, ich will reden in der Bitternis meiner ,Seele‘, 2 Ich will zu Eloah sagen: „Erkläre mich nicht zu einem Frevler, lass mich wissen, weswegen du gegen mich streitest.“ 3 Ist es gut für dich, dass du mich unterdrückst, dass du die Mühen deiner eigenen Hände verachtest und über dem Rat der Frevler Licht scheinen lässt? Das einleitende waw „und/aber“ ist zu streichen (vgl. zwei Hss; Syr; Tg; Vg). Anstelle von ʾåmrî „mein Sagen“ lies ʾāmartî (vgl. HsK192 ; LXX; Tg; Vg). 20 Der Ausdruck ʿāzab pānîm „das Gesicht sein lassen“ ist nicht ganz klar. Gemeint ist offenbar, den jetzigen von Trauer gekennzeichneten Gesichtsausdruck aufzugeben. Die Existenz einer Wurzel ʿzb II „wiederherstellen“ (vgl. HAL; DCH) ist unsicher. 21 ʾim steht hier im Sinn von lû zur Einleitung eines Irrealis (vgl. J/M § 167f). 22 So nach dem Qere (vgl. viele Hss; Syr; Tg; Vg). LXX folgt dem Ketib (bemô) „mit Schnee (šælæg)“. Häufig wird ein šælæg II als Bezeichnung eines Reinigungsmittels angenommen (vgl. aram. šalgāʾ; DCH; Hartley; Clines; Fohrer: „Seifenkraut“). Seow vermutet eine bewusste Verwendung des Homonyms šælæg. 23 Anstelle von loʾ „nicht“ (vgl. Weiser) lies luʾ (vgl. einige Hss; LXX; Syr; Hi 16,4; Num 22,9). 24 D.h.: Gott. 25 V. 35b ist aufgrund der verkürzten Formulierung vieldeutig; möglicherweise ist gegen die masoret. Akzentuation ʾānokî stärker mit ʿimmādî zu verbinden: „ich selbst bin ganz bei mir“ (vgl. Seow). 18 19
Hi 9–10 Die zweite Rede Hiobs
4 5 6 7
Hast du Augen des (vergänglichen) Fleisches? Oder siehst du so, wie ein Mensch sieht? Sind deine Tage wie die Tage eines Menschen oder wie die Tage eines Mannes deine Jahre, dass du (nur) suchst nach meiner Schuld und dich um meine Sünde kümmerst, obwohl26 du weißt, dass ich nicht frevle und es aus deiner Hand keinen Befreier gibt?
8 9 10 11 12
Deine Hände haben mich gestaltet und mich geschaffen, danach hast du dich gewandelt27 und mich verschlungen. Bedenke doch, dass du mich wie28 Ton geschaffen hast und dass du mich zum Staub zurückführen wirst. Hast du mich nicht wie Milch hingegossen und mich wie Molke gerinnen lassen, mich mit Haut und Fleisch bekleidet und mit Knochen und Sehnen mich umflochten?29 Leben und Barmherzigkeit hast du mir geschenkt30, und deine Fürsorge war es, die meinen Lebensgeist bewahrte.
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13 Aber du hast jenes in deinem Herz verwahrt, ich weiß, dass du solches vorhast: 14 Wenn ich sündige, dann beobachtest du mich und lässt mich von meiner Schuld nicht frei31 sein. 15 Wenn ich gefrevelt habe – dann wehe mir! Und wenn ich im Recht bin, erhebe ich nicht mein Haupt, satt an Beschwerden und gesättigt32 mit meinem Elend.
Zum konzessiven Gebrauch von ʿal siehe Brockelmann, Syntax § 110b; J/M § 171e. Anstelle von jaḥad sābîb „gleichsam rundherum“ im Sinn von „kunstvoll“ (vgl. Weiser) oder „gleichzeitig, von allen Seiten“ (CTAT 50/5, 60) lies ʾaḥar sabbôtāʾ (vgl. LXX). 28 k-/ka- „wie“ könnte eine Verschreibung von m/me „aus“ sein (J. Gray). 29 Zur doppelten, sich über zwei Verse erstreckenden rhetorischen Frage siehe Watson, Poetry, 339f; zum Gebrauch der PK in V. 10–11 als Ausdruck der begleitenden Nebenhandlung zu V. 10a und 12 vgl. Bobzin, Tempora, 167. 30 Wörtl.: „an mir getan“. Die Wendung ḥajjîm wāḥæsæd ist einmalig in der hebr. Bibel, sie wird aber grundsätzlich durch die Versionen unterstützt; zu einer Vielzahl von Konjekturen siehe Clines sowie A. Pinker, On the Meaning of חיים וחסד עשית עמדיin Job 10,12a, ZAW 126 (2014), 106–110, dessen eigener Vorschlag, ḥajjîm zu V. 11 zu ziehen und in V. 11 anstelle von t esokekenî taškenenî zu lesen, weder poetologisch noch sachlich überzeugt. 31 Wörtl.: „unschuldig“ (nqh Pi.), wie in Hi 9,28. Zur Problematik der ,sekundären Kongruenz‘ siehe die Einleitung, S. 17. 32 Anstelle von r eʾeh „siehe/betrachte“ lies dem Parallelismus entsprechend r eweh. Clines hält r eʾeh für eine orthographische Variante von r eweh. Seow bleibt beim MT und interpretiert den Imperativ r eʾeh im Sinn eines Inf., den er partizipial übersetzt: „experiencing affliction“. 26 27
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
16 Aber erhöbe es33 sich, so jagtest du mich wie ein Leu34, auf dass du wieder wunderlich handeltest an mir. 17 Du erneuertest deine Zeugen35 gegen mich und vermehrtest deinen Unmut gegen mich, stelltest dein Heer neu auf36 gegen37 mich. 18 19 20 21 22
Aber wozu führtest du mich aus dem Mutterleib? Wäre ich doch verschieden, kein Auge hätte mich je gesehen! Ich wäre dann, als hätte ich nie gelebt, wäre aus dem Schoß zu Grab getragen. Sind denn nicht nur ein wenig die Tage meines Lebens38? Blicke weg39 von mir, und ich will ein wenig fröhlich werden, bevor ich hingehe und nicht mehr zurückkehre, ins Land von Finsternis und dunklem Schatten, ins Land von tiefem Finstern wie (von) Dunkelheit, von dunklem Schatten und von Ordnungslosigkeit, und wo es strahlt wie Dunkelheit.
Literatur Albani, M.: „Kannst Du die Sternbilder hervortreten lassen zur rechten Zeit…?“ (Hi 38,22). Gott und Gestirne im Alten Testament, in: B. Janowski/B. Ego (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte, FAT 32, Tübingen 2001, 181–226. – Egger-Wenzel, R.: Von der Freiheit Gottes, anders zu sein. Die zentrale Rolle der Kapitel 9 und 10 für das Ijobbuch, fzb 83, Würzburg 1998. – Frevel, C.: Die Entstehung des Menschen. Anmerkungen zum Vergleich der Menschwerdung mit der Käseherstellung in Ijob 10,10, BN 130 (2006) 45–57. –Ders.: Schöpfungsglaube und Menschenwürde im Hiobbuch. Anmerkungen zur Anthropologie der Hiob-Reden, in: T. Krüger u.a. (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, AThANT 88, Zürich 2007, 467–497. – Schellenberg, A.: Der Mensch, das Bild Gottes? Zum Gedanken einer Sonderstellung des Menschen im Alten Testament, AThANT 101, Zürich 2011.
33 D.h.: mein Haupt (vgl. V. 15aβ; so auch CTAT 50/5, 64; Seow). Eine Änderung von jigʾæh in ʾægʾæh „höbe ich (es/mich) empor“ (so Weiser; Clines) ist nicht nötig. 34 Möglich wäre auch ein Bezug des Vergleichs auf Hiob, der sich von Gott wie ein Löwe gejagt erlebt (vgl. LXX; Vg; Fohrer; Fuchs, Mythos, 212), doch siehe die Auslegung. 35 Die Existenz eines ʿ adî II „Attacken/Truppen“ (DCH; J. Gray) oder „Feindschaft“ (Clines) ist ungesichert (vgl. Grabbe, Philology, 63–66; Seow). 36 Anstelle von ḥ alîpôt w eṣābāʾ „(Reserve-)Truppen und Heer“ (vgl. 1QM XVI,12; anders Clines: „release – then hard struggle“) lies taḥ alîp ṣ ebāʾ kā (vgl. LXX; J. Gray: taḥ alîp ṣ ebāʾôt; Seow: ḥillaptā ṣābāʾ). H.-P. Müller, Semantik, 124–126, behält den MT unverändert bei, versteht aber V. 17b als einen selbstständigen Satz, in dem ḥ alîpôt anstelle eines Prädikats und ṣābāʾ (hier wie in Hi 7,1 im Sinn von Fron als Metapher für Leid) und als mit einem emphatisierenden w e angeschlossenes Subjekt stehe („mein Frondienst würde sich [stetig] erneuern“). 37 Im kriegerischen Kontext steht die Präp. ʿim „mit“ im Sinn von „gegen“. 38 Anstelle von jāmaj jaḥ adāl (Qere: waḥadāl, Ketib: jæḥdāl; „meine Tage, lass ab/er lasse ab“ – vgl. Hi 7,16; 14,6) lies j emê ḥældî (vgl. viele Hss; LXX; Syr; Ps 39,6; 89,48). CTAT 50/5, 66, bleibt (wie Seow) beim MT, versteht aber meʿaṭ jāmaj als Constructus-Verbindung und als Subjekt: „Estce que mon peu de jours ne va pas cesser?“. 39 Anstelle von j ešît (Qere; viele Hss; LXX; Syr; Vg wešît, Ketib jāšît – „und setze/er setze“) lies š eʿeh (vgl. Hi 7,19; Ps 39,14); J. Gray korrigiert aus ähnlichen Erwägungen in š ebôt „höre auf “.
Hi 9–10 Die zweite Rede Hiobs
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Bei der zweiten Rede Hiobs handelt es sich inhaltlich und literargeschichtlich um einen Schlüsseltext der gesamten Hiobdichtung. Sie bietet einerseits die schärfsten Anklagen Hiobs gegen Gott. Andererseits enthält sie hymnische Elemente, die der Tendenz der vierten Elihurede (vgl. besonders Hi 36,22–37,24) und der Gottesreden (vgl. insbesondere Hi 38,1–35; 40,6–14) entsprechen. Hinzu kommt eine für die Hiobdichtung in dieser Konzentration einmalige Verknüpfung gerichtstheologischer und schöpfungstheologischer Argumente. In besonderer Weise korrespondiert die Rede in einzelnen Abschnitten mit Ps 139.40 Die kosmologischen Ausführungen in den hymnischen Passagen von Kap. 9 entsprechen altorientalischen Weltbildvorstellungen, sie haben zahlreiche begriffliche und motivische Parallelen vor allem in ug. und mesopotamischen Mythen und Kosmologien sowie in atl. Schöpfungspsalmen (Ps 104; 147). Ebenso berühren sich die anthropologischen Stücke in Kap. 10 mit Motiven aus äg., mesopotamischen und griech. Texten zur Erschaffung des Menschen. Die Rede wird eröffnet mit einer rhetorischen Frage zum Verhältnis zwischen menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit (9,2), die sich fast wörtlich mit 4,17; 15,14 und 25,4 berührt, einer theologischen These zur Unangreifbarkeit Gottes (9,3–4) und einer im hymnischen Partizipialstil formulierten doxologischen Entfaltung dieser These (9,5–10.11–13). Die Exposition mündet in dem Wunsch Hiobs, mit Gott zu streiten (9,14). Eine direkte Anrede der Freunde fehlt im Gegensatz zur ersten Rede Hiobs (vgl. 6,15–30). Die eigentliche Rede ist zweigeteilt. In ihrem ersten Hauptteil bildet sie eine Klage über die Willkürmacht Gottes (9,15–34). Der zweite Hauptteil stellt einen Appell an die Barmherzigkeit Gottes dar (10,3–22). Zwischen beiden Hauptteilen steht ein kurzes, drei Verse umfassendes Verbindungsstück, das zur direkten Anrede Gottes überleitet (9,35–10,2). Der Umfang der einzelnen Strophen der beiden Hauptteile beträgt durchgehend viermal fünf Bikola (9,15–19|20–24|25–29|30–34 bzw. 10,3–7|8–12|13–17|18–22). Stilistisch fallen die vielen Versanfänge mit dem ersten Buchstaben des Alphabets Aleph auf.
Aufbau und Sprachformen
In 4QHib ist ein Bruchstück von Hi 9,27 erhalten, das mit dem Text, wie er Text- und vom MT repräsentiert wird, identisch ist. In LXXZi sind 9,3b.15b.24aβ.b und Literar10,4b asterisiert.41 Im Fall von 10,4b handelt es sich aber um eine Doppelüber- geschichte setzung, da V. 4aLXX V. 4bMT entspricht und da V. 4aMT in der LXX ursprünglich fehlte.42 Die stilistischen, form- und motivgeschichtlichen Auffälligkeiten sowie die inhaltlichen Widersprüche der Rede erklären sich mittels der Annahme eines literarischen Wachstums. Die Geschichte der literarischen Entstehung von Hi 9–10 erschließt sich vor dem Hintergrund der begrifflichen Parallelität zwischen 9,2 und dem sekundären Abschnitt in 4,12–21. Hi 9,2 hat keine Vgl. Kynes, Psalm, 101–121. Nach Gentry, Asterisked Materials, 537, ist die Asterisierung von Hi 9,3b in LXXZi allerdings ein Fehler (vgl. auch Cox, NETS-Job). 42 Vgl. Gentry, Asterisked Materials, 517. 40 41
194
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
argumentative und begriffliche Beziehung zur vorangegangenen Bildadrede in Kap. 8. Der Vers bietet keine den anderen Hiobreden vergleichbare Eröffnung in Gestalt einer direkten Anrede der Freunde (vgl. aber 6,24; 12,2; 16,2; 19,2; 21,2). V. 2–4 stehen in erheblicher Spannung zu dem in 9,15–10,2 (vgl. 13,19 und 23,6) vertretenen Wunsch Hiobs, mit Gott zu streiten. Zum anderen nehmen sie Hiobs Antwort(en) auf die Gottesrede(n) vorweg. 43 Der Abschnitt ab 9,15 bestreitet, dass Gott für Hiob ein „weises Herz“ besitzt. Die V. 5–10 hingegen mit der Verherrlichung von Gottes Schöpfermacht entfalten die These aus V. 2–4. Diese hymnisch geprägte Passage bietet bereits wesentliche Argumente der Gottesrede.44 Somit gehören mindestens die V. 2–10 als eine eigene sekundäre Größe zusammen. V. 11–12 sind mittels der Objektsuffixe lô („ihm“) und ʾelâw („zu ihm“) mit V. 10 verbunden. Sie finden sich inhaltlich und stilistisch kongruent in 12,14–15; 23,8–9.12–13 und 36,23 wieder und dürften daher ebenfalls sekundär sein. V. 13–14 schließlich bilden ein mythologisch formuliertes (vgl. 26,11–13) Unterwerfungsbekenntnis Hiobs, das wie 9,2 die Antwort in 40,5 (vgl. 42,2) vorwegnimmt. Die Verbindung zwischen V. 14 und V. 15 über das kolometrisch überschießende, unpoetische Relativpronomen ʾ ašær signalisiert den redaktionellen Eingriff. So bilden die V. 2–14 wohl insgesamt eine literargeschichtlich spätere Einlage.45 Sie hat vermutlich die ursprüngliche Einleitung der dritten Hiobrede in Kap. 9–10 verdrängt. Ihre Funktion ist es, die radikalen Anklagen Gottes zu entschärfen und Hiob dem Idealbild des Weisen und Gerechten, wie ihn der Prolog zeichnet, anzugleichen. Insofern 9,2–14 von 4,12–21 abhängt, dürfte es sich um eine jüngere Redaktionsschicht, die Gerechtigkeits- oder die Majestätsredaktion, handeln. Eine Besonderheit sind die vielen Trikola (vgl. 9,24; 10,1.3.15.17.22). Vielleicht mit Ausnahme von 10,22, wo das Trikolon am Ende der Rede steht, dürften die Trikola in Kap. 9–10 auf eine sekundäre Glossierung zurückgehen.46 Hingegen ist 9,29 metrisch zu kurz.47 Dass Kap. 10 (mit Ausnahme von V. 1) insgesamt sekundär ist,48 ist nicht wahrscheinlich.
Vgl. besonders Hi 9,2 mit 42,2; 9,3 mit 40,5 und 9,10 mit 42,3. Vgl. Hi 9,8 mit 38,5 und 9,9 mit 38,31.32. 45 Dass Hi 9,2–14 bzw. Teile spätere Einlagen sind, wurde in der Forschung schon lange gesehen. So betrachteten z.B. Budde und Duhm Hi 9,8–10 als sekundär, Volz und Fohrer Hi 9,5– 10, Baumgärtel, Hiobdialog, 41f, Hi 9,4–10, Wanke, Praesentia Dei, 221–231, Hi 9,3–13 (als Teil der „weisheitskritischen Bearbeitung“), Vermeylen, Metamorphoses, 110f; 182, Hi 9,5–13 (als Teil einer „zweiten und dritten Buchredaktion“). 46 Vgl. auch Hölscher; Fohrer (nicht im Fall von 10,1) und J. Gray, die zusätzlich ganz oder teilweise auch Hi 10,16 als sekundär, aber 10,17 als ursprünglich betrachten, sowie de Wilde (10,3b.15b.17b.22*[k emô ʾopæl ṣalmawæt]). 47 HsK191 liest zusätzlich loʾ „nicht“, was aber der Argumentation widerspricht. BHK schlägt vor, hen „siehe“ zu ergänzen. Duhm und Hölscher betrachteten den Vers als prosaische Glosse zu V. 30. 48 So Wanke, Praesentia Dei, 164–168 (9,17–18.24b(c).31; 10,2–22 als Teil einer „kultkritischen Bearbeitung“); vgl. auch Vermeylen, Métamorphoses, 181f, der in Kap. 10 nur V. 2–3*.15aβ–19 für ursprünglich hält. 43 44
Hi 9–10 Die zweite Rede Hiobs
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Gottes unvergleichliche kosmische Macht und Unnahbarkeit
9,1–14
Die Auslegung der gesamten Rede wird dadurch erschwert, dass die ursprüngliche Einleitung wohl nicht erhalten und an ihre Stelle eine vor allem aus hymnischen Elementen zusammengesetzte Eröffnung getreten ist. 9,1 S.o. zu Hi 6,1.49 Hiob stimmt gemäß der sekundären Redeeröffnung offenbar der zuletzt von 9,2–4 Bildad vertretenen These von der doppelten Vergeltung (8,3) zu. Er bekennt sich zu dem von Eliphas in 5,24–27 bezeugten traditionellen Wissen der Weisen (8,9–10) und nimmt die Frage nach der Gerechtigkeit des Menschen vor Gott auf, die in dem später in die Hiobdichtung eingefügten Nachtgesicht des Eliphas gestellt wird (4,17, vgl. 15,14; 25,4; Ps 143,2). Nun behauptet auch Hiob, dass der Mensch vor Gott nicht gerecht sein könne, weil Gott nicht mit sich streiten lasse (vgl. Pred 6,10). Erstmals erscheint hier innerhalb einer Hiobrede das Bekenntnis „ich weiß“ (jādaʿtî), das jeweils an Schlüsselstellen der Beschreibung Hiobs und seiner Gottesbeziehung auftaucht.50 Ebenfalls erstmals begegnet hier auch der für die weitere Auseinandersetzung Hiobs mit Gott charakteristische juridische Begriff „einen Rechtsstreit führen“ (rîb, V. 3).51 Vor Gottes Weisheit und Macht müsse der Mensch verstummen. Wer mit seinem Schöpfer streite, über den ergehe ein Weheruf (hôj), der, seiner Herkunft aus der Klage über einen Toten entsprechend (vgl. 1Kön 13,30), den Streitenden schon im Machtbereich des Todes sieht (vgl. Jes 45,9). Diese Verse stehen quer zur Argumentation in Kap. 6–7. Ist Hiob von seinen beiden Freunden bereits widerlegt? Erkennt Hiob, der noch in 7,12–20 über die dämonische Seite Gottes klagte, nach den schematischen Ausführungen Bildads zur Gerechtigkeit Gottes, nun doch die Weisheit und Stärke Gottes an (vgl. Jes 40,26; Sir 15,18–20)? Wie kann er dem Gott, der dem Menschen nachspürt, nur um ihn zu vernichten, ein „weises Herz“, einen sich selbst und seiner Gottheit verantwortlichen Umgang mit seinem wehrlosen Geschöpf zuerkennen (V. 4, vgl. 12,13; 36,22–24)? Zitiert oder paraphrasiert Hiob hier die Meinung der Freunde, so dass 9,2b–4 nicht seine eigentliche Position darstellt (vgl. 4,17; 5,1–2; 8,3.6.20)? Handelt es sich um eine Ironisierung oder Parodierung einer einst auch von Hiob geteilten, aber durch die jetzige Situation obsolet gewordenen Überzeugung? Die Zuschreibung von Weisheit an Gott gehört jedenfalls zum Motivschatz des altorientalischen Schöpferlobs.52 Für den Verfasser, der diese Verse einfügte, stellen sie wohl ein Gegengewicht gegen die allzu aggressiven Töne Hiobs gegen Gott in Kap. 7 und ab 9,15 dar. Vgl. Hi 12,1; 16,1; 19,1; 21,1; 23,1; 26,1. Vgl. Hi 9,28; 10,13; 19,25; 23,3; 30,23; 42,2. Mit Ausnahme von 32,22 erscheint das Verb jādaʿ in der 1. P. Sg. nur im Munde Hiobs. 51 Vgl. Hi 10,2; 13,19; 23,6; 31,35; 33,13; 40,2; Jer 12,1; siehe dazu G. Liedke, Art. rīb streiten, THAT II (62004) 771–777. 52 Vgl. z.B. die Eingangszeile des Lud. I,1 (TUAT III, 114) oder das akkad. Šu-illa-Gebet Ea 1 1 (Lenzi, Akkadian Prayers, 221, 240). 49 50
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Theologisch ergibt sich dadurch die Spannung zwischen der Vorstellung einer absoluten und einer relativen Gerechtigkeit, die der Mensch vor Gott haben kann. Für den Hiob der ,Endgestalt‘ des Buches stehen die absolute Gerechtigkeit Gottes und die Unmöglichkeit des Menschen, vor Gott gerecht sein zu können, fest, ohne dass dadurch Gott als ungerecht erscheint (vgl. 42,2). 9,5–10 Die These von der Unangreifbarkeit Gottes wird hymnisch untermalt. In Formulierungen, die ihren ursprünglichen Ort im Gotteslob der um den Tempel versammelten Gemeinde haben, beschreibt Hiob die Macht des Schöpfergottes.53 Zur Verdeutlichung der Gewalt des Schöpfergottes dienen kosmische und meteorologische Phänomene, die antike Menschen in besonderer Weise beeindruckten: das Beben der Berge und der Erde bzw. der Pfeiler, auf denen diese nach altorientalischer Vorstellung ruht (V. 5–6), 54 das Strahlen und Sich-Verfinstern der Sonne und der Sterne, die mittels des Motivs vom Siegeln (ḥātam) zugleich als Eigentum Gottes charakterisiert werden (V. 7),55 das Aufgespanntsein des Himmels (V. 8a),56 das Niedertreten, d.h. das Eindämmen der darüber gedachten himmlischen Wasser (V. 8b),57 so dass diese nicht auf die darunter befindliche Erde herabfließen, und die Erschaffung der Sternenbilder (V. 9). Für diese werden exemplarisch der Aldebaran (ʿāš/ ʿajiš, Ἀρκτοῦρος, vgl. 38,32, ein Stern im Sternbild des Stieres), der Orion (kesîl, ᾽Ωρίων, vgl. 38,31),58 die Plejaden (kîmāh, Πλειάς, „Siebengestirn“, vgl. 38,31; Am 5,8) und die Kammern des Südens, d.h. der Südhimmel (vgl. 37,9) genannt.59 Entsprechend erscheint die Folge dieser Sternbilder in der griech. Vgl. Ps 104; 147; 148; Am 4,13; 5,8; Sir 42,15–43,33. Vgl. Hi 14,18; 18,4; 26,11; Ps 18,8; 75,4; 82,5; 97,5; 104,5; Jes 13,13; Nah 1,5; Hab 3,6; 1QHa XI,34–35(35–36). Zur Verortung dieses Motivs im Kontext von altorientalischen und atl. Theophanieschilderungen siehe Jeremias, Theophanie, 23; 89; 123f, sowie Scriba, Geschichte, 53–64. Ein Beispiel von vielen aus altorientalischen Texten findet sich im akkad. Gebet an Ištar SAHG Nr. 61 (S. 329,17). 55 Vgl. Hi 25,5; 33,16; 37,7; Jes 40,26; Bar 3,34–35. Die Vorstellung, dass Jhwh auch Macht über die Sonne hat, ist eine Folge der vor allem seit neuassyrischer Zeit erfolgten Zuschreibung von Kompetenzen, die im Alten Orient und in Ägypten einzelne Sonnengottheiten hatten, an Jhwh (siehe dazu B. Janowski, JHWH und der Sonnengott. Aspekte der Solarisierung JHWHs in vorexilischer Zeit, in: Ders., Die rettende Gerechtigkeit, 192–219). Im Hiobbuch ist diese religionsgeschichtliche Entwicklung längst abgeschlossen. 56 Vgl. Hi 26,7; Ps 104,2; Jes 40,22; 42,5; 44,24; 45,12; 51,13.16; Jer 10,12; Sach 12,1; 51,15; Sir 43,12; 1QHa IX,11(13); 11QPsa XXVI,14 (Houtman, Himmel, 212f; 216; Scriba, Geschichte, 39; C. Koch, Wohnstatt, 98–105). Die Metapher vom „Himmelszelt“ könnte „den sichtbaren Himmel als königlichen Baldachin des ‚über dem Erdkreis‘ thronenden JHWH meinen“ und traditionsgeschichtlich auf das „kosmologisch konnotierte persische (Welt-)Herrschaftssymbol des Thronbaldachins“ zurückgehen (Hartenstein, Angesicht, 164f). 57 Vgl. Hi 26,12; Ps 29,3; 93,4; Hab 3,8.15. Dagegen bezieht Houtman, Himmel, 218; 267f, das Wort jām an diesen Stellen auf das irdische Meer. H.-P. Müller, Mond, 215, der auch die Lesart ʿāb („Gewölk“) in Betracht zieht – s. Anm. zur Übersetzung – erwägt die Wellenberge bzw. den Rücken des Meeres(-drachens). 58 Vgl. Am 5,8; Jes 13,10 (Pl.); 4Q381 frgm. 1,5 (Pl.); ein altbab. Opferschaugebet bei Nacht 18 (TUAT II, 718f). 59 Siehe dazu ausführlich Albani, Sternbilder; ders., Siebengestirn. Halpern, Astronomies, 260, identifiziert ʿāš/ʿajiš mit dem Löwen (vgl. Tg). 53
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Literatur.60 Ikonographisch begegnen die Plejaden im Alten Orient auf zahlreichen Siegeln, zumeist als sieben Punkte oder sieben Sterne, häufig im Verbund mit dem Morgen/-Abendstern (Venus), dem Symbol der Göttin Ištar, und der Mondsichel, dem Symbol für den Gott Sin.61 Literarisch sind sie wohl erstmals in Sumer unter der Bezeichnung MUL.MUL/MÚL.MÚL belegt, dann sicher bei Assyrern und Babyloniern unter der Bezeichnung zappu sowie bei den Griechen.62 In der bab. Mythologie unterstehen sie der Verfügung Marduks („Deine Helfer sind die Plejaden, (du) wahrhafter und gerechter Richter der Götter und Göttinnen“),63 in der griech. Mythologie der des Zeus. Hier steht hinter dem Gefüge des Kosmos und der ihm innewaltenden Ordnung allein der eine Schöpfergott Jhwh, der unergründliche Wunder tut. Aus diesen Versen spricht zugleich die religionsgeschichtlich bedeutsame Unterordnung kosmischer Phänomene unter den Willen des einen Gottes Jhwh. Doch auch hier erhebt sich die Frage: Wie verhalten sich diese doxologischen Aussagen Hiobs zur Bestreitung der Schöpfermacht in der Eingangsklage in Kap. 3 oder zu den Schilderungen von Gottes Affinität zum Chaos in Kap. 6–7? Schwenkt Hiob jetzt auf die Position der Freunde um (vgl. 5,9 mit 9,10; 37,5; Ps 145,3), kehrt er zurück zu einer einst auch von ihm geteilten und im öffentlichen Kult gepflegten Verehrung des gerechten Schöpfergottes? Setzt sich hier die ironisierende Zitation der Freunde fort, die dann im Folgenden abgewiesen würden, so dass die Verse als ein Beispiel von Sarkasmus angesprochen werden müssen?64 Oder liegt der Akzent auf dem hier erstmals ausdrücklich im Hiobbuch auftauchenden Motiv vom Zorn (ʾap) Gottes (V. 5),65 der die Berge und die Säulen der Erde, Symbole von Festigkeit und Standhaftigkeit,66 zum Erzittern bringt (vgl. 26,11)? Beschreibt der entwurzelte Hiob hier in Verfremdung des Gotteslobs seine durch Gottes Zorn verursachte Erschütterung im Bild der von Gott ins Wanken gebrachten Gebirge? Als literargeschichtlich jüngere Einlage dürfte der doxologische Vorbau dieses Abschnitts dazu dienen, die in den folgenden Versen ausgedrückten Anklagen Gottes in den Rahmen eines grundsätzlichen Bekenntnisses Hiobs zu Gottes Schöpfermacht zu stellen. Nach dem doxologischen Formelvers, der die Wunder Gottes beschreibt, 9,11–12 reflektiert Hiob sein eigenes Geschick angesichts der göttlichen Schöpfermacht.
60 Vgl. Homer, Il. 18, 483–489; Od. 5, 272–276; Hesiod, erg. 565–566; 608–616; Euripides, Hel. 1488–1489; Ion 1150–1158. 61 Siehe z.B. ANEP Nr. 534; 658; Cornelius, 294 (Abb. 83); IPIAO IV, 106f. 62 Siehe dazu knapp J.J. Hess, Die Sternbilder in Hiob 9,9 und 38,31 in: T. Menzel (Hg.), Festschrift G. Jacob, Leipzig 1932, 94–99, und ausführlich Albani, Sternbilder, 139–207, sowie die Auslegung von Hi 38,31–34. 63 Aus dem Gebet an Marduk und die Plejaden SAHG Nr. 45 (S. 301f, hier: 302). Zu Marduks Macht über die Sterne siehe auch EnEl. IV,17–28; V,1–23 (TUAT.NF VIII, 106f, 113) und SAA 3,9 (TUAT II, 767) und dazu Albani, Sternbilder, 208–213, sowie C. Koch, Wohnstatt, 111–113; 116f. 64 So z.B. Alonso Schökel, Manual, 162, oder Dell, Wisdom, 42, die von einer besonders gewitzten Parodie des traditionellen Schöpferlobs (vgl. z.B. Ps 104) spricht. 65 Siehe dazu die Auslegung von Hi 3,26 sowie begrifflich explizit Hi 9,13; 10,17; 14,13; 16,9; 19,11. 66 Siehe dazu auch Houtman, Himmel, 239f.
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Gott entzieht sich Hiobs Blick und Wort (vgl. 11,10; 23,8–9).67 Damit knüpft Hiob einerseits an die Frage nach der Möglichkeit, Gott zur Rechenschaft zu ziehen, aus V. 2b an (vgl. Jes 43,13; 45,9; SapSal 12,12). Andererseits beschreibt er im Gegensatz zur Erfahrung des bedrohlich nahen Gottes in 7,12–19 nun die Erfahrung von dessen Unverfügbarkeit und Verborgenheit. Anders als Mose, der den an sich vorüberziehenden Gott als den Barmherzigen erfährt (Ex 34,6), erlebt Hiob die Macht des Zornes Gottes. So erscheinen V. 11–14 als eine Auslegung der Gnadenformel aus Ex 34,6–7, bei der, anders als in ihrem eigentlichen Sinn, das Schwergewicht auf dem Aspekt des Zornes Gottes liegt. 5 Da kam der Herr hernieder in einer Wolke und trat daselbst zu ihm. Und er rief aus den Namen des Herrn. 6 Und der Herr ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, 7 der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied. 8 Und Mose neigte sich eilends zur Erde und betete an. (Ex 34,5–8 LB)
9,13–14 Im mythischen Bild der vom Schöpfergott einst niedergerungenen Chaoswesen, der Rahab und ihrer Helfer (vgl. 26,12–13),68 versprachlicht Hiob, wie bereits in 3,8 und 7,12 auf der Ebene der Grundschicht der Dichtung,69 seine Erfahrung des von Gott verursachten Leidens. Das Motiv des Zornes, vor dem sich in der Urzeit Rahabs Gehilfen beugen mussten, bildet die Klammer zu den durch die Zeiten hindurch immer wieder erschütterbaren Bergen (V. 13 par. V. 5). Mit dem aus der Erfahrung des göttlichen Zorns erhobenen Argument, vor Gott nicht die rechten Worte zu finden, mit Gott nicht streiten zu können, kehrt Hiob zur Eröffnung in V. 2–4 zurück. Somit stellt sich auch bei den abschließenden Versen dieses Eingangsteils die Frage, wie diese sich literargeschichtlich und argumentativ in den Duktus des bisherigen Dialogs und der folgenden Rede(n) Hiobs einfügen (vgl. 9,35; 23,2–17). 9,15–19 Die Klage über die eigene Ohnmacht Mit V. 15 hebt ein sich über zwei Strophen zu je fünf Bikola erstreckender, gleichmäßig strukturierter Abschnitt an. Der Abschnitt gehört zum ursprünglichen Bestand dieser Hiobrede und ist literargeschichtlich älter als der Vorbau in V. 2–14. In diesem thematisiert Hiob die Erfahrung der eigenen Ohnmacht vor Gott in Form der Frage nach Gottes Gerechtigkeit.
Vgl. Hi 23,12–13; 36,23; Ex 33,18–23; 1Kön 19,11–12. Vgl. zudem Ps 89,10–11; Jes 51,9; Am 9,3; Sir 43,25 (HM), s.o. S. 172 Anm. 73; LXX übersetzt hier „entmythologisierend“ wie in Hi 3,8 (für liwjātān) mit κῆτος („Seeungeheuer“; vgl. Hi 26,12 LXX; Gen 1,21 LXX; Sir 43,25 [G]; Dan 3,79LXX; JonLXX 2,1–2.11; 3Makk 6,8). 69 S.o. S. 119f und S. 172. 67 68
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Wenn Hiob vor Gott sein Recht (ṣādaq, mišpāṭ, vgl. 6,29)70 in Anschlag 9,15–16 bringen wollte, so wie es ihm zuletzt Bildad geraten hatte (8,5–6), dann glaubt er die Erfahrung zu machen, dass Gott nicht auf den Ruf nach Gerechtigkeit, sondern nur auf das flehentliche Bitten um Gnade reagiert. Denn für Hiob ist – anders als für Bildad (8,3) – die Gerechtigkeit Gottes der Macht Gottes untergeordnet. Von der Gunst bzw. Gnade (ḥen) Gottes ist im Hiobbuch ohnehin nicht die Rede71 – nur vom flehentlichen Bitten um diese (ḥānan Hitp., 8,5; 9,15)72 und einmalig vom göttlichen „gnädig sein“ (ḥānan Qal) in den später eingefügten Reden des Elihu (vgl. 33,24). Daher erwartet Hiob, dass sein Ruf nach einer Antwort Gottes unerhört bleibt (vgl. 13,22; 14,15; 19,7; 30,20).73 Aber selbst ein Betteln um Gnade würde nichts helfen, weil Gott Hiob grund- 9,17 los (ḥinnām) verletzt. Wie kann der gnadenlos verletzende Gott zugleich der gnädige Gott sein? Dieser Vers besitzt eine Schlüsselfunktion im gesamten Buch. Der literargeschichtlich spätere Verfasser der Himmelsszenen des Prologs hat diesem Vers das Wort ḥinnām entnommen (1,9; 2,3). Mit dem Leitwort „grundlos“ (ḥinnām) ist auf der Ebene des ‚Endtextes‘ eine Brücke zum Prolog geschlagen. Hiob, der anders als die Leser nichts von den himmlischen Ratsversammlungen weiß, bestätigt hier den Satz Gottes an den Satan, dieser habe ihn dazu verführt, Hiob „ohne Grund zu verschlingen“ (2,3). Gott fügt Hiob ohne Grund Wunden zu: Ein grundlos Wunden schlagender Gott, der sich im Angriff auf Hiob selbst Wunden zufügt, steht in scharfem Widerspruch zur These der Freunde, Gottes Handeln am Menschen habe stets einen empirisch nachweisbaren Grund, und zu deren Überzeugung von einem wundertätigen Gott.74 Zum anderen fällt mit dem Stichwort „Sturm“ (ś eʿārāh)75 bereits in der zweiten Hiobrede der Terminus für die abschließende(n) Rede(n) Gottes, der aus dem „Sturm“ zu Hiob reden wird (vgl. 38,1; 40,6). Der Sturm (vgl. 4,15b [v.l.]), ein Symbol der Erscheinung Gottes, eine Chiffre des sich zur Rettung und zum Gericht nahenden Gottes (vgl. Jer 30,23–24; Am 1,14), verursacht Hiobs Leid (vgl. 30,22). Auch hier ergibt sich auf der Ebene der Fortschreibung in 4,12–21 eine über die ursprüngliche Dichtung hinausgehende Deutung: Hiob erlebt an sich selbst den radikalen Unterschied zwischen Gott und Mensch, der für ihn aber 70 Zu den unterschiedlichen Aspekten des Begriffs ṣādaq („gerecht sein/im Recht sein/Recht behalten“) siehe die Auslegung von Hi 4,17 sowie Janowski, Anthropologie, 262. 71 Allerdings ist im gesamten AT Gott selten ausdrückliches Subjekt von ḥen, ganz im Gegensatz zu ḥæsæd, doch vgl. Gen 6,8 (im Blick auf Noah); Ex 33,12.17; Num 11,11 (im Blick auf Mose) und 2Sam 15,25 (im Blick auf David); siehe dazu H.-J. Stoebe, Art. ḥnn gnädig sein, THAT I (62004) 587–597. 72 Im Blick auf die menschliche Umgebung Hiobs noch in Hi 19,16.21. 73 Vgl. dagegen Ps 10,17–18; 30,3; 31,23; 34,5.16.18; 50,15; 65,3; 66,19–20; 72,12; 88,14; 91,15; 102,18. 74 Vgl. H. Spieckermann, Wunder – Wunden – Weisheit. Aspekte des Hiobproblems, in: Witte (Hg.), Hiobs Gestalten, 11–28. 75 e ś ʿārāh (vgl. Nah 1,3) ist eine Nebenform zu s eʿārāh (2Kön 2,1.11; Jes 29,6; 40,24; Jer 23,19; Ez 1,4). Tg und Syr setzen die Vokalisation śaʿ arāh („Haar“, vgl. Hi 4,15MT) voraus, was sich auch in der rabbinischen Diskussion im Blick auf das Verhältnis von Hi 9,17 und 38,1 in bBB 15b niedergeschlagen hat (vgl. Jeb 121b; Nid 52b). Clines hält dies für ursprünglich („for a hair, a trifle“).
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nicht im Wesen des Menschen gründet, wie es in der erweiterten Eliphasrede vertreten wird (4,17), sondern im Wesen Gottes. Gott selbst ist für Hiob zu einem unergründlichen Rätsel geworden. Über das im AT nur dreimal verwendete Wort šûp („hart angreifen/schnappen“, Ps 139,11; Gen 3,15) ergibt sich erneut ein Bezug zur biblischen Urgeschichte in Gen 1–9: Wie die Nachkommenschaft der von Gott einst wegen ihrer Verführung des Menschen verfluchten Schlange nach der Ferse des Menschen schnappt, so schnappt hier Gott selbst nach Hiob. Dieser erlebt an sich einen nicht nachvollziehbaren Rollentausch Gottes. In der Logik von Gen 3,15 müsste Hiob dann paradoxer Weise darauf hoffen, dass seine Nachkommen einst nach diesem Gott selbst schnappen werden. In der Alten Kirche wurde Gen 3,15 gemäß einer heilsgeschichtlich-typologischen Auslegung als geheime Weissagung auf Christus verstanden, der einst den mit der Schlange identifizierten Satan zertreten werde (Protevangelium). Vor diesem Hintergrund gehört Hiob selbst in dieses Protevangelium – Hiob ist in der Tat ein „Zeuge Jesu Christi“.76 9,18–19 Refrainartig wiederholt Hiob seinen Vorwurf gegen Gott, der seinen Geist (rûaḥ, vgl. 6,4), d.h. ihn selbst, nicht zur Ruhe kommen lässt und mit Bitternis erfüllt (vgl. 3,20; 7,11; 23,2; Klgl 3,15). Erneut nimmt Hiob mit dem Wort „Recht“ (mišpāṭ) einen zentralen juridischen Begriff der Rede Bildads auf (vgl. 8,3) und kontrastiert diesen mit Gottes „Macht“ (koaḥ) im Sinn von Gottes „Gewalt“. Vielleicht verdreht Gott das Recht nicht, wie Bildad betont. Doch wer könnte, sollte es zu einem Verfahren kommen, zugunsten von Hiob aussagen (vgl. 29,11)? Auf seine Freunde setzt Hiob nach Bildads Rede wohl schon nicht mehr (vgl. 6,21–30). 9,20–24 Klage über das erfahrene Unrecht 9,20–21 Den einzigen Grund, den Hiob als Ursache seines Leidens akzeptieren würde, wäre ein religiöses oder moralisches Fehlverhalten seinerseits, ein kultisches Versäumnis oder ein Verstoß gegen die sozialen Ordnungen seiner Lebensgemeinschaft. Doch Hiob ist sich keiner Schuld bewusst (vgl. 13,18). Wenn es tatsächlich zu einem fiktiven Gerichtsverfahren käme (23,4) und wenn sich in diesem herausstellte, dass Hiob im Recht ist (vgl. 23,7; 27,6), so rechnet Hiob damit, dass ihn Gott selbst als Frevler darstellen würde (rāšaʿ Hif., vgl. 10,2).77 Ein späterer Leser hat den Vorwurf Hiobs abgemildert, indem er in 9,20a als Subjekt des Hauptsatzes das Wort pî („mein Mund“) einfügte: Nicht Gott, sondern Hiob müsste sich zum Frevler erklären, sich selbst schuldig sprechen (vgl. 15,6). Doch Hiob betrachtet sich als fromm (tām), als jemand, der sowohl den Ansprüchen seines gesellschaftlichen Umfeldes gerecht wird als auch in 76 So in Anlehnung an den Untertitel der kleinen Schrift von Vischer, Hiob. Zu einer Diskussion unterschiedlicher christologischer oder christotelischer Lesarten des Hiobbuches in der neueren Forschung siehe L. Wilson, Job, 316–320. 77 Vgl. Ex 22,8; 1Kön 8,32; Spr 12,2; 1QHa XV,12(15).
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religiösen Dingen vollkommen ist (vgl. 16,17; 27,5). Der vom Prolog und der ersten Rede des Eliphas herkommende Leser, der das Unschuldsbekenntnis in 9,20–21 liest, weiß, dass Hiob mit seiner Selbsteinschätzung nicht falsch liegt (vgl. 1,1.8; 2,3.9; 4,6; 23,7). Hiob liegt nicht falsch – wohl aber Gott, wenn er Hiob das Schicksal eines Frevlers erleiden lässt und Hiob, den Aufrechten (1,1), für krumm erklärt (ʿāqaš Hif.): Wenn Gott diesen geraden Hiob verdreht, dann ist das Recht verkehrt (vgl. 8,3; Mi 3,9); dann hat Hiob keine andere Wahl mehr, als sein Leben zu verwerfen (māʾas, 9,21) – so, wie er bereits eingangs seinen Geburtstag verwünscht hat (3,3–13). Wenn Hiob, der Fromme, das Schicksal eines Frevlers erleidet, dann gilt die 9,22–23 These Bildads nicht, der zufolge Gott den Frommen nicht verwerfe (māʾas, 8,20): Gott macht dann keinen Unterschied zwischen dem Gottesfürchtigen und dem Gottesverächter, er vernichtet beide. Das fiktive Gespräch zwischen Gott und Abraham in Gen 18,22b–33a – ein Text, der wie das Hiobbuch aus der Zeit des Zweiten Tempels stammt und der sich um eine Deutung des Untergangs Jerusalems 587 v.Chr. bemüht – erweist gerade die Differenzierung zwischen dem Gerechten und dem Frevler als einen Maßstab der Gerechtigkeit Gottes: Aber Abraham blieb stehen vor dem Herrn 23 und trat herzu und sprach: Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? [...] 25 Das sei ferne von dir, dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, sodass der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose! Das sei ferne von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten? (Gen 18,22*.23.25 LB)
Doch die von den Freunden Hiobs vertretene Scheidung der Menschen in zwei Klassen, Gerechte und Frevler, Schuldige und Unschuldige (vgl. 4,7), hat nur bedingte Gültigkeit. Sie mag für die Welt der Menschen gelten, nicht aber für Gott. Damit ergeben sich eine ganze Reihe theologisch schwerwiegender Fragen. Wie lassen sich Welt und Gott aufeinander beziehen, wenn in der Welt der Menschen andere Kategorien von Recht und Unrecht gelten als bei Gott? Ist Gott überhaupt noch Gott dieser Welt oder hat sich der Schöpfer weit von seiner Schöpfung entfernt, wenn er eine tötende Peitsche schwingt (vgl. 5,21) oder eine vernichtende Flut schickt (vgl. Jes 28,15.18; Gen 6,5–7)?78 Sollte das Geschöpf, das unter dem Spott seines Schöpfers leidet (vgl. Ps 2,4; 59,9), nicht auch über seinen Schöpfer spotten? Ist nicht, wenn Gott und Mensch einander spotten (vgl. 27,23), die Welt längst in die Gewalt des Bösen geraten? Die Welt, nicht nur ein Land, wie ʾæræṣ hier häufig verstanden wird,79 ist selbst 9,24 in die Hand des Bösen gegeben, mit der Folge, dass es auf der Erde kein Recht mehr gibt. In Kap. 24 wird Hiob diesen Gedanken weiter entfalten: Gott steht Der Text ist hier nicht eindeutig, da das Wort šôṭ sowohl Peitsche als auch Flut bedeuten kann. Syr liest „sein Stab“, d.h. der Stock, mit dem Gott züchtigt (vgl. Hi 9,34; 21,9); siehe die Anm. zur Übersetzung. 79 Vgl. z.B. Horst; Hartley; J. Gray. Gelegentlich wird hierin sogar eine Anspielung auf eine besondere historische Situation (die Perserzeit oder die hellenistische Zeit) gesehen (vgl. Duhm; H.-P. Müller, Gottes Antwort, 129; van der Toorn, Sources, 268). 78
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hinter dem Chaos in der Welt – ein Glossator unterstreicht dies mit der rhetorischen Frage „wenn nicht er, wer dann?“ (V. 24b)80. Dem Dualismus ist damit eine radikale Absage erteilt. Die Formulierung lässt offen, ob hier nicht sogar Gott selbst als Frevler (rāšāʿ) bezeichnet wird. Auf der Ebene des ,Endtextes‘ liegt es dann allerdings näher, nach den begrifflichen und lautlichen Bezügen, die zwischen diesem Teil der Hiobrede und den Himmelsszenen des Prologs bestehen,81 beim Frevler in 9,24 an den Satan zu denken (vgl. bBB 16a). Hiob sieht die Welt, sieht sich in der Hand des Satans – ohne es zu wissen, bestätigt er hier, was der Leser des Prologs bereits weiß: Gott hat Hiob und alles, was ihm gehört, in die Hand des Satans gegeben (1,12; 2,6). 9,25–29 Klage über die eigene Vergänglichkeit Nach der Einordnung seines Leidens in die kosmischen Dimensionen weltweiten Unrechts kehrt Hiob zur Klage über die eigene Vergänglichkeit zurück. Damit weist die zweite Rede Hiobs eine ähnliche dramatische Struktur wie die Rede in Kap. 6–7 auf: So folgte auch dort auf das Bekenntnis der eigenen Unschuld (6,28–30) das Bekenntnis zur eigenen Geschöpflichkeit (7,1–21). 9,25–26 Allzu schnell und sinnlos ist Hiobs Leben dahingeglitten. Mit dem Klageruf, dass seine Lebenstage nichts Gutes (ṭôb) gesehen hätten (7,7), klingt wie schon in Kap. 3 der erste Schöpfungsbericht in Gen 1 an: Der dort siebenmal verwendeten göttlichen Billigungsformel „und Gott sah, dass es gut (ṭôb) war“ steht die Negation einer mit Sinn erfüllten und auf Bestand angelegten Schöpfung seitens des gequälten und flüchtig dahinschwindenden Hiob gegenüber (vgl. Gen 1,4; 1,31: „sehr gut“). Ein dreifacher Vergleich unterstreicht die Flüchtigkeit der Lebenstage Hiobs82: ein laufender Bote (vgl. 2Sam 18,22– 26; Jer 51,31), schnell dahin gleitende Papyrusschiffe (vgl. SapSal 5,10–11)83 und der plötzlich auf seine Beute herabstoßende Geier (næšær, vgl. 39,27–30; Hab 1,8)84. Weil für Hiob, wie für altorientalische Vorstellungen überhaupt, Schöpfung und Recht eng zusammengehören, zerbricht mit der Sinnhaftigkeit der Schöpfung auch die Sinnhaftigkeit des Rechts. Löst sich der Sinn der Schöpfung auf, verliert das Recht seine klaren Konturen.
80 Die Wendung ʾim loʾ ʾepôʾ taucht nur noch einmal im MT in Hi 24,25 auf und ist auch dort sekundär. In der LXX unterscheiden sich V. 23–24 erheblich vom MT, V. 24b–c fehlen ganz, vermutlich aus theologischen Gründen. 81 Vgl. ḥinnām in Hi 9,17 mit 1,9 und 2,3 sowie šôṭ in 9,23 mit šûṭ 1,7; 2,2 und mit śāṭān in 1,6–12; 2,1–7. 82 Vgl. Hi 7,6.16; 17,1.11; Ps 39,5; 102,12; zur Motivik vgl. auch das akkad. Šu-illa-Gebet Nergal 2 16–18 (Lenzi, Akkadian Prayers, 331, 336). 83 Boote aus Papyrus waren in Ägypten weit verbreitet; entsprechende Darstellungen und Modelle sind aus Gräbern bekannt (vgl. Cornelius, 265; ANEP Nr. 109). 84 Zum Geier siehe allgemein P. Riede, Art. „Geier“, wibilex 2010 (Zugriffsdatum: 6.11.2020) (https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/19160/).
Hi 9–10 Die zweite Rede Hiobs
203
Der aus dem Gefüge der Schöpfung gefallene Hiob sieht sich auch aus dem 9,27–29 Bezugsrahmen des Rechts gefallen. Der Versuch, das Klagen aufzugeben (V. 27a, vgl. 7,11.13) und entsprechend der Verheißung Bildads (8,21) eine neue Haltung zu finden und sich freuen zu können (V. 27b, vgl. 10,20; Ps 39,14), scheitert an den eigenen Qualen (7,4) und am Wissen, nicht unschuldig sein zu dürfen. Die Kehrseite der sinnentleerten Schöpfung ist das Bewusstsein (jādaʿtî, vgl. V. 2) fortwährender Schuldigkeit (V. 28; 10,13–14). So erwartet Hiob, dass Gott ihn nicht unschuldig sein lassen werde: Das Mühen um sein Recht erscheint als ein sinnloses Unterfangen (hæbæl, vgl. Pred 2,15; 8,14), ein Mühen ohne Zukunft, so sinnlos, wie seine von schwerem Leid geprägte Existenz (7,16).85 Hiobs Rechtswunsch
9,30–9,34
Im Bild eines gescheiterten Reinigungsritus (vgl. Lev 14,8–9; Num 19,18–19)86 9,30–31 äußert Hiob die Erfahrung unentrinnbarer Verantwortlichkeit und gleichzeitig unüberwindbarer Unreinheit (vgl. Jer 2,22–23): Hiob erlebt an sich das Urteil, das nach Jer 2 Jhwh über diejenigen spricht, die sich von ihm ab- und anderen Göttern zugewandt haben. Der vom Schöpfer Verlassene sieht sich in die Welt geworfen, in den Schmutz getreten (vgl. Klgl 3,45), an den Rand des Grabes (šaḥat) gebracht87 – er wird sich selbst zum Ekel. Im Sühneritus erfährt der Mensch im antiken Israel, der um die absolute Heiligkeit Gottes weiß, die heilsame Überbrückung der Distanz zwischen Gott und Mensch. Wenn aber alle Reinigungs- und Sühneriten (vgl. Ps 26,6; 51,3–12; Jes 1,16–18)88 versagen, weil Gott als das eigentliche Subjekt der Reinigung (vgl. Jes 1,25) und der Sühne die Vergebung versagt, dann zerbricht die Brücke zu Gott. Hält der Mensch gleichzeitig an seinem Glauben an Gott als Grund seiner Existenz fest, droht er, wie Hiob an Gott zu verzweifeln. Gibt er hingegen den Glauben an Gott auf, muss er sich selbst, bewusst oder unbewusst, Sühne wirken und Vergebung zusprechen. Weil er dies jedoch nicht kann, zerbricht er an sich selbst. Gott ist „kein Mann wie Hiob“ (1,8), so dass eine gerichtliche Auseinander- 9,32–34 setzung (mišpāṭ), um den Status der Unversehrtheit (šālôm) zurückzuerhalten, unmöglich erscheint (vgl. 9,14; 23,4). Hiobs Wunsch (lû [v.l.])89 bildet einen starken Kontrast zur Überzeugung des Beters von Ps 143, Gott möge nicht mit ihm 85 LXX setzt anstelle von ʾîgāʿ die Lesart ʾægwāʿ voraus und wiederholt damit den Todeswunsch Hiobs aus Hi 3,11 („Nachdem ich aber ein Gottloser bin – warum bin ich nicht gestorben?“), vgl. Hi 10,18. 86 Laugensalz/Pottasche (bor) war seit dem 3. Jt. v.Chr. als besonders scharfes Reinigungsmittel bekannt. Zu entsprechenden realen Hygienevorstellungen siehe Scurlock/Andersen, Diagnoses, 16. 87 Insofern im Ausdruck „in die Grube (šaḥat) tauchen“ der Aspekt des Unrats mitschwingt und die „Grube“ häufig für das Unreinheit bewirkende Grab oder Totenreich steht (vgl. Hi 17,14; 33,18.22.24.28.30; Ps 16,10; 30,10, Jes 38,17), ist eine Änderung in šuḥot (von śuḥāh/sûḥāh, „Schmutz“, vgl. BHS) nicht geboten (vgl. CTAT 50/5, 56f). 88 Vgl. aus der Umwelt des AT z.B. die Beschreibung eines Reinigungsritus des Beters in einem altbab. Gebet an Šamaš und Adad 1–10 (TUAT II, 719f). 89 Siehe die Anm. zur Übersetzung.
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ins Gericht gehen, da vor ihm kein Mensch gerecht sein könne (vgl. Jes 3,13–14; Pred 11,9; 4Q381 frgm. 45,4). Daher wird Hiobs Ruf nach einem Schlichter oder Mittler (môkî aḥ) laut, der zwischen den Parteien vermitteln soll (vgl. Dtn 1,16) – in der rabbinischen Tradition gehört 9,33 (neben 6,2 und 31,1) zu den blasphemischsten Worten Hiobs, weil er „Gott meistern wollte“ (vgl. bBB 15a)90. Der Text lässt die Identität des von Hiob ersehnten, aber nicht wirklich erwarteten Mittlers offen. Möglich ist sowohl die Identifikation mit einem Fürspracheengel, der intervenierend vor Gott tritt und so den Zorn Gottes von Hiob abwendet,91 als auch mit einem Priester, der in einem kultischen Akt eine offene Aussprache zwischen Hiob und Gott ermöglicht, oder einem Weisen, der das rechte Wort findet (vgl. 32,12). Im Rahmen ihrer juridischen Gesamtdeutung des Buches erkennt F. Rachel Magdalene in dem môkî aḥ einen unabhängigen, d.h. nicht mit Gott identischen Richter.92 Ziel dieses Eingreifens ist in jedem Fall die Abwendung der Schläge, die Hiob von Gott erhält (vgl. 3,5; 7,14; 13,21) – hier symbolisiert durch den Stock Gottes (V. 34)93. Die LXX gibt môkî aḥ mit dem LXX-hap. leg. μεσίτης wieder, das im NT zur Kennzeichnung Jesu Christi erscheint (vgl. 1Tim 2,5; Hebr 8,6; 9,15; 12,24). Für den altkirchlichen Kommentator Didymos den Blinden ist dieser Wortgebrauch in christologischer Hinsicht ein Beleg dafür, dass Hiob „über den ganzen göttlichen Heilsplan Gewissheit hatte“.94 9,35–10,2 Hiobs unbändiger Redewunsch 9,35 Erneut äußert Hiob seinen Wunsch, Gott selbst sein Leid zu klagen (vgl. 7,11). Wie schon in seiner ersten Rede kommt er damit der Aufforderung der Freunde nach, sich direkt im Gebet an Gott zu wenden (vgl. 5,8; 8,5). Dabei sieht sich Hiob, im Gegensatz zu der ihm in 9,2–3 und 9,14 sekundär in den Mund gelegten Einschränkung, vor Gott nichts antworten zu können, durchaus in der Lage, furchtlos Gott gegenübertreten zu können (vgl. 23,17). Denn noch ist er mit sich selbst identisch. 10,1 Das Recht zur ungezügelten Klage (vgl. 9,27) sieht Hiob in seiner Unschuld (vgl. 27,2–4), den Grund dazu im Ekel vor seinem eigenen Leben (vgl. 6,7; 7,5.16). Bekennt der Fromme sonst seinen Abscheu vor den Feinden Gottes (vgl. Ps 119,11.58; 139,21), so ekelt er sich hier vor sich selbst, weil er sich durch sein Leiden als Feind Gottes erfährt. Ein Nachtrag (oder der Rest eines urprünglichen Bikolons?)95 unterstreicht mit denselben Worten wie in 7,11 die Bitternis bzw. Verbitterung Hiobs (vgl. 3,20; 23,2). Zitiert nach Wiernikowski, Hiob, 75f. Vgl. Hi 5,1; 33,23–25; 1QHa XXIIIbottom,6 (23,26). Siehe dazu auch den Exkurs zu Hi 4,18 auf S. 146–148. 92 Magdalene, Scales, 166; auf einen solchen unabhängigen Richter hoffe Hiob auch in 9,19; 10,7 und 31,35; vgl. dazu auch S. 24 93 Vgl. Hi 21,9; 37,13; Ps 89,33; Klgl 3,1. 94 Didymos, Kommentar, zu Hi 9,33 (Hagedorn/Hagedorn/Koenen, III, 266f). 95 Fohrer und Kaiser, 82, rechnen wie in 7,11 mit dem Ausfall eines Kolons nach V. 1aα. Nach Watson, Poetry, 181, ist Hi 10,1 ein Beispiel für ein (ursprüngliches) Trikolon nach dem Muster A–B–B’. 90 91
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Stilistisch durch eine mehrfache Alliteration auf ʾ(a)- und ein dreifaches 10,2 Homoioteleuton auf -î hervorgehoben, fordert Hiob in Weiterführung seines Arguments aus 9,20 in juridischer Sprache Gott zur Feststellung seiner Unschuld auf und bittet um Aufklärung (vgl. Ps 25,4; 39,5; 143,8). Mit derselben Formel „lass mich wissen“ (hôdîʿenî) fordert Gott am Ende von Hiob Aufklärung (vgl. 38,3; 40,7; 42,4). Wie in 7,6–21 entfaltet sich die Rede vor und zu Gott zu einer Auseinandersetzung des Geschöpfs mit dem Schöpfer und zu einer Elendsmeditation. Dabei appelliert Hiob in drei Schritten an Gottes Gottheit, bevor er abschließend, parallel zur Eingangsklage in Kap. 3, das Faktum seiner Existenz beklagt. Der Appell an Gottes Gottheit
10,3–17
Hiob zweifelt nicht an Gottes Gottheit, aber er verzweifelt an Gottes Rätselhaftigkeit. Hiob erkennt Gott als seinen eigenen Schöpfer ebenso an (V. 3.8– 12) wie Gottes qualitative Unterschiedenheit vom Menschen, ausgedrückt in den anthropomorphen Bildern von den Augen und den Lebenstagen Gottes (V. 4–5). Die starke Betonung des eigenen Ichs Hiobs ist stilistisch besonders unterstrichen, indem in der zweiten und dritten Strophe (V. 8–12.13–17) alle Verse mittels des Personalsuffixes für die 1. P. Sg. auf -î auslauten und sich dementsprechend zahlreiche Endreime finden.96 In einer Kette rhetorischer Fragen nach dem Wesen Gottes spiegelt sich Hiobs 10,3–7 Zweifel an der Verlässlichkeit Gottes. Es kann für Gott selbst nicht gut, nicht sinnvoll und zielführend sein, wenn er Hiob, sein Geschöpf, verwirft (māʾas I) – und damit auf dieselbe Stufe tritt wie Hiob (vgl. 9,21). Erneut klingt die Billigungsformel des ersten Schöpfungsberichts an: Hiob sieht durch sein Schicksal Gottes Erklärung, die Schöpfung sei gut (Gen 1,4), pervertiert (V. 3). Eine Glosse (V. 3b) verallgemeinert Hiobs Erfahrung der fehlenden Gerechtigkeit, indem sie die Frage nach der Begünstigung der Frevler durch Gott stellt,97 metaphorisch umschrieben durch das über den Frevlern freundlich aufscheinende Licht des sich offenbarenden Gottes (vgl. Dtn 33,3; Ps 50,2; 80,2; 94,1). An sich müssten die kategoriale Differenz zwischen Gott und Mensch (V. 4–5, vgl. 1Sam 16,7; Sir 18,13–14 [G]) und das Wissen Gottes um Hiobs Unschuld (V. 7) verhindern, dass Gott Hiobs möglichen Verfehlungen (ʿāwôn, ḥaṭṭāʾt) nachspürt und ihn verfolgt (V. 6, vgl. 7,18.21; 14,16). Es ist gerade die Erfahrung der Zeitlichkeit, die Gott und Mensch unterscheidet (V. 5): Gott ist der Ewige, der Mensch der Vergängliche.98 Doch Gott spielt mit dem Menschen, obgleich dieser kein ebenbürtiger Partner für ihn ist. Aus den Händen des einen und einzigen Gottes, der die gesamte Wirklichkeit bestimmt, gibt es kein Entrinnen (vgl. 23,13). Die
Vgl. dazu insbesondere die Häufung der Homoioteleuta in V. 14–17. Vgl. Hi 21,16; 22,18; Ps 1,1 (interpretiert in 4Q174 frgm. 1–2 I,14); 4Q289 frgm. 1,1. 98 Vgl. Hi 16,22; Ps 90,4; 102,12–13.24–28; Sir 18,9–10 (G); SapSal 7,1–3. 96 97
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monotheistische Gottesvorstellung, die das Hiobbuch im Schatten des späten Deuteronomismus und Deuterojesajas prägt, ist radikal: 39 Sehet nun, dass ich’s allein bin und ist kein Gott neben mir! Ich kann töten und lebendig machen, ich kann schlagen und kann heilen, und niemand kann aus meiner Hand reißen. (Dtn 32,39 LB) 12 Ich hab’s verkündigt und habe auch geholfen und hab’s euch hören lassen; und es war kein fremder Gott unter euch. Ihr seid meine Zeugen, spricht der Herr, und ich bin Gott. 13 Auch künftig bin ich derselbe, und niemand ist da, der aus meiner Hand erretten kann. Ich wirke; wer will’s wenden? (Jes 43,12–13 LB)
10,8–9 Es sind dieselben Hände, die Hiob einst gebildet haben (vgl. Ps 119,73), wie ein Götterbild (vgl. Jer 44,19), und die ihn jetzt zerdrücken. Erneut zeigt sich die Ambivalenz des Symbols der Hand Gottes, die zugleich heilende Nähe und zerstörendes Nahesein bedeutet (vgl. 5,18; 19,21; 23,2).99 Die Doppeldeutigkeit wird noch durch die Verwendung der Wurzel ʿāzab unterstrichen, die sowohl „gestalten“ (I) als auch „wehtun“ (II) bezeichnet.100 Wie schon in 9,17 bestätigt Hiob, was die Leser des Prologs bereits wissen: Gott selbst hat Hiob verschlungen (bālaʿ, V. 8, vgl. 2,3; 8,18); ihn, der (zerbrechlich) wie ein Gefäß aus Ton geformt (vgl. Jer 18,6; Röm 9,20–21) und zur Rückkehr zum Staub bestimmt ist (V. 9).101 13 Der Mensch ist Lehm und Stroh; 14 der Gott ist sein Erbauer. (Aus der Lehre d. Amenemope 24,13–14)102
Diese Tatsache soll sich auch Gott selbst vergegenwärtigen (zākar, vgl. Hi 7,7; Jes 38,8). Ähnlich kann ein bab. Beter zu Marduk beten: 66 Bitte vernichte nicht den Diener, das Geschöpf deiner Hände, 67 denn was ist der Gewinn von dem, der zu Lehm wurde? 68 Nur ein lebender Diener kann seinen Herrn verehren, 69 was kann to[ter] Sta[ub] dem Gotte nutzen? (Aus einem Hymnus auf Marduk)103
10,10–11 In einer für die atl. Anthropologie aufschlussreichen Sequenz kontrastiert Hiob die Beschreibung seines geschundenen Leibes in 7,5 (vgl. 19,20; 30,30) mit BilSiehe dazu die Auslegung von Hi 1,9–11, sowie Mies, Job, 70–72. Siehe dazu auch Noegel, Janus Parallelism, 54–56, und Greenstein. 101 Vgl. Hi 1,21; 7,21; 33,6; 34,15; Gen 2,7; 3,19; Ps 90,3; 104,29–30; Pred 3,20; 12,7; Sir 17,1 (G). Zu entsprechenden Parallelen aus Ägypten und Mesopotamien vgl. z.B. die Lehre d. Amenemope 24,12–13 (TUAT.NF VIII, 344), das Kirta-Epos (KTU 1.14–16) III,v,28–29 (TUAT.NF VIII, 268), den sumer. Mythos von Enki und Ninmach 58–59 (TUAT III, 393) oder die bab. Dichtungen Lud. IV,110 (TUAT III, 135), BT 277–278 (TUAT III, 156), Gilgm. I,ii,34–35 (TUAT III, 675); siehe dazu Pettinato, Menschenbild, 40–44; Keel, Bildsymbolik, 183f (Abb. 278). 102 Übersetzt von V.P.-M. Laisney, in: TUAT.NF VIII, 344. 103 Übersetzt von K. Hecker, in: TUAT II, 756. 99
100
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dern seiner wunderbaren Menschwerdung.104 Das Bild der ausgegossenen Milch und des gerinnenden Käse erinnert an Darstellungen der Entstehung des Menschen bei Aristoteles (gen. an. 739b21–25), im Hintergrund steht wohl „die Herstellung von Sauermilchkäse in der Antike.“105 Christian Frevel hat herausgearbeitet, dass sich das Bild der ausgegossenen Milch auf die Besamung und das Bild des Käses auf das durch das Sperma im Mutterleib gerinnende Blut bezieht, woraus der Embryo entsteht.106 Daneben berühren sich die Verse vor allem mit äg. Hymnen an den Schöpfergott: Er hat die Luft im Ei erschaffen, obwohl es in ihm kein Luftloch gibt. Er hat den Embryo im Mutterleib erschaffen durch den Samen, der ihm (sc. dem Mutterleib) zugeführt wird. Er hat Sehnen und Knochen durch den nämlichen Samen erschaffen. (Aus dem ptolemäerzeitlichen Pap. Insinger 32,7–9)107
Entscheidend für Hi 10,11–12 ist die Betonung, dass Gott selbst für die Anfänge des Lebens verantwortlich ist und in einer personalen Beziehung zu seinem Geschöpf gesehen wird. Aufgrund des besonderen Gebrauchs der Tempora108 können diese Verse in der rabbinischen Diskussion auch als Beschreibung der eschatologischen Neuschöpfung des Menschen verstanden werden (BerR XIV zu Gen 2,7 im Zusammenspiel mit Ez 37,8).109 Hiob wäre demzufolge anders als in 7,9 ein Vertreter der Auferstehungsvorstellung. Die Zerstörung seines liebevoll geschaffenen und der Vergänglichkeit unter- 10,12 worfenen Geschöpfs erfährt Hiob als Verrat Gottes an dessen Solidarität (ḥæsæd) mit der Schöpfung (V. 12). Der Vers bildet einen starken Kontrast zur Klage in 9,18. Abgesehen von der sekundären Einforderung menschlicher Barmherzigkeit in 6,14, ist dies der einzige Rekurs Hiobs auf Gottes ḥæsæd (griech. ἔλεος) im gesamten Buch – ganz im Gegensatz zu den zahlreichen Vertrauensbekundungen und Bitten in den Psalmen.110 Erst Elihu wird in seiner letzten Rede einmalig hierauf zurückkommen (37,14). Auch der Begriff pequdāh (griech. ἐπισκοπή), 104 Vgl. Ps 139,13–15; Pred 11,5; 2Makk 7,22–23; 4Makk 13,19–21; SapSal 7,1–2; Koran, Sure 23,12–14; Janowski, Anthropologie, 64; 679 (Q 194); 692 (Q 213). 105 Frevel, Menschwerdung, 52, mit der Nennung weiterer Parallelen zur sogenannten Käseallegorie in der antiken und mittelalterlichen Literatur (a.a.O., 48–52); Janowski, Anthropologie, 658 (Q 156). 106 Frevel, Menschwerdung, 54. Daneben weist Frevel auf weitere Vergleichspunkte zwischen dem Embryo und einem Neugeborenen sowie der Käseherstellung hin. 107 Übersetzung von H.J. Thissen, in: TUAT III, 316; vgl. auch den großen Sonnenhymnus des Echnaton (ÄHG 92, 59–75) sowie einen Chnum-Hymnus von Esna (ÄHG 145A, 11–13). Dazu und zum Motiv der „Luft im Ei“ siehe Stadler, Spätägyptische Hymnen, 141–163. 108 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 109 So nach der Schule Hillels (gestorben um 9 n.Chr.), vgl. Wünsche, Bereschit Rabba, 64; R. Kasher, The Interpretation of Scipture in Rabbinic Literature, in: M.J. Mulder/H. Sysling, Mikra CRINT II/1, Assen/Philadelphia 1988, 547–594, hier: 573f. 110 Vgl. Ps 5,8; 6,5; 13,6; 17,7; 23,6; 25,6–7; 103,4. Der Begriff ḥæsæd ist kaum adäquat zu übersetzen, er umfasst die Aspekte Barmherzigkeit, Gnade, Güte, Solidarität, Loyalität, Verlässlichkeit, standhafte Liebe (H.-J. Stoebe, Art. ḥǽsæd, THAT I [62004] 599–621).
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der sowohl Gottes heilvolle Heimsuchung im Sinne der Fürsorge oder Obhut bezeichnen kann und der vor allem im jüdischen Schrifttum der hellenistischrömischen Zeit zu einem Schlüsselwort für das endzeitliche Gericht wird, 111 erscheint nur hier im Hiobbuch.112 10,13–17 Gott hat für Hiob zwei Gesichter: auf der einen Seite das Gesicht des liebenden Schöpfers, auf der anderen Seite das des unbarmherzigen Richters. In seinem Leiden hält Hiob dieses – im Gegensatz zur Eröffnung der Rede in 9,4 – für Gottes wahres Antlitz. Gerahmt durch die Wörter ʿimmāk („bei dir“, V. 13b) und ʿimmādî („gegen mich“, V. 17aβ) bzw. ʿimmî („bei mir“, V. 17b) entfaltet die Strophe das von Hiob erlebte Aufeinanderprallen von Schöpfer und Geschöpf. Nach seinem innersten Wesen (leb, V. 13, vgl. 9,4) hat Gott kein Interesse an seinem Geschöpf als solchem, sondern nur, insofern es für ihn eine Beute ist. Während der Fromme in seinem Herzen die Gebote Gottes aufbewahrt und Gott für diesen entsprechend ein gelingendes Leben bereithält (ṣāpan, vgl. 23,12; Ps 119,11 bzw. Spr 2,7), hat Gott für Hiob nur einen Schuldspruch parat (V. 14) – dies glaubt Hiob fest zu wissen (jādaʿtî, V. 13, vgl. 9,28): Nicht die liebevolle Bewachung (šāmar) des Geschöpfs (V. 12, vgl. 29,2) erscheint ihm als die eigentliche Absicht Gottes, sondern die einengende Überwachung (šāmar, V. 14, vgl. Ps 130,2–3). In Korrespondenz zu seiner Unschuldserklärung in 9,20, spricht Hiob für den Fall einer tatsächlichen Verfehlung einen Weheruf aus (ʾalelaj lî, vgl. Mi 7,1) und bekennt, beim Erweis seiner Gerechtigkeit, sein Haupt demütig zu senken (V. 15, vgl. Hi 9,15). Die Hoffnung des Beters von Ps 130, der gleichsam unter der Erfahrung leidet, angesichts von Schuld vor Gott nicht bestehen zu können, auf Vergebung (selîḥāh, V. 4) und auf Erlösung (pedût, V. 7) scheint Hiob abhandengekommen zu sein. Die kolometrisch überschießende Notiz über die Fülle des von Hiob erfahrenen Leids (V. 15b) wirkt wie eine von den Elendsbeschreibungen in 3,24–26 und 7,1–16 angeregte Randbemerkung eines frühen Lesers.113 10,16–17 Nicht die Begegnung mit der Macht des Lebens und der Barmherzigkeit (V. 12), sondern die Erfahrung, von Gott wie von einem Löwen (šaḥal) gejagt zu sein,114 und die Konfrontation mit den Mächten der Zerstörung und des Todes kennzeichnen Gottes Handeln an Hiob. Zu diesen zerstörerischen Mächten zählt Hiob wohl auch seine Freunde, die Gott als immer neue Zeugen zum Beweis seiner vermeintlichen Schuld auftreten lässt (V. 17a, vgl. 6,21–30). Dies erscheint Hiob als wunderbares Handeln (pālāʾ Hitp., V. 16) Gottes an ihm – doch nicht im Sinn der Leben stiftenden Wunder (vgl. Gen 18,14; Jer 32,17.27; Jo 2,26), sondern der wunderlichen Vernichtung. Auch hier ist die Intensität Vgl. 1QS III,18; IV,6.26; 1QHa V,16(27); SapSal 4,15. Doch siehe in LXX Hi 6,14; 7,18; 24,12; 29,4; 31,14; 34,9. 113 Vgl. Horst, der V. 15b für ursprünglich hält, das Kolon aber zwischen V. 15aα und V. 15aβ stellt. 114 Vgl. Klgl 3,10; Hos 5,14; 13,7–8. Zur vielfältigen Erwähnung des Löwen im Hiobbuch vgl. Hi 4,10–11; 28,8; 38,39–40; zum Motiv, von Gott wie von einem Löwen angegriffen zu sein, siehe auch den großen Ištar-Hymnus (Ištar-2) 51 (TUAT.NF VII, 85–90, hier: 89), sowie Strawn, Lion, 58f; zu einer entsprechenden Darstellungen in der vorderorientalischen Kunst siehe z.B. IPIAO IV Nr. 1376 und Cornelius, Lion, 53–85; siehe auch die Auslegung von Hi 38,39–40. 111 112
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des Angriffs, den Hiob gegen sich erlebt, im Bild eines gegen ihn anrückenden Heeres versprachlicht (vgl. 16,13–14; 19,11–12; 30,11–14). Die erneute Klage über die eigene Vergänglichkeit
10,18–22
Mit der Klage über die Faktizität seines Lebens wiederholt Hiob den Fluch über 10,18–20 seinen Geburtstag aus Kap. 3. Wie in der Eingangsklage stellt Hiob die grundsätzliche Frage nach dem Sinn seiner Existenz (3,11–12; Jer 20,14), äußert den Wunsch, nie geboren zu sein (3,16, vgl. Pred 4,2–3) und erbittet sich angesichts der Flüchtigkeit seines Lebens (ḥælæd [v.l.] V. 20a, vgl. 7,7–8; 9,25–26; 14,1–2)115 nur ein kurzes Innehalten von Gottes Zorn (V. 20b, vgl. 7,19; 9,27; Ps 39,14), bevor er endgültig ins Reich des Todes absinkt. Die abschließenden Verse der zweiten Hiobrede bieten ein Kompendium 10,21–22 der atl. Vorstellung von der Unterwelt, die ihre nächsten Analogien in der assyrischen und bab. Unterweltstopographie besitzt (vgl. den Exkurs zu Hi 3).116 Die Unterwelt ist das „Land ohne Wiederkehr“ (V. 21, vgl. 7,9.21; 16,22; 17,13). Das Todesgeschick gilt als endgültig, aus dem Totenreich gibt es keine Rückkehr in das Leben (Sir 14,17–18, vgl. Lukrez, nat. 3, 1078–1079) . Die Unterwelt ist das „Land der Finsternis“ (ʾæræṣ ḥošæk, ʾæræṣ ʿêpāh/ʿêpātāh, vgl. Am 4,13; Ps 143,6 conj.; Tob 4,10), des Schattens und tiefster Dunkelheit. Gilt das Licht als Zeichen des Lebens, so symbolisiert die Finsternis den Tod. Die Unterwelt repräsentiert den Ort des Chaos und die Gegenwelt zur geordneten Schöpfung. In ihr herrscht keine Struktur (loʾ sedārîm)117, weder zeitlich noch personal. Während der Beter des 143. Psalms, mit dessen Worten sich die Rede Hiobs in Kap. 9–10 mehrfach berührt118 und der aus einem ähnlichen literargeschichtlichen und theologischen Umfeld wie die späten Zusätze in Hi 4,17–21 par. stammt, angesichts der wesenhaften Inferiorität des Menschen gegenüber Gott auf Gottes Gerechtigkeit vertraut und angesichts des nahen Todes Gott eindringlich bittet, ihn vor der Unterwelt zu bewahren, sieht Hiob nur noch dem Tod entgegen. Wie die erste Rede Hiobs in 7,21–22, so endet die zweite mit einer Negation. Ihre Schlusswörter lauten „Ordnungslosigkeit“ (loʾ sedārîm) und – in dem möglicherweise sekundären dritten Kolon – „Finsternis“ (ʾopæl) und signalisieren so nochmals eine Anklage des Schöpfergottes.
Vgl. Ps 39,6; 89,47–48. Dieses Motiv hat zahlreiche Parallelen im Alten Orient, in Ägypten und in der klassischen Antike, vor allem in Vergänglichkeitsklagen, vgl. z.B. ÄHG 186, 417; Sophokles, Aias 125–126; Pindar, P. 8,95–96; Horaz, carm. 4, 7,16. 116 S.o. S. 124–126. 117 Hi 10,22 ist der einzige Beleg in der hebr. Bibel für das in den Qumranschriften und im nachbiblischen Hebr. häufig verwendete Wort sedær („Ordnung“). Die Annahme eines sedær II („Lichtstrahl“, vgl. DCH) ist aber ebenso unnötig wie die Konjektur in nehārāh („Licht“, vgl. LXX φέγγος und Hi 3,4). 118 Vgl. besonders Ps 143,2 mit Hi 9,2 und Ps 143,7 mit Hi 10,20. 115
210
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Hi 11 Die erste Rede Zophars HD 11,1 Und Zophar der Naamatiter hob an und sagte: 2 Soll die Menge1 der Worte nicht beantwortet werden, oder soll ein Mann der Lippen Recht behalten? 3 Soll2 dein Geschwätz3 Männer zum Schweigen bringen, so dass du spottest4, ohne dass dich einer schmäht? 4 Und du hast gesagt: „Rein ist meine Lehre, und lauter bin ich in deinen Augen.“ 5 Aber würde doch nur Eloah mit dir reden und seine Lippen dir gegenüber öffnen 6 und dir die Geheimnisse der Weisheit verkünden, ja, wie Wunder5 sind sie für die Vernunft, und du sollst wissen, dass Eloah dich6 manches von deiner Schuld vergessen7 lassen wird. 7 Vermagst du die Tiefe Eloahs zu finden oder bis an die äußerste Grenze Schaddajs zu gelangen8? 8 Höher als der9 Himmel – was kannst du tun? Tiefer als die Scheol – was kannst du wissen? 9 Länger als die Erde ist ihr Maß10 und breiter als das Meer. 10 Wenn er11 vorbeigleitet und ausliefert und (zum Gericht) versammelt, wer kann ihn zurückhalten? 11 Ja, er selbst kennt die Männer des Nichtigen, so dass er das Übel sieht12 und gewiss13 genau beachtet. 1 Sehr häufig wird im Anschluss an die alten Übersetzungen rab gelesen („der Große [an Worten]“, d.h. der Wortreiche; vgl. Fohrer; J. Gray u.v.a.); doch kann der MT beibehalten werden. 2 Dieser Vers ist noch abhängig von der Fragepartikel in V. 2a (vgl. Bobzin, Tempora, 173). 3 Nach bad IV (Ges18; KAHAL) bzw. bad III (DCH); vgl. Jes 16,6; Jer 48,30. 4 Sofern die Punktation von wattilʿag stimmt und nicht w etilʿag zu lesen ist, steht das Impf. consec. in konsekutivem Sinn (vgl. G/K § 111m; J/M § 118h). 5 Anstelle von kiplajim „das Doppelte“ (vgl. Jes 40,2; Sir 26,1 [HC]; Seow: „zweischneidig“) lies kiplāʾîm (vgl. Clines; ähnlich BHK und BHS. pelāʾîm). 6 Oder: „für dich“ (vgl. Clines; CTAT 50/5, 69). 7 So nach dem MT. Weiser hingegen liest im Anschluss an Dhorme jišʾālekā „er dich strafen will“ (wörtl. „er dich befragen/zur Rechenschaft ziehen will“). 8 Wörtl.: „finden“; der Dichter verwendet wie im ersten Kolon die Wurzel mṣʾ. 9 Anstelle von gåbhê „die Höhen des“ (vgl. Hi 22,12) lies in Parallele zu V. 8b. 9 g ebohāh mi- (vgl. Vg; LaT). 10 Nach mad II (vgl. DCH), wenn nicht middāh „Maß“ zu lesen und als Akkusativ der Maßangabe zu verstehen ist (Brockelmann, Syntax § 81e; J/M § 127b; Seow). 11 D.h.: Gott. 12 Auch hier steht das Impf. consec., sofern die masoret. Punktation richtig ist, zur Angabe einer Folge; zur Annahme, es handele sich um einen Stativ mit präsentischer Funktion siehe J/M § 118p. 13 Anstelle von loʾ „nicht“ lies luʾ. Denkbar wäre auch, in lô „darauf“ zu ändern oder den Satz als rhetorische Frage zu verstehen (Seow; Nõmmik, Freundesreden, 73).
Hi 11 Die erste Rede Zophars
12
Aber: „Ein Hohlkopf wird verständig werden und ein Hengst, ein Wildesel,14 als Mensch geboren.“
13 14 15 16
Wenn du aber dein Herz fest auf ihn richtest und wenn du deine Hände zu ihm ausbreitest – Wenn ein Übel in deiner Hand ist,15 dann entferne es, und lass kein Unrecht in deinen Zelten wohnen. Dann wirst du gewiss dein Angesicht heben ohne Makel und wirst fest gegründet16 sein und dich nicht fürchten. Ja, dann17 wirst du die Mühsal (schnell) vergessen, an sie denken wie an Wasser, die vorüberzogen.
211
17 Und (heller) als der Mittag wird sich das Leben erheben, und Dunkelheit18 wird wie der Morgen sein. 18 Und du hast Vertrauen, weil es Hoffnung gibt, und bist wohlbeschirmt19, kannst dich sicher niederlegen. 19 Und du ruhst, ohne dass dich einer schreckt. Und dein Angesicht umschmeicheln viele, 20 aber die Augen der Frevler verschmachten. Und ihre Zuflucht: sie geht ihnen zugrunde, und ihre Hoffnung: sie ist ein Aushauchen des Lebens.20 Nõmmik, U.: Die Freundesreden des ursprünglichen Hiobdialogs. Eine form- und traditions- Literatur geschichtliche Studie, BZAW 410, Berlin/New York 2010.
Die erste Zopharrede bildet eine dreiteilige Mahn- und Trostrede. Sie besteht aus vier Strophen zu je vier Bikola (V. 2–5.[6]|7*.[8–9].10–12|13–16|17–20*). Lediglich in der letzten Strophe findet sich nach dem MT ein Trikolon. Die Rede enthält im Wesentlichen drei rhetorische Elemente: 1) eine persönliche Anrede Hiobs, 2) eine argumentative Widerlegung Hiobs und 3) eine zweiteilige Verheißung an Hiob. Die Sprachformen stammen aus der Streitrede der 14 Eines der beiden Wörter dürfte aus kolometrischen Gründen eine Glosse sein (vgl. Seow). BHS hingegen schlägt vor, anstelle von pæræʾ ʾādām nur pæræd „Maultier“ zu lesen. Einen noch stärkeren Eingriff in den Text stellt die Änderung von ʾādām jiwwāled in jillāmed „er wird gelehrig/zahm“ dar (vgl. BHK und Clines, der dieser Konjektur folgt, allerdings nur ʾādām ersetzt). 15 Zur Konstruktion im Nominalsatz siehe Michel, Syntax II, 103; 158; 175; 219; zum Imperativ als Protasis im konditionalen Satzgefüge siehe Diehl, Imperativ, 338. 16 Wörtl.: „gegossen sein“ (Partizip Hof. von jṣq; vgl. Ges18; KAHAL; DCH). 17 Anstelle von kî ʾāttāh „ja, du“ (Hi 34,33) lies kî ʿattāh (vgl. [Syr]; Hi 3,13; 4,5; 6,3.23; 7,21; 8,6; 13,19; 14,16). 18 Anstelle von tāʿupāh „es dunkelt“ (nach einer allerdings unsicheren Wurzel ʿwp II; vgl. Weiser) lies t eʿupāh. Hingegen bleibt CTAT 50/5, 78, beim MT und bezieht die Aussage direkt auf Hiob („serais-tu même enténébré que tu deviendrais comme le matin“). Seow übersetzt nach ʿwp (I) mit „Flackern“. 19 Anstelle von ḥāpartā „du suchst/suchtest“ (nach ḥpr I, Ges18) lies ḥuppartā (nach ḥpr III, vgl. KAHAL; DCH). CTAT 50/5, 80, führt dagegen den MT auf ḥpr II im Sinn von „beschämt sein/ werden“ zurück (vgl. Hi 6,20); ähnlich Fohrer (allerdings auch mit der Änderung in ḥuppartā). 20 In LXX begegnen die Stichen von V. 20 in der Folge b–c–a.
Aufbau und Sprachformen
212
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Weisen und aus der Spruchweisheit. V. 12 bietet ein, in seinem lexikalischen Bestand und in seiner Deutung umstrittenes, Sprichwort (māšāl), ein Gleichnis in Kurzform. In V. 6–9 liegen in einem kleinen Exkurs hymnenähnliche Formulierungen vor. Im gedanklichen Mittelpunkt steht wie in der ersten Bildadrede die Darstellung der innerweltlichen Vergeltung hinsichtlich der Lohn- wie der Strafseite. Die Funktion der Vergeltung wird von dem sich stets als gerecht erweisenden Gott gewährleistet. Dabei liegt in der ersten Zopharrede ein größeres Gewicht auf persönlichen Verheißungen an Hiob. Wie in den beiden vorangegangenen Freundesreden in Kap. 4–5 und in Kap. 8 besteht der argumentative Hintergrund in der Überzeugung, dass einerseits Gott vollkommen gerecht handelt (8,3; 11,11) und dass andererseits Gerechtigkeit des Menschen vor Gott möglich ist (8,4; 11,13–20). Dabei zeigt sich gegenüber den vorangegangenen Reden eine argumentative Steigerung: Hatten Eliphas auf die eigene Erfahrung (vgl. 5,27) und Bildad auf die Erkenntnisse der vorangegangenen Generationen (vgl. 8,8–10) verwiesen, um Hiob eine Grundlage für neue Hoffnung zu geben, so wünscht nun Zophar, Gott selbst möge mit Hiob reden (11,5–[6]). Text- und Im OG ist V. 5 auf ein Kolon konzentriert, möglicherweise zur Vermeidung Literar- eines Anthropomorphismus. Der in LXXZi asterisierte V. 5b geht nach den geschichte Textzeugen auf Aq zurück,21 so dass der ,kirchliche Text‘ der LXX jetzt eine Doppelübersetzung von V. 5 bietet. In V. 2 hat die LXX einen über den MT hinausgehenden Stichos („Gepriesen [sei] der von einer Frau geborene Kurzlebige“), der eine Wendung aus 14,1 aufgreift (vgl. 11,12 LXX; 15,14; 25,4). Die Rede wurde an zwei Stellen doxologisch bearbeitet. V. 6 ist ein kolometrisch ungleichmäßiges Tristichon mit wechselnden Subjekten von V. 6a zu V. 6b und auffälligem grammatischem Wechsel vom irrealen Wunsch in den Imperativ.22 Der Vers weist auf die verborgene Weisheit hin, die in dem mindestens sekundären Kap. 28 breit beschrieben wird (vgl. 28,12–14.20– 27),23 und enthält eine für die gesamte Hiobdichtung untypische Sündenvorstellung. Hinzu kommt die begriffliche Überschneidung mit anderen sekundären Abschnitten der Hiobdichtung.24 V. 8–9 bieten einen Exkurs über die „verborgenen Wege Schaddajs“ (taklît šaddaj, V. 7). Sie explizieren damit aber eher die „Weisheit“ aus V. 6, während in V. 10 „Gott“ selbst Subjekt ist, womit V. 7 fortgeführt wird. Der kosmologisch ausgerichtete Fragestil in V. 7a.8b erinnert wie schon V. 6 an die sekundären Verse 28,12.20 und an die Gottesrede in Kap. 38–39 (vgl. besonders 38,16). Zu diesen formalen und inhaltlichen Besonderheiten treten auch in V. 8–9 lexikalische Überschneidungen mit ande-
Vgl. Woods, Edition, 218. Vgl. Nõmmik, Freundesreden, 72. S.u. S. 412f; 422–437. 24 Vgl. taʿ alumāh in Hi 28,11; Ps 44,22 und nšh Hif. in Hi 39,17. Zu kæpæl (vgl. Hi 41,5) siehe die Anm. zur Übersetzung. 21 22 23
Hi 11 Die erste Rede Zophars
213
ren später ergänzten Passagen.25 Gegenüber einer Umstellung einzelner Verse26 ist es angemessener, in V. 6.8–9 insgesamt eine spätere Erweiterung zu V. 7 zu sehen.27 V. 7 hat zwar mit dem Begriff taklît ein ebenfalls nur in sekundären Stücken der Hiobdichtung vorliegendes Wort (vgl. Hi 26,10; 28,3.), fügt sich jedoch in das Strophenmuster der Rede und bildet die gedankliche Voraussetzung zu V. 10–11. Schließlich dürfte V. 19a eine Glosse zu V. 18b sein, so dass V. 19a und V. 20aα als ein Bikolon mit einem antithetischen Parallelimus zusammengezogen werden können. So endete die Rede, wie die erste Bildadrede, ursprünglich mit einem Bikolon (V. 20aβ.b) und einem synonymen Parallelismus zum Untergang der Frevler (vgl. 8,22). Die Abweisung der Klage Hiobs
11,1–6
Die Überschrift gibt den Namen und den Herkunftsort des Redners an (vgl. 11,1 den Exkurs zu 2,11–13) und leitet die Rede dann stereotyp wie in 3,2 mit „er hob an und sagte“ ein.28 Die eigentliche Rede wird mit der Polemik gegen Hiob, einer ironischen 11,2–3 Zitation und dem Wunsch, Gott selbst möge doch mit Hiob reden, eröffnet. Die sich auf zwei Verse erstreckenden rhetorischen Fragen, mittels derer Zophar seinen eigenen Auftritt begründet, nehmen mit ʿānāh („antworten“) und ṣādaq („gerecht sein/im Recht sein“) zwei Leitwörter der vorangehenden Hiobrede auf (9,[3].14–16.32 bzw. 9,[2].15.20; 10,15). Doch während sich Hiob von Gott selbst Antwort und Bestätigung seines Rechts wünscht, will Zophar sein Gegenüber zunächst noch auf menschlicher Ebene widerlegen.29 Hiob selbst erscheint als ein unheilvoller Schwätzer (vgl. Ps 140,12; Spr 10,8; 14,23). Seine Klage und sein Schrei zu Gott (9,27; 10,1) klingen in den Ohren des Weisheitslehrers als hochmütiges Gerede (vgl. Jes 16,6; Jer 48,30). Auf der Ebene des ‚Endtextes‘ wirkt vor dem Hintergrund der Formulierung in V. 2b der sekundäre Erzählerkommentar von 2,10 so, als habe sich Hiob, der ʾîš tām (1,1), nun als ʾîš ś epātajim doch mit seinen Lippen versündigt (Spr 10,8.10, vgl. aber 27,4). Schließlich greift Zophar auch mit dem Wort „spotten“ (lāʿag) auf die letzte Hiobrede zurück: Nicht Gott spottet – sei es angemessen oder unangemessen (9,23) –, sondern Hiob, der daher in die Schranken zu weisen ist. Der Vorwurf des gegenseitigen Spotts und der wechselseitigen Beschämung wird noch mehr-
Vgl. ʿmq in Hi 12,22; die Wurzel pʿl in Hi 7,20; 22,17; 31,3 sowie elfmal in den Elihureden; gbh in Hi 22,12; 40,10 und mad/middāh in Hi 28,25; zu ʿārok/ʾ arukkāh vgl. ʿoræk in Hi 12,12. 26 So streicht z.B. Hölscher das dritte Kolon von Hi 11,6 und positioniert 11,7 zwischen 11,3.4; de Wilde verlegt das dritte Kolon von V. 6 zwischen 11,17.18. 27 Ähnlich Baumgärtel, Hiobdialog, 53, und Kaiser, 83, die aber auch V. 7 für sekundär halten, sowie Wanke, Praesentia Dei, 242–248, der 11,6*.7–10 auf die „weisheitskritische Bearbeitung“ zurückführt. 28 Vgl. Hi 8,1; 11,1; 15,1; 18,1; 20,1; 22,1; 25,1 bzw. 6,1; 9,1; 12,1; 16,1; 19,1; 21,1; 23,1; 26,1. 29 Vgl. BT 5–6.34 (TUAT III, 146.148). 25
214
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
fach im Laufe des folgenden Streitgesprächs der Weisen fallen.30 Spott kennzeichnet misslingende Kommunikation. In 1Clem 30,4–5 werden V. 2 –3 in der sich leicht vom MT abweichenden Fassung der LXX, die hier einen zusätzlichen Stichos aufweist, im Zusammenhang mit der Ermahnung der christlichen Gemeinde zu demütiger Rede zitiert. 11,4 Zeichen des wachsenden Missverständnisses ist auch die ironische Beurteilung der bisherigen Reden Hiobs als læqaḥ, als weisheitliche Lehre. Mit dem als Zitat gestalteten Vorwurf an Hiob, er bezeichne seine Lehre als „rein/lauter“ (bar II, vgl. 33,8–9; Spr 16,2; Sir 40,21 [HB]), greift Zophar einerseits auf die Unschulds- und Reinheitsbekenntnisse Hiobs gegenüber seinen Freunden in 6,28–30 und vor allem gegenüber Gott in 9,20–21.30 und 10,7.15 zurück (vgl. 16,17). Andererseits konzentriert er die Klagen und Anklagen Hiobs auf den Begriff der „Lehre“, der hier einmalig im Buch auftaucht und den Hiob selbst in seiner Rede gar nicht verwendet hatte. Dabei handelt es sich um ein typisch weisheitliches Wort.31 Ziel einer weisheitlichen Lehre ist Gotteserkenntnis und Gottesfurcht (vgl. Spr 1,5; 9,9). Wie die Verwendung des Begriffs in Dtn 32,2 und Jes 29,24 zeigt, beinhaltet læqaḥ auch die rechte Erkenntnis Gottes und die richtige Rede über Gott als Schöpfer und Gestalter der Geschichte. Spr 4,2 belegt die Synonymität der Begriffe læqaḥ und tôrāh, womit in Spr 4 nicht nur die weisheitliche Ermahnung gemeint ist, sondern auch auf die Torah und ihr ganz spezifisches Offenbarungsverständnis angespielt wird.32 In 9,22–34 hatte Hiob – im Kontrast zum „Lied des Mose“ in Dtn 32,2–4 – die Gerechtigkeit Gottes angezweifelt. Zophar nun verteidigt diese ebenfalls unter Rückgriff auf das „Moselied“ in Dtn 32.33 An dem Gegenüber von 9,22 und 11,4 lässt sich ein Zentralproblem des gesamten Hiobbuches ablesen: In ihm geht es auch um die rechte Lehre, um die richtige, aufrichtige Rede von, zu und über Gott und um die Frage, wer letztlich das Urteil über diese fällt (vgl. 13,7–12; 34,4.34– 36; 42,7b). Der Dialog zwischen Hiob und seinen Freunden erweist sich als ein groß angelegter Versuch, Kriterien, Begründungen und Ausdrucksformen für eine (auf-)richtige Theologie zu finden. Bilden die eigene existentielle Situation, die überlieferte Tradition oder eine spezielle Offenbarung den Grund und den Maßstab des rechten und gerechten Redens von, über und zu Gott? Die LXX, die hier kein Zitat, sondern eine Mahnung bietet („Sage nicht, dass ...“), verweist in charakteristischer Abweichung vom MT, aber für die griech. Hiob-Übersetzung typisch, auf die „Werke Hiobs“34, die vermeintlich rein sind. 11,5 Nach der ironischen Abweisung Hiobs wünscht Zophar, Gott selbst möge mit Hiob reden und ihm die Richtigkeit der Theologie der Freunde bestätigen. Gegenüber dem „Mann der Lippen“ muss Gott seine „Lippen“ öffnen (vgl. Vgl. Hi 12,4; 16,4; 19,3; 21,3; 34,7. Vgl. Spr 1,5; 4,2; 7,21; 9,9; 16,21.23; Sir 8,8 (HA/D); 32,14 (HB/F); 51,16 (11QPsa XXI,13); Jes 29,24; Dtn 32,2; 1QS XI,1; 4Q418 frgm. 81,17. 32 Siehe dazu Schipper, Sprüche, 290f. 33 Zu den Bezügen zwischen dem Hiobbuch und Dtn 32 siehe grundsätzlich Greenstein, Parody, 66–78. 34 HiLXX 1,3; 13,27; 22,3, vgl. 11,11; 21,16; 34,21.25; 36,3.9. 30
31
Hi 11 Die erste Rede Zophars
215
3,1) und mit Hiob reden – genau das wünscht Hiob. Insofern trifft Zophar einen Punkt Hiobs (vgl. 9,15.35; 10,2). Ein Nachtrag konkretisiert die fiktive Gottesrede: Gott vermittelt zum einen 11,6 besondere Weisheit (vgl. Ps 51,8; Sir 42,18–20) und zum anderen ein „Vergessenlassen“ (nāšāh Hif.) der Schuld bzw. eines Teils der Schuld. Motivisch vertritt dieser Vers wie das später in die Hiobdichtung eingelegte Gedicht in Kap. 28 die Vorstellung einer hypostasenähnlichen Weisheit und teilt mit Texten aus Qumran die Vorstellung der Vermittlung spezieller Erkenntnisse an die von Gott selbst entsündigten Gerechten (vgl. 1QS XI,5–8; CD-A II,2–7). Kompositionell reagiert der Zusatz in der ,Endgestalt‘ des Buches auf Hiobs Frage nach der göttlichen Vergebung der Sünden (7,21aα) und auf die Erwartung Hiobs, Gott werde ihn, falls er sich verfehlt habe, wunderlich behandeln (10,14–16): Gott tut Wunder (pælæʾ).35 Nicht mehr an eigene Verfehlungen denken zu müssen, ist ein Wunder. Doch während Hiob sich ein solches Vergessen von Gott selbst wünscht, stellt ihm Zophar dies (nur) als ein eigenes Vergessen (oder als ein Vergessen zugunsten Hiobs)36 in Aussicht. Dies ist weniger als eine Vergebung der Schuld (vgl. dagegen Ex 34,7; Ps 32,5; 85,3; Jes 1,18). Der Hinweis auf das Wesen Gottes
11,7–12
Ähnlich wie die erste Strophe wird auch die zweite mit einer rhetorischen 11,7 Frage eröffnet. Der erste Vers ist durch die doppelte Verwendung einer Gottesbezeichnung und desselben Verbs in beiden Kola (vgl. 8,3; 13,7) stilistisch besonders hervorgehoben. Inhaltlich und formal handelt es sich um eine Doxologie (vgl. 5,9; 9,10; 36,26; Sir 43,28), die Hiob auf der Textoberfläche nicht bestreitet, wohl aber in ihrer Tiefenstruktur und hinsichtlich ihrer Funktion: Gott ist gerade für Hiob unergründlich und nicht zu verstehen, aber nicht im Blick auf lebenstiftende Wunder, sondern im Blick auf das als ungerecht empfundene, lebenszerstörende Handeln. Ob das im biblischen Hebräisch seltene Wort taklît, das sich nur in den sekundären Versen Hi 26,10 und 28,3 sowie in Ps 139,22 und Neh 3,21 findet37 und das V. 9b kolometrisch überlastet, zum ursprünglichen Bestand gehört, ist unsicher. In der Rückschau wirft seine Verwendung im bab. Talmud (bBer 17a) ein besonderes Licht auf diesen Vers und auf die Mahnung Zophars, wenn dort als Wahlspruch Rabas überliefert ist, dass das Ziel (taklît) der Weisheit Buße und gute Werke seien (vgl. Hi 28,28; Spr 1,7). Eine nochmals neu gewendete Aufnahme findet der Vers im Blick auf die durch Gottes Handeln in Jesus Christus ermöglichte Erkenntnis:
Vgl. Hi 5,9; 9,10; Ex 15,11; Ps 77,12; 88,11.13 sowie die Anm. zur Übersetzung. Siehe die Anm. zur Übersetzung. 37 Im Qumranschrifttum ist dieses Wort bisher auch nur zweimal in sehr fragmentarischen Texten belegt (4Q298 frgm. 51,8; 4Q299 frgm. 6 II,15). 35 36
216
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Uns aber hat es Gott offenbart durch den Geist; denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen Gottes. (1Kor 2,10 LB)
11,8–9 Im Stil von V. 6 und der späteren Gottesrede (Kap. 38–39) wird die absolute Unergründlichkeit Gottes (vgl. 1QHa XII,22[23]–23[24]) und seiner Weisheit (vgl. 1QHa XVII,7) mit einem kosmischen Vergleich unterstrichen (vgl. Hi 28,20–27). Hinter diesem wird die altorientalische Vorstellung von der vertikalen und horizontalen Ausdehnung der Welt deutlich. Der Himmel und die Unterwelt (š eʾôl) markieren die am weitesten voneinander entfernten Räume.38 Die Vorstellung von der Unergründlichkeit der Gottheit gehört zum Repertoire altorientalischer Theologien.39 Hier wird damit Hiob die Begrenztheit seines Wissens und seines Wesens vor Augen geführt. Genau das weiß Hiob (10,4–5, vgl. Pred 7,23–24; Röm 11,33). Doch anstelle eines Einblicks in die Tiefen Gottes, die für ihn zu Untiefen geworden sind, wünscht sich Hiob die Erfahrung von Gottes himmelhoher liebevollen Anteilnahme (ḥæsæd): Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade (ḥæsæd) walten über denen, die ihn fürchten. (Ps 103,11 LB).
11,10–11 Der Unergründlichkeit steht die Unfassbarkeit des allwissenden Gottes zur Seite. In einer dreigliedrigen Klimax,40 die wieder in einer rhetorischen Frage mündet, entfaltet Zophar das Erscheinen Gottes zum Gericht (vgl. 9,11–12; Jes 43,13). Gott nimmt – entgegen der Behauptungen Hiobs in 9,22–24 – das Geschehen auf der Welt differenziert wahr, bleibt dabei aber unverfügbar (vgl. SapSal 12,12). Dies schlägt sich in seinem Gericht über die „Männer des Nichtigen (šāwʾ)“41 nieder. Der durchgehend negativ besetzte Begriff šāwʾ bezeichnet in vielerlei Hinsicht ein schädliches, lügenhaftes Verhalten, sei es innerhalb der menschlichen Gemeinschaft (vgl. Dtn 5,20; Jes 59,4–8), sei es gegenüber Gott (vgl. Dtn 5,11; Hi 31,5; 35,13). Durch den Parallelismus mit dem Wort ʾāwæn (vgl. 4,8; 5,6) wird šāwʾ hier als Frevel charakterisiert, der von Gott geahndet wird.42 Auch diesen Gedanken betont der Dichter mittels eines begrifflichen Dreiklangs („kennen – sehen – durchschauen“) besonders. Vgl. Ps 139,8; Jes 7,11; Am 9,2. Vgl. Hi 5,9; 9,10; 26,14; Spr 30,3–4; Sir 43,27–33; 1QHa XVII,16–17; 1QS XI,19–20; EnEl. VII,155 (TUAT.NF VIII, 131); BT 82.256.264 (TUAT III, 151.155f); Lud. II,36–38 (TUAT III, 122f); Ištar-2 39 (TUAT.NF VII, 85–90, hier: 88); Šu-illa-Gebet Marduk 4 11 (Lenzi, Akkadian Prayers, 298, 308); Lehre d. Amenemope 22,5–6 (TUAT.NF VIII, 343); Lehre d. Anchscheschonki 26,14 (TUAT III, 275); Pap. Insinger 31,1; 32,22 (TUAT III, 314; 316); Pap. Leiden I 350 (Tausend-Strophen-Lied) IV,12–21 (COS 1.16, 25; ÄHG 138, 332–333: Amun als der schlechthin verborgene und sich verbergende Gott). 40 Vgl. zu dieser Stilfigur Watson, Poetry, 173f. 41 Vgl. Hi 15,31; 22,15; Ps 26,4; Sir 15,7 (HA/B). 42 Vgl. Hi 31,3; 34,22; Ps 5,6; 28,3; 36,13; 92,8. 38 39
Hi 11 Die erste Rede Zophars
217
Das die Strophe beschließende, ursprünglich vielleicht selbstständige Sprich- 11,12 wort ist aufgrund seines Wortbestandes, vor allem in V. 12b, nicht ganz klar. Offenbar soll es den Gedanken ausdrücken, dass ein Dummkopf ebenso wenig klug wird (vgl. lbb I Nif.)43, wie ein Hengst oder Wildesel (vgl. 6,5; 39,5) als Mensch oder als Maultier (v.l.)44 geboren wird. Von der Gerechtigkeit Gottes
11,13–16
Den Hauptanteil der ersten Rede Zophars bilden Verheißungen an Hiob. Diese unterliegen dem auch in der ersten Rede Bildads angewendeten Schema der Gegenüberstellung des „Frevlers“ (rāšāʿ) und des „Gerechten“ (ṣaddîq). Die Strophe weist eine merkwürdige Verschränkung von Bedingungssätzen (V. 13.14aα), imperativisch formulierten Mahnungen (V. 14aβ.b) und Heilsankündigungen (V. 15–16) auf. Hiobs Erfahrung des dämonischen Gottes (7,12–20; 10,13–17) interpretiert Zophar als Erfahrung des strafenden Gottes. Die Erfahrung des strafenden Gottes ist für Zophar aber ein deutlicher Hinweis auf Hiobs Schuld. Daher ist Hiob aus Zophars Sicht zur Buße zu bewegen. Der Auftakt der konditional formulierten Mahnungen schließt lexikalisch 11,13–14 eng an V. 12 an (vgl. lbb I Nif.; leb). Zophar fordert Hiob dazu auf, sein Herz fest, d.h. seine ganze Person treu (auf Gott) auszurichten45 und seine geöffneten Hände bzw. seine Handflächen im Gebet zu Gott auszustrecken (pāraś). Der Gestus ist eine für den Alten Orient und die Antike typische Gebetshaltung.46 Bevor diese Protasis aber in V. 15 fortgesetzt wird, folgen der im Imperativ und im Vetitiv formulierte Aufruf an Hiob, Frevel und Unrecht aus „seinen Händen“ (vgl. 16,17; Ps 7,4) und aus seiner unmittelbaren Umgebung zu entfernen und somit die Hindernisse für eine heilvolle Kommunikation mit Gott zu beseitigen. Zophar schlägt mit diesen Mahnungen in dieselbe Kerbe wie Bildad (8,5–6, vgl. 22,23), obgleich Hiob inzwischen deutlich erklärt hat, dass er sich keines Vergehens bewusst ist (9,20–21). Wie aber soll der, der sich keiner Schuld bewusst ist, diese bekennen oder beseitigen? Zophar selbst gibt auf diese Frage, die sich ja auch Hiob stellt (vgl. 10,2), 11,15–16 keine Antwort. Anstelle einer Anleitung, wie Hiob das von ihm angeblich begangene Unrecht entlarven könne, folgt die Ankündigung, Hiob dürfe sein Angesicht (pānîm) – nach der Nennung des „Herzens“, der „Handflächen“ 43 Vgl. dazu Waltke/O’Connor § 23.5; doch siehe auch DCH s.v. lbb II („brennen“, 2Sam 13,6.8) und lbb III („sprießen/sprießen lassen“). 44 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 45 Vgl. Ps 51,12; 78,8.37; 112,7; 2Chr 12,14. Zur Semantik des Begriffs leb „Herz“ siehe die Auslegung von Hi 8,8–10. 46 Vgl. Ex 9,33; 1Kön 8,22.31; Jes 1,15; Ps 44,21; 143,6; Esr 9,5; Sir 48,20; 4Q184 frgm. 3,3; 4Q512 frgm. 42–44,6; 11QPsa XXIV,3; aram. Inschrift des Königs Zakkur A 11 (KAI 202 A, 11); Aischylos, Prom. 1005; siehe dazu auch Gruber, Aspects, 22–89; U. Ehrlich, Language, 110–119; Janowski, Anthropologie, 292; 582 (Q 53), sowie zu entsprechenden Darstellungen in der vorderorientalischen Kunst Keel, Bildsymbolik, 287–301.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
und der „Hand“ der vierte anthropologische Begriff innerhalb dieses Doppelverses – wieder ohne Makel (mûm) erheben (vgl. 9,27; 22,26) und ohne Furcht leben (vgl. 5,21–22; 9,35; 10,15). Die Verheißung der Makellosigkeit ist dabei nicht nur in einem sittlichen und religiösen Sinn gemeint,47 sondern bezieht sich umfassend auf die Unversehrtheit der Person Hiobs, also auch auf seinen geschundenen Körper (2,7–8; 7,5–6): Hiob wird sich wieder ohne jedes Gebrechen Gott nähern können (vgl. Lev 21,17–24) und sich dadurch als tām erweisen (vgl. 1,1). Damit wird Hiob in Aussicht gestellt, was nach dem etwas jüngeren Sirachbuch einst Abraham auszeichnete: Abraham (war) der Vater einer Menge von Völkern, er brachte auf seine Ehre keinen Makel (mûm), (er), der die Gebote des Höchsten bewahrte und in einen Bund mit ihm eintrat. An seinem Fleisch schnitt er sich eine Satzung und in der Versuchung wurde er für treu befunden.48 (Sir 44,19–20 [HB])
In diesem Licht könnte Hiob gemäß Zophar sein Leid (ʿāmāl, vgl. 3,10.20; 7,3) schnell vergessen. Wie schon in 6,15 bietet der Dichter mit dem Bild des dahinfließenden oder versiegenden Wassers einen der Naturbeobachtung entlehnten Vergleich (vgl. 12,15). 11,17–20 Die Verheißungen des Trösters Die Abschlussstrophe enthält reine Verheißungen an Hiob. Wie in der ersten Rede Bildads (8,22) hat das summary appraisal über das Ende der „Frevler“ (r ešāʿîm) aufgrund seiner Einbettung in den Verheißungsteil die Funktion, Hiob neue Hoffnung zu schenken. Motivgeschichtlich steht hinter der Gegenüberstellung des lichten Geschicks der Frommen (V. 17–19) und des dunklen Geschicks der Frevler (V. 20) das Schema von zwei Wegen, die dem Menschen vorgelegt sind (vgl. Ps 1,6; 4Q270 frgm. 2 II,20; Mt 7,13–14).49 11,17 Mit dem Bild des sich strahlender als die Mittagssonne erhebenden Lebens und der Erfahrung tiefer Dunkelheit als heller Morgen (vgl. Jes 58,10) reagiert Zophar einerseits auf Hiobs Klage über die Flüchtigkeit seines Lebens (10,20), andererseits auf dessen Ausblick, hoffnungslos dem Lande der Finsternis entgegenzugehen (10,21–22). Hiobs Herabrufung der Finsternis (3,4–6) steht damit die Verheißung einer lichten Zukunft gegenüber. Dieser Vers impliziert Vgl. Hi 31,7; Dtn 32,5; Sir 11,33 (HA); 33,23 (HE); 44,19 (HB); 47,20 (HB). Siehe dazu M. Witte, Beobachtungen zum Abrahamporträt des Sirachbuchs (Sir 44,19–21), in: R. Müller u.a. (Hg.), Fortgeschriebenes Gotteswort. Studien zur Geschichte, Theologie und Auslegung des Alten Testaments (FS C. Levin), Tübingen 2020, 397–412. 49 Vgl. Lehre d. Amenemope 6,1–12 (TUAT.NF VIII, 332f); siehe dazu auch die für die pagane hellenistische Tugendlehre wichtige Erzählung von Herakles am Scheideweg (Xenophon, mem. II, 1, 21–34). 47 48
Hi 11 Die erste Rede Zophars
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im Duktus des Hiobbuches, das abgesehen von sehr späten Glossen in 14,12aβ; 19,28–29; 29,18–20 und anders als der LXX-Zusatz in 42,17a keine eschatologische Erwartung enthält, keinen Ausblick auf ein ewiges Lebens oder eine Auferstehung,50 sondern die Hoffnung auf eine Erneuerung des Lebens vor der absoluten Grenze des Todes (vgl. 5,23–26; 8,7.21; 19,25–27). Auch mit der Ankündigung, dass Hiob neue Hoffnung (vgl. 4,6; 14,7; 11,18–19a Spr 23,18; 24,14) schöpfen und sich ruhig niederlegen werde, greift Zophar auf Hiobs vorangehende Klagen zurück (vgl. 7,2.6 bzw. 7,4). So soll auch die Verheißung des sicheren Ruhens in diesem Leben ein Gegengewicht zu Hiobs Erwartung der sicheren Todesruhe sein (vgl. 3,13; 7,21; Spr 1,33). Der Glossator, der V. 18b mittels der Ergänzung von V. 19a unterstrichen hat, lässt im Bild vom ruhenden (rābaṣ) Tier, das nicht aufgeschreckt wird (vgl. Dtn 28,26), Bekenntnisse zu Gott als Grund des Vertrauens (vgl. Ps 23,2–4) und Herrn der geregelten Zeit (vgl. Ps 104,20–22) anklingen. Hiobs künftiges Schicksal wird demnach der Zukunft der von Gott selbst geweideten Gemeinde gleichen, die den Untergang Jerusalems 587 v.Chr. und das Exil überstanden hat (vgl. Zeph 3,13; Jes 14,30). Die Restitution Hiobs soll sich in seinem wiedergewonnenen hohen sozia- 11,19b–20 len Ansehen niederschlagen (vgl. 29,9–11). Das jetzt noch vom Leid und von Hoffnungslosigkeit entstellte Antlitz Hiobs (vgl. 9,27; Jes 52,13–14) soll einst wieder verheißungsvoll wie das Angesicht eines Königs über Viele (oder Mächtige) strahlen.51 Damit wird der Gottesknecht Hiob (1,8) an die Seite des anonymen Gottesknechtes in Jes 52,13–53,12 treten, mit dessen Weg sich Hiobs Weg indirekt im Rahmen zahlreicher innerbiblischer Bezüge und dann ausdrücklich in der Wirkungsgeschichte mehrfach kreuzt. Die Augen der Frevler hingegen werden keinen Glanz mehr haben52 – weder für andere noch für sich selbst, wenn sie nämlich hoffnungslos zugrunde gehen (vgl. 8,13; 27,8; Spr 10,28; SapSal 5,14). Was einerseits eine Verheißung an Hiob ist, dient diesem zugleich als eine Mahnung, selbst kein Frevler (rāšāʿ) zu sein (vgl. 8,22; 15,20; 18,5; 20,29). Wirklich neue Argumente hat Zophar – mit Ausnahme des (sekundär angereicherten) Wunsches, Gott selbst möge mit Hiob sprechen – den Reden des Eliphas und Bildad nicht hinzugefügt, so dass die Verständigung Hiobs mit seinen Freunden bereits jetzt zu einem gedanklichen Stillstand gekommen zu sein scheint.
50 Vgl. aber Jes 26,19; Dan 12,2–3; 4Q385 frgm. 12(3),2. Tg hat durch einen Zusatz in Hi 11,17 die Vorstellung der leiblichen Auferstehung eingetragen (vgl. Tg zu Hi 14,14), dementsprechend deuten auch die mittelalterlichen jüdischen Ausleger (vgl. Seow, 598). Siehe dazu auch den Exkurs auf S. 125f. 51 Vgl. Hi 29,24; Ps 45,13; Spr 19,6. 52 Die (verschmachtenden) Augen (vgl. Hi 17,5; 31,16; Jer 14,6; Ps 69,4; Klgl 2,11; 1QHa XVII,5) stehen hier wie andere Körperbegriffe (Herz, Nieren, Fleisch, Kehle) pars pro toto für das (vergehende) Leben selbst (vgl. Hi 19,27; 33,21; Ps 31,11).
220
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Hi 12–14 Die dritte Rede Hiobs HD 12,1 Und Hiob hob an und sagte: Wahrhaftig, ihr seid wirklich Wissende1, und mit euch wird die Weisheit sterben! Auch ich habe Verstand2 so wie ihr. Ich falle gewiss nicht hinter euch zurück,
2 3 GR
Wem ergeht es denn nicht ebenso? 4 Ein Gespött für seinen Nächsten wird,3 wer Eloah anruft, dass er ihm antworte, ein Gespött der vollkommen Gerechte. 5 Zum Unglück kommt noch Spott nach Meinung des Sicheren, ein Stoß4 für die, deren Fuß (ohnehin) schon wankt. 6 Ohne Sorge sind die Zelte von Verwüstern, und Sicherheit haben die, die El verärgern, was den betrifft, den5 Eloah in seine Hand brachte.
MR
7 8 9 10
Aber frage doch das Vieh, [und es soll dich lehren]6 und die Vögel des Himmels, und sie sollen dir verkünden, oder sinne7 über die Erde nach, und sie soll dich lehren, und erzählen sollen dir die Fische des Meeres. Wer erkennt nicht an all diesem, dass die Hand Jhwhs8 solches getan, in dessen Hand die Lebenskraft alles Lebendigen und der Lebensgeist allen Fleisches ist.
11 Prüft denn nicht das Ohr die Worte, wie9 der Gaumen die Speise schmeckt …10? Anstelle von ʿām „Leute“ lies jod eʿîm. Wörtl.: „Herz“. 3 Anstelle von ʾæhejæh „werde ich“ (vgl. Weiser) lies jihejæh (vgl. LXX; Syr). 4 So nach nākôn I (vgl. Ges18; KAHAL; DCH). Dagegen bleibt Seow beim MT („es ist richtig“) und versteht V. 5b wie die Aussagen von V. 4 (abgesehen von dem diese mutmaßlich einleitenden ʾæhejæh) als Zitat. 5 Oder: „der“. Zur Problematik des Stichos siehe die Auslegung. 6 w etoræk schießt kolometrisch über und könnte aus V. 8 eingedrungen sein; zum singularischen Prädikat nach pluralischem Subjekt siehe G/K § 145k; J/M § 150g. 7 So nach dem MT als Imperativ von śjḥ (vgl. CTAT 50/5, 85). Angesichts der Reihe „Vieh – Vögel – Fische“ ist zu erwägen, ob anstelle von śî aḥ lāʾāræṣ nach Gen 1,24 ḥajjat hāʾāræṣ „Tiere des Feldes“ oder nach Mi 7,17 zoḥ alê ʾæræṣ „Kriecher des Feldes“ zu lesen ist. 8 Hi 12,9 ist der einzige Beleg für die Verwendung des Tetragramms innerhalb einer Rede der Dichtung. Einige Hss bieten die in der Dichtung häufig verwendete Gottesbezeichnung ʾ ælô ah. Dieses Problem ist jedoch nicht textkritisch, sondern literargeschichtlich zu lösen. 9 Vgl. die Anm. zu Hi 5,7. 10 Das letzte Wort aus V. 11 lô „für sich“ ist als loʾ „nicht“ zu lesen und als erstes Wort zu V. 12 zu ziehen; zur Verwendung von loʾ im Nominalsatz vgl. Hi 21,16; Dtn 30,12 sowie G/K § 152d. 1 2
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12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
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Nicht11 bei den Greisen ist Weisheit und (nicht) bei den Hochbetagten Verstand. Bei ihm12 ist Weisheit und Stärke, ihm gehören Rat und Verstand. Wenn13 er einreißt, dann wird nicht gebaut, und schließt er um einen Mann herum zu, dann wird nicht geöffnet. Wenn er das Wasser zurückhält, dann trocknet es aus, und lässt er es los, dann verwüstet14 es die Erde. Bei ihm ist Kraft und Vernunft, ihm gehören der, der irrt, und der, der irreführt. 15 Er lässt die Ratgeber barfuß gehen und macht die Richter zu Narren. Er löst den Gürtel16 der Könige und bindet (dann) den Strick um ihre Hüften. Er lässt die Priester barfuß gehen, und alte Geschlechter17 stürzt er um. Er entzieht das Wort denen, auf die man vertraut, und den Verstand der Alten nimmt er weg. Er gießt Spott über die Edlen aus und den Gürtel der Starken macht er schlaff. Er legt große Tiefen frei von der Finsternis und führt (dann) zum Licht hinaus die dunklen Schatten. Er macht Völker groß und richtet sie (dann) zugrunde, er breitet Stämme18 aus und lässt sie (dann) liegen.19
Siehe die vorhergehende Anm. D.h.: Gott. 13 Zur Einleitung eines Konditionalsatzes mit hen siehe die Anm. zu Hi 4,18. 14 Wörtl: „wendet es um“ (vgl. Hi 9,5; 28,9). 15 Die Wiedergabe der Tempora in den V. 17–25 ist umstritten. Weil Partizipien zeitneutral sind und in V. 18b.22b.23.24b.25b Impf. consec. vorliegen, schlägt Bobzin, Tempora, 190–193, vor, den gesamten Abschnitt narrativ zu verstehen. Andererseits spricht der hymnische Stil dafür, die V. 17–25 als generelle Entfaltung von V. 16a und der Vorstellung eines geschichtlich immer wieder möglichen Handelns Gottes zu verstehen; zum präsentischen Verständnis des Impf. consec. nach Partizip siehe J/M § 118r. 16 Will man nicht ein mûsār II annehmen (vgl. KAHAL), empfiehlt es sich, môser zu lesen (vgl. Tg; Vg; Jes 28,22; 52,2; Ps 116,16; Hi 39,5). P. van Hecke, Job xii 18a. Text and Interpretation, VT 54 (2004) 269–273, liest ebenfalls môser, versteht dies aber als Part. von msr im Sinn von ausliefern und punktiert pitte aḥ als petaḥ („Tor“): „he surrenders kings in the gate“ (vgl. Syr). 17 Wörtl.: „Feste/Dauerhafte“. Hartley und Seow vermuten in ʾetānîm einen Titel für Tempelfunktionäre. 18 Anstelle von laggôjim (vgl. V. 23a) lies leʾûmmîm (vgl. wenige Hss). 19 Nach dem Parallelismus ist eine negative Aussage zu erwarten, so dass anstelle von janḥem „er führt sie“ (vgl. Th; Tg; Hi 38,32; Ps 67,5) besser janniḥem (vgl. Syr) oder jānîḥem zu lesen ist (vgl. Budde; J. Gray). Noch stärker in den MT greifen die Korrekturvorschläge jimḥem „er wischt sie 11 12
222
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24 25 13,1 2 HD 3 4 5 6
Er entzieht den Verstand20 der Häupter …21 dieser Erde und lässt sie (dann) in der Öde irren ohne Weg. Sie müssen in der Finsternis tappen, und zwar ohne Licht, und lässt sie (dann) umherirren wie einen Trunkenen. Siehe: Alles hat mein Auge selbst gesehen, hat mein Ohr gehört und es wahrgenommen. Was ihr wisst, das weiß jedenfalls auch ich, ich falle gewiss nicht hinter euch zurück.
Doch ich möchte zu Schaddaj reden, und mit El zu rechten habe ich Lust. Aber ihr seid doch nur Lügenpflasterer, nichtige Ärzte seid ihr allesamt. Würdet ihr doch wirklich einmal schweigen, dann wäre das für euch Weisheit. Hört doch auf die Beweise meines Mundes22, und auf die Streitreden meiner Lippen passt auf.
7 Wollt ihr etwa für El Unrecht reden, und wollt ihr für ihn Trug reden? 8 Wollt ihr ihn begünstigen23, oder wollt ihr für El streiten? 9 Ist es gut (für euch), wenn er euch erforscht, wenn ihr ihn täuscht, wie man einen Menschen täuscht? 10 Er wird euch gewiss zurechtweisen, wenn ihr heimlich begünstigt24. 11 Wird euch nicht seine Erhabenheit überfallen und sein Schrecken auf euch niedergehen? 12 Eure Merkworte sind nur Aschesprüche, zu25 Drecksantworten (werden) eure Antworten26.
weg“ (vgl. Hölscher; Horst) oder jimhem „er richtet sie zugrunde“ (vgl. Fohrer) ein. Clines bleibt beim MT, versteht dann aber das vorangehende Verb šṭḥ im negativen Sinn von „zerstreuen“, so dass V. 23 einen Chiasmus bildet. Seow erwägt für den MT eine doppeldeutige oder ironische Tendenz. 20 Siehe die Anm. zu Hi 12,3. 21 ʿam „des Volkes“ ist aus kolometrischen Gründen zu streichen; denkbar wäre auch, dass hāʾāræṣ sekundär ist (vgl. J. Gray); zu einer dreigliedrigen Constructus-Kette siehe Waltke/O’Connor § 9.3c. 22 Anstelle von tôkaḥtî „meine Entgegnung“ lies aufgrund des Parallelismus tôkaḥat pî (vgl. LXX; Hi 23,4). 23 Wörtl.: „sein Angesicht heben“. 24 D.h.: Partei ergreift, vgl. die Anm. zu Hi 13,8. 25 e l wird hier zumeist als emphatisches lamed gedeutet (vgl. Brockelmann, Syntax § 31a), dessen Gebrauch im Hiobbuch aber nicht sicher nachgewiesen ist. Es empfiehlt sich die Wiedergabe als Präp. (vgl. Syr; Vg; Tg). 26 So nach gab II (vgl. KAHAL; DCH – gegen Ges18 mit der Annahme nur einer Wurzel gab im Sinn von „Schildbuckel“ ([Hi 15,26]); zur ausführlichen Diskussion siehe Clines und Seow.
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13 Schweigt vor mir, so dass ich selbst reden kann,27 und an mir ziehe vorbei, was kommen mag. 14 …28 Ich will mein Fleisch in meine Zähne nehmen und mein eigenes Leben in meine Hände legen. 15 Wenn29 er mich töten will, harre ich nicht30 aus, nur meine Wege will ich vor seinem Angesicht beweisen. 16 Dies mag mir sogar zur Rettung dienen: Denn kein Gottloser kommt vor sein Angesicht. 17 Hört doch, hört doch meine Rede, und meine Kundgabe komme in eure Ohren. 18 Siehe doch: Ich lege den Fall vor, ich weiß, dass ich gewiss Recht behalten werde. 19 Wer ist der, der gegen mich streiten könnte? Doch jetzt muss ich schweigen und verscheiden. 20 21 22 23
Nur zwei Dinge tue mir nicht an, dann will ich mich nicht vor deinem Angesicht verbergen. Deine Hand ziehe von mir fort, und dein Schrecken überfalle mich nicht. Aber rufe, und ich selbst will antworten, oder ich will reden, und du erwidere mir dann. Wie beschaffen sind die Verschuldungen und Sünden im Blick auf mich? Mein Vergehen und meine Sünde lass mich wissen!
24 Wozu verbirgst du dein Angesicht und hältst mich für deinen Feind? 25 Willst du ein verwehendes Blatt erschrecken und einen dürren Strohhalm verfolgen? 26 Dass du Bitteres gegen mich aufschreibst und mich die Verschuldungen meiner Jugend erben lässt, 27 um meinen Fuß in den Block zu legen31 und alle meine Schritte zu beobachten, und du hast dich auf die Sohlen meiner Füße eingeritzt.
27 Zur Fortsetzung eines als implizite finale oder konsekutive Hypotaxe fungierenden Imperativs mit Impf. (consec.) vgl. Hi 21,3; 33,33; 36,2; 38,3; 40,7; 42,4 (vgl. Diehl, Imperativ 192; 213; J/M § 115cN; § 116f). 28 ʿal-māh „wegen was/weshalb“ dürfte eine Dittographie von ʿālaj māh aus V. 13 sein (vgl. LXX). Nach dem MT handelt es sich um eine (verzweifelte) Frage Hiobs (vgl. CTAT 50/5, 91f). Dagegen verlegt Duhm ʿal-māh an das Ende von V. 13 (māh ʿal-māh „was auch immer“; vgl. Hölscher; Seow). 29 Zur Einleitung eines Konditionalsatzes mit hen siehe die Anm. zu Hi 4,18. 30 So nach dem Ketib (vgl. Weiser; Clines); viele Hss und die alten Übersetzungen lesen gemäß dem Qere lô „auf ihn“ (vgl. Fohrer; Seow). Bedenkenswert ist der Vorschlag von BHK, anstelle von a ʾ jaḥel ʾæḥdāl „ich lasse (nicht) ab“ zu lesen (vgl. Hi 16,6); die Parallele in Hi 6,11 spricht dafür, die Wurzel jḥl beizubehalten. 31 Zum Gebrauch des Jussivs (tāśem) im Finalsatz siehe Bobzin, Tempora, 202.
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28 Aber er selbst: Wie Fäulnis32 wird er verfallen, wie ein Kleid, das die Motten fressen. 14,1 Der Mensch, [der von der Frau Geborene,] an Tagen kurz und satt an Aufregung: 2 Wie eine Blume geht er auf und welkt und flieht wie ein Schatten ohne Bestand. 3 Und dann hältst du noch über diesen deine Augen auf und bringst mich33 mit dir vor Gericht. 4 Könnte doch ein Reiner vom Unreinen kommen! – Nicht einer! 5 Wenn seine Tage genau bemessen sind, die Zahl auch seiner Monde bei dir liegt, – seine Grenze34 hast du festgesetzt und er kann (sie) nicht überschreiten – 6 dann blick doch weg von ihm und lass ab35, bis er dem Tagelöhner gleich seinen Tag abgedient36. 7 Denn für einen Baum gibt es Hoffnung noch, wird er gefällt, so sprosst er wieder auf, und seine Triebe enden nicht. 8 Wenn seine Wurzel alt wird in der Erde und im Staub sein Baumstumpf stirbt, 9 so blüht er vom Hauch des Wassers wieder auf und trägt Zweige wie ein junges Pflänzlein. 10 37Aber ein Mann: Wenn er stirbt, schwindet dahin, und wenn ein Mensch verscheidet, wo38 ist er dann? 11 Wie das Wasser aus dem Meer vergeht, ein Strom versiegt und trocken wird, 12 so39 legt man sich nieder und erhebt sich nicht (mehr), bis die Himmel verbraucht40 sind, erwachen sie nicht, und wird aus seinem41 Schlaf nicht mehr geweckt. 32 So mit dem MT (rāqāb, vgl. Hab 3,16; Spr 14,30). LXX und Syr haben entweder roqæb „Schlauch“ gelesen, was häufig für ursprünglich gehalten wird (vgl. Fohrer; Clines), oder rāqāb im Sinn von Schlauch verstanden (vgl. syr. raqboʾ ; Loiseau, L’influence, 23). 33 Anstelle von ʾotî „mich“ lesen LXX, Syr und Vg ʾotô „ihn“, doch siehe die Auslegung. 34 So nach dem Ketib (vgl. LXX; Syr; Tg); das Qere schlägt den Pl. vor (vgl. HsK147; Vg). 35 Anstelle von jæḥdāl „dass er ablasse/aufhöre“ lies ḥ adāl (vgl. HsK245; Hi 7,16). 36 So nach rṣh II (vgl. Lev 26,41.43); zumeist wird nach rṣh (I) „froh sein“ übersetzt (vgl. Weiser). Seow schließt einen doppeldeutigen (ironischen) Gebrauch der Wurzel rṣh („beenden“ und „sich freuen“) nicht aus. 37 Zur stativischen Funktion der Tempora in V. 10 siehe Bobzin, Tempora, 208. 38 Anstelle von ʾajjô liest HsR574 ʾājîn „weg“ (vgl. LXX; Syr); doch spricht einiges dafür, bei ʾajjô zu bleiben. 39 Vgl. die Anm. zu Hi 5,7. 40 Anstelle von biltî „nicht mehr sind“ lies belôt (vgl. Aq; Th; Sym; Vg; Syr sowie blh in Hi 13,28; so auch Seow, der aber das Schluss-Jod des MT als Chireq compaginis beibehält: b elôtî, vgl. G/K § 90l). 41 Anstelle von mišnātām „aus ihrem Schlaf“ lies mišnātô und anstelle von jeʿorû („sie werden aufgeweckt“) lies jeʿor (vgl. Vg).
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13 Würdest du mich doch in der Scheol verwahren, mich verbergen, bis sich dein Zorn gelegt, eine Frist für mich setzen und dann meiner gedenken, < .................................................................................. >42 14 Wenn ein Mann stirbt, lebt er wieder auf? Alle Tage meines Heeresdienstes würde ich ausharren43, bis meine Ablösung dann erfolgte. 15 Du würdest rufen und ich selbst würde dir antworten, nach dem Werk deiner Hand würdest du dich sehnen. 16 Ja44, dann wirst du meine Schritte zählen und wirst nicht (mehr) auf meine Sünde achten. 17 Versiegelt ist dann in einem Beutel mein Vergehen und so decktest du dann Kleister auf meine Schuld. 18 19 20 21 22
Doch auch ein Berg muss völlig fallen45 und ein Fels von seinem Ort wegrücken, Steine: sie zerreibt das Wasser, ein46 Regenguss schwemmt den Staub der Erde fort, so richtest du die Hoffnung des Menschen zugrunde. < ........................................................................ >47 Du überwältigst ihn für immer, dass er vergeht, entstellst sein Angesicht und sendest ihn dahin. Sind seine Söhne geachtet, so weiß er es nicht, und sind sie gering, so nimmt er es nicht wahr für sich. Nur solange48 sein Fleisch um ihn ist, kann es empfinden, und seine Lebenskraft ihn umgibt49, kann sie trauern.
Ausloos, H., „A Man Shall not Rise Again ...“: Job 14:12 in Hebrew and Greek, in: R.X. Gauthier Literatur (Hg.), Septuagint, Sages, and Scripture (FS J. Cook), VT.S 172, Leiden 2016, 159–171. – Eberhardt, G.: Hiobs Wunsch: Gedanken zur Anthropologie von Hiob 14, in: M. Bauks u.a. (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5): Aspekte einer theologischen Anthropologie (FS B. Janowski), Neukirchen-Vluyn 2008, 55–62.– Riede, P.: „Doch frage die Tiere, sie werden dich lehren“, in: Ders., Im Spiegel der Tiere. Studien zum Verhältnis von Mensch und Tier im alten Hier ist wohl ein Kolon ausgefallen (vgl. Hölscher; Fohrer). 4QpaläoHic frgm. 3 las offenbar [w]ʾjḥlh „und ich will ausharren …“ (vgl. Hi 6,11; 13,15; Ps 71,14) und betrachtete dieses Wort als erstes Wort des dritten Kolons (vgl. DJD IX, 157; Ulrich, Scrolls, III, 728). 44 In 4QpaläoHic frgm. 3 scheint dieses Wort (kj) nicht vorhanden gewesen zu sein. 45 Anstelle von nôpel jibbôl „niederfallend zerfällt er“ lies nāpôl jippôl (vgl. Th; [Syr]). 46 Die Lesart s epîḥ hāh (von sāpî aḥ I/II) ist unsicher, ebenso das Suffix, das eigentlich keinen Bezug hat. Entweder ist s epîḥāh zu lesen (vgl. Seow) oder s eḥîpāh (von der aber auch nicht ganz gesicherten Wurzel sḥp I „fortschwemmen“, vgl. Spr 28,3; Hartley; J. Gray). 47 Hier ist offenbar ein Kolon ausgefallen (vgl. Hölscher; Fohrer). 48 Zur Auflösung von ʾak-beśārô ʿālâw und wenapšô ʿālâw als adverbielle Zustandssätze siehe Bobzin, Tempora, 215 (vgl. auch Vg und Tg1 zumindest für V. 22a). Zumeist werden b eśārô und napšô als Subjekte eines einfachen Aussagesatzes als verstanden, wobei dann umstritten ist, ob sich ʿālâw auf b eśārô und napšô bezieht (so z.B Driver/Gray) oder auf kʾb bzw. ʾbl (so z.B. Weiser; Seow). 49 Gegen die masoret. Akzentuation gehört ʿālâw zu wenapšô. 42
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Israel, OBO 187, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 2002, 1–28. – Schnocks, J.: Rettung und Neuschöpfung. Studien zur alttestamentlichen Grundlegung einer gesamtbiblischen Theologie der Auferstehung, BBB 158, Göttingen 2009.
Aufbau und Sprachformen
Die dritte Hiobrede wird mit einer kurzen Abweisung der Freunde eröffnet (Hi 12,2–6; 13,3–6). Dazwischen steht ein ausführlicher zweigliedriger hymnenähnlicher Lehrabschnitt (12,7–13,2), der Elemente des Lobs des Schöpfers und des Herrn der Geschichte enthält.50 Der dreigliedrige Hauptteil der Rede verfügt über ein festes strophisches Muster, bei dem im Anfangsteil (A) und im Schlussteil (C) jeweils sechs Bikola und im Mittelteil (B) vier Bikola eine Strophe bilden. In Teil A lehnt Hiob den Trost der Freunde als nichtig ab (13,7– 12) und fordert sie zum Schweigen auf (13,13–16.[17].18–19). In Teil B richtet sich Hiob in direkter Anrede an Gott (13,20–23|24–27*|14,1*.2.[3–4].5*.6). In Teil C verweist er als Appell an Gottes Barmherzigkeit auf die eigene Vergänglichkeit (14,7–12*|13–17*|18–22). Die Rede hat damit eine ähnliche Zweiteilung der Sprachrichtung wie die Rede in Kap. 6–7: Der Anrede der Freunde und der argumentativen Auseinandersetzung mit ihnen folgt die Anrede Gottes mit einer Beschreibung der allgemeinen Todesverfallenheit und ihrer Anwendung auf Hiob. Dem unbeantworteten Wort an die Menschen folgt das auf Antwort hoffende Wort an Gott. Die Sprachformen der Rede stammen 1) aus dem Streitgespräch der Weisen bzw. dem Rechtsstreit, 2) aus der Klage, 3) aus dem Hymnus und 4) aus der weisheitlichen Meditation über die Vergänglichkeit und Endlichkeit des menschlichen Lebens. Kompositionell beschließt die Rede den ersten Redegang, der mit der Rede des Eliphas in Kap. 4 begonnen hatte. So setzt sich Hiob hier umfassend mit den bisher vorgebrachten Argumenten seiner Freunde auseinander.
Text- und In 4QpaläoHic sind Teile von Hi 13,18–20.23–27 und 14,13–18 erhalten. Sie Literar- unterscheiden sich nicht wesentlich vom MT, abgesehen von sechs Fällen, in geschichte denen ein Wort gegenüber dem MT defektiv geschrieben ist, einer offenbar anderen Versgliederung in 14,14 und der Auslassung eines Wortes in 14,16. Die Fragmente zu 13,4 und 14,4–6 in 4QHib entsprechen mit Ausnahme einer orthographischen Variante vollkommen dem MT.51 Im OG war die Rede Hiobs wesentlich kürzer. So sind in LXXZi die Verse bzw. Versteile 12,8b–9.18b.21.23; 13,19b.20b; 14,12b.18–19 asterisiert; sie stammen im ,kirchlichen Text‘ der LXX aus Th.52 Allein schon die besondere Länge der dritten Hiobrede mit 74 Versen, die nur noch vom abschließenden Monolog Hiobs in Kap. 29–31 mit 95 Versen Vgl. Ps 33; 135; 136; Sir 42,15–43,33. Zu einer orthographischen Variante in Hi 14,5 siehe die Anm. zur Übersetzung. 52 Nach Gentry, Asterisked Materials, 537, und Woods, Edition, 238, ist Hi 12,21b in LXXZi fälschlich asterisiert. Hingegen stimmt die Asterisierung von 12,23b in LXXZi gegen LXXRa (vgl. A. Pietersma, Review: Iob. Septuaginta: Vetus Testamentum Graecum, 11/4, ed. by J. Ziegler, JBL 104 (1985) 305–311; hier: 310f). Zum Profil des OG in Hi 12–14 siehe ausführlich Gorea, Job repensé, 25–40. 50 51
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übertroffen wird, deutet auf ein mehrstufiges literarisches Wachstum hin. Den literargeschichtlich ältesten Zusatz bildet der zweiteilige Lehrhymnus in 12,7–10.11.12–25. Der Hymnus gipfelt in einem Summarium in 13,2b, das der Redeeröffnung in 12,3aβ fast wörtlich entspricht. Gerade diese Schlussformel und der Neueinsatz der Rede in 13,3 mit ʾûlām, das kolometrisch überschießt, zeigen neben weiteren formalen und inhaltlichen Erwägungen, dass der Abschnitt 12,7–13,2 sekundär ist.53 Die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von 12,3aβ und 13,3 ergibt sich aus der bewussten Antithese der Abweisung der im Plural angeredeten Freunde (12,2–3a) und des Wunsches Hiobs, direkt mit Gott zu reden (13,3). Allein in 12,7 (und in der ebenfalls sekundären Passage 26,2–4) begegnet im Rahmen einer Hiobrede ein an einen Freund gerichteter singularischer Imperativ.54 Nur in 12,7 begegnet innerhalb der Hiobdichtung der Jhwh-Name. Der Hymnus hat grundsätzlich eine doxologische Tendenz und klingt im Mund Hiobs im gegenwärtigen Kontext ambivalent. Mit einem Achtergewicht auf der strafenden Seite des göttlichen Handelns in der Geschichte ähnelt er dem sekundär eingefügten Hymnus in Kap. 9, der als Teil einer Rede Hiobs den zerstörerischen Aspekt im Handeln Gottes bei der Schöpfung betont. Stilistisch unterscheidet sich 12,7–13,2 von 9,2–14, insofern hier eine weisheitliche Rahmung (vgl. 26,14 und 27,11–12) sowie Ansätze zu einem Refrain (12,13.16, vgl. 28,12.20) vorliegen. Damit dürfte 12,7–13,2 einer anderen Redaktionsschicht zuzuweisen sein als 9,2–14. Das Phänomen, dass in Hi 12,7–25 – wie im Hiobbuch insgesamt – in unterschiedlicher Weise ältere Motive, Gattungen und Texte parodierend aufgenommen sind, ist kein Argument für die literarische Ursprünglichkeit,55 sondern zeigt, dass sich auch die Bearbeiter der Hiobdichtung dieser Technik bedienen. Auf eine noch spätere mehrstufige Fortschreibung geht 12,3b–6 zurück. Die Gerechtigkeit Hiobs wird durch diesen Zusatz ebenso unterstrichen wie durch die sehr späten Ergänzungen in 14,1a* (mit der dazugehörigen Glosse in 13,28)56 und in 14,3.4.5b57, mittels derer nun auch Hiob als Vertreter eines radikalen Sündenbewusstseins (vgl. 4,17–19; 15,14–16; 25,4–6) erscheint. Schließlich finden sich Glossen in 13,1758; 14,7b; 14,12aβ und 14,14aα sowie der Ausfall je eines Kolons in 14,13b und 14,19b. Bei dem Trikolon in 13,27 kann erwogen werden, dass V. 27b sekundär ist, da der Versteil in der Paral53 Dass Hi 12,4–13,2 bzw. Teile davon sekundär sind, wurde und wird in der Forschung häufig notiert, vgl. z.B. Duhm (12,4–25); Budde (12,22–25); Driver/Gray (12,4–12); Houtsma, Studien, 25 (12,4–13,1); Baumgärtel, Hiobdialog, 57 (Kap. 12 insgesamt); Hölscher (12,7–10); Fohrer (12,7–25); Wahl, Schöpfer, 177–178 (12,7–11); Kaiser, 83 (12,4–13,2); Vermeylen, Métamorphoses, 181 (Beschränkung der Grundschicht von Hi 12–14 auf 12,2–3; 13,3–8.11–14); Wanke, Praesentia Dei, 248–256 (12,7–25 als Teil der „weisheitskritischen Bearbeitung“). 54 In Hi 16,3 zitiert Hiob 15,2 (vgl. auch 8,2). 55 In diesem Sinn zuletzt wieder Greenstein, 51–55, mit der Annahme umfangreicher Zitation und Imitation in Hi 12,4–6.9b.10–25 sowie Anspielung auf Dtn 32,7 in Hi 12,7–8. 56 Horst und J. Gray verlegen den Vers zwischen Hi 14,2 und 14,3. 57 J. Gray hält das Kolon für ursprünglich, platziert es aber nach 13,27. 58 Nach dem Schweigegebot an die Freunde in V. 13 und der Hinwendung zu Gott in V. 14– 16.18 passt V. 17 nicht mehr, er hat eine wörtliche Parallele in 21,2a.
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lele in 33,11 nicht zitiert wird.59 Mit einem erheblich höheren redaktionellen Anteil rechnen Roger Marcel Wanke und Jacques Vermeylen.60 12,1–13,6 Die fehlende Weisheit der Freunde 12,1 S.o. zu Hi 6,1.61 12,2–3a Auf den scharfen Tadel durch Zophar (vgl. 11,2–3) reagiert Hiob mit Ironie und einer rhetorischen Abweisung derer, die sich selbst für „Wissende“ (conj. jodeʿîm, vgl. 5,24–27; 8,9; 11,6) halten.62 Ironie zieht sich durch die gesamte Rede und kennzeichnet die Störung der Kommunikation zwischen Hiob und seinen Freunden. Zugleich unterstreicht Hiob die eigene Weisheit. Insofern die Verse 4,21 und 11,6 sich erst einer jüngeren Fortschtreibung verdanken,63 taucht in der ursprünglichen Hiobdichtung hier erstmals der Begriff der Weisheit (ḥåkmāh, griech. σοφία) auf. In der ‚Endgestalt‘ der Rede ist ḥåkmāh ein Leitwort (vgl. 12,12–13; 13,2). Hier steht der Begriff in gewisser Weise als Zusammenfassung der bisherigen Argumente der Freunde, die immer wieder auf ihr Erfahrungswissen und auf das Wissen früherer Generationen rekurriert und sich dabei traditioneller Spruchweisheit bedient haben (vgl. 4,7–8; 5,3–7; 5,27; 8,8–10). Dem rhetorischen Angriff folgt mittels Hiobs Hinweis auf sein den Freunden gleichwertiges „Herz“ (lebāb),64 d.h. auf seinen Verstand, seine sittliche und religiöse Entscheidungsfähigkeit sowie sein Gewissen, ein Ebenbürtigkeitsbeweis; auch dies ist ein Indiz gestörter Beziehungen. Der Begriff der Weisheit wird im altorientalischen und atl. Verständnis in einem umfassenden Sinn als Lebenshilfe aufgefasst. Demnach soll Weisheit Orientierung in einer prinzipiell von Gott geordneten Welt schenken. Doch weder die Weisheit der Freunde noch die Weisheit Hiobs sind offenbar in der Lage, Hiobs Situation zu deuten. Der traditionelle Begriff der Weisheit als verdichtete und reflektierte Lebenserfahrung erweist sich im Fall Hiobs als nicht lebensfördernd. Für Hiob gilt, dass Weisheit, die nicht bereit ist, sich angesichts widerständiger Erfahrungen selbst zu korrigieren, keine Orientierung mehr bietet. 12,3b–6 Erstarrte Weisheit schlägt in Dummheit um und wird vom vermeintlich Belehrten nur als Spott (bûz, V. 5, vgl. 6,14–15) empfunden. Derjenige, der sich an Gott wendet – wie Hiob in seiner Klage und in seinem eindringlichen 59 Demgegenüber betrachten Hölscher und Fohrer V. 27aβ als sekundär aus 33,11 eingedrungenen Zusatz. In der stichometrisch geschriebenen Hs 4QpaläoHic ist offenbar nach V. 27 bewusst ein Leerraum gelassen; V. 27b und die folgenden Verse sind in dem Qumranfragment leider nicht erhalten. 60 Vgl. Wanke, Praesentia Dei, 182–187 (13,20–28; 14,1–22 als Teil der „kultkritischen Bearbeitung“) und Vermeylen, Métamorphoses, 279f; 327 (13,1–2.16.20–27, 14,3b.13.14a*–17 als Teil der „zweiten Buchredaktion“, 13,9–10.15.17–19.28; 14,3a.4–6.18–22 als Teil der „dritten Buchredaktion“). 61 Vgl. Hi 3,1; 16,1; 19,1; 21,1; 23,1; 26,1. 62 Vgl. Hi 8,2; 11,2 bzw. 16,2; 19,2 und 21,2; 26,2–3. Dabei ist Hi 12,2 mittels einer sechsfachen Paronomasie mit dem Buchstaben mem stilistisch besonders ausgestaltet. 63 S.o. S. 134–136; 212f. 64 Zu leb/lebāb „Herz“ siehe die Auslegung von Hi 8,8–10.
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Wunsch nach einer gerichtlichen Auseinandersetzung mit Gott –, erlebt sich als Gegenstand des Spotts (vgl. 30,1; Ps 35,15–16; 88,9.14). Dies widerspricht dem weisheitlichen Ethos (vgl. Spr 11,12; 14,12) und treibt den Leidenden nur tiefer ins Elend (vgl. Jer 20,7; Klgl 3,14). Die allgemeine Feststellung des Spotts, den der Gerechte (ṣaddîq) in seinem Rufen zu Gott erleiden muss, ist direkt auf Hiob angewendet (V. 4a vgl. 17,6).65 In einer noch jüngeren Glosse zu V. 4 wird schließlich der zum Gegenstand des Spotts gewordene Hiob über die nur hier und in Gen 6,9 gebrauchte Wendung ṣaddîq tāmîm („vollkommen gerecht“) mit Noah parallelisiert (V. 4b, vgl. Ez 14,14.20; Sir 44,17, aber auch Gen 17,1).66 Die Glosse gehört in das Vorfeld der im rabbinischen Targum gehäuft auftretenden Einspielungen der Sintflutüberlieferung in das Buch Hiob.67 In der Fluchtlinie dieses Zusatzes steht auch die Fassung von V. 4 in der LXX, in der Hiobs Klage, dass der Gerechte (δίκαιος) zum Gespött wurde, auf die Qualifikation des Helden in 1,1 LXX anspielt (vgl. 6,28–30 LXX). Zwischen dem Schicksal des „Gerechten“ und dem des „Frevlers“, der hier 12,6 als „Gewalttäter“ und „Unterdrücker“ charakterisiert wird (vgl. 15,21; Jes 33,1; Obadja 5), herrscht ein scharfer Kontrast. Während der Gerechte in und an der Welt leidet, lebt der, der Gott erzürnte (rgz Hif.) und dementsprechend eigentlich bestraft werden sollte (vgl. Ez 16,43), unbeschadet und in Sicherheit (vgl. dagegen Hi 3,26). In Kap. 21 und 24 wird dieses Thema breit entfaltet; hier erscheint es im Verlauf des Dialogs an sich zu früh und wirkt wie eine versprengte Replik auf Bildads und Zophars Verheißung des Untergangs der Frevler (8,22; 10,20). Die Interpretation von V. 6b ist aufgrund des singularischen Anschlusses mittels laʾ ašær, aufgrund der Uneindeutigkeit, ob „Gott“ Subjekt oder Objekt des Satzes ist, und aufgrund der Unklarheit des Ausdrucks hebîʾ b ejādô, problematisch. Hierzu existiert eine Vielzahl von Deutungsversuchen. So könnte V. 6b eine weitere Qualifikation der Frevler darstellen, die Gott (als Objekt) in ihre Hand gebracht haben, d.h. die sich durch ihr Handeln selbst als Gott verstehen (vgl. Hab 1,11).68 Oder V. 6b könnte, wie 12,4b, eine Anspielung auf Hiob sein, den Gott (als Subjekt) in seine Hand gebracht hat (vgl. 13,21; 19,21).69 Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass Text ausgefallen ist. So muss die Deutung dieses Stichos offenbleiben. Ein betontes „Aber frage doch!“ (vgl. 8,8; Dtn 4,32) und ein singularischer 12,7–13,2 Imperativ, der sich sowohl an den zuletzt redenden Zophar als auch an die Hörer und Leser des Buches richten kann, leiten zu einem exkursähnlichen 65 Eine literargeschichtlich analoge sekundäre Anwendung einer generellen Aussage direkt auf Hiob findet sich Hi 3,16 und in 14,3. 66 Zur Kennzeichnung Hiobs als tām („fromm“) vgl. Hi 1,1.8; 2,3. LXX und Tg lesen mit Kopula („ein gerechter und ein frommer“), was Hartley für ursprünglich hält. 67 Vgl. TgHi 4,8; 6,17; 22,16–17; 24,2; BerR XXVI zu Gen 6,4 (vgl. Mangan, Targum, 15; 31). 68 Fohrer denkt an eine magische Praktik, mittels derer die Frevler sich einer Bestrafung durch Gott entziehen (ähnlich CTAT 50/5, 84); Hartley und Cornelius erwägen eine Anspielung auf eine transportable Götterfigur. Dementsprechend würde Hiob Kritik an der Idolatrie üben. 69 So Hölscher. Auch Clines und Seow betrachten Gott als Subjekt, verstehen dies aber in dem Sinn, dass Gott die Frevler mit seiner Hand geführt, d.h. geschützt habe.
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12,7–10
12,11–12 12,13
12,14–15
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
zweigliedrigen Lob auf die Schöpfer- und Geschichtsmacht Gottes ein, der sich bis 13,2 erstreckt. Den Auftakt bildet ein im rhetorischen Stil der ersten Gottesrede abgefasstes, von weisheitlicher Sprache geprägtes kleines Gedicht über die Erkenntis Gottes aus der Schöpfung (vgl. SapSal 13,1–9; Röm 1,20). So belehren (jārāh III Hif.; nāgad Hif., sāpar Piel) die Tierwelt und die Erde selbst über den Schöpfer (V. 7–8, vgl. Hi 38–39). Wie Hiob sich als Geschöpf der Hände Jhwhs erfährt (10,8), so stammen die Tiere zu Land, zu Wasser und in der Luft aus der Hand Jhwhs (V. 9).70 Das im Hiobbuch – wie auch sonst im AT – ambivalente Symbol der Hand Gottes hat hier einen doppelten Verweischarakter: Es zeigt auf den Ursprung alles Geschaffenen aus dem Handeln Gottes und auf die bleibende Bezogenheit alles Geschaffenen auf Gott, der als Schöpfer Herr des Lebens ist (V. 10, vgl. Gen 8,21; 145,16; Ps 104,29–30). Will man V. 10 nicht im Sinn der Klage Hiobs deuten, dass es aus Gottes Hand kein Entrinnen gebe (vgl. 10,7), wogegen die didaktische und hymnische Anlage der Verse sprechen, so lässt sich dieses Gedicht nur als ein (ironisches) Zitat oder als ein (sekundär Hiob in den Mund gelegtes) Bekenntnis zur Schöpfermacht Gottes verstehen, das ihn, Hiob, als einen die Freunde an Weisheit übetreffenden Lehrer kennzeichnet. Ein Sprichwort in Gestalt einer rhetorischen Frage (V. 11, vgl. 34,3; Sir 36,24[21]) und die Bestreitung der Weisheit der Hochbetagten (V. 12)71, leiten zu einem hymnisch formulierten Bekenntnis zu Gottes Geschichtsmächtigkeit über. Als eine Art Überschrift dient der doxologische Vierklang, dass (allein) bei Gott Weisheit und Stärke, Rat und Einsicht sei (vgl. Ps 143,5; Dan 2,20; Sir 43,29).72 Das Bekenntnis steht in scharfem Kontrast zu Hiobs Bestreitung von Gottes heilvoller Lenkung der Welt in Kap. 9. Es berührt sich eng mit den Hiob ebenfalls sekundär in den Mund gelegten Bekenntnissen in 21,22 und 26,12–14 und nimmt mit dem Begriff ʿeṣāh („Rat/Ratschluss“) ein Schlüsselwort der ersten Gottesrede vorweg (vgl. 38,2; 42,3): Im Gegensatz zur menschlichen Weisheit wird Gottes Weisheit als absolut angesehen (vgl. 28,23–28). Gottes unwiderstehliche Macht, die hier vor allem, aber nicht ausschließlich, hinsichtlich ihrer zerstörerischen und lebensfeindlichen Gewalt entfaltet ist (vgl. 9,5–6), zeigt sich einerseits im Bereich des Menschen (V. 14)73. Hierbei erscheint in allgemeiner und hymnischer Form die Fähigkeit Gottes, die in Kap. 3 Gegenstand der grundsätzlichen Lebensklage Hiobs ist: seine exklusive Macht, Leben zu eröffnen und zu verschließen (sāgar, vgl. 3,10). Auf der Ebene der ,Endgestalt‘ des Buches klingen damit zugleich die ironisch-herausVgl. Jes 41,20; 66,2; Ps 109,27; Sir 43,12. Vgl. Hi 8,8–10; 15,9–10; 32,6–7; Sir 25,4–6 (G). Zum Motiv der Hand Gottes vgl. auch die Ausführungen zu Hi 1,9–11 und Mies, Job, 72f. 72 Der alleinige Besitz von Weisheit oder zumindest die Verfügungsgewalt über besondere, dem Menschen entzogene Weisheit ist ein grundlegendes Merkmal der Götter im Alten Orient und der Antike, vgl. z.B. die Titulierung des bab. Gottes Marduk als „Herrn der Weisheit“ gleich in der Eröffnung der Theodizeedichtung Lud. I,1 (TUAT III, 114; Oshima, Babylonian Poems, 169f). 73 Vgl. Hi 9,11–12; 11,10; Jer 24,6; Apk 3,7. 70 71
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fordernde Rede des Satans an, Jhwh habe Hiob mit seinem Segen ringsherum eingeschlossen (śûk, 1,10), sowie die bittere Klage Hiobs, Gott habe ihn eingesperrt (sākak, 3,23). Andererseits wirkt diese Macht Gottes gewaltig in der Natur (V. 15). Für diese wird stellvertretend die Auswirkung von göttlich verursachtem Wassermangel und göttlich gewirkten Fluten eingespielt (V. 15 vgl. 38,8.25–30).74 Gott erscheint so als Herr der Geschichte und der Schöpfung (vgl. Ps 77,12–21; Gen 6,17; 9,11). In Anlehnung an V. 13 lässt der für die Einfügung von 12,7–13,2 verantwort- 12,16 liche Redaktor Hiob nochmals die Kraft und Klugheit Gottes betonen, um dann die These von Gottes Lenkung der Geschichte vornehmlich am Beispiel politischer und religiöser Eliten zu entfalten (vgl. 5,12–14). Bezeichnenderweise stehen alle in den folgenden neun Bikola genannten Größen unter dem Verdikt, „Irrende oder irren Lassende“ zu sein. Diese Wendung betont die Allwirksamkeit Gottes und entspricht der Beschreibung des ambivalenten Handelns des einen Gottes im Hymnus des Eliphas (vgl. 5,18). So illustriert der hier eingefügte Abschnitt, dass Hiob über dieselben theologischen Kenntnisse und Sprachformen wie seine Freunde verfügt. Zunächst erscheinen Ratgeber, Richter, Könige, Priester, Vertraute, Älteste, 12,17–21 Edle, militärische Führer und Starke als von Gott entmachtet und entmündigt. Die Formulierung lässt sowohl ein generelles, paradigmatisches Verständnis zu75 als auch einen Bezug auf konkrete geschichtliche Ereignisse. Die Bilder sind zum Teil dem Abtransport von Kriegsgefangenen entlehnt (V. 17–19, vgl. Jes 20,2–4; Mi 1,8), so dass z.B. an Erfahrungen aus den Eroberungen Jerusalems 598/97 und 587 v.Chr. durch die Neubabylonier und die sich anschließenden Deportationen der judäischen Oberschicht gedacht werden kann (vgl. 2Kön 24,10–16; 25,1–21; Jer 52,28–30). Gottes universale Stärke zeigt sich aber auch an seiner Macht über die 12,22 Finsternis, die er zum Licht führt (vgl. 28,3).76 Damit bekennt sich Hiob zu dem, was er in seiner Eingangsklage in Kap. 3 bestritten hatte und was er, der er sich auf dem Weg zu ewiger Finsternis und zum Todesschatten sieht (vgl. 10,21–22), gerade erhofft – auch dies ist ein Indiz für die spätere Einfügung von 12,25–13,2. Sollte hier, wie schon in Hi 5, Ps 107 im Hintergrund stehen (vgl. Ps 107,10.14),77 so ließe sich das Bild auf aus der Finsternis befreite Gefangene beziehen und als Kontrast zur Beschreibung der Erniedrigung der Eliten lesen (vgl. auch Jes 9,1 LXX; Ps 112,4). Vor dem Hintergrund des Gebrauchs des Wortes ʿāmôq/ʿāmuqqāh im Schrifttum von Qumran78 beschreibt dieser Vers metaphorisch die göttliche Enthüllung besonderer Geheimnisse, sei es des Geheimnisses geschichtlicher Vorgänge, sei es des Geheimnisses Gottes selbst. Auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ Vgl. zudem Hi 26,8; Ps 29; 93; 147,8; 1Kön 17,1. Vgl. Ps 107,4; Jes 44,25; 45,1; Dan 2,21; Spr 22,12; Lk 1,52. Vgl. Gen 1,3–4; Jes 45,7; Dan 2,22; 2Kor 4,6. 77 Siehe dazu Kynes, Psalm, 90. 78 Vgl. 1QM X,11; 1QHa V,8(19); 4Q266 frgm. 2 I,5; 4Q463 frgm. 1,4. 74 75 76
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Ausschnitt aus den Lachisch-Reliefs aus Ninive/Kujunjik: Das Bild zeigt die Deportation der Bevölkerung von Lachisch nach der Eroberung der Stadt durch die Neuassyrer 701 v.Chr. © The Trustees of the British Museum
des Buches ist dies auch eine Antwort auf die (sekundär erweiterten) Zophar in den Mund gelegten Fragen in 11,6–9. 12,23–25 Von der Beschreibung des Handelns Gottes an einzelnen Mächtigen wechselt die Perspektive auf die Welt der Völker. Der sich durch die gesamte Geschichte des Alten Orients ziehende und im alten Israel wahrgenommene Aufstieg und Niedergang ganzer Völker bzw. hegemonialer Mächte, sei es der Assyrer, Babylonier, Perser oder Griechen, wird hier auf die einfache geschichtstheologische Formel gebracht, dass es Gott selbst ist, der hinter dem Schicksal der Völker steht. So bietet der Vers in äußerster Kürze ein Kompendium der Geschichtstheologie, wie sie sich breit in den prophetischen Büchern vor allem im Blick auf die Völkerwelt und in der dtr. Literatur fokussiert auf Israel zeigt. Abschließend geraten nochmals die Repräsentanten der Völker, „die Häupter der ganzen Welt“ (rāʾšê hāʾāræṣ), in den Blick, die von Gott selbst in die Irre und in die Finsternis (vgl. V. 22–23) geführt werden (vgl. 5,14; Klgl 3,2). Erneut klingt Ps 107 an.79 13,1–2 Wie dem Dichter von Ps 107 der Blick in das geschichtliche Handeln Gottes als Grund der Freude der Gerechten, als Kennzeichen des Weisen und als Hin79
Vgl. Ps 107,40; Jes 19,14; 24,20 und dazu Kynes, Psalm, 89–91.
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weis auf das barmherzige Handeln Gottes gilt (Ps 107,42–43), so dient Hiob die Beschreibung der Geschichtsmacht Gottes als Kennzeichen seiner eigenen Weisheit, die nicht hinter der Freunde zurückfällt (13,2 par. 12,3). Auf der Ebene des ,Endtextes‘ hat Hiob hiermit umfassend auf die hymnischen Anklänge in den bisherigen Reden der Freunde reagiert (5,9–18; 11,8–11), er hat deren Mahnung, auf die Weisheit der Vorfahren zu hören (5,27; 8,8–10), ernst genommen und selbst zu erkennen gegeben, dass Gott ihm die Tiefen der Weisheit (11,6) gezeigt hat – und doch scheint das, was Hiob bisher von Gottes Macht gesehen und gehört hat (13,1 vgl. Sir 16,5), zu wenig zu sein. Auf verschiedenen kompositionellen und literarischen Ebenen wird das Buch auf diese Wahrnehmungen von Hiobs Augen und Ohren zurückkommen (vgl. 19,27; 42,5). Wie in 9,2–14 erfüllt der eingeschobene Lehrhymnus in 12,7–13,2 eine dreifache Funktion: Dieser soll 1) die Weisheit Hiobs betonen, 2) Hiob als Lehrer der Freunde auftreten lassen und 3) die scharfen Anklagen Hiobs gegen Gott doxologisch abfedern. Mit dem eindringlichen Wunsch Hiobs, doch unmittelbar zu Gott reden 13,3 und vor diesem seine Sache darlegen zu können (V. 3), liegt die ursprüngliche Fortsetzung der Eröffnungsverse 12,2–3 vor. Hiob kommt nun scheinbar dem zentralen Rat des Eliphas nach, sich direkt an Gott zu wenden (vgl. 5,8). Die enge Beziehung zwischen 13,3 und 5,8 wird durch eine ganz ähnliche stilistische Gestaltung mit einer mehrfachen Alliteration auf ʾ(a)- unterstrichen. Dennoch zeigt sich eine wesentliche Differenz: Mahnte Eliphas, wie nach ihm Zophar (vgl. 11,13), Hiob zum Gebet, so geht es Hiob um eine rechtliche Auseinandersetzung. Nicht die Annahme einer Zurechtweisung (jākaḥ Hif.) durch Gott, so Eliphas (vgl. 5,17), oder eine Rede Gottes zu Hiob, so Zophar (vgl. 11,5), sondern die klare Darlegung (jākaḥ Hif.) seines Falls ist Hiobs Ziel (vgl. 9,35; 10,1–2; 23,4; 31,35). Hiobs radikale Hinwendung zu Gott und seine Abwendung von seinen 13,4 Freunden gründen nicht zuletzt darin, dass er in ihnen nur „nichtige Ärzte“ (rop eʾê ʾ ælil) sieht (V. 4, vgl. Jer 8,22). Dabei klingt in dieser Metapher der atl. mehrfach belegte Gegensatz von menschlichen Ärzten und Gott (ʾel) an: „Ich Jhwh bin dein Arzt“.80 Somit scheint hier zumindest indirekt ein Hoffnungsschimmer Hiobs auf (vgl. Ps 6,3; 30,3; 41,5). Eine positive Zuordnung medizinischer und göttlicher Hilfe findet sich im antiken Judentum literarisch wohl erstmals bei Jesus Sirach zu Beginn des 2. Jh. v.Chr. (Sir 38,1–15). Der in Mesopotamien und Ägypten schon im 3./2. Jt. v.Chr. ausdifferenzierte Beruf des Arztes ist allerdings auch für Israel durch eine in Jerusalem gefundene Inschrift auf einer Bulle für das 7./6. Jh. v.Chr. belegt.81 Angesichts des als nutzlos empfundenen Redens der Freunde bleibt diesen 13,5–6 nur noch Schweigen und genaues Hören auf die Worte Hiobs als Zeichen ihrer Weisheit (vgl. 21,2; Spr 17,28; Sir 20,5–8). Der „Mann der Lippen“ (11,2), der verstummen sollte, kehrt den Spieß um, wenn er die Freunde eindringlich 80 81
Ex 15,26, vgl. Hi 5,18; Ps 103,3; 107,20; 147,3; 2Chr 16,12. Vgl. HAE II/2 Nr. 42,1 und dazu S. 116; DCH VII, 534, s.v. rpʾ.
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zur Wahrnehmung dessen aufruft, was seine Lippen (2,10) an Argumenten (tôkaḥat, vgl. 23,4) vorzubringen haben. Dabei sind das Schweigegebot (V. 5a) durch eine figura etymologica und der Aufmerksamkeitsruf (V. 6) durch die chiastische Stellung der Imperative und der Objekte auch stilistisch besonders hervorgehoben. Die Strecke, die Hiob in seinem Leid und auf seiner Suche nach Gerechtigkeit noch gehen muss, bis er dann selbst verstummt, ist aber noch weit (40,3–5): „Es gibt keinen anderen Weg über das Leid hinaus als den, der zunächst in das Leid hinein und durch das Leid hindurch geht.“82 13,7–12 Die Unfähigkeit der Tröster Die harsche argumentative Abweisung seiner Freunde setzt sich in der stilistisch besonders kunstvoll komponierten, ursprünglich zweiten Strophe fort. In dieser beginnen fünf der sechs Verse jeweils mit demselben Buchstaben; der letzte Vers verfügt nicht nur über einen Endreim (vgl. auch V. 11) und einen Chiasmus, sondern bietet auch mit dem Wort gab (I „Hügel“, II „Antwort“) ein Homo nym. Sachlich verschiebt sich der Akzent vom Inhalt der Freundesworte auf deren Intention. Hiob erlebt wie auch in Kap. 6 die Worte seiner Freunde als Verrat an der dem Leidenden geschuldeten Solidarität (vgl. 6,[14].15–23). Doch gegenüber seiner ersten Rede setzt Hiob die Ausführungen seiner Freunde nun ausdrücklich mit der Realität Gottes ins Verhältnis. 13,7–8 Die Worte seiner Freunde gehen an der Erfahrung, die Hiob mit Gott macht, vorbei und erscheinen daher als Rede wider besseres Wissen, als Unrecht (ʿawlāh) und als Trug (r emijjāh). Gilt der Glückwunsch des Weisen dem Menschen, in dessen Mund kein Trug ist, so unterliegt der Unaufrichtige gerade der Strafe Gottes (vgl. Ps 32,2). Das Tragische an seinen Freunden ist, dass diese um Gottes willen (leʾel, für und im Blick auf Gott) Lug und Trug reden (V. 7–8). Indem Hiob seinen Freunden das Recht und die Möglichkeit abspricht, für Gott und seine Gerechtigkeit einen Prozess führen zu können (vgl. 21,22), hat er die neuzeitliche Widerlegung einer Theodizee im Ansatz vorweggenommen. Die Gerechtigkeit Gottes lässt sich nicht mit den Mitteln der Vernunft beweisen. Gott entzieht sich wesenhaft den Maßstäben menschlicher Rationalität.83 13,9–10 Eine Überprüfung der eigentlichen Absicht seiner Freunde kann nach Hiobs Empfinden für diese nur negativ ausgehen, da Gott sich nicht täuschen lässt (vgl. Mal 3,8). Die Hiob von seinen Freunden in Aussicht gestellte Zurechtweisung durch Gott (vgl. 5,17; 11,5) wird sich vielmehr gegen sie selbst richten. Erneut blitzt das sich durch die Streitgespräche ziehende Leitwort des Zurechtweisens (jākaḥ Hif.) auf, das hier zusätzlich durch eine figura etymologica hervorgehoben ist (V. 10).84 Hatte Hiob bereits sein eigenes Schicksal in den Rahmen eines Prozesses mit Gott eingeschrieben, so ordnet er nun das Auftreten seiner Weiser, 96. Siehe dazu den Exkurs auf S. 31–33. 84 Vgl. Hi 5,17; 6,25–26; 9,33; 13,3.15; 15,3; 16,21; 19,5; 22,4; 23,7; 32,12; 33,19; 40,2. 82 83
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Freunde in die Kategorien des Gottesrechts ein (V. 11, vgl. 31,23). Worte, die von Gott reden, ohne dem Menschen in seiner konkreten Situation gerecht zu werden, drohen, von Gott selbst gerichtet zu werden. Mit Begriffen, die ihren eigentlichen Ort in der Beschreibung einer Theophanie haben, stellt Hiob seinen Freunden die Möglichkeit eines gegen diese gewandten Gottesschreckens (paḥad, vgl. Jes 2,10.19.21; 1Sam 11,7) vor Augen. Wie die Leser des (später mit der Dichtung verbundenen) Epilogs wissen, nimmt Hiob hier in weiser Vorahnung die Reden Gottes in Kap. 38–41 und vor allem das Abschlusswort Gottes gegen die Freunde vorweg (vgl. 42,7–10). Um die Paradoxie der Reden der Freunde zu unterstreichen, gipfelt deren 13,12 Qualifikation in einem paradoxen Bild: Das, was eigentlich mittels Erinnerung (zikkārôn) Bestand haben und was der steten Vergegenwärtigung des Vergangenen und des Besonderen dienen soll,85 erscheint als Staub und Asche (ʾepær), zerbrechlich wie Ton und wertlos wie Dreck (ḥomær) (vgl. Pred 1,11; 2,16). Den theologischen Merksätzen der Freunde fehlt, weil sie an der Situation Hiobs vorbeigehen, der feste Grund, so dass sie dem, der selbst dem Staub nahe ist (vgl. 7,21), nur staubige, wertlose Gleichnisse sind, welche die Wirklichkeit weder getreu zu spiegeln noch zu deuten vermögen. Hiobs Unschuld und Gottes Unrecht
13,13–19
Mit dem Urteil über die leeren Worte seiner Freunde und einem erneuten schar- 13,13 fen Schweigegebot (vgl. 13,5; 21,3) wendet sich Hiob von diesen ab, bekräftigt sein Recht zur Klage (7,11; 9,35–10,2) und sehnt ein Urteil Gottes über sich selbst herbei. Diesem Urteil will er sich mit seiner ganzen Person unterziehen. Der an Leib (bāśār) und ,Seele‘ (næpæš), an seiner ganzen Person geschundene,86 13,14 der dem Tod Verfallene will mit letzter Kraft seine sterblichen Überreste in die Waagschale göttlicher Gerechtigkeit werfen. Dem Staub der Freundesworte (13,12) steht der zu Staub zerfallende Hiob gegenüber, der seine „,Seele‘ in seine Hand“ nimmt, d.h. der sein ihm verbliebenes Leben aufs Spiel setzt, um zu überleben (vgl. Ri 12,3; 1Sam 19,5; 28,21). Der bildhafte Vers, der zugleich die Vielschichtigkeit der hebr. Begriffe bāśār und næpæš verdeutlicht und auf der Ebene des ‚Endtextes‘ die zweite Himmelsszene einspielt (vgl. 2,4.6), stellt einen scharfen Kontrast zu Zophars Schlusswort vom „Aushauchen der næpæš“ der Frevler in der unmittelbar vorangehenden Rede dar (11,20). Die offene Frage ist, ob Hiobs Staub im Gericht Gottes87 mehr wiegen wird als die Sentenzen der Tröster. Seinem offenbar von Gott88 verfügten Tod hat Hiob nichts entgegenzusetzen 13,15 (vgl. 7,21). Doch bis es so weit ist, will er seinen Lebensweg, seine moralische Vgl. Ex 12,14; 13,9; 17,14; Jos 4,7. Vgl. zu bāśār Hi 2,5; 6,12; 7,5; 19,20; 33,21 bzw. zu næpæš Hi 6,11; 7,15; 19,2; 27,2; 33,18.20.22.28. 87 Vgl. Hi 23,6–7; 31,6 sowie 30,19 und 42,6. 88 Das Subjekt von V. 15a ist nicht explizit genannt (vgl. Seow, der unpersönlich übersetzt), doch spricht der Duktus der Rede dafür, Gott als Subjekt zu verstehen (so eindeutig LXX und La [jeweils „der Herrscher/Mächtige“]; vgl. auch Vg und La zu Hi 36,22). 85 86
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und religiöse Integrität vor Gott darlegen (vgl. 31,4.37). Der Vers verdeutlicht in nuce die Spannung, in der sich Hiob befindet: einerseits angesichts von Gottes Übermacht nicht mehr ausharren (jāḥal, 6,11; 14,14; 30,26) zu können, andererseits noch vor der Grenze des Todes Gott über sich selbst unterweisen (jākaḥ, 13,3) zu dürfen. Im Kontext des Gesamtwerkes erscheint dies – wie der Versuch, die eigene næpæš, das eigene Leben, retten zu wollen – als ein sinnloses Unterfangen, denn Gott kennt Hiob genau und hat ja die Bewahrung von Hiobs Leben zur Bedingung des satanischen Tests gemacht (vgl. 1,8; 2,3; 26). Doch davon wissen weder Hiob noch die Leser der ursprünglich selbstständigen Hiobdichtung etwas. 13,16 Für den Hiob der Dichtung können nur das Wissen um die eigene Unschuld, das Bewusstsein, kein Gottloser (ḥānep, vgl. 8,13; 15,34; 20,5; 27,8) zu sein, und die daraus resultierende Möglichkeit, dies Gott im Dialog – wie Jakob und wie Mose (vgl. Gen 32,31 bzw. Ex 33,11; Dtn 34,10) – von Angesicht zu Angesicht sagen zu können, Rettung bringen (vgl. auch Ez 20,35). Die Zulassung zu einer göttlichen Audienz89 käme in diesem Fall einer göttlichen Anerkennung von Hiobs Unschuld gleich und bedingte damit eine Restitution Hiobs. Paulus zitiert Hi 13,16 (auf der Basis eines mit der Vorlage der LXX ähnlichen griech. Textes) in Phil 1,19 in einem mit Hi 13,13–18 vergleichbaren Kontext der dialogischen Auseinandersetzung.90 13,17–19 Ein erneuter, als figura etymologica gestalteter Höraufruf an die Freunde (V. 17, vgl. 21,2; 37,2) unterbricht die ursprüngliche Fortsetzung von V. 16 in V. 18, in der Hiob seine Bereitschaft zur gerichtlichen Auseinandersetzung (mišpāṭ) mit Gott erklärt. Klagte Hiob in Kap. 9 aufgrund des kategorialen Unterschieds zwischen Gott und Mensch noch über die mangelnde Möglichkeit zum Rechtsstreit mit Gott (9,3.32–33), so konstatiert er nun, für die Begegnung mit Gott gerüstet zu sein. Als Basis muss ihm die Überzeugung dienen, im Recht zu sein (vgl. 9,21; 10,7; 16,17). Dabei geht es Hiob einerseits um die Anerkennung seiner Person vor Gott,91 andererseits um die Feststellung, wer Gott eigentlich sei (V. 19). So verbirgt sich hinter der Frage, wer denn (mî-hûʾ) gegen Hiob streite (rîb, vgl. 10,2; 23,6; 31,35), die Frage nach Gott selbst (vgl. 9,24; 17,3 sowie in positiver Beantwortung der Frage mî-hûʾ Ps 24,10). Die Formulierung ähnelt der rhetorischen Frage des „Gottesknechts“ in Jes 50,8 – doch sieht dieser, ganz im Gegensatz zu Hiob, Gott auf seiner Seite, so dass kein Mensch mit ihm zu streiten vermöge.92 Erneut zeigt sich, dass für das Hiobbuch – und zwar in allen seinen literarischen Schichten – die Frage des Menschen nach sich selbst und die Frage nach dem eigentlichen Wesen Gottes untrennbar zusammengehören. 89 Zum heilvollen Raum der göttlichen Audienz siehe grundsätzlich Hartenstein, Angesicht, 205–209. 90 Vgl. Schaller, Textcharakter, 21; K.H. Jobes/M. Silva, Invitation to the Septuagint, Grand Rapids 2000 [Nachdr. 2001], 202f. 91 Vgl. Hi 9,20; 10,2; 23,4; 27,5–6; 31,1–40*. 92 Zu der in Hi 13,18–19 verwendeten Rechtssprache vgl. auch Achikar V,14–15 (TUAT III, 330f; TAD C1 1.139–140; Weigl, Achikar-Sprüche, 325–331).
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Die Gottesfrage bedingt die Frage nach dem Menschen und umgekehrt. Für Hiob muss diese Frage bald beantwortet werden, da er am Rand des Todes steht (V. 19, vgl. 40,5; 42,6). Hiobs Rechtswunsch und Gottes Unbarmherzigkeit
13,20–27
Im Du richtet sich Hiob direkt mit einem doppelten Wunsch an Gott und 13,20–21 formuliert die Voraussetzung, sich vor Gott nicht verbergen zu müssen (vgl. aber Gen 4,14; Ps 139,7), wenn dieser sich tatsächlich auf die rechtliche Auseinandersetzung mit ihm einlassen und ihm selbst die Antwort auf die Frage nach seinem Wesen geben würde. Die negativ formulierte Bitte an Gott wird in einem stilistisch bedingten Wechsel zunächst positiv konkretisiert (V. 21a) und erst in einem zweiten Schritt der Logik von V. 20a entsprechend negativ entfaltet (V. 21b): Gott möge seine Hand, d.h. das von dieser gewirkte Unheil, wegnehmen und Hiob nicht erneut heimsuchen.93 Gott selbst soll Hiob antworten (šûb Hif.)94 und aufzählen, worin dessen 13,22–23 Schuld liege (vgl. 10,2; 31,4.37). Analog kann der anonyme mesopotamische Beter eines Eršaḫunga an einen nicht näher genannten Gott bekennen: 26 Die Schuldenlast, die ich auf mich lud, die kenne ich nicht! 27 Das Vergehen, das ich beging, das kenne ich nicht!95
Wie in 7,20–21 verwendet der Hiobdichter zur Beschreibung des Phänomens der Sünde die drei wichtigsten atl. Sündenbegriffe ʿāwôn („Schuld/Verschuldung“), ḥāṭāʾ („Verfehlung/Sünde“) und pæšaʿ („Aufruhr gegen Gott/ Vergehen“) (vgl. 10,6; 14,16–17). Die (sekundär in die Zopharrede eingelegte) Ankündigung, dass Gott Hiobs Verschuldungen vergessen lasse (11,6), bleibt ohne Widerhall – und die Reaktion Gottes auf Hiobs „Angebot“ zum gegenseitigen „Rufen und Antworten“96 lässt noch (lange) auf sich warten. Die Konzentration der hamartiologischen Begrifflichkeit und die Explikation 13,24–27 von V. 23 mit den Bildern des verdunkelten Antlitzes Gottes und dem von Gott verfolgten Menschen zeigen ein für jüdische Texte aus persischer und hellenistischer Zeit typisches vertieftes Sündenbewusstsein: Sünde beschreibt hier den tiefen Riss in der Beziehung zwischen Gott und Mensch, das Herausgefallensein des Menschen aus der heilvollen Nähe des Schöpfergottes und die Erfahrung eines streng richtenden Gottes (vgl. Ps 51; Dan 9). Vgl. Hi 9,34; 10,7; 19,21; 23,3 (v.l.); 30,21. In der Wurzel Wort šwb schwingt zugleich die Bedeutung „wiederherstellen“ mit (vgl. Ps 80,4.8.20; Dan 9,25), so dass die Bitte Hiobs um eine Antwort in der ‚Endgestalt‘ des Buches auch als eine Vorausschau auf die Wende (šwb Qal) seines Schicksals gelesen werden kann (vgl. dazu auch Noegel, Janus Parallelism, 56–58). 95 Übersetzung von S.M. Maul, in: TUAT.NF VIII, 49; vgl. auch die einleitende Frage des Beters in einem Gebet an Ea, Šamaš und Marduk 1: „was sind meine Sünden?“ (TUAT II, 776). 96 Vgl. Hi 5,1; 9,16; 12,4; 14,15; 19,16; 23,5; 38,3; 42,4 ; Ps 3,5; 17,6; 27,7; 86,7; 119,145. 93
94
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13,24
Die Erfahrung des unschuldigen, von Gott verschuldeten Leidens schlägt sich nieder im Bild des verborgenen und zum Feind des Menschen gewordenen Gottes (vgl. 7,20). Das Verbergen des Antlitzes (pānîm) Gottes bedeutet die Aufhebung des göttlichen Segens. Dieses Bild ist typisch für altorientalische Gottesvorstellungen. Das rabbinische Targum übersetzt pānîm hier, wie in 34,29, mit dem rabbinischen Begriff der š ekināh, der göttlichen Präsenz.97 Bedeutet das dem Menschen zugewandte Angesicht Gottes Heil,98 so hingegen das abgewandte Antlitz Unheil und Zorn.99 Steht das Leuchten des göttlichen Angesichts über dem Menschen für Gottes Freundschaft mit dem Menschen, so das Sich-Verfinstern für Gottes Feindschaft. Erlebt Hiob, dass Gott ihn zu seinen Feinden rechnet (ḥāšab, vgl. 19,11 und 33,10 als Zitat von 13,24), so erfährt er an sich genau das Gegenteil dessen, was in einem späten Zusatz zur Vätergeschichte Abraham zugesagt wird, dem Gott das Vertrauen in seine Verheißung als Gerechtigkeit, als Grund der Gemeinschaft mit ihm anrechnete (Gen 15,6, vgl. Neh 9,8). Das Rätsel, das Hiob nicht zu lösen vermag, ist, dass er – anders als der Dichter des kollektiven Klagegebets in Jes 63,7–64,11 – nicht den Grund für Gottes Feindschaft kennt (vgl. Jes 63,10).100 In doppelter Weise korrespondieren auf der Ebene des ,Endtextes‘ so 13,24 und der Prolog: zum einen mit dem Wortspiel zwischen dem Namen Hiobs (ʾijjôb) und dem Wort „Feind“ (ʾôjeb), zum anderen mit dem Symbolpaar „Angesicht Gottes“ und „Segen“. Hiob, der Gottesdiener (1,8; 2,3), der sich als Gottesfeind erlebt, erleidet den Entzug des göttlichen Segens. Aus diesem Vers ergibt sich zugleich ein für das atl. Segensverständnis wesentlicher Aspekt: Subjekt des Segens ist Gott, sein Inhalt die menschlich vermittelte Weitergabe göttlicher Lebenskraft und die Einfügung des Gesegneten in die heilvolle Sphäre Gottes. 13,25–27 Sinn und Ziel der Anfeindung durch Gott bleiben Hiob verborgen, und dies umso mehr, da er sich als ein „verwehendes Blatt“ und ein „dürrer Strohhalm“ – Bilder der absoluten Hinfälligkeit und Vergänglichkeit – sieht. Die Verfolgung eines solchen Geschöpfs durch Gott (V. 25, vgl. 19,22) erscheint als völlig unverhältnismäßig, als Gottes unwürdig. Sie passt daher nicht zum Gottesbild Hiobs – ebensowenig wie das Zuschreiben (kātab im Sinn von „anordnen“) von bitteren, leidvollen Erfahrungen (V. 26a, vgl. 9,18; Klgl 3,15)101 und das Aufrechnen möglicher Jugendsünden, die Hiob nicht bestreitet (V. 26b, vgl. Ps 25,7), die aber kaum der Anlass für sein gegenwärtiges Ergehen sein können. Gott selbst erscheint im Bild des allzeit gegenwärtigen Überwachers, der keine Bewegungsfreiheit mehr lässt: Anstelle auf weiten Raum gestellt zu sein (Ps 31,9), sind die Füße Hiobs in Fesseln (sad) gelegt (V. 27a)102 und mit einem göttlichen Zeichen Zur Einspielung der š ekināh vgl. dann auch Tg zu Hi 14,18. Vgl. Num 6,24–26; Ps 22,25; 80,4.8; Ez 39,29. 99 Vgl. Dtn 32,20; Jes 8,17; Ps 13,2; 27,9; 30,8; 44,25; 69,18; 88,15; 102,3; 104,29; 143,7. Aus der Fülle altorientalischer Parallelen vgl. z.B. den großen Ištar-Hymnus (Ištar-2) 93 (TUAT.NF VII, 85–90, hier: 90). 100 Vgl. Lud. I,43 (TUAT III, 117). 101 Demgegenüber sieht Magdalene, Scales, 180, hier, wie in Hi 31,35, im Rahmen ihrer Deutung des Hiobbuches als groß angelegte Rechtserzählung einen Hinweis auf die von Gott gegen Hiob verfasste Anklageschrift. 102 Das genaue Aussehen des als sad bezeichneten Gegenstandes der Bindung von Gefangenen (Fußblock; Holzpflock?) ist unsicher. 97 98
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(eines Sklaven?) versehen (V. 27b).103 Wie für den Beter von Ps 31 besteht zwischen Hiob und seinem Gott eine enge Gemeinschaft (vgl. Ps 31,15). Doch während sie für jenen Heil und befreites Leben bedeutet, hat sie sich für Hiob zur Bedrohung seines Lebens verwandelt. Gott hat sich selbst in das Leben Hiobs tief eingezeichnet (ḥāqāh Hitp.)104 – so tief, dass Hiob die Luft zum Atmen fehlt und er, wie es im ursprünglich wohl als Randkommentar zu 14,1 gedachten V. 28 heißt, gleich der Fäulnis und einem von Motten zerfressenen Gewand vergeht.105 Klage über die Vergänglichkeit des Menschen
14,1–6
Die Klage über die Bedrohung durch Gott und die Zerbrechlichkeit des eigenen Lebens mündet in die Klage über die Vergänglichkeit des Menschen überhaupt. Der Abschnitt scheint mehrfach bearbeitet worden zu sein, wie die Textgeschichte106 und der Wechsel zwischen generellen und direkt auf Hiob bezogenen Aussagen sowie der Wortgebrauch zeigen (V. 1–2.4–5 bzw. V. 3.6). Den Grundbestand bilden wohl V. 1b.2.5a.6. Mit Bildern, wie sie ähnlich in Ps 90,5–6 und 103,14–16 begegnen, weist 14,1a*.b–2 Hiob Gott auf die Brüchigkeit menschlicher Existenz hin und appelliert so an Gottes Nachsicht. Sein von Kürze, Unruhe und Aufregung (rogæz) gezeichnetes Leben (vgl. 3,26) wird zum Spiegel menschlicher Existenz (vgl. SapSal 2,1; 9,5; Ps-Phok 114). Während aber der Beter von Ps 103 bekennt, dass sich Gott über die, die ihn fürchten, „wie ein Vater über seine Kinder erbarmt“ (Ps 103,13, vgl. Sir 17,29 [G]), sucht der Gott fürchtende Hiob eben diesen Vater. Das Vergänglichkeitsmotiv, das auf der Anschauung einer schnell verwelkenden Blume und des flüchtigen Schattens basiert, ist biblisch breit belegt.107 Es findet sich seit Homer (Il. 6, 146; 21, 462–466) auch im paganen griech. Schrifttum: So höret, ihr Menschen, von dunklem Los dem Geschlecht der Blätter vergleichbar, Ihr Nichtsvermögenden, Gebilde aus Staub, ihr vergänglichen Schattengestalten, Ihr Eintagswesen, flügellos, ihr erbärmlichen Sterblichen, traumgleich: Auf uns, die Unsterblichen, richtet den Sinn, die wir von Ewigkeit waren. (Aristophanes, Av. 684–691)108 103 Dieser Ausdruck könnte auch im Sinn einer um die Fußwurzeln herumgezogenen Linie, die Hiob nicht überschreiten kann, verstanden werden (vgl. Weigl, Achikar-Sprüche, 455). 104 Siehe dazu Waltke/O’Connor § 26.2.e. 105 Vgl. Jes 50,9; 51,8; Sir 14,17; Ps 102,27. 106 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 107 Vgl. zu einzelnen Elementen des Motivs Hi 8,13; Ps 39,5–7; 90,5–6; 102,12; 109,23; 144,4; Pred 6,12; Jes 40,6–8; Sir 14,18; 1QHa XVI,18(19); 1QM XV,11–12; 4Q185 frgm. 1–2 I,10–12; Jak 1,11; 1Petr 1,24. 108 Übersetzung von C. Voigt, Aristophanes. Die Vögel. Komödie, Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort, RUB 1379, Stuttgart 1980; vgl. auch Simonides v. Keos, frgm. (der Text wird gelegentlich auch Semonides v. Amorgos zugewiesen, vgl. Ebener, Lyrik, 79); Pindar, P. 8,96.
240
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
14,1a*.3–4 Die Bezeichnung des Menschen als „von der Frau Geborener“ (j elûd ʾiššāh V. 1), die sich nur noch in 15,14 und 25,4 sowie außerhalb der hebr. Bibel findet,109 hat durchgehend einen pejorativen Klang. Sie gründet letztlich in der israelitisch-jüdischen Vorstellung der (punktuellen) kultischen Unreinheit der Frau (vgl. Lev 12; 15,19–30) und entspricht, wie die Vorstellung, dass der Mensch wesenhaft „unrein“ (ṭāmê V. 4)110 sei, tendenziell der Anthropologie und Hamartiologie von Hi 4,17–19.111 Menschsein und Reinsein (ṭāhûr) schließen sich dieser Einschätzung zufolge gegenseitig aus (vgl. 4,17) und sind grundlegende Gegensätze wie Lüge und Wahrheit (vgl. Sir 34,4 [G]). Die Elendsmeditation Hiobs ist hier sündentheologisch vertieft (vgl. Ps 143,2). Die ursprüngliche Einleitung von V. 1 wurde durch diese Wendung und die Glosse in 13,28 offenbar verdrängt. Auf eine Nachbearbeitung geht wohl auch V. 3 zurück, der die Vergänglichkeitsaussage unmittelbar an den Rechtsfall Hiobs zurückbindet, dabei aber im Gegensatz zur ursprünglichen Dichtung festhält, dass Gott selbst Hiob vor Gericht bringe.112 Auf der Ebene des ,Endtextes‘ ergibt sich damit eine direkte Beziehung zu den Himmelsszenen des Prologs: Gott hat in der Tat seine Augen über Hiob geöffnet und die Aufmerksamkeit des Satans auf ihn gelenkt, was dieser, da er nichts vom himmlischen Geschehen weiß, nur als Handeln Gottes selbst verstehen kann – keineswegs ohne Grund – und für sich im Bild des Strafgerichts deutet. Die antiken Versionen (LXX; Syr; Vg) haben hier an den Kontext angepasst, wenn sie anstelle der 1. P. Sg. die 3. P. Sg. lesen und die Situation des vor Gott gestellten hinfälligen Menschen generalisieren (vgl. V. 5b). V. 4, der aus dem poetischen Schema herausfällt und eigentlich Prosa ist,113 ist der einzige Vers des Hiobbuches, den der jüdische Philosoph Philon von Alexandria (ca. 25 v.Chr. – 40 n.Chr.) ausdrücklich zitiert.114 Dabei folgt Philon der LXX, die diesen Vers als Frage formuliert („Denn wer wird rein sein [καθαρός] von Schmutz? Gewiss keiner“). Hi 14,4 spielt in der Alten Kirche eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Erbsündenlehre und wird häufig von den Kirchenvätern zitiert, erstmals wohl in 1Clem 17,4. Noch häufiger als in der griech. Kirche wird der Vers von lat. Schriftstellern angeführt, besonders
109 Sir 10,18; TestNaph 2; 4Esr 8,35; 3Hen 2,2; 6,2; 48D,8; 1QS XI,21; 1QHa V,20(31); XXItop,1 (XXI,2); XXIII,13–14; 4Q264 frgm. 1,8; 4Q482 frgm. 1,4; 4Q501 frgm. 1,5; in griech. Form γεννητὸς γυναικός in HiLXX 11,2.12; Mt 11,11 (par. Lk 7,28) (siehe dazu auch H.P. Rüger, Zum Problem der Sprache Jesu, ZNW 59 [1968] 113–122). 110 Der Begriff ṭāmê bezeichnet überwiegend kultische Unreinheit (vgl. Lev 7,19; 10,10; 13,11; 22,4 u.ö.), kann aber auch in einem übertragenen, ethischen Sinn verwendet werden. Siehe dazu F. Maas, Art. ṭmʾ unrein sein, THAT I (62004) 664–667. 111 Vgl. Hi 15,14–16 und 25,4–6; Ps 51,7; Jes 6,5; Sir 17,31–32 (G). 112 Vgl. Ps 143,2; 4Q381 frgm. 45,4 versus Hi 9,32–34; 13,18–19.22; 22,4; 23,4–6; 34,23 (sek.). 113 Die Masoreten haben in diesem Vers keinen Atnach gesetzt. V. 4 fehlt in HsK17, die allerdings auch sonst Lücken aufweist. CTAT 50/5, 96 attestiert dem Schreiber dieser Handschrift mangelnde Sorgfalt. Zur Annahme, Hi 14,4, sei sekundär, vgl. auch Hölscher; Horst; J. Gray. 114 Philon, mut. 48,4. Hinzu kommen Anspielungen Philons auf Hi 1,21 in spec. I,295, auf Hi 28 in prob. 65, auf Hi 28,24 in det. 61 und QG. I,69 sowie auf Hi 38,4 in migr. 136.
Hi 12–14 Die dritte Rede Hiobs
241
von Augustin,115 wobei zu beachten ist, dass die in die Vg eingedrungene Übersetzung des Hieronymus sich hier stark vom MT unterscheidet („Wer kann den von unreinem Samen Empfangenen reich machen? Etwa nicht du, der du einzig bist?“). Angesichts der Flüchtigkeit menschlichen Lebens und offenbar von Gott 14,5–6 festgesetzter menschlicher Lebenszeit (vgl. Ps 39,6; 90,9–12)116 kann Hiob für seine von Leid geprägten Lebenstage (vgl. 7,1–6; 9,25–26) nur um eine göttliche Atempause bitten (vgl. 7,16.19; 10,20; Ps 39,14). Eine an Hi 38,11 erinnernde Glosse unterstreicht den Gedanken der Begrenzung des menschlichen Lebens, das fast als determiniert erscheint (14,5b, vgl. Ps 139,16; Sir 17,2 [G]). Hiobs Appell an Gottes Nachsicht indessen ist doppeldeutig: Gott sieht dem Menschen nach (šāʿāh, vgl. Gen 4,5), aber für Hiob nicht mehr im Sinn des gnädigen An- bzw. Übersehens (vgl. Ps 39,14 conj.), sondern des zornigen Hinterhersehens. Gott lässt sein Geschöpf nicht los, weder in seiner Gnade noch in seinem Zorn (vgl. Ps 90,7–8). Gottes Macht erfährt Hiob in Gestalt seiner eigenen Ohnmacht. Die Begrenztheit des menschlichen Lebens erscheint Hiob so umfassend, dass er sein Leben als vorherbestimmt versteht: Gott hat nicht nur die Lebenstage des Menschen festgesetzt, sondern auch die Lebensmöglichkeiten. Doch welche Hoffnung bleibt dem, der sein von Leid geprägtes Leben als determiniert erfährt? Nur ein Wandel Gottes könnte eine Wende in Hiobs Leben bringen. Und dieser Wandel Gottes muss angesichts der Todverfallenheit Hiobs schnell geschehen. Die allgemeine Todverfallenheit
14,7–12
Wie in 7,7–21 versucht Hiob diesen Wandel Gottes zu bewirken, indem er auf die Endgültigkeit des Todesgeschicks hinweist (vgl. 10,21–22; Sir 14,17– 18; Lukrez, nat. 3, 1078–1079). Der Tod ist die absolute Grenze, auch für die Beziehung zu Gott. Deshalb muss sich Hiobs Beziehung zu Gott vor dieser Grenze klären. Hiob braucht eine Antwort Gottes auf seine Fragen vor dem Tod, denn wenn er gestorben ist, kann Gott ihm nicht mehr antworten. Gleicht der Mensch in seiner Vergänglichkeit einer schnell verwelkenden 14,7–9 Blume, so unterscheidet er sich doch in seinen Lebensmöglichkeiten von einem Baum. Wie schon in 8,11–12.16–18 dient ein ausführliches Naturbild zur Verdeutlichung einer spezifischen Disposition des Menschen (vgl. Sir 14,18–19), wobei hier der Schwerpunkt auf einem Kontrast liegt. Der Hoffnungslosigkeit des zum Tod bestimmten Menschen steht die Hoffnung eines immer wieder neu ausschlagenden und ergrünenden Baums gegenüber (vgl. Jes 11,1). Damit ist einerseits die Verheißung Zophars, Hiob werde einst neue Hoffnung schöp115 Vgl. dazu J. Ziegler, Iob 14,4–5a als wichtigster Schriftbeweis für die These „Neminem sine sorde et sine peccato esse“ (Cyprian test. 3,54) bei den lateinischen christlichen Schriftstellern, SBAW.PH, München 1985; Dassmann, Akzente, 40–56. 116 Vgl. Gilgm. X,vi,15–39 (TUAT III, 727f); Pap. Insinger 17,3–18,6 (TUAT III, 299f).
242
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
fen können (vgl. 11,18), abgewiesen, andererseits der von Bildad und Zophar beschriebene Mangel an Hoffnung, der die Gottlosen kennzeichnet (vgl. 8,13; 11,20), verallgemeinert: Weil Hiob die Erfahrung macht, dass der Gerechte gerade nicht grünt und wächst (vgl. Ps 92,13; Spr 11,28), wird mit seinem Verlust an Hoffnung (vgl. 6,8; 7,6; 17,15) die Hoffnungslosigkeit zum Signum menschlicher Existenz. Sofern der fromme Hiob erlebt, nicht „am frischen Wasser gepflanzt zu sein“ (Ps 1,3, vgl. Jer 17,8; 1QHa XVI,4[5]), gerät mit seinem Schicksal auch die Verheißung, die dem gilt, der Tag und Nacht über die Torah meditiert, ins Wanken (vgl. Ps 1). So gelesen, fügt sich Hi 14,7–12 in die Kette der kritischen Auseinandersetzung Hiobs mit der Torah. 14,10–12 Auch wenn die Anwendung des Pflanzenbildes generell erfolgt, so ist doch vor dem Hintergrund des Gebrauchs des Wortes gæbær in der Hiobdichtung klar, dass der „Mann“, der stirbt und dahinschwindet (vgl. 7,7–10; 10,21–22; 16,22), Hiob selbst ist.117 Zugleich scheint hinter der rhetorischen Frage, wo denn ein Mensch sei, wenn er gestorben ist, die Frage Jhwhs an Kain nach dem Verbleib des von ihm ermordeten Abel auf (Gen 4,9, vgl. Hi 20,7). Erneut spielt so der Dichter die biblische Urgeschichte (Gen 1–9) ein und unterstreicht einmal mehr den paradigmatischen Charakter des Schicksals Hiobs. Ein weiteres Naturbild verdeutlicht die Unabänderlichkeit des menschlichen Todesloses (V. 11): Wenn selbst die Wasser des Meeres vergehen (vgl. 11,16) und ein Strom austrocknen kann (vgl. Jes 19,5), dann hat auch ein Mensch keine Aussicht auf eine bleibende Existenz. Der Todesschlaf ist endgültig. Die Hoffnung auf ein Auferstehen (qûm, ʿāmad, griech. ἀνίστημι, vgl. Jes 26,19; Dan 12,13; 4Q385 frgm. 12[3],2) oder ein Auferwecktwerden (ʿûr, griech. ἐξυπνίζω, vgl. Joh 11,11) scheint unbegründet (V. 12). Trotz aller Unterschiede im Detail gilt dies auch für den griech. Text.118 In der späteren rabbinischen Diskussion wird Hiob wegen solcher Aussagen als Leugner der Auferstehung getadelt (vgl. bBB 16a mit Bezug auf Hi 7,9). Dabei ist diese Position möglicherweise eine rabbinische Reaktion auf die altkirchliche Interpretation Hiobs als Zeugen für die Auferstehung. 119 Denn bereits nach einigen sicher vortargumischen Texten sind mindestens die Erzväter dem Totenreich enthoben.120 14,12aβ Eine eschatologisch orientierte Glosse modifiziert die Negation Hiobs, indem sie den Todesschlaf der Verstorbenen bis zum Zeitpunkt des Vergehens (conj. bālāh)121 des Himmels (vgl. Ps 102,26–27; Jes 34,4; 51,6; Hebr 1,10–11;
117 Vgl. besonders Hi 3,3.23; 16,21; 34,7; 38,3; 40,7 – zu einem ähnlich ambivalenten Gebrauch vgl. Hi 4,17. 118 So mit Cook, Septuagint, 194–200, und Randriambola-Ratsimihah, Mensch, 292–294. Hingegen vertreten Ausloos, Man, 159–171; Gerhards, Hiob, 249–252; Schnocks, Rettung, 44–49, die These, LXX biete hier eine Jenseitshoffnung. 119 In diesem Sinn deutet Kalman, Resurrection, 371–397, die radikale Kritik Ravas an Hiob. 120 Vgl. Mk 12,26; Lk 16,22; TestAbr A 30; TestJud 25,1 oder TestBen 10,6 sowie später bBB 17a. 121 Siehe die Anm. zur Übersetzung.
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243
2Petr 3,10–13) begrenzt und dann offenbar mit einem Aufwachen (qîṣ) der Toten rechnet.122 Bitte um Verschonung
14,13–17
Noch einmal wendet sich Hiob nach der Meditation über die Sterblichkeit 14,13–15 direkt in einem Wunsch an Gott und bittet um Verschonung vor dessen Zorn (vgl. 16,9; 19,11). Das Totenreich, die Scheol, erscheint ihm als der einzige Ort, an dem er vor Gottes Zorn verborgen sein könnte. Denn in die Scheol reicht nach traditioneller Vorstellung Jhwhs Macht nicht.123 Die Scheol könnte eine Insel für Hiob sein, auf der er so lange ausharrt (V. 14aβ.b, vgl. 7,1), bis Gott seinen Zorn aufgibt,124 bis der Schöpfer selbst Sehnsucht nach seinem Geschöpf hat (vgl. 10,8–12) und sich Hiob wieder heilvoll zuwendet. Wie in der Sintfluterzählung das göttliche Gedenken (zākar) an Noah die Wende der Katastrophe markiert (Gen 8,1, vgl. Gen 19,29), so würde es im Fall Hiobs eine neue Lebensperspektive eröffnen.125 Der Appell an den Gott der Lebenden wird zu einem Aufruf, Hiob am Leben zu lassen und diesem die Möglichkeit zum Gespräch mit Gott zu geben (V. 15, vgl. 13,22). Doch Hiob ahnt, dass sein Wunsch nach einer Auszeit in der Unterwelt unerfüllbar ist (vgl. 26,6; Ps 139,7–12; Am 9,2). Wenn Hiobs Lebenstage festgesetzt sind (V. 5), dann gilt dies auch für seinen Todestag. Wenn die Macht Gottes total ist, so wie Hiob sie erfährt, dann findet sie auch in der Scheol keine Grenze. So bewegt sich der Ruf Hiobs nach einem Ort, an dem er gott-los sein könnte, zwischen einer versteckten Herausforderung Gottes und einer verdeckten Bestreitung von Gottes Macht über den gesamten Kosmos. Damit verstärkt Hiob seine in der Verfluchung des Geburtstages ausgedrückte Negation der Schöpfungsordnung (vgl. Kap. 3). Oder blitzt in dem Wunsch Hiobs, vorübergehend in der Scheol verborgen zu sein und dann heilvoll in das Gedächtnis Gottes zurückzukehren, doch die Hoffnung auf eine Rechtfertigung jenseits der Todesgrenze auf?126 Zumindest die Vorstellung, dass Gottes Zorn begrenzt ist und letztlich von seinem Erbarmen übertroffen wird,127 steht im Hintergrund des Wunsches Hiobs. Es ist der Wunsch, dass sich Gott als der Schöpfer selbst besinnt und Reue empfindet (vgl. Jer 26,3; Jon 3,10).
Vgl. Jes 26,19; Dan 12,2. Dagegen versteht Houtman, Himmel, 178, die Aussage von Hi 14,12 im Sinn der absoluten Negierung der Auferstehung durch Hiob, da der Bestand des Himmels ganz gewiss sei. Gegen diese Interpretation sprechen die oben genannten apokalyptischen Parallelen (vgl. dazu bereits Hölscher sowie Feldmar, Fortschreibungen, 25–38). 123 Vgl. Ps 6,6; 88,6.11–12; Sir 17,28 und den Exkurs zu Kap. 3 auf S. 124–126. 124 Vgl. Ps 6,2; 27,9; 30,6; 85,4.6; 88,8.17; Jes 26,20. 125 Vgl. dazu Schottroff, „Gedenken“, 183–187. 126 So z.B. Weiser, 104f., und H.-P. Müller, Semantik, 126–128. 127 Vgl. Ex 34,6–7; Ps 30,6; 86,15; 103,8; 145,8; Jes 54,8. 122
244
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
14,14aα
Eine Glosse, die wohl das zweite Kolon von V. 13b verdrängt hat,128 verwandelt die Thesen vom endgültigen Tod des Menschen (V. 10a; V. 11a) in eine rhetorische Frage und deutet möglicherweise wie schon die Ergänzung zu V. 12 die Hoffnung auf die Überwindung der Todesgrenze an. So zumindest ließe sich die Übersetzung der LXX verstehen,129 die hier als Aussage formuliert, was allerdings auch im griech. Text mit V. 12* konkurriert (vgl. HiLXX 3,21–22; 7,9–10). 14,16–17 Wenn der Fall tatsächlich einträte, dass Gott Hiob eine Auszeit von sich selbst gäbe und sich dann erneut zu Hiob ins Verhältnis setzte, würde Gott wirklich auf Hiobs Lebensweg achten (vgl. 31,4.37). Vermeintliche Vergehen Hiobs, die seine Gemeinschaft mit Gott stören könnten, würden dann keine Rolle mehr spielen. Der aus 7,20–21 und 13,23 bekannte Dreiklang der Sündenbegriffe (ḥaṭṭāt, pæšaʿ, ʿāwôn) taucht erneut auf (vgl. auch 10,6). Die Ganzheit dessen, was Hiob von Gott trennen könnte, wäre dann gebannt, weil Gott selbst kein Interesse mehr an Hiobs möglicher Verfehlung hätte. Aus dem die Sünde des Menschen überwachenden Gott (vgl. 10,14; 13,27, Ps 130,3) wäre dann wieder der den Menschen bewachende und bewahrende Gott geworden (vgl. 10,12; 29,2). Doch ebenso wenig, wie Hiob damit rechnet, vorübergehend in der Scheol vor Gottes Zorn verborgen zu sein, rechnet er mit der Verwahrung seiner möglichen Vergehen in einem versiegelten Beutel (V. 17), die verhindern würde, dass die Sünde wieder hervorkommt und Hiob und seine Umwelt wie eine Krankheit infiziert. Hinter dem Bild des versiegelten Beutels steht die doppelte Vorstellung, dass mittels eines Siegels ein Behälter fest verschlossen und gleichzeitig als Eigentum des entsprechenden Siegelträgers gekennzeichnet wird (Dtn 32,34; Hhld 4,12; 8,6; Dan 6,18). Siegel, vor allem in Gestalt von Stempelsiegeln, Rollsiegeln und Skarabäen, sind seit dem 4. Jt. v.Chr. zu Tausenden aus dem Alten Orient bekannt und gehören zu den am meisten verbreiteten Schrift- und Bildträgern von Mesopotamien und Persien über Kleinasien und Syrien bis nach Ägypten. Als solche bilden sie eine der wichtigsten Quellen zur altorientalischen Religions- und Sozialgeschichte. Gefäße und Dokumente konnten mit Schnüren verbunden und mit Tonsiegeln (Bullen/Plomben) verschlossen und gekennzeichnet werden.130 Hinter dem Motiv, dass die Sünde eingeschlossen und mit Kleister überzogen wird, steht das Verständnis der Sünde als einer Macht, die ansteckt und sich verselbständigen kann. Dass Gott
128 Zur Annahme, es handele sich um eine ursprünglich zu V. 10 oder zu V. 19 gehörende Glosse siehe J. Gray. Dagegen hält Clines V. 14aα für einen ursprünglichen Bedingungssatz, muss dazu aber anstelle von h ajihjæh w ejihjæh lesen („Wenn ein Mensch sterben und dann wieder leben könnte, dann würde ich …“). 129 So Gerleman, Studies, 60f; Gard, Exegetical Method, 137–143; Kutz, Old Greek, 141–143 gegen Orlinsky, Studies (1961), 245–246; Cook, Septuagint, 199f. Zur Diskussion siehe Ausloos, Man, 162–165, und Feldmar, Fortschreibungen, 44–47. 130 Siehe dazu knapp P. Welten, Art. „Siegel und Stempel“, BRL2 (1977) 299–307, sowie die zahlreichen von O. Keel und seinem Team vorgelegten Studien zu den Stempelsiegeln aus Palästina/ Israel (Freiburg[Schweiz]/Göttingen 1985ff) und das von diesen edierte mehrbändige Corpus der Stempelsiegel-Amulette aus Palästina/Israel (Freiburg[Schweiz]/Göttingen 1997ff).
Hi 12–14 Die dritte Rede Hiobs
245
Hiob die Schuld vergessen lassen werde, wie es im Nachtrag zur Zopharrede heißt (vgl. 11,6), hilft nicht, wenn Gott nicht selbst die Schuld Hiobs vergisst. Klage über die eigene Vergänglichkeit
14,18–22
Selbst wenn sich in V. 13–17 ein Hoffnungsschimmer andeuten sollte, so fällt 14,18–19 Hiob doch in den nächsten Versen zurück in die Klage. Der Wandel Gottes scheint ausgeschlossen. Hiob erlebt weiterhin mit voller Wucht die Gewalt Gottes. So endet die Rede mit einer erneuten Klage über Gottes Gewalt, die in dem Vorwurf gipfelt, Gott selbst zerstöre die Hoffnung des Menschen. Gleichsam naturgegeben erlebt Hiob, wie er niedergedrückt wird: Wie sollte Hiob, wenn selbst Berge zerfallen und Felsen umgestürzt werden – Bilder, mittels derer im Hymnus Gottes Macht beschrieben werden kann (vgl. 9,5; Ps 97,5; 104,32; 114,4) – Gott widerstehen können (vgl. 6,12)? Hiob, der selbst zu Staub Zerfallende, sieht sich dem Staub gleich, der vom Regen weggeschwemmt wird. So bestreitet Hiob hier ausdrücklich die Verheißung Zophars, dass es für ihn noch Hoffnung gebe, wenn er sich demütig an Gott wende (vgl. 11,18). Wie soll die Gottesfurcht, die Eliphas in seiner ersten Rede an Hiob als Gegenstand der Hoffnung bezeichnet hatte (vgl. 4,6), diese Funktion erfüllen, wenn Gott selbst die Hoffnung vernichtet? (vgl. 17,15; 19,10). Wenn Gott aber die Hoffnung vernichtet, dann vernichtet er damit für Hiob auch die Frömmigkeit. Zugleich bestreitet Hiob hier die in den Psalmen ausgedrückte Vorstellung, Gott selbst sei die Hoffnung des Frommen (vgl. Ps 71,5). Weil Gott selbst Hiob überwältigt und sein Antlitz entstellt, fällt Gott als 14,20–22 Grund und Gegenstand menschlicher Hoffnung aus. So sieht Hiob seinem Tod entgegen (vgl. 7,21; 10,21–22; Ps 39,14; Pred 1,4), an dem weder Gott noch Menschen Anteil nehmen und der ihm jede Möglichkeit rauben wird, am künftigen Schicksal seiner Kinder teilzuhaben. Bestätigen die V. 21–22 in literargeschichtlicher Hinsicht die ursprüngliche Selbstständigkeit von Hioberzählung und Hiobdichtung, so fügen sie sich traditionsgeschichtlich zu der Vorstellung, dass der Tod als absolute Grenze erscheint und die Toten nichts mehr wissen (vgl. 21,19–21; Pred 9,5–6).131 Gegenüber dem Abschluss der Reden Hiobs in Kap. 6–7 und 9–10 liegt hier der Akzent auf der Betonung des Lebens (vgl. 19,26) und der damit verbundenen Möglichkeit, etwas zu empfinden, und sei es nur Schmerz, und zu trauern (ʾābal), wie das letzte Wort der Rede lautet.132 Dies entspricht der Ankündigung Hiobs in 13,14, um sein Fleisch und seine ,Seele‘ (næpæš) und somit um seinen Antrieb zum Leben zu kämpfen (vgl. 19,20).
Vgl. Euripides, Tro. 638; Klagelied der Taiemhotep 16–17 (TUAT II, 543f). Wenn in V. 22 eine Aussage über den im Totenreich nur um sich selbst trauernden Menschen gesehen wird (vgl. Tg1 und Tg2 zu V. 22b) – und nicht, wie hier vertreten, eine Aussage über eine Möglichkeit des (noch) Lebenden –, dann setzt das eine entsprechende Übersetzung voraus (s.o. Anm. 48). Zu einer ausführlichen Diskussion alternativer Deutungen von V. 22 siehe Gordis und Seow. 131 132
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Hi 15 Die zweite Rede des Eliphas HD 15,1 Und Eliphas der Temaniter hob an und sagte: 2 3 4 5 6
Antwortet ein Weiser mit luftigem Wissen, und füllt nur leerer Wind sein Inneres? Weist er mit einem Wort zurecht, das nichts nützt, und mit Worten, mit denen man nichts bringt? Willst du denn die (Gottes-)Furcht zerbrechen und das Gespräch vor El an dich reißen?1 Wenn deine Schuld deinen Mund belehrt und du die Zunge der Listigen wählst, dann wird dein Mund dich zu einem Frevler erklären und nicht ich, und deine Lippen werden antworten gegen dich.
7 8 9 10
Solltest du als der erste Mensch geboren worden sein, und bist du vor den Bergen zur Welt gekommen? Solltest du im Rat Eloahs zugehört haben und die Weisheit fest an dich gerissen haben?2 Was weißt du denn und wir wissen es nicht, was kannst du erkennen und bei uns ist es nicht? Auch unter uns sind Grauhaarige und Greise, die viel älter3 als dein Vater sind.
NR
11 12 13 14 15
Sind dir die Tröstungen Els zu wenig und ebenso das Wort, das er bei dir verbarg4? Was packt dich dein Herz dich, und was zwinkern5 deine Augen, dass du gegen El deinen Geist richtest und Worte aus deinem Mund hervorbringst? Was ist der Mensch, dass er rein sein könnte und dass gerecht sein könnte der von der Frau Geborene? Wenn6 er seinen Heiligen7 nicht traut und der Himmel nicht rein in seinen Augen ist,
V. 3–4 stehen noch unter der Rektion der Fragepartikel von V. 2 (vgl. Bobzin, Tempora, 216f). Zur Tempusfolge in V. 7–8 siehe Bobzin, Tempora, 218f. Wörtl.: „stärker/reicher an Tagen“ (vgl. J/M § 127b; Waltke/O’Connor § 10.2.2e). 4 Zur Begründung dieser Übersetzung von lāʾaṭ siehe die Auslegung. 5 Die Bedeutung des hap. leg. rzm I ist unsicher; möglicherweise handelt es sich um eine Nebenform von rmz, das im Mittelhebr. „ein Zeichen geben“ bedeutet (vgl. fünf Hss; Syr; Tg); HsK59 liest j erumûn „sie sind hoch“, was auch LXX gelesen zu haben scheint (vgl. Spr 16,17; 30,13). TurSinai und Pope vermuten die Bedeutung „schwach werden“ (nach arab. razama; vgl. DCH s.v. rzm II; Clines). Zur Diskussion siehe auch Grabbe, Philology, 66f. 6 Zur Einleitung eines Konditionalsatzes mit hen siehe die Anm. zu Hi 4,18. 7 Mit dem Qere ist der Pl. q edošâw zu lesen (vgl. LXX; Syr; Vg; Tg). 1
2 3
Hi 15 Die zweite Rede des Eliphas
16
247
wieviel weniger der gräulich Verderbte, der Mann, der Unrecht trinkt wie Wasser.
17 Ich will es dir kundtun, höre auf mich, und was ich gesehen habe, will ich erzählen,8 18 das, was ja die Weisen verkündet haben, was ihre Väter ihnen9 nicht verhehlten. 19 Ihnen allein nur war das Land gegeben, und kein Fremder zog je durch ihre Mitte. 20 Alle seine Tage ist der Frevler voller Angst und während10 der Jahre, die aufgespart für ihn11. 21 Die Stimme der Schrecken klingt in seinen Ohren, mitten im Frieden wird ihn der Verwüster angehen. 22 Er wird nicht glauben, aus der Finsternis zurückzukehren, und ausersehen12 ist er selbst für das Schwert. 23 Er irrt umher als Fraß des Geiers13, weiß, dass sein Unglück14 schon bereitet ist.15 24 Der Tag der Finsternis wird ihn überfallen16, Not und Bedrängnis17 werden ihn überwältigen, wie ein König, der bereit zum Angriff18 ist. 25 Denn gegen El hat er seine Hand gestreckt und sich gegen Schaddaj ermannt. 26 Er stürmte gegen ihn mit gestrecktem Nacken, mit dicht gesetzten Buckeln seiner Schilde. 27 Denn er hat sein Angesicht mit Fett19 bedeckt und dickes Fett auf seine Lenden getan. 28 Und er besiedelte vernichtete Städte, Häuser, die keiner mehr bewohnen konnte, die dabei sind, Steinhaufen zu werden. 8 Zum waw apodosis, das unübersetzt bleibt, siehe G/K § 146h; zum syntaktischen Problem des Verses siehe auch Diehl, Imperativ, 294. 9 Anstelle von kiḥ adû meʾ abôtām „sie verhehlten von ihren Vätern her“ lies kiḥadûm ʾ abôtām. 10 Wörtl.: „die Zahl“. Der Ausdruck mispar šānîm ist eine zu kål j emê in V. 20a parallele Zeitangabe; niṣpenû ist ein asyndetischer Relativsatz zu mispar šānîm (vgl. Bobzin, Tempora, 223). 11 Anstelle von læʿārîṣ „für den Gewalttäter“, das kolometrisch überschießt, lies lô. 12 Das Ketib ṣāpû und das Qere ṣāpûj (vgl. viele Hss) sind bedeutungsgleich (B/L § 57z). 13 Anstelle von lālæḥam ʾajjeh „nach Speise/Fraß – wo?“ lies lelæḥæm ʾajjāh (vgl. LXX; CTAT 50/5, 104; Hi 28,7). 14 Anstelle von bejādô „in seiner Hand“ (gemeint ist die Hand Gottes, vgl. Hi 5,18; 19,21) lies pîdô (vgl. CTAT 50/5, 104; Hi 12,5; 30,24; 31,29). 15 jôm-ḥošæk ist aus kolometrischen Gründen zu V. 24 zu ziehen (vgl. CTAT 50/5, 105). 16 Anstelle des Pl. j ebaʿ atuhû lies j ebaʿ atehû (vgl. LXX; CTAT 50/5, 105). 17 Die Wörter ṣar ûmeṣûqāh gehören gegen die masoret. Versgliederung wohl zu V. 24b (vgl. LXX; BHK). 18 Die Bedeutung des hap. leg. kîdôr „Angriff/Attacke“ ist nicht ganz sicher (vgl. Ges18; KAHAL; DCH). 19 Anstelle von ḥælbô „sein Fett“ lies helæb.
HD
248 29
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Er wird nicht reich bleiben und sein Vermögen wird keinen Bestand haben, und er wird nicht mehr zum Land hin sein Bild (?)20 ausstrecken.
30 Er wird nicht der Finsternis entgehen, Seine Schösslinge wird die Flamme verdorren, und im Wind wird seine Blüte21 vergehen.22 31 Er vertraue nicht auf Nichtiges23 – er täuscht sich selbst24, denn Nichtigkeit wird sein Lohn (?)25 sein. 32 Seine Ranke (?)26 wird sich zur Unzeit27 füllen, und sein Zweig wird nicht mehr grün. 33 Er wird wie der Weinstock seine unreifen Beeren abwerfen und wie der Ölbaum seine Blüte fallen lassen.28 34 Ja, die Gemeinschaft des Gottlosen ist unfruchtbar, und Feuer frisst die Zelte der Bestechung, 35 weil sie29 Mühsal empfangen und Übel gebären30 und ihr Inneres nur Trug bereitet. Literatur Callendar, D.E.: Adam in Myth and History. Ancient Israelite Perspectives on the Primal Human, HSS 48, Winona Lake 2000, 137–176. – Kotzé, Z.: Magic and Metaphor: An Interpretation of Eliphaz’ Accusation in Job 15:12, OTE 20 (2007) 152–157. – Nõmmik, U.: Die Freundesreden des 20 Die Deutung des Wortes minlām ist unsicher. BHS schlägt die Lesart menolām „ihr Besitz“ vor (von mānôl „Erworbenes/Besitz“, nach arab. manal vgl. Ges18; KAHAL; CTAT 50/5, 106–108; ähnlich J. Gray: menolô „his possessions“). nṭh wäre dann intransitiv gebraucht: „sich ausstrecken/ sich neigen“. DCH erwägt neben minlæh ein eigenes Lemma menālîm „Besitzungen“ – in beiden Fällen handelt es sich, wie bei mānôl, um hap. leg. Nõmmik, Freundesreden, 35; 43, liest im Anschluss an Dhorme nach LXX (σκιάν) ṣalmô „sein Schatten“, wobei dann eher die Bedeutung von „Bild“ im Sinn von „Ansehen“ anzunehmen ist. Seow orientiert sich an Vg (radicem suam „seine Wurzel“) und liest ʾ aṣālîm (vgl. arab. ʾaṣl „Wurzel“) in der Bedeutung „Besitzungen“ und „Wurzeln“. 21 Anstelle von b erûaḥ pîw „durch den Wind/Hauch seines (d.h. Gottes) Mundes“ lies bārûaḥ pirḥô (vgl. LXX). 22 Watson, Poetry, 181f, führt Hi 15,30 als Beispiel für ein chiastisches Trikolon nach dem Muster A–B–A an (vgl. Weiser), doch dürfte dies erst das Ergebnis der Glossierung in V. 30aα sein. 23 šāw entspricht šāwæʾ/šāwʾ (vgl. Ges18; J/M § 88Cf; CTAT 50/5, 112f). 24 Unabhängig davon, ob man beim MT bleibt oder als Partizip punktiert (nitʿæh, passiv.: „[durch Nichtiges] getäuscht“ [vgl. Hartley], oder medial: „one who goes astray“ [Seow]), ist diese Lesart fraglich. 25 Vgl. die folgenden Anm. 26 In diesem Kolon fehlt offenbar ein explizites Subjekt. Die LXX bietet ἡ τομὴ αὐτοῦ. Dies passt gut zu V. 32b und könnte auf eine ursprüngliche Lesart von zmwrtw/z emôrātô zurückgehen, was sich jetzt noch in V. 31 in dem Wort tmwrtw „sein Tausch/Lohn“ (vgl. Hi 20,18; LEH s.v. τομή; DCH s.v. t emûrāh) verbergen könnte. Näher beim Konsonantenbestand des MT bleiben die Vorschläge tmwrtw/timôrātô „seine Palme“ (vgl. 1Kön 6,29; Weiser; Hartley) oder ṣmrtw/ṣammartô „sein Wipfel“ (vgl. Ez 17,3; BHK). Doch spricht die motivische Parallele zu V. 33a für die erstgenannte Konjektur. Auch kann dann die masoret. Lesart timmālê beibehalten werden und braucht nicht in timmāl „sie wird verwelken“ (vgl. BHS; Hi 14,2; 18,16; 24,24) geändert zu werden. 27 Wörtl.: „vor seinem Tag“ (vgl. b eloʾ ʿittô, Pred 7,17; Sir 30,24 [HB]). 28 Will man hier nicht annehmen, dass die Jussivform „ohne jede Nebenbedeutung an Stelle der gewöhnl. Imperfektform steht“ (G/K § 109k), empfiehlt es sich, jašlîk zu lesen (vgl. J/M § 114l). Nach dem MT ist der Satz ein Wunsch (vgl. Bobzin, Tempora, 231, der auch jaḥmos jussivisch versteht), vergleichbare Fälle finden sich in Hi 18,9; 20,23b; 27,22; 33,11; 36,14.15; 38,24. 29 D.h.: die Ruchlosen. 30 Zum Gebrauch der Inf. abs. im (begründenden) Umstandssatz siehe Bobzin, Tempora, 232.
Hi 15 Die zweite Rede des Eliphas
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ursprünglichen Hiobdialogs. Eine form- und traditionsgeschichtliche Studie, BZAW 410, Berlin/ New York 2010. – Scherer, A.: Lästiger Trost. Ein Gang durch die Eliphas-Reden im Hiobbuch, BThSt 98, Neukirchen-Vluyn 2008.
Mit der zweiten Eliphasrede beginnt der zweite Gang des Wechselgesprächs zwischen Hiob und seinen Freunden. In diesem verschärfen sich die Anklagen gegen Hiob. Wie schon in der ersten Runde bildet die Rede des Eliphas das formale und inhaltliche Muster der folgenden Freundesreden. Ihr Hauptthema ist die Schilderung der vermeintlich gerechten Bestrafung des Frevlers, des rāšāʿ (vgl. 20–35; 18,5–21; 20,5–29). Dessen Schicksal wird mit Bildern und Motiven beschrieben, die Hiob zur Darstellung seiner eigenen notvollen Situation verwendete. Insofern Hiobs leidvolle Erfahrung mit Gott dem von den Freunden entfalteten Schicksal der Frevler entspricht, ergibt sich indirekt die Beurteilung Hiobs als Frevler. Die Reden der Freunde werden damit zur versteckten Anklage Hiobs, aber auch zu dessen Warnung, sich durch sein Streiten gegen Gott nicht immer tiefer ins Unglück zu reden. Der Leidende, der die Worte, die er zur Deutung seiner Situation gefunden hatte, nun als Klagen und Belehrungen gegen sich gewendet sieht, reagiert darauf im zweiten Redegang in doppelter Weise: Zum einen wendet er sich verstärkt an Gott selbst, wobei erstmals im Dialog ausdrücklich ein positiv formulierter Hoffnungsschimmer aufblitzt (16,17–22 und 19,21–27, vgl. dagegen 6,8–10; 14,13), zum anderen lässt er sich auf das von den Freunden behandelte Thema des rāšāʿ ein und versucht, diese argumentativ zu widerlegen (21,1–34; 24,1–12). Die zweite Eliphasrede ist eine Streit- und Lehrrede, die ursprünglich aus fünf Strophen zu je fünf Bikola bestand (V. 2–6|7–10+17|20–24|25–29*|30+32–35). Die Abgrenzung der einzelnen Einheiten ist in der Exposition (V. 2–10+17) deutlicher als im Hauptteil (V. 20–35). Im Vergleich zur ersten Eliphasrede fehlen Trostworte und Verheißungen an Hiob sowie eine direkte Schlussanrede. Die Rede endet ohne Hoffnungsankündigung für Hiob mit einem Summarium zum Untergang des Frevlers. Die zentrale theologische Aussage von V. 2–10.17– 30.32–35 ist, wie in der ersten Eliphasrede, dass einerseits Gerechtigkeit vor Gott mittels Frömmigkeit möglich ist und dass andererseits der Frevler vom gerecht handelnden Gott in dieser Welt vernichtet wird. Die Sprachformen stammen im Wesentlichen aus der Streitrede der Weisen. Die zwei wichtigsten formalen Elemente der zweiten Eliphasrede, die Anklage Hiobs (A: V. 2–6) und die Beschreibung des Schicksals des Frevlers (B: V. 17–35), finden ihr Gegenüber in der zweiten Rede Bildads und in der zweiten Rede Zophars (vgl. zu A: 18,2–4 bzw. 20,2–3 und zu B: 18,5–21 bzw. 20,4–29). Die Beschreibung des schlimmen Schicksals, das dem Frevler widerfährt, bedient sich einzelner Bilder und Motive aus Unheilsbeschreibungen, wie sie im AT in Dtn 28 und in prophetischen Droh- und Strafworten sowie im Alten Orient in Nichtigkeitsflüchen von Vertragstexten begegnen.31 31
Vgl. z.B. VTE §§ 59–67 (TUAT I, 172f).
Aufbau und Sprachformen
250
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Text- und Die ursprüngliche griech. Übersetzung hat einen etwas kürzeren Text als der Literar- MT, insofern in ihr V. 10.26b–27 fehlen. Ob dies auf eine andere hebr. Vorgeschichte lage verweist oder ob die Übersetzer selbstständig gekürzt haben, ist schwer zu sagen. Das Fehlen dieser Verse, zumal von V. 26b–27, gründet aber wohl weniger in theologischen Erwägungen als in der philologischen und semantischen Problematik. Mitunter unterscheidet sich die LXX in einigen Passagen aufgrund einer anderen Punktation und einer anderen Trennung der in ihrer hebr. Vorlage vorgefundenen Wörter (s.u. zu V. 11) vom MT. Die Rede weist an mehreren Stellen eine Nachbearbeitung auf, die sich zum Teil auch auf die Überlieferung des Textes niedergeschlagen hat. Dieser ist vor allem in V. 23–24.28–33 nicht unversehrt erhalten, so dass hier unverhältnismäßig viele Konjekturen nötig sind. Der mittlere Baustein der zweiten Eliphasrede, die weisheitliche Lehre in 15,7–16, findet in den folgenden Reden Bildads (Kap. 18) und Zophars (Kap. 20) kein Pendant. Der Abschnitt fällt auch aus dem strophisch und argumentativ gleichmäßigen Aufbau der zweiten Eliphasrede formal und inhaltlich heraus. Die aus sechs Bikola bestehende Passage 15,11–16 mit der These, dass der Mensch aufgrund seines Menschseins verdorben und damit ungerecht und unrein sei, bildet eine Parallele zum sekundären Nachtgesicht des Eliphas in 4,12–21 (vgl. 9,2; 14,1; 25,4–6). Sie geht wohl auf dieselbe Hand, d.h. die Niedrigkeitsredaktion, zurück, welche die erste Freundesrede bearbeitet hat.32 Darüber hinaus finden sich einzelne Glossen.33 In V. 18–19 wird die Erfahrung des Eliphas relativiert und im Stil des rabbinischen Targums begründet (vgl. insbesondere Tg zu 15,10). Die sekundäre Anfügung von V. 18–19 und die Einlage von V. 11–16, die den unmittelbaren Zusammenhang von V. 10.17 zerschneidet, deuten darauf hin, dass der kolometrisch unausgeglichene V. 17 nicht in der ursprünglichen Form vorliegt. In V. 24b ist offenbar k emælæk ʿātîd lakkîdôr („wie ein König, der bereit zum Angriff ist“) eine Glosse, welche die heute vorliegende Gliederung der V. 23–24 und möglicherweise die masoret. Punktation von titq epehû („du/sie überwältigst/überwältigt ihn“) zur Folge hatte. In V. 28 ist Versteil b als Erläuterung zu V. 28a nachgetragen. V. 30aα fügt sich nicht in das Schema der aus Bikola aufgebauten Strophen der Rede, bildet eine Dublette zu V. 22a.23b/24 und passt nicht zu den in V. 30aβ.b.32– 33 ausgeführten Pflanzenbildern. Ähnliches gilt für V. 31, der zudem die aus jeweils fünf Bikola bestehenden Strophen der Rede überlastet.
Wanke, Praesentia Dei, 388–391, führt die Passage, wie auch Hi 4,11–21 und 25,1–6 auf die „Elihu-Redaktion“ zurück, Vermeylen, Métamorphoses, 168, auf die „dritte (oder vierte) Buchredaktion“, wobei er den Grundbestand der zweiten Eliphasrede auf 15,8–10.20–28a.29.30aβ.b.32–35 beschränkt. Demgegenüber interpretieren K. Brown, Vision, 122–129, und Greenstein, 64–66, Hi 15,14–16 als eine Zitation der Vision Hiobs (!) aus 4,12–21 (s.o. S. 136). 33 Vgl. Nōmmik, Freundesreden, 36; 42. 32
Hi 15 Die zweite Rede des Eliphas
251
Die mangelnde Frömmigkeit des Leidenden
15,1–6
S.o. zu Hi 4,1. Den Auftakt der Rede bildet ein Tadel Hiobs, der ironisch als ein Weiser (ḥākām) bezeichnet wird, der nur windiges Wissen (daʿat) von sich gibt (vgl. 8,2; 11,2; 16,3; Hos 12,2).34 Hiobs Bewusstsein (jādaʿ), gegenüber den Freunden und Gott im Recht zu sein (13,18), wird damit als nichtig eingestuft. Mit der Kennzeichnung Hiobs als vermeintlichem ḥākām spielt Eliphas auf dessen Anspruch an, im Besitz einer den Freunden ebenbürtigen Weisheit (ḥåkmāh, 12,2) zu sein. Das Bild des trockenen Ostwindes (qādîm, Scirocco, arab. el-ḫamsīn),35 der Hiobs Inneres (bæṭæn) füllt, geht noch einen Schritt weiter, indem es impliziert, dass Hiob mit seinem Reden Verderben bringt und letztlich das Gericht Gottes schon in sich selbst trägt (vgl. Jes 27,8; Jer 18,17). Die bisherigen Worte Hiobs erscheinen Eliphas als eines Weisen unwürdig und als „nutzlos“ (loʾ jiskôn). Die Rechtfertigung der Wildheit der Klage des Leidenden (6,3) verfängt hier nicht. Erstmals taucht die Wurzel sākan (Qal) auf, mittels derer im weiteren Verlauf der Hiobdichtung (auf unterschiedlichen redaktionsgeschichtlichen Ebenen) das Ziel von Weisheit und Frömmigkeit sowie das Verhältnis von menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit thematisiert wird und die dementsprechend, wie die in V. 3b gebrauchte Wurzel jāʿal (Hif.), ein sachliches Pendant zu dem im Prolog verwendeten Begriff ḥinnām („ohne Grund“) darstellt.36 Es folgt die Bestreitung von Hiobs religiöser Integrität. Hatte Eliphas in seiner ersten Rede noch Hiobs Gottesfurcht als Möglichkeit des Trostes anerkannt (4,6, vgl. 22,4–5; Ps 25,12; 111,10; Spr 9,10), so unterstellt er ihm hier, die Gottesfurcht durch fortschreitende Klagen zu zerstören (pārar Hif., vgl. 40,8) und das Reden vor Gott an sich zu reißen. Zumeist wird V. 4b in dem Sinn verstanden, dass Hiob die (fromme) Andacht vor Gott vermindere.37 Doch spricht die Korrespondenz von V. 4 und V. 7 dafür, gāraʿ in beiden Versen mit „wegreißen/an sich reißen“ zu übersetzen und in śîḥāh im Sinn des weisen Redens eine Entsprechung zu ḥåkmāh in V. 7 zu sehen (vgl. Sir 6,34/35 [HA/C]; 8,8 [HA]; 11,8 [HA/B]). Vor dem Hintergrund von Ps 119,97, wo die Torah Gegenstand der śîḥāh des Weisen ist,38 wird der Vorwurf des Eliphas deutlich: In den Augen des Eliphas zersetzt Hiob mit seinen Reden die Religion. Wer wie Hiob die Gerechtigkeit Gottes anzweifelt, der entzieht der Religion die Basis. Den Religiösen, denen er vorgeworfen hatte, für Gott einen Prozess zu führen (vgl. 13,7–12), wird Hiob zur unmittelbaren Gefahr. Als Chiffre für Hiob selbst erscheinen sein Mund und seine „Lippen“ (V. 5–6, vgl. 11,2; 13,6), die ihn zum Frevler erklären. Unter dem Einfluss von Hi 15,5–6 ist offenbar das Wort
15,1 15,2
Zum Redeauftakt vgl. auch BT 5–6.34 (TUAT III, 146.148). Vgl. Gen 41,6; Ex 10,131; Jon 4,8; Hi 27,21. Vgl. Hi 22,2; 34,9; 35,3 bzw. 21,19. 37 Vgl. z.B. Weiser; Fohrer; Clines; Seow. 38 Vgl. Ps 119,99; 11QPsa XVIII,14(12). 34 35 36
15,3
15,4–6
252
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
pî („mein Mund“) sekundär in 9,20 eingedrungen.39 Hiob redet sich selbst, so Eliphas, immer tiefer in die Sünde und damit ins Leid hinein (V. 6). Hiob wird darauf zurückkommen (27,4). Für Eliphas jedenfalls ist das Urteil, das der Erzähler über Hiob im Prolog fällte („in alldem verfehlte Hiob sich nicht mit seinen Lippen“, 2,10), aufgehoben, auch wenn er (noch) nicht so weit geht, Hiob direkt konkreter Vergehen zu bezichtigen (vgl. 22,5). 15,7–19 Die mangelnde Weisheit und Gerechtigkeit des Leidenden 15,7–8 An die textlich, kolometrisch und stilistisch glatte Eröffnung schließt sich mit V. 7 eine ebenfalls als rhetorische Frage (vgl. V. 2) formulierte Bestreitung von Hiobs Weisheit und damit seiner intellektuellen Integrität (vgl. 12,2–3; 13,2) an. Hatten die Freunde den punktuellen Erfahrungen Hiobs bisher die durch das Zeugnis der Generationen gestützte Tradition gegenübergestellt, so wird Hiobs Verhalten nun in ein urzeitliches Paradigma eingetragen. Hinter der Anfrage des Eliphas steht das mythische Motiv von der Weisheit des Urmenschen.40 Das Motiv ist im Alten Orient und in der Antike weit verbreitet und findet sich in zwei Spielarten: nach der einen wurde der Urmensch aufgrund seiner Erschaffung vor den anderen Werken, für die hier beispielhaft die Berge stehen (vgl. Ps 90,2; Spr 8,25; ÄHG 42A, 12), und aufgrund seiner Nähe zum Schöpfergott mit besonderer Weisheit begabt (vgl. Sir 17,7 [G]; 49,16; SapSal 9,2),41 nach der anderen hat sich der Urmensch in Übertretung eines Gottesgebotes besondere Weisheit angeeignet (vgl. Gen 3,22; Ez 28,11–17)42. Eliphas spielt hier auf die zweite Variante an, wenn er Hiob ironisch fragt, ob dieser die Weisheit geraubt habe. Wie in Hi 5,23 scheint traditionsgeschichtlich eine Hiob-Adam-Typologie durch (vgl. auch 31,33), wie sie explizit im rabbinischen Targum zu 30,19 thematisiert wird. Über das Motiv vom himmlischen Rat Gottes (sôd, vgl. Jer 23,18–22)43 werden die Leser, die den Prolog kennen, auf die Himmelsszenen zurückverwiesen (vgl. 1,6–12; 2,1–6): Natürlich hat Hiob nicht an der himmlischen Ratsversammlung Jhwhs teilgenommen, auch wenn er in seinen vorangegangenen Reden zutreffend auf Gottes Urheberschaft an seinem Leid verwiesen hatte (vgl.
S.o. S. 189. Vgl. dazu ausführlich Fuchs, Mythos, 101–104. 41 Vgl. 4Q305 II,2; 4Q504 frgm. 8r 4–7, sowie im altorientalischen Bereich den Mythos von Adapa frgm. A 3’–4’ (TUAT.E, 52; Izreʾel, Adapa, 10) und das Motiv von den vorsintflutlichen sieben Weisen (Apkallu) im Mythos von Išum und Erra I,162 (TUAT III, 789). 42 Vgl. die unterschiedlichen Verarbeitungen des Mythos von Prometheus bei Hesiod (theog. 507–616; erg. 42–105), Aischylos (Prom.) und Platon (Prot. 320c–322a; Phil. 16c; polit. 274c; Gorg. 523d). 43 Vgl. zudem 1Kön 22,19–21 sowie zur „Versammlung der Engel“ Ps 89,8; zu sôd als „Geheimnis“ vgl. 4Q512 frgm. 36–38,3(13). 39 40
Hi 15 Die zweite Rede des Eliphas
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9,17; 10,8; 13,24).44 Möglicherweise zeigt sich in 15,7–8 erneut eine Anspielung auf die biblische Paradieserzählung. Darauf könnte auch die Verwendung des Begriffs ʿarûm („klug/listig“) in V. 5 hindeuten, der in Gen 2–3 eine zentrale Rolle spielt (Gen 2,25; 3,1). Die Korrelation der Situation Hiobs mit einem Ereignis in der mythischen Urzeit deutet aber nicht nur Hiobs Verhalten als Frevel, sondern zeigt zugleich das Ausweichen des Eliphas vor der konkreten Erfahrung Hiobs in der Gegenwart. In 15,2–6 begründete Eliphas die Widerlegung Hiobs mit einem doppel- 15,9–10 ten Hinweis auf Hiob selbst (vgl. V. 5–6). Nun rekurriert er nochmals auf die Freunde als Träger altehrwürdiger Weisheit.45 Mittels der Erkenntisbegriffe jādaʿ und bîn ist die Berufung auf die Tradition eng mit der Frage nach Hiobs vermeintlicher urzeitlicher Weisheit verknüpft. Der Rückgriff auf die Tradition wird jedoch zunächst nur einfach ausgeführt, um dann von einer erneuten doppelten Fragenkette (V. 11–16) unterbrochen in V. 17 fortgesetzt zu werden. Gegenüber der metrisch gesehen harmonischen Anlage von V. 2–10 sind 15,11–13 V. 11–16 ähnlich wie der Abschnitt 4,12–21 von einer rhythmischen Unruhe geprägt. In V. 11 hat der erste Stichos eine Überlänge, in V. 12 der zweite. Zudem weisen die eng miteinander verknüpften V. 11–13 seltene Wendungen und Begriffe auf. Mit dem Wort tanḥûmîm („Tröstungen“, V. 11) wird auf das Schlüsselwort niḥam angespielt, das sich in seinen zwei wesentlichen Bedeutungen („trösten“ und „bereuen“) durch die verschiedenen literarischen Schichten des Hiobbuches zieht.46 So kommen nach dem Prolog die Freunde zu Hiob, um ihn zu trösten (2,11, vgl. 42,11). Im Verlauf des Dialogs spricht Hiob seinen Freunden diese Fähigkeit ab (16,2; 21,2.34). Hiob selbst sieht in der Beendigung seines Lebens durch Gott die einzige Möglichkeit eines Trostes (6,10), da ihn auch sein Nachtlager angesichts des täglichen Schmerzes nicht zu trösten vermag (7,13). Im Schlusswort Hiobs (42,6) spielt die Wurzel nḥm in ihren beiden Bedeutungen eine zentrale Rolle für das Gesamtverständnis. Von „Tröstungen Gottes“ (tanḥumôt ʾel) ist bisher nicht die Rede gewesen. Worin diese der Dichter bzw. der für den Einschub von V. 11–16 verantwortliche Redaktor konkret sieht, ist mehrdeutig. Ausgehend von Ps 94, neben Hi 15,11 (vgl. V. 19) dem einzigen Beleg für den Bezug des Wortes tanḥûmîm unmittelbar auf Gott, erscheinen die Torah (Ps 94,12), Recht und Gerechtigkeit (Ps 94,15), Barmherzigkeit (Ps 94,18) und die göttlichen Gebote (Ps 94,20) als Mittel des Trostes für Israel und der Erziehung des einzelnen Frommen (vgl. Ps 25,8–10). Insofern die an Gott als den universalen Richter gewandte große Klage in Ps 94 weitere dichte Parallelen zu einzelnen Versen 44 LXX ist hier weniger mythologisch, wenn sie sôd mit dem in LXX nur hier und in 2Makk 2,23 gebrauchten Wort σύνταγμα („Befehl“) übersetzt, was auf der Deutung von sôd als „Rat/ Beratschlagung“ (Am 3,7; Ps 25,14; Spr 3,32) basiert. 45 Vgl. Hi 5,27; 8,8–10; 32,7; Sir 8,9; 25,4–6 (G); Lux, Baum des Lebens, 136–148. In den gegenüber Hi 15,9–10 literargeschichtlich jüngeren Passagen in Hi 12,12–13 und 32,10 wird der Konnex von Alter und Weisheit bestritten (vgl. auch Hi 17,10). 46 Vgl. Hi 2,11; 6,10; 7,13; 16,2; 21,34; 29,25; 42,6.11.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
der Hiobdichtung aufweist,47 ist nicht ausgeschlossen, dass dieser Psalm ähnlich wie Ps 8;48 25; 107 und 139 ein wesentlicher Intertext des Hiobbuches in seinen verschiedenen literarischen Schichten ist. Sofern die in Ps 94 genannten Heilsgaben Jhwhs, zumal seine Torah, von Eliphas Hiob angeboten werden, um dessen „Seele zu erquicken“ (Ps 94,19)49, tritt Eliphas wie schon in 5,17 (vgl. Ps 94,12) in der Rolle des Torahlehrers auf. In diesem Fall ließe sich das in V. 11b genannte „Wort“ (dābār) ebenfalls auf die Torah beziehen.50 Problematisch ist das Lexem lāʾaṭ, das zumeist als aus der Präp. le und dem Nomen ʾaṭ („sanft“)51 zusammengesetzte adverbiale Bestimmung verstanden wird,52 so dass es sich bei dem dābār um ein Wort handelt, das sanft mit Hiob verfuhr. Ob dies aber ein Wort des Eliphas, näherhin seine erste Rede bzw. eine der Hiobrede in Kap. 12–14 vorausgehende Freundesrede ist oder ein (durch diese vermitteltes) Wort Gottes, bleibt offen. Das rabbinische Targum erläutert hier in der Linie von V. 11a ganz sachgemäß, dass Gott selbst mit Hiob in Ruhe (njḥ) redet. lāʾaṭ lässt sich aber auch als 3. P. Sg. PK Qal von der Wurzel lāʾaṭ („verhüllen“, vgl. 2Sam 19,5)53 deuten und als Prädikat eines asyndetischen Relativsatzes zu dābār auflösen, so dass sich V. 11b auf das Wort bezieht, das er, nämlich Gott, in der Gemeinschaft (ʿîm) von bzw. bei Hiob verborgen hat. So gelesen handelt es sich bei V. 11 um eine Parallele zur Einleitung der Vision des Eliphas in 4,12–21. Diese würde damit auch in der Rückschau ausdrücklich als eine göttliche Offenbarung gekennzeichnet (vgl. 4,13–16). Für diese Interpretation spricht, dass Eliphas in V. 14–16 mit charakteristischen Modifikationen den Inhalt seiner Offenbarung aus 4,17–19 wiederholt. Ähnlich können in 4Q176 (4QTanḥûmîm) frgm. 1–2 I,4 die aus Jes 40,1 zitierten Trostworte Gottes als tnḥwmjm bezeichnet werden (vgl. frgm. 8–11,13). In jedem Fall stellt Eliphas Gott selbst als Grund und Ziel des Trostes vor Augen, womit er dem Vorwurf Hiobs, Gott zerstöre die Hoffnung des Menschen (14,19–20), energisch widerspricht. Die LXX unterscheidet sich in V. 11 deutlich vom MT. So behauptet Eliphas nach der LXX, dass Hiob für seine Sünden und seine unmäßigen Reden bisher nur unzureichend gestraft (wörtl.: „gegeißelt“) worden sei (vgl. 11,6c). 47 Vgl. Ps 94,2 mit Hi 21,22; Ps 94,3 mit Hi 15,20–35; Ps 94,7 mit Hi 22,12–13.17; Ps 94,10 mit Hi 12,17–25; Ps 94,12 mit Hi 5,17. 48 Siehe dazu auch Frevel, Lesen, 277–303. 49 Vgl. Ps 119,16.47.70; Jes 66,11–12. 50 Vgl. Dtn 30,10–14; Ps 119,16–18.89–92.105–107.169–174. 51 Abgeleitet von einer im biblischen Hebr. nicht belegten, aber aus dem Arab. erschlossenen Wurzel ʾṭṭ „murmeln/knurren/ächzen“ (Ges18 und KAHAL s.v. ʾaṭ). Zur Problematik dieser etymologischen Herleitung und zu ihrem forschungsgeschichtlichen Hintergrund siehe aber I. Kottsieper, der selbst die Bedeutung „Angemessenheit/Angemessenes“ annimmt und für diesen Gebrauch auf entsprechende Belege in den Schriften aus Qumran verweisen kann („Was du ererbt von deinen Vätern …“ Eine Randbemerkung zur hebräischen Lexikographie, in: E. Bons u.a. [Hg.], Biblical Lexicology: Hebrew and Greek. Semantics – Exegesis – Translation, BZAW 443, Berlin/Boston 2015, 33–69, hier: 59–69, vgl. auch HAWTTM I s.v. ʾwṭ). 52 Vgl. Gen 33,14; 2Sam 18,5; 1Kön 21,27; Jes 8,6. 53 Vgl. lûṭ („verbergen“) in Jes 25,7 und zum Motiv Hi 39,30; 1Kön 14,11.
Hi 15 Die zweite Rede des Eliphas
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Damit wird in der LXX die Verklagung Hiobs aus der dritten Eliphasrede vorweggenommen (vgl. 22,6–9).54 Der Tadel an Hiob fällt besonders scharf aus, da er sich in seiner ganzen Per- 15,12–13 son und mit allen seinen Sinnen dazu habe verführen lassen, sich gegen Gott zu wenden. Die Konzentration der anthropologischen Grundbegriffe „Herz“ (leb),55 „Augen“ (ʿênajîm),56 „Geist“ (rûaḥ) und „Mund“ (pæh) kennzeichnen die Totalität des Verhaltens Hiobs. Die Beschreibung trifft die Situation Hiobs, der mit seiner ganzen ihm noch verbliebenen Kraft vor Gott klagen und zu ihm reden will (vgl. 7,11; 9,35–10,2; 13,13–14.22). Dabei ist die Formulierung hešîb rûḥô ʾæl, in der rûaḥ im Sinn von ʾap („Zorn“) steht57 und die als solche einmalig im AT ist, doppeldeutig, insofern der Ausdruck auch „den Lebensgeist (zu Gott) zurückbringen“ bedeuten kann (vgl. Pred 12,7).58 Der Vorwurf des Eliphas bezieht sich dann nicht nur auf den als unangemessen empfundenen Unmut Hiobs gegen Gott, sondern auch auf Hiobs radikale Lebensmüdigkeit und dessen damit verbundenen Aufruf, Gott möge seinem Leben ein Ende setzen (vgl. 3,11–13; 6,9–10; 10,18–19). Daran knüpft nahtlos das aus 4,17–19 bekannte Theologumenon der mensch- 15,14–16 lichen Ungerechtigkeit und Unwürdigkeit vor Gott. Der Anschluss von V. 14–16 an V. 11–13 zeigt sich an dem Rückbezug des Suffixes von b eʿênâw („in seinen Augen“) in V. 15b auf die Gottesbezeichnung ʾel in V. 13 (vgl. 11,4; 14,3; 16,9; 25,5). Wie V. 11–13 verwenden V. 14–16 seltene Begriffe und Wendungen.59 Die Wurzel tāʿab („verabscheuen“) wird nur hier im Hiobbuch im Nif. konstruiert,60 ʾālaḥ („verdorben sein“) begegnet nur noch in Ps 14,3 (par. 53,4) und ist dort durch den Parallelismus (ʾên ʿoṣeh-ṭôb) eindeutig als Ausdruck für vollkommene ethische Minderwertigkeit definiert. Die Verknüpfung ʾîš šotæh („der Mann, der säuft“) ist in der hebr. Bibel einmalig, sie begegnet leicht variiert nur noch in dem sekundären Vers 34,7, der die generelle Formulierung auf Hiob anwendet. Wie in 4,17–19 dient das Motiv der Betonung des kategorialen und radikalen Unterschieds zwischen Gott und Mensch, vor dessen Hintergrund sowohl die Form der Klage Hiobs als auch ihr Inhalt als vollkommen unangemessen und die Möglichkeit menschlichen Rechthabens und Gerechtseins (ṣādaq) vor Gott als absolut ausgeschlossen erscheinen (4,17; 15,14). Gleich54 Zu Versuchen der Rekonstruktion einer entsprechenden hebr. Vorlage siehe Beer, Text, 91f; Dhorme, 192f. Seow rechnet mit einer Paraphrase des OG auf Basis einer Vorlage, die der des Konsonantentextes des MT entspricht. Die LXX-Lesart in V. 11b (ὑπερβαλλόντως „übermäßig“) beruht auf der Worttrennung von lʾ ṭʿm („ohne Verstand“, vgl. 12,20; Spr 11,22) gegenüber lʾṭ ʿm im MT (vgl. LEH, 489). 55 Zum Ausdruck lāqaḥ leb im Sinn der Überheblichkeit vgl. nāśāʾ leb in 2Kön 14,19 par. 2Chr 25,19 (vgl. Mayer, Tätigkeiten, 333, und Seow mit Hinweis auf die analoge Verwendung im Akkad. im Gilgm. Yale-Tafel 190 [TUAT III, 657]); zu leb/lebāb „Herz“ siehe die Auslegung von Hi 8,8–10. 56 Zum negativ konnotierten Bild der „zwinkernden/winkenden“ Augen vgl. Sir 27,22 (G); doch siehe auch die Anm. zur Übersetzung. 57 Vgl. Hi 9,13; Ps 78,23; Spr 24,18; 29,8. 58 Vgl. Alonso Schökel, Manual, 29. 59 Zum Ausdruck j elûd ʾiššāh („der von der Frau Geborene“) s.o. zu Hi 14,1. 60 Vgl. Hi 9,31; 19,19; 30,10 (jeweils Piel) sowie 1Chr 21,6; Jes 14,19 (jeweils Nif.).
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
wohl finden sich spezifische Differenzen gegenüber 4,17–19. Anstelle mittels einer einfachen rhetorischen Frage (4,17) wird die in 7,17 (vgl. Ps 8,5; 144,3) anklingende Formulierung hinsichtlich des grundsätzlichen Wesens des Menschen (māh-ʾ ænôš) gewählt.61 Wird in 4,17–19 der Unterschied zwischen Gott und Mensch vor allem mittels des Gegensatzes von Schöpfer und Geschöpf herausgestellt, so in 15,14–16 mittels der Beschränkung des Begriffs „rein“ – im Gegenüber zu 4,17 (ṭāhar) hier zweimal mit der Wurzel zākāh bzw. zākak ausgedrückt62 – auf Gott. Gegenüber 4,17–19 ist die Perspektive kosmologisch geweitet: nicht nur die Engel, hier im Gegensatz zu 4,18 als „Heilige“ (vgl. 5,1)63 bezeichnet, wodurch die alleinige „Reinheit“ Gottes als des schlechthin Heiligen (Jes 6,3)64 nochmals unterstrichen wird, sondern auch der Himmel sind in den Augen Gottes nicht rein. Dabei wird zākāk/zākak als ein Synonym zu ṭāhar nicht nur in einem moralischen oder juridischen Sinn „rein sein“ bzw. „unschuldig sein“ gebraucht, sondern auch in kultischen Kontexten.65 Dass es hier in einem umfassenden Sinn gemeint ist, zeigen auch die in V. 16 verwendeten Begriffe66 sowie der traditionsgeschichtlich sehr eng mit Hi 15,14–16 (par.) verwandte Text 1QHa XVII,13–17.67 […] Denn niemand ist gerecht in deinem Gericht und niemand ist rein in deinem Rechtsstreit […] (1QHa XVII,14–15*)
Im Einzelfall – hier desjenigen, der sich nicht der Qumrangemeinschaft anschließt – kann die mutmaßliche Unreinheit als so tiefsitzend angesehen werden, dass keine Sühneriten greifen (1QS III,4–5, vgl. 4Q257 II,5; 5Q13 frgm. 4). Allein der Eintritt in die Gemeinschaft von Qumran und die damit verbundene Gabe des Geistes Gottes hat hier sündenvergebende Funktion. Von dieser Theologie ist der Verfasser von Hi 15,11–16 noch ein Stück entfernt, auch wenn er, wie der Autor von Ps 51, zu einem ihrer Wegbereiter gehört. So bleibt Eliphas auch auf der Ebene des um V. 11–16 ergänzten Textes bei der Anklage Hiobs und der (indirekten) Kennzeichnung Hiobs als eines „Mannes, der Unrecht säuft wie Wasser“ (V. 16, vgl. 34,7).
Siehe dazu auch Kynes, Psalm, 71–73; Janowski, Anthropologie, 509–511. Vgl. Hi 25,4–5; Spr 16,2; 20,9; Jes 1,16; Ps 51,6 bzw. Hi 9,30; 25,5. 63 Zu entsprechenden Parallelen s.o. zu Hi 5,1. Auch hier denkt Houtman, Himmel, 171, nicht an die Himmelsbewohner, sondern an den strahlenden Himmel als einem „Exempel für Sauberkeit“ (a.a.O., 232). 64 Vgl. Jes 10,17; 30,12.15; 40,25; 41,20; 43,14; 45,11; 49,7; 55,5; 60,9; Hos 11,9; Hab 3,3; 4Q381 frgm. 76–77,7. 65 Vgl. Jes 1,16; Ex 27,20; 30,35; Lev 24,2.7 sowie die Ausführungen von A. Negoita/H. Ringgren, Art. zākāh, ThWAT II (1977) 569–571. 66 Vgl. zu ʿawlāh Ps 37,1; 107,42; 119,3; Jes 59,3; Hos 10,13; Zeph 3,5.13; Mal 2,6; zu ʾālaḥ Ps 14,3 (par. Ps 53,4) und zu tāʿab Dtn 7,26; Ez 16,25; Am 5,10; Mi 3,9. Zu diesem Aspekt der Differenz zwischen Gott und Menschen vgl. auch BT 279–280 (TUAT III, 157; Oshima, Babylonian Poems, 165); doch erfüllt dieses Motiv dort die Funktion der Anklage gegen die Götter (s.o. S. 35f). 67 Vgl. auch 1QHa XXIIbottom,9–10 (XXII,29–30). 61 62
Hi 15 Die zweite Rede des Eliphas
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Der Vers kehrt zu der in V. 7–10 eingeschlagenen Argumentation zurück, indem 15,17 nun die Berufung auf die Weisen unter den Freunden durch die Ankündigung einer auf Beobachtung beruhenden (vgl. 4,8; 5,3.27; 13,1) Lehrrede exemplifiziert wird. Ausgangspunkt der folgenden, mit der Lehreröffnungsformel š emaʿ („höre“)68 eingeleiteten Unterweisung Hiobs ist also erneut die durch Generationen hindurch verbürgte Erfahrung. Nicht Hiobs Schau, sondern das, was Generationen vor ihm gesehen haben, gilt dem Eliphas als Spiegel der Wirklichkeit. So endet die zweite Strophe, die ursprünglich wie die erste Strophe (V. 2–6) nur aus fünf Bikola bestand, nach ihrer Eröffnung in V. 7 mit einer rhetorischen, polemischen Frage an Hiob (vgl. V. 2) und der Beschuldigung Hiobs in V. 8–10 (vgl. V. 3–5), in V. 17 mit einem Verweis auf die Person des Redners (vgl. V. 6). Die Lehrankündigung ist sekundär um den Verweis auf die geschichtlich 15,18–19 besonders legitimierten Tradenten erweitert und abgesichert worden.69 Möglicherweise wird auf eine ideale Zeit in der Geschichte Israels angespielt.70 Das Schicksal des Frevlers
15,20–35
Die aus drei Strophen zu je fünf Bikola bestehende Lehrrede verfügt über einen dreigliedrigen Aufbau. Der erste Teil (V. 20–24) schildert generell das böse Schicksal, das den Frevler (rāšāʿ) ereilt. Dabei werden vor allem innere Nöte des Gottlosen geschildert, der sich im Leben vor dem Leben fürchten muss. Der zweite Teil (V. 25–29) begründet die Bestrafung des Frevlers mit dem Hinweis auf seinen Aufruhr gegen Gott, womit auf das im Eröffnungsteil genannte Hybrismotiv zurückgegriffen wird. Der Schlussteil (V. 30[31]32–35) beschreibt den nicht zu vermeidenden Untergang des Frevlers und kehrt begrifflich und motivisch zur Eröffnung der Rede zurück. War in den Summarien der bisherigen Reden Bildads und Zophars das 15,20–24 Schicksal der r ešāʿîm schon angeklungen, so entfaltet es Eliphas nun breit: Während seines gesamten ihm von Gott bestimmten Lebens sei der rāšāʿ in Angst. Lebensangst erscheint als Folge seiner Gottlosigkeit. Auch wenn die Formulierung des als Überschrift der Lehrrede über den 15,20 rāšāʿ fungierenden V. 20 allgemein gehalten ist, so steht sie durch ihre Wortwahl in so enger Beziehung zu einzelnen Klagen Hiobs, dass sie indirekt als eine Zusammenfassung der von Leid geprägten Tage Hiobs erscheint.71 Sekundär wird der rāšāʿ mit einem ʿārîṣ, einem Gewalttäter oder Unterdrücker gleichgesetzt (vgl. 27,13; Ps 37,35; Jes 13,11). Dieser Begriff dient zumeist zur Kennzeichnung von Feinden des Frommen (vgl. Ps 86,14; Jer 15,21), von Bedrückern 68 Hier in der ausführlichen Form š emaʿ-lî („höre auf mich“, vgl. Hi 32,10; 33,31.33), sowie in der Kurzform š emaʿ in Spr 1,8 (vgl. Spr 4,10; 22,17; 23,19, auch Dtn 4,1; 5,1; 6,4; 9,1; 27,9). 69 Vgl. 8,8; Ps 78,3–4; Dtn 32,7; Sir 8,9; 25,4–6 (G). 70 Kaiser, 84. 71 Vgl. Hi 7,1.6.16; 9,25; 14,5–6.14; 16,22.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
der Armen (vgl. Jes 11,4; 25,4–5) oder auch von Mächtigen, die ihre Macht missbrauchen und die letztlich alle dem Gericht Jhwhs unterliegen (Jes 29,5). Als „Gottlose“ (vgl. Ps 54,5) erscheinen sie dann auch in den Qumranschriften als Gegner der Qumrangemeinschaft.72 15,21 In lautlicher Assonanz zur Eröffnung von V. 20 (kål) wird die Heimsuchung des Frevlers durch Stimmen (qôl) des Schreckens geschildert.73 Erneut klingt die Klage Hiobs an, der unter „Schrecken“ leidet (vgl. 3,25). Dabei ist es der von Gott ausgehende Schrecken, der hier den Frevler überfällt,74 so dass dieser das gemäß der Fluch- und Segensworte in Dtn 28 dem von der Torah abfallenden Israel angekündigte Schicksal erfährt (Dtn 28,66). Gott selbst kommt, in Anspielung auf die Gottesbezeichnung šaddaj (vgl. Jes 13,6; Jo 1,15), in Gestalt des šôded („Verderbers“) mitten im Frieden über den Frevler (vgl. Jes 16,4). Damit ist die (literargeschichtlich jüngere) Sentenz in Hi 12,6, dass die Gegner Gottes in Frieden leben, bestritten. 15,22 Auch die sich gängiger Licht-Finsternis-Motivik bedienende Ankündigung,75 dass der Frevler der Finsternis nicht entkommen werde, ist einerseits generell auf den rāšāʿ bezogen, andererseits indirekt auf die Situation Hiobs, insofern dieser sich auf dem Weg in die ewige Finsternis sieht (10,21–22; 17,13). Wie schon in 3,4–5.9 wird der Begriff ḥošæk („Finsternis“) als Terminus einer radikalen Negation verwendet, hier nun aber nicht in Bestreitung der Schöpfermacht Gottes, sondern zur Betonung seines Richtens. Dementsprechend kündigt auch das zweite Kolon den Untergang durch das Schwert an (vgl. 27,14; Ps 63,11), das hier als Symbol für das göttliche Gericht steht (vgl. 19,29), für das der Frevler bestimmt ist. 15,23–24 Das den Frevler treffende Unheil konkretisiert sich weitergehend in einem Umherirren, einem rastlosen Auf-der-Flucht-Sein (nādad)76. Er erlebt gleichsam das Schicksal Kains, „flüchtig und unstet“ (nāʿ wānād) zu sein, und ist wie der Prototyp des Brudermörders in lebensfeindlicher Umgebung unterwegs.77 Hier wird er eine leichte Beute für den Geier (ʾajjāh). Die genaue Bestimmung des Wortes ʾajjāh ist allerdings nicht ganz sicher, da es auch einen schwarzen Milan, einen Falken, einen Bussard oder einen Habicht bezeichnen kann. Das Verständnis als Geier folgt den Übersetzungen der LXX und Vg.78 Bleibt man beim MT und liest ʾajjeh („wo“), ist die Anspielung auf die Kain-und-AbelErzählung noch deutlicher (vgl. Gen 4,9 und die Auslegung von Hi 14,10). 72 Vgl. 1QHa X,21(23); 4Q171 (4QpPs 37) frgm. 1–2 II,14(13).19; frgm. 1+3 III,12; frgm. 3–10 IV,1.10; 4Q434 frgm. 1 I,5. 73 Vgl. Hi 33,16–17; SapSal 18,19; Josephus, bell. Iud. 1, 84 (3,6); 2, 116 (7,4). 74 Vgl. Hi 13,11; 25,2; 31,23; Jes 2,21; Jer 49,5; 2Chr 14,13; 17,10; 19,7. 75 Vgl. Hi 5,14; 12,25; 18,6.18; 20,26; Ps 112,4. 76 Vgl. Hi 18,18; 20,8. Zum ziellosen Umherlaufen als Zeichen einer Depression vgl. HiLXX 2,9d; Hi 30,28; Ps 35,14; 38,7; Gilgm. VIII,ii, 19–20; IX,i,1–5 (TUAT III, 713; 715) und dazu M. Barré, ‚Wanderung about‘ as Topos of Depression in Ancient Near Eastern Literature and in the Bible, JNES 60 (2001) 177–187. 77 Vgl. Gen 4,12.14; Spr 27,8; Jes 16,2. 78 Siehe die Anm. zur Übersetzung und zum Motiv Hi 39,30; 1Kön 14,11.
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Dabei ragt das Unheil, das den Frevler künftig treffen wird, in sein gegenwärtigs Leben, insofern er bereits eine Ahnung von seinem bevorstehenden Fall (pîd, conj.)79 hat. Dieser wird in Gestalt des „Tages der Finsternis“ plötzlich kommen (vgl. 18,11; Spr 24,22). Nach der masoret. Fassung von V. 23b ist die Vorstellung vertieft, dass das Unheil „durch seine Hand“ (b ejādô) – die Hand Gottes oder des Frevlers? – verursacht ist (vgl. 8,4). Nach beiden Lesarten, der rekonstruierten (pîdô) und der des MT (b ejādô), ist diese Ankündigung jedoch unmittelbar transparent auf die Situation Hiobs, der sich selbst plötzlich von Gott überfallen (bāʿat) und überwältigt (tāqap) sieht.80 Das hier nur in wenigen Versen skizzierte Szenario, dessen Motivik weit in altorientalische Fluchtraditionen zurückreicht,81 wird in SapSal 17,1–21 im Rahmen der Beschreibung der Strafen, die Ägypten treffen, weil es Israel den Auszug verweigern wollte (vgl. Ex 12; Ps 105,28), ausgemalt. Vor diesem Hintergrund ist nicht ausgeschlossen, dass in den V. 21–24, trotz aller Topik, auch auf die Exodustradition angespielt wird. Der von Eliphas geschilderte Untergang des Frevlers jedenfalls kommt scheinbar zwangsläufig. Aber auch ohne dass hier ursprünglich ausdrücklich von Gott gesprochen wird, ist doch klar, dass dieser selbst hinter dem Gericht steht. Das zeigt nicht zuletzt die Beschreibung des Tages Jhwhs in Zeph 1,14–15 als „Tag des Zorns, der Angst und der Bedrängnis (ṣārāh ûmeṣûqāh, vgl. Hi 15,24a), des Ruins und der Zerstörung, der Finsternis und des Dunkels“. Was in Zeph 1,15 als universaler Gerichtstag Gottes angekündigt wird, gilt hier dem einzelnen Frevler und indirekt Hiob, der damit als Stellvertreter dieses universalen Gerichts erscheint. Wenn sich in der masoret. Fassung von Hi 15,23b das Suffix in bejādô nicht auf den Frevler selbst beziehen sollte (s.o.), sondern auf Gott (vgl. Ex 9,30; Jes 19,6; Rut 1,13), so wäre die Vorstellung des von Gott herkommenden Gerichts vereindeutigt. Der Vergleich der über den Frevler hereinbrechenden Unglücksfälle mit einem kriegerisch angreifenden König (V. 24bβ) scheint eine ursprünglich zu V. 25 gehörende Glosse zu sein, unterstreicht im MT aber die Unmittelbarkeit und Bedrohlichkeit der den Frevler überwältigenden Not (vgl. Spr 6,11; 24,34). Die zweite Strophe der Lehrrede liefert die Begründung für das schlimme 15,25–29 Schicksal des Frevlers: Er ist wie ein Krieger gegen Gott angerannt. Die gegen Gott erhobene Hand steht ebenso wie das Sich-gegen-Gott-als- 15,25–27 Held-Gebärden (gābar Hitp.) und das Anstürmen mit gestrecktem Hals82 und mit gepanzertem Rundschild für einen Ausdruck der Hybris. Die drohend ausgestreckte Hand demonstriert gleichermaßen Kampfbereitschaft und Stärke (vgl. Jes 5,25; Ez 6,14). Mehrdeutig ist das Bild des mit Fett bedeckten Gesichtes und Leibes (wörtlich: Lenden) des Frevlers (V. 27). Es könnte sich sowohl auf
Vgl. die Anm. zur Übersetzung und Hi 12,5; 30,24; 31,29. Vgl. Hi 7,14; 9,34; 13,21 bzw. 14,20. VTE § 59 (TUAT I, 172); Dtn 28,26. 82 Der Hals gilt nach altorientalischer Anthropologie als Sitz der Kraft und des Stolzes (vgl. Hi 39,19; 41,14; Ps 75,6; Hhld 4,4; 7,5; Hos 10,11; Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 76). 79 80 81
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die besondere Kraft des Frevlers beziehen (vgl. Ri 3,22)83 als auch Zeichen seines unrechtmäßig erworbenen Reichtums und Luxus (vgl. Ps 73,4.7) 84 oder seines verfetteten, d.h. verstockten, ethisch und religiös gefühllosen Herzens sein (vgl. Jes 6,10; Ps 17,10; 119,70)85. 15,28–29 Dass der Frevler verborgene Städte und unbewohnte Häuser bewohnte, kennzeichnet seine Nähe zu Räumen, in denen Dämonen hausen, und verortet ihn in einem lebensfeindlichen Bereich. Die Glosse, dass diese Städte zu Trümmerhügeln werden, unterstreicht die Vorstellung, dass sich der Frevler im Umfeld des Todes und damit in unmittelbarer Umgebung des Chaos aufhält.86 Dabei spiegelt sein gegenwärtiger Aufenthaltsort sein künftiges Ergehen wider: die Trümmerstätte ist das Abbild der Nekropole (vgl. Hi 3,14; Ps 49,12); der, der sich im Umkreis des Todes aufhält, wird diesem trotz seiner Stärke und seines Reichtums nicht entkommen (vgl. Jes 14,5–23). Denn auch Reichtum hat weder Bestand noch bietet er eine Möglichkeit, sich vom Tode loszukaufen (vgl. Ps 49,7–8). Ebenso wie sein Vermögen (ḥajil) wird sein Schatten bzw. seine Gestalt (ṣælæm)87 keinen Bestand mehr auf der Erde haben (vgl. Ps 49,15). So kehrt das Schlusskolon der Strophe in V. 29b begrifflich (nāṭah) und motivisch (jād // ṣælæm [conj.]) zum Eingangskolon in V. 25a zurück und nennt gleichsam als Konsequenz der Hybris den Verlust des Ansehens bzw. der Existenz (vgl. Ps 73,20). Es ist nicht ausgeschlossen, dass hinter der Beschreibung des Frevlers in V. 25–29 nicht nur eine allgemeine Typik steht, sondern ein konkretes Bild eines altorientalischen oder hellenistischen Herrschers, das hier poetisch verdichtet ist.88 So wird in Sir 48,18, in Aufnahme von 2Kön 18–19* notiert, dass der neuassyrische König Sanherib 701 v.Chr. „seine Hand gegen den Zion ausgestreckt und Gott in seinem Hochmut gelästert hat“. Das Bild vom Menschen als Feind Gottes (Hi 15,25–26) pervertiert jedenfalls das alte mythische Motiv vom göttlichen Krieger (vgl. Ex 15,12). In dieser Hinsicht trifft die traditionsgeschichtliche Rückführung der Verse auf den Chaoskampfmythos teilweise zu.89 Auf der Ebene des Streitgesprächs zwischen Hiob und seinen Freunden deutet die Passage einerseits die Erfahrung des „Mannes“ (gæbær) Hiob (vgl. 3,23; 38,3; 40,7), Gott habe ihn zu seinem Feind erklärt (vgl. 13,24 gegenüber 15,25–26), um. Andererseits reduziert sie die Klage Hiobs über die allgemeine Vergänglichkeit des Menschen auf den unwiderruflichen Untergang des Frevlers (vgl. 14,2.10–14 gegenüber 15,29). Die Applikation auf Hiob wird in der ‚Endgestalt‘ der Rede noch deutlicher, insofern das sekundär eingefügte Motiv Vgl. Fohrer; Clines. Vgl. Weiser; Hölscher; de Wilde. 85 Vgl. Horst; J. Gray. 86 Vgl. Jes 13,20–22; 25,2; Jer 9,10; 51,37. 87 Siehe die Anm. zur Übersetzung von V. 29. 88 So Horst, 232f, und Kaiser, 84, die an den bab. König Nabonid (ca. 609–539 v.Chr.) denken (vgl. das Strophengedicht Nabonids II [ANET, 312–315; Schaudig, Inschriften, 563–578). 89 Vgl. Fuchs, Mythos, 104–106. In diesem Fall läge eine parallele Argumentationsfigur zu Hi 15,7–8 vor. 83 84
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des gegen Gott gerichteten Zornes Hiobs (V. 13) nun als Vorwegnahme von V. 25 erscheint. Die enge Beziehung, welche die Lehrrede des Eliphas trotz ihrer Stereotype zur vorangehenden Hiobrede hat, zeigt sich schließlich auch in den Bildern der Abschlussstrophe (V. 30–35). Ein deutliches Kennzeichen für Gottes Gericht am Gottlosen ist – gemäß 15,30–35 der von Eliphas vertretenen klassischen Position der Weisheit – dessen Tod zur Unzeit (vgl. 8,11–19; 22,16).90 Dies wird wieder, wie schon in der ersten Bildadrede, in drei Pflanzenbildern ausgedrückt (8,16–19, vgl. 18,16; Jes 18,5). Damit werden zugleich Hiobs Vergleiche des allgemeinen menschlichen Todesgeschicks mit einer vergehenden Blume (14,2) und einem neu aufsprossenden Baum (14,7–8) modifiziert. Den Mittelpunkt der Strophe bildet eine Sequenz von drei bzw. sechs Pflanzen- 15,30–33 bildern, die eng aufeinander bezogen sind: 1) die Vernichtung der Schösslinge durch Feuer sowie der Blüte91 durch Sturm (V. 30aβ.b), 2), die unzeitige Fülle der Ranke92 und das Verdorren der Zweige (V. 32) sowie 3) das vorzeitige Abwerfen der Beeren des Weinstocks und der Blüten des Ölbaums (V. 33). Wie schon in der ersten Strophe erscheint der Untergang des Frevlers fast als eine natürliche Folge seines Verhaltens und Handelns: seine Blüte ist nur vorübergehend (vgl. Ps 92,8). Dabei beziehen die Bilder der Ranke und des Weinstocks, die zur falschen Zeit reifen, gemäß der altorientalischen und antiken Vorstellung, dass die Tat eines Einzelnen immer eine überindividuelle Auswirkung hat und sich auf sein direktes Umfeld auswirkt, die Nachkommenschaft des Frevlers mit in seinen Untergang ein. Was dem Frevler nach diesen Bildern blüht, ist das genaue Gegenteil von dem, was sonst im Alten Orient und im AT als Zeichen des Segens und Gabe an den Frommen gilt.93 Die Glossen in V. 30aα und V. 31 haben sich nicht nur auf die ursprüngliche Struktur der Strophe ausgewirkt, sondern auch auf die Textüberlieferung und auf das theologische Profil. V. 30aα, der ein bereits in V. 22–23 ausgeführtes Motiv wiederholt, erläutert offenbar V. 29b in dem Sinn, dass sich das Bild (oder der Schatten) des Frevlers nicht mehr aus der Finsternis der Scheol zur Erde hin streckt, d.h. dass der Frevler nicht mehr leben wird (vgl. 10,21–22). Möglicherweise steht diese Glosse im Kontext der eschatologischen Vorstellung, dass es zwar nicht für den Frevler, wohl aber für die Gerechten einen Weg aus der Unterwelt geben könnte (vgl. Jes 26,19; Ps 49,16). Die Änderung der ursprünglichen Lesart von pirḥô („seine Blüte“) in pîw („sein Mund“) (V. 30bβ) rekurriert auf die Motivik der ersten Strophe, der zufolge Hiobs Reden nur Wind darstellen (V. 2) und Hiob von seinem Mund 90 Ähnlich konstatiert der große Šamaš-Hymnus 114–115, dass einen Betrüger der Fluch der Menschen „zur Unzeit“ trifft (TUAT.NF VII, 70). 91 Siehe die Anm. zur Übersetzung von V. 30; zu pæraḥ vgl. Gen 40,10; Jes 18,5; Sir 14,18 (HA). Der MT (b erû aḥ pîw „durch den Hauch seines [d.h. Gottes] Mundes“) bietet das Bild der Vernichtung durch Gott (vgl. Hi 4,9; zum Ausdruck b erû aḥ pîw siehe auch Ps 33,6; 4Q381 frgm. 48,3; 2Thess 2,8). 92 Siehe die Anm. zur Übersetzung von V. 32; zu zemôrāh vgl. Num 13,23; Jes 17,10; Nah 2,3. 93 Vgl. Dtn 28,11–12; Ps 1,3; 92,8; Spr 11,28; Jes 27,6; Hos 14,8.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
selbst schuldig gesprochen werde (V. 5–6). Wie im Eingangsteil steht der „Mund“ letztlich für die gesamte sich artikulierende Person – sei es in direkter Anrede Hiobs, sei es in indirekter Gleichsetzung Hiobs mit einem rāšāʿ. Wie in V. 23b ist aber auch hier zu überlegen, ob sich das Suffix in pîw nicht auf Gott bezieht, so dass der Untergang des Frevlers dann ausdrücklich auf das Handeln Gottes zurückgeführt wird (vgl. 4,9; Jes 40,7; Hos 13,15). Die Glosse in V. 31, die sich zwischen die drei Pflanzenbilder in V. 30–33 schiebt, liest sich wie ein versprengter Randkommentar zum Gesamtkomplex der Lehrrede über das Schicksal des Frevlers. Durchaus im Duktus der ursprünglichen Rede gehalten kennzeichnet sie im Stil der Warnung die vorübergehende Blüte des Frevlers wie auch dessen Reichtum (V. 29) nicht als tragfähige Lebensgrundlage und stellt diese unter das Verdikt der Nichtigkeit (šāwʾ), aus der selbst nur Nichtigkeit als Lohn (temûrāh)94 erwächst. Dabei schwingt in dem Begriff šāwʾ, wie schon in 11,11, sowohl der Aspekt des Sinnlosen und Vergeblichen (vgl. 7,3; Ps 89,48) als auch des Unheils, des Lügnerischen und Frevelhaften (vgl. 31,5; Ps 24,4; Jes 59,4) mit. 15,34–35 Den Abschluss der fünften Strophe und damit der gesamten Rede bildet ein mit der Überschrift in V. 20 korrespondierendes Summarium über das Ende der Rotte (ʿedāh) des Gottlosen (vgl. Ps 22,17; 86,14), der hier wie in Hiobs Unschuldsbekenntnis in 13,16 als ḥānep bezeichnet wird.95 15,34 Die Untergangserwartung ist typisch formuliert (20,26)96 und hat ihr Vorbild in den göttlichen Strafen, die nach der Pentateuchüberlieferung in der Wüste über Israel, insbesondere über die „Rotte Korach“ hereinbrechen.97 Dabei steht die Bestechung exemplarisch für ein Handeln, das den an Gerechtigkeit und Solidarität orientierten Geboten der Torah98 widerspricht und letztlich auch die Gottesbeziehung tangiert und daher von der Gemeinschaft mit Gott ausschließt (vgl. Ps 15; 26). 15,35 Über einzelne Leitwörter ist der letzte Vers der Rede zum einen mit der direkten Anrede Hiobs in V. 2 (bæṭæn, „Inneres“) und in V. 6 (jālad) verbunden (vgl. Ps 7,15; Jes 59,4), zum anderen über den Begriff ʿāmāl mit der Eingangsklage Hiobs (3,10.20, vgl. auch 7,3) und der darauf reagierenden Antwort Eliphas’ (vgl. 4,8; 5,6). So wird Hiob implizit nochmals am Ende der Rede mit einem Gottlosen identifiziert: Hiobs Verwünschung seiner Geburt (3,3.7) muss in diesem Licht wie ein zutreffendes Selbstgericht wirken (vgl. 15,6). Hiobs Weisheit, so der Gipfel dieser Rede des Eliphas, sei nicht nur leeres Gerede (V. 2), sondern Ausdruck seines aus dem tiefsten Innern kommenden Lugs und Trugs (mirmāh)99. Wie die vorangehenden Freundesreden in 8,22 und 11,20 endet diese mit einem negativen Begriff. So nach der sekundär aus z emoratô erwachsenen Lesart (siehe die Anm. zur Übersetzung). Vgl. Hi 8,13; 20,5; 27,8; 34,30; 36,13. 96 Vgl. Jes 33,11; Ez 15,7; Sach 9,4. 97 Vgl. Num 11,1; 16,31; 26,9–10; 27,3–4; Ps 78,21; Sir 16,6; 45,18; siehe dazu auch TgHi, das zu V. 29 explizit Korach einspielt. 98 Vgl. Ex 23,8; Dtn 16,19; 27,25; siehe zudem Jes 5,23; Mi 3,11. 99 Vgl. Hi 31,5; Spr 12,20; Ps 10,7; 17,1; 34,14; 36,4; Jes 53,9. 94 95
Hi 16–17 Die vierte Rede Hiobs
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Hi 16–17 Die vierte Rede Hiobs 16,1 Und Hiob hob an und sagte: 2 3 4 5 6
Gehört habe ich vielfach solches schon, Tröster von Mühsal seid ihr allesamt! „Gibt es kein Ende der Windworte, oder was kränkt dich, dass du so antwortest?“ Auch ich könnte reden so wie ihr, wenn ihr an meiner Stelle wäret.1 Ich künstelte2 mit Worten über euch und schüttelte über euch mein Haupt. Ich stärkte euch mit meinem Mund, und der Trost meiner Lippen bliebe nicht aus3. Wenn ich redete,4 ließe mein Mitleid5 nicht nach, und ließe ich ruhen, was ginge dann von mir aus?
7 Doch jetzt hat er6 mich müde gemacht (und) verstört7, seine8 ganze Schar hat mich nun ganz fest gepackt.9 8 Er wurde zum Zeugen und erhob sich gegen mich10, mein Siechtum antwortet mir ins Angesicht. 9 Sein Zorn hat geraubt und mich angefeindet, er knirschte gegen mich mit seinen Zähnen.
Wörtl.: „wenn euer Leben (næpæš) an der Stelle meines Lebens wäre“. So nach ḥbr I (KAHAL) / III (DCH), andere (Gordis; Hartley; Seow) nach ḥbr II (KAHAL)/ I (DCH) „verbinden“; Ges18 nimmt nur eine Wurzel ḥbr an und erwägt die Bedeutung „drechseln“. Weitere Vorschläge verzeichnet Clines, der selbst mit einem Lexem ḥbr „reden/predigen“ (vgl. DCH ḥbr II) rechnet. 3 Wird ḥśk hier intransitiv verstanden (vgl. KAHAL), ist weder der MT zu ändern (so Weiser: loʾ ʾæḥśok „ich sparte nicht“, vgl. LXX; Syr) noch eine Wurzel ḥśk (II) „andauern“ (so Hartley) anzunehmen noch als implizites Objekt aus V. 6 k eʾeb „Schmerz“ zu substituieren (so Clines). 4 Zur Konstruktion des MT als realer Bedingung vgl. Brockelmann, Syntax § 164bγ; J/M § 171e; Waltke/O’Connor § 34.5.2b; zum Gebrauch des Kohortativs nach ʾim siehe G/K § 108e; Bobzin, Tempora, 234f. 5 Oder: „Schmerz“ (vgl. die Auslegung). 6 D.h.: Gott, nicht das Mitleid (oder der Schmerz, vgl. die vorhergehende Anm.). 7 Anstelle von hašimmôtā „du hast verstört“ (so Weiser) lies h ašimmanî und ziehe dieses Wort aus kolometrischen Gründen noch zu V. 7a. 8 Anstelle von ʿ adātî „meine Schar“ (vgl. Weiser; Seow) lies ʿ adātô. 9 Anstelle von wattiqmeṭenî „und du hast mich gepackt“ (so Weiser; Seow) lies tiqmeṭenî „sie hat mich gepackt“ als Teil von V. 7b (ähnlich Horst: biʿûtâw qimmeṭunî „seine Schrecken haben mich gepackt“). 10 Nach der Korrektur des Übergangs von V. 7 zu V. 8 ist wajjāqåm bî aus poetologischen Gründen noch zu V. 8a zu ziehen und kaḥ ašî als Subjekt von V. 8b zu betrachten. 1 2
HD
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
10 11
Meine Feinde11 wetzten12 ihre Augen gegen mich, sie rissen ihr Maul gegen mich auf. Mit Spott schlugen sie meine Wangen, versammelten sich allesamt um mich. El liefert mich dem Bösen13 aus, und in die Hände der Frevler stößt er mich.14
12 13 14 15 16
Ohne Sorge war mein Leben, da zerrte er15 mich hin und her und packte mich am Genick, mich zu zerschmettern. Und zur Zielscheibe machte er mich für sich, so dass seine Geschosse mich nun umkreisen16, er meine Nieren zerschneidet und kein Mitleid hat, er zur Erde hin meine Galle ausgießt, er Bresche auf Bresche in mich bricht, er gegen mich anstürmt wie ein Held. Einen Sack habe ich um meine Haut gelegt und in den Staub mein Horn gebohrt. Mein Angesicht ist ganz rot von Tränen, und dunkler Schatten liegt auf meinen Wimpern.
17 18 19
Weil17 kein Unrecht in meinen Händen und mein Gebet rein ist,18 sollst du, Erde, mein Blut nicht bedecken, und soll es keinen Ort geben für meinen Ruf. Auch jetzt, siehe da: Im Himmel ist mein Zeuge, mein Anwalt in den himmlischen Höhen.
11 Will man ṣārî nicht als Kollektivum verstehen, ist eine Änderung der Punktation in ṣāraj nötig, was dann auch die Annahme eines pl. Prädikats (jilṭ ešû/lāṭ ešû) und Objekts (ʿênêhæm) nach sich zieht (vgl. Syr; Sym). Jedenfalls spricht die Fortsetzung in V. 10–11 für die Annahme, dass in V. 9b nicht von Gott als Feind die Rede ist; zu den hiermit verbundenen literarkritischen Fragen siehe die Auslegung. 12 Die PK (jilṭôš) steht hier entweder noch unter dem Einfluss der AK (vgl. Hi 4,14–15 und dazu J/M § 113o; Bobzin, Tempora, 237, der allerding in die AK ändert) oder zeigt wie in V. 11 die Fortwirkung der Erfahrung in die Gegenwart an. 13 Anstelle von ʿ awîl „Knabe“ (vgl. Hi 19,18; 21,11) lies mit HsK196 ʿawwāl (vgl. LXX; Vg; [Syr: „einem bösen Engel“]; Tg [„dem Herrn der Bosheit“]; Hi 18,21; 27,7; 29,17; 31,3; Zeph 3,5). 14 Die PK dient dem Ausdruck der in die Gegenwart fortwirkenden Erfahrung des Ausgeliefertseins (vgl. G/K § 107f); anders Bobzin, Tempora, 237, der narratives Ḥameṭ annimmt und mit Vergangenheit übersetzt. 15 D.h.: Gott. 16 Die PK-Formen in V. 13–14 stehen hier zum Ausdruck der sich aus V. 12b ergebenden Folge (Michel, Tempora, 128–132; vgl. auch Waltke/O’Connor, 504f: progressive PK mit präsentischer Bedeutung); anders Bobzin, Tempora, 239, der wie in V. 11 narratives Ḥameṭ vermutet. 17 Zur kausalen Wiedergabe von ʿal, das hier zumeist wie in Hi 10,7 mit „obwohl“ übersetzt und inhaltlich noch zu V. 16 gezogen wird (vgl. Brockelmann, Syntax § 145a; Waltke/O’Connor § 38.8.c), siehe Hi 42,6; Jes 53,9 (vgl. LXX; Vg). 18 Dieses Kolon ist auffallend kurz; möglicherweise ist t epillat ś epātaj „das Gebet meiner Lippen“ zu lesen; doch könnte die Kürze ein bewusstes Aufmerksamkeitssignal für den Hörer oder Leser sein (vgl. V. 20a).
Hi 16–17 Die vierte Rede Hiobs
20 21 22
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Mein Fürsprecher ist mein Freund,19 zu Eloah tränt mein Auge, dass er Recht verschaffe dem Mann bei Eloah und dem Menschenkind20 im Blick auf seinen Freund. Denn nur noch wenige Jahre werden kommen, dann gehe ich den Weg ohne Wiederkehr.
17,1 Mein Geist ist ganz verstört – meine Tage –, überlassen21 ist mir nun das Grab22. 2 Gewiss23, Spötter24 sind bei mir, und bei ihrer Widerspenstigkeit weilt25 mein Auge. 3 Hinterlege doch ein Pfand für mich26 bei dir, denn wer würde sonst in meine Hand einschlagen? 4 Denn ihr Herz hast du vor Verständnis verschlossen, Deshalb wirst du sie27 auch nicht erhöhen. 5 Als Teil(haber) erklärt einer die Freunde, während die Augen seiner Söhne verschmachten. 6 Aber du machtest28 mich zum Sprichwort29 bei den Leuten, 19 Anstelle von melîṣaj reʿ āj „Meine Spötter/Sprecher sind meine Freunde“ (vgl. Weiser) lies den Sg. melîṣî reʿî (nach re aʿ II, siehe dazu die Auslegung). Da V. 20a kolometrisch zu kurz und V. 19a kolometrisch zu lang ist, ist zu erwägen, hinneh aus V. 19a nach V. 20a zu verlegen (vgl. Hartley). Zu weiteren Interpretationen von re aʿ I „Schrei“ (vgl. Clines; Seow) siehe die Auslegung. 20 Dieser Ausdruck wird häufig mit einigen Hss in bên ʾādām („zwischen den Menschen“) geändert (vgl. Weiser; Fohrer; Hartley; Seow u.v.a.), während andere mit Tg und Vg die Kopula vor bæn komparativisch verstehen, so dass V. 21b keine zweite Ebene des Rechtswunsches Hiobs darstellt, sondern einen Vergleich des erbetenen Rechtshandelns Gottes (vgl. Clines; Greenberg). Eine kombinierte Lösung bietet Bobzin, Tempora, 242 („wie zwischen Menschen“). Doch siehe die Auslegung, 21 In der masoret. Gestalt bildet 17,1 ein Trikolon aus drei sehr kurzen Kola, das stilistisch wie der ähnlich gebaute V. 11 aus der gesamten Rede herausfällt. Setzt man nach jāmaj eine Zäsur und liest anstelle von nizʿākû „ausgelöscht sind“ (vgl. dʿk in Hi 18,5–6; 21,17) næʿæz ebû, lässt sich ein der Poetik und Motivik der Rede entsprechendes Bikolon herstellen. Zur Annahme, hier läge ein ursprüngliches Stakkato-Trikolon vor, siehe Watson, Poetry, 178. 22 Wörtl.: „Gräber“ (vgl. Hi 21,30; 2Kön 22,20; 1Chr 16,14), der Pl. steht hier für die Grabkammern (vgl. Brockelmann, Syntax § 19d*). 23 Zu ʾîm-loʾ als Beteuerungspartikel vgl. Hi 22,20; 31,36. 24 Anstelle des hap. leg. h aṭulîm „Spott“ ist entweder hot elîm zu lesen (vgl. Tg; 1Kön 18,27; Sir 11,4 [HA]; 13,7 [HA/B]) oder das Abstractum als Concretum zu verstehen (Seow). 25 Ob der MT hier den ursprünglichen Text bewahrt hat, ist fraglich. Möglicherweise ist anstelle von tālan tilʾæh/tilʾænnāh „wird schwach“ zu lesen (vgl. Hi 4,2.5; 16,7; J. Gray; Seow). BHK erwägt, mit zusätzlicher Änderung von ʿênî in ʿênāj „meine Augen“, tiklænāh „schwinden“ (vgl. Hi 17,5; 11,20). 26 Aufgrund der Einleitung des Verses mit śîmāh-nāh ist ʿrbnj besser als Substantiv zu punktieren (ʿerbonî vgl. Syr, Gen 38,17–18.20) denn als Imperativ (MT: „bürge für mich “). 27 e t romem könnte eine kontrahierte Form von t eromemem sein (vgl. G/K § 72cc); zur Diskussion siehe auch CTAT 50/5, 122f und Seow (t erîmem: „let them be exalted / let them triumph“). 28 Anstelle der 3. P. Sg. ist entsprechend V. 3–4 mit LXX die 2. P. Sg. Impf. consec. zu lesen (wattaṣṣîgenî); bleibt man beim MT, ist dieser unpersönlich bzw. passivisch zu verstehen (vgl. Seow). 29 Nach dem MT entweder Inf. cstr. von mšl I (inhaltlich kaum passend von mšl II „herrschen“) oder st. cstr. von mošæl „Gleiches“ (vgl. Hi 41,25; Sir 50,27 [HB: „Spruchdichtung“]; DCH). Möglicherweise ist einfach limšal zu punktieren (vgl. Dtn 28,37; Jer 24,9; Ps 69,12).
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
und ein Gespei vor ihrem30 Angesicht wurde ich. Und vor Gram ist mein Auge schwach geworden, und meine Glieder sind wie ein Schatten allesamt.
7
8 9 10
Die Aufrechten werden sich über dieses entsetzen, und der Unschuldige wird sich über den Gottlosen erregen. Aber der Gerechte wird an seinem Weg festhalten, und der an Händen Reine wird an Stärke wachsen. Aber ihr alle31, kommt doch nochmals heran, ich werde unter euch keinen Weisen finden.
11 Meine Tage sind vergangen – meine Pläne –,32 ausgerissen die Wünsche meines Herzens. 12 Die Nacht erklärten33 sie (mir) zum Tag, Licht (sei) näher als die Finsternis34. 13 Wenn35 ich hoffte, die Scheol sei mein Haus, in der Finsternis mein Lager aufzuschlagen, 14 zur Grube zu sprechen „Mein Vater36“, „Meine Mutter und Schwester“ zu den Maden, 15 wo wäre dann meine Hoffnung, und meine Hoffnung37, wer erblickte sie? 16 Stiege sie mit mir38 zur Scheol hinab, oder zögen39 wir gemeinsam in den Staub? Anstelle von lepānîm lies lipnêhæm (vgl. LXX; Syr; Vg). Zu kullām (wenige Hss kullekæm) in Verbindung mit der 2. P. Pl. siehe Brockelmann, Syntax § 153c; für die Beibehaltung von kullām könnte auch der Endreim w eʾûlām kullām sprechen (vgl. Weiser). 32 Dieser Vers entspricht in seiner poetischen Struktur Hi 17,1; wie dort ist gegen die masoret. Versgliederung neu zu segmentieren und dementsprechend nitteqû zu V. 10b zu ziehen. Eine Änderung von zimmotaj, wie häufig vorgeschlagen (vgl. mit unterschiedlichen Konjekturen Horst; Fohrer; J. Gray), da zimmāh in der hebr. Bibel zumeist negativ konnotiert ist, ist nicht nötig (vgl. Clines). 33 Wörtl.: „setzten sie“. Subjekt sind die vermeintlichen Tröster Hiobs, nicht die Wünsche (so aber Fohrer; Clines) oder die Nacht (so Seow unter der Voraussetzung, dass jāśîm zu lesen und dies passivisch zu verstehen sei). 34 Wörtl.: „das Antlitz der Finsternis“. 35 Zum Verständnis von V. 13–14 als sich über zwei Verse erstreckenden Konditionalsatz, dem in V. 15 der Nachsatz folgt, siehe Bobzin, Tempora, 249f; Watson, Poetry, 267; Fokkelman, 95. 36 Aus kolometrischen Gründen ist ʾāttāh „du“ zu streichen. 37 Angesichts des gelegentlich in der Hiobdichtung auftauchenden Phänomens der Verwendung desselben Wortes innerhalb eines Bikolons (vgl. Hi 7,8; 8,3; 10,5; 11,7) ist die Ursprünglichkeit von tiqwātî V. 15a und V. 15b nicht ausgeschlossen. Eine Änderung auf der Basis von LXX in ṭôbātî „mein Glück“ ist denkbar, aber nicht nötig und auch nicht durch die Form teradnāh gefordert (gegen Fohrer; siehe die nächste Anm.). 38 Mit 11QTgHi und LXX ist der Vers als Doppelfrage zu verstehen, wobei das einleitende h wohl durch Haplographie des Schluss-h von jšwrnh (V. 15) ausgefallen ist. baddê „Schranken/Riegel“ (vgl. DCH s.v. bad II) ist wohl mit 11QTgHi (und LXX) in ʿimmî oder ʿimmādî zu korrigieren. Demgegenüber zieht BHS eine Korrektur in bîdê „in die Hände (der Scheol)“ in Erwägung (vgl. Hos 13,14; Ps 49,16; 89,49). Hartley übersetzt nach der Grundbedeutung von bad I/II „Teil“ mit „Kammern“ (vgl. Gordis). teradnāh ist 3. P. Sg. (!) fem. mit der seltenen Endung nāh (zur Diskussion siehe König, LG I, § 36/1, 402; G/K § 47 k; Waltke/O’Connor § 31.7.2 Anm. 63; CTAT 50/5, 129f; Seow [teredannāh]). 39 Anstelle von nāḥat „Ruhe“ lies neḥāt (von nḥt Qal, vgl. Th; CTAT 50/5, 132 und zur Konstruktion mit ʿal im Sinn von „hinab“ Jer 21,13), was wohl auch für 11QTgHi anzunehmen ist ([n] škb, vgl. Hi 20,11; 21,26). 30 31
Hi 16–17 Die vierte Rede Hiobs
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Bastiaens, J.C.: The Language of Suffering in Job 16–19 and in the Suffering Servant Passages of Literatur Deutero-Isaiah, in: J. van Ruiten/M. Vervenne (Hg.), Studies in the Book of Isaiah (FS W.A.M. Beuken), BEThL 132, Leuven 1997, 421–432. – Irsigler, H.: Ijobs letzte Hoffnung; 16,18–22 und 19,23–27 im Kontext der Ijobdichtung, in: O. Dyma (Hg.), Sprachliche Tiefe – theologische Weite, BThSt 91, Neukirchen-Vluyn 2008, 143–191. – Johansson, N.: Parakletoi. Vorstellungen von Fürsprechern für die Menschen vor Gott in der alttestamentlichen Religion, im Spätjudentum und Urchristentum, Lund 1940. – Kellenberger, E.: Gottes Doppelrolle in Ijob 16, Bib. 90 (2009) 224–236. – Michel, A.: Herausstellungsstrukturen in den Streitreden des Ijob im Vergleich zu den Freunden (Ijob 3–25) im Ausgang von Ijob 16,7–14, in: S.Ö. Steingrímsson/K. Ólason (Hg.), Literatur und sprachwissenschaftliche Beiträge zu alttestamentlichen Texten (FS W. Richter) ATSAT 83, St. Ottilien 2007, 123–136. – Mowinckel, S.: Hiobs gōʾēl und Zeuge im Himmel, in: K. Budde (Hg.), Vom Alten Testament, BZAW 41, Gießen 1925, 207–212. – Ólason, K.: „Wenn ihr an meiner Stelle wärt“. Die dialogische Handlungsstruktur im Proömium der fünften Rede Ijobs (Ijob 16,2–6), in: C. Diller u.a. (Hg.), „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz!“ Beiträge zur Syntax, Sprechaktanalyse und Metaphorik im Alten Testament (FS H. Irsigler), ATSAT 76, St. Ottilien 2005, 15–35.
Die Rede verfügt über einen dreiteiligen Aufbau. Dabei lassen sich sechs Strophen zu je sechs Bikola abgrenzen (16,2–6|7–11|12–16|17–22|17,1–3[4]5–7|[8– 10]11–16). Kleinere Abweichungen von diesem Schema basieren auf Textverderbnis bzw. auf Texterweiterungen. Die Rede besteht 1) aus einer Eröffnung (16,2–6), in der Hiob seine Freunde direkt anredet und diese scharf abweist, 2) aus einem zweigliedrigen Hauptteil (16,7–17,10), in dem Hiob Gott als den Urheber seines Leidens beschreibt (16,7–16), aber auch als die einzige Größe, die sein Leiden wenden kann (16,17–17,10), und 3) aus einem Schlussteil, in dem Hiob über seine eigene Vergänglichkeit klagt (17,11–16). In den Schlussversen der dritten bis sechsten Strophe wird jeweils auf den nahen Tod und die Unterwelt geblickt (16,16.22; 17,7; 17,16), so dass die Rede ähnlich wie die bisherigen Reden Hiobs endet (vgl. 7,21, 10,22; 14,22). Die Sprachformen der Rede stammen, wie einzelne Motive, überwiegend aus dem individuellen Klage- und Bittgebet sowie der weisheitlichen Elendsmeditation. In 16,17 begegnet ein kurzes Unschuldsbekenntnis Hiobs.40 Erstmals findet sich im Rahmen einer Hiobrede ein ausdrückliches Bekenntnis des Vertrauens auf Gott (16,19–22; 17,3, vgl. im Folgenden dann 19,25–27; 23,6–7).
Aufbau und Sprachformen
Ab Kap. 17 weist das in Qumran in Höhle 11 gefundene fragmentarische Text- und Hiob-Targum (11QTgHi/11Q10) Äquivalente zum MT auf. So finden sich Literarin 11QTgHi kleine Reste von 17,14–16. In 17,16 bietet 11QTgHi eine mit der geschichte LXX gegen den MT konvergierende Variante. Im OG fehlten 16,3b.8.21b und 17,3b–5a.12.16b. Im Blick auf 17,4–5 könnte dies auf einen älteren Text hindeuten.41 In 16,9–10 und 17,1–5* unterscheidet sich die LXX stark vom MT (s.u.). Das dritte Kolon in 16,9MT findet seine Entsprechung im ersten Kolon von V. 10 LXX. 16,9cLXX hat kein Äquivalent im MT, berührt sich motivisch aber eng mit 6,4 und 30,14. Ein Äquivalent V. 10aMT bietet die LXX nicht.
40 Vgl. Hi 6,28–30; 9,21; 10,7; 13,18; 19,6; 23,7.10–12; 27,4–6; 29,12–16; 31,1–40. Siehe zu den genannten Texten auch das Unschuldsbekenntnis des Beters in Lud. II,23–32 (TUAT III, 122). 41 Vgl. schon Duhm, der Hi 17,4 und 17,5 als Glossen unterschiedlicher Herkunft beurteilte.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
In diesen Differenzen zwischen dem MT, 11QTgHi und LXX spiegelt sich ein den gesamten Abschnitt 16,7–13 prägendes textgeschichtliches Phänomen. So finden sich in dieser Passage überdurchschnittlich viele philologische, grammatische und metrische Probleme, die nur mittels Konjekturen und neuer Segmentierungen der masoret. Verseinteilung zu beheben sind.42 So lagen in den V. 9, 10, 12 und 13 ursprünglich wohl keine Trikola vor, sondern die V. 9b+10aα, 10aβ+10b, 12b+13aα und 13aβ+13b bildeten jeweils Bikola.43 Kleinere Änderungen der Gliederung betreffen die motivisch und poetologisch verwandten Verse 17,1 und 17,11, in denen jeweils das im MT noch zum ersten Kolon gezählte vierte Wort in das zweite Kolon zu ziehen ist, wo es jeweils die Funktion des Prädikats erfüllt. Literargeschichtlich ist die Rede weitgehend einheitlich. Auffällig sind 17,4–5 und 17,8–10, in denen die Freunde nochmals in den Blick kommen, von denen Hiob sich eigentlich schon nach der ersten Strophe der Rede (16,2–6) abgewandt hatte. Zudem tauchen hier gehäuft Sprichwörter bzw. sprichwortähnliche Sentenzen auf (V. 5; V. 8–9). Schließlich wird durch diese Verse das durchgehend aus sechs Bikola bestehende Strophenmuster durchbrochen. Insofern zwischen 17,1/11, 17,2/12, 17,3/13, 17,5/14, 17,6/15 und 17,7/16 eine enge poetische und motivische Entsprechung besteht, dürfte es sich in V. 4 (nicht aber in V. 5) und V. 8–10 um jüngere Zusätze handeln.44 Gelegentlich werden auch Teile der Feindklage in 16,8–11 als sekundär betrachtet.45 Mit einer großflächigen Fortschreibung rechnen Roger Marcel Wanke und Jacques Vermeylen.46 16,1–6 Anrede und Abweisung der Freunde 16,1 S.o. zu Hi 6,1.47 16,2 Die langen Ausführungen des Eliphas über das Leben und die beschränkten Lebensmöglichkeiten des Gottlosen sind für Hiob nichts Neues. Erneut weist er seine Freunde darauf hin, dass die traditionelle Vorstellung von der immanent vergeltenden Gerechtigkeit Gottes in seinem Fall – und damit generell – nicht gilt. Hatte Eliphas mittels der Beschreibung der leidvollen Situation eines rāšāʿ Hiob 42 Zum besonderen Problem der Tempora in Hi 16,9–14 siehe die Anm. zur Übersetzung sowie Bobzin, Tempora, 236–245. 43 Gleichwohl weist auch der MT eine besondere poetologische Gliederung auf, insofern in ihm je zwei Trikola (V.9.10 bzw. V. 13.14) den Vers rahmen, in dem erstmals in Kap. 16 eine explizite Gottesbezeichnung (ʾel) erscheint (V. 11). 44 Vgl. Anm. 41. Zur Annahme, die Passage Hi 17,6–9 sei ein sekundär „übernommenes Zitat“ aus einem anderen Zusammenhang, siehe Horst. Vgl. auch die sekundäre Anrede der Freunde in Hi 19,28–29. 45 Vgl. Hölscher; Fohrer: Hi 16,9b–11; Horst: 16,10–11; J. Gray: sicher 16,9b–11, eventuell auch V. 8–9a. 46 Wanke, Praesentia Dei, 196– 200; 430: Hi 16,7–9.12–18; 17,3–4.11–16 als Teil der „kultkritischen Redaktion“; Vermeylen, Métamorphoses, 182; 280: 16,7–8*.18–17,1.3–4.11 als Teil der „zweiten Buchredaktion“. 47 Vgl. Hi 9,1; 12,1; 19,1; 21,1; 23,1; 26,1.
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implizit als einen Frevler angeklagt, so setzt nun umgekehrt Hiob indirekt die Freunde mit den r ešāʿîm gleich. Das letzte Wort des Eliphas sprach das Gericht über diejenigen aus, die mit „Frevel“ (ʿāmāl) umgehen (15,34). In seinem ersten Satz greift Hiob dieses Stichwort auf: Die Freunde sind frevelhafte, Mühsal bereitende Tröster (menaḥ amê ʿāmāl 16,2, vgl. 13,4; 21,2.34), ganz anders als dies Hiob selbst zu seinen guten Lebenszeiten war (vgl. 4,3–4; 29,21–25). Vor dem Hintergrund des Prologs entsprechen die Freunde so nicht der Rolle, die der Leidende von ihnen erwartet (vgl. 2,11; Jes 40,1–2): Sie lassen vielmehr den auf der Suche nach Trost befindlichen Hiob allein (vgl. 7,13; Klgl 1,2.9.16–17.21; Ps 69,21). Offenbar zitiert hier Hiob Eliphas (vgl. 15,2; 8,2)48 und karikiert damit seine 16,3 Freunde, deren Worte als „Wind“ erscheinen, wobei verschiedene Aspekte des Begriffs rûaḥ mitschwingen, nämlich der des flüchtigen Hauchs und des zerstörenden Sturmes (vgl. 15,30). Diese beiden Aspekte kennzeichnen die Antworten der Freunde auf Hiobs Fragen: Sie bieten dem Leidenden keinen Halt und ziehen ihn immer tiefer ins Elend. Im Unglück erweist sich, wer ein wahrer Freund ist (vgl. Sir 6,8–12; 12,8–9; Cicero, Lael. 64).49 Wie schon in seiner ersten Replik auf Eliphas kann Hiob nicht verstehen, was die Freunde an seinen Reden gekränkt haben könnte und was dementsprechend ihre Worte motivierte (vgl. 6,25). Im Rahmen der ‚Endgestalt‘ des Buches ironisiert der Vers auch die sekundär Eliphas in den Mund gelegten Worte in 15,12–13: Es ist Eliphas, nicht Hiob, der sich zu haltlosen Worten hinreißen lässt. Hiob könnte sich, wenn seine Freunde in seiner Situation wären, wie diese 16,4–6 verhalten: Er könnte kunstvoll reden und spottend seinen Kopf schütteln (V. 4).50 Doch genau dies würde er nicht machen; vielmehr würde er sie mit seinen Worten und seinen Lippen (ś epātaj) trösten (V. 5, vgl. 4,4)51 – denn diese bringen alles andere als Frevel hervor (vgl. 11,2; 15,5–6) – und er zeigte ein feines Gespür dafür, wann er redend und wann er schweigend sein Mitleid erweisen müsste (V. 6). V. 6 drückt also wie V. 5 Hiobs hypothetisches Mitleid (k eʾeb) aus.52 Der Vers ist allerdings doppeldeutig formuliert, insofern k eʾeb auch den Schmerz bezeichnen kann (vgl. 2,13; 14,22), der selbst dann nicht nachlässt, wenn Hiob redete (vgl. 7,11; 9,14.35; 10,1; 13,22). V. 6 würde dann 48 Will man V. 2 nicht als ein uneingeleitetes Zitat verstehen, muss man einen „abrupten, gezielt eingesetzten Wechsel der Adressatenrichtung“ annehmen, wie er sich gelegentlich im Hiobbuch (vgl. Hi 12,7), vor allem in den Elihureden findet (Lauber, Weisheit, 144). 49 Vgl. dazu L. Schrader, Unzuverlässige Freundschaft und verläßliche Feindschaft. Überlegungen zu Sir 12,8–12, in: F.V. Reiterer (Hg.), Freundschaft bei Ben Sira, BZAW 244, Berlin/ New York 1996, 21–59. 50 Vgl. Ps 22,8; 109,25; 2Kön 19,21 par. Jes 37,22; Klgl 2,15; Sir 13,7; zu dieser Geste siehe auch Gruber, Aspects, 408. 51 Diese Deutung ist kontextuell wahrscheinlicher als die Interpretation von Seow, der Trost Hiobs zeige sich in der Zurückhaltung seines Redens, was ein transitives Verständnis von ḥśk und die Erklärung der Lippen als Objekt voraussetzt; siehe dazu die Anm. zur Übersetzung. 52 Weiser, 122: „Hiob weiß etwas von der biblischen Voraussetzung aller echten Seelsorge; sie liegt in der eigenen Anfechtung, die den Freunden fremd ist, ihm aber die Möglichkeit seelsorgerlicher Hilfe geben würde.“
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bereits die in V. 7 folgende Klage Hiobs einleiten. Der entscheidende Vorwurf Hiobs an seine Freunde zielt auf fehlende echte Anteilnahme an seinem Leid ab sowie auf die mangelnde Fähigkeit, sich in seine Lage hineinzuversetzen. Leicht kann, wer aus der Schlinge selber hat den Fuß, Ermahnen, weise raten, dem der leiden muß; Indes ich wußte selber alles das ja auch. (Aischylos, Prom. 263–265)53
Weil die Freunde sich nicht auf Hiobs Situation einlassen, und das heißt, weil sie nicht bereit sind, angesichts des Schicksals Hiobs ihre theologische Position zu korrigieren, wendet sich Hiob von ihnen ab und schildert nochmals in einer Ich-Klage sein Leid. 16,7–11 Klage über Gottes Angriff Mit V. 7 setzt eine sich über zwei Strophen (V. 7–11|12–16) erstreckende Leidklage ein, in der Hiob in dramatischen Bildern beschreibt, wie Gott selbst gegen ihn Krieg führt. So wird in der Klage über Gottes Angriff das Leiden gedeutet. 16,7–8 Es ist Gott selbst, der Hiob nicht nur müde gemacht hat (vgl. Mi 6,3), sondern der ihn auch zerschmettert. Hiob erlebt sich als von Gott selbst verstört und verwüstet (šāmam Hif., vgl. Jer 50,45; Hos 2,14) und an sich selbst das Gericht vollstreckt, das eigentlich nur dem gilt, der die Gebote seines Gottes, zumal das seiner Alleinverehrung, nicht beachtet hat: 14 Werdet ihr mir aber nicht gehorchen und nicht alle diese Gebote tun 15 und werdet ihr meine Satzungen verachten und meine Rechte verabscheuen, dass ihr nicht tut alle meine Gebote, und werdet ihr meinen Bund brechen, 16 so will auch ich euch dieses tun: Ich will euch heimsuchen mit Schrecken, mit Auszehrung und Fieber, dass euch die Augen erlöschen und das Leben hinschwindet. Ihr sollt umsonst euren Samen säen und eure Feinde sollen ihn essen. 17 Und ich will mein Antlitz gegen euch richten, und ihr sollt geschlagen werden vor euren Feinden, und die euch hassen, sollen über euch herrschen, und ihr sollt fliehen, ohne dass euch einer jagt. 18 Wenn ihr mir aber auch dann noch nicht gehorcht, so will ich euch noch weiter züchtigen, siebenfältig, um eurer Sünden willen, 19 dass ich eure stolze Macht breche, und will euren Himmel wie Eisen und eure Erde wie Erz machen. [...] 27 Werdet ihr mir aber auch dann noch nicht gehorchen und mir zuwiderhandeln, 28 so will auch ich euch im Grimm zuwiderhandeln und will euch siebenfältig mehr züchtigen um eurer Sünden willen, 29 dass ihr sollt eurer Söhne und Töchter Fleisch essen. 30 Und ich will eure Opferhöhen vertilgen und eure Räucheraltäre ausrotten und will eure Leichname auf die Leichname eurer Götzen werfen und werde an euch Ekel haben. 31 Und ich will eure Städte wüst machen und eure Heiligtümer verheeren und will den lieblichen Geruch eurer Opfer nicht mehr riechen. 32 So will ich das Land wüst machen, dass eure Feinde, die darin wohnen werden, sich davor entsetzen. 33 Euch aber will ich unter die Völker zerstreuen und mit gezücktem Schwert hinter euch her sein, dass euer Land soll wüst sein und eure Städte zerstört. (Lev 26,14–19.27–33 LB)
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Übersetzung von J.G. Droysen, Aischylos, 365.
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Gemäß der Theorie der Freunde lässt sich Hiobs Leid nur als ein Zeugnis für seine Schuld gegenüber Gott deuten. Hiob hingegen erfährt Gott als einen Zeugen (ʿed) gegen sich (V. 8, vgl. Mal 3,5; Zeph 3,8): Gott hat seine Schar (ʿedāh)54 gegen ihn ins Feld geführt (V. 7, vgl. 19,12). Der spöttischen Frage des Eliphas, ob Hiob denn im Rat Gottes (sôd) zugehört hätte (15,8), stellt Hiob so seine eigene Erfahrung mit dem Rat Gottes entgegen. Hinter seinem Leid sieht Hiob die ʿedāh Gottes, die himmlische Ratsversammlung, der Gott als Richter voransteht (vgl. 1,6; 2,1; Ps 82,1)55. Auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ klingt damit zugleich eine geheime Ahnung Hiobs um die im Prolog geschilderten Himmelsszenen an (1,6–21; 2,1–7). Doch für Hiob handelt es sich um eine zutiefst ungleiche Begegnung von Gott und Mensch: Tritt Gott gegen ihn auf – und das ohne Grund (ḥinnām, vgl. Spr 24,28), was für die Leser des Prologs nur allzu klar ist (2,3, vgl. 9,17) –, so wird er nur mit seinem eigenen Elend konfrontiert. Der Zusammenprall des nicht aufrichtenden, sondern zugrunde richtenden Gottes mit dem auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen, dem sein Vom-Tode-Gezeichnetsein zum alleinigen Spiegel wird (vgl. Ps 109,22–25), ist hier poetisch durch die chiastische Anlage des Verses, einen Endreim sowie durch ein vollkommen ausgeglichenes kolometrisches Verhältnis besonders betont. Es sind nicht windige Worte Hiobs, die antworten (ʿānāh, 15,2), sondern sein unendliches Leid. Erneut steht die Metapher des Zornes Gottes für Hiobs Erfahrung eines 16,9–11 erbarmungslosen und ungerechten Gerichts (vgl. 14,13; 19,11): Gottes Zorn hat Hiob zerrissen (ṭārap, vgl. Ps 50,22; Hos 5,14) und Hiob angefeindet (śṭm, vgl. 30,21). Gott ist für Hiob zu einem wilden Tier56 und zum Satan (śāṭān) geworden. Wieder klingen auf der Ebene des ,Endtextes‘ die Himmelsszenen an.57 Es ist die paradoxe Erfahrung Hiobs, dass Gott selbst als Frevler (rāsāʿ) erscheint (vgl. Ps 55,4), der wie ein Raubtier (vgl. Hi 10,16) mit den Zähnen gegen ihn knirscht.58 Sollte die Schilderung des Schicksals des rāšāʿ in der zweiten Eliphasrede Hiob als einen solchen entlarven, so identifiziert nun Hiob auch Gott indirekt mit einem rāšāʿ: Gott ist für Hiob selbst gottlos geworden (vgl. 9,24). Die Feindschaft Gottes schlägt sich nieder in der Feindschaft, die Hiob seitens seiner menschlichen Umwelt erlebt. Dieser Übergang ist fließend. Er findet sein form- und traditionsgeschichtliches Gegenüber im Wechsel der gegen Gott und gegen menschliche Gegner gerichteten Feindklage in den individuellen Bitt- und Klagegebeten des Psalters und der altorientalischen Gebetsliteratur, mit denen
54 Zu beachten ist die Paronomasie zwischen ʿed („Zeuge“) und ʿedāh („Schar“); vgl. außerdem die Anm. zur Übersetzung. 55 Zur ‚himmlischen Ratsversammlung‘ vgl. auch die phön. Jechīmīlk-Inschrift (KAI 4,4–5) und das ug. Kirta-Epos (KTU 1.14–16) II,ii,7.11 (TUAT.NF VIII, 252f); s.o. zu Hi 1,6. 56 Vgl. Gen 37,33; 44,28; 49,9.17; Num 23,24; Jer 5,6; Ps 7,3. 57 Vgl. Hi 2,3; 4Q225 frgm. 2 I,10; 4Q174 frgm. 4,4. 58 Vgl. Ps 37,12; 112,10; 1QHa IX,39(41); Apg 7,54.
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gerade V. 9–14 zahlreiche Bilder teilen.59 Der Übergang hat auch textgeschichtlich seine Spuren hinterlassen, insofern nach dem MT in V. 9b noch singularisch von Gott als Feind die Rede ist, während in V. 10–11 menschliche Feinde als ausführende Organe des göttlichen Zornes erscheinen.60 So sind es nach dem ursprünglichen Text menschliche Feinde, die ihre Augen gegen Hiob schärfen (V. 9b) und ihren Mund weit gegen ihn aufreißen (V. 9b–10aα),61 die Hiob – ganz im Gegensatz zu seiner früher erlebten Hochschätzung (vgl. 29,23) – mit Spott überschütten und sich gegen ihn zusammenrotten (V. 10aβ.b). All das ist ein Ergebnis der Auslieferung (sāgar Hif., vgl. 11,10) Hiobs an den Bösen und an die Frevler durch Gott (ʾel), der hier erstmals innerhalb dieser Rede ausdrücklich genannt wird (V. 11, vgl. Dtn 32,30; Am 6,8). In der Schwebe bleibt, ob Hiob in der Sprache der Klage stereotyp von Feinden spricht62 oder ob er seine Freunde im Blick hat. Jedenfalls ist es ein furchtbares Zusammenspiel himmlischer und irdischer Scharen, die Hiob ins Elend ziehen (vgl. V. 7 versus V. 11). Für den Leser des Prologs zeigt sich erneut Hiobs Ahnung von der eigentlichen Ursache seines Leidens: Auf der Ebene des ‚Endtextes‘ ist der Böse (ʿawwāl v.l., V. 11) kein anderer als der Satan (vgl. 1,12; 2,6). 16,12–16 Klage über das eigene Elend Hatte Eliphas das Verhalten des Frevlers als ein kriegerisches Anrennen gegen Gott beschrieben (15,25–28), so schildert nun Hiob das Handeln Gottes an ihm in Bildern des Krieges. Der von Eliphas angesprochenen Hybris des Menschen stellt Hiob die Hybris Gottes gegen den Menschen gegenüber. Wenn Gott Hiob angreift, dann vergreift er sich zu Unrecht an seinem Geschöpf. Angesichts dieser Erkenntnis bleibt Hiob nur unendliche Trauer. 16,12–14 Durch zahlreiche Paronomasien und Homoioteleuta untermalt lässt der Dichter Hiob seine Erfahrung artikulieren, plötzlich und mitten im Frieden von Gott überfallen worden zu sein (vgl. 3,25–26). So stellt V. 12 ein hochpoetisches, klanglich besonders betontes63 Gegenüber zu den Himmelsszenen und Botenberichten des Prologs dar, das in der Beschreibung Hiobs als Zielscheibe (maṭṭārāh) der göttlichen Kriegspfeile gipfelt (V. 12b–13a). Wie in Hiobs erster Rede hat sich Gott für Hiob zum lebensfeindlichen Krieger (gibbôr) gewandelt.64 Was dem unter dem Exil leidenden Israel ein Bild für Jhwhs machtvolles Eingreifen zum Heil ist (Jes 42,13), ist für den sich unter der Feindschaft Gottes Vgl. exemplarisch die Gebete Ištar 2 51–78.93–94 (TUAT.NF VII, 89f), Ešḫ 9 15–19 (Maul, Herzberuhigungsklagen, 115; TUAT. NF VII, 44f) oder Pap. Amherst 63 VII,2–10 (TUAT II, 931; van der Toorn, Papyrus Amherst, 54f). 60 Doch siehe dazu auch die Anm. zur Übersetzung von V. 9b. 61 Vgl. Ps 22,14; 35,21; Jes 57,4; Klgl 2,16; 3,30; Mt 26,67–68. 62 Vgl. Ps 22,7–8.13–14.27; 31,9; 35,15–16; 36,12; 71,4; 78,62; Klgl 2,7.16. 63 Vgl. waj eparperenî … beʿårpî waj epaṣpeṣenî. 64 Vgl. Hi 6,4; 7,20; 19,11–12; 30,14; Ps 78,65; Ex 15,3; Klgl 3,12–13. Zu entsprechenden Parallelen aus dem Alten Orient und der klassischen Antike siehe die Auslegung von Hi 6,4. 59
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sehenden Hiob ein Bild des Grauens. Die Motivik zur Beschreibung der Qualen Hiobs bleibt zunächst noch im Bereich der Anthropologie (V. 13). Die Nieren gelten (wie die Leber) im Alten Orient und in der Antike sowohl als Sitz des Lebens (vgl. Spr 7,23) als auch der Gefühle65; sie stehen – häufig synonym zu leb („Herz“) – auch für das Gewissen.66 Die Verletzung der Gallenblase kennzeichnet eine schwere Gefährdung des Lebens (vgl. 20,25).67 Das Bekenntnis des Beters, der sich von Gott wunderbar erschaffen erlebt und dies mit dem Hinweis der pränatalen Bildung seiner Nieren durch Gott selbst unterstreicht (vgl. Ps 139,13), ist durch die Wunden Hiobs (vgl. 9,13) pervertiert. Stehen im realen Hintergrund des Bilds in 16,13 „die durchbohrenden Schmerzen von Nierenkoliken“68, so kennzeichnet es hier das lebenzerstörende Handeln Gottes. In V. 14 wechselt die Motivik in das Bild einer belagerten Stadt, in deren Mauern von den anstürmenden Truppen Risse geschlagen werden.69 Durch eine figura etymologica (pāraṣ pæræṣ), Paranomasien auf -rṣ- und erneute Endreime wird der von Hiob erlebte Angriff bei der Lektüre fast hörbar. Die Folge des göttlichen Angriffs auf Hiob ist tiefe Trauer, versinnbildlicht 16,15–16 durch den auf der nackten Haut getragenen härenen Sack (śaq)70 und das in den Staub gesenkte Horn (qæræn), das hier die gesamte Person symbolisiert. Steht das erhöhte Horn für menschlichen Erfolg und Glück, so das gesenkte für Elend und Demütigung.71 Als Bildspender dient wohl der Stier (Ps 92,11). Hiob rennt also gerade nicht wie der von Eliphas zuvor skizzierte Frevler mit stolzem Nacken gegen Gott an (15,26). Wie die in 1,21 beschriebenen Riten ist der Austausch des Gewandes gegen einen Sack und das Sich-selbst-in-denStaub-Begeben ein Ausdruck der erlebten Minderung der Lebensmöglichkeit, der diese sichtbar verstärkt und dabei auf eine nur noch von außen erwartete Änderung der notvollen Situation zielt. Tränen haben Hiobs Antlitz schwer entstellt (vgl. 14,20), und seine Augen (ʿapʿappajim, vgl. Jer 9,17; Homer, Od. 17, 490) sind, wie die des leidenden Beters von Ps 6,7–8, schon vom Tod gekennzeichnet (vgl. 17,7; Klgl 2,11; 5,17).72 So endet diese Strophe, deren Schlussverse wie die V. 12 und 14 lautlich durch Homoioteleuta und Paronomasien besonders hervorgehoben sind,73 in einem scharfen Kontrast zur Eröffnung in V. 12a, in der Hiob auf sein einst sorgloses Leben zurückblickt, mit einem Ausblick auf das ewige Dunkel (ṣalmāwæt, vgl. 10,21–22): Die Frage ist, ob es
Vgl. Hi 19,27; Ps 16,7; Spr 23,16; Klgl 3,13 (vgl. Abart, Lebensfreude, 48f; 57f). Vgl. Ps 7,10; 73,21; Jer 17,10; 20,12. Wolff, Anthropologie, 111; Janowski, Anthropologie, 148–157. 68 Wolff, Anthropologie, 111. 69 Vgl. 2Kön 14,13; 1Makk 13,42; Ps 89,41; Am 4,3; Jo 2,7 bzw. Jes 58,12; Am 9,11; Neh 2,13. 70 Vgl. Gen 37,34; 2Sam 3,31; Jes 58,5; Jer 4,8; 49,3; Ez 27,31; Dan 9,3; Jo 1,8; Ps 35,13–14. 71 Vgl. 1Sam 2,1; Ps 75,5–6.11; 89,18.25; 92,11; 112,9; 148,14; Klgl 2,3.17; Sir 47,5.11; 1QHa XV,22–23(25–26) (vgl. Gruber, Aspects, 353f). 72 Vgl. SH 70 (TUAT III, 106); Lud. I,109 (TUAT III, 120). 73 Vgl. in V. 15 die Paronomasien auf l und die Homoioteleuta auf -î sowie in V. 16 die verdoppelte Konsonantenfolge håmarmeruh … ʿapʿappaj und gleichfalls Homoioteleuta auf -î und -aj. 65 66 67
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in diesem „Schatten des Todes“ noch Hoffnung auf einen Ausweg gibt (vgl. Ps 23,4; 107,14). 16,17–22 Unschuldsbekenntnis und Hoffnung Noch verstummt Hiob nicht in seiner Trauer. Das Bewusstsein seiner Unschuld ist sein Hoffnungsanker. 16,17 Der Vers, der zumeist in konzessivem Sinn als Fortsetzung von V. 16 betrachtet wird, bildet die vorangestellte Begründung für die im Folgenden artikulierte Hoffnung Hiobs, noch in diesem Leben von und bei Gott ins Recht gesetzt zu werden. Parallel zur Eröffnung der dritten Strophe blickt Hiob auf sein bisheriges Leben. Der in der dritten Strophe erinnerte Frieden, der Hiobs Leben bisher kennzeichnete (V. 12), erhält in der Rückschau seine Begründung durch den Verzicht Hiobs auf jede Form von Unrecht, hier umschrieben durch den Begriff der Gewalttat (ḥāmās), mittels dessen die Priesterschrift den Grund für die Sintflut bezeichnet (Gen 6,11.13). Wird dort durch die Wahrnehmung Gottes, dass die gesamte Erde mit ḥāmās angefüllt war, das göttliche Vernichtungsgericht begründet und das Ende allen Lebens (bāśār) auf der Erde eingeleitet, so muss umgekehrt das Bekenntnis Hiobs, in seinen Händen sei kein ḥāmās, sein Überleben sichern. Der Integrität des Handelns74 steht die Reinheit des Gebets (tepillāh, griech. εὐχή) Hiobs zur Seite. Einmalig taucht hier innerhalb der Hiobdichtung das Wort tepillāh auf.75 Schon dies zeigt das Gewicht dieses und der folgenden Verse an. Hiob reagiert auf die Mahnung der Freunde, sich doch betend an Gott zu wenden (vgl. 5,8; 11,13), er unterstreicht, dass er die von ihnen geforderte Bedingung der Aufrichtigkeit erfüllt (vgl. 8,6; 11,4), und er wiederholt gerade gegenüber der zuvor gegen ihn erhobenen Anschuldigung durch Eliphas (15,4–5) das Bekenntnis seiner Unschuld (vgl. 9,21; 10,7; 13,18; 27,5–6),76 nun aber in der Gewissheit, dass diese auch bei Gott anerkannt werde. Die Lauterkeit seines Gebets steht in scharfem Kontrast zu dem tiefen Schatten, der auf seinen Augen ruht, sie ist die Grundlage für eine Erhörung durch Gott, denn „Gott erhört das Gebet der Gerechten“ (Spr 15,29)77. Damit unterstellt sich Hiob nun endgültig der Prüfung durch Gott (vgl. Spr 16,2). 16,18
Das Blut eines Ermordeten schreit von der Erde zu Gott und ruft um Rache (vgl. 2Makk 8,3; 1Hen 72,1; SibOr 3,312–313): Als das Blut des von Kain getöteten Abel von der Erde schreit, tritt Gott auf zum Verhör (Gen 4,10, vgl.
Vgl. Ps 7,4; 24,4 und als Gegensatz dazu die Beschreibung der Frevler in Ps 58,3 sowie das Bekenntnis „Nichts Böses ist in meinen Händen“ im Rahmen eines Klagegebets im Pap. Amherst 63 VI,3 (TUAT II, 931; van der Toorn, Papyrus Amherst, 54). 75 Zur Frage, ob in Hi 24,12 tepillāh zu lesen ist, siehe die Anm. zur Übersetzung. 76 Vgl. auch das Unschuldsbekenntnis des leidenden Gerechten in BT 72–73 (TUAT III, 150). 77 Vgl. Spr 15,8 (zitiert in CD-A XI,21/4Q271 frgm. 5 I,14). 74
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1Hen 22,5–7; Mt 23,35).78 Doch Hiob wünscht, dass die Erde, die hier direkt im Du angesprochen wird, wodurch der Ruf Hiobs kosmische Dimensionen erreicht (vgl. 17,14; Dtn 32,1), nicht sein Blut bedecke,79 dass Gott also nicht erst nach seinem Tod – wie im Fall Abels – zum Gericht erscheint, sondern vor der Grenze des Todes (vgl. Ps 9,13; Jes 26,21; Apk 6,10). Hiobs Ruf (zeʿāqāh) nach Gerechtigkeit soll ohne einen festen Ort in Raum und Zeit vernehmbar sein, bis Gott endlich zum Gericht auftritt. Hiob stellt sich damit in die Linie all derer, die einst zu Gott um Hilfe geschrien haben (zāʿaq) und gerettet wurden80 oder die noch auf künftige Erlösung hoffen (Ps 142,6; Jes 30,19). Dabei steht Hiob an der Seite des anonymen Beters von Klgl 3,8, der auch die Erfahrung macht, dass sein Schrei nicht erhört wird, und an der Seite Habakuks, der angesichts des Zerfalls der Torah und des Überhandnehmens von ḥāmās (!) auf das göttliche Gericht hofft (vgl. Hab 1,2–4). Dass sich Hiobs Wunsch nach einer Gerichtsentscheidung auf das Diesseits bezieht, erhellt auch aus dem Summarium dieser Strophe in V. 22 (vgl. 7,8–10.21). Deutlicher als in Kap. 14 und in dieser Form erstmals in der Hiobdichtung 16,19–21 blitzt ein Hoffnungsschimmer auf. Hiob, der in V. 21 wieder indirekt von sich als dem Mann (gæbær, vgl. 3,3.23; 10,5; 38,3) spricht, vertraut auf einen himmlischen Zeugen, der zu seinen Gunsten auftritt und die Beziehung zwischen sich und Gott sowie zwischen sich und seinen Freunden aufrichtet (jākaḥ Hif.). Die ausdrückliche Kennzeichnung des Zeugen als „im Himmel (šāmajîm)“ und „in den Höhen (merômîm)“ hat sowohl lokale als auch qualitative Aspekte.81 Sie bestimmt diesen Zeugen als eine dem menschlichen Zugriff entzogene, einzigartige Größe. Hatte Hiob in 9,16 bestritten, dass Gott ihn hören, geschweige denn erhören werde, und hatte er in 9,33 im Irrealis gebetet, dass es einen Schlichter (môkî aḥ) zwischen ihm und Gott geben möge, so scheint er sich nun eines solchen Schlichters im Himmel gewiss (vgl. Ps 73,25). Erneut taucht das bereits in V. 8 zur Beschreibung der Funktion Gottes verwendete Wort ʿed (LXX: μάρτυς) auf, hier nun im synonymen Parallelismus mit dem aus dem Aramäischen genommenen Wort śāhad („Zeuge“)82. Das AT teilt hier die für den Alten Orient und die klassische Antike epigraphisch und literarisch nachweisbare Vorstellung, dass Gottheiten in Gerichtsverhandlungen und bei Vertragsabschlüssen als Zeugen auftreten.83 1 Die Verträge des Bar-Gaʼyah, des Königs von Ktk, mit Matiʿ-Il, dem Sohn des ʿAttarsumk, dem König von [Arpad. Und die Ver] 2 träge der Söhne des Bar-Gaʼyah mit den Söhnen des 78 Vgl. dann auch rabbinisch z.B. in bGit 57b; DevR 2 zu Dtn 4,41 (Wünsche, Debarim, 33); siehe dazu Str-B I, 940–942. 79 Vgl. Gen 37,26; Lev 17,13; Ez 24,7–8; Ps 9,13; Apk 6,9–10. 80 Vgl. Ex 2,23; Neh 9,9; Ps 22,5–6; 107,13.19; Ri 3,9.15 ; 4Q434 frgm. 1 I,2–3. 81 Houtman, Himmel, 334f, 344f. 82 Vgl. Gen 31,47 und dazu Wagner, Aramaismen, Nr. 295; DNWSI II, 1112f. 83 Vgl. Gen 31,50; 1Sam 12,5; 1Makk 2,37; Jer 42,5; Mi 1,2; Zeph 3,8; Mal 3,5; Ps 89,38; 2Kor 1,23; Sophokles, Phil. 1293.
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Matiʿ-Il. Und die Verträge der Enkel des Bar-Gaʼ[yah und] 3 seiner 2 [Nachkommenschaft] 3 mit der Nachkommenschaft des Matiʿ-Il, des Sohnes des ʿAttarsumk, des Königs von Arpad. Und die Verträge von Ktk mit [den Verträgen] 4 von Arpad. Und die Verträge der Bürger von Ktk mit den Verträgen der Bürger von Arpad. Und die Verträge . . [. . . . .] 5 und mit ganz Aram und mit Mṣr, – und mit seinen Söhnen, die an [seine] Stelle treten werden, und [mit den Königen] 6 von ganz Ober- und Nieder-Aram, und mit jedem, der in das Königshaus eintritt . . . [. . . . . . . . ] 7 . . (sie) haben diese Verträge festgesetzt, und zwar diese Verträge, die Bar-Gaʼ[yah] feierlich abgeschlossen hat [vor . . .] 8 und Mullissu, vor Marduk und Zarpanitu, vor Nabu und Ta[schmetu, vor Girra und Nus] 9 ku, vor Nergal und Las, vor Schamasch und Ner, vor S[in und Nikkal, vo] 10 r Nkr und Kdʾ h, vor allen Göttern von Rhbh und Adam [und vor dem Hadad von A] 11 leppo und vor der Siebengottheit, vor Il und ʿIlyan, vor Schamayi[n und Arq, vor dem Meeres] 12 grund und den Quellen, vor Tag und Nacht. Zeugen sind alle G[ötter von Ktk und von Ar] 13 [pad]. Öffnet eure Augen und seht die Verträge des Bar-Gaʼyah [mit Matiʿ-Il, dem König von] 14 [Arpad]. Und wenn Matiʿ-Il, der Sohn des ʿAttarsumk, der Kö[nig von Arpad] eidbrüchig wird [gegenüber Bar-Gaʼyah], 15 dem König von Ktk, und wenn die Nachkommenschaft des Matiʿ-Il eidbrüchig wird [gegenüber der Nachkommenschaft des Bar-Gaʼyah . . .]. (aus der aram. Inschrift von Sefire I [KAI 222] A, 1–15, um 740 v.Chr.)84 Adrastos, ihr Argeierfrauen, seht die Knaben: Die Asche ihrer tapfren Väter tragen sie in ihrer Hand. Bestattet habe ich die Leichen; die Asche schenken wir, mein Volk und ich, den Kindern. Bewahret dankbar diese Gabe im Gedächtnis, in Anerkennung dessen, was ich euch gewährt, und gebt die gleiche Mahnung an die Kinder weiter: Athen zu ehren, die Erinnerung an das, was ihr empfingt, stets auf die Enkel fortzupflanzen! Zeus und die Götter droben sollen Zeugen sein, mit welchen hohen Ehren wir euch ziehen lassen. (aus Euripides [um 480–406 v.Chr.], Suppl. 1165–1175)85 Auf diese Antwort hin rief dann König Archidamos zunächst die Götter und Heroen des Landes zu Zeugen an und sprach: ‚Alle ihr Götter und Heroen, die ihr das platäische Land schirmt! Wisset, daß wir weder als Frevler, sondern erst nachdem diese den beschworenen Vertrag gebrochen, den Zug gegen dieses Land unternommen haben [...], noch daß wir Frevler sind, wenn wir jetzt zur Tat schreiten; denn wir haben vergeblich viele und schickliche Friedensvorschläge gemacht. Gebet, daß die ersten Übertreter jener Vereinbarung für ihren Frevel büßen und daß die gerechten Vollstrecker der Strafe ihr Ziel erreichen.‘ (aus: Thukydides [um 454–399/396 v.Chr.], historiae 2, 74)86
Auf solche göttliche Zeugenschaft setzt Hiob, wenn er Gott beim Wort nimmt: „Ich weiß es und ich bin Zeuge, Spruch Jhwhs“ (Jer 29,23, vgl. Jes 43,10 LXX). In der griech. Wiedergabe von śāhad mit dem nur hier in der LXX verwendeten Wort συνίστωρ („Mitwisser“) schwingt der Aspekt mit, dass die Götter Taten kennen, die einem Menschen verborgen sind.87 In SibOr 8,369 erscheint dieser Begriff als Selbstbezeichnung Gottes, der als Schöpfer um alle Gedanken der Menschen weiß (vgl. Spr 17,3; 21,2; SapSal 1,6). Weil Hiob diese Überzeugung teilt, hofft er, dass der Gott, der negativ gegen ihn (V. 8) zeugt, am Ende posiÜbersetzung von O. Rössler, in: TUAT I, 178–189, hier: 179f. Ebener, Euripides, I, 311. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg. Vollständige Ausgabe, übertragen v. A. Horneffer, durchgeseh. v. G. Strasburger, eing. v. H. Strasburger, Essen o.J., 173. 87 Vgl. Sophokles, Ant. 542. 84 85 86
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tiv Zeugnis ablegen wird. Letztlich vertraut Hiob auch im tiefsten Leid darauf, dass der, der die Gedanken und Pläne des Menschen kennt, „gut ist zu denen, die aufrecht (jāšār) und reinen Herzens (bārê lebāb) sind“ (Ps 73,1 [v.l.])88. Der Vers gehört zu den textlich und inhaltlich umstrittensten des ganzen 16,20 Buches. Nach dem MT bezeichnet Hiob seine Freunde als Spötter (vgl. 17,2; Spr 3,34; Ps 119,51) und vergießt daher Tränen vor Gott (vgl. Ps 6,7–10; 119,28).89 Allerdings sind die Freunde in diesem Abschnitt der Rede nicht im Blick. Es liegt daher näher, in V. 20a parallel zum himmlischen Anwalt in V. 19 eine singularische Figur zu sehen90 und diese im Sinn von Dolmetscher91 oder Vermittler/Mittler92 zu verstehen. Umstritten sind die Identifikationen der in V. 19–20 genannten himmlischen Gestalten. Soweit nicht unverändert am MT festgehalten wird,93 werden in der Forschung drei Vorschläge diskutiert: 1) Der melîṣ ist ein himmlischer, aber von Gott unterschiedener Fürsprecher.94 Der melîṣ ist in diesem Fall, wie dann auch der Zeuge und der Anwalt im Himmel (V. 19), ein Fürspracheengel (vgl. 5,1; 33,23–25; 1QHa XIV,13[16]) oder ein Rechtsbeistand, der sich in den himmlischen Höhen, also dem mythischen Ort unmittelbarer Gottesnähe aufhält (vgl. 25,2; 31,2). 2) Der himmlische Zeuge ist Gott selbst, und zwar der Gott, den Hiob als den heilvollen und den gerechten kennt95 und den er daher als seinen „Freund“ (re aʿ II) anspricht: Der Gott, dessen Vernichtungszorn sich auf sein Volk richtet (Ex 32,10), ist derselbe Gott, der mit Mose „wie mit einem Freund“ spricht (Ex 33,11).96 Für diese Deutung sprechen das Motiv des allein auf Gott gerichteten Auges Hiobs (16,20b), die oben vorgeschlagene Interpretation von V. 19 mit dem ambivalenten Gebrauch des Wortes ʿed sowie die Korrespondenz zwischen 16,20 und 17,5 (s.u.). In diesem Fall ist der folgende V. 21 ein strikt synonymer Parallelismus, in dem re aʿ ganz parallel zu ʾ ælô ah steht, und V. 20 und V. 21 bilden einen Chiasmus, insofern V. 20a und V. 21b über das Wort re aʿ und V. 20b und V. 21a über das Wort ʾ ælô ah miteinander korrespondieren.
Anstelle von ljśrʾl/lejiśrāʾel lies ljšr ʾl/lajjāšār ʾel. Siehe dazu umd zum Begriff dālap (I) („tränen“) auch Bosworth, House, 131f. 90 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 91 Vgl. Gen 42,23; Sir 10,2 ([HA] als offizielles Amt). 92 Vgl. Jes 43,27; 1QHa X,13(15); XII,9(10); XXIIItop,11 (XXIII,12); XXIIIbottom,6 (XXIII,26); vgl. auch TgHi zu 16,20, das in der Mehrzahl seiner Hss mit dem griech. Lehnwort peraqlîṭāʾ/ peraqlêṭāʾ (παράκλητος „Anwalt“; Demosthenes, or. de falsa legatione 1,9; Lykurg, or. 15 frgm. 13,1; Joh 14,16.26; 15,26; 16,7) übersetzt, dies aber auf die Freunde bezieht. 93 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 94 Vgl. Mowinckel, Hiobs gōʾēl; Johansson, Parakletoi, 27–31; J. Behm, Art. παράκλητος, ThWNT V (1954) 798–812, hier: 807; Habel, 265f; Magdalene, Scales, 221f (ein „second accuser“). 95 Vgl. Fohrer, 291f. 96 Vor allem in Texten aus hellenistischer Zeit wird die Bezeichnung „Gottesfreund“ zum Titel herausragender Gestalten der atl. Heilsgeschichte wie Abraham (vgl. Jes 41,8; 2Chr 20,7; CD-A III,2; 4Q252 II,8; TestAbr A 8,4; 9,7; 16,9; B 13,1), Isaak (vgl. CD-A III,3), Jakob (vgl. CD-A III,3; 4Q372 frgm. 1,21), Mose (Sir 45,1) und Samuel (Sir 46,13); vgl. allgemein in 4Q525 frgm. 5,13. Aber auch im paganen Bereich kennzeichnet der Begriff „Gottesfreund“ einen Frommen (vgl. Platon, leg. 716c–d; Tim. 53d; symp. 193b; rep. 621c; Epiktet, diss. ab Arriano 4,3,9–10). 88 89
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3) Der Mittler im Himmel ist der personifizierte Klage- und Unschuldsruf Hiobs, wobei dann reʿāj von re aʿ I „Schrei“ (vgl. 36,33; Ex 32,17; Mi 4,9) abgeleitet wird. Für diese Annahme sprechen die Parallelität zu dem in V. 18 genannten Zeter- und Hilferuf (z eʿāqāh) Hiobs, die LXX mit δέησις („Gebet“)97 und der Parallelismus der auch über einen Endreim miteinander verbundenen Wörter von „mein Auge (ʿênî)“ und „mein Schrei (reʿî)“.98 Eine Entscheidung für eine der drei genannten Möglichkeiten fällt hier (wie dann auch bei der analogen Problematik in 19,25) schwer. In jedem Fall erwartet Hiob gemäß V. 20b (vgl. Ps 119,28) und dem syntaktischen Anschluss von V. 21a, dass Gott selbst Hiobs Recht bei sich und, sofern sich hinter re aʿ in V. 21b nicht erneut Gott (s.o.), sondern ein menschlicher Freund verbirgt (vgl. 17,3), bei Hiobs Nächsten herstellen wird.99 Darauf zielt Hiobs Weinen (vgl. Klgl 3,48–50). So richtet Hiob an dieser Stelle seinen Hilferuf an Gott, gegen den er zugleich seine Klage führt. Unabhängig von der Identifikation von re aʿ in V. 20 und in V. 21 zeichnet der Dichter spätestens ab V. 20b ein ähnlich ambivalentes Bild Gottes, wie es aus der Begegnung Gottes mit Mose in Ex 32–33 spricht. 16,21–22 Bewusst lässt der Dichter Hiob sich bei der Bitte um den himmlischen Rechtsbeistand indirekt selbst einmalig als „Adamssohn/Menschenkind“100 bezeichnen. So unterstreicht die Bezeichnung bæn-ʾādām (LXX: υἱὸς ἀνθρώπου), die im Buch Ezechiel als stereotype Selbstbezeichnung für den Propheten fungiert, einerseits die kategoriale Differenz zwischen Gott und Mensch.101 Andererseits betont die Bezeichnung bæn-ʾādām die Sterblichkeit des Menschen.102 Damit leitet diese zum Abschlussvers der Strophe über, in dem Hiob nochmals auf die Unwiderruflichkeit des Todesgeschicks hinweist, um Gott so zum baldigen Einlenken zu bewegen (V. 22, vgl. 7,9; 10,21).103 Hiob ist tatsächlich ein „Sohn Adams“, doch nicht wie es Eliphas zuletzt meinte, als er ironisch auf die urgeschichtliche Weisheit Hiobs anspielte (vgl. 15,7–8 versus Gen 3,1–7), sondern im Blick auf die menschliche Vergänglichkeit (vgl. Gen 3,19) und schöpfungsmäßige Bezogenheit auf Gott (vgl. Gen 2,7; Ps 8,5). So prallen auch in dieser Strophe nochmals Leben und Tod unmittelbar aufeinander.
97 Allerdings wäre dann nur hier in LXX re aʿ mit δέησις übersetzt; zudem unterscheidet sich die LXX in weiteren Punkten in V. 20a vom MT („mein Gebet gelange zum Herrn“, vgl. Ps 88,3), so dass nicht ausgeschlossen ist, dass ihr ein von der Vorlage des MT differierender Text vorlag, den manche für ursprünglich halten (zu entsprechenden Rekonstruktionen siehe Beer, Text, 104f; Kaiser, 33). 98 In diesem Sinn Dhorme; J. Gray; Clines; Seow. 99 Zur Verwendung von jākaḥ (Hif.) mit Gott als Subjekt vgl. Hi 5,17; 13,10; 22,4; 1QHa XVII,23. 100 Vgl. die Anm. zur Übersetzung. Die besondere Rolle, welche die V. 17–22 in der gesamten Hiobdichtung spielen, sowie das sich auf Hi 16,21 beziehende Zitat in 35,8 sprechen dafür, bei der Lesart bæn-ʾādām zu bleiben, die grundsätzlich auch von den antiken Versionen unterstützt wird (vgl. auch Hi 25,6). 101 Vgl. Num 23,19; Dtn 32,8; Ps 14,2; 115,16; Spr 15,11. 102 Vgl. Hi 25,6; Ps 62,10; 90,3; 107,15.21.31; Jes 51,12. 103 Siehe dazu oben den Exkurs zu Hi 3 (S. 124–126).
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Unter dem Einfluss von Dan 7,13 wird die Bezeichnung bæn-ʾādām (aram. bar ʾ ænāš/nāš) seit dem 3./2. Jh. v.Chr. im apokalyptischen Schrifttum zur Bezeichnung für eine endzeitliche Rettergestalt.104 Im NT hat sich der Begriff des Menschensohns (υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου) als Titel für den gegenwärtig vollmächtig handelnden Jesus (vgl. Mk 2,10), den leidenden Jesus (vgl. Mk 8,31) oder den wiederkehrenden Christus (Mt 24,27) niedergeschlagen.
Gott als Grund der Hoffnung und der Verzweiflung
17,1–10
Nach dem Hoffnungsschimmer, der in 16,17–22 aufschien, versinkt Hiob wieder in der Klage über sein Leid und die menschliche Vergänglichkeit. Der punktuellen Hoffnung auf Gott als Rechtsbeistand (17,3) steht die breite Elendsschilderung zur Seite. Dabei gehört zu den schlimmsten Leiderfahrungen Hiobs die verzerrte Wahrnehmung seiner Situation, die ihm die Hoffnung raubt (17,13–15). So enden beide Strophen wie die beiden vorhergehenden in einem Summarium mit dem Ausblick auf den eigenen Tod (17,7 bzw. 17,16). Der Hinweis auf die eigene Vergänglichkeit hat dieselbe Funktion wie in drei bisherigen Reden Hiobs (7,7–21; 10,7–22 und 14,1*.5–22): Gott soll angesichts des Leidens der von ihm geschaffenen Kreatur zum Einlenken bewegt werden. Wie schon in 16,12 und 16,17 steht zu Beginn der neuen Strophe ein Begriff 17,1 des Lebens (rûaḥ). Doch indem Hiob seinen Lebensgeist als vollkommen verstört und sich am Rand des Grabes sieht (vgl. Ps 143,7), kehrt er zur Klage über den bevorstehenden Gang in die Unterwelt zurück. Das wie versprengt in der Mitte des Verses stehende und oft korrigierte Wort jāmaj („meine Tage“) deutet auf allen literarischen Schichten des Hiobbuches die ganze Spannung an, in der sich Hiob seit dem Tag der himmlischen Ratsversammlung (1,6), der Verfluchung seines Geburtstages (3,1), den Klagen über seine dahinschwindenden Lebenstage (7,6; 9,25; 17,11) und dem resignativen Bekenntnis zu den von Gott gesetzten Grenzen seiner Lebenszeit (10,20; 14,1.5–6.14) befindet. Noch einmal nimmt Hiob einen Anlauf, Gott selbst als seinen Rechtsbei- 17,2–3 stand zum Einlenken zu bewegen. Angesichts der Tatsache, dass die menschlichen Tröster versagen, ihm vielmehr als Spötter begegnen und ihn mit ihrem Widerspruch immer tiefer ins Elend treiben (V. 2), kann nur Gott selbst als Bürge seiner Unschuld auftreten (vgl. Ps 119,122; Jes 38,14).105 Erneut ist es das Motiv des Appells gegen Gott zu Gott (16,19), mittels dessen der Dichter zeigt, dass Hiob das Problem seines Leidens nur direkt mit seinem Gott verhandeln und bewältigen kann. Dabei geht die Frage, wer sonst (mî hûʾ) zum Zeichen der Bürgschaft in Hiobs Hand einschlagen würde (V. 3, vgl. Spr 6,1), über die Rede Hiobs zu Gott und vor den Freunden hinaus: Sie richtet sich wie in 9,24 und 13,19 auch an die Leser und zielt auf deren Mitarbeit bei der 104 Vgl. 1Hen 46,1–6; 48,2; 4Esr 13,3–4; Mk 13,26; Apk 1,13; 14,19; siehe dazu K. Koch, Messias und Menschensohn, in: Ders., Von der Wende der Zeiten. Beiträge zur apokalyptischen Literatur. Gesammelte Aufsätze Bd. 3, Neukirchen-Vluyn 1996, 235–266. 105 Zu Charakter, Verpflichtung und Gefahr des Bürgens vgl. Gen 43,9; Spr 6,1–2; Sir 29,1–20 (G).
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Bestimmung des Wesens Gottes und seiner Gerechtigkeit. Die Leser, die bereits den Prolog kennen, erkennen die Berechtigung der Berufung Hiobs auf Gott als Bürgen für seine Frömmigkeit (vgl. 1,8; 2,3). 17,4–5 Der gedankliche Anschluss und die literargeschichtliche Ursprünglichkeit dieser beiden Verse sind nicht ganz klar. V. 4, der offenbar nochmals die Freunde in den Blick nimmt, scheint schon auf die scharfe Kritik, die Gott nach dem Epilog an jenen übt (42,7–9), vorauszuschauen und dementsprechend die von der Buchredaktion geschaffene Verbindung der ursprünglich selbstständigen Dichtung mit der Hiobnovelle vorauszusetzen. In diesem Fall stellt V. 4 einen sehr späten Zusatz dar. Hier unterstreicht der Vers die Angemessenheit der Berufung Hiobs allein auf Gott und kennzeichnet die von den Freunden vorgenommene Einschätzung der Lage Hiobs als einen von Gott selbst bewirkten Mangel an Einsicht. Im Rückblick auf ihre bisherigen Reden erscheinen die Freunde folglich im Gegensatz zu ihrem Selbstanspruch (vgl. 4,12; 15,11) alles andere als von Gott gelehrt. V. 5 wirkt wie eine Sentenz, die möglicherweise einen Menschen beschreibt, der Freunde zu seinen Teilhabern erklärt, während seine Söhne leer ausgehen. Fraglich ist, wie sich diese Sentenz in den Gedankengang einfügt. Nach der chiastischen Anlage der Strophe, in der V. 1 und V. 7 über das Motiv des nahen Todes sowie V. 2 und V. 6 über das Motiv des Spotts miteinander korrespondieren, bilden V. 3 und V. 5 ein zusammengehörendes Spruchpaar. Insofern es in V. 3 in Parallele zu 16,19 um Gott und Hiob geht, liegt es nahe, V. 5 nicht in irgendeiner Weise auf das Verhältnis zwischen Hiob und seinen Freunden zu beziehen,106 sondern in Parallele zu 16,20 auf das Verhältnis zwischen Gott und Hiob.107 Liest man dann V. 5 vor dem Hintergrund der Bezeichnung Gottes als Teil (ḥelæq) der Frommen108 bzw. vor dem Hintergrund der in der Torah gegebenen Zusage, dass Israel der Teil Jhwhs ist (Dtn 32,9), so unterstreicht der Vers die Hinwendung Hiobs zu Gott in V. 3. Der Vers dient damit wie 16,20, mit dem er die Metapher des Freundes (re aʿ ) zur Beschreibung des Verhältnisses von Hiob und Gott teilt, als weiteres Argument für Hiobs Appell an Gott, sich nun doch endlich (wieder) auch als Teil und wahrer Freund Hiobs zu erweisen (vgl. 29,2–4). Die LXX lässt hier in Anlehnung an den Prolog (1,15–19) Hiob über den Verlust seiner Güter und Kinder klagen. 17,6–7 Doch dem Appell folgt unmittelbar der Vorwurf, dass Gott Hiob zum Sprichwort (māšāl) unter den Völkern und zum Gegenstand der Schande gemacht hat.109 Das unmittelbar zuvor angespielte Vertrauensbekenntnis wird damit ad absurdum geführt. Die schon mehrfach in der ursprünglichen Hiobdichtung festgestellte Kritik an der Torah wird erneuert. Der Blick in die Zukunft wird von der Schau auf das gegenwärtige Elend abgelöst. Die Hoffnung ist wieder der Resignation gewichen: Hiobs Auge tränt nicht mehr hoffnungsvoll in Richtung Gott (16,20), sondern ist müde geworden, schwach (kāhāh) wie das Auge Vgl. Weiser; Horst. So mit Fohrer. 108 Vgl. Ps 16,5; 73,26; 119,57; Klgl 3,24. 109 Vgl. Hi 30,1–10; Ps 44,14–15; 69,12–13; Dtn 28,37; Jer 24,9, siehe oben zu Hi 2,7. 106 107
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des sterbenden Isaak (Gen 27,1, vgl. 1Sam 3,2), und wird nichts Gutes mehr sehen (7,7). Hiob gleicht in seiner Existenz einem Schatten (V. 7), ja dem Tod selbst (vgl. 16,16.22; Ps 109,23). Sieht man mit dem Tg in dem Wort topæt/ Tophet I, das nur hier in der hebr. Bibel für Speichel oder Gespei als Zeichen des Abscheus und der Verachtung steht (vgl. Jes 50,6),110 eine Anspielung auf das Wort topæt II, das ursprünglich eine Opferstätte im Hinnomtal bei Jerusalem bezeichnete, die nach spät-dtr. Vorstellung als mit der Jhwh-Verehrung unvereinbar betrachtet wurde (2Kön 23,10; Jer 7,31–32), dann ist der Kontrast zu den Hoffnungsaussagen in V. 3.5 noch schärfer: Hiob ist von Gott zu einem Tophet, zu einem Ort der absoluten Unreinheit gemacht worden (vgl. Jer 19,12–13). In alledem ist Hiob sprichwörtlich und gleichnishaft, seine Existenz ist ein großes Gleichnis (māšāl) für das Wesen Gottes und des Menschen. Die Verse lesen sich wie ein Randkommentar, der die Reaktion eines frühen 17,8–9.10 Lesers auf Hiobs Schicksal erläutert. Der Vierklang der Aufrichtigen in V. 8–9 (jāšār, nāqî, ṣaddîq, ṭāhār) erinnert an die vierfache Qualifikation Hiobs in 1,1.8; 2,3 sowie an die (sekundäre) Kennzeichnung Hiobs als ṣaddîq tāmîm in 12,4. Dieser setzt offenbar die Notiz von der Restitution Hiobs in 42,12 voraus und verteidigt – gegen die Zusätze in den Eliphasreden (4,17–19; 15,14–16) – die Möglichkeit zu menschlicher Gerechtigkeit. Die Verse spiegeln wie entsprechende Sprüche in Prov die grundlegende weisheitliche Einteilung der menschlichen Gesellschaft in Gerechte und Ungerechte, Fromme und Frevler, Weise und Toren wider. Gegen die Annahme, dass Hiob hier eine Position zitiere oder parodiere, wie sie von seinen Freunden vertreten wird (vgl. 18,20),111 spricht, dass die Verse aus dem strophischen Muster der gesamten Rede herausfallen und sich zwischen die gleichmäßig aufgebauten und inhaltlich unmittelbar aufeinander bezogenen Strophen 17,1–7* und 17,11–16 schieben. So dürfte es sich um einen Zusatz handeln, der auf traditionellem Spruchgut basiert und mittels des paronomastisch hervorgehobenen V. 10 (vgl. Spr 1,23) in redaktionell ähnlicher Weise wie die Ergänzung in 12,7–13,2 eingefügt wurde.112 In Verbindung mit der Eröffnung der Rede in 16,3 und dem Zusatz in 17,4 bestreitet Hiob dementsprechend nochmals die Weisheit seiner Freunde (vgl. 12,2; 13,5; 26,2–4 versus 15,2). Was bleibt im Angesicht des Todes? Die Abschlussstrophe der Rede setzt wie die unmittelbar vorangehende Strophe mit einer Klage Hiobs über seine dahingegangene Lebenszeit und seine enttäuschten Lebenspläne ein und endet wie diese mit einer Metapher für den Tod und die Unterwelt (vgl. 17,11 mit 17, 1 und 17,16 mit 17,7). Auch die zwischen diesem Rahmen stehenden Verse der fünften und sechsten Strophe 110 Zum Spucken ins Gesicht als bewusste Verletzung der Ehre vgl. auch Achikar V,8 (TUAT III, 329; TAD C.1 1.133; Weigl, Achikar-Sprüche, 301–309). 111 Vgl. Hartley; Clines; Seow. 112 Vgl. Hölscher; Fohrer; Gray.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
entsprechen einander. Dennoch zeigt sich eine Weiterentwicklung sowohl im Blick auf die vorangehende Strophe als auch im Vergleich mit den bisherigen Reden Hiobs, insbesondere mit seinen Ausführungen zur Scheol in Kap. 14. Erstmals endet innerhalb dieser Dichtung eine Rede mit einer doppelten Frage. 17,11–12 Die aus 7,6, 9,25 und 17,1 bekannte Klage Hiobs über die dahin geeilten Lebenstage (vgl. Ps 39,6–7) wird besonders qualifiziert als Klage über einen durchkreuzten Lebensplan, der hier mit den seltenen Begriffen zîmmāh („Vorhaben“) und môrāš II („Wunsch“) umschrieben wird (V. 11).113 In Hiobs Abschlusswort spielt die Wurzel zmm eine entscheidende Rolle für die Deutung des gesamten Buches (42,2). Hier kennzeichnet sie wie die Wendung der „ausgerissenen Herzenswünsche“ die bis in den Kern der Person reichende Zerstörung Hiobs. Diese wird, wie schon mehrfach in der Hiobdichtung, in Metaphern der Dunkelheit und der Finsternis artikuliert (V. 12). Wer die Nacht zum Tag erklärt, verkennt Hiobs von tiefem Leid geprägte Situation. Er gleicht denen, die das Böse, d.h. das, was dem Leben schadet, gut und das Gute, d.h. das, was lebensdienlich ist, böse nennen, die die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf stellen, die sich selbst für weise halten und dementsprechend unter einem Weheruf stehen, der eigentlich einem Toten gilt (vgl. Jes 5,20–21). So taucht am Ende der Rede nochmals eine indirekte Auseinandersetzung mit Hiobs Freunden auf (vgl. 16,4), insbesondere mit deren Ankündigung, dass Hiob im Fall der Buße ein neues Lebenslicht aufgehe (vgl. 11,17–20).114 Eigentlich stehen die Freunde aufgrund ihrer Reden schon im Bereich des Todes, nicht Hiob. Dass Hiob sich hier offenbar gerade mit dem Schluss der ersten Zopharrede auseinandersetzt, zeigen die folgenden Verse, in denen Wörter des Hoffens und der Hoffnung (qāwāh, tiqwāh) eine zentrale Rolle spielen (vgl. 6,11; 11,18.20).115 17,13–16 In einer sich über vier syntaktisch und stilistisch eng miteinander verknüpfte Bikola erstreckenden Sequenz löst Hiob sich von seinem früheren Wunsch, angesichts seines Leidens vorzeitig gestorben zu sein (vgl. 3,10–26), sowie zudem von seiner bisherigen Vorstellung, er könne in der Scheol vorübergehend vor Gott verborgen sein (vgl. 14,13–22). Die Unterwelt (š eʾôl), so sicher sie als „Haus des Todes“ (vgl. 10,21–22; 30,23; Spr 7,27)116 am Ende seines Lebens steht, kann Hiob kein Ersatz für das Leben sein. Als Gegenstand der Hoffnung fallen die Scheol, das Grab (šaḥat)117 und das Gewürm (rimmāh)118 aus. In einem erneuten Wortspiel mit dem eigenen Namen Hiob („Wo ist der Vater?“)119 verabschiedet Hiob die Vorstellung, dass das Totenreich, das wie in 16,18 die Erde 113 zîmmāh ist nur hier in der hebr. Bibel positiv konnotiert (vgl. dagegen Ps 26,10; 119,150; Spr 24,9; Jes 32,7), môrāš II ist ein hap. leg. Die Annahme von zîmmāh III und môrāš III jeweils im Sinn von „Schnur/Band“ (vgl. DCH) ist jedoch unnötig und rein kontextuell aus dem Gebrauch von ntq „ausreißen“ erschlossen. 114 Vgl. auch die Heilsankündigungen der Freunde in Hi 5,17–26; 8,20–22. 115 Siehe dazu ausführlich die Monographie von Mies, L’espérance, 73–80. 116 Siehe dazu den Exkurs zu Tod, Begräbnis, Totenreich auf S. 124–126. 117 Vgl. Hi 33,18.22.24.28.30; Ps 16,10; 49,10. 118 Vgl. Hi 21,26; Jes 14,11; Sir 7,17; 10,11. 119 Siehe dazu die Einleitung (S. 6) und die Auslegung von Hi 1,1.
Hi 16–17 Die vierte Rede Hiobs
283
personifiziert im Du angesprochen wird, ihm ein Vater sein könne (V. 14). Im Modus der rhetorischen Frage artikuliert er den Wunsch, Gott selbst möge sich endlich als der lebenstiftende Vater (Dtn 32,6) erweisen. Weil Hiobs Hoffnung (tiqwāh), die hier bewusst zweimal im selben Vers genannt wird, untrennbar mit seiner Person verbunden ist, wäre, so die Logik dieser Argumentation, mit Hiobs Tod auch seine Hoffnung tot, und keiner könnte seine Hoffnung mehr wahrnehmen (V. 15). Denn diese steigt (jārad), wie es Hiob in der abschließenden, erneut die Leser einbeziehenden Frage formuliert,120 mit ihm in die Scheol hinab (V. 16, vgl. 20,11) – ohne dass er dort, anders als der Beter von Ps 139,8, mit der Anwesenheit Gottes rechnet. So endet diese Rede wie die bisherigen Reden Hiobs mit einem Ausblick auf den Tod (vgl. 7,9.21; 10,21–22; 14,19–22), doch dahinter leuchtet der Wille zum Leben auf: 13 Ich glaube aber doch, dass ich sehen werde die Güte des Herrn im Lande der Lebendigen. 14 Harre des Herrn! Sei getrost und unverzagt und harre des Herrn! (Ps 27,13–14 LB)
Die vierte Rede Hiobs erweist sich als eine breit angelegte Auseinandersetzung mit der vorangehenden Rede des Eliphas. Hiob hat nun schärfer als bisher den Freunden die Fähigkeit zu trösten abgesprochen und deren Vorwurf abgwiesen, er zerstöre mit seinen Reden die Gottesfurcht. Er hat das Bild des kriegerisch gegen Gott anstürmenden Frevlers vollkommen umgekehrt, insofern er, der sich keiner Schuld bewusst ist, sich von einem kriegerischen Gott zerstört erlebt. Mit seiner hoffnungsvollen Hinwendung zu Gott, von dem er erwartet, noch vor der Todesgrenze bei Gott und den Menschen ins Recht gesetzt zu werden, hat Hiob den bisherigen Redewechsel weitergeführt. Eine direkte Auseinandersetzung mit der sekundär in die zweite Eliphasrede eingefügten Passage 15,11–16 findet nicht statt. Gleichwohl lässt der Gipfelpunkt dieser Hiobrede in 16,17–22 auf der Ebene des ,Endtextes‘ auch das Motiv der kreatürlich bedingten Sündhaftigkeit des Menschen (15,14–16) in neuem Licht erscheinen: Entgegen der Bestreitung menschlicher Möglichkeit, vor Gott rein zu sein (15,14), hält Hiob an der Reinheit seines Gebets fest (16,17). Angesichts der Behauptung, dass Gott weder seinen Engeln vertraue noch der Himmel vor ihm klar sein könne (15,16), verlässt sich Hiob allein auf Gott als seinen Zeugen und Anwalt im Himmel (16,19). Gegenüber der Qualifikation des Menschen als durch und durch verdorben (15,17) betont Hiob die grundsätzliche Beziehung zwischen Gott und Mensch, zwischen Schöpfer und Geschöpf, auch wenn diese in seinem Fall schwer gestört ist und es offen ist, ob sie von der Seite Gottes vor dem Tod Hiobs nochmals geheilt wird.
120 Siehe die Anm. zur Übersetzung und zu einer mit Ja zu beantwortenden rhetorischen Frage Hi 20,4.
284
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Hi 18 Die zweite Rede Bildads HD 18,1 Und Bildad der Schuachiter hob an und sagte1: 2 Wie lange wollt ihr2 den Worten Grenzen3 setzen? Kommt zu Verstand4, und danach lasst uns reden! 3 Warum werden wir für Vieh gehalten, gelten als unrein5 in euren6 Augen? 4 Er zerreißt sich selbst in seinem Zorn. Soll um deinetwillen die Erde verlassen werden und ein Fels von seinem Ort wegrücken? 5 Doch das Licht des Frevlers7 wird erlöschen und die Flamme seines Feuers nicht mehr leuchten. 6 Das Licht verfinstert sich in seinem Zelt, und die Leuchte um ihn herum erlischt.8 7 8
Die Schritte seines Übels9 werden eng werden, und sein eigener Rat wird ihn umwerfen10. Ja, ins Fangnetz ist er entsandt mit seinen Füßen11, und auf einer Fallgrube wird er wandeln.
1 11QTgHi weist zwischen V. 1 und V. 2 eine so große Leerstelle auf, dass möglicherweise ein Wort, z.B. lʾjwb „zu Hiob“, zu ergänzen ist (vgl. DJD XXIII, 91). 2 11QTgHi bietet hier wie LXX und La die 2. P. Sg. 3 Die genaue Bedeutung des Wortes qæneṣ ist unsicher; möglich sind eine Zusammenstellung mit qeṣ „Ende“ (vgl. 11QTgHi: swp; KAHAL; Seow) oder auch mit arab. qanṣ „Jagd“ (vgl. Ges18); DCH bietet dementsprechend ein Lexem qæneṣ I „Falle/Netz“ (vgl. akkad. qinnāzu „Peitsche“) bzw. qæneṣ III „Zaumzeug“. Vielleicht ist einfach qeṣ zu lesen. Zum Gebrauch des st. cstr. vor präpositionalem le siehe G/K § 130 a. 4 Auch hier bietet LXX die 2. P. Sg. 5 So nach ṭmʾ (Nif.). BHK und BHS erwägen eine Ableitung von dem mittelhebr. und aram. Wort ṭmm „verstopfen“ (vgl. Ges18 [Nif.]: „vernagelt sein“), dementsprechend Nõmmik, Freundesreden, 63 („dumm sein“). LXX („wir haben geschwiegen“), in der V. 4 verkürzt erscheint, könnte auf eine Form von dmm verweisen (vgl. Hi 29,21; 31,34), was graphisch möglicherweise durch 11QTgHi (dmjnʾ) bestätigt wird (so J. Gray, 81), doch entspricht dmjnʾ semantisch dem masoret. nḥšb. 6 Auch hier bietet LXX die 2. P. Sg. 7 Im Folgenden ist durchgehend im Sg. vom Frevler die Rede; daher ist wohl anstelle von r ešāʿîm „die Frevler“ (Weiser) wie in Hi 15,20 rāšāʿ zu lesen (vgl. Vg). 8 Gegen Bobzin, Tempora, 255f und Nõmmik, Freundesreden, 61; 63, die V. 6–20 präterital verstehen (vgl. auch Kaiser), handelt es sich durchgehend um sentenzenhafte Feststellungen bzw. Erwartungen, die in LXX dann überwiegend als Wunsch formuliert werden. 9 So nach ʾāwæn (vgl. Hi 4,8; 5,6; 15,35; 18,12; 21,19; 31,3; 34,8.22.36); möglich wäre auch eine Übersetzung nach ʾôn „Kraft“: „seine kräftigen Schritte“ (vgl. Hi 40,16; Weiser); doch vgl. dazu V. 12 und die Auslegung. 10 LXX setzt offenbar die Lesart takšilehû „lässt ihn straucheln“ voraus, was möglicherweise ursprünglich ist (vgl. Spr 4,12; Ps 64,9) – falls es sich nicht, wie häufiger in HiLXX, um eine Buchstabenmetathese handelt. 11 Nach BHS steht der Ausdruck b eraglâw hier (und in Num 20,19; Dtn 2,28; Ri 5,15) für „auf dem Fuß/sofort“. Angesichts der Metaphorik von V. 7–11 kann bei der wörtlichen Bedeutung geblieben werden.
Hi 18 Die zweite Rede Bildads
9 10 11
Das Klappnetz wird (ihn) an der Ferse halten, Fangstricke werden ihn umfesseln12. Sein Fangseil ist in der Erde versteckt, und um den Pfad herum liegt seine Schlinge. Ringsherum überfallen ihn Schrecken und hetzen ihn auf seinen Füßen.
12 13 14 15 16
Siehe: Hungrig13 ist sein Übel, und Unheil ist bereitet für seinen Fall. Seine Haut wird durch Krankheit gefressen14, seine Glieder wird die Erstgeburt des Todes fressen. Er wird herausgezogen aus seinem sicheren Zelt15, und man16 lässt ihn zum König der Schrecken schreiten. Eine Flut (?)17 wird in seinem Zelt wohnen, Schwefel ist um seine Wohnung ausgestreut18. Von unten werden seine Wurzeln trocken, und von oben wird sein Zweigwerk welken.
17
Das Andenken an ihn geht zugrunde im Land, und er hat keinen Namen mehr draußen auf der Straße.19
285
12 Anstelle von jaḥ azeq „sie (die Fangstricke) mögen umfesseln“ lies mit einigen Hss jaḥ aziq (vgl. die Anm. zu Hi 15,33). 13 Anstelle von j ehî rāʿeb „es sei hungrig“ lies hinneh rāʿab (ähnlich BHK: jirʿab … lô: „hungrig wird sein … nach ihm“); anders BHS, die vorschlägt b eʾônô zu lesen, was Nõmmik, Freundesreden, 64 („in seiner Kraft“), für ursprünglich hält (vgl. CTAT 50/5, 141, ohne Änderung des MT: „Sa force sera famélique“); der Parallelismus mit ʾêd spricht aber dafür, ʾônô auch hier von ʾāwæn „Übel/ Frevel“ abzuleiten. Zur Diskussion siehe auch Seow, der selbst nach LXX; Vg und Syr j ehî rāʿāb liest: „hunger has become his misfortune“). 14 Anstelle von jôʾkal baddê „fressen wird die Glieder“ lies jeʾākel bidwaj (von dewaj „Krankheit“, vgl. Hi 6,7; Ps 41,4). Will man beim MT bleiben, muss man ʿôr „Haut“ als Bezeichnung für den ganzen Körper und als Genetiv zu baddê verstehen („die Glieder seines Körpers“) sowie den in V. b genannten „Erstgeborenen des Todes“ als Subjekt des zweifachen jôʾkal annehmen (vgl. CTAT 50/5, 143; Weiser). 15 Wörtl.: „aus seinem Zelt, seiner Sicherheit“. 16 taṣʿidehû ist, sei es, dass man es als 3. P. Sg. fem. versteht, sei es, dass man es 2. P. Sg. mask. auflöst, unpersönlich (vgl. G/K § 144b.h). 17 Die Lesart mibb elî loʾ „ohne für ihn/ohne, dass es ihm gehört“ (danach Weiser: „ihm Fremdes“; ähnlich Hartley und Seow: „nichts von ihm“) ist kaum ursprünglich. Hierzu existieren zahlreiche Emendationsvorschläge. Am nächsten beim MT bleibt der Änderungsvorschlag von Nõmmik, Freundesreden, 64: loʾ lô „nichts“ (vgl. Hab 2,6). BHK erwägt b elijjaʿal „Bosheit/Verderber“ und dann am Versbeginn jiškôn oder lîlît (Lilit, vgl. Jes 34,14; Hölscher; Kaiser; Greenstein); BHS mabbel „Feuer“ (vgl. akkad. nablu; ug. nblu; DCH; ähnlich Gordis: mabbûl „Flut“, was vielleicht am treffendsten ist, vgl. Hi 20,28). Die Auflösung von tiškôn als 2. P. (mit Bezug auf Hiob, der im Zelt des enteigneten Frevlers wohnen wird), wie dies CTAT 50/5, 149 vorschlägt, ist kontextuell kaum passend, da Hiob in den Ausführungen über das Schicksal der Frevler in V. 5– 21 nicht direkt angesprochen wird. 18 Zum resultativen Gebrauch des Impf. im Pual siehe Waltke/O’Connor § 25.3a. 19 Zum faktischen Verständnis von V. 17 vgl. Michel, Syntax, II § 176.
286 18 19 20 21
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Man20 wird ihn aus dem Licht in die Finsternis stoßen, und von der bewohnten Erde wird man ihn verjagen.21 Keinen Spross und Sprössling wird er in seiner Sippe haben und keinen Entronnenen mehr an seinem Aufenthaltsort. Vor seinem Tag werden die Nachfahren22 sich entsetzen, und die Vorfahren werden vom Schauder gepackt23. Gewiss, dies sind die Wohnungen dessen, der Unrecht tut, und dies der Ort dessen, der El nicht kennt.
Literatur Nõmmik, U.: Die Freundesreden des ursprünglichen Hiobdialogs. Eine form- und traditionsgeschichtliche Studie, BZAW 410, Berlin/New York 2010. – Riede, P.: „Ein Spinnenhaus ist sein Vertrauen“ (Hi 8,14): Tiere in der Bildsprache der Hiobdialoge. Teil II: Der Frevler und sein Geschick, in: Ders., Im Spiegel der Tiere. Studien zum Verhältnis von Mensch und Tier im alten Israel, OBO 187, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 2002, 133–152.
Aufbau und Sprachformen
Die zweite Bildadrede besteht aus vier Strophen zu je fünf Bikola (V. 2–6|7–11| 12–16|17–21). Sie ähnelt stilistisch stark der ersten Rede Bildads in Kap. 8. Nach rhetorischen Einleitungsfragen an die Freunde und nach der Anrede eines offenbar schweigend anwesenden Publikums (V. 2–3), einer spöttischen Abweisung Hiobs (V. 4) und der These vom Vergehen der Frevler (r ešāʿîm, V. 5–6, vgl. 15,20–35; 20,5–29) folgt ein dreigliedriger Hauptteil. Dieser beschreibt zunächst in zwei Strophen (V. 7–11|12–16), die jeweils mit dem Leitwort ʾāwæn („Frevel“) eröffnet werden (V. 7 bzw. V. 12),24 metaphorisch das grauenvolle Schicksal des Frevlers. Das Redekorpus gipfelt in einer Abschlussstrophe (V. 17–21), die mit der Licht-Finsternis-Metaphorik auf die Ausgangsthese (V. 5–6) hinsichtlich der Vernichtung des Frevlers zurückgreift (V. 18) und die wie die Rede in 8,20–22 mit einem summary appraisal endet (21). Gegenüber der ersten Rede Bildads in Kap. 8, die als eine doppelte Ringkomposition gestaltet ist (Anrede – These – Explikation – These – Anrede), besitzt die zweite Rede einen asymmetrischen Aufbau. So erfolgt wie bei der zweiten Eliphasrede in Kap. 15 keine Schlussanrede Hiobs (Anrede – These – Explikation – These – Summarium ohne Anrede). Die Sprachformen der Rede stammen wie die der zweiten Eliphasrede aus dem Streitgespräch der Weisen und der Spruchweisheit. Dabei handelt es sich in V. 6–20 um eine aus Senten20 Zum unpersönlichen Gebrauch der 3. P. Pl. vgl. Hi 34,20 (doch siehe die dortige Anm. zum Text); J/M § 155b. Dagegen bleibt Clines beim genuinen Gebrauch der 3. P. Pl. und vermutet Todesdämonen als Subjekt (vgl. V. 11–13). 21 Das Kolon ist im MT kolometrisch zu kurz; BHK schlägt vor, ʾ ælô ah „Eloah/Gott“ zu ergänzen; dagegen spricht, dass in der gesamten zweiten Bildadrede nur einmal ausdrücklich eine Gottesbezeichnung, und zwar als letztes Wort der Rede, in V. 21 erscheint. 22 ʾaḥ aronîm kann wie qadmonîm in V. 20b sowohl zeitlich (so mit LXX; Vg; Budde; Gordis; vgl. Pred 1,1; 4,16; Jes 43,18; Ps 78,5.46; 102,19) als auch lokal „die im Westen, die im Osten“ verstanden werden; zu einem örtlichen Verständnis siehe u.a. Weiser; Fohrer; Hartley; Clines; J. Gray; Seow; Greenstein. 23 Wörtl.: „sie packen das Schaudern“. 24 Aus diesem Grund sollte auch nicht, wie dies häufig geschieht, in V. 7 ʾônô von ʾôn („Kraft“) abgeleitet werden (siehe die Anm. zur Übersetzung).
Hi 18 Die zweite Rede Bildads
287
zen, die überwiegend gnomisch zu verstehen sind, gebildete poetische Lehrrede, nicht um eine im Vergangenheitstempus gestaltete Lehrerzählung.25 Die Bildund Motivwelt weist insbesondere in V. 15–19 analog zur Beschreibung des Schicksals des Frevlers in Hi 15 viele Parallelen zu Dtn 28, zu prophetischen Unheilsbeschreibungen und zu Nichtigkeitsflüchen altorientalischer Verträge auf.26 Einzelne Motive in der Beschreibung des Schicksals des Frevlers erinnern an Elemente im Chaoskampfmythos, ohne dass dieser wirklich strukturgebend für die Passage in V. 5–20 ist.27 In 11QTgHi sind fragmentarisch Äquivalente zu V. 1–4 erhalten. In V. 2 fin- Text- und det sich eine Variante zum MT, die auch von der LXX geboten wird.28 Im OG Literarfehlen V. 9b–10.15–16.17b. In V. 9 komprimiert der OG das Bikolon der Vor- geschichte lage auf einen Stichos, so dass der im ‚kirchlichen Text‘ der LXX aus Th nachgetragene V. 9b eine Doppelübersetzung darstellt. Dabei hat Th anstelle des hap. leg. ṣammîm („Fangstricke“) wohl ṣ emêm (= ṣ emeʾîm, „Dürstige“) gelesen.29 In V. 17–18 bietet die LXX gegenüber den zwei Bikola im MT nur ein Bikolon mit Entsprechungen zu V. 17aMT und V. 18MT. Der aus Th stammende V. 17b entspricht im Wesentlichen V. 17bMT. In V. 19 weist die LXX ein drittes Kolon auf, das kein direktes Gegenüber im MT hat, aber dem masoret. V. 15a entspricht, der im ‚kirchlichen Text‘ der LXX aus Th stammt. Die Rede ist literarisch einheitlich. Lediglich der Versteil 4aα, der in Spannung zur direkten Anrede Hiobs in der 2. P. Sg. in V. 4aβ steht und der den Vers einmalig in Kap. 18 als ein Trikolon erscheinen lässt, dürfte eine in den Text geratene Randglosse sein.30 Abweisung Hiobs und These von der Vergeltung
18,1–6
18,1 S.o. zu Hi 8,1. Wie Kap. 8 beginnt Kap. 18 mit einer Frage nach der Dauer des Redens 18,2–3 bzw. Schweigens, die formal aus dem Streitgespräch der Weisen stammt (vgl. 8,2).31 Dabei weist V. 2a eine kolometrische Überlänge auf, die entweder stilistisch bedingt ist, insofern die einleitende Fragepartikel ʿad-ʾānāh (vgl. 8,2; 19,2) als Anakrusis außerhalb des eigentlichen metrischen Schemas steht,32 oder textgeschichtliche Gründe hat, insofern das Wort lemillîn („den Worten“)
Gegen Bobzin, Tempora, 260, und im Anschluss an diesen Kaiser, 35f. Vgl. z.B. VTE §§ 62–67; 82; 101 (TUAT I, 173–176). 27 In diesem Sinn aber Fuchs, Mythos, 108–114. 28 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 29 Vgl. Beer, Text, 113; siehe dazu auch die Anm. zur Übersetzung von Hi 5,5. 30 Dagegen betrachtet de Wilde, 201, V. 4bβ wegen der Parallele zu Hi 14,18 als Glosse. Watson, Poetry, 181, beurteilt Hi 18,4 (wie auch 10,1) als ein Trikolon nach dem Muster A–B–B’. 31 Zu diesem Redeauftakt vgl. auch BT 5–6.34 (TUAT III, 146.148). 32 So Watson, Poetry, 374. 25 26
288
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
ein erklärender Zusatz zu dem philologisch umstrittenen Wort qeneṣ ist.33 Die merkwürdige pluralische Anrede des Gegenübers von Bildad, die angesichts der Eröffnung der ersten Bildadrede (8,2) und der singularischen Lesart in 11QTgHi und in der LXX häufig als sekundär angesehen wird,34 deutet darauf hin, dass die ursprüngliche Hiobdichtung, die erst redaktionell in den narrativen Rahmen eines offenbar nur zwischen Hiob und seinen Freunden außerhalb der Stadt stattfindenden einsamen Gesprächs eingefügt wurde, mit einem schweigend anwesenden Publikum rechnet. Auch die (später eingefügten) Elihureden setzen einen solchen Kreis schweigender Zuhörer voraus. Aus diesem wird in Kap. 32 Elihu das Wort ergreifen. Zugleich lassen sich V. 2–3 als Versuch des Dichters verstehen, die Hörer bzw. Leser mit in die Dichtung hineinzunehmen und diese selbst Stellung zu den von Hiob und seinen Freunden vertretenen Positionen beziehen zu lassen. Dies erfordert von allen am Dialog unmittelbar und mittelbar beteiligten Personen die Fähigkeit zum klaren Unterscheiden, so die Grundbedeutung des vor allem in der Weisheit gebrauchten Begriffs bîn („einsichtig sein/verstehen“)35. Dabei erlebt sich Bildad als bisher von Hiob (und dem das Gespräch stumm verfolgenden Publikum) missverstanden. Im Gegenüber des von Bildad gebrauchten Fragepronomens maddûaʿ („warum“) und dem von Hiob in seinen Klagen gebrauchten Fragepronomen lāmmāh („wozu“) spiegelt sich die Spannung der scheiternden Kommunikation der Gesprächspartner. Während Hiob im Modus der Klage vorausblickend nach dem Ziel seines Leidens fragt,36 sucht Bildad in Gestalt der weisheitlichen Reflexion rückschauend nach dem Grund für die Missachtung seiner eigenen Argumente sowie derjenigen seiner Freunde.37 Der in der Weisheit beliebte Vergleich mit dem Vieh signalisiert fehlende Rationalität (vgl. 35,11; Ps 49,21; 73,22). Weisheit gilt hier als ein Kennzeichen wahren Menschseins (vgl. SapSal 9,6). Die mit einem ursprünglich in der Sprache des Kultes beheimateten Begriff formulierte Einschätzung, „unrein zu sein“ (ṭāmāʾ),38 markiert mangelnde Sozialität. Wie bestimmte Handlungen oder körperliche Dispositionen nach atl. Verständnis vorübergehend, in einzelnen schwerwiegenden Fällen auch dauerhaft aus der kultischen und aus der sozialen Gemeinschaft ausschließen (vgl. Lev 13), so erlebt sich Bildad mit seinen Freunden hier von Hiob und den am Dialog Teilnehmenden als asozial eingestuft. Damit reagiert Bildad auf den Vorwurf Hiobs, die Freunde seien unfähige Tröster (vgl. 16,2; 17,11; verstärkt in den sekundären Versen 17,4.8–10), und unterstreicht den eigenen Anspruch, weise und mit Hiob solidarisch zu sein. Siehe die Anm. zur Übersetzung sowie LXX („wie lange wirst du nicht aufhören?“, also: „wann endlich …?“); zur Wendung śîm qeṣ („ein Ende machen“) vgl. Hi 28,3. 34 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 35 Vgl. Hi 6,30; 14,21; 28,23; 31,1; 32,8.9.12; 34,16; 36,29; Spr 1,2.6; 14,8 (H.H. Schmid, Art. bīn verstehen, THAT I [62004] 305–308). 36 Vgl. Hi 3,11.20; 7,20; 9,29; 10,18; 13,24; 19,22; 30,2 – eine Ausnahme bildet Hi 3,12. 37 Vgl. Hi 33,13 und innerhalb der Hiobreden in 21,4.7 und 24,1, die stärker argumentativen als klagenden Charakter haben. 38 Siehe die Anm. zur Übersetzung; vgl. aber auch Spr 16,5LXX. 33
Hi 18 Die zweite Rede Bildads
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Auf die Redeeröffnung folgt wie in Kap. 8 eine direkte Anrede und Anklage 18,4 Hiobs in der 2. P. Sg. (V. 4aβ.b, vgl. 8,2–7). Dabei spielt das ironische Bild von der sich um Hiobs willen entvölkernden Erde und dem von seinem Platz rückenden Felsen (14,18) wohl auf Hiobs Wunsch an, die Erde möge sein Blut nicht bedecken (16,18). Hiobs Situation ist für Bildad kein Grund, die festgefügte Weltordnung in Zweifel zu ziehen. Erkennt man in der Verwendung des Wortes „Fels“ (ṣûr) zugleich eine Anspielung auf das entsprechende Epitheton Jhwhs,39 dann beurteilt Bildad den Ruf Hiobs nach dem göttlichen Anwalt und Bürgen im Himmel (16,19–10) als den manipulativen Versuch, Gott von seinem Ort wegzubewegen. Mittels des sekundär in den Fließtext geratenen Randkommentares in V. 4aα erscheint Hiob als einer, der sich selbst in seinem Zorn zerreißt. Damit ist die Erfahrung Hiobs, der sich vom Zorn Gottes zerrissen erlebt (16,9), umgekehrt und gegen Hiob gewendet (vgl. 5,2 sowie den sekundären Vers 15,13). Ebenso greift die These vom verlöschenden Licht der Frevler bei aller Senten- 18,5–6 zenhaftigkeit40 auf zuvor geäußerte Worte Hiobs zurück (vgl. 17,12–13). Steht das Licht, von dem hier betont viermal die Rede ist, für das Leben (vgl. 3,20; 33,30; Pred 11,7), so die Finsternis für den Tod. Wenn Hiob die Erfahrung der Finsternis macht, dann kann dies für Bildad nur ein Zeugnis für Gottlosigkeit sein (vgl. 22,11). Wie in Kap. 8 ist das Hauptargument Bildads die Funktionsfähigkeit der Vergeltung. Das Schicksal des Frevlers
18,7–21
Hatte Bildad in seiner ersten Rede die These vom empirisch nachweisbaren gerechten Handeln Gottes nach beiden Seiten („Lohn“ – „Strafe“) ausgeführt, so entfaltet er dieses jetzt – wie Eliphas in seiner zweiten Rede – nur (noch) hinsichtlich der Bestrafung. Wie in Kap. 15 zielt die poetische Lehrrede über das Schicksal der Frevler auf eine indirekte Gleichsetzung Hiobs mit einem solchen. Während der Dichter in Kap. 8 Bildad die Kurzlebigkeit und Unsicherheit 18,7–11 des Glücks des Frevlers mit ausgewählten Pflanzenbildern beschreiben lässt, legt er ihm hier, sprachlich nicht weniger anspruchsvoll, Bilder aus dem Jagdleben in den Mund. Aufgrund seines eigenen Frevels (ʾāwæn) ist der Frevler wie ein gejagtes Tier bedroht. Die gesamte Strophe wird von der Symbolik und von Begriffen des Gehens durchzogen und gerahmt (V. 7: „Schritte“; V. 11: „Füße“). So wird augenfällig, wie der Frevler den festen Boden unter den Füßen verliert und sich in seinen eigenen Fallen verfängt.41
39 Vgl. Dtn 32,4.15.18.30–31.37; Ps 18,32; 19,15; 27,5; 28,1; 62,3.7; 78,35; 92,16; 144,1; Hab 1,12; Jes 44,8. 40 Vgl. Spr 13,9; 24,20; Hi 21,17; 38,15. 41 Vgl. Ps 9,16; 35,8; 57,7; 140,11; 141,10; siehe dazu auch die Strafankündigungen für einen Ehebrecher im großen Šamaš-Hymnus 90–94 (TUAT.NF VII, 69).
290
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
18,7
Der lautmalerisch besonders hervorgehobene V. 7 betont, dass der Frevler für seinen Fall selbst verantwortlich ist, insofern ihn seine eigenen frevelhaften Schritte immer enger umkreisen (vgl. Spr 5,5 im Kontrast zu Spr 3,23; 4,12; Ps 18,37) und er durch seinen eigenen Rat zu Fall kommt (vgl. Hi 5,13; 10,3; 21,16; 22,18). Mit dem Begriff des Rates (ʿeṣāh) kommt zugleich ein Leitwort des gesamten Buches ins Spiel, mittels dessen menschliches Planen und göttlicher Ratschluss kontrastiert werden (vgl. 38,2 und sekundär 12,13 versus 5,13). Im Gegensatz dazu wird Hiob in seinen späteren Unschuldsbekenntnissen ausdrücklich auf die Wertschätzung seines Rates und die Integrität seiner Schritte verweisen (vgl. 29,21 bzw. 31,4.37), in der Hoffnung, dass Gott selbst diese richtig einschätzen werde (vgl. 14,16; 34,21). 18,8–10 Zur Ausmalung des gehetzten Schicksals des Frevlers gebraucht Bildad Bilder, die auch sonst in weisheitlichen Sentenzen und prophetischen Gerichtsaussagen sowie in Klage- und Bittgebeten Verfolgter auftauchen.42 Ihren realen Hintergrund haben sie in der Jagd. „ræšæt ist ein Netz für die Jagd auf Vögel, Klein- und Großwild (Ez 19,8; 32,3; Hos 7,12; Spr 1,17). Es wird auf der Erde ausgespannt (pāraś) und zugezogen, sobald sich ein Tier darin verfangen hat. ś ebākāh dagegen steht für ein weitmaschiges Flechtwerk aus Baumästen, das wahrscheinlich ebenfalls beim Vogelfang eingesetzt wurde. paḥ wiederum bezeichnet ein Klappnetz für die Vogeljagd, das aus zwei gebogenen Rahmen, die jeweils mit einem Netz versehen sind, bestand. Die beiden Hälften schossen in die Höhe und klappten zu, sobald sich ein Vogel auf das am Boden liegende Netz setzte (Ps 124,7; Am 3,5). Das Hapaxlegomenon ṣammîm steht für eine Schlinge, in der ein Tier hängenbleibt (vgl. 2Sam 18,9). ḥæbæl bezeichnet ein Seil, das mit einer Schlinge versehen war. Ging ein Tier darüber, so zog der Jäger an dem Seil und das Tier verfing sich in der Schlinge (Ps 18,6; Spr 5,22). malkodæt ist vermutlich ebenfalls eine Schlinge, die versteckt am Boden angebracht war.“43
18,11 Diese Strophe schließt summarisch mit einem Bild der den Frevler plötzlich überfallenden Schrecken (ballāhôt). Damit ist einerseits Hiobs Erfahrung des plötzlichen Überfalls Gottes auf ihn karikiert (vgl. 9,34; 13,21; 30,15), andererseits eine Brücke zur nächsten Strophe geschlagen (V. 14). 18,12–16 Auch die folgenden Bilder der ständigen Unruhe, in die der Frevler gestürzt wird, und des Todes, der ihn umgibt, sind einerseits typisch für weisheitliche Beschreibungen des Untergangs der Frevler (vgl. 15,23–24), andererseits indirekte Identifikationen des gehetzten und tödlich gezeichneten Hiobs, der sich selbst in freiem Fall (ṣælaʿ) erlebt (V. 12, vgl. Ps 35,15; 38,18; Jer 20,10). 18,13–15 Angesichts der Klage Hiobs über seine zerfließende Haut (7,5, vgl. 2,7–8) und über seine Todesnähe (zuletzt in 17,13–16) wirkt Bildads Ankündigung, der Frevler werde von Krankheit und Tod verzehrt, zynisch. Kündigte Eliphas in seiner ersten Rede gegenüber Hiob noch an, dass dieser künftig (wieder) sicher in seinem Zelt wohnen werde (5,24), so wird der Leidende nun mit der 42 Vgl. Ps 9,16; Jes 24,18; Ez 17,20; Hos 7,12; Lehre d. Amunnacht 45–48 (TUAT.NF VIII, 315) bzw. Ps 35,7–8; 57,7; 140,6. 43 Riede, Spiegel, 141 (im Original sind die in Umschrift gebotenen Wörter in Quadratschrift gesetzt).
Hi 18 Die zweite Rede Bildads
291
endgültigen Vertreibung des Frevlers aus seinem Heim konfrontiert (V. 14, vgl. 8,14; Ps 52,7; 69,26). Vor dem narrativen Hintergrund, dass der erkrankte Hiob mitten im Staub sitzt (vgl. 2,8), kann dieser die negative Verheißung Bildads nur als Spiegel seiner eigenen Situation verstehen: Er, Hiob, der an Gott festhält, ist aus seinem Zelt vertrieben. Die Spitze der Umkehrung der vorangegangen Klagen Hiobs ist die Ansage, der Frevler werde dem „Erstgeborenen des Todes“ und dem „König der Schrecken“ (mælæk ballāhôt) übergeben (V. 13–14, vgl. 17,14–16). Der Hoffnung Hiobs auf den „Anwalt im Himmel“ (16,19) stellt Bildad die Auslieferung an den Herrscher der Unterwelt gegenüber. Erneut greift der Dichter auf den Schatz alter vorderorientalischer Mythologie zurück, die hier wie im gesamten Buch im Dienst der Poesie steht und der Vorstellung von dem einen und einzigen Gott untergeordnet ist.44 Die LXX hingegen entmythisiert die poetischen Personifikationen des Todes, indem sie anstelle des „Erstgeborenen des Todes“ einfach vom Tod (θάνατος) spricht, aus der Wendung mælæk ballāhôt das Wort ballāhôt mit ἀνάγκη („Not/Zwang“) übersetzt und zum Subjekt des Satzes macht sowie mælæk zu αἰτίᾳ βασιλικῇ paraphrasiert („Not möge ihn packen mit einer königlichen Anklage“). Sofern in V. 15a anstelle von mibbelî-lô tatsächlich lîlît („Lilith“) zu lesen ist, spiegelt auch dieser Vers den Rekurs des Dichters auf den Mythos wider. Im AT nur in Jes 34,14 zur Bezeichnung eines Dämons, der sich an einer verlassenen Stätte niederlässt (vgl. Jes 13,21–22), belegt und volksetymologisch mit dem Wort lajil („Nacht“) in Verbindung gebracht, handelt es sich bei lîlît (abgeleitet von akkad. lilītu) um eine assyrisch-babylonische Bezeichnung für eine Dämonin, die einerseits einen Bezug zum Sturm hat, andererseits, ähnlich wie die Dämonin lamaštu/lamassu, schwangere Frauen gefährdet und Neugeborene tötet. In nachbiblischen jüdischen und christlichen Texten, insbesondere in Texten magischen Charakters, lebt Lilith in unterschiedlicher Gestalt als gefährliche Dämonin fort.45 Sollte in V. 15a hingegen mabbûl („Flut“) oder ein vergleichbares Wort zu lesen sein, bezöge sich dieses Bild auf die restlose Vernichtung des Frevlers mittels des Hereinbrechens der kosmischen Wasser, womit das Schicksal des Frevlers gleichsam in mythischen Farben geschildert und in die Dimensionen des urgeschichtlichen Sintflutgerichts gestellt würde. 46 Für diese Lesart spricht das im zweiten Kolon von V. 15 gebrauchte Bild der Verwüstung durch Schwefel (gåprît), das einerseits an die urgeschichtliche Parallelerzählung zur Sintflut, die Vernichtung Sodoms und Gomorrhas, erinnert (vgl. Gen 19,24; Zur poetischen Personifikation des Todes vgl. Hi 28,22; 49,15; Jes 5,14; 14,9; 28,15; Jer 9,20 und dazu Alonso Schökel, Manual, 125, sowie den Exkurs zu Hi 3 (S. 124–126) mit Hinweisen zu Parallelen im Alten Orient (insbesondere zum ug. Gott Mot und zum mesopotamischen Gott Nergal) und in der klassischen Antike. Zu Hi 18,11–14 siehe auch Fuchs, Mythos, 110–113, die b ekôr „Erstgeborener“ mit appositionellem mot („der Erstgeborene, Mot/der Tod“) als Hoheitstitel des Gottes der Unterwelt versteht. 45 M. Hutter, Art. „Lilith“, DDD (21999) 520f; zum Fortleben vgl. A. Jacoby, Art. „Lilith“, HWDA 5 (1993, Nachdr. 2000) 1302–1304. 46 Vgl. Gen 6,17; 7,6; 7,10.17; Hi 22,15–16. 44
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18,16
18,17–21 18,17
18,18
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Dtn 29,22; Lk 17,29), andererseits zum Repertoire prophetischer und weisheitlicher Gerichtsaussagen gehört.47 Im Hintergrund steht das Wissen, dass sich ein zu hoher Schwefelgehalt im Boden negativ auf die Vegetation auswirkt. 48 Das Ergebnis des verheerenden Gerichts über den Frevler ist, dass seine Existenz von Grund auf zerstört ist. In Gestalt eines aus der Pflanzenwelt gewonnenen Bildwortes, das sprichwörtlich Wurzeln und Krone eines Baumes umschreibt,49 skizziert das Summarium der Strophe den Untergang des Frevlers in einem dessen Herkunft und Zukunft umfassenden Ausmaß (vgl. 8,11–17; 15,32; 24,24; Ps 37,2).50 Erneut ist die Sentenz auf die Klagen Hiobs, die sich pflanzlicher Metaphorik bedienen, hin durchlässig (vgl. 14,2; 29,19). In Weiterführung des Bildes vom Vertrocknen der Zweige (qāṣîr II) bzw. des Ertrags (qāṣîr I) liegt der Schwerpunkt der Schlussstrophe auf der Ausmalung des postmortalen Geschicks des Frevlers. Mit der Auslöschung der Erinnerung (zekær) an den Frevler endet dessen Existenz nun vollkommen,51 die nach einer im Alten Orient verbreiteten und vom Hiobdichter geteilten Überzeugung zumindest so lange noch den Tod überdauert, wie es Menschen gibt, die des Toten gedenken (zākar, vgl. Jes 26,14). Der Verlust des Namens kommt dem Verlust des Personseins gleich. In der Erinnerung zu bleiben, gilt als Hoffnung und als Kennzeichen des Gerechten (vgl. Ps 112,6; Sir 44,9), wie umkehrt das Vergessenwerden als Schicksal und Merkmal des Frevlers verstanden wird (vgl. Spr 10,7; Sir 46,11; 49,1). Sofern auch diese Erwartung indirekt auf Hiob zielt, muss sich für Bildad und seine Freunde am Ende zeigen, ob Hiobs Name (šem) bleiben wird. Für die Leser, zumal wenn sie von Hi 1,1 herkommen,52 ist jetzt schon klar, dass die Erinnerung an Hiob nicht verblassen wird. Mit der Ankündigung, der Frevler werde aus dem Licht in die Finsternis gestoßen, kehrt Bildad zu seiner Eingangsthese zurück (vgl. V. 5–6). Wenn der Frevler aus der Gemeinschaft der den Erdkreis (tebel)53 bewohnenden Menschheit vertrieben wird, so erleidet er gewissermaßen das Schicksal des prototypischen Brudermörders Kain (vgl. Gen 4,11–16). Während der MT hier unpersönlich (3. P. Pl.) von der Bestrafung des Frevlers spricht, ist in der LXX, welche die 3. P. Sg. liest, „Gott“ das implizite Subjekt des Gerichtshandelns (vgl. HiLXX 20,23; 27,23; Jes 22,19; Nah 1,8). Vgl. Jes 30,33; 34,9; Ez 38,22; Ps 11,6; Apk 14,10. Zur Verwendung von Schwefel im Alten Orient siehe M. Weippert, Art. „Schwefel“, BRL2 (1977) 292. 49 Vgl. Am 2,9; Mal 3,19 sowie in positiver Wendung Jes 37,31 par. 2Kön 19,30. 50 Zur Verwendung dieses Motivs in prophetischen Gerichtsworten vgl. Am 2,9 sowie in Fluchwünschen gegen Grabräuber vgl. die phön. Inschrift d. Eschmunazar 11–12 (um 450 v.Chr., KAI 14; TUAT II, 590–592). 51 Vgl. Ex 17,14; Dtn 25,19; 32,26; Ps 9,7; 34,17; 109,15; Sir 10,17; 4Q219 II,27/4Q221 frgm. 1,4 (vgl. Jub 21,22); VTE § 67 (TUAT I, 173). 52 Hi 1,1 ist neben 1,21; 18,17; 30,8 und 42,14 der einzige und zugleich programmatische Beleg für das Nomen šem („Name“) im Hiobbuch. 53 Vgl. Hi 34,13; 37,12; Ps 24,1; 98,7; Jes 18,3; 34,1; Klgl 4,12. 47 48
Hi 18 Die zweite Rede Bildads
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Die Vernichtung des Frevlers wird als so total angenommen, dass seine 18,19 gesamte Familie und damit seine gesamte Zukunft ausgelöscht sein werden. Der Frevler erlebt an sich selbst die vollständige Umkehrung dessen, was im AT und im Alten Orient Segen ausmacht (vgl. Gen 12,2; 26,24; Ps 128) und was als Erweis der Gnade Gottes gilt (vgl. Sir 47,22): eine zahlreiche Nachkommenschaft, die zur Zeit des Lebens die wirtschaftliche Basis der Eltern darstellt und nach deren Tod das Weiterleben der Familie und damit das bleibende Gedenken an die Verstorbenen sichert. Auch hier ist durch die redaktionelle Zusammenstellung von Novelle und Dichtung die Ankündigung Bildads vor dem Hintergrund des im Prolog erzählten Todes der Kinder Hiobs radikalisiert (vgl. 1,19; 8,4). Für den Hiob, der bereits den Tod seiner Kinder zu beklagen hat, kann die Aussicht, dass der Frevler keinen „Spross und Sprössling“ mehr haben wird (vgl. Jes 14,22), nur als Verhöhnung seiner Situation und als völlig gescheiterter Versuch erscheinen, aus seinem Schicksal zu folgern, er müsse sich gegen Gott verfehlt haben und ein rāšāʿ sein. Die Dimension des Untergangs des Frevler nimmt noch größere Ausmaße an: 18,20 Sowohl frühere, d.h. schon verstorbene und jetzt in der Unterwelt befindliche (vgl. Jes 14,9.16), als auch spätere Generationen werden vor dem Gerichtstag (jôm) an dem Frevler erschaudern.54 Im Rückblick auf den Eingangsfluch Hiobs in Kap. 3 über seinen Tag (jôm) zeigt sich erneut die Doppeldeutigkeit der Worte Bildads: Angesichts des Tages Hiobs (vgl. 1,6; 2,1; 3,1) packt tatsächlich alle Welt das Grauen. War in Bildads erster Rede das abschließende Summarium noch persönlich 18,21 formuliert und als Verheißung an Hiob charakterisiert, so ist es jetzt neutral gefasst und dient als Warnung an Hiob. Einen besonderen Nachdruck verleiht der Rede ihr auf Gott (ʾel) hinweisendes Schlusswort, das zugleich die einzige Gottesbezeichnung der gesamten Rede ist: Wer Gott nicht kennt, d.h. wer mit Gott keinen vertrauten Umgang hat (jādaʿ), wer Gott nicht verehrt, unterliegt dem Gericht.55 Er geht unwiderruflich unter, verliert in umfassendem Sinn seinen Lebensort (māqôm) und fällt gewissermaßen aus der Welt (vgl. 20,29; 21,28). Hiob kennt Gott (vgl. 24,1; Ps 36,11; Ex 33,13). Dennoch sieht er sich selbst oder gerade deshalb am Abgrund, weil er sich und seinen Weg als von Gott nicht erkannt und anerkannt wahrnimmt (Ps 1,6).
Vgl. Ps 37,13; Jer 50,27; Ez 21,30; 32,10. Vgl. paradigmatisch den Pharao (Ex 5,2; Sir 16,15 [G-II]) und Israel in der prophetischen Gerichtsankündigung (vgl. Hos 5,4). 54
55
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Hi 19 Die fünfte Rede Hiobs HD 19,1 Und Hiob hob an und sagte: 2 3 4 5
Wie lange wollt ihr meine ,Seele‘ bekümmern und mich mit Worten zermalmen? Zehnmal schmähtet ihr mich schon, schämtet euch nicht, mich zu misshandeln1. Aber sollte ich mich wirklich geirrt haben, dann möge mein Irrtum auf mir ruhen. Wenn ihr wirklich übermütig gegen mich sein wollt, dann überführt mich doch meiner Schande!
6 7 8 9
Erkennt doch: Eloah ist es, der mich beugte und der sein Fangnetz um mich kreisen ließ. Wenn2 ich schreie „Gewalttat“, so werde ich nicht erhört, ich rufe um Hilfe, doch es gibt kein Recht. Meinen Weg mauerte er mir zu, dass ich nicht durchkomme, und um meine Pfade legt3 er Finsternis. Meine Würde zog er mir vollständig aus und entzog (mir) die Krone meines Hauptes.
10 11
Ringsherum zerschlägt4 er mich, dass ich vergehe, und meine Hoffnung reißt er aus wie einen Baum. Und seinen Zorn lässt er5 gegen mich entbrennen und hält mich für sich selbst für seinen Feind6.
1 hkr dürfte eine Nebenform zu ḥkr sein (vgl. Ges18), so dass eine Änderung von tahk erû in taḥkerû (vgl. wenige Hss) unnötig ist. Seow legt die im Syr., nicht aber im biblischen Hebr., belegte Wurzel krj/krʾ „trauern/betrüben“ zugrunde. 2 Zur Einleitung eines Konditionalsatzes mit hen siehe die Anm. zu Hi 4,18. 3 Die PK zeigt hier das Fortwirken des Handelns Gottes bis in die Gegenwart hinein an (vgl. Hi 16,11). 4 Die PK deutet hier an, dass die Erfahrungen Hiobs in die Gegenwart reichen (vgl. Hi 16,9b.11); dies gilt auch für die folgenden Impf. consec. (vgl. Dillmann; Buber, 203); es liegt hier also kein narrativer Gebrauch der PK vor (gegen J/M § 113o; Bobzin, Tempora, 265). 5 Angesichts der direkten Klage Hiobs über seine Misshandlung durch Gott selbst (vgl. V. 8–10.11b) empfiehlt es sich, beim MT zu bleiben und nicht nach Syr und Vg (vgl. auch 11QTgHi [teilrekonstruiert: tqp „wurde stark“]) in wajjiḥar „es entbrannte (sein Zorn)“ zu punktieren. LXX („Und gewaltig hat er mich mit Zorn behandelt“) steht näher beim MT. 6 Anstelle von k eṣārâw „seine Feinde“ oder „als einen seiner Feinde“ (Gordis) lies keṣārô (vgl. Vg).
Hi 19 Die fünfte Rede Hiobs
12
Alle seine Truppen kommen heran7 gegen mich und schütten ihren Weg gegen mich auf und lagern sich rings um mein Zelt, 8
13 14 15 16
Meine Brüder ließ er9 sich von mir entfernen, und meine Bekannten wurden mir ganz fremd10. Die mir nahe sind und die mich kannten, blieben aus, die Gäste meines Hauses vergaßen mich.11 Meine12 Mägde halten13 mich für einen Fremden, ein Ausländer wurde ich in ihren Augen. Meinen Diener rief ich, aber er antwortet nicht, mit meinem Mund muss ich ihn um Erbarmen bitten.
17 18
Mein Geist14 wurde fremd für meine Frau, und widerlich15 bin ich den Söhnen meines Schoßes16. Sogar die Knaben17 verachten mich jetzt, will ich mich erheben,18 so reden sie über mich.
295
Zum Tempus vgl. die Anm. zu V. 9–10. Nach Watson, Poetry, 181, ist Hi 19,12 (wie 10,1; 18,4) ein Beispiel für ein (ursprüngliches) Trikolon nach dem Muster A–B–B’. Wahrscheinlicher ist, dass ein Kolon ausgefallen ist und dass V. 12 ursprünglich aus zwei Bikola je mit einem synonymen Parallelismus bestand (vgl. Hölscher). Dagegen beurteilt Fohrer V. 12aβ als Glosse; zur Annahme einer nachträglichen Erweiterung vgl. auch Strauß. 9 Trotz der breiten Bezeugung der Lesart hirḥîqû „sie (meine Brüder) entfernten sich“ (vgl. HsK30; 11QTgHi; LXX; Aq; [Sym]; Syr) kann wie in V. 11 der vom CodL, vom CodA und der Mehrzahl der Hss gebotene Sg. mit dem Subjekt „Gott“ beibehalten werden (vgl. Ps 88,9.19; CTAT 50/5, 152; Seow). 10 D.h.: sie wandten sich von Hiob ab. 11 Gegen die masoret. Versgliederung ist aus poetologischen Gründen 1) der Atnach nicht unter qerôbāj (lies qerôbaj) zu setzen, sondern unter ûmejuddāʿaj (lies ûmejuddāʿāj), 2) gārê bêtî noch zu V. 14b zu ziehen und 3) V. 15 erst mit ʾamhotaj (ohne einleitende Kopula, vgl. 11QTgHi, das wohl einen Sg. bietet) zu beginnen. 12 Siehe die Anm. zu V. 14. 13 Zur Formenbildung (fem. Präfix und mask. Endung bei der 3. P. Pl. fem. PK) siehe J/M § 44da. 14 rûaḥ meint hier sicher mehr als nur den „Atem“ (siehe die Auslegung). 11QTgHi: „ich habe erniedrigt (hmkt) (meinen) Geist vor meiner Frau“, ähnlich LXX: „ich flehte meine Frau an“. Die Varianten könnten auf grh/gārāh (von gwr „fürchten“ mit dem Aspekt der Ehrfurcht) anstelle von zrh/zārāh zurückgehen (J. Gray). 15 So nach ḥnn II, das allerdings nur hier im biblischen Hebr. belegt ist. Die Versionen übersetzen mit unterschiedlichen Akzentuierungen nach ḥnn I (Hitp., „um Erbarmen bitten“; vgl. V. 16); zu LXX s.u. die Auslegung. Die Verwendung von ḥnn I und ḥnn II kann ein bewusstes Wortspiel sein (vgl. Seow). 16 Sprachlich können dies sowohl die Brüder Hiobs sein als auch seine leiblichen Söhne (vgl. Syr [Rignell, Peshitta, 148]; Tg [Mangan, Targum, 53]); siehe die Auslegung. 17 11QTgHi verweist mit der Lesart ršjʿjn auf die Punktation ʿawwālîm „Frevler“ (vgl. Hi 18,21; 27,7; 29,17; 31,3); der Kontext spricht dafür, hier (im Gegensatz zu Hi 16,11) beim MT mit der Lesart ʿ awîlîm zu bleiben. 18 Zu diesem Gebrauch des Kohortativs vgl. G/K § 108e; J/M § 167a. 7 8
296
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
19 20
Mich verabscheuen19 alle Männer meines Rates, und die, die20 ich liebe, wandten sich gegen mich. An meiner Haut …21 hängt nun mein Gebein, und ich entkam22 (nur) mit der Haut23 meiner Zähne.
21 22 23 24
Erbarmt euch meiner, erbarmt euch meiner, ihr meine Freunde, denn es ist Eloahs Hand, die mich geschlagen hat. Wozu wollt ihr mich wie El verfolgen und könnt nicht satt werden an meinem Fleisch? Ach würden meine Worte doch nur aufgeschrieben, ach würden24 sie in eine Inschrift eingeritzt25, mit einem Griffel aus Eisen und mit Blei, auf Dauer26 in das Felsgestein gemeißelt.
25 26
Aber ich weiß: Mein Erlöser ist lebendig, und der Letzte27 wird sich über dem Staub erheben.28 Und nachdem man meine Haut schon29 zerschunden30, werde ich (auch) ohne31 mein Fleisch Eloah sehen.
Zum Tempus vgl. die Anm. zu V. 8b und zu V. 10–12. Zum Gebrauch von zæh als Relativpronomen siehe Brockelmann, Syntax § 150b. 21 Anstelle der von BHS vorgeschlagenen Änderung, b eʿûr-b eśārî „an der Haut meines Fleisches“ (vgl. Lev 13,2) zu lesen, ist es aus kolometrischen Gründen eher geraten, ûbibśārî „und an meinem Fleisch“ als Dublette zu streichen (ähnlich J. Gray, der annimmt, b eśārî habe ursprünglich in V. 20b anstelle von šinnaj gestanden). Demgegenüber hält Hartley b eʿûrî für sekundär. 22 So nach mlṭ I (vgl. Ges18; CTAT 50/5, 155; Horst, Hartley; Clines; Seow). Die Annahme eines mlṭ II „kahl sein“ nach arab. malaṭa „abrasieren“ (vgl. KAHAL; Fohrer; ähnlich BHS mit der Annahme einer Identität von mlṭ und mrṭ „die Haare ausraufen“, Nif. „kahl werden“, vgl. Lev 13,30), das dann nur hier im biblischen Hebr. belegt wäre, ist unsicher. Die von DCH aufgeführten Wurzeln mlṭ III „sich selbst zerfressen“ und mlṭ IV „sich spalten/kleben“ generieren kontextuell passende, aber im biblischen Hebr. nicht belegte Verben. 23 J. Gray nimmt ein nicht weiter im biblischen Hebr. belegtes Nomen ʿôr II in der Bedeutung von „Pfand“ (nach arab. ʾiʿāratu[n]) an. Demnach erklärte Hiob, nur unter Verlust seines Fleisches (siehe Anm. 21) entkommen zu sein. 24 Die zweifache Verwendung des mî-jitten unterstreicht die Dringlichkeit von Hiobs Wunsch. 25 Zur aramaisierenden Punktation von ḥqq als Qal Pass. vgl. Ges18. 26 Angesichts der inhaltlichen Dimension und der Wiederaufnahme des Verses in Hi 20,4 empfiehlt es sich, mit der Mehrzahl der neueren Ausleger das masoret. lāʿad beizubehalten und nicht mit Th (εἰς μαρτύριον) und Vg (in testimonium) in leʿed „zum Zeugen“ umzupunktieren (so aber Weiser). 27 Zur Übersetzung von ʾaḥ arôn als Gottesbezeichnung (und nicht als Zeitadverb im Sinn von „zuletzt/am Ende“) siehe die Auslegung. 28 Die LXX bietet das Äquivalent zu jāqûm in Gestalt von ἀναστήσαι im nächsten Vers und bezieht es auf die Haut; s.u. S. 312; 314. 29 zoʾt kann auch in dieser Kürze ursprünglich sein (vgl. G/K 136d; Strauß) und braucht nicht in kāzoʾt geändert zu werden (vgl. BHK). 30 Die 3. P. Pl. niqq epû steht hier zum Ausdruck des Passivs mit unbestimmtem Subjekt (G/K § 144g; CTAT 50/5, 160; vgl. Hi 4,19; 6,2; 18,18; 34,20). 31 min ist separativ gebraucht (G/K § 119w) und kennzeichnet die starke Beeinträchtigung von Hiobs Körper in diesem Leben (vgl. V. 20). Zu den massiven Unterschieden in der LXX s.u. S. 313f. 19 20
Hi 19 Die fünfte Rede Hiobs
297
27 Ja, ich, ich werde ihn für mich sehen, und meine Augen sehen32 (ihn), und zwar33 nicht als einen Fremden. Es verschmachten meine Nieren in meinem Schoß34, 35 28 Wenn ihr sagt: „Wie können wir ihn verfolgen und die Wurzel der Sache bei ihm36 suchen?“, 29 dann fürchtet euch vor dem Schwert um euch selbst, denn dies37 sind Verschuldungen des Schwertes, auf dass ihr nun wisst, dass es ein Gericht gibt.38 Aitken, J.K.: The Inevitability of Reading Job Through Lamentations, in: K. Dell/W. Kynes (Hg.), Literatur Reading Job Intertextually, LHBOTS 574, New York u.a. 2013, 204–215. – Ebach, J.: Die „Schrift“ in Hiob 19,23, in: Ders., Hiobs Post. Gesammelte Aufsätze zum Hiobbuch, Neukirchen-Vluyn 1995, 32–54. – Galling, K.: Die Grabinschrift Hiobs, WO 2 (1954) 3–6. – Hermisson, H.-J.: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt“ (Hiob 19,23–27), in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog II (FS O. Kaiser), BZAW 345/2, Berlin/New York 2004, 667–688. – Irsigler, H.: Ijobs letzte Hoffnung; 16,18–22 und 19,23–27 im Kontext der Ijobdichtung, in: O. Dyma u.a. (Hg.), Sprachliche Tiefe – theologische Weite, BThSt 91, Neukirchen-Vluyn 2008, 143–191. – Johansson, N.: Parakletoi. Vorstellungen von Fürsprechern für die Menschen vor Gott in der alttestamentlichen Religion, im Spätjudentum und Urchristentum, Lund 1940. – Kessler, R.: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt, ZThK 89 (1992) 139–158. – Michel, W.L.: Confidence and Dispair: Job 19,25–27 in the Light of Northwest Semitic Studies, in: W.A.M. Beuken (Hg.), The Book of Job, BEThL CXIV, Leuven 1994, 157–181. – Mowinckel, S.: Hiobs gōʾēl und Zeuge im Himmel, in: K. Budde (Hg.), Vom Alten Testament, BZAW 41, Gießen 1925, 207–212. – Seow, C.-L.: Job’s gōʾēl again, in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (FS O. Kaiser), BZAW 345/2, Berlin/New York 2004, 689–709. – Speer, J.: Zur Exegese von Hi 19,25–27, ZAW 25 (1905) 47–140. – Tremblay, H.: Job 19,25–27 dans la Septante et chez les Pères grecs. Unanimité d’une tradition, ÉtB 47, Paris 2002.
32 Zum konstatierenden Gebrauch der AK vgl. Brockelmann, Syntax § 41f; Horst; Strauß – gegen Bobzin, Tempora, 272, der hier aufgrund der Wortstellung in die PK (jirʾû) ändert (vgl. BHK; Weiser) und gegen J. Gray, der einen Inf. abs. konjiziert (rāʾoh) und ʿênaj als adv. Bestimmung versteht. 33 waw-explicativum; eine Hs (vgl. Miletto, Nr. 1105) liest ohne Kopula. Das folgende zār ist Objekt zu rāʾû (vgl. Baumgärtel, Hiobdialog, 101; Driver/Gray), keine nähere Erläuterung zu Hiob („als Fremder“, so Clines) oder ein zu den Augen Hiobs bzw. zu Hiob entgegengesetztes Subjekt („kein anderer“; so nach LXX und Vg Weiser; Seow). 34 Wörtl.: „in meinem (Unter-)Leib (als Sitz der Emotionen)“, vgl. Ps 89,51; Pred 7,9). 35 Vermutlich ist, vielleicht bei der Ergänzung von V. 28–29, ein Kolon ausgefallen (vgl. Hölscher; Fohrer). 36 Anstelle von bî „an/in mir“ lies mit vielen Hss bô (vgl. Th; Vg; Tg). 37 Anstelle von ḥemāh „Grimm/Zorn“ (im Sinn von „Zorn verursacht/gehört zu Strafen“, vgl. DCH; CTAT 50/5, 162) ist das Demonstrativpronomen hemmāh zu lesen; erwägenswert ist die Ableitung von einer im Aram. belegten Wurzel ḥmʾ „sehen“ und die Punktation als Imperativ ḥ ameh „gib acht! (vgl. DCH s.v. ḥmh I, Wagner, Aramaismen, Nr. 103; sowie BHK und BHS zu Hi 36,18). 38 Lies mit dem Ketib šaddîn/šæddîn; zu dîn vgl. Hi 35,14; 36,17; Spr 20,8; Est 1,13. Das Qere šaddûn setzt ein bedeutungsgleiches hap. leg. dûn voraus. Auch denkbar, aber aufgrund des Wortgebrauchs in Hi eher unwahrscheinlich, ist die Konjektur ješ dajjān oder šæddajjān „es gibt einen Richter“ (nämlich Gott, vgl. Tg; und dazu 1Sam 24,16; Ps 68,6; 11QPsa XXIV,6). Weiser ändert in šaddaj „der Allmächtige“ (vgl. DCH mit der Annahme, die Lesart šdjn/šaddājān sei eine archaische Variante zu šaddaj, inschriftlich in KAI 312 I,5–6); Seow liest šoddîn bzw. šoddān „Verwüstungen“ bzw. „ihre Verwüstungen“ (vgl. šod in Hi 5,22; Spr 21,7; 24,2), Greenstein vokalisiert, wie in Hi 5,22 (šod), šedin „Dämonen“ (vgl. Dtn 32,17; Ps 106,37).
298 Aufbau und Sprachformen
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Die fünfte Rede Hiobs gehört wirkungsgeschichtlich zu den bedeutendsten Abschnitten des Hiobbuches. Innerhalb der Dichtung erfüllt diese vor allem die Funktion, in Fortsetzung von Kap. 16–17 die Bewegung Hiobs weg von seinen Freunden hin zu Gott zu verdeutlichen. Die Rede besteht aus einer Eröffnung, in der Hiob seine Freunde erneut scharf zurückweist (V. 2–5), einem doppelten Hauptteil, in dem Hiob zunächst noch einmal Gott als Urheber seines Leidens benennt (V. 6–12) und sodann seine Einsamkeit im Leiden beschreibt (V. 13–20), sowie einem zweigliedrigen Schlussteil, in dem Hiobs Hoffnung auf eine Zuwendung des gnädigen Gottes aufblitzt (V. 21–24.25–27). Den Abschluss der ursprünglichen Rede bildet wie in den vorangegangenen Hiob reden ein Summarium mit dem Ausblick auf den Tod (V. 27, vgl. 7,21; 10,22; 14,22; 17,16). Das strophische Grundmuster basiert auf jeweils vier Bikola, die eine Strophe bilden (V. 2–5|6–9|10–12#|13–16|17–20*|21–24|25–27#|[28–29]). Die wichtigsten Sprachformen der Rede stammen aus dem Klage- und Bittgebet eines Einzelnen. Die Beschreibung von Hiobs Entfremdungserfahrungen in V. 13–2039 besitzt ihre nächsten Parallelen in Elendsschilderungen der individuellen Klage- und Bittgebete (vgl. Ps 22,13–19; 102,4–12) sowie in der großen Elendsmeditation in Klgl 3. Diese und Ps 8, auf den mehrfach in der Hiobdichtung angespielt wird,40 bilden neben einzelnen Passagen aus Deuterojesaja (Jes 40–55) entscheidende Intertexte dieses Kapitels. Neben Hi 16,19– 22 und 23,6–7 enthält die Rede in 19,25–27 das stärkste Bekenntnis Hiobs seines Vertrauens auf Gott. Charakteristisch für die Komposition und die Bedeutung der Rede ist, dass sie an zwei theologischen Nahtstellen juridische Begriffe und Sprachformen verwendet (V. 6–7 und V. 25–26 sowie in einem Nachtrag in V. 28–29).
Text- und In 11QTgHi sind fragmentarisch Äquivalente zu den V. 11–19 und 29 erhalten. Literar- Das Fehlen der Kopula zu Beginn vor V. 15 könnte auf eine andere Versgliegeschichte derung hindeuten. Unsicher ist, ob V. 14 jemals in 11QTgHi ein Äquivalent hatte.41 Semantische Differenzen gegenüber dem MT finden sich in V. 17 und in V. 18.42 In V. 29 ist nur ein fragmentarisches Wort erhalten ([b]ʾjš „böse“), das ein erklärender Zusatz zum masoret. dîn sein könnte.43 In LXXZi sind die Kola 24a und 28b asterisiert. In V. 4, der in der LXX ein echtes Eingeständnis Hiobs enthält, im Irrtum zu sein, bietet die LXX den seltenen Fall eines Textüberschusses gegenüber dem MT. In diesem wird Hiobs Einsicht unterstrichen, nicht zur rechten Zeit geredet und damit gegen das Ideal eines Weisen verstoßen zu haben (vgl. 15,3; Sir 1,23–24 [G]; 20,7).
Vgl. Hi 6,2–4.11–13; 7,3–6; 9,25–28; 10,1; 16,6–17; 17,1–2.6–9; 23,2. Siehe dazu auch Frevel, Lesen, 277–303. Vgl. DJD XXIII, 93. 42 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 43 Vgl. DJD XXIII, 94. 39 40 41
Hi 19 Die fünfte Rede Hiobs
299
Die Rede ist literarisch weitgehend einheitlich.44 In V. 12b und in V. 27b dürfte jeweils ein Kolon ausgefallen sein.45 In V. 28–29 liegt vermutlich wie in 17,5 eine spätere Fortschreibung vor, die den Freunden ein (endgültiges) Gericht vor Augen stellt. Für die Annahme, V. 28–29 seien sekundär, sprechen 1) die Durchbrechung des Strophenschemas, 2) die im Vergleich mit den anderen Hiobreden strukturell auffällige erneute Anrede der Freunde nach der Artikulation der Hoffnung und nach dem Ausblick auf das Lebensende, 3) das nur hier im Hiobbuch (als Konjunktion) gebrauchte, vor allem im Aramäischen übliche Wort šæ/ša, sowie 4) die eschatologische Tendenz (vgl. 14,12).46 Anrede und Abweisung der Freunde
19,1–5
19,1 S.o. zu Hi 6,1.47 Die einleitende Anrede der Freunde und die Abweisung ihres Trostver- 19,2–3 suches unterscheidet sich prinzipiell nicht von den Eröffnungsversen der vorangegangenen Hiobreden (vgl. 16,2–6). Hiob reagiert mit ähnlichen Worten wie seine Freunde (vgl. 18,2), klagt diese des fehlenden Verständnisses für seine Situation an und deutet ihre Reden – ganz im Sinne Zophars – als Schmähung (vgl. 11,3; 1Sam 20,34), ja als Misshandlung mit Worten. Die „Zehnzahl“ steht für die Fülle der durch die Reden der Freunde erfahrenen Bedrückung (vgl. Gen 31,7; Num 14,22). Dabei beansprucht Hiob für sich die weisheitliche Mahnung, einen Menschen nicht zu schelten, wenn dieser sich von seinem Vergehen abwendet (vgl. Sir 8,5). In der Logik dieser weisheitlichen Mahnung findet sich erstmals innerhalb 19,4–5 der Eröffnung einer Rede Hiobs ein hypothetisch formuliertes Sündenbekenntnis. Wie in 6,24 wird dabei der schwächste hebr. Begriff für „sündigen“ šāgāh („sich unwissentlich vergehen/irren“, vgl. 12,16) gebraucht.48 Im Fall eines Irrtums wäre Hiob bereit, die Konsequenzen zu tragen (vgl. 10,13–14). Da dieser Fall aber für Hiob nicht gegeben ist, die Freunde ihn vielmehr bisher keines konkreten Vergehens überführen und so den postulierten Zusammenhang von schlimmem Ergehen und einer dieses bedingenden Tat nicht beweisen konnten, wäre es vielmehr an den Freunden selbst, sich zu schämen (vgl. Ps 35,26; 38,17–20). Als wahre Freunde erwiesen diese sich, wenn sie sich gegenüber Hiob und seinem Unglück gerade nicht erhöben und groß aufspielten (gādal, vgl. Obadja 12; Zeph 2,8.10).
44 Anders Wanke, Praesentia Dei, 430, der Hi 19,7–11 auf die „kultkritische Bearbeitung“, 19,25–27 auf die „Elihu-Redaktion“ und 19,12b auf einen Glossator zurückführt, und Vermeylen, Métamorphoses, 182, der 19,4.7.13.17.20.23–29 der Hiob idealisierenden „zweiten Buchredaktion“ zuweist. 45 Vgl. Fohrer (nur im Fall von V. 27); zu V. 27b vgl. Ps 73,26. 46 Siehe dazu auch Feldmar, Fortschreibungen, 85f; 217–221; 275. 47 Vgl. Hi 12,1; 16,1; 19,1; 21,1; 23,1; 26,1. 48 Vgl. die Regelungen für „Irrtumssünden“ in Lev 5,18; Num 15,28 bzw. Lev 4,2.22.27.
300
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Für den Fortgang der Argumentation der Rede hat dieses Sündenbekenntnis Hiobs zunächst keine Bedeutung. Es findet aber eine Aufnahme in den Bestreitungen Hiobs in den Elihureden (vgl. 33,8–12; 34,31–33; 35,6–8). Das sachliche Problem, das in dem kleinen Sündenbekenntnis Hiobs angelegt ist, betrifft die Frage nach dem Verhältnis von individueller Schuld und kollektiver Verantwortung und Konsequenz (vgl. Ez 18). Die Rabbinen diskutieren dann darüber, dass Hiobs Sünde nicht auf ihn selbst beschränkt bliebe, sondern die Gemeinschaft der Freunde gefährde.49 19,6–12 Gott als Urheber von Hiobs Leiden 19,6–7 In energischem Widerspruch zur These Bildads, Gott beuge nicht das Recht (8,3, vgl. 34,12; Gen 18,25; Dtn 32,4), entfaltet Hiob im ersten Hauptteil der Rede seine Erfahrung Gottes als Rechtsbrecher und als Fallensteller. Damit greift er ausdrücklich Bilder aus der vorangegangenen Bildadrede auf (vgl. 18,8–10). Nur steht für Hiob das Bild Gottes als Fallensteller nicht als Chiffre für den gerecht richtenden Gott, sondern für einen willkürlich handelnden Dämon, der das Recht pervertiert, indem er den Gerechten feindlich umzingelt (vgl. Klgl 3,5). Das Motiv eines Gottes, der seine Gegner mit einem Netz fängt, hat im Alten Orient zahlreiche Parallelen und findet sich dort u.a. im Kontext des Chaoskampfmythos.50 Erneut wird die von den Freunden vertretene These eines Gottes, der die in die Welt eingesenkte Rechtsordnung garantiert, verneint. Dabei bedient sich Hiob wie in 16,18 des im israelitischen Recht verankerten Zetergeschreis (ṣeʿāqāh), d.h. des elementaren Aufschreis nach Recht in einer akuten Notsituation, die jeden, der den Ruf hört, zu sofortiger Hilfeleistung verpflichtet (V. 7, vgl. Dtn 22,24.27).51 Charakteristischerweise verwendet Hiob in seinem Hilferuf wie schon in 16,17 den Begriff ḥāmās, hier nun in der Bedeutung von „Gewalttat“, den die priesterschriftliche Quelle des Pentateuchs zur Beschreibung des Anlasses für die Sintflut verwendet: Weil die Erde einst voller an Gewalttätigkeit war, reagierte Gott mit dem Flutgericht (Gen 6,11.13). Doch was im Fall der korrumpierten Erde galt, gilt im Fall Hiobs offenbar nicht – Hiob findet kein Gehör (Hi 9,16; 30,20, vgl. Klgl 3,8), obgleich dies doch gerade dem Gerechten in Aussicht steht (Ps 34,5.16.18).52 Ganz ähnlich klagt Habakuk in einer kleinen Theodizeedichtung über das Überhandnehmen an ḥāmās und das Erschlaffen der Torah (Hab 1,2–4). Nach Hiobs Einschätzung erfüllt Gott gegenwärtig nicht seine Aufgabe als Richter. Wie in seinem Eingangsfluch bestreitet Hiob hier Gottes Schöpfungsordnung. Sein Ruf um Hilfe, der trotz Wiernikowski, Hiob, 11f. Vgl. EnEl. IV,41.95.112 (TUAT.NF VIII, 107, 109f) und dazu Cornelius, 274; Fuchs, Mythos, 88. 51 Vgl. dazu Boecker, Recht, 40–43. 52 Vgl. Ps 10,17–18; 30,3; 31,23; 34,5.16.18; 50,15; 65,3; 66,19–20; 72,12; 88,14; 91,15; 102,18. 49 50
Hi 19 Die fünfte Rede Hiobs
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seiner Unschuld nicht erhört wird (vgl. 16,17; 30,20; Ps 66,18–19), entfaltet sich erneut zur Frage nach Gottes eigentlichem Wesen. Hiob erlebt sich und seinen Lebensweg als von Gott eingemauert (vgl. 19,8–9 Klgl 3,7.9). Wie schon in 3,23 klagt er über die ihm zur tödlichen Bedrohung gewordene Nähe Gottes. Damit ist – auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches – das Wort des Satans über den schützend um Hiob gelegten Zaun umgekehrt (1,10). So erfährt Hiob an sich die zuletzt von Bildad allein dem Frevler in Aussicht gestellte Finsternis (vgl. 18,6.18; Klgl 3,2), die bedrohlich auf seinem Pfad liegt (vgl. 18,10). Gott ist für Hiob ein böser Dämon geworden, der dem Menschen die Würde und Herrlichkeit (kābôd), die er ihm in der Schöpfung selbst verliehen hat (Ps 8,6), wieder raubt (vgl. 16,15; 30,15).53 Während der Beter von Ps 8 über den königlichen Rang des Menschen in der Schöpfung staunt, klagt Hiob über seine Entwürdigung. Kennzeichnet die Metapher der Verleihung der Krone in Ps 8,6 (vgl. Hi 29,14) in Parallele zum Motiv der Gottesebenbildlichkeit in Gen 1,26 die Royalisierung des Menschen, so steht der Entzug dieser Krone für die Demütigung, ja für die Entmenschlichung Hiobs (vgl. 30,15; Klgl 5,16; Jer 13,18).54 Wie soll der vom Leid gezeichnete Hiob noch die Aufgabe erfüllen, den Schöpfergott in der Welt zu repräsentieren und in Verantwortung vor diesem die Welt zu gestalten? Spätestens mit der Klage Hiobs über seinen ihm von Gott geraubten kābôd ist radikal die Frage nach der Verwirklichung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, nach der Darstellung des Göttlichen in der Welt durch den Menschen und nach dem wahren Menschsein gestellt. Wie in Hi 7 bildet Ps 8 einen zentralen Bezugstext. Kann der, dessen Gestalt ganz und gar unansehnlich geworden und der offenbar von Gott schwer geschlagen ist (vgl. Jes 52,13–53,12), noch Gottes Ebenbild sein – und wenn ja, was für einen Gott repräsentiert er dann in dieser Welt? Hiobs Schrei steht so für die Frage nach dem wahren Gott und nach dem wahren Menschen. Hiob erfährt sich von Gott als völlig zerschlagen, als zertrümmert (nātaṣ) – 19,10 so wie es die dtr. Theologie für die kultischen Darstellungen anderer Götter als Jhwh fordert (vgl. Ex 34,13; Dtn 7,5; 12,3; 2Kön 23,7–8). Schien zum Ende der vorangegangenen Rede Hiobs noch Hoffnung auf (17,13–16, vgl. 11,18), so ist diese wieder verflogen. Erneut dient eine Baummetapher zur Beschreibung der Situation Hiobs (vgl. 14,7–12). Doch während in 14,7–12 das Aufsprossen eines abgeschlagenen Baumes im Gegensatz zur unabänderlichen Sterblichkeit des Menschen steht, bildet hier das Fällen eines Baums die Zerbrechlichkeit und Wehrlosigkeit Hiobs ab (vgl. 24,20).
Vgl. Lud. I,43 (TUAT III, 117). Demgegenüber deutet Fuchs, Mythos, 89f, die Entfernung der Krone als ein weiteres Motiv des altorientalischen Chaoskampfmythos, wie es sich z.B. im Raub der Krone Mummus durch Ea im EnEl. I,67 (TUAT.NF VIII, 92) niedergeschlagen hat. 53 54
302 19,11–12
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Wie schon in 14,13 und 16,9 von Hiob artikuliert, ist es der Zorn Gottes,55 unter dem sich der Leidende sieht und der diesem ein Zeichen seiner gestörten Beziehung zu Gott ist (vgl. Ps 6,2; 27,9). So erfährt sich der beispielhafte Gottesknecht (1,8; 2,3) als der exemplarische Gottesfeind (ṣār, vgl. 13,24; Klgl 2,4),56 der unter den gegen ihn wie gegen eine Stadt anstürmenden und ihn belagerndern Truppen (g edûdîm)57 Gottes leidet (vgl. 7,20; 30,12). Beschreibungen der Belagerung und Eroberung einer Stadt sind vielfach im AT,58 in der klassischen Antike und im Alten Orient (hier auch ikonographisch) belegt. ´In meinem 21. Regierungsjahr überschritt ich zum 21. [Mal] den Euphrat. [Den Trib]ut aller Könige 153´[des Landes Ḫat]ti empfing ich. Von […] brach [ich] auf. Nach der Flanke 154´des [Liba]non-[Gebirges] schlu[g] ich (den Weg) ein. Das Gebirge Sanīru übersch[ritt] ich. Z[u] den Städt[en des] 155´Hasael von Aram sti[eg] ich hinunter. Die Städte 156´gerieten in Furcht […]. Das Gebirge nahmen sie a[ls] Festung. Die Festungsstädte Ya… […], […], Danabu (und) Malaḫa 158 ´eroberte ich durch [Bresche, Mauer]brecher (und) Belagerungsturm. Ich massakrierte sie (und) mach[te] Gefangene. Die Städte riss ich nieder, zerstörte ich (und) verbrannte ich mit Feuer. (Aus einem Feldzugsbericht des assyrischen Königs Salmanasser III. [838/837 v.Chr.])59 152
Erneut greift Hiob auf das Bild Gottes als feindlichen Krieger zurück (vgl. 16,7–14; 30,11–14), das auch häufig in den Klagepsalmen begegnet.60 19,13–20 Hiobs Einsamkeit im Leiden Die Erfahrung des Zornes Gottes spiegelt sich in der Erfahrung der Isolation von anderen Menschen. Hiob, der schon an der Fremdheit Gottes leidet, erlebt zusätzlich die Entfremdung von seiner ihm einst vertrauten Umwelt und letztlich von sich selbst. In einer Kette61 mit zwölf Gliedern beschreibt er allumfassend seine Einsamkeit. 19,13–16 Der, den der Zorn Gottes getroffen hat, wird für seine Umwelt zur Gefahr. Aus Angst, von dem Sündendämon, der den Leidenden befallen hat, angesteckt zu werden, ziehen sich Hiobs Freunde und Familie zurück. Im Hintergrund 55 Vgl. Hi 4,9; 9,5.13; 20,23.28; 21,17; 36,33; 40,11. Siehe dazu ausführlich Jeremias, Zorn Gottes; Kratz/Spieckermann (Hg.), Divine Wrath. 56 In dem Wort ṣār schwingt die Bedeutung „Bedränger“ mit (vgl. Noegel, Janus Parallelism, 62–65; die Annahme Noegels, dass hier auf zwei verschiedene Wurzeln (ṣrr, ṣwr) angespielt werde, ist unnötig). 57 11QTgHi; LXX und Vg sprechen von „Räubern“, was aber im semantischen Bereich von g edûd liegt, Syr schwächt ab zu „Boten“. 58 Z.B. in 2Sam 20,15; 2Kön 25,1–4; Jes 29,3; Ez 4,2; Jdt 7,1–18; 1Makk 13,43–44. 59 Übersetzung von M. Weippert, in: HTAT, 265, vgl. auch HTAT, 333. Zu einer entsprechenden Darstellung siehe z.B. die assyr. Belagerung von Lachisch 701 v.Chr. auf den Reliefs in Ninive (Mitchell, Bible, Nr. 27, 60–63); siehe weiterhin H. Weippert, Art. „Belagerung“, BRL2 (1977) 37–42; D. Baatz, Art. „Poliorketik“, DNP 10 (2003/2012) 16–212. Zu Belagerungsbeschreibungen in der klassischen Antike siehe z.B. Thukydides, historiae 2, 75–78. 60 Vgl. Ps 3,7; 27,3; 55,19; 56,2; 59,5; 62,4; 109,3; 120,7; 140,3.8; Jer 20,16; Klgl 2,2–5. 61 Zu vergleichbaren Reihenbildungen vgl. Watson, Poetry, 350.
Hi 19 Die fünfte Rede Hiobs
303
dieser Vorstellung steht ein magisches Verständnis der Sünde und der ihr folgenden göttlichen Strafe, die sich im Leiden eines Menschen niederschlägt, als Kraftfelder. Aus Freunden werden in der Situation des Leidens Fremde (nåkrî)62 und letztlich Feinde. Diesen Wandel kennen zahlreiche Klagepsalmen.63 Der Leidende fällt aus der Welt der Gesunden heraus und gerät in Vergessenheit. So gipfelt die erste Aufzählung all derer, aus deren Wahrnehmung Hiob verschwunden ist, im vergeblichen Flehen um das Erbarmen (ḥānan, V. 16) seines Knechtes bzw. Sklaven. Für Hiob, der hier ähnlich wie im Prolog (vgl. 1,3) als reicher Besitzer von Sklavinnen und Sklaven erscheint, ist die Welt auf den Kopf gestellt, wenn er nach seinem Diener rufen muss und dieser nicht auf ihn hört. Von der Klage über den vergeblichen Hilferuf nach seinem Knecht schreitet 19,17 die Klage Hiobs fort zur Klage über die in seiner engsten Umgebung erlebte tiefe Beziehungsstörung. Dass Hiobs rûaḥ seiner eigenen Frau fremd (zārāh) geworden ist, unterstreicht die eingetretene Distanz zwischen beiden und korrespondiert auf der Ebene des ‚Endtextes‘ mit der Abweisung der Frau in 2,9–10. Dabei berührt der Begriff rûaḥ drei Aspekte: 1) die für seine Frau nicht nachvollziehbare Geistesart Hiobs (vgl. 7,11), 2) das entgegen dem Rat der Frau in 2,9 und den Klagen in Kap. 3 und Kap. 7 doch noch in Hiob steckende Leben (vgl. 27,3)64 und 3) den Gestank, der von Hiobs krankem Leib und damit verbunden von seinem Atem ausgeht (vgl. 2,7b; Dtn 28,35). Die Motivik hat eine enge Parallele in der Klage des Beters im äg. Gespräch eines Lebensmüden mit seinem Ba: Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als der Gestank von Aasgeiern an Sommertagen, wenn der Himmel glüht. Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, [mehr als der Gestank] beim Fischfang, am Tage des Fischfangs, wenn der Himmel glüht. Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als der Gestank von Vögeln, als ein Sumpfdickicht mit Wasservögeln. Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als der Gestank der Fischer, und als die Lagunen, in denen sie fischen. Siehe, anrüchig ist mein Name durch dich, mehr als der Gestank von Krokodilen, als ein guter Wohnplatz von Krokodilen.65
62 Das hier einmalig in Hi gebrauchte Wort nåkrî bezeichnet in der Mehrzahl seiner Belege in der hebr. Bibel ein Mitglied eines aus israelitisch-jüdischer Perspektive anderen Volkes (vgl. Ex 2,22; Dtn 14,31; 15,3; 2Chr 6,32 u.v.a.) im Gegenüber zum eigenen Volk. In Hi 19,15 steht es, wie in Ps 69,9, für die Entfremdung innerhalb der eigenen Familie (vgl Gen 31,14–15). 63 Vgl. Ps 27,10; 31,12–14; 38,12; 55,13–15; 69,9; 88,9.19; Jer 12,6. 64 Vgl. Hi 6,4; 10,12; 17,1; Syr zu Hi 19,17 („fremd bin ich“); ähnlich Clines. 65 Übersetzung von Hornung, Dichtung, 106.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Nicht nur seiner Frau, sondern auch den „Söhnen seines Leibes“ ist Hiob zum Ekel geworden. Spricht die Notiz über den Tod der Kinder Hiobs im Prolog (1,19, vgl. 8,4; 29,5) dafür, unter den „Söhnen des Leibes“ die Brüder Hiobs zu verstehen,66 so legt die Parallele zur Formulierung bæn-biṭnāh in Jes 49,15 (vgl. Spr 31,2)67 nahe, hier ursprünglich an die leiblichen Söhne Hiobs zu denken.68 Der Widerspruch zu Hi 1,18–19 erklärt sich vor dem Hintergrund der literargeschichtlich auf unterschiedliche Schichten zurückgehenden Novelle und Dichtung. Die beide miteinander verbindende Buchredaktion hat diese Diskrepanz unausgeglichen gelassen. Die LXX weist charakteristische Modifikationen gegenüber dem MT auf: Und ich flehte meine Frau an, und ich rief mit Schmeicheleien die Söhne meiner Nebenfrauen herbei. Das drastische Bild des seiner Familie zum Ekel gewordenen Hiob ist entschärft und auf eine Klage des von seinen Nächsten Verlassenen konzentriert,69 aus der sowohl die Selbstdemütigung des Leidenden als auch Kritik an den Nächsten spricht. Der im MT bestehende Widerspruch zwischen 19,17b und 1,19 ist in der LXX nicht vorhanden, insofern Hiob nicht die Söhne seines Leibes, sondern die Söhne seiner Nebenfrauen ruft.70 Von Nebenfrauen ist im hebr. Hiobbuch keine Rede. Motivisch wird Hiob hierdurch weiter, wie bereits im Prolog des hebr. Buches angelegt, in das Milieu der Patriarchen Israels eingeschrieben, deren Nebenfrauen die Genesis häufig erwähnt.71
19,18–19 Wie in V. 13–16 mündet die Aufzählung derer, die sich von Hiob abgewandt haben,72 in einer Beschreibung der gemäß der antiken Gesellschaftsordnung verkehrten Welt: Anstelle des Respekts vor dem älteren Menschen, dem in der Rechts- und Ratsversammlung das erste Wort zusteht (vgl. 32,4–6), steht die Verachtung durch die Jungen (vgl. 29,8; 30,1) und der eigenen Berater (vgl. 30,8–10).73 Pointiert stehen an letzter Position der Reihe summarisch diejenigen, die Hiob liebt. Es ist der einzige Beleg für das Wort „lieben“ (ʾāhab) im Hiobbuch. 19,20 Angesichts der Erfahrung absoluter menschlicher und göttlicher Verlassenheit sieht der Leidende sich allein auf sich selbst geworfen. Die Dichte von anthropo-
Vgl. Weiser; Fohrer; Clines. Allerdings bezieht sich bæṭæn in beiden Fällen auf den Leib der Mutter (vgl. auch Hi 3,10), doch siehe auch Achikar V,14 (TUAT III, 329; TAD C1 1.139; Weigel, Achikar-Sprüche, 325, 334). 68 Vgl. Hartley; Strauß; Seow. 69 Übersetzungstechnisch basiert die LXX auf einer mit der des MT vergleichbaren Vorlage, insofern der Übersetzer mit προσεκαλούμην δὲ κολακεύων ḥannotî von ḥnn I (Hitp. „um Erbarmen bitten“) ableitet (vgl. V. 16; Vg; Syr; Tg) und mit ἱκέτευον eventuell eine Form von ṣrḥ „schreien“ gelesen hat. 70 Auch Sym vermeidet den Widerspruch, der im MT vorliegt, indem er mit υἱοὺς παίδων μου („meine Enkel“) übersetzt; vgl. zudem Hi 17,5LXX. 71 Vgl. Gen 22,24; 25,6; 35,22; 36,12; 46,20 LXX. Zur rabbinischen Diskussion, ob Hiob zeitgleich mehrere Frauen gehabt habe, siehe Ginzberg, Legends, II, 241; V, 388. 72 Vgl. SH 32–37 (TUAT III, 105). 73 Vgl. BT 76–77.252–253 (TUAT III, 150.155); Lud. I,50.80–99 (TUAT III, 117.119f). 66 67
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logischen Grundbegriffen in V. 17–20 (vgl. auch V. 22) wie rûaḥ, ʿôr, (bāśār)74 und ʿæṣæm signalisiert die radikale Beeinträchtung der Existenz Hiobs, dem nur noch das nackte Leben, die næpæš, geblieben ist (vgl. 2,5–6). Dabei könnte der Ausdruck „Haut der Zähne“, wenn er nicht das Zahnfleisch bezeichnet, auch im Sinn von „mit nichts“ stehen, da die Zähne selbst ja keine Haut haben. 75 Der Versuch, die Angaben in V. 20 medizinisch auszuwerten, ist müßig. Erstens sind die Angaben zu allgemein, zweitens handelt es sich um Topik und drittens steht im Mittelpunkt nicht die Beschreibung einer realen Erkrankung,76 sondern die Klage Hiobs. An Hiob offenbart sich das unmittelbar zuvor von Bildad beschriebene Schicksal des Frevlers, dessen Haut (ʿôr) der Tod verzehrt (18,13). Auch wenn Hiob nur noch Haut und Knochen ist,77 so gibt er doch nicht auf (vgl. 13,14). „Haut für Haut, und alles, was einem Mann gehört, gibt er für sein Leben“, ließ der Verfasser der Himmelsszenen unter Rückgriff auf 19,20 den Satan sagen (2,4). Wird Hiob nun wirklich alles geben, und das heißt im Sinn des Satans, seinen Glauben an Gott aufgeben, oder bleibt er sich selbst, insbesondere auch in seiner wachsenden Fremdheit gegenüber sich selbst, treu und bewahrt so seine Identität und Integrität? Hiobs Wunsch und Zuversicht
19,21–29
Nochmals wendet sich Hiob an seine Freunde – und dies in einer besonders 19,21–22 eindringlichen Form mit dem im MT nur hier und in Ps 123,3 (dort allerdings wie auch sonst in den Psalmen an Gott gerichteten) doppelt gebrauchten Imperativ „erbarmt euch meiner, erbarmt euch meiner“ (ḥānnunî ḥānnunî). Es wird das letzte Mal innerhalb dieses Dialogs sein, dass Hiob diese ausdrücklich als „meine Freunde“ (reʿāj) anspricht (vgl. 2,11; 17,5; 32,3; 42,10). Richtet sich der Ruf um Erbarmen in den Psalmen ausschließlich an Gott, so scheinen für Hiob angesichts des von Gott erfahrenen Schlags nur noch seine Freunde ein ernsthafter Adressat seines Schreis zu sein. Erneut klingt das Motiv der „Hand Gottes“ an, das sowohl die heilvolle Nähe Gottes als auch dessen lebensbedrohliche Dichte bezeichnen kann78 und das redaktionsgeschichtlich zu den redaktionellen Verklammerungen zwischen der Dichtung und der Novelle gehört
Siehe die Anm. zur Übersetzung. Vgl. Clines, 450, der im Blick auf V. 20b von einem „ironical proverbe-like phrase“ spricht und zahlreiche Deutungsvorschläge von Hi 19,20 als einem der philologisch und motivisch umstrittensten Verse des gesamten Hiobbuches diskutiert (a.a.O., 430–432; 450–452). 76 Siehe dazu die in TUAT.NF V gesammelten Texte zur Heilkunde sowie die medizinhistorische Gesamtdarstellung von Scurlock/Andersen, Diagnoses. 77 Vgl. Hi 7,5; 30,30; Ps 102,6; Klgl 4,8. Eine sehr frühe bildliche Darstellung stark abgemagerter Menschen bietet ein Tempelrelief in Sakkarah aus der Zeit der 5. Dynastie (zweite Hälfte des 2. Jt. v.Chr.) (vgl. ANEP Nr. 102; Cornelius, 274; Janowski, Anthropologie, 577 [Abb. 121; 122]). 78 Vgl. Hi 5,12; 10,7–8; 30,21; Ps 32,4; 39,11; Klgl 3,3; 1Sam 5,6; 6,9. Siehe dazu die Auslegung von Hi 1,9–11 sowie Mies, Job. 74 75
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(vgl. 1,11–12; 2,5–6). Die rabbinische Tradition hat aus dem Symbol der fünffingrigen Hand geschlossen, über Hiob seien 50 Plagen gekommen.79 Doch Hiobs kurzfristige Erwartung, die Freunde könnten gnädiger als Gott sein, verebbt schnell: Die Freunde sind wie Gott ein Dämon, der den Leidenden verfolgt (rādap)80. Aus den Tröstern Hiobs sind unbarmherzige Jäger geworden, deren Reden dem Gejagten als ein Ausweiden seiner ganzen Person erscheinen (vgl. Ps 27,2; 41,7–10).81 Insofern der Begriff bāśār („Fleisch“) zugleich zur Kennzeichnung des Lebens als vergänglich dient (vgl. Ps 78,39; Jes 40,6; Sir 14,17), ist es Hiob unbegreiflich, dass sich seine Freunde nicht mit seiner Hinfälligkeit, seinem „bāśār-Sein“ (vgl. 6,12; 7,5), begnügen können. So tritt für den Leidenden dem Rätsel des Handelns Gottes das Rätsel des Handelns der Menschen zur Seite. 19,23–24 Weil der Ruf Hiobs nach einer Würdigung seiner Gegenwart unerhört verhallt, richtet sich sein Blick auf die ferne Zukunft. Hiobs Worte, die im Jetzt nicht wahrgenommen und gegenwärtig überhört werden, sollen für die Zukunft bewahrt und künftig nicht mehr übersehen werden. Hiob „glaubt an das Recht seiner Worte und daran, daß Gott ihre Wahrheit einlösen wird, sollten Hiob und sein Dichter auch längst gestorben sein.“82 Die aktuelle Klage des Leidenden soll sich in eine dauerhafte stumme Anklage verwandeln,83 indem diese in einem sepær (griech. βιβλίον) verschriftet und damit verewigt wird (vgl. Jes 30,8; Jer 36,2; Ps 102,19). Ganz ähnlich kann der apokalyptische Seher aus dem Umkreis des Henochschrifttums fragen: Wer wird diese meine Worte in ein Buch (ktb) schreiben, das nicht zerfällt, und diese meine Rede bewahren [in einer Rolle, die nicht] vergeht? (4Q536 frgm. 1[2] II,12–13)84
Das Wort sepær ist vieldeutig und kann verschiedene Formen eines schriftlichen Dokuments bezeichnen, einen Brief (vgl. 2Sam 11,14),85 eine Urkunde (vgl. Jer 32,10), eine Inschrift (vgl. Ex 17,14)86 oder auch ein Buch (vgl. 1Sam 10,25), wenn auch nicht im Sinn eines aus einzelnen Seiten zusammengehefteten oder gebundenen Werks, sondern einer Rolle, die aus verschiedenen verklebten oder ShemR XXIII zu Ex 15,1. Vgl. Hi 13,25; Klgl 3,43.66; Ps 71,11; 83,16; 143,3. 81 Zu diesem Motiv vgl. das aram. Gebet im Pap. Amherst 63 VII,5–7 (TUAT II, 931; van der Toorn, Papyrus Amherst, 54f). 82 Knauf, Hiobs Heimat, 77. 83 Nach Magdalene, Scales, 180f, handelt es sich in einem eigentlichen juridischen Sinn um Hiobs Anklageschrift gegen Gott. 84 Übersetzung nach der ergänzten Fassung in ATTM II, 165. 85 Epigraphisch z.B. auch auf den Lachisch-Ostraka (6. Jh. v.Chr.), z.B. Lak(6):1.3 5.9–10 (HAE I, 416–419); (aram.) Adon-Papyrus (KAI 226,9; TUAT I, 633f). 86 Vgl. KAI 1,2 (phöniz. Inschrift auf dem Ahiram-Sarkophag, um 1000 v.Chr.), KAI 24,14–15 phöniz. Inschrift des Königs Kilamuwa von Zincirli/Samʾal, um 825 v.Chr.); KAI 222 B 8.28.33; C 17; 223 B 18; C 2.4.6–7.9.13; 224,4.14.17.23 (aram. Inschriften aus Sefire, Mitte 8. Jh. v.Chr.); KAI 312 I,1 (ammonitische [?] Inschrift vom Tell Dēr ʿAllā); sowie ausführlich Clines, 432. 79 80
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vernähten Lagen besteht. Die Zusammenstellung mit dem akkad. Wort siparru „Bronze“ (vgl. ug. spr IV) hat sich, auch wenn Bronze als Schriftträger im Alten Orient und der Antike vielfach belegt ist, nicht bewährt.87 Für die Annahme, in Hi 19,23 sei ursprünglich eine Inschrift gemeint und kein Buch, sei es das von Jhwh geführte „Buch des Lebens“88, sei es das Buch Hiob selbst,89 sprechen der ausdrückliche Vermerk, die Verschriftung solle eingeritzt (ḥāqaq Hofal) werden sowie mit einem eisernen Griffel (vgl. Jer 17,1) und mit Blei in einen Felsen erfolgen. Den Bildhintergrund bietet möglicherweise die für die Inschrift des persischen Königs Darius I. (550–486 v.Chr.) auf dem Felsen von Behistun/Bisutun (Westpersien) belegte Praxis, eine Inschrift bzw. Teile dieser mit Blei auszugießen, um so die Sichtbarkeit zu erhöhen.90 Dabei erscheinen als eigentliche Adressaten dieser Inschrift die Götter. Dass einzelne Gebetsrufe und Bekenntnissätze im antiken Israel auf Felswände aufgetragen werden konnten, zeigen z.B. die Grabinschrift C aus Ḫ. Bēt Layy („Errette, [J]hwh“)91 oder die Grabinschrift Nr. 3 aus Ḫ. el-Kōm (1–3: „Urijahu, der Reiche hat es schreiben (lassen): Gesegnet war Urijahu vor Jhwh. Und von seinen Feinden hat er ihn durch seine Aschera errettet“)92. Insofern ist die Deutung, Hiobs Wunsch ziele auf die Anfertigung einer Grabinschrift93 oder eines Votivsteins ab, der nach seinem Tod „die Funktion eines Klagepsalms vor Gott übernehmen und seine Erhörung und Rechtfertigung durch Gott bewirken soll“,94 nachvollziehbar. Es fragt sich aber, ob vor dem Hintergrund des Wortgebrauchs von sepær innerhalb der Hiobdichtung (19,23; 31,35) und angesichts des Parallelismus der Wörter sepær und lûaḥ („Tafel“) in Jes 30,8 (vgl. Hab 2,2) nicht noch ein anderer Aspekt mitschwingt: Steht sepær in Hi 31,35 für das von Jhwh selbst auf „Tafeln“ aufgezeichnete „Zehnwort“ (Ex 32,15–16; 34,1.4.28–29) als dem Inbegriff der Torah Jhwhs (vgl. Ex 34,16; Dtn 28,61; 31,24),95 so stellt Hiob diesem in 19,23 sein eigenes Wort gegen-
87 Vgl. dazu bereits Dhorme sowie M. Dietrich/O. Loretz, Akkadisch sipparu „Bronze“ ugaritisch spr, ġprt und hebräisch spr, ʿprt, UF 17 (1986) 401; DCH s.v. sepær II (wo diese Bedeutung auch für Ex 17,14 und Jes 30,8 erwogen wird). 88 Vgl. Ex 32,32–33; Ps 69,29; 139,16; zum Motiv siehe auch ein neubab. Gebet an Nabu 8–12 (Lenzi, Akkadian Prayers, 478, 480). Die Determination (bassepær) kann für die Deutung „Buch des Lebens“ nicht in Anschlag gebracht werden (vgl. GK § 126s). 89 Vgl. Ebach, Streiten, I, 160f. 90 Vgl. dazu ANEP Nr. 249 und Mitchell, Bible, Nr. 45, 884f sowie Galling, Grabinschrift, 6; Weiser; CTAT 50/5, 156. Auch wenn für das antike Israel zahlreiche althebräische Inschriften belegt sind, so fehlen doch bis heute Monumentalinschriften, wie sie für den gesamten Alten Orient, Ägypten, Altsüdarabien und Kleinasien sowie die klassische Antike belegt sind; zu einer kleinen Bildauswahl siehe ANEP Nr. 274–285. 91 Übersetzung nach J. Renz, in: HAE I, 249 (7. Jh. v.Chr.). 92 Übersetzung nach J. Renz, in: HAE I, 207–211 (ausgehendes 8. Jh. v.Chr.). 93 So Galling, Grabinschrift, 4f, mit Hinweis auf die phön. Sarkophaginschrift des Königs Eschmunazar (um 450 v.Chr., KAI 14; TUAT II, 590–592). 94 So Weiser, 148f. 95 Siehe dazu die Auslegung von Hi 31.
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über.96 Hiobs Schrift tritt damit in Konkurrenz zur Schrift Gottes und ihren Verheißungen (vgl. Dtn 30,9–15), sie wird zur Herausforderung eines Gottes, der Hiob zutiefst fragwürdig geworden ist. So fügt sich auch 19,23–24 in den im Hiobbuch geführten kritischen Toradiskurs ein. 19,25 Der Wunsch Hiobs nach der Verschriftung seiner Worte zielt auf eine Fortdauer in die Zeit hinein. Seine Hoffnung, Gott selbst als seinen Erlöser/Löser (goʾel) zu sehen, richtet sich auf eine unmittelbare Erfahrung in der Zeit (vgl. 16,19–21). Mit der Anrede Gottes als Erlöser/Löser bekennt sich Hiob wie die Träger des inschriftlich belegten Namens gʾljhw/Gealjahu („Jhwh hat erlöst“)97 und einzelne atl. Beter zu Jhwhs befreiender Macht in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Hiobs diskontinuierliche Erwartung der Erscheinung Gottes, des Lösers und des Letzten (ʾaḥarôn)98, bildet den Kontrast zu Bildads Ankündigung vom fortwährenden Erschrecken vergangener und künftiger Geschlechter angesichts des Unglückstages des Frevlers (18,20). Dabei rechnet Hiob jetzt offenbar wie in 16,20–21 und 17,3 doch mit dem Auftreten (qûm) Gottes selbst zum Gericht.99 qûm ist auch ein Terminus der Theophanie.100 Gott wird doch über dem Staub (ʿal-ʿāpār) als Richter erscheinen. Diese Gewissheit, die sich in dem betonten „aber ich weiß“ (waʾ anî jādaʿtî) ausdrückt und nun einen scharfen Gegensatz zu Hiobs Wissen um Gottes Strafurteil (9,28; 10,13) und zu seiner Klage über das Ausbleiben von Gottes Gericht (19,7) bildet, bestätigt, dass Hiob trotz aller Erfahrung der Fremdheit Gottes, seiner Umwelt und seiner eigenen Person, mit sich selbst identisch bleibt und sich nicht aufgibt: Er kann und kommt von Gott nicht los (vgl. 14,13–16; 16,17–22; 17,3) und erwartet demzufolge, dass Gott selbst ihn von seinem Leid und von seinen Fragen erlösen (gāʾal),101 ihn ins Recht setzen und seine gegenwärtige Situation als unberechtigt erweisen wird. Das heißt nichts anderes, als dass Gott sich selbst widerlegen und Hiob dementsprechend wieder mit Menschenwürde ausstatten soll (vgl. Ps 103,4). Dabei lässt sich ʿāpār aufgrund seines vielfältigen Wortgebrauchs im Hiobbuch sowohl auf den Staubhügel, auf dem Hiob nach 96 In diesem Sinn deutet R. Ebach auch den in Ex 17,14 genannten sepær als das dtn. Gesetz, das Mose aufzeichnet (Dtn 31,9.24) und das das in Ex 17,14 angedeutete Amalekitergesetz (Dtn 25,17–19) enthält (R. Ebach, Das Fremde und das Eigene. Die Fremdendarstellungen des Deuteronomiums im Kontext israelitischer Identiätskonstruktionen, BZAW 471, Berlin/Boston 2014, 108f Anm. 620). 97 Vgl. die in Arad gefundenen Ostraka Arad (7):39,5 und Arad (6):16,5 (HAE I, 299f, 379f; II/1, 63). 98 Zum Gebrauch von ʾaḥ arôn als Gottesname vgl. JesVg 41,4; 44,6; 48,12 (siehe dazu auch tendenziell Fz. Delitzsch sowie explizit Dhorme; W.L. Michel, Job, 195, und Seow). Zur Deutung von ʾaḥ arôn auf der Basis des mittelhebr. Wortes ʾaḥ araj (vgl. auch Mur 30 frgm. 2,24: ʾḥrʾj) und vor dem Hintergrund von Hi 17,3 als „Bürge“ vgl. Beer, Text, 124, sowie Mowinckel, Hiobs gōʾēl, 211, der ʾaḥ arônî liest, und in jüngerer Zeit Kaiser, 37; 86. Zumeist wird dieses Wort als Zeitangabe „als letzter“ oder „dereinst“ verstanden, gelegentlich auch in einem eschatologischen Sinn „zur letzten Zeit“ (so Zorell). 99 Vgl. Dtn 19,15; Ps 27,12; 94,16. 100 Vgl. Ps 3,8; 7,7; 9,20; 68,2; 76,10; Jes 33,10. 101 Vgl. Ex 6,6; 15,13; Ps 19,15; 74,2; 77,16; 78,35; 103,4; Klgl 3,58; Jes 41,14; 43,1; 44,22–24; 49,7; Sir 51,12e (HB); 11QPsa XVIII 17(15); 4Q381 frgm. 24,5; 4Q385 frgm. 2,1.
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der Szenerie in 2,8 sitzt, beziehen102 als auch metaphorisch auf den zu Staub zerfallenden Hiob (vgl. 30,19; 42,6)103 sowie auf die Erde, auf der Gott zum Gericht erscheint (vgl. 28,2; 41,25)104. Die sprachlich auch mögliche Deutung von ʿāpār als Grabesstaub, Grab oder Unterwelt105 setzt voraus, dass Hiob hier mit einem Ereignis erst nach seinem Tod rechnet.106 Wie die nächste Parallele der Verwendung der göttlichen Epitheta („Erlöser/Löser“ und „der Letzte“) in Jes 44,6 und 48,12 zeigt, ist Hi 19,25 nicht nur ein Rekurs auf eine zentrale Anrede Gottes im Gebet, sondern auch ein kräftiges Bekenntnis zum Jhwh„Monotheismus“. So spricht der Herr, der König Israels, und sein Erlöser, der Herr Zebaoth: Ich bin der Erste und ich bin der Letzte107, und außer mir ist kein Gott. (Jes 44,6 LB)
Dass in Hi 19,25 nicht das Tetragramm gebraucht wird, entspricht dem Sprachgebrauch des Hiobbuches. Der Bitte nach Verewigung der Worte vor den Augen der Menschen als der 19,26–27 horizontal erlebten, linear verlaufenden Zeit steht die Sehnsucht nach der vertikal einbrechenden und punktuell erfahrenen Gottesschau zur Seite. In dieser Gottesschau erhofft sich der an Haut (ʿôr) und Fleisch (bāśār), also am ganzen Körper so schwer Geschundene seine „Ewigkeit“. In der Begegnung mit Gott in der Zeit erwartet Hiob sein Recht auf „Ewigkeit“ (vgl. 23,7). Er selbst wird Gott schauen – erneut erscheint ausdrücklich das Personalpronomen der 1. P. Sg. (vgl. V. 25)108 – und zwar nicht mehr als seinen Feind (ṣār, vgl. V. 11) und als einen Fremden (zār, V. 27, vgl. V. 13; 30,21), sondern als einen Vertrauten (vgl. 13,16). Hiob, der vor den dunklen Seiten Gottes nicht fliehen kann, dem Gott fremd geworden ist, wirft sich Gott in die Arme, hofft auf dessen helle Seite und eine Rückverwandlung in den ihm vertrauten Gott. Hiob gibt seine Haut – darin hat der Satan Recht (vgl. 2,4). Aber er gibt sie für Gott, den er noch vor seinem endgültigen Tod als seinen Rechtsbeistand zu sehen und zu erleben hofft. Dreimal legt der Dichter Hiob ein Wort des Sehens (ḥāzāh, rāʾāh) in den Mund und unterstreicht so, dass es Hiob um eine echte Gottesbegegnung geht: Aug in Aug und von Angesicht zu Angesicht (vgl. 42,5; 1QS XI,3.6). Diese Gottesschau soll Hartley. Vgl. Seow im Sinn der Begegnung Gottes mit der Realität menschlicher Hinfälligkeit und Sterblichkeit. 104 Hölscher; Fohrer; Clines. 105 Die für die Deutung als Grab oder „Unterwelt“ (vgl. TurSinai; W.L. Michel, Job, 97) in Frage kommenden Belege (Hi 7,21; 17,16; 21,26; Ps 7,6; 22,16.30; Jes 26,19; Dan 12,2) sind doppeldeutig, insofern das Grab als Zugang und Abbild der Unterwelt gilt; vgl. den Exkurs zu Hi 3 (S. 124–126). 106 Duhm, 102 („an meinem Grab“); Weiser. 107 Ähnlich kann der iranische Gott Ahura Mazda in den Gathas bezeichnet werden (vgl. Yasna 31,8). 108 Zur Unterstreichung des Gedankens tritt in V. 27aα die Alliteration ʾ ašær ʾ anî ʾ æḥæzæh, so dass es nicht geraten scheint, die Einleitung des Verses als sekundär zu betrachten, auch wenn die zwei einleitenden Wörter in HsK48 fehlen und die Relativpartikel ʾ ašær in der Poesie häufig ein Hinweis auf eine Glossierung ist. 102 103
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Hiob das Leben (wieder-)bringen (vgl. Ex 24,10–11) – entgegen der auch im AT belegten Vorstellung, dass derjenige, der Gott sieht, stirbt (vgl. Ex 33,20). Meint der Ausdruck „Gott sehen“ in kultischen Zusammenhängen ursprünglich, Gott in Gestalt eines diesen repräsentierenden Kultbildes zu sehen, dann in einem übertragenen Sinn zum Heiligtum zu gehen und dort Gottes heilvolle Anwesenheit zu erleben (vgl. Ps 63,3),109 so steht er hier für Hiobs vom Kult abgelöste Erwartung einer unmittelbaren Gottesbegegnung, die ihm Gottes eigentliches Wesen offenbart. Dabei nimmt Hiob für sich in Anspruch, was der Beter von Ps 11,7 bekennt: Denn Jhwh ist gerecht und liebt Gerechtigkeit, die Aufrichtigen110 werden sehen111 sein Angesicht.
Die Dringlichkeit der Gottesschau Hiobs in diesem Leben unterstreicht das mittels Alliteration besonders hervorgehobene Bild der im Innern verschmachtenden, d.h. vergehenden112 Nieren (V. 27a), die gemäß der atl. Anthropologie als Sitz besonderer Empfindungen gelten.113 In der Kette der Grundbegriffe für den menschlichen Leib und Körper, die sich wie ein roter Faden durch den zweiten Hauptteil der Rede in Hi 19 ziehen (vgl. V. 17, 20, 26), stehen die Nieren, über deren geheimnisvolle Erschaffung durch Gott der Beter von Ps 139,13 staunt, betont am Schluss. Vielleicht ist noch ein zweites Kolon ausgefallen, in dem im Parallelismus vom Herzen Hiobs die Rede war (vgl. Ps 26,2; 73,21.26). Jedenfalls endet auch diese Rede Hiobs (ursprünglich) mit einem Ausblick auf den nahen Tod, wobei die Spannung zwischen der Hoffnung Hiobs auf den ihn ins Recht setzenden Schöpfergott und der Erwartung seines definitiven Endes noch stärker als in der vorangegangenen Rede in Kap. 16–17 ist. Dass Hiob, obgleich schon vom Tod gezeichnet, darauf hofft, Gott noch in diesem Leben zu sehen und von Gott vor diesem und vor den Menschen umfassend gerechtfertigt zu werden,114 ergibt sich vor allem vor dem Hintergrund der Gesamtkomposition der Dichtung. So zeigen Stellen wie 7,6–21; 9,25; 13,15; 14,7–21 und 17,15–16, dass der Hiobdichter nicht die Überzeugung von einer den Tod überdauernden Beziehung des Menschen zu Gott vertritt.115 Ebenso 109 Zur traditionsgeschichtlichen Entwicklung dieser Vorstellung siehe grundsätzlich Hartenstein, Angesicht. 110 Lies j ešārîm anstelle von jāšār. 111 Vgl. Ps 17,15; 42,3. 112 Zu dieser Verwendung von klh vgl. Hi 7,6; 11,20; 33,21; Ps 39,11; 73,26; 84,3; 90,7; zum Bild siehe Hi 16,13. 113 Vgl. Ps 16,7; 26,2; 73,21; Spr 23,16. 114 Vgl. dazu auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen Fohrer; Hartley; TurSinai und Clines (als Hiobs Hoffnung) bzw. Kessler, „Ich weiß“, 139–158, der die Erwartung der gesundheitlichen und materiellen Restitution betont (so bereits Johannes Chrysostomos und Calvin) sowie grundsätzlich auch Hermisson, „Ich weiß“, 682; 684, wenngleich dieser meint, der Dichter habe bewusst in der Schwebe gelassen, ob „Hiob beim Auftreten des ּג ֵֹאל,schon gestorben‘ oder ,noch am Leben‘“ sei, und er die Frage einer prä- oder postmortalen Gottesschau für eine falsche Alternative hält. 115 Vgl. Ps 6,6; 30,10; 88,11–13; 115,17; Jes 38,18–19.
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verdeutlichen insbesondere Hi 21 und Hi 24* die Vorstellung, dass Gott die Taten des Menschen (nur) immanent vergilt. Hi 19,21–27 fügt sich nahtlos ein in Hiobs Entwicklung von der Überwindung des Todeswunsches hin zur Herausforderung Gottes zum Rechtsstreit unter gleichzeitiger Betonung der eigenen Unschuld und der Hoffnung auf die rettende Begegnung mit Gott selbst.116 Die hier vertretene Auslegung von 19,25–27, die in der Figur des „Erlösers“ Gott selbst117 und in der Epiphanie und Gottesschau Hiobs ein Ereignis vor der Todesgrenze sieht, ist eine – wenn auch die aus historisch-kritischer Sicht wahrscheinlichste – Deutung unter vielen anderen. So wird der goʾel in V. 25 mitunter auch angelologisch interpretiert, insofern Hiob hier auf einen persönlichen Fürspracheengel vertraue (vgl. 5,1; 33,23–25),118 oder anthropologisch, insofern Hiob auf einen menschlichen Schlichter (vgl. 9,33–35),119 einen Bluträcher (goʾel haddām)120 bzw. eine unbekannte Figur hoffe, die gemäß der atl. Rechtseinrichtung der g eʾullāh zugunsten Hiobs eingreife: Entsprechend der g eʾullāh soll ein reicheres Familienmitglied das Grundstück, das einer seiner Verwandten in einer Notlage verkaufen musste, um zu überleben, zurückkaufen (vgl. Lev 25,23–49; Jer 32,7–28; Rut 2,20; 3,9–13; 4,3–6). Der Verwandte, der für sein verarmtes Familienmitglied eintritt, wird als Löser (goʾel) bezeichnet. Im Hintergrund steht die Vorstellung, dass Grundbesitz im Bereich der Familie bleiben soll.121 Daneben finden sich eine metaphorische Deutung, insofern Hiob auf die Wirksamkeit seines Rufs nach Recht hoffe,122 und eine visionäre, insofern Hiob in Ekstase sehe, wie Gott selbst für ihn in diesem Leben eingreift.123 Für die christologische Deutung, wie sie die Interpretation in der Alten Kirche, im Mittelalter und teilweise noch die ,vorkritische‘ neuzeitliche Auslegung bestimmt, die das AT aus der Perspektive des NT und auf das NT hin liest, das damit zum hermeneutischen Schlüssel des AT wird, ist der goʾel Jesus Christus, auf dessen Erlösungswerk Hiob hier prophetisch vorausschaut. Auch wenn eine solche Interpretation aus historisch-kritischer Perspektive nicht den ursprünglichen Sinn des Textes von Hi 19,25 trifft, so ist dieser doch offen für eine solche relecture.124 Vgl. Hi 9,25–10,2; 13,13–27; 16,17–22; 23,2–13; 27,2–6; 31,35–37. So auch die Mehrheit der neueren Auslegungen. 118 Vgl. den Exkurs zu Hi 16,19–20 sowie Mowinckel, Hiobs gōʾēl; Johansson, 31–33; Terrien; Pope; Habel; Cornelius. 119 So Magdalene, Scales, 220f, die an einen Mitstreiter in Hiobs Klage gegen Gott denkt, der im Unterschied zu Hi 16,18–22 nun aber einst auf der Erde auftrete. 120 Vgl. Num 35,19–27; Dtn 19,11–12; 2Sam 14,11, und zur Anwendung dieser Vorstellung auf Hi 19,25 E. Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frankfurt/M. 1968, 156–159. 121 Vgl. dazu auch Kessler, „Ich weiß“, 139–158, der Hi 19,25 auch vor dem Hintergrund der g eʾullāh deutet, aber eine metaphorische Anwendung des goʾel-Titels auf Gott sieht, so dass seine sozialgeschichtliche Deutung ebenfalls dem Modell der Identifikation des Erlösers mit Gott zuzurechnen ist. 122 Vgl. z.B. Clines. 123 Vgl. z.B. Gordis. 124 Siehe dazu auch Hermisson, „Ich weiß“, 687f. 116 117
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Neben der prämortalen Deutung von V. 26 begegnet eine Reihe postmortaler Interpretationen, insofern Hiob selbst eine Rehabilitation nach seinem Tod erlebe, sei es als leiblich Auferstandener,125 als vom vergänglichen Körper gelöste, unsterbliche Seele126 oder in einer postmortalen Gottesbegegnung127. Nach einer besonderen Spielart der postmortalen Interpretation ereignet sich die Würdigung Hiobs in Gestalt der Erinnerung an seine Gerechtigkeit, sei es seitens seiner Freunde, sei es im Rahmen der Lektüre des Buches.128 Schwer nachvollziehbar ist die Deutung von M. Köhlmoos, dass in V. 25–27 „paradoxerweise keine Hoffnungsaussage“ vorliege, Hiob hier vielmehr in Umkehrung traditioneller Heilstraditionen damit rechne, dass Gott zu spät komme, nämlich dann, wenn er bereits tot sei und nichts mehr von einem Erscheinen Gottes habe.129 Auch hier unterscheidet sich die LXX erheblich vom MT, was für die christliche Rezeptionsgeschichte von besonderer Bedeutung ist: 25 Denn ich weiß, dass immerwährend ist, der mich befreien wird auf der Erde. 26 Meine Haut, die solches geduldig ertrug, möge er auf(er)stehen lassen. Denn vom Herrn ist dies für mich vollbracht, 27 dessen ich (mir) bei mir selbst bewusst bin, das mein Auge gesehen hat und kein anderes (Auge). Und alles ist für mich vollendet in (meiner) Brust130.
19,28–29 Ein Nachtrag präzisiert die Erwartung Hiobs, von Gott ins Recht gesetzt zu werden, ausdrücklich um die Dimension der Rehabilitation Hiobs vor seinen Freunden. Damit lässt der Ergänzer dieser Verse Hiob zu seiner Auseinandersetzung mit seinen Freunden zu Beginn der Rede (V. 2–6) und zur Bestreitung der von diesen vertretenen Positionen in früheren Reden (vgl. 12,2–3; 13,1–17*; 16,2–6) zurückkehren. Der Nachtrag liegt tendenziell auf der Ebene der Zusätze in 12,4–6 und 17,8–10, in denen Hiobs Gerechtigkeit gegenüber den Freunden besonders betont wird. Dabei besitzt die Paraphrase der Rede der Freunde, die am Handeln und Verhalten Hiobs selbst die Ursache seines Leidens vermuten, in der Beschreibung der Verspottung des leidenden Gerechten durch die Frevler in SapSal 2,10–12 ein Pendant. Eine Besonderheit besteht in der doppelten War125 Vgl. in diesem Sinn Siegfried, 38 (wobei 19,25–27a ein Nachtrag sei), und ähnlich Speer, Exegese, 139 (19,25–26 als sekundär; mit ausführlicher Darstellung der Geschichte der Auslegung von Hi 19,25–27), sowie in neuerer Zeit Mende mit der Rückführung von V. 25.27a auf den von ihr angenommenen Verfasser der Grundschicht der Elihureden und von V. 26.27b auf einen Redaktor aus dem 2. Jh. v.Chr., der eine ähnliche Auferstehungshoffnung vertrete, wie sie in 2Makk 7,9.11 vorliege (vgl. auch Dan 12,13 und dazu bereits Siegfried und Speer, Exegese, 139) und E. Galenieks, Seeing God With or Without the Body: Job 19:25–27, JATS 18 (2007) 101–121, mit einer Neuauflage der traditionellen eschatologischen Deutung, s.u. S. 314–315. 126 Vgl. Hölscher, 49–51, mit dem Verständnis von mibb eśārî („ohne mein Fleisch“) als „in leiblosem Zustande“ und Verweis auf Jub 23,30–31. 127 Vgl. z.B. Weiser, 143; 147–153; Groß, 75; tendenziell auch Spieckermann, Satanisierung, 440. 128 Vgl. z.B. Maag, Hiob, 186f; TurSinai und Clines (als Hiobs Befürchtung). 129 Köhlmoos, Auge, 277. 130 Vgl. dazu LXX.D, 1029, und LXX.E II, 2094f.
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nung vor dem göttlichen Gerichtsschwert (ḥæræb),131 hinter der die Erwartung eines endzeitlichen Gerichts aufblitzt.132 Ist diese Vorstellung den älteren literarischen Schichten des Hiobbuches fremd, so zeigt sie – wie schon der apokalyptisierende Zusatz in 14,12* – das Eindringen eschatologischer Vorstellungen in die weisheitliche Überlieferung des antiken Judentums, wie sie sich in Spr 2, Ps 37 und SapSal sowie außerkanonisch in einzelnen Schriften aus Qumran und der Henochüberlieferung niedergeschlagen hat.133 Der Grund, diese Notiz gerade in 19,28–29 einzufügen, liegt möglicherweise im Verständnis des sepær Hiobs als Buch (19,23–24) und in der vor allem in der Apokalyptik verbreiteten Vorstellung des (endzeitlichen) Gerichts auf der Basis von Büchern, in denen „entweder die guten und die bösen Taten der einzelnen aufgezeichnet sind oder auch die Namen der zum Leben und zum Tod Bestimmten.“134 Hatten die Freunde Hiob indirekt vor dem Schwert Gottes gewarnt (15,22, vgl. 36,16), so sehen sie sich nun ausdrücklich selbst mit dieser Aussicht konfrontiert, womit sie sich gemäß der Logik des Streitgesprächs als die eigentlichen Frevler herausstellen. Endete diese Rede Hiobs ursprünglich mit einer scharfen Antithese von Hiobs Hoffnung auf eine rechtfertigende Schau Gottes in diesem Leben und dem Ausblick auf seinen nahen Tod (V. 26–27), so steht jetzt am Schluss betont der sich an die Freunde und an die Leser des Buches wendende Hinweis auf ein göttliches Gericht (dîn), das über die ergeht, die in Hiob selbst die Ursache seines Leidens sehen (vgl. Ps 76,9–10). Damit sind einerseits die vorangehenden Bestreitungen von Gottes Gerechtigkeit relativiert, andererseits wird Hiob selbst zu einem Maßstab göttlicher Gerechtigkeit. Die Leser des Prologs wissen, dass Hiob hier auf paradoxe Weise doppelt Recht hat: Denn einerseits liegt nach den Himmelsszenen, die der Ergänzer von 19,28–29 bereits kennt, der Grund für die Auswahl Hiobs zum göttlichen Test tatsächlich in Hiob, nämlich in seiner beispielhaften Frömmigkeit (vgl. 1,8), zum anderen ist Gott selbst der Grund von Hiobs Leid (vgl. 2,3). So weist diese Rede Hiobs mit ihrer Hoffnung auf ein Erscheinen und Sehen Gottes und ihrer Erwartung eines Gerichts an den Freunden kompositionell und pragmatisch weit über sich hinaus. In seiner eschatologischen Dimension richtet sich die in V. 28–29 ausgesprochene Warnung dann auch an alle folgenden Generationen, die vorschnell über Hiob urteilen – also auch an diejenigen, die das Hiobbuch lesen.
131 Vgl. Dtn 32,41–42; Ps 17,13; Jes 27,1; 34,5–8; 66,16; Jer 25,29.31; 47,6; Ez 11,10; 21,7–10; Sach 13,7; 4Q381 frgm. 31,7. 132 Vgl. Ps 76,8–9; 96,13; 98,9; Jes (34,5); 66,16; Am 9,10 und dazu Feldmar, Fortschreibungen, 220f; 275. 133 Vgl. Ps 1,5; 25,9; 37,33; Pred 3,17; 8,5; 11,9; 12,14; SapSal 3,13.17; zu den entsprechenden kanonisch gewordenen Weisheitstexten siehe Witte, Ewigkeit, 39–65, zu den nicht kanonisch gewordenen Texten (v.a. 4QInstruction/1Q26; 4Q415–418.423; 1Hen) Tigchelaar, Learning; Goff, Wisdom; Wright/Wills, Conflicted Boundaries. 134 Bousset/Gressmann, Religion, 258, mit der Auflistung zahlreicher Belegstellen, u.a. 1Hen 89,70.76–77; 90,17; 104,7; 108,7 – siehe dazu auch oben zum „Buch des Lebens“, S. 307.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Ausblick auf die Wirkungsgeschichte von Hi 19,25–27 Hiob durchleidet in 19,21–27 die Spannung zwischen Gottesferne und Gottesnähe, zwischen der Anklage gegen Gott und der Zuversicht auf Gott. Er hofft darauf, mit Gott selbst in den Rechtsstreit zu treten – sei es als seinem Gegner, sei es als seinem Rechtsbeistand. Ein eindeutiger atl. Beleg für die Vorstellung einer leiblichen Auferstehung oder eines Lebens nach dem Tod ist Hi 19,25–27 weder nach dem mutmaßlich ursprünglichen hebr. Text noch in der sich stark vom MT unterscheidenden Septuaginta,135 auch wenn sich eine solche Deutung von der frühchristlichen Rezeption dieses Textes bis weit in die Neuzeit hinein findet und der Text aus der Perspektive des NT für eine solche Deutung offen ist.136 In diesem Sinn rezipiert bereits Clemens Romanus (um 100 n.Chr.) in seinem ersten Brief an die Korinther (24,1; 26,2–3) Hi 19,25–26 in einer mit der LXX vergleichbaren Fassung. Dabei handelt es sich um den ältesten bisher bekannten expliziten christlichen Bezug auf Hi 19,25–26: Bedenken wir, Geliebte, wie der Herr fortwährend anzeigt, daß die künftige Auferstehung stattfinden wird, zu deren Anfang er den Herrn Jesus Christus machte, den er von den Toten auferweckte [...]. Es heißt ja irgendwo: Und du wirst mich auferwecken, und ich werde dich lobpreisen [vgl. etwa Ps 27,7; 87,11], und: Ich schlummerte ein und schlief; ich erwachte, denn du bist mit mir [Ps 3,6; 22,4]. Und Job wiederum sagt: Und Du wirst auferwecken dieses mein Fleisch, das dies alles erduldet hat [Hi 19,25–26].137
Diese Deutung findet sich auch in der auf Hieronymus (347–420) zurückgehenden, in die Vulgata aufgenommenen lat. Übersetzung, 138 die bis zur Reformation die wichtigste Bibelübersetzung der gesamten abendländischen Kirche war und seit dem Tridentinischen Konzil 1546 den normativen Bibeltext der römisch-katholischen Kirche darstellte, bevor nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1979 die Nova Vulgata an deren Stelle trat. 25 26 27
scio enim quod redemptor meus vivat et in novissimo de terra surrecturus sim et rursum circumdabor pelle mea et in carne mea videbo Deum quem visurus sum ego ipse et oculi mei conspecturi sunt et non alius reposita est haec spes mea in sinu meo.
25 Ich weiß nämlich, dass mein Erlöser lebt und ich am jüngsten Tag aus der Erde auferstehen werde. 26 Und ich werde wieder mit meiner Haut umgeben werden, und in meinem Fleisch werde ich Gott sehen: 27 Diesen werde ich selbst sehen, und meine Augen werden ihn anschauen und kein anderer. Aufbewahrt ist diese meine Hoffnung in meiner Brust.
In dieser Auslegungstradition stehen auch die deutsche Übersetzung Martin Luthers von 1545 sowie die Zitation von Hi 19,25–27 in der Konkordienformel von 1577, welche die Grundlage für die lutherische Orthodoxie darstellt: S.o. S. 312 sowie die Auslegung von Hi 42,17LXX auf S. 695. Zur Geschichte der Auslegung siehe ausführlich Tremblay, Job 19,25–27, und Speer, Exegese. 137 Übersetzung von J.A. Fischer, Die Apostolischen Väter, I, 58f. 138 Siehe dazu auch Gerhards, Gott, 271–274. 135 136
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Aber ich weis das mein Erlöser lebet / und er wird mich hernach aus der Erden auffwecken. Vnd werde darnach mit dieser meiner Haut vmgeben werden / und werde in meinem fleisch Gott sehen. Den selben werde ich mir sehen / und meine augen werden jn schawen / und kein frembder. Meine nieren sind verzeret in meinem schos.139
da unser Natur, die wir jtzt tragen, ohne die Erbsünde und von derselben abgesondert und abgescheiden, auferstehen und ewig leben wird, wie geschrieben stehet Job. 19.: „Ich werde mit dieser meiner Haut umbgeben werden und werde in meinem Fleisch Gott sehen, denselben werde ich mir sehen und meine Augen werden ihn schauen.“ Ibi enim ea ipsa natura nostra, quam nunc circumferimus, absque peccato originis et ab eodem omnino separata et remota resurget et aeterna felicitate fruetur. Sic enim scripturum est: Pelle mea circumdabor et in carne mea videbo Deum, quem ego visurus sum mihi, et oculi mei eum conspecturi sunt.140
Daneben findet sich die christologische, auferstehungstheologische Interpretation von Hi 19,25–27 auch in einzelnen älteren Ausgaben evangelischer Kirchengesangbücher: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt / er ist schon hier mein Leben; Wer gläubig sich zu ihm erhebt / darf vor dem Tod nicht beben. Ich folg ihm nach / der Bahn mir brach; Auf Todesnacht und Grauen / folgt selges Licht und Schauen.141 Jesus, meine Zuversicht und mein Heiland, ist im Leben: Dieses weiß ich; soll ich nicht darum mich zufrieden geben, was die lange Todesnacht mir auch für Gedanken macht? Ich bin durch der Hoffnung Band zu genau mit ihm verbunden, meine starke Glaubenshand wird in ihm gelegt befunden, dass mich auch kein Todesbann ewig von ihm trennen kann.142
Besonders wirkmächtig wurde die christologische Rezeption von Hi 19,25–27 in Georg Friedrich Händels Oratorium „Der Messias“ (Original The Messiah, 1741 komponiert, 1742 uraufgeführt, englischer Text von Charles Jennens auf Basis der King James Bible und des Book of Common Prayer): Ich weiß, daß mein Erlöser lebet, und daß er erscheint am jüngsten Tage dieser Erd᾽. Wenn Verwesung mir auch drohet, wird dies mein Auge Gott doch sehn. Denn Christ ist erstanden von dem Tod, der erste derer, die schlafen. (Sopran-Arie, Nr. 40, auf Basis von Hi 19,25–27) Kam durch Einen Tod, so kam durch Einen die Auferstehung von dem Tod. Denn wie durch Adam alles stirbt, also lebt durch Christ nun alles wieder auf. (Chorstück, Nr. 41, auf Basis von 1Kor 15,21–22)143 139 D. Martin Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe hg. v. H. Volz unter Mitarbeit v. H. Blanke, München 1972, 937. 140 FC Epit. I.III, BSKL 21955, 772. 141 K.A. Döring (gest. 1844), Evangelisches Gesangbuch der Provinz Brandenburg, Berlin 1900, 156. 142 Otto von Schwerin (1644/1653), EG 526,1+3, Jesus, meine Zuversicht. 143 Beide Textauszüge nach: Beilage zu G.F. Händel, Der Messias. Oratorium in drei Teilen. Gesamtaufnahme in deutscher Sprache, EMI Electrola GmbH 1984.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Hi 20 Die zweite Rede Zophars HD 20,1 Und Zophar der Naamatiter hob an und sagte: 2 3 4 5
Deshalb sollen mir meine Gedanken1 antworten, und darum drängt es2 in mir: Züchtigung, die mich schmäht, muss ich hören, und Wind, der mir fern meiner Einsicht3 antwortet. Weißt4 du das von altersher, seit er5 Menschen auf die Erde setzte, dass der Jubel der Frevler nur kurze Zeit währt und die Freude des Gottlosen nur einen Augenblick?
6 Wenn sein Übermut bis zum Himmel aufsteigt und sein Haupt das Gewölk berührt, 7 so wird er wie sein eigener Kot für immer zugrunde gehn, und die, die ihn einst sahen, werden sagen: „Wo ist er denn?“ 8 Wie ein Traum wird er verfliegen, ohne dass man ihn findet, und er wird verscheucht wie ein nächtliches Gesicht. 9 Das Auge erspähte ihn, aber nicht noch einmal, und es wird ihn nicht mehr erblicken an seinem Ort6. 10 Seine Söhne müssen den Geringen Ersatz leisten7 und seine Hände seinen Reichtum zurückgeben. 11 Sind auch seine Knochen voller Jugendkraft, so muss sie sich doch mit ihm in den Staub legen.
1 Ob das nur zweimal im MT belegte Wort ś eʿippîm hier wie in Hi 4,13 „Gedanken“ bedeutet, ist unsicher; 11QTgHi übersetzt mit lbbj „mein Herz“. 2 Wörtl.: „ist mein Ungestüm (ḥûšî) in mir“ (vgl. Ges18); demgegenüber leitet KAHAL ḥûšî von ḥwš II ab und konjiziert zu jāḥûšû „sie (meine Gedanken) sind schmerzvoll/sorgen sich“ (vgl. DCH mit der Differenzierung in ḥwš II und ḥwš III sowie Hartley und Seow, die aber am MT als Inf. cstr. festhalten: „wegen des Schmerzes/der Gefühle in mir“). 3 BHS schlägt vor, mebînātî „mein(es) Verstand(es)“ zu lesen (so wohl auch Weiser, der dann aber rûaḥ im Sinn von „Geist“ interpretiert; zu mebînāh vgl. 4Q417 frgm. 2(1) I,10–11). BHK erwägt nach LXX mibbînāh „ohne Einsicht“. Doch spricht die Parallele in Hi 15,2 für die obige Übersetzung. Zum Verständnis von mebînātî als zweites Objekt zu ʾæšmāʿ und zur Auflösung von V. 3bβ als asyndetischen Relativsatz siehe Bobzin, Tempora, 275f. rûaḥ ist hier wie in Hi 1,19 und 4,15 als Mask. konstruiert. 4 Die V. 4 einleitende Fragepartikel h a braucht nicht mit HsR379 (vgl. Th) in h aloʾ geändert zu werden, sondern kann als Einleitung einer rhetorischen Frage beibehalten werden (vgl. 1Kön 22,3; Jer 40,14; Watson, Poetry, 340). Vg (und wohl auch Syr) lesen als Aussage Zophars die 1. P. Sg. 5 D.h.: Gott; möglich ist auch die Auflösung von śîm als Inf. Pass. Qal „gesetzt sind“ (vgl. J/M § 58c). 6 Zumeist wird māqôm, was dann als Fem. konstruiert wäre, als Subjekt von V. 9b verstanden (vgl. J/M § 134m), doch handelt es sich eher um einen adverbialen Akkusativ (Bobzin, Tempora, 278). 7 e j raṣṣû wird zumeist als Piel von rṣh I „die Gunst jmd. suchen“ im Sinn von „anbetteln“ verstanden; (vgl. Ges18; CTAT 50/5, 164), der Parallelismus mit šwb (Hif.) legt eher eine Ableitung von rṣh II nahe (vgl. KAHAL; J. Gray; Lev 26,34.41.43; Jes 40,2).
Hi 20 Die zweite Rede Zophars
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12 Wenn das Böse in seinem Munde süß ist, er es unter seiner Zunge wohl verwahrt, 13 es aufspart und nicht lassen will und es mitten in seinem Gaumen behält, 14 so verwandelt sich seine Speise in seinen Eingeweiden, wird Schlangenbitteres in seinem Inneren. 15 Das Vermögen, das er verschlang,8 muss er ausspeien, aus seinem Inneren wird El es austreiben. 16 Schlangengift wird er saugen, töten wird ihn die Vipernzunge.9 17 Er sehe nicht auf Ströme von Öl10, auf Bäche von Honig und Dickmilch. 18 19 20 21
Er gibt seinen Besitz11 zurück und wird ihn nicht (endgültig) verschlingen, am12 Vermögen seiner Tauschgeschäfte wird13 er keine Freude haben. Denn er bedrückte, ließ die Geringen im Stich, raubte ein Haus und baute es nicht selbst. Denn er kannte keine Ruhe in seinem Innern und wollte mit seinen Schätzen nicht retten14. Es gab kein Entrinnen vor seinem Fressen, deshalb wird sein Gut keinen Bestand haben.
22 Im Überfluss seines Reichtums wird es ihm eng werden, die ganze Gewalt15 der Mühsal16 wird über ihn kommen. 23 Es sei, um sein Inneres zu füllen:17
8 Anstelle von bālaʿ waj eqiʾænnû „er verschlang und muss ausspeien“ lies b elāʿô j eqiʾænnû (vgl. Bobzin, Tempora, 281f; ähnlich Seow, aber ohne Änderung des MT). 9 Der Gebrauch der Tempora ist auffällig; Bobzin, Tempora, 283, vermutet, dass dieser Vers bereits den mittelhebr. Tempusgebrauch widerspiegelt; zur futurischen Wiedergabe von V. 16a siehe auch Seow. 10 Lies jiṣhār anstelle von nah arê „Ströme“, das eine Dublette zu naḥ alê darstellt (vgl. Hi 29,6). Dagegen konjiziert Seow (nach Vg) biplāgôt nāhār „Verzweigungen/Nebenarme des Flusses“. 11 Anstelle von jāgāʿ „Besitz“ lies j egāʿô. 12 Anstelle von keḥêl „wie/gemäß dem Vermögen“ lies mit vielen Hss und Syr b eḥêl. 13 Die Kopula vor loʾ ist wohl eine Dittographie (vgl. HsK101). 14 Eine Änderung in jimmālleṭ „er rettet sich“ (vgl. Th; Syr; Weiser) ist nicht geboten. Auch Hartley, Strauß und Seow bleiben beim MT, wobei Hartley eine Ellipse annimmt (j emalleṭ napšô, vgl. Gordis), Strauß unpersönlich übersetzt und Seow für mlṭ (Piel) hier die Bedeutung „in Ruhe lassen“ annimmt (vgl. 2Kön 23,18); doch siehe die Auslegung. 15 Wörtl.: „Hand“ (vgl. Hi 8,4). 16 Anstelle von ʿamel „Mühseligen“ lies ʿāmāl (vgl. wenige Hss; LXX; Vg). 17 Nach Watson, Poetry, 181, ist Hi 20,23 ein Beispiel für ein (ursprüngliches) Trikolon nach dem Muster A–B–B’. Wahrscheinlicher ist, dass V. 23aα eine Glosse ist und V. 23aβ+b ursprünglich ein Bikolon mit einem synonymen Parallelismus darstellt (im OG fehlte V. 23aα).
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Er18 wird auf ihn die Glut seines Zornes senden und wird Schrecken19 über ihn20 regnen lassen21. Wird er vor der Rüstung aus Eisen fliehen, so wird ihn ein Bogen aus Erz durchbohren, ein Spieß22 wird aus (seinem) Innern23 ragen und ein Blitz aus seiner Galle gehen, [Schrecknisse über ihn].
26 Alle Finsternis ist versteckt für ihn24, Feuer, das man nicht angefacht25, wird ihn fressen26, dem Entronnenen in seinem Zelt geht es schlecht27. 27 Der Himmel wird seine Schuld enthüllen, und die Erde wird sich gegen ihn erheben. 28 Ein Strom28 wird sein Haus überrollen29, ein Sturzbach am Tag seines30 Zornes.
D.h.: Gott. Die Lesart bilḥûmô ist kaum ursprünglich. Die Bedeutung eines nur hier und in Zeph 1,17 belegten Lexems leḥûm I (nach arab. laḥm) ist unsicher („Fleisch/Körper/Speise [?]“). Schon die antiken Übersetzungen differieren stark. Die oben gebotene Übersetzung folgt der wohl von LXX (ὀδύνας) vorausgesetzten Lesart ballāhôt (Hi 18,11; 27,20). Der Vorschlag der BHS, ʿālâw mabbel ḥammô „über ihn Feuer seiner Wut“ (vgl. die Anm. zu Hi 18,15; Strauß) zu lesen, hat einen Vorläufer bei Duhm, dem Weiser folgt (ʿālâw mabbûl ḥamātô); die Existenz eines hebr. Wortes mabbel ist aber nicht gesichert. Weitere Konjekturen verzeichnen DCH (s.v. mṭr und s.v. leḥûm II „Krieg“ [vgl. Vg; Syr]; danach Hartley [„his munitions“]); CTAT 50/5, 171f; Clines (belaḥmô „als seine Speise“) und Seow. Noegel, Janus Parallelism, 65–68, nimmt ein bewusstes Spiel mit dem doppeldeutigen Wort leḥûm I und II an. 20 ʿālêmô ist eine poetische Sg.-form, gleichbedeutend ist ʿālâw (vgl. Hi 22,2; 27,23; G/K § 103; J/M § 103m; CTAT 50/5, 171). 21 Zum Jussiv (jamṭer) vgl. die Anm. zu Hi 15,33; möglicherweise ist jamṭir zu lesen. Bobzin, Tempora, 286f, versteht jamṭer im Sinn von wajjamṭer und interpretiert die Passage wie Hi 18,6– 20 als „Beispielerzählung“. 22 Anstelle von šālap wajjeṣeʾ „er zog heraus und es kam heraus“ lies šælaḥ jeṣeʾ (vgl. LXX; Jo 2,8). DCH verzeichnet ein eigenes Substantiv šālāp „Messer“ (vgl. syr. šelpoʾ), das dann allerdings nur hier im MT belegt wäre (vgl. auch Hölscher; Seow). 23 Für diese Wiedergabe von gewāh/gew spricht der Parallelismus (vgl. Ges18 s.v. gewāh I, DCH s.v. gaw II); möglich wäre aber auch die Übersetzung mit „Rücken“ (vgl. Ges18; KAHAL s.v. gew I; DCH s.v. gewāh I). 24 liṣpûnâw „für seine Verborgenen/für sein Aufgespartes“ (danach Clines [„for his treasures“] und Seow [as his stored-up things“]) dürfte eine Variante zu ṭāmûn sein und in lô zu ändern sein (vgl. LXX); anders J. Gray, der liṣpûnâw an das Ende von V. 25b stellt. 25 nuppāḥ ist unpersönlich zu verstehen (vgl. G/K § 145u). 26 e t ʾåklehû ist wohl als toʾk elehû zu punktieren. 27 Anstelle von jeraʿ, das entweder von rʿh „weiden/ernähren“ abgeleitet werden kann (vgl. Weiser; Hartley; Clines; Seow mit Bezug auf das Feuer, das dann im Gegensatz zu V. aβ mask. verstanden wäre) oder von rʿʿ „schlecht sein“, lies jerô aʿ. 28 Anstelle von j ebûl „Ertrag“ (so Weiser) lies jābāl (vgl. HsK240 ; Jes 30,25) oder mabbûl „Flut“ (vgl. Gen 6,17). 29 Anstelle von jigæl „gehe/geht fort“ (von glh [so Weiser]) lies jāgol (von gll I). Zur Annahme eines bewussten Spiels mit beiden Wurzeln, glh und gll, siehe Noegel, Janus Parallelism, 71–73. 30 D.h.: Gottes. 18 19
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Das ist der Teil des Frevelmenschen [von Gott]31 und das ihm bestimmte32 Erbe vonseiten Els.
Holbert, J.C.: ʽThe Skies Will Uncover His Inquitityʼ: Satire in the Second Speech of Zophar (Job Literatur XX), VT 31 (1981) 171–179. – Loretz, O.: Hebräisch tjrwš und jrš in Mi 6,15 und Hi 20,15, UF 9 (1977) 353–354. – Pardee, D.: merôrāt-petanîm ʽVenomʼ in Job 20:14, ZAW 91 (1979) 401–416. – Nõmmik, U.: Die Freundesreden des ursprünglichen Hiobdialogs. Eine form- und traditionsgeschichtliche Studie, BZAW 410, Berlin/New York 2010.
Die zweite Zopharrede ist eine Mahn- und Warnrede über das Schicksal eines Frevlers. Sie besteht aus sechs Strophen (V. 2–5|6–9[10–11]|12–15[16–17]|18– 21|22–25*|26*–29) zu je vier Bikola und weist dasselbe strophische Grundmuster auf wie die erste Zopharrede (Kap. 11). In der Eröffnung betont Zophar sein Recht zu reden (V. 2–3), spricht Hiob persönlich an (V. 4) und formuliert eine theologisch-anthropologische These (V. 5). Im Hauptteil (V. 6–29) erfolgt eine fünffache Begründung und Entfaltung dieser These. Ähnlich wie in der zweiten Bildadrede findet sich nur (noch) in der Redeeinleitung eine direkte Anrede in der 2. P. Sg., wie jene mündet sie in einem Summarium über das Ende des Frevlers (rāšāʿ, V. 29). Das Summarium korrespondiert begrifflich und sachlich mit der in der Eingangsstrophe genannten These und dient als Unterschrift für die ganze Rede. Wie in Kap. 18 zielt der Ausblick auf die Vernichtung des Frevlers nicht (mehr) auf eine Verheißung an Hiob (vgl. 8,21–22 und 11,20), sondern auf eine Warnung. Die einzelnen Strophen des Hauptteils betonen jeweils einen Aspekt des Handelns des Frevlers. So thematisiert die zweite Strophe (V. 6–9) die Hybris (śîʾ) des Frevlers, wobei dessen Untergang unpersönlich geschildert wird. Die dritte Strophe (V. 12–15), die wie die zweite mit der Konjunktion ʾîm („wenn/falls“) beginnt, entfaltet die Bosheit (rāʿāh) des Frevlers. Sie führt dessen Untergang aber ausdrücklich auf Gott zurück, von dem in betonter Endstellung als ʾel die Rede ist (V. 15). Die vierte Stophe (V. 18–21) ist dem Umgang des Frevlers mit seinem Besitz (jāgāʿ) gewidmet, wobei hier wieder unpersönlich von dessen Ende gesprochen wird (V. 21). Die fünfte und sechste Strophe entfalten das göttliche Gericht. Jeweils in der Titelzeile (V. 22, V. 26) wird die Totalität des Unheils, das den Frevler trifft, genannt (kål ʿāmāl; kål ḥošæk). Beide Strophen sind überdies durch das Motiv des göttlichen Zorns miteinander verbunden (V. 23, V. 28). Während die fünfte Strophe von Gott nur in der 3. P. Sg. spricht (V. 23–24), bietet die Schlussstrophe als letztes Wort der Rede nochmals die Gottesbezeichnung ʾel. Dies entspricht dem Abschluss der dritten Strophe in V. 15 und der Schlusszeile der zweiten Bildadrede in 18,21 (vgl. 34,37). Allen Strophen des Hauptteils ist gemeinsam, dass das jeweils zweite und dritte Bikolon mit demselben 31 Dieses Kolon ist kolometrisch zu lang. Gegen die Streichung von ʾādām (vgl. Duhm; Hartley; J. Gray) spricht, dass die Wendung ʾādām rāšāʿ „Frevelmensch“ so auch in Hi 27,13 und in Spr 11,7 begegnet und dass V. 29 mit V. 5 korrespondiert. Zu erwägen ist eher, das in der Hiobdichtung zumeist sekundäre Wort ʾ ælohîm (samt Präp. me) zu tilgen. 32 Wörtl.: „seines (d.h. Gottes) Wortes/seiner Verfügung“ (vgl. CTAT 50/5, 178).
Aufbau und Sprachformen
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Buchstaben beginnt bzw. die jeweils ersten Wörter dieser Bikola eine Paronomasie bildet.33 Auf diese Weise ist die enge inhaltliche Verbundenheit der entsprechenden Verse stilistisch hervorgehoben. Gegenüber der in der zweiten Bildadrede 17 Distichen umfassenden Ausmalung des Schicksals der r ešāʿîm und des ḥānep ist die bildhafte Beschreibung ihres Untergangs in Kap. 20 auf 21 bzw. 25 Distichen angewachsen: Dieser nimmt kosmische Ausmaße an (20,27–28). Zur Beschreibung des Untergangs der Frevler in 20,4–29 verwendet der Dichter ähnlich wie in 15,20–35 und 18,4–21 weisheitliche Sentenzen, in geringem Umfang auch Motive aus Strafankündigungen, wie sie in Dtn 28, in prophetischen Gerichtsworten oder in altorientalischen Vertragstexten34 vorliegen, sowie Bilder aus dem Chaoskampfmythos35 und Elemente aus Pentateuchüberlieferungen. Text- und In 11QTgHi sind Fragmente zu V. 1–6 erhalten. Ein noch nicht publiziertes Literar- Fragment (Kol. III A) bietet möglicherweise ein Pendant zu 20,15–21,2.36 In V. 1 geschichte könnte 11QTgHi einen Überschuss gegenüber dem MT aufweisen, wenn der erhaltene Buchstabe b zu ʾjwb/ʾijjôb ergänzt und die Rede Zophars ausdrücklich als Antwort an Hiob (vgl. 38,1; 40,1.6) gekennzeichnet wird.37 Da in 11QTgHi jedoch keine Äquivalente zu den anderen Überschriften der Freundesreden erhalten sind, bleibt dies unsicher. In LXXZi sind V. 3.4a.9.11–13.14b.20b.21a.23a.25bβ asterisiert. Im ,kirchlichen Text‘ der LXX stammen diese aus Th. Die hohe Anzahl asterisierter Verse spiegelt die überdurchschnittlich vielen philologischen und textlichen Probleme, die Kap. 20 aufweist38 und mit denen offenbar bereits die griech. Übersetzer konfrontiert waren. In einzelnen Fällen kann der kürzere Text auch übersetzungstechnisch und/oder inhaltlich bedingt sein.39 Aus dem kunstvollen Aufbau der Strophen des Hauptteils fallen V. 10–11 und V. 16–17 als zusätzliche Kommentierungen zum Schicksal des Frevlers40 sowie die Versteile 23aα (j ehî lemallê biṭnô), V. 25bβ (ʿālâw ʾemîm)41 und V. 26b (jeraʿ śārîd b eʾåh ålô)42 heraus. Ansonsten ist die Rede literarisch
33 Vgl. V. 7/8 (ke/ke); V. 13/14 (jaḥmol/laḥmô); V. 19/20 (kî/kî); V. 23aβ/24 (j e/ji); V. 27/28 (j egallû/ jāgôl). 34 Vgl. VTE § 96 (TUAT I, 176). 35 Vgl. dazu Fuchs, Mythos, 106–125. 36 Vgl. DJD XXIII, 86; 94. 37 Vgl. DJD XXIII, 93; ATTM I, 285. Sokoloff, Targum, 32f, 109, konjiziert whtjb („und er antwortete“). 38 Siehe die Anm. zur Übersetzung sowie Beer, Text, 130–138; Hölscher; Fohrer; Clines; Seow; Bobzin, Tempora, 275–289; Grabbe, Philology, 76f. 39 Siehe dazu Gorea, Job repensé, 58–67. 40 Hölscher und J. Gray betrachten nur V. 16 als sekundär. 41 J. Gray, 281, behält V. 25bβ bei, bildet aber mittels der Umstellung des Wortes liṣ epûnîm (sic!) zusammen mit V. 26aα ein neues Bikolon („For him terrors are in store, / Total darkness is reserved“); vgl. die Anm. zur Übersetzung. 42 Demgegenüber ziehen Fohrer und de Wilde V. 25bβ und V. 26aα zu einem Distichon zusammen und erhalten somit einen zusätzlichen Vers.
Hi 20 Die zweite Rede Zophars
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einheitlich.43 Die Zuweisung der genannten Kommentierungen zu einer bestimmten Redaktionsschicht des Hiobbuches ist fraglich, auch wenn gerade V. 17 einen spezifischen motiv- und literargeschichtlichen Hintergrund erkennen lässt. Abweisung der Klage Hiobs
20,1–5
20,1 S.o. zu Hi 11,1. Den Wünschen Hiobs nach Erbarmen seiner Freunde, nach Verschriftung 20,2–3 seiner Worte und nach einer Schau Gottes, der ihn ins Recht setzt, hat Zophar nur die schon aus den vorangegangenen Freundesreden bekannte These vom Untergang des Frevlers entgegenzusetzen. Charakteristisch für die Redeeröffnung ist Zophars starke Betonung des eigenen Ichs, was stilistisch durch ein siebenfaches Homoioteleuton auf -î unterstrichen ist. Den als „Wind“ (rûaḥ) und damit als flüchtig, vergänglich und nichtig gekennzeichneten Worten Hiobs stellt Zophar die eigene Klugheit gegenüber (bînāh, V. 3b, vgl. 34,16; 38,4; 39,26).44 rûaḥ bezeichnet hier also nicht in einem positiven Sinn den Geist, der aus der Einsicht Zophars stammt,45 sondern qualifiziert die Rede Hiobs in einem negativen Sinn als Wind. Wie in seiner ersten Rede erscheint Zophar als „der jugendlich Hitzige“46. Ähnlich wird sich später der junge Elihu auf sein besonderes, inspiratorisches Wissen beziehen, wenn er versucht, Hiob und die Freunde zu widerlegen (32,8.16–22). Indem Zophar sein Recht, erneut zu reden, damit begründet, er habe einen schmählichen Tadel (mûsār, vgl. 5,17) vernommen (V. 3), bezieht er sich direkt auf die Eröffnung der Rede Hiobs in Kap. 19 (V. 2–5) sowie – in der ‚Endgestalt‘ des Textes – auf die (sekundäre) Warnung der Freunde vor dem (endzeitlichen) Gericht Gottes (19,28–29). So bestätigt Zophar, dass auch ihm Hiobs „Geist“ (rûaḥ, 19,17) fremd geworden ist. Der Betonung des Drangs zu reden folgt die aus Kap. 15 und 18 bekannte 20,4–5 These, dass seit der Zeit, da Gott, von dem hier nur indirekt die Rede ist, Menschen auf die Erde setzte (V. 4, vgl. Gen 2,8; Dtn 4,32), das Glück der Frevler von kurzer Dauer sei. Wie die Entfaltung dieser These im Hauptteil ab V. 6 zeigt, könnte im Hintergrund erneut eine Anspielung auf die biblische Urgeschichte stehen, nun auf die Generation des Stadt- und Turmbaus zu Babel (vgl. Gen 11,1–9). Dabei appelliert Zophar in einer rhetorischen Frage47 an ein erfahrungsgestütztes Grundwissen Hiobs. Das Vertrauensbekenntnis Hiobs (jādaʿtî) auf den himmlischen Erlöser (19,25) kontrastiert Zophar mit dessen mutmaßlichem Wissen (jādaʿtā) um die seit Beginn der Schöpfung geltenden und erkennbaren Regeln auf der Welt (V. 4). Hatte Hiob mit seiner 43 Anders Hölscher, der auch V. 24–25a als sekundär einstuft, Kaiser, 39, der auch noch V. 21 sowie V. 23 und V. 26aβ.b als Glossen betrachtet, sowie Vermeylen, Métamorphoses, 330; 349, der V. 23.26b.28 auf die „dritte Buchredaktion“, V. 15.19–21 auf die „vierte Buchredaktion“ zurückführt. 44 Zu diesem Redeauftakt vgl. auch BT 5–6.34 (TUAT III, 146.148). 45 So aber z.B. Fohrer und Seow; vgl. auch die Anm. zur Übersetzung. 46 Hölscher, 52. 47 Siehe die Anm. zur Übersetzung.
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Hoffnung auf ein neues Handeln Gottes den Blick in die Zukunft gewagt, so verweist ihn Zophar zurück auf die Vergangenheit und ein altbekanntes Wirken Gottes (vgl. 8,8–9; 15,9–10). Erneut prallen im Umgang mit dem Leiden und der auf dieses bezogenen Rede Gottes unterschiedliche Zeitperspektiven und Begründungsmuster aufeinander. Der Hinweis auf die Kurzlebigkeit des Glücks der Frevler erscheint zunächst als ein weisheitlicher Allgemeinplatz, der an der Situation Hiobs vorbeigeht, und als ein verfehltes Mittel, demjenigen Hoffnung zu schenken, der unter dem Frevler leidet.48 Versteht man diesen Hinweis aber im Kontext einer Antwort auf Hiob als tatsächlichen Versuch, dessen Lage zu deuten, dann zeigt sich, dass Zophar den Wunsch Hiobs auf eine dauerhafte Verschriftung seiner Worte (19,23–24) und Hiobs Hoffnung auf eine Gottesschau (19,25–26) offenbar als schnell vergehenden Jubel eines Gottlosen versteht (V. 6). So erweist sich Hiob in den Augen Zophars nicht nur aufgrund seines Leidens (vgl. 19,13–20), sondern auch aufgrund seiner Erwartung, Gott werde sich ihm zeigen (19,25–26), als Gottesverächter (ḥānep, vgl. 8,13). Für Zophar ist das grundlegende Problem Hiobs, der sich selbst gerade nicht für einen Gottesverächter hält (vgl. 13,16), die falsche Selbsteinschätzung. 20,6–29 Das Schicksal des Frevlers 20,6–9 Dem Aufstieg des Frevlers bis zum Himmel (V. 6, vgl. Gen 11,4) 49 folgen der Verlust seines Ortes (V. 9) und der Abstieg bis in den Staub (V. 11, vgl. Gen 3,19). Anstelle ewigen Ruhms steht ewiges Vergehen und Vergessen. Im Zentrum der Strophe wird hyperbolisch der bis zum Himmel ragende Stolz des Frevlers beschrieben (vgl. 15,7–8). In der Titelzeile (V. 6) ist dies durch die chiastische Anordnung der Satzglieder besonders hervorgehoben. Die LXX bietet die charakteristische Modifikation, dass nicht der Frevler, sondern dessen Opfer bis zum Himmel aufsteigen könnte, was dessen Fall freilich nicht verhindern würde (vgl. Hi 8,20). Damit sind auf der Ebene der LXX die Bezüge, die Hi 20 zur biblischen Urgeschichte aufweist, noch verstärkt (vgl. Gen 4,3–4). Die Gerichtsankündigungen Zophars mögen Ausdruck eines besonderen moralischen Gerechtigkeitsempfindens sein. Gleichwohl ist damit Hiobs Klage über den von Gott verursachten Entzug seiner menschlichen Würde pervertiert. Im Gegenüber von 19,9 und 20,6 zeigt sich ein ähnlicher Kontrast wie im Gegenüber der Erzählungen vom Stadt- und Turmbau zu Babel und der von Jakob geschauten Himmelsleiter (vgl. Gen 11,4 versus Gen 28,12). Auf den Fall Hiobs übertragen heißt dies, dass Zophar Hiob zu den Leuten Babels zählt, während Hiob sich selbst auf der Seite Jakobs und damit auf der Seite derer sieht, die Gott an unbekannter Stätte erblicken (vgl. Gen 28,13–16).50 48 Vgl. in diesem Sinn Hi 15,29–30; Ps 37,1–2.10.20; 73,18–20; siehe dazu auch Houtman, Himmel, 356–361. 49 Vgl. Jes 14,13–14; Jer 51,53; Ez 28,1–19; 31,10; Obadja 4; Dan 4,17–23. 50 Zu weiteren Parallelen zwischen Hiob und Jakob siehe Witte, Hiobs viele Gesichter, 171–189.
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Auch Zophars weitere Bild- und Motivwahl zur Beschreibung des Untergangs des Frevlers muss Hiob signalisieren, dass er selbst ein Frevler sei. Die drastische Beschreibung der Vergänglichkeit (V. 7a, vgl. 1Kön 14,10; Zeph 1,17), des Verschwindens der Sichtbarkeit (V. 7b.9, vgl. 8,18; Ps 37,10.36; 103,16) und des Vergehens „wie ein Traum“ (V. 8, vgl. Ps 73,20)51 berühren sich eng mit Hiobs Elendsklagen und Schilderungen seiner Situation (vgl. 7,7–11; 14,10). Wie schon in Bildads Rede klingt die Gleichsetzung des Schicksals des Frevlers mit der „flüchtigen“ Existenz Kains an (V. 8).52 Der erhofften Gottesschau Hiobs (19,27b) scheint Zophar mit der zu erwartetenden Unsichtbarkeit des Frevlers (20,9a) den Boden zu entziehen. Wenn der Frevler alias Hiob keinen Ort (māqôm) mehr hat (20,9b, vgl. 8,18; 27,21–23), wo und wie sollte er dann noch Gott sehen können (19,25–26, vgl. Ex 33,21)? Analog zur Beschreibung der unheilvollen Zukunft, die dem Frevler bevor- 20,10–11 steht, in der ersten Eliphasrede bezieht eine erste Glosse die Nachkommen in den Untergang ein (V. 10, vgl. 5,4–5; 21,19–21; 27,14). Im Hintergrund steht die Erfahrung, dass Schuld immer eine überindividuelle Dimension hat und sich auf das unmittelbare Umfeld des Täters auswirkt. Theologisch wird dies dann als Strafe Gottes gedeutet.53 Eine zweite, stilistisch durch eine mehrfache Alliteration auf ʿ (a)- hervorgehobene Glosse unterstreicht den Gedanken vom absoluten Ende des Frevlers (V. 11): Letztlich sind jeglicher Besitz und jegliche Lebenskraft des Frevlers dahin. Das Schicksal Hiobs, den die vom Prolog herkommenden Leser als einen Mann sehen, der, seines Besitzes, seiner Kinder und seiner Gesundheit beraubt, im Staub sitzt, wird in das Bild eines Gottlosen eingezeichnet. Die Fortschreibung liegt damit ganz auf der Linie der ersten Strophe der Zopharrede. Sie verstärkt auf der Ebene der ,Endgestalt‘ des Textes den scharfen Kontrast zwischen Hiobs Hoffnung auf das Sich-ErhebenGottes „über dem Staub“ und dem endgültigen Liegen des Frevlers „auf dem Staub“ (V. 11b versus 19,25b). Der nach außen gewandten Hybris (V. 6) stellt Zophar in der dritten Strophe 20,12–15 in subtiler Weise die Bosheit (rāʿāh) zur Seite, die den Frevler von innen heraus vernichtet. Was anfangs noch süß schmecken mochte (vgl. Spr 9,17), verwandelt sich im Inneren zum tödlichen Gift. Sollte hier wieder eine Anspielung auf die Paradieserzählung vorliegen (vgl. Gen 3,6)? Die von der Bosheit ausgehende Lebensfeindlichkeit wirkt auf den Täter zurück und zersetzt diesen. Stärker als die vorangegangenen Freundesreden nimmt die zweite Zopharrede das Innere des Frevlers in den Blick (V. 14–15.20.23, vgl. 15,35). Von dessen Mund, Zunge und Gaumen – im Rahmen der atl. Körpersymbolik Ausdruck für die Äußerungen eines Menschen – geht der Blick gewissermaßen ins Herz des Frevlers. Doch auch hier handelt es sich nicht nur um ein von den Weisen Israels fein beobachtetes psychologisches Phänomen. Im Disput mit Hiob korrespondiert Vgl. die äg. Lehre d. Ptahotep 287: „Ein kurzer Augenblick, gleich einem Traum“ (TUAT III, 207). Vgl. Hi 15,23; 18,18; Spr 27,8; Jes 16,2. 53 Vgl. Ex 20,5–6; 34,7; Jer 18,21. In Jer 31,29; Ez 18,2; Klgl 5,7 wird diese Denkfigur vor dem Hintergrund des Babylonischen Exils problematisiert. 51
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die Ausmalung, wie sich die Bosheit des Frevlers gegen diesen selbst richtet und wie sie ihn innerlich auffrisst, mit Hiobs Beschreibung seiner körperlichen Schmerzen (19,20): Das Gift, dem sich Hiob durch die Pfeile Gottes selbst ausgesetzt sieht (6,4),54 ist für Zophar das Gift, das sich der Frevler durch seine Bosheit zugezogen hat. Es bewirkt, dass er alles, was er erworben hat, wieder von sich geben muss. Unrechtmäßig Erworbenes bleibt im Halse stecken.55 Was als eine natürliche Reaktion erscheint, ist letztlich ein Handeln Gottes. So steht betont am Ende dieser Strophe und fast in der Mitte der ursprünglichen Komposition der zweiten Zopharrede ein ausdrücklicher Verweis darauf, dass es Gott (ʾel) selbst ist, der dem Frevler die Lebensgrundlage (ḥajil) entzieht (V. 15, vgl. Jer 51,44). Auch hier bietet die LXX eine charakteristische Modifikation, insofern sie einmalig im Hiobbuch eine Gottesbezeichnung mit dem Begriff ἄγγελος („Engel“) wiedergibt und somit das massive Bild des MT angelologisch entschärft.56 Nach dem MT berührt Zophar einen Punkt Hiobs, der sich von Gott selbst geschlagen erlebt (19,21) – mit dem Unterschied, dass Hiob sich für unschuldig (9,21) bzw. für unverhältnismäßig bestraft hält (19,5–6), während ihm Zophar den Spiegel des absoluten Frevlers vorhält. 20,16–17 Wie die zweite Strophe hat auch die dritte Strophe eine zwei Bikola umfassende Fortschreibung erfahren. Das erste Bikolon (V. 16) nimmt die Metapher des Schlangengiftes, in das sich die Bosheit des Frevlers verwandelt, auf und formt diese zu der Erwartung um, dass der Frevler am Gift von Schlangen sterben werde. Die genaue zoologische Identifikation der in V. 14 und 16 genannten Schlangen ist unsicher. Bei pætæn (LXX: δράκων, vgl. HiLXX 4,10; 7,12; 26,13; 38,29; 40,25, sonst auch ἀσπίς und ὄφις) könnte es sich um eine Kobra (Ges18) oder eine Hornviper (KAHAL) handeln (vgl. Dtn 32,33; Jes 11,8; Ps 58,5; 9,13; Sir 30,12 [HB]; 39,30 [HB]), bei ʾæpʿæh (LXX: ὄφις, sonst auch ἀσπίς) um eine Teppichviper (Cornelius, 275) (vgl. Jes 30,6; 59,5). Eine systematische Klassifikation von Schlangen bietet das sog. Brooklyner Schlangenbuch, ein äg. Papyrus, der paläographisch in die Zeit zwischen dem 6. und dem 4. Jh. v.Chr. datiert wird, inhaltlich aber weit älter sein dürfte.57 Aus der Umwelt des AT sind zur Abwehr von giftigen Schlangen eine Vielzahl von Beschwörungen sowie zur Behandlung von Schlangenbissen entsprechende medizinische Texte bekannt.58
Zu den text- und literarkritischen Problemen von Hi 6,4aβ s.o. Vgl. die äg. Lehre d. Amenemope 14,5–10 (TUAT.NF VIII, 337), modifiziert in Spr 23,6–8. 56 Vgl. hierzu auch Gammie, Angelology, 11. 57 K. Stegbauer, in: TUAT.NF V, 274f – zum Katalog siehe die §§ 1–41 (TUAT.NF V, 281–285). 58 Vgl. z.B. ug. Beschwörungen gegen Schlangen (TUAT II, 345–350; TUAT.NF VIII, 255f), eine neuassyr. Tafel mit Rezepten gegen Schlangenbisse (TUAT.NF V, 153f) oder sehr ausführlich das in der vorhergehenden Anm. genannte Brooklyner Schlangenbuch § 39–100 (TUAT.NF V, 285– 298); vgl. Scurlock/Andersen, Diagnoses, 365f. Zu entsprechenden Darstellungen in der vorderorientalischen Kunst der Eisenzeit siehe z.B. IPIAO IV Nr. 994; 996. 54 55
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Über den Begriff der Zunge spielt der chiastisch gestaltete V. 16, der gelegentlich als Randglosse zu V. 14 angesehen wird,59 auch mit V. 12, so dass er als eine Kommentierung der gesamten dritten Strophe erscheint. Das zweite Bikolon (V. 17) artikuliert in hyperbolischer Entfaltung des Begriffs ḥajil den Wunsch, der Frevler möge nicht auf Ströme von Öl (v.l.), Milch und Honig blicken (vgl. 29,6). Ein Zwei- oder Dreiklang dieser Güter ist auch außerhalb des AT ein im Alten Orient und der Antike beliebtes Bild für Überfluss.60 Beide Glossen verwenden Stereotype, intertextuell leuchten hinter ihnen Pentateuchüberlieferungen auf. So lässt sich V. 16 als sentenzenhafter Rekurs auf die Erzählung von der Bestrafung der gegen Gott und Mose redenden Israeliten in Num 21,5–9 lesen, während hinter V. 17 – nun unter negativem Vorzeichen – die Verheißung anklingt, die nach der Exodusüberlieferung einst Mose und Israel erhalten haben.61 Für den Frevler respektive für Hiob gibt es kein gelobtes Land und nicht den erhofften Erlöser (goʾel, vgl. Ex 6,6; 15,13; Jo 4,18 versus Hi 19,25). Die vierte Strophe steht ganz unter dem Thema sozialer Vergehen des 20,18–21 Frevlers, der sich hemmungslos bereichert und sein Vermögen (jāgāʿ; ḥajil; ḥamûd; ṭôb) nicht dazu verwendet, die Armen zu unterstützen, diese vielmehr vernichtet und im Stich lässt (V. 19, vgl. Ps 41,2).62 Nach der Überzeugung des Zophar wird sich das unsoziale Verhalten des reichen Frevlers wie dessen Bosheit letzlich selbst gegen diesen wenden, so dass er alles, was er unrechtmäßig erworben hat, zurückgeben muss (V. 18, vgl. 27,16–19). Auch hier gibt sich der Dichter als ein genauer Beobachter des menschlichen Wesens zu erkennen, wenn er die Unterdrückung und die Verachtung der Armen, Raub und Ausbeutung, die nach dem atl. Ethos durchgehend der Strafe Jhwhs unterliegen,63 als Ausdruck innerer Ruhe- und Friedlosigkeit des Frevlers beschreibt (V. 20a, vgl. Spr 17,1). Insofern sich durch Hiobs Reden die Klage über die ihm von Gott verhängte, sein Leben zerstörende Unruhe zieht (3,24–26; 7,1–6; 14,1), wird das Bild des ruhelosen Frevlers zum Gleichnis für Hiob. Die auf die Gier des Frevlers (V. 21a) zurückgeführten sozialen Vergehen werden so zur indirekten Anklage Hiobs, er habe sich selbst unsozial verhalten. Damit haben sich der Ton der Freunde gegenüber Hiob und ihre Anschuldigung Hiobs verschärft. Eliphas wird in seiner Abschlussrede noch einen Schritt weitergehen (vgl. 22,6–20). Das
So Budde: Hölscher; J. Gray. Fohrer verlegt den Vers zwischen V. 14 und V. 15. Vgl. z.B. im Baʿal-Zyklus (KTU 1.1–6; 1.8) VI,iii,6–7 (TUAT.NF VIII, 233); Ovid, met. 1, 111–112. 61 Vgl. Ex 3,8.17; Dtn 6,3; 32,13 u.ö. 62 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 63 Vgl. Ex 23,6; Dtn 27,19; Jes 5,8–9; Ps 10,8–9; 37,14; Spr 14,31. 59 60
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Schlusskolon (V. 21b) kehrt mit der Verwendung der Wurzel ḥjl zum Thema des Eingangsverses der Strophe zurück (V. 18) und nennt in betonter Endstellung die Vergänglichkeit aller Güter (ṭôb) des Frevlers. Erneut ist Hiobs Schicksal, der im Prolog den Verlust seines Gutes konstatiert (2,10) und der in der Dichtung klagt, er werde nie wieder Gutes sehen (7,7), mit dem des Frevlers korreliert. Angesichts der Topik der verwendeten Bilder ist schwer zu sagen, ob im Hintergrund reale zeitgeschichtliche Erfahrungen stehen. Ausgeschlossen ist dies, wie auch im Fall der Beschreibungen in Kap. 24; 30,1–8 und Kap. 34, angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche in persischer und hellenistischer Zeit nicht. 20,22–25 Dass es sich beim Untergang des Frevlers nicht um einen gleichsam natürlichen Automatismus, sondern um ein Richten Gottes handelt, verdeutlicht V. 23 mit dem Motiv des Zornes Gottes, der auf den Frevler herabkommen wird (vgl. 27,23; Ez 7,5; Ps 78,49). Die Gewalt und Unausweichlichkeit des göttlichen Gerichts zeigen sich in der Metapher der Schrecken (ballāhôt), die Gott auf den Sünder herabregnen lassen wird (V. 22), wie Feuer und Schwefel über Sodom und Gomorrha.64 Die auf den Zorn Gottes zurückgeführte Erfahrung von totalem Unheil (kål-ʿāmāl, V. 22) konkretisiert sich in Krieg, Zerstörung und Tod, vor denen es keine Flucht gibt (vgl. Am 5,19). Es sind ähnliche Bilder, wie sie bereits Eliphas zur Beschreibung der inneren und äußeren Not, die dem Frevler angesichts des Gerichtshandelns Gottes bevorstehen, gebraucht hatte (vgl. 15,20–24)65 – und zugleich konvergieren sie mit der Bildwelt der Klagen Hiobs über den ihm als feindlichen Krieger begegnenden Gott (16,9–14, vgl. 6,4; 34,6). Dabei steht der „Bogen aus Erz (neḥûšāh)“, wohl ein mit Bronze beschlagener Bogen,66 für den Pfeil, der den Frevler durchbohrt (V. 24, vgl. Dtn 32,41; Ps 64,8; Sach 9,14). Der „Blitz“, der aus der Galle des Frevlers fährt, steht elliptisch für ein Schwert (vgl. Dtn 32,41; Ez 21,15.20) oder einen Speer (vgl. Nah 3,3; Hab 3,11),67 während
Gen 19,24, vgl. Hi 18,15; Ps 11,6; Ez 38,22. Vgl. auch den Nichtigkeitsfluch in VTE § 96 (TUAT I, 176). 66 Das hebr. Wort neḥûšāh kann sowohl Erz generell als auch Bronze oder Kupfer bezeichnen. Zu Bogen aus Metall (vgl. 2Sam 22,25; Ps 18,35) siehe H. Bonnet, Die Waffen der Völker des alten Orients, Leipzig 1926 (Nachdr. 2011), 148f. Demgegenüber bezieht H. Weippert (Art. „Bogen“, BRL2 [1977] 49f) den Ausdruck „eherner Bogen“ auf das von diesem ausgehende eherne Geschoss. Zum Bogen allgemein siehe auch O. Keel, Der Bogen als Herrschaftssymbol, in: Ders. u.a. (Hg.), Studien zu den Stempelsiegeln aus Palästina/Israel, Bd. III, OBO 100, Fribourg/Göttingen 1990, 27–65; 263–279 (mit zahlreichen Abbildungen); C. Zutterman, The Bow in the Ancient Near East, IrAnt 38 (2003) 119–165, und die Darstellungen in ANEP Nr. 172; 179; 184; 185; IPIAO IV Nr. 1338; 1339; 1940. 67 H. Bonnet, Die Waffen der Völker des alten Orients, Leipzig 1926 (Nachdr. 2011), 71–96 (Schwert und Krummschwert); 96–108 (Speer); H. Weippert, Art. „Dolch und Schwert“, BRL 2 (1977) 57–62; vgl. entsprechende Abbildungen in ANEP Nr. 164; 173; 174; 176: 180; 181; Keel, Bildsymbolik, 219f; IPIAO IV Nr. 1337; 1342; 1944. 64 65
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šælaḥ68 einen Wurfspeer oder ein Geschoss bezeichnet (V. 25). Den Dreiklang dieser Waffen fasst die mit V. 23b korrespondierende Glosse in V. 25bβ treffend unter dem Wort „Schrecknisse“ (ʾemîm)69 zusammen. Mit dem Bild der tödlich verletzten Galle (vgl. 16,13) kehrt die Rede zur Beschreibung der den Frevler von innen her zersetzenden Qualen in der dritten Strophe zurück (V. 14). Für Hiob, der schon eingangs über das von Gott geschickte Unheil (ʿāmāl) klagte (3,10; 7,3) und der immer wieder über die ihn bis ins tiefste Mark treffenden Schmerzen stöhnt,70 kann all dies nur eine vollständige Verkennung seiner Situation bedeuten. Diese starke Betonung des Innenlebens des Frevlers, welche die gesamte 20,23aα Zopharrede durchzieht, schlägt sich auch in der Glosse nieder, die im MT V. 23 einleitet und die sich eng mit V. 15 und V. 20 sowie dem Nachtrag in 15,31 berührt. In einem Verbund himmlischer und irdischer Mächte der Zerstörung sieht 20,26–29 Zophar den Frevler zugrunde gehen. Erneut sind es Bilder, die Hiob selbst zur Beschreibung seiner Erfahrung des zürnenden Gottes gebraucht hatte (14,18–22; 16,7–16; 19,6–12). Die Merismen „Finsternis und Licht“ und „Himmel und Erde“71 sowie der Parallelismus „Flut und Ströme“ kennzeichnen die Totalität des Gerichts (vgl. Ps 50,4; 57,12; SapSal 5,22–23).72 In diesem zeigt sich die eingangs von Zophar angesprochene universale Schöpfungs- und Gerechtigkeitsordnung (20,4–5). Klagte Hiob unmittelbar zuvor, dass ihn göttliche Finsternis umgebe (19,8, 20,26–28 vgl. 17,12), so sieht er sich nun mit der Aussicht konfrontiert, dass dem Frevler jegliche Form von Finsternis, von Einschränkung und letztlich Vernichtung des Lebens (vgl. 3,4–5) bevorstehe. Zophar wiederholt hier ein bereits von Eliphas und von Bildad verwendetes Motiv zur Deutung von Hiobs Lage (V. 26, vgl. 15,22–23.30; 18,18). Bezieht man zudem das Bild vom verzehrenden Feuer (V. 26),73 hinter dem, da es ausdrücklich als nicht von Menschenhand entfacht bezeichnet wird, nur ein Gottesfeuer, ein Blitz, stehen kann,74 zurück
Vgl. die Anm. zur Übersetzung. Vgl. Hi 9,34; 13,21; 39,20; 41,6; Dtn 32,25. 70 Vgl. Hi 3,25–26; 6,4; 7,3–4; 16,12–14; 30,27. 71 Zum Merismus „Himmel und Erde“ siehe Houtman, Himmel, 33–35, und C. Koch, Wohnstatt, 83. 72 Zur Beteiligung von „Himmel und Erde“ an einem Gerichtsprozess vgl. auch die Nennung dieser Größen als Zeugen in Jes 1,2 und bei Homer, Il. 15, 36–37, sowie in altorientalischen Vertragstexten, z.B. in den aram. Inschriften von Sefire (KAI 222 A 11; TUAT I, 180). Cornelius, 276, verweist auch auf Verträge zwischen Ägypten und den Hethitern aus der Zeit Ramses II. (vgl. ANET, 201a Z. 18 v.o.; 205a Z. 1 v.u.). 73 Vgl. Hi 15,34; Jes 33,11; Ez 15,7; Sach 9,4. 74 Das rabbinische Targum identifiziert dies eschatologisch mit dem „Feuer der Gehinna/ Hölle“ (nwr gjhnm), vgl. TgHi 2,11; 3,17; 5,4.7; 15,21; 17,6; 28,5; 38,17.23 (Mangan, Targum, 16; 27 Anm. 15). 68 69
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auf den Prolog des Buches, so muss Hiob als der erscheinen, über den bereits ein Gottesgericht hinweggegangen ist (vgl. 1,16; 2Kön 1,12). So verstärkt Zophar am Ende seiner Rede nochmals den Eindruck, den Hiob angesichts seines Schicksals selbst geäußert hatte, bietet ihm aber keine andere Deutung an. Vielmehr stellt er dem Wunsch Hiobs nach Vergebung seiner Schuld (7,21; 10,14; 14,17) deren schonungslose Offenlegung gegenüber (V. 27). Die (sekundäre) Ankündigung, dass Gott Hiob seine Schuld vergessen lassen werde (11,6),75 erscheint damit hinfällig. Die Erwartung Hiobs, Gott werde letztlich für ihn zum Gericht auftreten (qûm, 19,25), kontrastiert Zophar damit, dass die Erde gegen den Frevler auftrete (V. 27, vgl. Num 16,30–33; Jes 26,21).76 Sofern die in der Übersetzung vorgenommene Konjektur „Strom/ Flut“ (jābāl / mabbûl) in V. 28 den ursprünglichen Text trifft, erwartet Zophar abschließend das Hereinbrechen tödlicher Fluten (vgl. 9,23 [v.l.]; 22,16), wie es sich nach der Pentateuchüberlieferung bereits einmal im Geschehen der Sintflutgeneration ereignete (vgl. Gen 6,17) und wie es prophetische Gerichtsszenarien für die Endzeit erwarten. Aus prophetischer Tradition ist auch das Motiv des „Tags des Zorns“ als Tag des göttlichen Gerichts entlehnt.77 Für Hiob, dem das Wasser schon bis zum Hals steht (vgl. 14,18–19), und der, wie die Leser des Prologs wissen, sein Haus verloren hat (1,18–19), ist der „Tag des Zorns“ längst Wirklichkeit (vgl. 3,1–26). Über wen soll dieser Tag dann überhaupt noch hereinbrechen? Spricht hier Zophar nicht über sich selbst das Gericht – so wie es ein Ergänzer der vorangehenden Rede Hiob in den Mund gelegt hat (19,28–29)? 20,26b Die Glosse wiederholt ein Motiv aus 18,19. Sie verstärkt den Bezug der Passage zur vorangegangenen Hiobrede (vgl. 19,12) und zur Rahmenerzählung, wenn hinter dem Entronnenen im Zelt Hiobs die Unglücksboten gesehen werden, die sich jeweils gerade noch retten konnten (1,15.16.17.19). 20,29 Das in die Strophik der Rede eingebettete Summarium kennzeichnet das zuvor beschriebene schlimme Ergehen des Frevlers als ein von Gott zugeteiltes und bestimmtes Erbe (naḥ alāh, vgl. 18,21; 27,13; PsSal 3,12). Es ist das genaue Gegenteil dessen, was zahlreiche Psalmen als Erbe für die Frommen erwarten (vgl. Ps 25,13; 37,9.11; 61,6). In der Wortverknüpfung „Frevelmensch“ (ʾādām rāšāʿ), mittels derer die Rede zu ihrem Eingang zurückkehrt (V. 4–5), zeigt sich nochmals eine spezifische Differenz zwischen Hiob und seinen Freunden, welche die ursprüngliche Dichtung im zweiten Redegang durchzieht: Während Hiob vom Menschen allgemein im Blick auf die grundsätzliche Hinfälligkeit und Vergänglichkeit und speziell vom Leiden, von seinem Leiden, spricht, so
S.o. S. 215. Auch hier bietet TgHi eine charakteristische Modifikation, wenn es die Gerichtsankündigung personifiziert, insofern nun die Engel in der Höhe und die Bewohner der Erde Subjekte sind; siehe dazu auch Houtman, Himmel, 135. 77 Vgl. Ez 7,19; 22,24; Zeph 1,15.18; 2,2; Klgl 1,12.21; 2,1.21–22. 75 76
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steht bei den Freunden der sich verfehlende Mensch im Mittelpunkt. Dessen Schicksal entfalten diese mit teilweise ähnlichen, teilweise variierenden Bildern auf der Basis der Annahme des gerechten Handelns Gottes (18,21; 20,29)78 und der Überzeugung von der immanenten Bestrafung der Frevler (15,20–35; 18,5; 20,5–29). Mit den späteren Einfügungen des „Niedrigkeitsmotivs“ in 4,17–19 und 15,14–16 ist die Vorstellung des ʾādām rāšāʿ generalisiert: Jeder Mensch ist ein rāšāʿ. Die Rede Zophars erscheint sowohl hinsichtlich ihrer weisheitlichen Spruchelemente als auch hinsichtlich ihrer argumentativen Tendenz stereotyp. Gleichwohl bezieht sie sich eng auf die ursprüngliche Gestalt der Hiobreden in Kap. 12–14*; 16–17* und 19*, auf die sie punktuell reagiert, und der Freundesreden in Kap. 15* und 18*, deren wesentliche Argumente sie aufnimmt. So fokussiert Zophar Hiobs Klage über das allgemeine Schicksal des Menschen in Kap. 14 auf die Beschreibung des speziellen Ergehens des Frevlers (20,5). Hiobs Beschreibung seines Erlebens Gottes als Krieger in 16,7–14 wird mit der Darstellung des kriegerischen Handelns Gottes gegen den Gottlosen konfrontiert (20,23–24). Hiobs Hoffnung auf einen himmlischen Fürsprecher und Erlöser (16,19–20; 19,25–26) wird (indirekt) als Ausdruck der Hybris eines Gottesverächters verstanden (20,6, vgl. 15,7–8) und mit der Erwartung eines kosmischen Gerichts (20,27–28) kontrastiert. Letzteres erscheint auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches auch als eine Illustration der Hiob sekundär in den Mund gelegten Warnung vor einem göttlichen Gericht (19,29). Den Kern der Klagen Hiobs verfehlt Zophars Lehrrede über das Schicksal der r ešāʿîm, die wie ihr kompositionelles und tendenzielles Vorbild in den Reden Eliphas’ (Kap. 15,20–35) und Bildads (Kap. 18,5–21) eine indirekte Anklage und Warnung Hiobs darstellt. Zugleich provoziert sie im Zusammenspiel mit diesen beiden Reden eine grundsätzliche Reaktion Hiobs auf die Beschreibung des Schicksals der r ešāʿîm, die sich von der Darstellung seines Leidens, seiner Unschuld und seiner Hoffnung auf die Wandlung Gottes von einem ihn verfolgenden hin zu einem ihn rechtfertigenden Gott löst. In Kap. 21 folgt diese Stellungnahme Hiobs, so dass sich rückblickend die besondere Funktion der Rede Zophars zeigt und der Dialog zwischen Hiob und seinen Freunden in eine neue Phase tritt.
78
In Kap. 15 wird dies eher indirekt formuliert (vgl. V. 20b.21b.22b.23b.24).
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Hi 21 Die sechste Rede Hiobs HD 21,1 Und Hiob hob an und sagte: 2 3 4 5
Hört doch, hört doch meine Rede, und schenkt mir damit euren Trost. Ertragt mich, so dass ich reden kann, und nach meinem Reden1 könnt ihr2 spotten. Ich, ja – gilt einem Menschen meine Klage, oder warum soll ich nicht die Geduld verlieren3? Wendet euch doch zu mir und entsetzt euch4, und legt die Hand auf euren Mund.
6 7 8 9
Aber denke ich daran, so erschrecke ich, und ein Schaudern5 packt mein Fleisch. Warum6 bleiben denn die Frevler am Leben? Sie kommen voran, wachsen gar an Vermögen! Ihr Nachwuchs hat Bestand vor ihrem Angesicht …7, und ihre Sprösslinge (stehen fest) vor ihren Augen. Frieden haben ihre Häuser, ohne Schrecken, und Eloahs Stock kommt nicht über sie.
10 Ihr8 Stier bespringt und geht nicht fehl, ihre9 Kuh kalbt und verwirft es nicht. 11 Sie lassen wie Schafe ihre Knaben streunen, und ihre Kinder springen wie junge Kälber10. 12 Sie spielen die Pauke11 und die Leier und freuen sich am Klang der Flöte.
11QTgHi: „mein Wissen“ (mndʿj). Anstelle von talʿîg „kannst du spotten“ (Weiser) lies talʿîgû (vgl. LXX; Sym; Syr; Vg; wohl auch 11QTgHi). 3 Wörtl.: „meine ‚Seele‘ kurz machen“ (vgl. die Anm. zu Hi 6,11). 4 Anstelle von hāšammû „erfüllt mit Entsetzen“ lies hiššammû (vgl. Hi 18,20; Jer 4,9). 5 Subjekt ist pallāṣût, das hier einmalig im AT mask. konstruiert ist (vgl. Ps 55,6; Jes 21,4; Ez 7,18), vgl. 11QTgHi: „Staunen packt mich“ (tmhʾ ʾḥd lj). 6 11QTgHi bietet soweit erkennbar h[jk] „wie“. 7 Streiche aus kolometrischen Gründen ʿimmām „bei ihnen“. Nach CTAT 50/5, 179, betont der MT möglicherweise, dass die Frevler ihre Nachkommen leibhaftig und ungetrennt erleben (ähnlich bereits Fz. Delitzsch: „angesichts ihrer bei ihnen“). Zu weiteren Konjekturen und zum von BHS mitgeteilten Vorschlag, ʿmm auf ein im Arab. belegtes Verb ʿamma „sich ausbreiten“ zurückzuführen (DCH s.v. ʿmm III), siehe Witte, Notizen, 9; Clines und Seow. 8 Wörtl.: „sein“ (bezogen auf das Tier des einzelnen Frevlers). 9 Wörtl.: „seine“, vgl. die vorhergehende Anm. 10 In V. 11b ist offenbar ein zu V. 11a paralleler Vergleich ausgefallen, so dass es sich nahelegt, kaʿ agalîm zu ergänzen (vgl. Mal 3,20; Ps 114,4.6). 11 Anstelle von ketop lies mit vielen Hss b etop (vgl. LXX; Syr; Tg; Vg). 1
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13 Sie genießen12 ihre Tage stets im Glück und steigen13 in Ruhe14 zur Scheol hinab.15 14 Und doch sprachen sie zu El: „Halte dich fern von uns, und an der Erkenntnis deiner Wege haben wir keine Lust. 15 Wer ist Schaddaj, dass wir ihm dienen sollten, und was bringt es uns, dass wir bittend zu ihm treten?“ 16 Ist denn nicht16 in ihrer Hand ihr Glück, die Gemeinschaft der Frevler fern von ihm17? 17 Wie oft erlischt denn die Leuchte der Frevler, und wie oft kommt denn ihr Unheil über sie? Verderben18 wird er in seinem Zorn austeilen. 18 Sie mögen wie Häcksel vor dem Winde sein und wie Spreu, die der Sturm wegstiehlt! 19 Bewahrt19 El sein Unglück für seine20 Söhne auf? Er vergelte doch ihm selbst, auf dass er erkenne! 20 Seine Augen mögen seinen Sturz21 sehen, und vom Grimm22 Schaddajs da trinke er!
Das Qere und viele Hss bieten die Lesart j ekallû „sie vollenden“ (vgl. LXX; Syr; Tg; Hi 36,11). Anstelle von jeḥāttû „sie werden zertrümmert“/„sie fürchten sich“ lies jeḥātû (von nḥt, vgl. LXX; Sym; Syr; Tg; Vg; Hi 7,9; 17,16; Ps 55,16; 1Sam 2,6). 14 Nicht „plötzlich“ (so aber nach Syr und Vg Hartley); vgl. Witte, Notizen, 12f. 15 Der Gebrauch der PK-Formen in V. 10b–13 lässt sich sowohl sich vor dem Hintergrund des Gebrauchs des Impf. zum Ausdruck von Erfahrungstatsachen (vgl. G/K § 107f) als auch des modalen Aspekts des Impf. (vgl. Michel, Tempora, 143–149) erklären und ist kein Hinweis darauf, dass hier eine „Beispielerzählung“ vorliegt (so aber Bobzin, Tempora, 293, und Kaiser, vgl. die Anm. zu Hi 18,6 und 20,23). 16 Anstelle von hen loʾ „siehe, nicht“ (vgl. Weiser) lies h aloʾ. Will man beim MT bleiben, muss man hen loʾ emphatisch verstehen („in der Tat!“, vgl. Seow). 17 Anstelle von mænnî „von mir“ (so Weiser; Seow) lies mænnû/mænehû (vgl. LXX). 18 So nach ḥæbæl II/III (vgl. Mi 2,10; CD-A II,6; 1QM XIII,12; 1QS IV,12). CTAT 50/5, 185, erwägt ḥæbæl I „Los” (vgl. Ps 16,5, Dtn 32,9; Seow: „measures“). 19 Vermutlich ist aufgrund einer Haplographie vor ʾ ælô ah die Fragepartikel h ausgefallen (vgl. V. 18b: sûpāh) und anstelle von ʾ ælô ah aus kolometrischen Gründen ʾel zu lesen (ähnlich Weiser und Clines, aber ohne Textänderung). Demgegenüber schlagen BHK und BHS vor, anstelle von ʾ ælô ah die Negation ʾal zu lesen, während Bobzin, Tempora, 296f, Hartley und Strauß den Versteil als Zitat verstehen und Seow, der als Wunsch übersetzt, eine bewusste Mehrdeutigkeit annimmt. 20 Der Dichter wechselt wie in V. 10 in den Sg., um die Vergeltung am einzelnen Frevler zu konkretisieren. 21 Die Bedeutung des hap. leg. kîd „Unglück“ ist nicht ganz gesichert, möglicherweise ist im Sinn von Untergang ʾêd (vgl. Hi 18,12; 21,17.30; 31,3.23) oder pîd (vgl. Hi 12,5; 30,24; 31,29) zu lesen. Auch eine Konjektur in kîdôn/kîdon „Krummschwert“ ist angesichts der Parallele zu Hi 20,24–25 zu erwägen (vgl. Hi 39,23; 41,21; Jer 6,23; 50,42). Aufgrund des Bildes in V. 20b könnte kîd schließlich eine Nebenform zu kad „Krug“ sein (vgl. DCH s.v. kîd II; Strauß; J. Gray [mit umfassenden Konjekturen von V. 20a]); zur weiteren Diskussion siehe Grabbe, Philology, 77–79; Witte, Notizen, 17; Clines und Seow sowie Noegel, Janus Parallelism, 75–77, mit der Annahme einer bewussten Polysemie von „Zerstörung“ und „Becher“. 22 Zu ḥemāh siehe die Anm. zu Hi 6,4. 12
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21 Ja, welchen Gefallen hat er23 an seinem Haus …24, wenn die Zahl seiner Monde abgeschnitten25 ist? 22 Kann man El etwa Wissen lehren, wo er doch selbst die Hohen richtet? 23 24 25 26
Der eine stirbt in seiner vollen Kraft, inmitten seiner Fülle ruhig26 und ohne Sorge27. Seine Schenkel28 strotzten voller Fett29, und das Mark seiner Knochen war reich getränkt. Und der andere stirbt mit bitterer ,Seele‘ und aß nie etwas vom Glück. Gemeinsam liegen sie im Staub, und die Maden decken beide zu.
27 28 29
Siehe: Ich kenne wahrlich euer Denken und die Pläne, mit denen ihr mir Gewalt antut30. Wenn ihr sprecht: „Wo ist das Haus des Edlen31 und wo sind …32 die Wohnungen der Frevler?“, habt ihr nicht die befragt, die des Weges ziehen, und kennt ihr nicht ihre Zeichen,
Gemeint ist der Frevler. 11QTgHi hingegen bezieht die Freude explizit auf Gott (lʾlhʾ). Das Wort ʾaḥ arâw „nach ihm“, das kolometrisch überschießt, unterstreicht den Gedanken, dass der Frevler vom Schicksal seiner Familie nach seinem Tod nicht berührt wird (vgl. Hi 14,21– 22; Ps 49,18). 25 D.h.: vollbracht/erfüllt. 26 šalʾ anan ist entweder eine Nebenform oder ein Schreibfehler für šaʾ anan/šaʾ anān (vgl. HsK76). 27 šālêw ist ebenfalls entweder eine Nebenform oder ein Schreibfehler für šālew (vgl. viele Hss; Ges18; KAHAL; DCH; Hi 16,12; 20,20). 28 Die Bedeutung des hap. leg. ʿāṭîn ist unsicher. Die hier gebotene Übersetzung orientiert sich an dem aram. Wort ʿ aṭāmāʾ/ʿiṭmāʾ „Schenkel“ sowie am Parallelismus und basiert auf der Lesart ʿ aṭāmâw (vgl. Ges18 und HAL s.v. ʿāṭîn; DCH). BHS erwägt eine Zusammenstellung mit dem arab. Wort ʿaṭana „Gefäß“, vgl. auch mittelhebr. maʿ aṭān „Olivenbehälter“ (danach z.B. Weiser oder Clines: „Tröge/Eimer“) und ʿāṭan „(Oliven) einlegen/pressen“ (danach KAHAL: „Ess-Olive“; vgl. Strauß). Gordis vermutet einen Euphemismus für Hoden (vgl. Hartley; Seow). Zur Wiedergabe in den Versionen (LXX; Vg: „Eingeweide“; Syr: „Seite“; TgHss: „Brüste“; 11QTgHi: „Glied/Glieder“ [ʾbr...]) und zu weiteren Vorschlägen siehe Grabbe, Philology, 79–81; Witte, Notizen, 22f; Noegel, Janus Parallelism, 77–79 („Wasserstellen“ und „Hoden“); Clines; Seow. 29 Anstelle von ḥālāb „Milch“ (so Weiser, vgl. die vorige Anm.) lies ḥelæb (vgl. LXX; Syr; Vg). 30 Hierbei ist zu erwägen, anstelle von taḥmosû tah amosû/tahmosû (vgl. syr. hms) zu lesen: „ihr ersinnt“ (vgl. Syr). KAHAL und DCH führen eine zweite Wurzel ḥms mit der Bedeutung „ersinnen“ auf). Auch die Lesart von 11QTgHi (h tʿ jṭtwn) ist doppeldeutig, da die Handschrift hier sekundär korrigiert wurde und nicht klar ist, ob das nachgetragene Jod vor oder hinter dem ursprünglichen ʿAjin stehen soll (vgl. aram. jʿṭ Itpa. „sich beraten“ bzw. syr. ʿwṭ Ethpa. „verletzt/ irritiert sein“, siehe dazu DJD XXIII, 98). Für die Beibehaltung des MT mit der Standardbedeutung von ḥms sprechen LXX und die Parallele zu Hi 19,7 (vgl. Seow). 31 nādib hat hier den negativen Nebensinn des Tyrannen. 32 Das Wort ʾohæl „Zelt“ fehlt in HsK111 und in Vg und dürfte eine Dublette zu miškenôt sein. 23 24
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dass der Böse hinsichtlich33 des Tags des Unheils verschont wird, dass er hinsichtlich des Tags der Zornesglut gerettet34 wird?
31 Aber35 wer verkündet ihm seinen Weg ins Angesicht? Und hat er etwas getan, wer vergilt ihm dann? 32 Und er wird zu Grab36 getragen, und für seinen Hügel trägt man Sorge. 33 Süß sind ihm die Schollen des Wadis37, und hinter ihm ziehen38 alle Menschen her und vor ihm ohne Zahl. 34 Ach, ihr tröstet mich mit Nichtigkeiten, und von euren Antworten bleibt nur Trug. Brueggemann, W.: Theodicy in a Social Dimension, JSOT 33 (1985) 3–25. – Knauf, E.A.: Zum Literatur Text von Hi 21,23–26, BN 7 (1978) 22–24. – Ders./u.a.: עטין – Hi 21,24a, BN 4 (1977) 9–12. – Müller, H.-P.: Theodizee? Anschlußerörterungen zum Buch Hiob, ZThK 89 (1992) 249–279. – Witte, M.: Philologische Notizen zu Hiob 21–27, BZAW 234, Berlin/New York 1995. – Witte, M.: Vom Leiden zur Lehre. Der dritte Redegang und die Redaktionsgeschichte des Hiobbuches, BZAW 230, Berlin/New York 1994.
Die sechste Rede Hiobs stellt eine dreiteilige weisheitliche Streitrede dar. Sie besteht aus acht Strophen zu je vier Bikola (V. 2–5|6–9|10–13|14–17*|18– 21[22]|23–26|27–30|31–34). Die Rede versucht die Theorie der Freunde von der innerweltlichen Vergeltung argumentativ auf der Basis der Erfahrung des gesegneten Lebens und Sterbens der Frevler zu widerlegen. Zwischen der Beschreibung des irdischen Glücks der Frevler im ersten Teil (V. 6–9.10–13) und der Betonung ihres geachteten Ansehens nach ihrem Tod im dritten Teil (V. 27–33) steht im zweiten Teil (V. 14–17|18–21|23–26*) – angesichts des Todes als absoluter Grenze – Hiobs Einforderung einer von den Freunden behaupteten und von ihm mittels empirischer Argumente bestrittenen innerweltlichen prämortalen Bestrafung der Frevler. Damit geht Hiob nun ausdrücklich auf die jeweils zweite Rede Eliphas᾽ (Kap. 15), Bildads (Kap. 18) und Zophars (Kap. 20) ein. Aus der Perspektive von Kap. 21 ergibt sich somit auch die besondere katalysatorische Funktion der zweiten Zopharrede, die mit ihrer Wiederholung des Motivs von der letztlichen Bestrafung der Frevler zunächst als ein Rückschritt gegenüber den mit einer direkten Gottesbegegnung rechnenden Hiobreden in Kap. 16–17 und 19 erschien. Als Rahmen der sechsten 33 Die häufig vorgeschlagene Änderung in b ejôm „am Tag“ (BHK; Weiser) ist angesichts der obigen Übersetzung der Präp. le- unnötig; vgl. auch Jes 10,3. 34 Anstelle von jûbālû „sie werden getragen“ (so Weiser) lies juṣṣāl (vgl. Am 4,11; Sach 3,2) und ziehe das Schluss-û zum folgenden Wort mî. Seow bleibt beim MT, versteht aber ʿ abārôt jûbālû als asyndetischen Relativsatz zu lejôm („on the day when wraths are conveyed“) – dagegen spricht der Parallelismus des Verses. 35 Lies ûmî (vgl. die Anm. zu Hi 21,30b). 36 Wörtl.: „Gräbern“ (vgl. die Anm. zu Hi 17,1). 37 Oder: „des Schachts“ (vgl. Weiser), gemeint ist jedenfalls das Grab. 38 Zum intransitiven Gebrauch von mšk vgl. Ex 12,21; Ri 4,6; 20,37; Sir 14,19 (HA).
Aufbau und Sprachformen
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Rede Hiobs dienen die Eröffnungsstrophe in den V. 2–5 sowie der Abschlussvers der letzten Strophe V. 34. Die wesentlichen Sprachformen stammen aus der weisheitlichen Disputation und Belehrung (V. 2–33). V. 34 bildet formgeschichtlich eine Anklage der Freunde. Die dichtesten atl. Parallelen zu einer grundsätzlichen Problematisierung der Gerechtigkeit Gottes angesichts des Wohlergehens der Frevler stellen die aus einem vergleichbaren weisheitlichen Milieu der persisch-hellenistischen Zeit stammenden Dichtungen Ps 10; 37; 73 und Jer 12,1–6 dar. Wie Hi 21 spiegeln sie Versuche, angesichts der Frage nach der Gerechtigkeit das Gottesverständnis und das Gottesverhältnis neu zu bestimmen. Einen vergleichbaren Diskurs über das Wesen und die Funktion göttlicher Vergeltung, die ungefähr aus derselben Zeit wie die genannten biblischen Texte stammen, bieten einzelne Spruchreihen im Großen demotischen Weisheitsbuch (Pap. Insinger) und in literarisch ganz eigener Weise die Streitgespräche im demotischen Mythos vom Sonnenauge.39 Text- und In 11QTgHi sind Äquivalente zu V. 2–10 und V. 20–27 erhalten. In einem Literar- noch nicht publizierten Fragment (Kol. III A) findet sich möglicherweise ein geschichte Pendant zu V. 1–2. 11QTgHi scheint V. 2 auf einen Stichos zu komprimieren, das im MT als Frage formulierte Kolon V. 4b als Aussage zu formulieren und V. 21 auf Gott zu beziehen. Wie in der ursprünglichen griech. Übersetzung ist V. 23 in 11QTgHi offenbar ausgelassen worden oder fehlte in der Vorlage.40 In LXXZi sind V. 15.19b.21.23.28–33 asterisiert, im ,kirchlichen Text‘ der LXX stammen sie aus Th. Während das Fehlen von V. 15 im OG theologische Gründe haben könnte,41 dürfte die Verdichtung von V. 27 auf einen Stichos und die Auslassung von V. 28–33 stilistisch bedingt sein; für das Fehlen von V. 19b.21.23 können inhaltliche und/oder kompositionelle Gründe verantwortlich sein.42 Auffällig ist, dass sich der nicht asterisierte V. 22 erheblich vom MT unterscheidet und sich der ebenfalls nicht asterisierte V. 24 besser als Fortsetzung von V. 20 verstehen lässt denn als Fortführung von V. 22. Möglicherweise gehörte also auch V. 22, der in der LXX zudem identisch mit 22,2 ist, nicht der ursprünglichen griech. Fassung an. Die sechste Rede Hiobs weist gegenüber den bisherigen Hiobreden einerseits stilistische und kompositionelle Besonderheiten auf. Andererseits ist sie begrifflich eng mit diesen verbunden und argumentativ fest mit dem Kontext verknüpft. Es besteht daher kein Grund, sie nicht zur ursprünglichen Hiob-
39 Vgl. z.B. Pap. Insinger 19,1–21,6; 33,3–21 (TUAT III, 302–304; 317–318); Mythos vom Sonnenauge (nach dem Pap. Leiden I 384) III; XIV–XV (TUAT III, 1047f; 1065f) und dazu Quack, „Sage nicht“, 377–409. 40 Vgl. DJD XXIII, 97; D. Shepherd, 11 Job. 11.3.3.2 Qumran Aramaic Versions of Job, in: THB 1 C, 186. 41 So Gard, Exegetical Method, 73f; de Wilde, doch vgl. Mal 3,14. 42 Siehe dazu ausführlich Gorea, Job repensé, 67–74.
Hi 21 Die sechste Rede Hiobs
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dichtung zu zählen.43 Mit allen in das poetische Wechselgespräch eingebetteten Hiobreden in Kap. 6–7; 9–10*; 12–14*; 16–17* und 19* teilt Kap. 21 den gleichmäßigen strophischen Aufbau, in dem jeweils dieselbe Anzahl von Distichen eine inhaltlich und stilistisch in sich geschlossene Einheit (d.h. eine Strophe) bilden. Aufgrund der jeweils aus vier Bikola bestehenden Strophen findet Kap. 21 seine nächste formale Parallele in der unmittelbar vorhergehende Hiobrede in Kap. 19. Die rhetorische Makrostruktur von Kap. 21 entspricht dem Aufbau der vorangegangenen Hiobreden. Wie in 6,2; 12,2; 16,2 und 19,2 finden sich eine Eröffnung mit einer direkten Anrede der Freunde (V. 2–5),44 eine als Wunsch (6,8; 13,2) oder als Klage (9,11; 16,7; 19,6) gestaltete These, die als Überschrift für das Redekorpus dient (V. 6), ein (in Kap. 21 indirekt formuliertes) Unschuldsbekenntnis45 und ein abschließender Hinweis auf den Tod.46 Die Schilderung des Wohlergehens der Frevler in Kap. 21 wird insbesondere aufgrund ihrer Rahmenverse (V. 2–5.27.34) und ihres Kontextes (vgl. Kap. 20 und 22) zur Klage und zur Anklage nicht nur der Freunde, sondern vor allem auch Gottes. Damit liegt Kap. 21 funktional auf der Linie der bisherigen Gott verklagenden Abschnitte.47 Gegenüber den Hiobreden in Kap. 6–19 verwendet Kap. 21 aber keine juridischen und kultischen (psalmistischen) Redeformen,48 sondern ausschließlich weisheitliche Gattungen und verarbeitet diese in einem über das bisherige Maß hinausgehenden argumentativen Duktus. Die Besonderheit von Hi 21 – gerade im Gegenüber zur Rede Hiobs in Kap. 19 – besteht im Verzicht auf eine ausdrückliche Klage über das eigene Leid bei einer Konzentration auf eine die Freunde überzeugende und Gott anklagende Reflexion. Dieser argumentative Stil, der sich auch in dem einmaligen Redeschluss mit einer direkten Anrede der Freunde zeigt (V. 34), während die vorangehenden Hiobreden jeweils mit einem Ausblick auf den eigenen Tod Hiobs enden,49 ist der kompositionellen und dramaturgischen Stellung dieser Rede geschuldet. Nachdem die Freunde Hiob dreimal ausführlich auf das böse Schicksal der r ešāʿîm und deren schlimmen Tod hingewiesen haben (15,20–35; 18,5–21; 20,5–29), ist eine grundsätzliche Widerlegung durch Hiob geboten. Der Rahmen in V. 2–5.34 zeigt, dass die Rede aber nicht rein „sachorientiert“ argu43 So aber Westermann, Aufbau, 80f Anm. 1, und Mende, Leiden, 147–150; 165–168; 286– 288; 339–347. Dabei führt Mende Hi 21 auf den Verfasser der (Grundschicht der) Elihureden zurück (abzüglich der von ihr einem noch späteren Bearbeiter bzw. Glossator zugewiesenen Verse 21,10.15–16.17b.28.33b). Die Höraufforderung in 21,2 hat aber auch Parallelen in den vorangegangenen Hiobreden (vgl. 6,24–30; 13,5b.6 und 19,21; die wörtliche Wiederholung von 21,2a in 13,17 ist eine Glosse, s.o.). 44 Zu der Vermutung, dass in Kap. 9 die ursprüngliche Eröffnung, welche die Freunde direkt in der 2. P. anredete, nicht erhalten ist, s.o. 45 Vgl. Hi 6,28–30; 9,15.20–21; 13,16.18; 16,17; 19,6. 46 Vgl. Hi 7,20; 10,18–22; 14,13–22; 17,11–16; 19,25–26. 47 Vgl. Hi 7,20; 9,12; 14,5–6*; 16,8–16; 19,6. 48 Zur Schilderung des Glücks der Frevler als „Parodie eines Weisheitsliedes“ vgl. Fohrer, 340. 49 Vgl. Hi 7,21; 10,22; 14,22; 17,16; 19,26. Die Anrede der Freunde in 19,28–29 (und 24,25) kann nicht als Vergleich herangezogen werden, da es sich hierbei vermutlich um sekundäre Abschnitte handelt.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
mentiert,50 sondern auch klagend. Die mutmaßlich sachlichen Ausführungen entsprechen als indirekte Anklage Gottes spiegelbildlich der argumentativen Verwendung des Vergänglichkeitsmotives in den Hiobreden in Kap. 3; 6–7; 9–10*; 12–14*; 16–17* und 19*. Abgesehen von zwei Glossen in V. 17b (ḥ abālîm j eḥalleq b eʾappô) und V. 33b (ûlepānâw ʾên mispār)51 sowie der Ergänzung von V. 22 ist die Rede literarisch einheitlich.52 21,1–5 Anrede der Freunde 21,1 S.o. zu Hi 6,1.53 21,2–3 Das eindringliche Werben um das Gehör der Freunde wird in V. 2 durch den weisheitlichen Aufmerksamkeitsruf (šimʿû šāmô aʿ )54 und die ihm folgenden Imperative in V. 3 und V. 5 unterstrichen. Wahrer Trost erweist sich im Zuhören – nicht im Reden der Tröster (vgl. 16,2). Damit fordert Hiob von seinen Freunden erneut genau das Verhalten ein, das sie nach dem Prolog auszeichnete (2,10–13): sich auf die Situation des Leidenden einzulassen und ihm geduldig zuzuhören. Nicht der Verweis auf vermeintliche „Tröstungen Gottes“, wie ihn Eliphas (in der ihm sekundär in den Mund gelegten Passage) in 15,11 – vielleicht mit Blick auf die Torah – gegeben hatte, sondern das Anerkennen der Berechtigung der von Hiob geführten Klage gilt Hiob als Trost. Wie wichtig Hiob echter Trost ist, zeigt sich auch daran, dass die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch ziehende Wurzel nḥm im ersten und letzten Satz der Rede verwendet wird. Nicht Hiob (11,3), sondern seine Freunde sind Spötter – erneut kennzeichnet Ironie das tiefe Missverständnis beider Seiten (vgl. 12,2–3). 21,4–5 Dabei verteidigt Hiob das Recht seiner Klage mit dem Hinweis auf den ihm von Gott selbst zugefügten Schmerz55 und äußert nachdrücklich den Wunsch zu reden.56 Weil sich Hiobs Klage (śi aḥ)57 bisher durchgehend auf das ihm von Gott selbst zugefügte Unrecht bezog und in Richtung Gottes gesprochen war,58 nicht auf und zu Menschen (leʾādām), gehen die ihm von den Freunden vor Augen gestellten Ausführungen über das Schicksal böser Menschen (ʾādām rāšāʿ, vgl. zuletzt 20,29) an seiner Situation vorbei und rufen seine wachsende Ungeduld hervor. Der Grund seiner Ungeduld ist bekannt, was sprachlich durch Mende, Leiden, 167. Andere betrachteten die kolometrisch überschießende Wendung als ein Fragment eines ursprünglichen Bikolons (so Merx) oder als Stilmittel (so Dhorme). 52 Dagegen betrachtet Wanke, Praesentia Dei, 292–302, Hi 21,2–26 als Teil der „rechtskritischen Bearbeitung“, während Vermeylen, Métamorphoses, 327, in 21,3b–4.10.16–21.27–33 Zusätze seitens der „dritten Buchredaktion“ sieht. 53 Vgl. Hi 12,1; 16,1; 19,1; 21,1; 23,1; 26,1. 54 Vgl. Hi 13,17; 37,2; Jes 6,9; 55,2; BT 25–26 (TUAT III, 148). 55 Vgl. Hi 6,2; 12,2; 16,2–6; 19,6. 56 Vgl. Hi 7,11; 9,35; 10,1; 13,3; 16,4; 19,23. 57 Vgl. Hi 23,2; Ps 55,3; 64,2; 102,1; 142,3; Sir 35,17 (HB); 1Sam 1,16. 58 Vgl. Hi 7,11.13; 10,1; 13,22; 16,7; 19,6. 50 51
Hi 21 Die sechste Rede Hiobs
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die Verwendung des in der Reflexionsfrage beheimateten und sich auf Bekanntes zurückbeziehenden Frageworts maddûaʿ („was gewusst wird“) verdeutlicht wird: Weil nicht nur Gott nicht antwortet, sondern auch die Freunde seine Lage verkennen, ist Hiobs Lebensgeist (rûaḥ) „kurz geworden“. An sich gilt auch in der atl. Weisheit das vor allem den äg. Weisen auszeichnende Ideal der Langmut: Töricht ist der Hitzige – klug ist, wer einen langen Atem, eine lange rûaḥ hat.59 Die Metapher verdeutlicht die Grenze, an die Hiob aufgrund seiner Lasten gekommen ist (vgl. Ex 6,9). Der unaufhörliche Hinweis der Freunde auf das Schicksal der Frevler ruft eine klare Entgegnung hervor, so dass Hiob nun seinerseits das unter den Menschen allgemein erfahrene Unrecht thematisiert. Damit führt er einen Gedanken, den er in 9,22–24 nur äußerte, jetzt breit aus: Die Welt ist in die Hand des Bösen (rāšāʿ ) gegeben. Die bisherige persönliche Leidklage Hiobs über und zu Gott wird um den Aspekt der allgemeinen Klage „zu und über Menschen“ (leʾādām) am Beispiel des Wohlergehens der Frevler (V. 7–32) erweitert. Aus dieser Perspektive bezieht sich der Ausdruck leʾādām also auch auf die Freunde Hiobs als Adressaten der im Folgenden ausgeführten Klage und auf den „Frevelmenschen“ (20,29) als deren Gegenstand. Charakteristisch für die Eingangsstrophe ist die Betonung von Hiobs „Ich“ („meine Worte“, „meine Klage“, „mein Geist“)60 im Kontrast zu den auf seine Freunde bezogenen Ausführungen („eure Tröstungen“). Ähnlich hatte Zophar unmittelbar zuvor seine eigene Person betont (20,20–21). Gipfel der ersten Strophe ist das Schweigegebot an die Freunde, die als Zei- 21,5 chen ihrer Fähigkeit zum Zuhören und ihres Respekts vor Hiob die Hand auf ihren Mund legen sollen.61 Das Glück der Frevler
21,6–13
Eine dreifache Betonung von Hiobs Gedenken und dem daraus für ihn resultie- 21,6–7 renden Schrecken eröffnet die zweite Strophe. Sich lebhaft an etwas zu erinnern (zākar), etwas aktiv in die eigene Gegenwart und in das eigene Bewusstsein zu rufen, kann Schmerzen bereiten. Dabei hat V. 6 die Freunde nicht mehr direkt im Blick, sondern dient als Überschrift für den ersten Hauptteil der Rede. So lässt der Dichter in den syntaktisch eng aufeinander bezogenen und hinsichtlich der Klimax der Verben sowie der mehrfachen Endreime parallel gebauten V. 6 und V. 7 Hiob sein tiefes Entsetzen über das Wohlergehen der r ešāʿîm und Vgl. Spr 14,29; 22,4; Lehre d. Amenemope 4,17–19; 11,13–14; 13,11; 15,13–14 (TUAT.NF VIII, 331f, 336–338); Gebet an Thot (Pap. Sallier I, 8.2–3) (TUAT II, 882f). In ähnlicher Weise kann gemäß atl. Anthropologie auch die ‚Seele‘ (næpæš) eines Menschen „kurz werden“ (vgl. Num 21,4; Ri 16,16). 60 Vgl. die betonte Voranstellung von ʾānokî (vgl. Hi 7,11; 9,29; [12,3; 13,2]; 16,4; 19,25; Pred 2,15; Ez 8,18; Esr 7,21; Dan 10,17b); siehe dazu auch A. Michel, Herausstellungsstrukturen,133. Stilistisch ist dies durch Endreime mittels der zahlreichen auf -î auslautenden Personalsuffixe (vgl. V. 1–3) und des dreifachen, jeweils auf -û auslautenden Imperativs in V. 4 unterstrichen. 61 Vgl. Hi 29,9; 40,4; Spr 30,32; Ri 18,19; Mi 7,16. 59
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damit verbunden über das ihm zutiefst rätselhafte und fragwürdig gewordene Verhalten Gottes schildern. Eine vergleichbare Klage haben späte Bearbeiter des Jeremiabuches dem leidenden Gerechten in den Mund gelegt (Jer 12,1–2): 1 Herr, wenn ich auch mit dir rechten wollte, so behältst du doch recht; dennoch muss ich vom Recht mit dir reden. Warum geht’s doch den Gottlosen so gut, und die Abtrünnigen haben alles in Fülle? 2 Du pflanzt sie ein, sie schlagen Wurzeln und wachsen und bringen Frucht. Nahe bist du ihrem Munde, aber ferne von ihrem Herzen. (Jer 12,1–2 LB)
Ähnliches konstatieren die Theognis von Megara (6. Jh. v.Chr.) zugeschriebenen Elegien (1, 373–380): Guter Zeus, ich bewundere dich, denn du herrschst über alle und hast selbst Ansehen und große Macht, kennst den Sinn der Menschen genau und das Herz eines jeden, deine Macht ist von allen die größte, Herr. Wie aber kann dein Sinn es ertragen, dass schurkische Männer und der Gerechte demselben Geschick unterliegen, ob zur Vernunft nun gewandt wird oder zum Frevel der Sinn der Menschen, die von schlechten Werken verführt sind?62
Die Erfahrung, dass es ausgerechnet denen gut geht, die sich nicht an die geltenden sozialen und religiösen Normen halten, ist zeit- und raumübergreifend. Sie wurde und wird Frommen immer wieder zum Grund der Anfechtung und des Zweifels an der Gerechtigkeit Gottes.63 Mögen im Hintergrund jeweils gesellschaftliche und wirtschaftliche Umbrüche stehen, so führen diese Erfahrungen gerade im Bereich der biblischen Literatur zu einer Problematisierung und Vertiefung des Gottesverständnisses (vgl. Ps 73; Pred 7,15; 8,14; Jer 12,1–6). Hiob und seine Freunde sind auf dem Weg dahin. 21,8–9 Die in V. 7 als Frage formulierte These wird mit Hinweisen auf die fest gegründete Nachkommenschaft (vgl. 2Sam 7,16.26; 1Kön 2,45; Ps 102,29) und ihr gesichertes Leben (vgl. Dtn 28,67; Spr 1,33) entfaltet. Das genaue Gegenteil von dem, was Eliphas (15,34), Bildad (18,10) und Zophar (20,28) beschrieben hatten, ist der Fall: Die Frevler erfreuen sich samt ihrer üppig gedeihenden Nachkommenschaft eines blühenden Lebens. Im „Frieden (šālôm) ohne Schrecken“ verdichtet sich ihr umfassendes Wohlergehen – ganz im Gegensatz zu den Erwartungen der Freunde (15,21; 20,24–25) und zur Theorie der Torah (Dtn 28,11 versus Dtn 28,18, vgl. Ps 127,3) sowie in scharfem Widerspruch zur Erfahrung des unter dem Schrecken und dem Stock (šebæṭ) Gottes leidenden Hiob (9,34; 13,21). Wie die Metapher der Hand Gottes oder des Auges Gottes ist die Metapher des Stocks Gottes ambivalent: Hier steht sie zur Kenn-
62 63
Übersetzung aus: D.U. Hansen, Theognis, 71; 73, vgl. eleg. 1, 743–752 (Hansen, Theognis, 98f). Vgl. Hi 24,1; BT 50.70 (TUAT III, 150).
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zeichnung der vernichtenden Gewalt Gottes64 und seiner erziehenden Macht,65 andernorts für seine schützende Kraft (vgl. Ps 23,4). Erneut sind die Gedanken durch mehrfache Endreime (auf -û und auf -hæm), Alliterationen (gam-gāb erû) und Paronomasien (jiḥjû … ḥājil) sowie die chiastische Anordnung der Versglieder in V. 9 auf der stilistischen Ebene unterstrichen. Das zunächst generell behauptete Glück der r ešāʿîm wird in der dritten 21,10–12 Strophe an den Beispielen des Viehreichtums (V. 10) und der wie junge Tiere ausgelassen springenden Kinderschar (V. 11) entfaltet. Die Bilder sind stereotyp66 und hatten in der ursprünglichen Hiobdichtung „nur“ den Rang eines argumentativen Topos. Doch vor dem Hintergrund der im Prolog erzählten Schläge, die Hiob getroffen haben, zeigt sich die ganze Tragik der kleinen Szene: Hiob hat doch nach der Szenerie der jetzt vorliegenden Buchgestalt längst seine Kinder verloren (1,18–19). Hinter dem Bild der wie junge Kälber springenden Kinder könnte ein Hüpfspiel stehen (V. 11b conj.).67 Das Spiel der Handpauke, der Kastenleier und der Flöte ist Ausdruck unbeschwerter Lebensfreude (V. 12, vgl. Gen 31,27; Ex 15,20; Jer 31,4),68 mitunter aber auch Kennzeichen der im Rausch Gott und den Nächsten Vergessenden (vgl. Am 6,5– 6; Jes 5,11–12). Letzteres schwingt hier mit. Jedenfalls steht die Musik der Frevler, wie die V. 14–15 zeigen, nicht im Dienst des Gotteslobs (vgl. Ps 33,2; 81,3; 149,3; 150,4).69 Entgegen Zophars Meinung hält der Jubel der Frevler an (20,5). Umgekehrt ist das Schweigen der Instrumente ein Zeichen der Trauer (Ps 137,2–3) – auch Hiob ist das freudige Spiel der Flöte abhandengekommen und hat sich zum Ton der Klage gewandelt (30,31). Der Blick auf die Frevler geht gewissermaßen von außen nach innen und gip- 21,13 felt im Ausblick auf ihr friedvolles Sterben. Entgegen der Theorie der Freunde ist das Leben der Frevler durchgehend von Glück (ṭôb) geprägt (vgl. 20,21; Jes 65,22). Ihre Lebenstage sind gerade nicht von Angst und Schrecken gezeichnet (vgl. Hi 15,20). An ihrem Ende steht kein böser, d.h. unzeitiger oder qualvoller Tod (vgl. 18,12–16), vielmehr steigen sie lebenssatt und in Ruhe (berægaʿ)70 in die Scheol hinab (vgl. 7,9) – zu dem Ort, an den sich Hiob angesichts seines von ständiger Unruhe gezeichneten Lebens eingangs wünschte (3,11–19), vor dessen Erreichen er aber zuletzt noch auf die Erfahrung des ihn ins Recht setzenden Gottes hoffte (16,17–21; 17,13–16; 19,25–27).
Vgl. Jes 11,4; 14,529; 30,31. Vgl. Ps 89,33; Klgl 3,1; Ez 21,18; 2Makk 9,11; PsSal 10,1. Vgl. zu V. 10 Dtn 28,4 versus Dtn 28,18 (vgl. die Inschriften von Sefire, KAI 222 A 21–24) und zu V. 11 Ps 77,21; Jes 63,13–14; SapSal 19,9. 67 Siehe dazu U. Hübner, Spiele und Spielzeug im antiken Palästina, OBO 121, Freiburg (Schweiz)/ Göttingen, 22; vgl. auch LXX (προσπαίζω „spielen“). 68 Zur Darstellung einzelner Instrumente siehe z.B. ANEP Nr. 199–211; IPIAO IV Nr. 1186– 1188; 1228; 1230; 1234; 1235; 1548; 1549. 69 Siehe dazu Abart, Lebensfreude, 204f. 70 Offenbar verwendet der Dichter hier bewusst das Wort rægaʿ II im Gegensatz zu rægaʿ I („plötzlich“) in Zophars Beschreibung des jähen Todes der Frevler (vgl. Hi 20,5; 34,20). 64 65 66
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
21,14–22 Die ungestraften Vergehen der Frevler 21,14–15 Dem Glück der Frevler stellt Hiob in der vierten Strophe ihr religiöses, von Gott ungeahndetes Fehlverhalten gegenüber. Eine Zitationsformel eröffnet eine Paraphrase der Frevler.71 Ihr Kennzeichen ist die Emanzipation von Gott, der für sie in eine belanglose Ferne gerückt ist.72 Ihr narratives Urbild stellt der Pharao dar (vgl. Ex 5,2), ihr intratextuelles Gegenbild Hiob selbst, der auch im Leid an Gott festhält (Hi 16,18–19; 19,25–26) und ihm gerade keine Absage erteilt (1,1.8; 2,3). Die von Hiob beklagte Umkehrung der gerechten Weltordnung spiegelt sich in der Perversion der Frömmigkeitssprache im Mund der Frevler, die keine Erkenntnis (daʿat) Gottes und seiner Wege anstreben,73 keinen Gefallen (ḥāpaṣ/ḥāpeṣ) an Gott haben,74 keine Notwendigkeit sehen, ihn zu verehren (ʿābad),75 und sich keinen Nutzen davon versprechen, sich im Gebet an ihn zu wenden (pāgaʿ, vgl. Jer 7,16; 27,18). So ist die Rede der Frevler eine grundlegende Absage an den Gott Israels, der als der Heilige (qādôš) und als Erlöser (goʾel) zeigt, was für den Menschen „nützlich“ ist (Jes 48,17; Jer 2,11). Sie sind das Gegenbild des Frommen, der sich an Jhwh und seiner Torah ausrichtet (vgl. Ps 1,1–2; 119,33–38) – und doch ergeht es ihnen so, als würden sie deren Gebote befolgen (vgl. Dtn 28,1.11; Ps 1,3). Erneut steht damit, und nun aus gleichsam objektiver Perspektive, die Geltung der von der Torah vertretenen Theologie (vgl. Dtn 28,47–48) zur Disposition. Zugleich stellt das Zitat der Frevler ein indirektes Unschuldsbekenntnis Hiobs dar, der sich gerade in seiner letzten Rede zu Gott als seinem goʾel bekannt hatte (19,25, vgl. Jes 48,17) und der trotz und wegen aller negativen Erfahrungen die Wege Gottes verstehen will (10,3; 13,23). Schließlich bildet die Rede der Frevler, zumal mit ihrer Frage nach dem Nutzen der Frömmigkeit (V. 15b), im Zusammenhang des gesamten Buches ein poetisch verdichtetes Pendant zu der im Prolog thematisierten Frage nach dem Verhältnis von Glück und Glaube (vgl. 1,9; 2,3). Eliphas und Elihu werden auf diese Frage ausdrücklich eingehen (22,2; 35,3). 21,16–17 Zwei an die Freunde (und an die Leser) gerichtete rhetorische Fragen kehren summarisch zu der der Frevlerrede unmittelbar vorangehenden Beschreibung des gesegneten Lebens und friedvollen Sterbens der Frevler in V. 13 sowie zur Eingangsthese Hiobs in V. 6–7 zurück: Das Glück (ṭôb) liegt offensichtlich in der Hand der r ešāʿîm, und Gott (v.l.)76 nimmt von ihnen keine Notiz (vgl. 9,22–24; Jer 12,2). Unter Rückgriff auf das zuletzt von Bildad gebrauchte VerVgl. Jes 5,19; 28,15; Ps 10,6; 12,5; Spr 1,11–14; SapSal 2,1–20. Greenstein betrachtet auch noch V. 16 als Zitation der Frevler, muss dazu aber zusätzlich zu der oben genannten Korrektur in V. 16b (siehe die Anm. zur Übersetzung) b ejādām („in ihrer Hand“) in b ejādô ändern. 72 Vgl. Ps 10,4.11; 14,1–2; 73,11; Jes 29,15; Jer 12,4; Mal 2,17; 3,14. Zur Distanzierungsformel sûr min vgl. Ps 6,9; 34,15; 37,27; 119,115; 139,11; Spr 3,7. 73 Vgl. Hi 34,27; Jes 58,2; Ps 25,4–5; BT 70 (TUAT III, 150). 74 Vgl. Ps 1,2; 111,2; 112,1; 119,5. 75 Vgl. Hi 36,11; Jos 24,15–22; Mal 3,14. 76 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 71
Hi 21 Die sechste Rede Hiobs
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nichtungsbild vom verlöschenden Licht der Frevler (vgl. 18,5–6; Spr 13,9; 24,20) stellt Hiob die statistische Frage nach dem „Wie oft“ der Bestrafung der Frevler: Es könne ja sein, dass einzelne Frevler wie von den Freunden beschrieben tatsächlich in diesem Leben von Gott bestraft und irgenwann doch noch vom Unheil (ʾêd) getroffen werden (vgl. 18,12). Doch bereits die Verschonung auch nur eines Frevlers stelle die Theorie der konsequenten immanenten Vergeltung in Frage – und gibt es nicht zu allen Zeiten Belege dafür, dass es mehr als nur einem rāšāʿ gut geht? In der masoret. Gestalt ist V. 16 ein Bekenntnis Hiobs zur letztlichen Unverfügbarkeit des Glücks der Frevler und seiner eigenen (mænnî) Distanzierung von der Gemeinschaft und von der Denkweise77 der Frevler (vgl. Ps 1,1). Insofern ist V. 16 in seiner masoret. Form sekundär,78 in seinem vormasoret. Grundbestand fügt er sich aber sehr gut in das strophische und argumentative Muster von Hi 21 ein. In 22,17–18 wird der Vers (in einem Nachtrag zur Eliphasrede) vorausgesetzt. Mittels dieser kleinen Überarbeitung ist die Passage noch enger an die Bilder und das Thema von Ps 1 herangerückt, als sie es ohnehin schon war. Die Glosse in 21,17b hält in Anlehnung an das Motiv vom Zorn Gottes in 20,23.26 fest, dass den Frevlern sehr wohl Verderben zugemessen wird (vgl. 20,29). Als Teil der Rede Hiobs würde sich Hiob damit selbst widersprechen, sofern man das Kolon nicht unter die Rektion des Fragewortes kammāh („wie oft?“) in V. 17a stellt.79 Wollte man einen solchen Selbstwiderspruch Hiobs vermeiden und gleichzeitig am MT festhalten, bliebe nur die Möglichkeit, den Vers als Zitation zu verstehen.80 Ein selbstständiger Wunschsatz mit dem vor allem in der Weisheit, aber 21,18–20 auch in prophetischen Gerichtsworten häufig verwendeten Bild der vom Wind verwehten Spreu (vgl. Ps 1,4) eröffnet die fünfte Strophe (V. 18).81 Sie unterstreicht die Notwendigkeit einer immanenten, unmittelbaren Vergeltung an den Frevlern: Sollte Gottes Gerechtigkeit die Frevler tatsächlich treffen, so müsste die Strafe für ihr gottloses Treiben sie selbst und nicht erst ihre Nachkommen ereilen (V. 19, vgl. 5,4–5; 18,19; 20,10).82 Damit ist der Nerv der einschlägigen Argumentation der Freunde getroffen.83 Den Frevler selbst muss die göttliche
77 In dem Wort ʿeṣāh schwingen hier wie in dem deutschen Wort „Rat“ beide Aspekte mit, der soziologische und der intellektuelle. 78 Vgl. Mende, Leiden, 165 (auch V. 15 innerhalb des von ihr ohnehin als nicht ursprünglich betrachteten Κap. 21); Vermeylen, Métamorphoses, 327 (s.o. Anm. 52). 79 So verfahren die Auslegungen, die V. 17 für ursprünglich halten. 80 So z.B. Fokkelman, 248. 81 Vgl. Spr 1,27; 10,25; Ps 35,5; SapSal 5,14.23; Jes 17,13; 25,10; 29,5; Hos 13,3. Auch hier weist die LXX eine charakteristische Besonderheit auf, insofern sie das Wort sûpāh („Sturm“) mit dem in der HiLXX nur hier und in 38,1 verwendeten Wort λαῖλαψ übersetzt (vgl. SapSal 5,14.23; Sir 48,9.12; Jer 25,32) und so einen engen intratextuellen Bezug zur Erscheinung Gottes im Sturm (38,1) herstellt. 82 Vgl. Jer 31,29–30; Ez 18,2.19–20 versus Ex 20,5. 83 Vgl. Hi 8,4; 18,17.19; 20,28; Ps 94,23; Spr 13,22; Sir 17,23 (G).
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Vergeltung treffen – hier ausgedrückt mit dem Standardbegriff šillem („vergelten“) – er selbst muss vom Zorn Gottes trinken und von den Giftpfeilen des richtenden Gottes getroffen werden (V. 20), nicht seine Söhne – und schon gar nicht Hiob (vgl. 6,4)! Im Hintergrund steht das häufig in prophetischen Gerichtsworten gebrauchte Bild vom Zornes- oder Taumelbecher Gottes, der den Völkern,84 Israel selbst85 oder den Frevlern86 zur Strafe gereicht wird. Dabei ist die Herleitung dieses Motivs umstritten. Es könnte auf ein Eifersuchtsordal (Num 5,11–31) zurückgehen oder auf Mahlfeiern im Ahnenkult (Am 6,7; Jer 16,5.7), auf das Bild des heimtückischen Gastgebers (Jer 8,14; 9,14; 23,15) oder auf eine Umkehrung von Hab 2,15–16: Jhwh macht den Gewalttäter, der seinen Freund betrunken macht, um ihn zu demütigen, seinerseits trunken.
Hiob nimmt die ihm bisher zur Deutung seiner eigenen Situation verwendeten Bilder des kriegerischen Gottes auf (vgl. 9,17) und teilt diese mit den Freunden in ihrer Anwendung auf den Frevler. Doch im Gegensatz zu diesen formuliert er dies nicht im Modus der sicheren Erwartung, sondern des Wunsches und der Fokussierung auf die Person und die Lebenszeit des Frevlers. Erneut haben die Bilder vor dem Hintergrund der (sekundären) Zusammenstellung der Dichtung mit der Novelle eine besondere, Hiob selbst treffende Wucht erhalten (vgl. V. 18–19 im Gegensatz zu 1,18–19). 21,21 Was nach seinem Tod kommt, das berührt den Frevler nicht mehr. Wie in seinen Elendsmeditationen bringt Hiob auch hier die Vorstellung vom Tod als absoluter Grenze in Anschlag (vgl. 7,7–10; 14,10–12; 17,13–16). Was für Hiob gilt, muss auch für den Frevler gelten: Gott muss vor der Grenze des Todes agieren (vgl. 19,25–26). So besteht die theologische Spitze der Aussage Hiobs in der radikalen Problematisierung von Gottes Handeln und vom Erweis seiner Gerechtigkeit in der Zeit. Nicht nur für den Menschen, so die Freunde, könne es ein „zu spät“ geben, sondern auch für Gott. Gott kann zu spät kommen – diesen Gedanken hatte Hiob bereits in Form der persönlichen Leidklage immer wieder betont, nun generalisiert er ihn. Gott, Welt und Gerechtigkeit scheinen so weit auseinandergetreten zu sein, dass Gottes Zeit und Gerechtigkeit nicht mehr in die Welt hineinreichen. Damit ist der zweite Hauptteil der Rede eingeleitet. Denn nach der Beschreibung des gesegneten Lebens und Sterbens der Frevler in V. 6–17 folgt nun der Ausblick auf den Tod, der ebenfalls kein Beleg für Gottes vergeltende Gerechtigkeit ist. 21,22 Dieser Vers retardiert die Ausführung über die Gleichheit im Tode in der sechsten Strophe (V. 23–26), die den Schlussvers der fünften Strophe (V. 21) unmittelbar fortsetzt. In Anlehnung an Jes 40,14 und Ps 94,10 stellt der Vers, der den Gedankengang unterbricht, die rhetorische Frage, ob es denn mög-
Jer 25,15–18.27–28; 49,12; Ez 23,32–34; Hab 2,15–16. Jes 51,17.22; Klgl 4,21; Ps 60,5; PsSal 8,15. 86 Ps 75,9. 84 85
Hi 21 Die sechste Rede Hiobs
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lich sei, den selbst über die „Hohen/Erhabenen“ (rāmîm) richtenden Gott zu belehren (vgl. 12,13; 22,2 LXX). Dabei erscheint in diesem Theologumenon einmalig im Hiobbuch das Verb lāmad (Piel „lehren“, vgl. Pred 12,9), das nur hier mit einem durch le angezeigten persönlichen Objekt konstruiert ist. Zum Wesen Gottes und zur himmlischen Welt gehört es, über besonderes Wissen und besondere Erkenntnis (daʿat) zu verfügen.87 Das Wort rāmîm erscheint in der hebr. Bibel zunächst in zwei Bereichen: anthropologisch für überhebliche Menschen88 und geologisch-kosmologisch für Gebirgshöhen89. In Hi 21,22 sprechen vor allem die Konstruktion mit šāpaṭ und die Parallele zu den (durchgehend sekundären) Passagen in 4,18; 15,15; 33,23 nun für eine angelologische Deutung.90 Dieses Motiv spiegelt die mythologische Vorstellung eines über die anderen Götter richtenden Königsgottes wider (vgl. Ps 82,1; 89,8; Jes 24,21)91 – nur sind im Rahmen des fortgeschrittenen Jhwh-Monotheismus an die Stelle der Götter die „Engel“ getreten.92 Die LXX bietet hier, wie einige hebr. Hss, die wohl auf einer Verwechslung der Buchstaben r ( )רund d ( )דberuhende Lesart φόνοι („Morde/Bluttaten“, hebr. dāmîm) und verweist die richtende Tätigkeit Gottes so in den Bereich des irdischen Gerichts an den gewalttätigen Frevlern.93 Damit ist V. 22 näher an den Kontext und die vorangehende Zopharrede angebunden (vgl. 20,19). Er passt aber auch in dieser Lesart nicht in die ursprüngliche Hiobrede und liegt tendenziell auf der Ebene der Ergänzung in V. 17b. Gleichheit aller im Tod
21,23–26
In der sechsten Strophe werden der Zustand nach dem Tode des Frevlers, der 21,23–25 in diesem Leben reich gesegnet war (V. 8–13), und des Gerechten, der in diesem Leben ganz unglücklich war (3,20; 7,11; 10,1), gegenübergestellt. Dass sich hinter dem zunächst unspezifischen „der eine ... der andere“ (zæh … zæh) der Frevler und der Gerechte verbergen, ergibt sich vor dem Hintergrund der Beschreibung des Schicksals beider Größen in den Freundes- und Hiobreden
Vgl. Gen 3,5.22; Spr 30,2–3. Vgl. Ps 18,28; Spr 6,17; Jes 2,12; 10,33. 89 Vgl. Ps 78,69; Dtn 12,2; Jes 2,14. 90 Vgl. Tg zu Ps 78,69 und 4Q403 frgm. 1 I,30. Die Verwendung als Epitheton für Gott (vgl. Jes 57,15; DCH; Gordis; Strauß) ist unsicher. Zu weiteren Deutungen siehe Fuchs, Mythos, 127f. 91 Vgl. im Blick auf den mesopotamischen Gott Šamaš in einer Gründungsurkunde für den Šamaš-Tempel in Mari I,1–4 (TUAT II, 502; vgl. auch den Cod. Hammurabi § 50,14–19 [TUAT I, 78]), das Šu-illa-Gebet Šamaš 1 16 (Lenzi, Akkadian Prayers, 373, 382), ein altbabylonisches Opferschaugebet bei Nacht 12–13 (TUAT II, 718f) oder im Blick auf den griech. Zeus Kallimachos, In Iovem 3 (Asper, Kallimachos, 388f). 92 S.o. zu Hi 1,6 und zu 4,18 mit dem Exkurs zu Engeln im AT (S. 146–148). 93 Zudem hat LXX anstelle von hlʾl wohl hlʾ ʾl gelesen („Ist es nicht der Herr, der Einsicht und Wissen lehrt“, par. Hi 22,2 LXX). 87 88
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
sowie entsprechender weisheitlicher Sentenzen (vgl. 15,27; 20,[11].18–21).94 Die Gegenüberstellung ist wie schon die Passage in V. 9–13 eine Karikatur der Heilsverheißung, die Eliphas anfangs Hiob gegeben hatte (5,24–27, vgl. Spr 3,7–8), und der Beschreibung des Schicksals der „verbitterten Seelen“,95 die niemals Anteil am Glück (ṭôb) hatten (vgl. 20,21; 21,13.16; 4Q418 frgm. 127,1). 21,26 Im Tod sind alle Menschen gleich (vgl. 3,17–19). Die als summary appraisal dienende Sentenz ist gut weisheitlich.96 Sieh an die Schädel der Letzt(verstorbenen) und die der Früheren: Wer war denn da ein Bösewicht, und wer ein Mann, der (andere gern) unterstützte? (Bab. pessimistischer Dialog 9,77–78)97
Im Kontext der Rede Hiobs dient diese Sentenz dem Nachweis, dass allein eine prämortale Vergeltung gerecht sei – so, wie sie sich Hiob gemäß 19,25–26 auch für sich selbst erhofft. Der Tod ist für Hiob nicht nur eine die sozialen Unterschiede aufhebende Macht, sondern auch die Grenze, vor der den Frevler und den Frommen die Vergeltung seitens des gerecht handelnden Gottes treffen muss (vgl. V. 21). Damit thematisiert auch diese Strophe nochmals das Pro blem des zu spät in diese Welt kommenden Gottes. Ähnlich radikale Anfragen an Gottes Handeln in der Welt finden sich innerhalb des AT nur noch in der Skepsis des gegenüber der Hiobdichtung etwas jüngeren Koheletbuches. 21,27–34 Endgültige Abwendung von den Freunden 21,27 Noch einmal geht Hiob auf seine Freunde in direkter Anrede ein.98 In betonter Aufnahme von Zophars Frage nach Hiobs grundsätzlicher Kenntnis (jādaʿtā) der Weltordnung (20,4) und in Parallele zu seiner eigenen Gewissheit (jādaʿtî), dass Gott selbst für ihn vor seinem Tod Recht sprechen werde, unterstreicht er, dass er seine Freunde genau kennt (jādaʿtî). Er hat sie und ihre Gedanken, die sie in ihren zweideutigen Reden bezüglich des Schicksals der Frevler über (ʿāl) Hiob selbst geäußert haben und mit denen sie ihm Gewalt antun (ḥāmas)99,
94 Zur Identifikation des zæh … wezæh mit dem Frevler bzw. Gerechten siehe auch Fohrer; TurSinai. Zumeist wird die Gegenüberstellung in einem ganz allgemeinen Sinn unterschiedlicher Schicksale verstanden. 95 Diese Bezeichnung hat ökonomische (1Sam 22,2; 2Sam 17,8; Sir 4,6 [HA]; 7,11 [HA]) und psycho-somatische Konnotationen (vgl. Hi 3,20; 7,11; 10,1; Spr 31,6; 1Sam 1,10; Jes 38,15). 96 Vgl. Hi 10,9; 34,15; Ps 49,11–12; 104,29–30; Pred 2,16; 3,19–20; 6,8; 9,1–6; Sir 10,11; 40,3–4, Jes 14,11. Zu jaḥad in einer Sentenz bzw. einem Summarium zum Sterben vgl. Hi 34,15; Ps 14,3; Ps 37,38; Jes 1,28. 97 Übersetzung von W. von Soden, in: TUAT III, 162 (vgl. Lambert, BWL, 149). 98 Wie in Hi 5,17 und 8,20 ist der besondere Neueinsatz mit der Interjektion hen/hinneh gekennzeichnet. 99 Siehe dazu die Anm. zur Übersetzung.
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durchschaut (16,2–4; 19,3). So deutet sich hier unterschwellig der Gedanke an, dass die Beschreibung des Schicksals der Frevler, das sich grundsätzlich von dem Hiobs unterscheidet, neben der argumentativen Widerlegung der Theorie der Freunde auch indirekt dem Nachweis Hiobs dient, dass ihn gerade sein schlimmes Schicksal als unschuldig erweise: Wenn das Wohlergehen (V. 9) ein Signum der Frevler ist, so wird das Leiden offenbar zum Kennzeichen des wahrhaft Unschuldigen (vgl. Jes 52,13–53,12; SapSal 2,17–20; 3,1–9). Den Abschluss der Argumentation bildet die Auseinandersetzung Hiobs 21,28–30 mit der durch eine Zitationsformel eingeleiteten These der Freunde, nach der die Wohnstätte der Frevler zerstört werde.100 Wie der Parallelismus in V. 28 zeigt, ist nādîb pejorativ als Tyrann zu verstehen. 101 Hiobs Erfahrung, dass die Frevler im Blick auf den „Tag des Unheils“ (V. 30, vgl. 15,23.32; 18,20; 20,28)102 verschont werden, während er selbst, wie sich als Subtext mithören lässt, dies gerade nicht wird, mögen die Berichte (ʾototām)103 der durch die Welt Ziehenden (V. 29)104 bestätigen. Der Hinweis auf die Zeugnisse derer, die durch die Welt kommen, zeigt die Stoßrichtung des Arguments Hiobs: Wer sich, wie die Freunde es tun, über die Welt und ihre Ordnung äußert, sollte selbst durch die Welt gereist sein (vgl. Sir 34,9–12[13] [G]; 43,24). Angesichts der von weit her, aus Teman, Schuach und Naama,105 zu Hiob gekommenen Freunde, ist dies natürlich Ironie. Den sozialgeschichtlichen Hintergrund dieser Argumentation bildet möglicherweise eine polemische Spitze gegen einen bestimmten Provinzialismus im perserzeitlichen Jerusalem und eine Kritik an zu stark auf Israel und seine Weisheit konzentrierten frommen Kreisen. Die abschließende Widerlegung der Freunde wird mit der rhetorischen Frage 21,31 (vgl. V. 19) fortgesetzt, welche die Theorie der Vergeltung (vgl. Dtn 7,10; Jes 65,6; Sir 17,23 [G]) grundsätzlich bezweifelt: Der Frevler kann offenbar, vergleichbar einem Monarchen (vgl. Pred 8,4), nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Erneut fällt der terminus technicus der Vergeltung šillem (vgl. V. 19), der auch der Beschreibung des umfassenden Heils (šālôm) der Frevler (V. 9) zugrunde liegt. Dabei ist V. 31 nicht mehr Bestandteil des Zitats der durch die Welt Ziehenden, sondern, darin parallel zu V. 16–17, Ausdruck der Position Hiobs. Der angeblich verödeten, aus dem Gedächtnis der Nachwelt getilgten Wohn- 21,32–33 stätte des Frevlers stehen das Geleit zu seiner Begräbnisstätte und die Sorge um sein Grab gegenüber, hier einfach als „Hügel“ (gādîš) bezeichnet,106 womit
Vgl. Hi 8,22; 15,34; 18,6.14.21; 20,7–9.28. Dieser Vers fügt sich gut in die argumentative Struktur der V. 27–30 und braucht nicht als Ergänzung angesehen zu werden (so Mende, Leiden, 165). Allerdings wird ʾohæl in V. 28b als Dittographie von ʾajjeh oder als Glosse zu tilgen sein, so im Gefolge von Vg die Mehrheit der Ausleger. 102 Vgl. Ps 18,19; Spr 11,4; 27,10; Ez 7,19; Jer 18,17; Obadja 13; Hab 3,8; Zeph 1,18. 103 Nicht die materiellen Hinterlassenschaften der Frevler (so aber Weiser). 104 Vgl. Ps 80,13; 89,42; Spr 9,15; Klgl 1,12; 2,15. 105 Zur Lokalisierung s.o. die Auslegung von Hi 2,11. 106 Vgl. die Inschrift vom Tell Dēr ʿAllā Kombination II/B 8 (TUAT.NF VIII, 472). 100 101
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
möglicherweise auf ein besonderes Grabmonument angespielt wird (vgl. 3,14– 15). Die Frevler leben nicht nur gesegnet (vgl. V. 6–17) und sterben nicht nur ungestraft (vgl. V. 18–26*), sondern dürfen auch ein ehrenvolles Andenken nach dem Tode und sanfte Grabesruhe genießen (mātaq, vgl. Pred 8,10 im Gegensatz zu 18,17 und 20,7–8). Ob darüber hinaus in V. 32 an besondere Grabwächter gedacht ist, muss offenbleiben.107 Nicht ganz klar ist das Bild in V. 33a: Entweder ist an einen Grabschacht oder an eine Bestattung in einem (Bach-)Tal gedacht, wie es z.B. für Grabanlagen im Jerusalemer Kidrontal belegt ist. Ließe sich V. 33aβ noch auf einen langen Trauerzug beziehen, der den verstorbenen Frevler begleitet,108 so deutet die Glosse in V. 33b eher darauf hin, dass Hiob hier auf das allgemeine Todesgeschick (kål-ʾādām) blickt (Sir 14,15–19).109 Damit hat Hiob gezeigt, dass er genau um die ihm zuletzt von Zophar vor Augen gestellte Weltordnung „seit Gott Menschen auf die Erde setzte“ (20,4) weiß – mit dem Unterschied, dass die Art, wie die Frevler sterben, gerade kein Differenzkriterium zum Schicksal der Gerechten darstellt und ihr Tod kein Beweis für die Gerechtigkeit Gottes sein kann. 21,34 Der auf V. 27 und auf V. 2 zurückblickende Schluss weist nun endgültig die Freunde ab und charakterisiert die von ihnen vorgebrachten Tröstungsversuche als „absolut nichtig“, als „vollkommen sinnlos“ (hæbæl) und als „ganz trügerisch“ (maʿal). Der Vers, der durch die direkte Anrede und die terminologische Anknüpfung an die Eröffnung in V. 2 der Rede den Charakter der besonderen Geschlossenheit verleiht, unterstreicht mit scharfer Begrifflichkeit die hier beabsichtigte prinzipielle Widerlegung der Position der Freunde und die enttäuschte Abwendung Hiobs von ihren verfehlten Tröstungen (vgl. 16,2)110. Erneut schließt die Rede mit einem Negationsbegriff (maʿal)111. Mit ihren Reden haben die Freunde sich selbst als Frevler offenbart und vor Gott und den Menschen diskrediert: 17 Schäme dich vor Vater und Mutter der Unzucht, vor dem Oberhaupt und dem Fürsten der Lüge, 18 vor dem Herrn und der Herrin des Betrugs, vor der Gemeinde und dem Volk der Sünde, vor dem Kameraden und dem Freund der Untreue (ʿl mʿl). (Sir 41,17–18 [HM/B], vgl. Sach 10,2; Jes 30,7).
Vgl. Cornelius, 276. Vgl. Weiser; Strauß; Clines; J. Gray (allerdings mit Neuordnung der Stichen [V. 32a.33.a.33b.32.b] und erheblichen Textänderungen). 109 Andere beziehen diesen Versteil auf die sittliche Nachfolge des Frevlers bzw. die Nachahmung seiner allem Augenschein nach erfolgreichen Lebensweise (vgl. Dillmann; Seow). 110 Vgl. Klgl 1,2.9.16–17.21; Ps 69,21. 111 Vgl. Esr 9,2.4; 10,6; Sir 10,7 (HA); 48,16 (HB). 107 108
Hi 22 Die dritte Rede des Eliphas
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Hi 22 Die dritte Rede des Eliphas 22,1 Und Eliphas der Temaniter hob an und sagte: 2 3 4 5
Kann denn ein Mann El nützen? Nein, sich selbst1 (nur) nützt2 der Verständige. Gefällt es Schaddaj3, wenn du gerecht bist, hat er Gewinn, wenn du deine Wege vollkommen machst? Wird er dich wegen deiner (Gottes-)Furcht zurechtweisen, wird er mit dir vor Gericht gehen? Ist deine Bosheit nicht riesengroß, und sind nicht endlos deine Verschuldungen?
6 7 8 9
Denn du pfändetest wohl4 deine Brüder ohne Grund und zogst wohl den Dünngekleideten die Gewänder aus. Kein Wasser reichtest du wohl dem (vor Durst) Ermatteten, und dem Hungrigen verweigertest du wohl das Brot. – Und dem Gewalttätigen5 gehört das Land, und der Angesehene darf in ihm wohnen. – Witwen hast du leer fortgeschickt, und die Arme der Waisen wurden (dann) zermalmt6!
10 Deshalb umgeben dich Netze ringsherum und entsetzt dich jäher Schrecken. 11 Licht verlöscht7, so dass du nicht siehst und Wasserfluten dich bedecken. 12 Ist Gott nicht in der Himmelshöhe? Und betrachte …8 die Sterne, wie hoch sie sind. 1 ʿālêmô ist eine poetische Sg.-form, gleichbedeutend mit ʿālâw (vgl. Hi 20,23; 27,23; G/K § 103f; J/M § 103m). 2 Nach Gordis und Hartley verwendet der Dichter hier skn wie in V. 21 in der Bedeutung „zustimmen/sich vertragen“, wobei dann ʿālêmô auf Gott zu beziehen ist und die beiden Versteile parallel verstanden werden. 3 11QTgHi übersetzt mit der Gottesbezeichnung ʾlhʾ „Gott“ (vgl. Hi 22,17). 4 Die PK-Formen in V. 6–7 stehen weder, wie zumeist angenommen, in frequentativem noch in comitativem Sinn (vgl. Bobzin, Tempora, 303f; tendenziell auch Weiser), sondern zum Ausdruck der Möglichkeit, Hiob könnte sich dieser charakteristischen Vergehen schuldig gemacht haben (vgl. Clines). Die Klimax bildet V. 9a mit einer faktischen Anklage (im Pf.). V. 8 ist eine Art Parenthese (vgl. Bobzin, Tempora, 304). 5 Wörtl.: „Mann des Arms“. 6 Gegenüber einer Änderung von j edukkāʾ in t edakkeh „du zermalmtest“ (vgl. Weiser im Anschluss an LXX; Syr; Tg; Vg) kann die unpersönliche Aussage als Spitzensatz der Strophe beibehalten werden. Durch die PK wird angedeutet, dass die Misshandlung der Waisen eine Folge von Hiobs Vernachlässigung der Witwen ist. 7 Anstelle von ʾô ḥošæk „oder Finsternis“ lies ʿôr ḥāšak (vgl. LXX; Hi 18,6). 8 rʾš „das Haupt“ ist wohl eine Dittographie von rʾh „sieh/betrachte“. Letzteres wird gelegentlich nach LXX und Syr in eine 3. P. Sg. oder ein Part. mit Gott als Subjekt geändert (vgl. Clines).
HD
348 13 14
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Und du hast gesagt: „Was weiß denn El, richtet er wohl durch das Wolkendunkel? Dichtes Gewölk ist ihm ein Versteck, so dass er nicht sieht, und am Himmelskreis, da wandelt er umher.“
15 Bewahrst du den Weg derer, die Unrecht tun9, den Pfad10, auf dem Männer des Übels gingen, 16 die vernichtet wurden, und zwar vor (ihrer) Zeit, indem ein Strom gegossen wurde in ihren Grund, 17 die zu El sagten: „Halte dich fern von uns, und was tut wohl Schaddaj11 für uns12?“, 18 und während er selbst13 ihre Häuser mit Gutem füllte, war die Gemeinschaft der Frevler fern von ihm14. 19 Das können die Gerechten sehen und sich freuen, und der Unschuldige mag spotten über sie: 20 „Gewiss15, vernichtet ist ihr Bestand16, und ihre Habe fraß das Feuer.“ 21 Vertrage17 dich doch mit ihm und halte Frieden18, dadurch wird dir Gutes widerfahren19. 22 Nimm doch aus seinem Mund Weisung an, und lege seine Worte in dein Herz.
9 Anstelle von ʿôlām „Ewigkeit/Vorzeit“ (so Weiser) lies ʿawwālîm (vgl. Hi 18,21; 27,7; 29,17; 31,3) oder ʿ awîlîm. Hartley übersetzt nach ʿlm II „dunkel sein “ mit „hidden way“ (vgl. DCH s.v. ʿôlam III). 10 Anstelle von ʾ ašær „auf dem“ (so Weiser) lies ʾ ašur (vgl. Hi 23,11; 31,7; Ps 37,31; 44,19). 11 11QTgHi übersetzt hier wie in Hi 22,3 mit der Gottesbezeichnung ʾlhʾ „Gott“. 12 Anstelle von lāmô „für sie“ lies lānû (vgl. 11QTgHi; LXX; Syr). 13 D.h. Gott. 14 Anstelle von mænnî „von mir“ lies mænnû/mænehû (vgl. LXX). Trotz des gleichen Wortlautes wie in Hi 21,16b unterscheidet sich der syntaktische Anschluss von 22,18b an 22,18a (vgl. Bobzin, Tempora, 308f). 15 Zu ʾîm-loʾ als Beteuerungspartikel vgl. Hi 17,2; 31,36. 16 Anstelle von qîmānû „unser Widersacher“ lies entweder j equmām (vgl. Th; Syr; Tg; Vg; Gen 7,4.23; Dtn 11,6) oder qajjāmām (vgl. 1QHa V,18[29]; DCH s.v. qajjām). 17 11QTgHi bietet hstkl „werde verständig“ (vgl. 11QTgHi zu 23,5; 26,14; 34,27; 37,14 sowie TgHi zu 22,21 [„lerne doch ...“]), wodurch die Beziehung zwischen V. 2 und V. 21 noch deutlicher ist als im MT. Zur gegenüber V. 2 veränderten Bedeutung der Wurzel skn siehe Witte, Notizen, 49, und Clines. 18 ûš elm/ûš elām gehört gegen die Segmentierung im CodL mit vielen Hss (u.a. dem CodA) zum ersten Kolon des Verses (vgl. BHK; BHS). 19 e t bôʾāt ekā soll wohl Impf. 3. P. Sg. fem. (anstelle von t ebôʾ akā) sein (vgl. Dtn 33,16; Weiser), doch ist auch zu erwägen, t ebûʾāt ekā „dein Ertrag“ (vgl. Hi 31,12; Jer 12,13; Spr 3,14; 8,19; Sir 6,19 [HA/C]) zu punktieren (vgl. die Mehrzahl der Hss; LXX; Syr; Tg; Vg).
Hi 22 Die dritte Rede des Eliphas
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23 Wenn du umkehrst zu Schaddaj, dich demütigst20, (wenn) du entfernst das Unrecht aus deinem Zelt, 24 – und lege auf den Staub das Gold und in den Fels der Wadis das Ophir, 25 und Schaddaj wird dein Gold sein und Silber von hohem Glanz21 für dich, – 26 ja, dann wirst du dich an Schaddaj erfreuen und wirst erheben zu Eloah dein Angesicht. 27 Du wirst zu ihm beten und er wird dich hören, du wirst geloben22 und deine Gelübde erfüllen. 28 Wenn du ein Werk beschließt, so gelingt23 es dir, und auf deinen Wegen leuchtet Licht. 29 Gewiss, Eloah erniedrigt24 den Hochmut, aber dem mit demutsvollen Augen hilft er auf. 30 Er wird den unschuldigen Menschen25 retten, und gerettet wird er durch die Reinheit seiner26 Hände. Hermisson, H.-J.: Von Gottes und Hiobs Nutzen. Zur Auslegung von Hiob 22, in: Ders.: Studien Literatur zu Prophetie und Weisheit, FAT 23, Tübingen 1998, 300–319. – Nõmmik, U.: Die Freundesreden des ursprünglichen Hiobdialogs. Eine form- und traditionsgeschichtliche Studie, BZAW 410, Berlin/New York 2010. – Scherer, A.: Lästiger Trost. Ein Gang durch die Eliphas-Reden im Hiobbuch, BThSt 98, Neukirchen-Vluyn 2008. – Witte, M.: Philologische Notizen zu Hiob 21–27, BZAW 234, Berlin/New York 1995. – Ders.: Vom Leiden zur Lehre. Der dritte Redegang und die Redaktionsgeschichte des Hiobbuches, BZAW 230, Berlin/New York 1994.
20 Anstelle von tibbānæh „du wirst erbaut/aufgebaut“ (im Sinn von: lebst weiter), was den Folgesatz in V. 26a vorwegnimmt (so Hartley), lies teʿānæh (von ʿnh II, vgl. Ps 119,67.71.75.107; Jes 53,7; 58,19) oder tikkānah (vgl. Sir 4,25 [HA]) (vgl. LXX). Clines bleibt beim MT, versteht aber V. 23b, der an sich noch unter der Rektion von ʾim steht, bereits als Apodosis und löst tarḥîq als 3. P. Sg. mit dem Subjekt ʿawlāh auf: „dann wird Unrecht fern sein“. 21 Die genaue Bedeutung von tôʿāpôt ist umstritten. Die hier gebotene Übersetzung leitet das Wort von jpʾ „strahlen“ (vgl. Hi 3,4; 10,3; 37,15; Sir 45,7 [HB]) ab. Denkbar wäre auch ein Zusammenhang mit der arab. Wurzel japaʿa „emporragen“ und dementsprechend die Bedeutung „Haufen/ Stangen“, d.h. „Barren“ (Ges18) oder „in doppeltem Maß“ (vgl. DCH s.v. tôʿāpāh III); zur weiteren Diskussion siehe Grabbe, Philology, 81–83; Witte, Notizen, 54f, und Clines. 22 Aus kolometrischen und stilistischen Gründen ist wohl tiddôr zu ergänzen (vgl. 1Sam 1,11; Pred 5,3). 23 Zum Gebrauch des Jussivs im Nachsatz eines Bedingungssatzes siehe G/K § 109b und 159d. 24 V. 29a liegt kaum in der ursprünglichen Form vor. Hierzu existieren zahlreiche Änderungsvorschläge (vgl. CTAT 50/5, 195–198; Witte, Notizen, 57f; Clines). Anstelle von hišpîlû wattoʾmær „sie erniedrigen (sich), und du sagst: …“, was auf eine aus V. 28 (ʾômær) eingedrungene Verschreibung zurückgehen könnte, lies hišpîl ʾ æloah (ähnlich Nõmmik, Freudesreden, 53 [hišpîl ʾel] sowie Hi 40,11; Ps 18,28; 75,8; 147,6). Weiser ändert zu hišpîlekā ʾomer „Er hat erniedrigt dich, der Stolzes redet“, ähnlich Clines (hišpîl mitʾammer). 25 Anstelle von ʾî-nāqî „Den Nicht-Unschuldigen“ (zu ʾî als Negation siehe J/M 102jN; Hartley) lies nach Hi 1,8; 2,3 (jeweils ʾîš tām) ʾîš-nāqî (ähnlich Strauß, der ʾê als indefinites Pronomen liest: „wer immer“); zur Diskussion siehe Grabbe, Comparative Philology, 83–86; Witte, Notizen, 59f; Clines. 26 Anstelle von kapp kā „deine Hände“ (so Weiser) lies kappâw.
350 Aufbau und Sprachformen
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Die dritte Rede des Eliphas bildet eine zweiteilige Anklage- und Trostrede. Sie besteht aus sechs Strophen (V. 2–5|6–9|10–11[12]13–14|15–16[17–18]19– 20|21–23[24–25]26|27–30) zu je vier Bikola. Auf eine die Rede eröffnende vierfache Frage zu Hiobs Gottesfurcht (V. 2–5) folgt eine vierfache Beschuldigung aufgrund hypothetischer sozialer Vergehen (V. 6–9). In der dritten Strophe (V. 10–11[12]13–14) wird die Unglückssituation Hiobs interpretiert und sein Fehlverhalten im Leiden kritisiert. Als Überleitung zwischen dem ersten anklagenden Teil (V. 6–14*) und dem zweiten tröstenden Teil (V. 21–30*) dient die vierte Strophe (V. 15–16[17–18]19–20) mit der Gegenüberstellung der Frevler und der Gerechten. Der zweite Teil bietet in den V. 21–23[24–25]26–28 vornehmlich konditional gefasste Heilszusagen an Hiob und mündet in einem Summarium zur Darstellung des Vergeltungshandelns Gottes (V. 29–30). Die wesentlichen Sprachformen der Rede stammen aus dem Bereich der Weisheit. In V. 6–9 greift der Dichter auf Elemente zurück, die in atl. Rechtstexten verankert sind, aber auch in der sogenannten prophetischen Sozialkritik und im weisheitlichen Ethos begegnen.
Text- und In 11QTgHi sind Äquivalente zu V. 3–9 und V. 16–22 erhalten. V. 8, der im Literar- MT die Reihe der in der 2. P. Sg. formulierten direkten Anschuldigungen geschichte Hiobs unterbricht und daher gelegentlich als Glosse betrachtet wird,27 ist in 11QTgHi mittels der Einleitung wʾmrt („und du hast gesagt“) als ein ausdrückliches Zitat Hiobs gekennzeichnet.28 Mehrfach trifft sich 11QTgHi gegen den MT mit einer Lesart der LXX,29 was darauf hindeutet, dass beide Versionen eine ähnliche Vorlage hatten, die sich von der des MT unterschied. In LXXZi sind V. 3b.13–16.20.24.29–30 asterisiert, im ‚kirchlichen Text‘ der LXX stammen sie aus Th. V. 2 entspricht der LXX-Fassung von 21,22. Die ursprüngliche griech. Übersetzung endete mit V. 28, wobei V. 28a eine Paraphrase des hebr. Textes mit einem wörtlichen Zitat aus 8,6 darstellt (vgl. Tob 10,13). Die Tatsache, dass in LXX einzelne Distichen auf einen Stichos komprimiert sind oder als Paraphrasen erschienen, weist darauf hin, dass die Lücken gegenüber dem MT übersetzungstechnisch bedingt sind. Aufgrund des Fehlens von V. 13–16 ist aber der Vorwurf des Eliphas gegen Hiob schwächer als im MT.30 Die Rede wurde an drei Stellen (V. 12, 17–18, 24–25) fortgeschrieben. V. 12 weist eine metrische Überlänge auf, bildet aufgrund seines syntaktischen Wechsels vom Nominalsatz mit Gott als Subjekt (V. 12a) zum Verbalsatz mit Hiob als Subjekt (V. 12b) keinen stilistischen oder inhaltlichen Parallelismus. Der Vers sprengt den engen motivischen Zusammenhang zwischen V. 11 und Budde. Ebenfalls als Zitat verstanden den Vers bereits – lange vor der Auffindung von 11QTgHi – Stuhlmann, Hiob (1804), Teil 2, 56 („eine dem Hiob bekannte Sentenz“) und A.B. Ehrlich, Randglossen, VI, 271, sowie in neuerer Zeit Fohrer; Gordis; Hartley. 29 So bietet 11QTgHi wie LXX (und Vg) in Hi 22,3b einen Sg. („dein Weg“) und in V. 17b die Lesart lnʾ („uns“). 30 Vgl. Gard, Exegetical Method, 80f. Zu den „Lücken“ der LXX in Hi 22 insgesamt siehe ausführlich Gorea, Job repensé, 74–84. 27 28
Hi 22 Die dritte Rede des Eliphas
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V. 13–14 auf und steht inhaltlich in Spannung zu V. 13–14, wo Eliphas Hiob gerade vorwirft, dass er Gott als den am menschlichen Leid uninteressierten, am fernen Himmel Wandelnden betrachte (vgl. besonders V. 14b). Der Vers entspricht der kosmologisch-didaktischen Tendenz der Gottesrede (vgl. 38,31– 33; 11,8; Jes 40,25–26) und dürfte eine Glosse sein. V. 17–18 passen weder in die metrische und syntaktische Struktur der V. 15–16+19–20 noch in deren gedanklichen Duktus. Die Schilderung der Vernichtung der Frevler (V. 16) und die Notiz über die Freude der Gerechten gehören eng zusammen.31 Selbst wenn man die V. 17–18 als Parenthese versteht, bleibt das Phänomen, dass sie nur unwesentlich modifiziert 21,14–16 wiederholen.32 Zwar finden sich zwischen den einzelnen Reden Stichwortassoziationen und Begriffsanknüpfungen sowie Wiederholungen eines Stichos als Kompositionsmittel, doch ist die Wiederholung mehrerer Bikola in unmittelbar aufeinanderfolgenden Reden einmalig. Schließlich fallen die V. 17–18 aus dem für die dritte Eliphasrede nachweisbaren Strophenschema zu je vier Distichen heraus.33 V. 24–25 unterbrechen das konditionale Gefüge von V. 23.26 durch die Einlage eines Imperativs und eines konsekutiven Perfekts. Eine dreifache Folge des Gottesnamens Schaddaj begegnet nur hier im Hiobbuch. Während die Bezeichnungen Eloah und El häufig hintereinander und ohne parallele Nennung eines Gottesnamens auftreten, erscheint Schaddaj im Hiobbuch stets im Parallelismus oder unmittelbar neben El34 oder Eloah.35 Zudem weist V. 24 mit dem Wort bæṭær das einzige Hapaxlegomenon in Kap. 22 auf. Die Aussage, dass Schaddaj für Hiob „Silber“ und „Gold“ sein werde, steht in Spannung zu den folgenden personal gedachten Verheißungen. Die besonders zahlreichen Stilmittel (Alliterationen, Paronomasien, Homoioteleuta, Synonyma) deuten darauf hin, dass es sich bei dem Tetrastichon um eine gekünstelte Ergänzung handelt.36 Anrede Hiobs und Bestreitung seiner Frömmigkeit
22,1–5
22,1 S.o. zu Hi 4,1. Die Rede hebt anaphorisch herausgehoben mit einer Kette von acht rheto- 22,2 rischen Fragen an.37 Die Einführung entspricht den Redeeröffnungen in 4,2 und 15,2, die ebenfalls als Fragen einsetzen.38 Die nur scheinbar allgemein forVgl. Ps 32,10–11; 35,26–27; 52,7–8; 58,10–11; 64,9–11; 68,3–4; 69,33; 97,12; 107,40–42. Es entsprechen sich Hi 22,17a/21,14; 22,18a/21,16a; 22,18b/21,1b; 22,17b komprimiert 21,15. 33 Vgl. Mende, Leiden, 169 (mit der Zuweisung an den dritten Bearbeiter nach dem Elihudichter) und Vermeylen, Métamorphoses, 349 (zusammen mit V. 2–11 [!] als Teil der „vierten Buchredaktion“). 34 Hi 8,3.5; 13,3; 15,25; 21,14.15; 22,2.3; 22,17; 23,16; 27,2.11.13. 35 Hi 5,17; 6,4; 11,7; 27,10; 29,4–5; 31,2. Die isolierte Stellung von Schaddaj in 6,14 findet sich in einer Glosse (s.o.). In Hi 31,35 ist der Text gestört (s.u.). 36 Vgl. Strauß (nur V. 24) und Vermeylen, Métamorphoses, 330 (V. 24–25 und 29–30 als Zusätze seitens der „dritten Buchredaktion“). 37 Vgl. Hi 39,9–12; Jes 66,7–9 und dazu Watson, Poetry, 339. 38 Zum Redeauftakt vgl. auch BT 13–15.56 (TUAT III, 147.149). 31 32
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
mulierte Frage in V. 2 hinsichtlich des Nutzens (skn, vgl. 15,3; 34,9; 35,3.7), den der Fromme (maśkîl), eigentlich der Kluge und Einsichtige,39 Gott bringe, kehrt ein zentrales Argument der Klagen Hiobs und einzelner Beter der Psalmen um: mit dem Tod eines Frommen verlöre Gott einen Verehrer, Gott schade somit sich selbst (vgl. Ps 30,10). Die Frage des Eliphas nach dem Nutzen des Menschen für Gott berührt, wenn auch mit anderen Begriffen, das Thema des Gesprächs zwischen Jhwh und dem Satan im Prolog (vgl. 1,10–11; 2,4–5). Auf der Ebene der menschlichen Weisen, deren Blick auf das Geschehen auf der Erde ausgerichtet ist, mag die Position des Eliphas zutreffen. Für den Leser, der die Himmelsszenen und die (Selbst-)Bezeichnung Hiobs als „Mann“ (gæbær)40 kennt, ist hingegen klar, dass Hiob und Gott eng aufeinander bezogen sind, dass Gott letztlich Hiob braucht und Hiob Gott durchaus nützen kann. Es ist genau diese Grundkonstellation, das Verhältnis von Gott und Mensch, die den Motor des gesamten Hiobbuches darstellt. So trifft die Eingangsfrage des Eliphas den Kern der Frage Hiobs nach dem grundsätzlichen Wesen Gottes, nach dem Wesen eines Gottes, dem Hiob sich wehrlos ausgeliefert sieht, von dem er aber nicht loskommt und auf dessen erlösendes Einschreiten zu seinen Gunsten er hofft (19,25). Bewusst bezeichnet Eliphas indirekt Hiob als einen Verständigen (maśkîl), hatte dieser doch gerade fehlendes Verständnis für die Frage nach Gott als Merkmal der Frevler beschrieben (21,14–15, vgl. Ps 14,1–2). Hatte Hiob zuletzt die Ausmalung des schlimmen Schicksals der Frevler durch die Freunde mit der Erfahrung des Wohlergehens jener kontrastiert, so stellt Eliphas nun wieder den Frommen selbst in den Mittelpunkt – und dies zunächst mit dem durchaus als Trost für Hiob gemeinten Hinweis auf den Abstand zwischen Gott und Mensch. 22,3–4 In den im Du an Hiob gerichteten Worten, mittels derer die Eingangsfrage ausdrücklich auf Hiob angewendet wird, zeigt sich aber eine negative Steigerung: Sie führt vom hypothetischen Gerechtsein Hiobs, der Anerkennung der Tadellosigkeit seines Wandelns (dæræk) und seiner Gottesfurcht (vgl. 4,3–6; Ps 25,12) hin zu einer Zurechtweisung (jākaḥ)41 und direkten Anklage (V. 5). Auch hier klingt die Kennzeichnung Hiobs als „tadellos/vollkommen“ (tām) im Prolog (1,1.8; 2,3) und in Hiobs zweiter Rede (9,20) an. Anders als in den Zusätzen zu seiner ersten und zweiten Rede bestreitet Eliphas hier nicht thetisch die grundsätzliche Möglichkeit der menschlichen Gerechtigkeit (vgl. 4,17; 15,14), sondern ironisch die Wirklichkeit der Gerechtigkeit Hiobs. Gerechtigkeit und ein integrer Lebenswandel sind für Eliphas prinzipiell möglich: sie dienen dem einzelnen Menschen. Gott, der in absoluter Freiheit und Erhabenheit über den Dingen steht, wird davon aber nicht substantiell berührt. Damit bestreitet Eliphas die Inanspruchnahme Gottes durch Hiob als seinen Erlöser 39 Vgl. Hi 34,27.35; Ps 14,2; 119,99; Spr 14,35; 15,24; 16,20; 19,14; 21,21; Sir 13,22 (HA); Am 5,13; Dan 11,33; 12,3.10 Im Schrifttum von Qumran erscheint das Wort maśkîl auch als Titel für einen Weisen oder Lehrer, vgl. z.B. 1QS III,13; IX,12.21; 1QHa VII,21; XX,11(14); CD-A XII,21; XIII,22. 40 Vgl. Hi 3,3.23; 14,10.14; 16,21 und weiter 34,7.9; 38,3; 40,7. 41 Zu jākaḥ (Hif.) „tadeln“ mit Gott als Subjekt vgl. Ps 50,8.21; Hab 1,12.
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(19,25) und gibt der von Hiob in 21,14–15 zitierten Position der Frevler eine neue Richtung: es geht nicht um den Nutzen, den Gott vom Handeln des Menschen hat, sondern um den Nutzen, den der einzelne Mensch selbst hat. Dies bedeutet nicht, dass Gott nicht auf menschliches Handeln und Verhalten reagiere – dies hat Eliphas wie auch die anderen Freunde durchgehend vertreten –, wohl aber, dass die Beziehung zwischen Gott und Mensch nicht so eng ist, wie Hiob dies einerseits erleidet, andererseits erhofft. Die zunächst wertfreie Wendung „vor Gericht gehen“ (V. 4b), die auf eine von einer neutralen Instanz zu fällende, offene Entscheidung hinweist, nimmt den Wunsch Hiobs nach einer grundlegenden Klärung seiner Gottesbeziehung auf (9,32; 23,2–7) – durch die folgenden Verse ist sie negativ bestimmt (vgl. 14,3 [sek.]).42 Wenn Gott tatsächlich mit Hiob in einen Rechtsstreit eintreten würde, dann 22,5 würde sich Hiobs Schuld erweisen. Ein Teil der Suche Hiobs käme damit wirklich zu einem Ende.43 Doch weil für Eliphas eine solche rechtliche Auseinandersetzung mit Gott theologisch und anthropologisch ausgeschlossen ist, entfaltet er selbst, worin Hiobs Vergehen (ʿāwôn) liegen könnten. Dabei ist der Begriff ʿāwôn doppeldeutig, insofern er sowohl „Schuld“ als auch „Strafe“ bezeichnen kann. Wie beim Gebrauch des für die Hiobdichtung so wichtigen Wortes ʿāmāl („Mühsal/Leid/Unheil“)44 zeigt sich hier der in der synthetischen Lebensauffassung gründende äquivoke Gebrauch eines Wortes zur Beschreibung einer bestimmten Ursache und ihrer Wirkung. Zugleich leuchtet damit wie schon in der Mutmaßung über Hiobs große Bosheit (rāʿāh V. 5a, vgl. Gen 6,5–6; 8,21)45 eine Anspielung auf die biblische Urgeschichte auf (ʿāwôn V. 5b, vgl. Gen 4,13). Direkte Beschuldigung Hiobs konkreter Vergehen
22,6–20
Mit V. 6 setzt ein dreigliedriger Hauptteil ein, in dem Eliphas Hiob erstens sozialer Vergehen bezichtigt, zweitens falsches Verhalten in der Situation des Leidens unterstellt und drittens beispielhaft das Schicksal von Gerechten und Frevlern vor Augen hält. Eliphas führt die anthropologische Zuspitzung der Frage nach dem Nut- 22,6–9 zen der Frömmigkeit fort. Vollkommenheit des Lebenswandels wirkt sich auf die menschliche Umwelt des Frommen aus. Anstelle des ironisch von Hiob erwarteten Spotts auf seine Rede (21,3) kommen unter Rückgriff auf die zuvor von Zophar allgemein beschriebenen Vergehen (20,18–22) direkte Vorwürfe. Mit geprägten Wendungen der Sozialgesetze der Torah, der sozialen Anklage der Prophetenbücher46 und des weisheitlichen Solidarethos, wie es sich gleicherVgl. Ps 143,2; Pred 11,9; 12,14; Jes 3,14; 4Q381 frgm. 45,4. Vgl. Hi 7,21 (sek.); 10,6.14; 13,23.26; 14,17. 44 Vgl. Hi 3,10.20; 4,8; 5,6–7. 45 Vgl. 1Sam 12,17; Jo 4,13. 46 Zur Einordnung der Motive in V. 6–9 in die prophetische Anklage sozialer Vergehen vgl. Fohrer, 353; Maag, Hiob 139. Westermann, Aufbau, 47, verweist auf die Feindklage. 42 43
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maßen in äg. Lebenslehren und bab. Instruktionen niedergeschlagen hat,47 klagt Eliphas Hiob charakteristischer mitmenschlicher Vergehen an: der Pfändung (V. 6a)48 und des Raubs der Kleidung (V. 6b)49, der Vorenthaltung von Nahrung (V. 7),50 des Entzugs von Lebensraum (V. 8)51 und der fehlenden Fürsorge für Hilfsbedürftige, Witwen und Waisen (V. 9).52 Letzteres beinhaltet auch die Verweigerung eines Beistands vor Gericht, insofern Witwen und Waisen im alten Israel (wie in anderen antiken und altorientalischen Gesellschaften) nur eingeschränkte oder gar keine Rechte hatten.53 All diese Vergehen stehen unter dem Verdikt der Verfluchung durch die Jhwh-Gemeinde (Dtn 27,19). Dabei wird die Anklage wie bereits die Eröffnung der Rede durch eine Klimax gekennzeichnet. Stehen die ersten vier Vorwürfe noch unter dem Vorbehalt der Möglichkeit, dass Hiob die genannten Punkte begangen haben könnte (V. 6–7), so konstatiert Eliphas abschließend, Hiob habe die Witwen mit „leeren Händen“ fortgeschickt (V. 9).54 Die Misshandlung der Waisen erscheint dann als eine von Hiob verursachte, wenn auch nicht selbst ausgeübte Folge seines Verhaltens. Bewusst endet die Reihe der Vorwürfe mitmenschlicher Vergehen mit dem drastischen Ausdruck des „Zermalmens“ (dākāʾ Pual, vgl. Jes 3,15; Ps 94,5), mit dem Hiob selbst seine Erfahrung der Unterdrückung durch Gott beschrieben hat (19,2): So stellt Eliphas der mutmaßlichen Misshandlung Hiobs durch Gott die mutmaßliche Misshandlung seiner Mitmenschen gegenüber. Hiob, der sich seiner Würde von Gott entkleidet sieht (19,9), der selbst namentlich Gott als seinen Vater sucht und sich selbst als Waise erlebt, wird damit natürlich grob Unrecht getan. Das Schlusswort der Anklage korrespondiert in dieser Hinsicht mit dem gleich zu Beginn erhobenen Vorwurf, Hiob habe „grundlos“ (ḥinnām) gehandelt (V. 6a), wodurch ebenfalls eine zentrale Erfahrung Hiobs, nämlich von Gott „grundlos“ geschlagen zu werden (9,17), pervertiert wird. Auch hier erhält die Rede vor dem Hintergrund des Prologs eine besondere tragische Tiefe, wenn dort Hiob selbst „grundlos“ als Pfand Gottes erscheint (2,3). 22,10–14 Die konkrete Beschuldigung – wider besseres Wissen (vgl. 4,2–6) – und die Umlenkung der Klage des Leidenden gegen diesen selbst erscheinen als das letzte Mittel eines Trösters, der sich in Rage geredet hat und der sich 47 Vgl. z.B. die Lehre d. Amenemope 4,4–7 (TUAT.NF VIII, 331) oder die sog. Counsels of Wisdom (BWL 106–106; 311–315; 345f; TUAT III, 163–169), besonders 56–65; 164. 48 Vgl. Ez 18,16. Der Vorwurf an Hiob basiert auf der Wurzel ḥbl I. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch die Bedeutung der Wurzel ḥbl II „böse/unrecht handeln/schädigen“ anklingen soll (Noegel, Janus Parallelism, 79–81); vgl. Hi 24,9–10. 49 Vgl. Ex 22,25–26; Dtn 24,12–13.17; Jes 58,7; Ez 18,16; Am 2,8; Hi 31,19–20; Spr 20,16; 27,13. Auf die Pfändung eines Kleidungsstückes bezieht sich wohl auch das in Meṣad Ḥašavyahu (2 km südlich von Yavneh-Yam) gefundene Petitionsschreiben MHas (7):1 (HAE I, 315–329). 50 Vgl. Jes 32,6; 58,7–10; Ez 18,5–9.14–17; Hi 31,17; Spr 25,21; Mt 25,25–26.42. 51 Vgl. Jes 5,8; Mi 2,1–2. 52 Vgl. Ex 22,21–23; Dtn 24,17; Hi 24,3; 29,12; 31,16–17.21; Spr 23,10. 53 Vgl. Jes 1,17.23; Jer 7,6; 22,3; Hi 31,21; Spr 22,22. 54 In diesem Sinn ist der Wechsel der Tempora in V. 6–9 zu erklären (vgl. die Anm. zur Übersetzung).
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das Schicksal des Leidenden nicht erklären kann. Sie sind der letzte Versuch, die Gültigkeit der Gleichung zu beweisen, Gerechtigkeit, hier fokussiert auf soziale Gerechtigkeit, schenke Leben (vgl. Ez 18,5–9). So ist Hiobs Leid für Eliphas letztlich die Konsequenz sozialer Vergehen. Ihr Pendant ist Fehlverhalten im Leid. Inhaltlich ergänzen sich V. 10, der durch Alliterationen und ein Homoioteleuton besonders hervorgehoben ist, und V. 14 dialektisch durch die Beschreibung Hiobs, der sich selbst von Schrecken umhüllt und Gott hinter Wolken verborgen glaubt (vgl. Spr 3,25; 6,15; 24,22).55 Andererseits korrespondieren V. 11 und V. 13 miteinander: Der „Finsternis“56, die Hiob den Blick versperre, steht das „Dunkel“ gegenüber, durch das Gott selbst scheinbar nicht hindurchdringe (V. 13, vgl. Ps 18,10.12; 68,5; 81,14). In V. 11 wird die in V. 10 begonnene Schilderung der „Schrecken“ Hiobs fortgesetzt, die in der Wendung „du siehst nicht“ mit Hiob als Subjekt gipfelt (vgl. Hi 18,6; 38,34). Es sind dieselben Chaosmotive und Schreckensbilder, die Hiob zur Beschreibung seiner Situation vor Gott und die die Freunde zur Beschreibung des Schicksals der Frevler gebrauchten.57 Hiobs Erfahrung der Finsternis und der Verborgenheit (setær) Gottes (vgl. 13,24)58 ist für Eliphas die Kehrseite der Verheißung, die denen gegeben wird, die den Geboten der Mitmenschlichkeit und der Barmherzigkeit mit den Hilfsbedürftigen entsprechen: 7 Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! 8 Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. 9 Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, 10 sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. (Jes 58,7–10 LB)
Indem Eliphas feststellt, dass Hiob aufgrund der ihn schuldhaft umgebenden Finsternis nichts mehr sieht, relativiert er zugleich dessen Hoffnung, er werde endlich Gott für sich sehen (19,26). Vor dem Hintergrund der Berufung Hiobs auf seinen himmlischen Rechtsbeistand erklärt sich die (ursprüngliche) Fortsetzung in V. 13–14 sowie der (sekundär) in den Text geratene Randkommentar in V. 12. In der LXX weist dieser eine gerichtstheologische Akzentuierung mit einer motivischen Parallele zu dem in der ursprünglichen griech. Übersetzung fehlenden V. 29 und zu 40,11 auf:
55 Diese Dialektik zeigt sich auch im Gegenüber der identisch formulierten Ankündigung des Eliphas, Hiob sehe nichts (V. 11a), und der Zitation Hiobs, Gott sehe nichts (V. 14a). 56 S.o. die Anm. zur Übersetzung. 57 Vgl. Hi 3,23.25; 7,14; 19,6.8 bzw. 15,21–22; 18,5–6.8–11; 20,26. 58 Vgl. Ps 13,2; 27,9; 30,8; 44,25; 69,18; 88,15; 102,3; 104,29; 143,7.
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Beobachtet der, der die hohen (Himmel) bewohnt, etwa nicht und erniedrigt er nicht die, die vom Übermut getragen sind? (Hi 22,12 LXX, vgl. JesLXX 13,11; 25,11).59
22,13–14 Die ausdrückliche Zitation Hiobs zeigt, dass sich Eliphas wirklich auf sein Gegenüber einlässt. Doch wie im Fall der Zitation Hiobs durch Zophar (vgl. 11,4) erscheinen die Worte in einem zwiespältigen Licht. Einerseits trifft Eliphas den zentralen Vorwurf Hiobs an Gott, dieser kümmere sich nicht um das Treiben auf der Erde und komme seiner Aufgabe als Richter nicht nach (vgl. 9,24; 19,7; 21,19–20). Für Hiob ist in der Tat über weite Strecken das Gleichgewicht zwischen dem Gott, der im „Dunkeln wohnt“ (vgl. Ex 20,21; 1Kön 8,12), und dem Gott, dessen himmlischer „Thron auf Recht und Gerechtigkeit steht“ (vgl. Ps 97,2), zerstört. Andererseits ironisiert Eliphas die Worte Hiobs, wenn er diesen sagen lässt, Gott vermöge aufgrund der ihn in seinem himmlischen Palast umgebenden Wolken nicht mehr zu sehen und „lustwandle“ (hithālak) am „Himmelskreis“ (ḥûg V. 14, vgl. 9,7; 26,10 [v.l.]; Jes 40,22)60. Damit stellt Eliphas Hiob auf dieselbe Stufe mit den zuvor von diesem selbst zitierten Frevlern (21,14–15)61 und ignoriert dessen nicht lange zuvor geäußerte Hoffnung, dass sich dieser scheinbar blinde und weltferne Gott richtend auf der Erde zeige (19,25–26). Wie die Hoffnungsschreie in 16,18 und 19,25 zeigen, rechnet Hiob durchaus damit, dass der Gott, der einst zu Mose aus dem „Dunkel“ (ʿ arāpæl) sprach und Torah erteilte (vgl. Dtn 4,11; 5,22; Sir 45,5), auch wieder zu ihm sprechen wird und etwas von ihm „wissen“ (jādaʿ) will. Dass Eliphas diesen Aspekt der Reden Hiobs hier ausblendet, liegt nicht zuletzt daran, dass Hiob in seiner unmittelbar vorangehenden Rede argumentativ auf die ihm von seinen Freunden mehrfach vor Augen gestellte Beschreibung des Schicksals der Frevler reagiert hatte. So ist im Duktus der dritten Rede des Eliphas die Zitation der Worte Hiobs sowohl eine Begründung für dessen leidvolle Situation als auch eine Fortsetzung der Vorwürfe gegen Hiob (vgl. Sir 16,17–23). Während V. 13–14 mit der mythischen Vorstellung Gottes, der in den Wolken thront (vgl. 26,9; Jes 40,22) und der sich im Zorn über die Sünde hinter den Wolken verbirgt (vgl. Klgl 3,41–44) spielen, erinnert die Wortwahl erneut an die biblische Urgeschichte (vgl. Gen 3,8). Verbirgt sich nach dieser Adam vor dem im Garten Eden wandelnden Gott, so ist es hier Gott selbst, der sich angeblich verbirgt und so der heilvollen Erfahrung Hiobs entzieht – so scheint die Welt auf den Kopf gestellt (vgl. 9,24). Auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches spiegelt sich dies auch im gleichzeitig anklingenden Motiv des über die Erde wandelnden Satans (1,7; 2,2) wider.
59 Die LXX wirkt hier wie eine Neudichtung auf der Basis des hebr. Konsonantenbestands einer Vorlage, die mit der des MT vergleichbar ist. 60 Zu der dahinterstehenden Kosmologie siehe ausführlich Houtman, Himmel, 241–244, und C. Koch, Wohnstatt, 95; 106f, sowie zu Parallelen in der Umwelt des AT West, East Face, 143f. 61 Vgl. Ps 10,4.11; 14,1–2; 73,11; Jes 29,15; Jer 12,4; Mal 2,17; 3,14.
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Eingeleitet mit einer erneut als rhetorische Frage formulierten Beschuldigung 22,15–20 Hiobs, die Hiob beispielhafte Frevler zur Seite stellt, folgt eine Beschreibung des Schicksals der „Männer des Frevels“ (vgl. 11,11) und der Reaktion der Gerechten (V. 19–20). Dieser Abschnitt leitet von der Anklage Hiobs in den V. 2–14 zu den Verheißungen an Hiob in den V. 21–30 über. Ihre Verbundenheit mit der unmittelbar vorangegangenen Strophe zeigen die V. 15–20 durch die Wiederaufnahme des Vernichtungsbildes der Flutkatastrophe (V. 11b.16b) und des Begriffes „sehen“ (rāʾāh), der das Nichtsehen Hiobs und das Sehen der Gerechten parallelisiert (V. 11a.19a). Hiob selbst wird dabei nur in der Eröffnungsfrage (V. 15a) angesprochen. Dennoch lassen sich alle von Eliphas gebrauchten Bilder unmittelbar auf Hiob beziehen. Wie schon in den eingangs geäußerten Fragen und Vorwürfen gegen Hiob 22,15–16 erscheinen die Worte des Eliphas als ein letztlich verfehlter Versuch, Licht in den Fall Hiobs zu bringen. Natürlich bewegt sich Hiob nicht auf dem Weg der Frevler, was auch Eliphas weiß (vgl. V. 3; 4,6).62 Dennoch könnte die Erfahrung Hiobs, zur Unzeit (loʾ-ʿet, vgl. 8,12; 15,32) vom Unglück gepackt (qmṭ)63 zu sein und den festen Boden unter den Füßen weggespült zu bekommen, darauf hindeuten, dass er selbst ein „Mann des Frevels“ ist (vgl. 34,36; Spr 6,12; Jes 55,7) – und dementsprechend gerechtermaßen leidet. Sofern hier nicht nur das auch in der außerbiblischen Weisheit weit verbreitete Motiv der zwei Wege64 und ein allgemeines Bildwort zum Schicksal der Frevler vorliegen,65 könnte wiederum auf urgeschichtliche Stoffe, näherhin auf die Sintfluterzählung, angespielt sein (vgl. 3Hen 4,3).66 Hiob, der Gerechte, wäre in diesem Fall in bewusster Verkennnung des Eliphas, nicht Noah, dem Gerechten (vgl. 12,4 mit Gen 6,9) zur Seite gestellt (vgl. Ez 14,14.20), sondern den vom Flutgericht betroffenen Sündern (vgl. Gen 7,4.23). Die (sekundäre) masoret. Lesart von V. 15, die den „Weg der Vorzeit (ʿôlām)“ 22,17–18 (vgl. Jer 6,16) erwähnt, und die auf 21,14–16 zurückgreifende Fortschreibung in V. 17–18 sprechen dafür, dass bereits die ältesten Rezipienten der Hiobdichtung hier an die Überlieferung von der Sintflut gedacht haben. Das rabbinische Targum ist in dieser Richtung weiter gegangen, indem es an zahlreichen Stellen die Sintflut einspielt.67
Vgl. BT 66 (TUAT III, 150). Diese Wurzel wird im AT nur in Hi 16,8 und 22,16 verwendet. 64 Vgl. Spr 2,12–13.20; 4,14; 15,19; Ps 1,6. 65 Vgl. Hi 11,11; 15,34; 20,26.28; Dtn 28,62; Ps 26,4; in diesem Sinn deuten z.B. Fohrer und Hartley. 66 Vgl. Weiser; Hölscher. An eine ähnliche Flutkatastrophe dachten Duhm und de Wilde, an Sodom und Gomorrha Ewald, an den Exodus I. de Pineda (1507–1601, zitiert bei Knabenbauer, 290), an die Rotte Korach (vgl. Num 16,32; Dtn 11,6; Ps 106,17) G. Richter, Textstudien zum Buche Hiob, BWANT III/7, Stuttgart 1927, 30f, oder an ein mythologisches Chaoswesen Habel, 341. 67 Vgl. TgHi 4,8; 6,17; 24,2. 62 63
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Wenn Hiob nur darum in die Welt gekommen wäre, um uns die Geschichte der Sündfluth ausführlich zu beschreiben, so wäre das schon genug. (BerR LVI zu Gen 6,4).68
Als Teil der Eliphasrede in ihrer ‚Endgestalt‘ gesteht der Zusatz Hiob zu, dass Gott tatsächlich auch die Frevler zeitweise versorgte, während sich diese in Verkennung der Herkunft ihres Wohlstandes (ṭôb, vgl. 21,13.16) von ihm lossagten. Durch die vorangehende Beschreibung ist aber klar, dass diese letztlich sehr wohl bestraft wurden und demzufolge die Theorie der gerechten Vergeltung, wie sie die Freunde bisher vertreten haben, zutrifft (vgl. Ps 37,10.20). 22,19–20 Die Gültigkeit dieser Theorie wird für Eliphas auch dadurch bestätigt, dass die Gerechten den Untergang der Frevler sehen (vgl. Spr 29,16; Ps 37,34), sich darüber freuen und mit Spott reagieren. Erneut unterstreicht Eliphas seine Ausführungen mit einem Zitat, in dem die Gerechten den Untergang der Frevler bejubeln. Nach Hiob (V. 13–14) und den Frevlern (V. 17–18) kommen nun die Gerechten selbst zu Wort. Die Wortwahl erlaubt in V. 20a erneut einen Bezug auf die urzeitliche Flut (vgl. zu j eqûm Gen 7,4.23), in V. 20b auf die Vernichtung Sodoms und Gomorrhas (vgl. zu ʾeš Gen 19,24; Hi 18,15), so dass die zwei zentralen urgeschichtlichen und damit paradigmatischen Erzählungen über die Gerechtigkeit Gottes angesichts globaler bzw. kollektiver Verfehlungen eingespielt sind (vgl. Lk 17,27–29). Eine wie in V. 19 beschriebene Reaktion ist daher auch überzeitlich möglich: Sie war den urzeitlichen gerechten Überlebenden der Flut (Noah)69 und des Sintbrands (Lot)70 ebenso möglich, wie sie gegenwärtigen und künftigen Gerechten möglich ist,71 die auf das Beispiel der urgeschichtlichen Bestrafung der Frevler blicken, und wie sie für Hiob besteht, wenn er auf diese Beispiele sieht. Mit dieser urgeschichtlichen Darlegung knüpft Eliphas an seine eigene Argumentation in 15,7–8 und an die Zophars in 20,4–5 an. Er kontert Hiobs Vorwurf, die Freunde achteten nicht auf die Zeichen derer, die durch die Welt gekommen sind (21,29). Die Freunde, so Eliphas, sind nicht nur durch die Welt gekommen, sondern kennen sich auch in der Geschichte aus (vgl. 8,8–10; 15,7–10.17–18[sek.]). Insgesamt weist diese vierte Strophe eine besondere kompositionelle Vernetzung und Funktion innerhalb der Rede auf. Mit den beiden folgenden Strophen, in denen Hiob neues Glück verheißen wird (V. 21–26*.27–30), ist sie über die Motive der Freude (V. 19a.26), der Vernichtung der Frevler (V. 16.29) und der Rettung des Unschuldigen (nāqî V. 19b.30a [v.l.], vgl. 4,7) eng verknüpft. Wie in V. 2–3 wird zunächst generell und dann applikativ formuliert: Den direkt an Hiob ergehenden Verheißungen in V. 21–30 geht die prinzipielle Aussage zum Glück der Gerechten in V. 15–20 voraus, wobei der bewusst im Übersetzung von A. Wünsche, Bereschit Rabba, 120. Vgl. Gen 6,9; 7,1; Ez 14,14.20; Sir 44,17; SapSal 10,4; SibOr 1,269.280. Vgl. SapSal 10,6–7; 2Petr 2,7. 71 Vgl. Ps 52,8; 58,11; 68,3–4; 69,33; 107,42. Bezeichnenderweise wird in Hi 22,19 einmalig im Buch Hiob von den Gerechten (ṣaddîqîm, vgl. 4,7; 17,8) im Plural gesprochen. 68 69 70
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Singular genannte Unschuldige (nāqî, vgl. 4,7) durchaus schon Hiob selbst im Blick hat – nur, dass sich für Eliphas die Unschuld Hiobs im Gegensatz zu dessen Bekenntnissen (9,21; 13,18; 16,17) und Hoffnungsaussagen (vgl. 16,19–21; 19,25–27) erst noch erweisen muss. Verheißungen an Hiob
22,21–30
Mit einem doppelten Imperativ beginnt der Verheißungsteil (V. 21–30). Er entfaltet in hellen Farben die These, dass Hiob neues Glück erfahre, wenn er sich Gott unterwerfe. Der Aufruf an Hiob, sich zu Gott zu wenden und dadurch neues Glück zu erfahren, ist nicht neu (vgl. 5,8; 8,5–6; 11,13)72 – neu ist aber die inhaltliche Füllung. Eigentümlich ist der Aufruf, Hiob möge sich mit Gott befreunden, mit 22,21–22 ihm vertragen und vertrauten Umgang haben (sākan Hif.). Die bereits in der Eröffnung der Rede im Sinn von „nützen“ verwendete Wurzel sākan (Qal) kommt hier in anderer, so nur noch in Ps 139,3 belegter Bedeutung vor. Dabei verhalten sich Hi 22,21 und Ps 139,3 spiegelbildlich zueinander. Während der Beter von Ps 139 – darin sich mit der Grundüberzeugung Hiobs treffend – gewiss ist, Gott kenne ihn seit seiner Erschaffung73 und sei entsprechend mit seinem Wesen und Handeln vertraut, fordert Eliphas Hiob auf, sich selbst mit Gott vertraut zu machen. Das große Rätsel, vor dem Hiob steht, dass er sich, obwohl Gott ihn doch kennt, von Gott verfolgt erfährt, wird durch diesen Rat nur noch größer. Allein die Leser des Prologs wissen, dass Hiob genau deshalb grundlos leidet, weil Gott ihn von Grund auf kennt (1,8; 2,3). Aber auf der Ebene des von den Himmelsszenen unberührten menschlichen Dialogs kann der eigentlich gut gemeinte Rat des Eliphas,74 Hiob möge mit Gott Frieden schließen (šlm), nur ins Leere gehen. Wie soll denn der, der unter den kriegerischen Angriffen eines ihm zum Feind gewordenen, übermächtigen Gottes leidet, mit diesem von sich aus Frieden schließen? Erneut prallen die grundsätzliche anthropologische und theologische Perspektive auf die Frage nach der Beziehung zwischen Gott und Mensch, nach menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit unversöhnt aufeinander. Der parallel zu V. 21 mit einem Imperativ eingeleitete V. 22 verdeutlicht, was Eliphas nun genau unter „einem freundlichen Umgang mit Gott“ versteht: aus Gottes Mund Weisung (tôrāh) anzunehmen und „Gottes Worte“ (ʾ amārâw) in sein Herz zu legen. Zumeist wird der Rat des Eliphas in einem rein weisheitlichen Sinn verstanden.75 Für diese Annahme könnte sprechen, dass die LXX Vgl. auch BT 21 (TUAT III, 147). Vgl. Hi 10,7–12; 23,10; 31,6. 74 Der Rat und die in Aussicht gestellte heilvolle Zukunft sind auch stilistisch besonders betont, insofern V. 21b paronomastisch gestaltet ist und mit dem Wort ṭôb/ṭôbāh schließt, das in den drei Reden in Kap. 20, 21 und 22 eine zentrale Rolle spielt (vgl. Hi 20,21; 21,13.16.25; 22,18). 75 Vgl. Spr 2,1; 3,1; 4,10; 10,8. 72 73
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das Wort tôrāh hier mit ἐξηγορία („Erklärung/Bekenntis“) und nicht mit νόμος („Gesetz“) übersetzt. Doch aufgrund des Parallelismus von „Torah“ und den „Worten Gottes“,76 der an Dtn 6,5–6; 30,14 und 32,46 anklingenden Betonung des Herzens (lebāb) als Ort, in den die Torah eingeschrieben sein soll,77 und vor dem Hintergrund, dass Eliphas bereits in seiner ersten Rede in Anspielung auf Ps 94,12 und Spr 3,11–12 Hiob geraten hatte, sich von Gott selbst aus der Torah unterweisen zu lassen, kann 22,22 torahtheologisch gedeutet werden.78 Auch die Tatsache, dass die letzte ausdrückliche Gottesbezeichnung, auf die sich die Possessivsuffixe in V. 21a (ʿimmô) und V. 22 (mippîw, ʾ amārâw) beziehen, im Kontext des Motivs des durch die Wolken richtenden Gottes begegnet (V. 13–14),79 spricht dafür, hier eine ausdrückliche Mahnung Hiobs zur Treue gegenüber der Torah zu sehen. Damit kehrt Eliphas zu seiner Position in seiner ersten, noch nicht von der Niedrigkeitsredaktion um 4,12–21 erweiterten Rede zurück (vgl. Sir 32,24–33,3). 22,23.26 Die doppelte Aufforderung zur Torahtreue wird von einer dreigliedrigen Bedingung künftigen Glücks begleitet, die sich stilistisch und motivisch eng mit den konditionierten Heilszusagen Bildads in 8,5–6 und Zophars in 11,13–14 berührt. Dabei bietet Eliphasʼ Aufruf an Hiob zur Umkehr,80 zur Demütigung (v.l.)81 und zur Entfernung des Unrechts aus seiner Wohnstätte mit dem Wort ʿawlāh nach rāʿāh und ʿāwôn (V. 5) den dritten direkt auf Hiob bezogenen Sündenbegriff. So zeigt sich auch im Schlussteil nochmals die Ambivalenz der gesamten dritten Eliphasrede, die einerseits die schärfsten Anschuldigungen Hiobs enthält, andererseits die umfangreichsten Heilszusagen. Die ursprüngliche Fortsetzung von V. 23 in V. 26 besteht aus einem zweiteiligen Heilswort: der Ankündigung künftiger Freude an Gott (vgl. Ps 37,4.11; Jes 58,14) und eines freien, unbekümmerten Aufblicks zu Gott (vgl. 11,15), eines Blickes, der Leben verheißt. Es sind traditionelle Bilder des Segens und der ungestörten Gottesbeziehung (vgl. 33,26), also einerseits das Gegenteil der Erfahrungen Hiobs, der an Gott leidet, der sein Angesicht vor Gott senkt, wie Kain (Gen 4,6–7), und andererseits Entsprechungen zu Hiobs Hoffnung, doch noch heilvoll Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen (19,26–27), so wie der Gottesfreund und Gottesknecht Mose (vgl. Num 12,8; Dtn 34,5.10). 22,24–25 Die sekundäre Aufforderung an Hiob, er möge Golderz auf bzw. in den Staub und Ophir in den Felsen der Wadis legen, entspricht, sei es, dass sie metaphorisch, sei es, dass sie real verstanden wird, tendenziell den in den V. 6–9 gegen Hiob erhobenen sozialen Vorwürfen. Ophir bezeichnet eigentlich das wohl an Vgl. Jos 24,27; Ps 107,11; 1QS IX,25–26; 4Q403 frgm. 1 I,35. Vgl. Ps 37,31; 119,34; Jes 51,7; Jer 31,33. Vgl. dazu auch den Zusatz in Hi 6,10b sowie die Wiedergabe von Hi 22,22 in Tg. 79 S.o. zu V. 12. 80 Vgl. Dtn 30,1–3; Klgl 3,40–41. 81 Siehe die Anm. zur Übersetzung. Nach dem MT bietet bereits V. 23aβ den Folgesatz („du wirst [wieder] aufgebaut“). Ähnlich versteht die LXX V. 23b als Apodosis („dann hast du künftig das Unrecht von deiner Wohnstätte weggetan“). 76 77 78
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der Südwestküste Arabiens zu lokalisierende Goldland Ophir (vgl. 1Kön 9,28; 10,11; 22,49). Hier ist der Ausdruck metonymisch für das aus Ophir stammende Gold gebraucht (Hi 28,16; 1Chr 29,4).82 Sowohl dem Milieu des Prologs als auch der Stilisierung Hiobs in der Dichtung gemäß, wird Hiob als reich vorgestellt. Damit schwingt auch der Gedanke mit, Hiob könne in seinem Reichtum Gott vergessen bzw. das Geld zu seinem Gott gemacht haben (vgl. 31,24). Die Preisgabe bzw. Verachtung des Reichtums wird zur Bedingung, Gott selbst als Gold und Silber, als „wahren Reichtum“83 zu gewinnen. Zudem erscheint die Aufforderung, das Gold „in den Felsen“ zu legen, als ironische Kritik an dem zuletzt von Hiob geäußerten Wunsch, seine Worte mögen „in einem Felsen“ verewigt werden (19,23–24): Nicht die Verschriftung unnötiger und unsinniger Worte, sondern der Verzicht auf eigenen Besitz ermögliche die von Hiob gewünschte Begegnung mit Gott. Auch wenn die Semantik von tôʿāpôt (V. 25b)84 nicht ganz gesichert ist, so deutet sich hier eine Gegenüberstellung irdischen und geistlichen Reichtums an (vgl. Ps 19,11; 119,72; Mt 6,24–34). Im Kontext des gesamten Buches erhält Eliphas gleichwohl durch diese Auffüllung der Rede verstärkt das Profil eines Ratgebers, der Hiob grundlegend missversteht, hat doch dieser längst alles verloren, den Verlust von Besitz, Familie und Gesundheit in die Hände Gottes gelegt und so gezeigt, dass Gott für ihn mehr als „Silber und Gold“ ist (1,21; 2,10). So wirken auch die in der Schlussstrophe in zwei Schritten entfalteten Ver- 22,27–28 heißungen, die Eliphas Hiob im Blick auf dessen Umkehr und Unterwerfung unter Gott gibt, merkwürdig schief. Einerseits sind Gebetserhörung,85 Erfüllung der Gelübde86 und gelingende Arbeit Merkmale und Ziele eines nach antiker religiöser Vorstellung rundum integeren Lebens, Zeichen umfassenden Segens, metaphorisch ausgedrückt durch über dem gesamten Lebensweg strahlendes „Licht“87, womit die noch in V. 11 geschilderte Finsternis, die Hiob umgibt, beseitigt wird. Andererseits zieht sich durch die Reden Hiobs der Schrei zu Gott, der Ruf nach Erhörung, mithin das Gebet. Für Eliphas ist es allerdings das Gebet eines Frevlers – es hat keinen „Erfolg“ (bæṣaʿ, V. 3), solange dieser nicht Buße tut und sich Gott unterwirft. Damit klassifiziert Eliphas wie zuvor Zophar Hiobs Rede zu Gott, einschließlich seiner Gewissheit, dass er Gott selbst als Unschuldiger sehen könne (9,16.18; 19,26–27), als Hochmut (20,4–5, vgl. 33,17; 1QS IV,9). Daher beschreibt Eliphas abschließend am Beispiel der Erniedrigung 22,29–30 der Überheblichen (vgl. 40,12), der Erhebung der Demütigen88 sowie der Bewahrung des „Unschuldigen“ (ʾîš-nāqi [v.l.]) nochmals grundsätzlich das 82 Vgl. zudem Jes 13,12; Ps 45,10; Sir 7,18 (HA); Qas (8):2,1 (HAE I, 230; TUAT.NF I, 251); 1QHa XXVItop,8; 4Q472 frgm. 2,6. 83 Nõmmik, Freundesreden, 52. 84 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 85 Vgl. Hi 12,4; 33,26; 2Chr 33,13; Ps 50,15; 91,15; 99,6; Jes 58,9; 65,24; ÄHG 169, 14–15. 86 Vgl. Ps 22,26; 50,14; 61,6–9; 116,14; Spr 7,14; Sir 18,22 (G). 87 Vgl. Num 6,25; 2Sam 22,29 par. Ps 18,29; Ps 27,1; 119,105.135. 88 Zur Demutshaltung der gesenkten Augen siehe auch U. Ehrlich, Language, 105–107.
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Vergeltungshandeln Gottes (vgl. Ps 18,21–29).89 Stilistisch und inhaltlich korrespondiert das Summarium (V. 30) mit der Eröffnung (V. 2) der Rede. In beiden Versen wird jeweils in beiden Kola die zentrale Aussage mit demselben Verb ausgedrückt (skn „nützen“ bzw. mlṭ „retten“) und so der Kern der gesamten Rede hervorgehoben: Der Fromme lebt aufgrund seiner Frömmigkeit – hier metaphorisch ausgedrückt durch die Wendung der „Reinheit (bor) der Hände“.90 Die Wendung umfasst moralische, religiöse und intellektuelle Aufrichtigkeit. Sie steht betont im letzten Vers der Rede, die damit, anders als alle anderen Freundesreden im Bereich der Kap. 6–20, nicht mit einem Satz zum Ende der Frevler schließt, sondern mit einem kräftigen Kontrapunkt gegen Hiobs Überzeugung, er könne sich vor Gott nicht reinigen, weil dieser ihn schuldig sein lassen wolle (9,30–34). Eliphas kehrt so zu der in seiner ersten Rede geäußerten Annahme zurück, es könne für Hiob eine positive Zukunft geben (5,23–27): 1 … Glücklich (ʾšrj)91 sind die, die ihre92 Vorschriften einhalten und die nicht einhalten 2 Wege des Unrechts. Glück[lich] sind die, die sich über sie freuen und die sich nicht äußern auf Wegen von Unverstand. Glücklich sind die, die sie erforschen 3 mit Reinheit der Hände (bwr kpjm) und die nicht nach ihr suchen mit einem [Herzen] von Trug. Glücklich ist ein Mensch, der Weisheit erlangt hat und wandelt 4 in der Torah des Höchsten und sein Herz nach ihren Wegen ausrichtet, und sich zusammennimmt in ihren Züchtigungen und an ihren Schlägen st[e]ts Wohlgefallen hat, 5 und sie nicht aufgibt im Elend seiner Bedrängnisse (mṣrjw) und sie in der Zeit der Not nicht verlässt und sie nicht vergisst [am Tag] des Schreckens 6 und in Demut seiner Seele [sie] nicht verwirft, sondern stets über sie meditiert (hgh) … (4Q525 frgm. 2 II+3,1b–6a)93
Die masoret. Punktation von Hi 22,30 geht über die ursprüngliche Vorstellung von V. 29–30 in zweifacher Hinsicht einen Schritt hinaus und hat die Anwendung auf Hiob durch die Änderung des Possessivsuffixes von kappajim in die 2. P. Sg. (vgl. 5,27 lekkāh „für dich“) noch verstärkt: Der „Nicht-Unschuldige“ (ʾî-nāqî) wird durch die Hände Hiobs gerettet. Im Zusammenhang mit dem Epilog, in dem Hiob für seine Freunde betet und Gott dieses Gebet erhört (42,7–10, vgl. 22,27), entsteht dadurch das Bild Hiobs als eines Stellvertreters für die Sünder, das sich explizit in der Fassung von 42,9–10 in 11QT gHi niedergeschlagen hat (s.u.). So sagt Eliphas nach dem MT hier, ohne dass er es ahnt, wirklich seine eigene und Hiobs Zukunft voraus. In bTan 23 wird Hi 22,28–30 in seiner masoret. Gestalt zitiert und auf Honi/Onias, den Kreiszeichner, einen jüdischen Wundertäter im 1. Jh. n.Chr., angewendet. Vgl. Ps 31,24; Spr 3,34 LXX; 29,23; Jes 13,11; 25,11; Sir 3,17–20; Mt 23,12; 1Petr 5,5; Jak 4,6. Vgl. 1QHa VIII,18(28); Sir 51,20 (11QPsa XXI,17); siehe auch Hi 17,9 (sek.). 91 Vgl. Hi 5,17; Ps 1,1; 32,2; 94,12; 112,1; 119,1–2; Spr 3,13; 8,32.34; Sir 14,1–2.20; 31,8; 50,28. 92 D.h.: der Torah bzw. der Weisheit. 93 Die weisheitliche Sammlung von „Seligpreisungen“ 4Q525, die sich hinsichtlich ihrer Verbindung von Weisheit und Torah mit dem Sirachbuch und mit 4Q185 berührt, stammt vermutlich aus der Mitte des 2. Jh. v.Chr. (vgl. Goff, Wisdom, 198–229). 89
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Hi 22 Die dritte Rede des Eliphas
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Kap. 22* hat mit direkten Anreden Hiobs in 18 Versen und mit dem Abschnitt Rückblick in V. 21–30*, der die bedingten Verheißungen aus 5,17–26; 8,5–7 und 11,14– 20 zusammenfasst, kompositionell deutlich den Charakter einer Abschlussrede. Als typische Eliphasrede erweist sich Kap. 22*, neben der kompositionellen Parallele zu Kap. 4–5*, vor allem durch die Erwähnung von Hiobs Gottesfurcht, die als solche innerhalb der Freundesreden nur in den Eliphasreden genannt wird (4,6; 15,4), und durch den für die Eliphasreden charakteristischen Begriff jākaḥ („zurechtweisen“, vgl. 5,17; 15,3; 22,4).94 Gegenüber literarkritischen Bedenken, die gegen die Ursprünglichkeit des Kapitels erhoben wurden, 95 ist Kap. 22* als ursprüngliche Eliphasrede beizubehalten. Im kompositionellen Gefüge der Hiobdichtung erfüllt Kap. 22 die Funktion des Schlusswortes der Freunde. So steht der Reaktion von Kap. 21 auf Kap. 20 die argumentative Wiederaufnahme von Kap. 21 in der dritten Rede des Eliphas zur Seite. Das implizit die ganze Hiobrede in Kap. 21 durchziehende Unschuldsbekenntnis weist Eliphas in Kap. 22 zunächst allgemein (V. 2–4), dann in unmittelbarer, konkreter Beschuldigung Hiobs zurück (V. 6–9, vgl. 20,19–20). Auf eine breite Wiederholung der r ešāʿîmThematik verzichtet Eliphas in Kap. 22. Hingegen bestreitet er die von Hiob Gott unterstellte fehlende Bestrafung der Frevler (vgl. 22,13–14 gegenüber 21,17.19–21) und parallelisiert Hiob mit den von diesem zitierten Frevlern (vgl. 22,15–16[17–18] gegenüber 21,14–15). Das Zentrum der Gedankenführung von Kap. 21, die fehlende Vergeltung an den r ešāʿîm, kontrastiert Eliphas mit dem Hinweis auf deren urzeitliche und damit beispielhafte Vernichtung „zur Unzeit“ (V. 16, vgl. dagegen 5,26). Trotz der Ablehnung des „nichtigen Trostes“ (21,34) unternimmt Eliphas einen letzten Versuch, Hiob mit der Ansage einer gesegneten Zukunft zu ermahnen (22,21–30*). Dabei blickt das Summarium in 22,29–30 mit der Zusicherung, dass Gott die „Überheblichen“ (22,29a [v.l.], vgl. 21,7) doch erniedrige, den „Unschuldigen“ aber rette (22,30 [v.l.], vgl. 21,25), nochmals auf die gesamte Hiobrede in Kap. 21 zurück. Eliphas stellt dem von Hiob behaupteten gesegneten Leben der Frevler und unglücklichen Dasein der Gerechten nachdrücklich die Belohnung des Gerechten und die Vernichtung des Frevlers gegenüber.
94 Vgl. zudem die in allen drei Eliphasreden vorkommenden Begriffe ʾāwæn, ʾîš, ḥošæk, jdʿ, kḥd, rʾh, šmʿ, ʿawlāh sowie die im Rahmen der Freundesreden der ursprünglichen Dichtung nur in Eliphasreden vorkommenden Begriffe dkʾ, jšʿ, nāqî, skn, ʿet, pitʾom, šāpaṭ. 95 Vgl. schon Baumgärtel, Hiobdialog, 143–146; Mende, Leiden, 171; 185; 275f, sowie Strauß, 60, der „in Kap. 22 ein in den die Hiobdichtung tragenden Kreisen fortgeschriebenes, hinsichtlich der Grundpositionen der Freunde in den vorhergehenden zwei Redegängen kompendiarisches Stück“ sieht und Kap. 22 mitsamt der Kap. 23–28 für sekundär hält (s.o. S. 47f).
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Hi 23–24 Die siebte Rede Hiobs HD 23,1 Und Hiob hob an und sagte: 2 Auch heute ist bitter1 meine Klage, belastet seine2 Hand mein Seufzen. 3 Könnte3 ich ihn doch nur finden, gelangen bis zu seinem Sitz. 4 Ich würde vor seinem Angesicht den Fall darlegen4 und füllte meinen Mund mit Beweisen. 5 Ich wüsste die Worte, die er mir antwortete, und nähme wahr, was er mir zu sagen hätte. 6 Stritte er in starker Kraft mit mir? Nein, vielmehr gäbe er selbst acht5 auf mich. 7 Da würde ein Aufrichtiger mit ihm rechten,6 und ich erhielte für immer dann mein Recht7. 8 Wenn8 ich vorgehe, so ist er nicht da, und zurück, so nehme ich ihn nicht wahr, 9 (wenn) ich ihn links suche9, sehe10 ich (ihn) nicht, wende ich11 mich rechts, so sehe ich (ihn) nicht.12 1 Anstelle von merî „Trotz/Aufruhr“ (so Weiser) lies mar (vgl. Syr; Tg; Vg; Hi 3,20; 7,11; 9,18; 10,1; 27,2). 2 Anstelle von jādî „meine Hand“ lies jādô (vgl. LXX; Syr; Hi 1,11; 2,5; 5,13; 13,21; 19,21; Ps 32,4; 1Sam 5,6). 3 jādaʿtî w e „wüsste ich doch und ...“ überlastet den Stichos kolometrisch und dürfte sekundär sein (gegen Weiser; vgl. aber HsK253; LXXHss; Syr); zur Konstruktion siehe Brockelmann, Syntax § 9; J/M § 163d. 4 11QTgHi: „ich würde vor ihm reden“ (ʾmll qdm[whj), vgl. 11QTgHi zu 42,1. 5 jāśim ist ein elliptischer Ausdruck für jāśim libbô, vgl. Hi 1,8; 2,3; 4,20; Jes 41,20. Hartley rechnet auch mit einer Auslassung des eigentlichen Objekts, nimmt aber eine rechtliche Bedeutung des Ausdrucks an („he would not press charges against me“). 6 11QTgHi bietet die Variante ʾrw qšṭ wdt „Denn Wahrheit und Recht/Gesetz [sind bei ihm]“, ähnlich LXX, vgl. Hi 12,13.16. 7 Anstelle von miššopeṭî „vor meinem Richter“ lies mišpāṭî (vgl. mehrere Hss; LXX; Syr; Vg; Hab 1,4); plṭ Piel steht dementsprechend hier nicht im Sinn von „entkommen“, sondern von „in Sicherheit bringen“ (vgl. Ges18). Will man beim MT bleiben (so Weiser; Hartley), empfiehlt sich aber eine Änderung von ʾ apalleṭāh in das Qal ʾæpleṭāh im Sinn von „frei sein“ (vgl. Clines, der zudem mimšopeṭî „vor meinem Rechtsgegner/Feind“ liest, vgl. Hi 9,15). 8 Zur Einleitung eines Konditionalsatzes mit hen siehe die Anm. zu Hi 4,18. 9 Anstelle von baʿ aśotô „wenn er wirkt“ (vgl. Weiser; Hartley; zur Form vgl. Hi 28,26) lies biqqaštîw (vgl. Syr). Die Annahme einer Wurzel ʿśh II/III „bedecken“ (nach arab. ġšy, vgl. KAHAL) oder gar ʿśh IV (DCH: „[sich] wenden“) ist sprachlich schwierig und löst das Problem nicht (vgl. Grabbe, Philology, 86–88; Witte, Notizen, 70; Clines). 10 ʾāḥaz entspricht hier ʾæḥ æzæh (vgl. G/K § 109k). 11 Anstelle von jaʿṭop „er wendet sich“ (so Hartley) lies ʾæʿ æṭop (vgl. V. 8); Strauß bleibt beim MT, nimmt aber für ʿṭp I hier die Bedeutung „sich verhüllen“ an (vgl. Ps 65,14; 73,6). 12 Zur Mehrdeutigkeit der vier in V. 8–9 gebrauchten Richtungsbegriffe (qædæm, ʾāḥôr, ś emoʾwl, jāmîn) siehe die Auslegung.
Hi 23–24 Die siebte Rede Hiobs
10 11 12 13
Ja, er kennt meinen Weg, auf dem ich stehe: Prüfte er mich, so ginge ich wie Gold hervor. An seinem Pfad hielt fest mein Fuß, seinen Weg beachtete ich und bog nicht ab. Vom Gebot13 seiner Lippen, da wich ich nicht, in meiner Brust14 verwahrte ich die Worte seines Munds. Aber er selbst ist einzig15, und wer kann ihn zurückhalten? Und seine ,Seele‘ hat begehrt und er tat es.
14 15 16 17
Ja, er wird das mir Festgesetzte vollenden, und wie dieses ist noch viel bei ihm. Deshalb muss ich vor seinem Angesicht erschaudern, sehe ich klar, so muss ich mich vor ihm fürchten. Aber (wenn auch)16 El mein Herz in Angst versetzt und Schaddaj mich sehr erschreckt hat, so verstumme17 ich doch nicht angesichts der Finsternis und vor seinem18 Angesicht, das Dunkelheit bedeckt.
24,1 2 3
Warum sind von Schaddaj die Zeiten verborgen19 und sehen die, die ihn kennen20, nicht seine Tage? 21 verrücken Grenzen, rauben Herden und weiden sie. Den Esel der Waisen treiben sie fort, das Rind der Witwe pfänden sie.
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LXX; Syr; Vg bieten den Pl., was gelegentlich für ursprünglich gehalten wird (vgl. J. Gray). Anstelle von meḥuqqî „mehr als mein (eigenes) Gesetz“ (vgl. V. 14; CTAT 50/5, 210f, unter Berufung auf Spr 30,8: „plus que ma ration de nourriture“) lies b eḥeqî (vgl. LXX; Vg; Hi 19,27 bzw. Hi 10,13; 22,22; Ps 119,11). 15 Das Beth ist trotz der Einwände von Clines als Beth essentiae zu verstehen (vgl. Vg; Tg; Ps 35,2; 118,7; Spr 3,26; Jes 40,10; Ex 6,3; 18,4; CTAT 50/5, 212). Zu der beliebten Änderung in bāḥar (nach Ps 132,13) siehe Witte, Notizen, 74; Clines. 16 Der mit we eingeleitete Vers gehört wohl syntaktisch mit V. 17 zusammen (vgl. Bobzin, Tempora, 323f). 17 So nach ṣmt (II, DCH, Nif. „zum Schweigen gebracht werden“, vgl. Syr; KAHAL [mit der Annahme nur einer Wurzel ṣmt]); möglich wäre auch die Wiedergabe nach ṣmt (I, DCH, Nif. „vernichtet werden“, vgl. Hi 6,17; Vg; Tg; Ges18 und CDCH [jeweils mit der Annahme nur einer Wurzel ṣmt]; CTAT 50/5, 214; Hartley [bei gleichzeitiger Interpretation von kî-loʾ als emphatischem Ausdruck „Indeed … surely“]). Dieselbe Doppeldeutigkeit von ṣmt zeigt sich in Ps 88,17. 18 Anstelle von mippānaj „vor meinem Angesicht“ (vgl. Weiser) lies mippānâw (vgl. Hi 13,20; 23,4.15). Zu weiteren Konjekturen siehe Witte, Notizen, 79f, und Clines. 19 loʾ ist aus inhaltlichen und kolometrischen Gründen mit LXX und zwei Hss zu streichen (vgl. Ps 10,1; Beer, Text, 156f); ṣpn bedeutet hier „verborgen sein“ (vgl. Weiser, allerdings mit der Beibehaltung der Negation), nicht, wie in Hi 15,20, „aufbewahrt sein“ (so Fohrer); zur Diskussion siehe Witte, Notizen, 81f. 20 So gemäß dem Qere jodeʿâw (vgl. Syr; Tg; Vg). 21 Ergänze r ešāʿîm (vgl. LXX; Vg); Weiser bleibt beim MT; zur besonderen Lesart des Tg („die Generation der Flut“) siehe die Auslegung. 13 14
366 4 GR
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Sie drängen die Armen ab vom Weg, alle Elenden im Land verbergen sich.22 5 6 7 8 9
HD 10 11
Siehe: (Wie)23 Wildesel in der Wüste, so ziehen sie aus an ihre Arbeit, spähen nach Beute in der Steppe24, nach25 Nahrung für die Jungen. Auf dem Feld sammeln sie Stoppeln26, und im Weinberg des Reichen27 lesen sie. Nackt nächtigen sie, ohne ein Kleid, und sie haben keine Decke in der Kälte. Vom Regen der Berge werden sie durchnässt, und ohne Zuflucht umklammern sie den Fels. Sie rauben von der Brust die Waise, und den Säugling28 des Elenden pfänden sie.
Nackt gehen sie einher, ohne ein Kleid, und tragen hungernd Garbenbündel. Zwischen Mauern29 pressen sie Öl30, treten die Kelter und dürsten (doch).31
22 Der Gebrauch der Tempora in V. 2–4 ist auffällig. Die PK-Formen stehen zum Ausdruck von „Erfahrungstatsachen“ (vgl. G/K 107f–g; siehe auch Bobzin, Tempora, 325f, der dies jedoch als Vergangenheitsform übersetzt). 23 Auf eine Vergleichspartikel kann vor einem Nomen, das als Vergleich dient, verzichtet werden (G/K § 18r). 24 Aus kolometrischen Gründen ist ʿ arābāh als Lokativ entgegen der masoret. Versgliederung noch ein Teil des dritten Kolons des Tetrakolons in V. 5 (vgl. Witte, Notizen, 84–87). 25 Anstelle von lô læḥæm „ihm als Nahrung“ lies lallæḥæm. 26 Anstelle von b elîlô „das (d.h. das Feld) ihm/ihnen nicht gehört“ (vgl. Strauß) lies b elîl „Mengfutter“ (vgl. Syr [mit der Doppelübersetzung „Trockenfutter, das ihm nicht gehört“], Hi 6,5; Jes 30,24); Weiser folgt BHK: b elajlāh „des Nachts“ (vgl. HsK147; LXX); zur Diskussion siehe CTAT 50/5, 144–149; Witte, Notizen, 87f. 27 rāšāʿ bezeichnet hier nicht, wie sonst in der Hiobdichtung, den Frevler (so aber Weiser), sondern den Reichen (vgl. DCH s.v. rāšāʿ II; Witte, Notizen, 88). 28 Anstelle von ʿal „auf“ lies ʿul (vgl. Jes 49,15; 65,20). 29 Nach dem MT handelt es sich bei der Endung -tām um ein Suffix der 3. P. Pl., das sich dann auf die Ausbeuter als Besitzer der „Mauern/Reihen“ beziehen würde. Dementsprechend übersetzt Clines, 574, explizit „the olive rows of the wicked“. Zu erwägen ist aber, ob es sich um einen Dual handelt, und šûrāh hier die Mauern von Kelterbecken meint (vgl. Witte, Notizen, 93f; Strauß). 30 Oder: „verbringen sie den Mittag“ (vgl. Vg). 31 Zur Problematik der Tempora vgl. die Anm. 22 zu Hi 24,2–4 sowie Bobzin, Tempora, 330.
Hi 23–24 Die siebte Rede Hiobs
12
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Aus der Stadt32, da stöhnen Sterbende33, und die ‚Seele‘ der Durchbohrten ruft um Hilfe. Aber Eloah achtet34 nicht auf den Widersinn35, 36 13 14 15
Das sind die, die unter den Feinden des Lichts37 sind, sie kennen seine Wege nicht und bleiben nicht auf seinen Pfaden.38 Ist kein Licht,39 erhebt der Mörder sich, um den Elenden und den Armen zu töten. Und in der Nacht geht40 der Dieb umher, 41 Und das Auge des Ehebrechers beobachtet das Dämmern42, und er sagt zu sich: „Mich erblickt kein Auge.“ Und einen Schleier legt er auf das Angesicht,43
32 11QTgHi: „aus ihren Städten/Gebieten“ (mn qrjhwn); einen Pl. bietet auch Vg (de civitatibus); zu LXX, die sich wie auch im vorangehenden Vers stärker vom MT unterscheidet („Diese wurden aus der Stadt und ihren Häusern geworfen“), siehe Witte, Notizen, 95. 33 Anstelle von metîm „Männer“ lies metîm (vgl. HsR193; Syr; Ps 88,6; Ez 11,6; 30,24; Klgl 2,12). Dieses ist im Gegensatz zur masoret. Akzentsetzung jedoch kein Genitiv zu ʿîr („Stadt“) wie in Dtn 2,34 und 3,6 (vgl. CTAT 50/5, 227f). Stärker in den überlieferten Text greift der Vorschlag ein, anstelle meʿîr metîm durch meʿ abodātām „unter ihrer Fron“ zu ersetzen (Fohrer); singulär ist die Übersetzung von Strauß nach ʿîr II ([vgl. Jer 15,8]: „vor Schreck schreien Sterbende“). 34 śîm steht hier, ähnlich wie in Hi 23,6, elliptisch für śîm leb ʿal „das Herz auf etwas richten“ (vgl. Hi 1,8; 2,3 bzw. Hi 4,20; Jes 41,20). 35 Anstelle von tiplāh (vgl. Hi 1,22; Jer 23,13) lesen zwei Hss und Syr t epillāh „Gebet“, was zahlreiche Auslegungen für ursprünglich halten (vgl. Witte, Notizen, 97; Strauß; J. Gray; Greenstein); doch siehe die Auslegung sowie CTAT 50/5, 229. 36 Möglicherweise ist bei der Einfügung von V. 13–25 ein Kolon ausgefallen, so dass V. 12 jetzt als ein Trikolon nach dem Schema A–A’–B erscheint (Watson, Poetry, 181). 37 11QTgHi mit nwrh liest hier, wie in Hi 37,11 und 41,10, offenbar ʾûr „Feuer“ anstelle von ʾôr. 38 Nach Watson, Poetry, 181, ist Hi 24,13 ein Beispiel für ein (ursprüngliches) Trikolon nach dem Muster A–B–B’. Wie in V. 2–4 dürften die PK-Formen in V. 14–15 Erfahrungstatsachen ausdrücken (vgl. G/K 107f–g), siehe dazu auch Bobzin, Tempora, 332f, der allerdings V. 14aβ als einen Finalsatz versteht. 39 Aufgrund des Kontextes (vgl. V. 16) ist entweder das masoret. lāʾôr im Sinn von „abends“ zu verstehen (vgl. Tg; Gordis – nicht „bei Tag“, wie Strauß vermutet), was jedoch unsicher ist, oder eine Änderung in loʾ/b eloʾ ʾôr geboten (vgl. Weiser [„vor Tage“]); zur Diskussion weiterer Vorschläge siehe Witte, Notizen, 99; Clines. 40 Anstelle von j ehî ka- „ist/sei wie“ lies entweder jehāk (aram. Impf. von hlk, vgl. Esr 5,5) oder j ehallek (vgl. Witte, Notizen, 100; Clines [mit der Umstelllung von V. 14b hinter V. 15b]). 41 Hier ist vermutlich ein Kolon ausgefallen. 42 D.h.: die Abenddämmerung (vgl. 11QTgHi; Tg; Syr; Vg; Spr 7,9; Jer 13,16; Jes 5,11; 21,4; 59,10). 43 Dieses Kolon bildet wohl gegen die Versgliederung im MT zusammen mit V. 16a ein Bikolon, vgl. PsSal 4,5. 11QTgHi liest zusätzlich wjḥṭʾ „und er sündigt“ (vgl. DJD XXIII, 103f; Sokoloff, Targum, 115).
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
16 17 18 19 20 21
bricht in der Finsternis in Häuser ein.44 Am Tage schließen45 sie sich ein, sie kennen nicht das Licht, denn als Morgen gilt all ihnen dunkler Schatten.46 Doch er kennt die Schrecken des dunklen Schattens,47 schnell tritt er selbst48 gegen ihr Angesicht49. Verflucht wird dann ihr Teil im Land, sie wenden50 sich nicht mehr zum Weg der Weinberge. Glut und Hitze rauben das Wasser, und der Fluss51 der Scheol die Sünder. Es vergisst ihn52 selbst der Mutterleib, an ihm laben53 sich die Maden, seiner wird nicht mehr gedacht, und zerbrochen wird wie Holz das Unrecht. Er54 weidet55 die Unfruchtbare, die nicht gebiert, und die Witwe, der man nichts Gutes tut.
44 Auch hier bietet 11QTgHi offenbar einen Zusatz: „in [ihrer] Bosheit“ (bbʾjš[thwn], vgl. DJD XXIII, 103f). 45 Wörtl.: „siegeln“ (vgl. Hi 9,7; 14,17; 33,16; 37,7; Dan 6,18). 46 Dieses Kolon bildet wohl gegen die Versgliederung im MT zusammen mit V. 16b.c ein Trikolon par. V. 13. 47 Dieses Kolon bildet wohl gegen die Versgliederung im MT zusammen mit V. 18a ein Bikolon. 48 Mit dem betonten hûʾ wird unterstrichen, dass „Gott“ wie in V. 17b Subjekt ist (vgl. Hi 23,13; 34,25); daher erübrigen sich die für V. 17b und V. 18a oft vorgenommenen Änderungen von jakkîr in jakkîrû „sie kennen“ (vgl. Weiser; Fohrer; Clines ohne Änderung aber auch mit der Annahme, die Feinde des Lichts aus V. 13 seien das Subjekt) bzw. von qal-hûʾ in qallû „sie sind schnell“ (BHS; vgl. Fohrer im Sinn von „gering sind sie“; ähnlich Clines ohne Änderung des Textes). 49 Anstelle von ʿal-p enê-majim „über/auf das/dem Wasser“ lies ʿal-penêhæm; anders Weiser, der BHK folgt (lipnê jômām „vor Tagesgrau’n“) und den Stichos zwischen V. 16a und 16b einsortiert. 50 Anstelle von jipnæh „er wendet sich“ lies jipnû. Weiser bleibt in diesem Fall beim MT, ändert aber mit BHK dæræk kerāmîm in dorek karmām „kein Kel’trer kehr’ sich ihrem Weinberg zu“ (ähnlich Strauß; Clines). 51 Anstelle von mêmê-šælæg „Wasser des Schnees“ lies mājîm, w ešælaḥ (vgl. šælaḥ II/III, Hi 33,18; 36,12). ḥāṭāʾû bildet einen asyndetischen Relativsatz als Ersatz für ein Objekt (vgl. G/K § 155n; CTAT 50/5, 236); mittels des einfachen waw werden zwei Tatsachen miteinander verglichen (vgl. Hi 5,7; 11,11; 14,11–12; 34,3; Spr 17,3; 25,3; 26,3.9.14; 27,21). Weiser konjiziert ein Tristichon, indem er anstelle von jigz elû jigz elûm „sie sollen sie (d.h. Acker und Weinberg) rauben“ liest und hinter mêmê-šælæg jazzîlûm „Schneewasser schwemme sie fort“ ergänzt. Zu weiteren Korrekturvorschlägen siehe Witte, Notizen 107–109, und Clines. 52 Kollektiver Singular: „die Sünder“ (V. 19). 53 Zur Kombination eines femin. Subjekts mit mask. Prädikat bei Voranstellung des Prädikats vgl. G/K § 145o. 54 D.h.: Gott; ebenso in V. 22a.bα und in V. 23aα.b. 55 Wenn man den/die Frevler als Subjekt annimmt, muss man rʿh entweder pejorativ im Sinn von „abweiden“ verstehen (vgl. Weiser), auf eine Wurzel rʿh II „sich mit jmd. einlassen“ zurückgreifen (vgl. Fohrer; Hartley), rʿh als eine Nebenform von rʿʿ II „zerbrechen“ (vgl. Hi 34,24) deuten (vgl. Gordis; DCH s.v. rʿh V) oder in heraʿ (nach rʿʿ I „misshandeln“) ändern (vgl. Tg; BHK). Zu weiteren Konjekturen siehe Witte, Notizen, 111f, und Clines sowie zur bewussten Mehrdeutigkeit des MT Noegel, Janus Parallelismus, 83–85.
Hi 23–24 Die siebte Rede Hiobs
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Aber die Tyrannen56 zieht er dahin57 in seiner Kraft, Erhebt er sich, vertraut er58 nicht mehr auf das Leben59. Er gebe ihm Sicherheit und er werde gestützt60, doch seine Augen ruhen auf ihren Wegen. Hoch sind sie, ein wenig und weg sind sie61 und werden gebeugt, wie Gräser62 ziehen sie sich ein63, und wie Ährenspitzen welken sie dahin. Und wenn denn nicht? Wer nennt mich Lügner,64 und wer erklärt für nichtig meine Rede?
Grenzer, M.: Die Armenthematik in Ijob 24, in: T. Seidl/S. Ernst (Hg.), Das Buch Ijob. Gesamt- Literatur deutungen – Einzeltexte – Zentrale Themen, ÖBS 31, Bern 2007, 229–278. – Loretz, O.: Philologische und textologische Probleme in Hi 24,1–25, UF 12 (1980) 261–266. – Reventlow, H. Graf: Tradition und Redaktion in Hiob 27 im Rahmen der Hiobreden des Abschnittes Hi 24–27, ZAW 94 (1982) 279–293. – Witte, M.: Philologische Notizen zu Hiob 21–27, BZAW 234, Berlin/New York 1995. – Ders.: Vom Leiden zur Lehre. Der dritte Redegang und die Redaktionsgeschichte des Hiob buches, BZAW 230, Berlin/New York 1994. – Wolfers, D.: The Speech-Cycles in the Book of Job, VT 43 (1993) 385–402.
Hi 23–24 bildet einen gleichmäßig aufgebauten Monolog Hiobs, der gut an die letzte Freundesrede in Kap. 22 anschließt. Die Rede verfügt in ihrer ursprünglichen Gestalt über sechs Strophen zu je vier Bikola (23,2–5|6–9|10–13|14– 17|24,1–4[5–9]|10–12|[13–25]). Sie entspricht damit genau der ursprünglichen Länge der dritten Eliphasrede (Hi 22*) und der zweiten Zopharrede (Hi 20*). Im ersten Hauptteil (23,2–13) wird die Mahnung und Verheißung des Eliphas (22,21–30*), sich an Gott zu wenden und dadurch neues Heil zu erfahren, mit der Klage über die Unmöglichkeit der Gottesbegegnung und über die Unver56 Eine Änderung von ʾabbîrîm in ʾ æbjonîm „Ohnmächtige“ (vgl. Strauß) könnte von LXX unterstützt werden, setzt aber den Frevler als Subjekt voraus; vgl. dazu Witte, Notizen, 113f. 57 D.h.: vernichtet (vgl. Ps 28,3 sowie die Bedeutung von arab. masaka „ergreifen“, der J. Gray folgt; vgl. DCH s.v. mšk II): nicht „er zieht in die Länge/er hilft fort“ (so Weiser). 58 Gemeint ist wie in V. 23a der einzelne Frevler. In V. 23bβ und V. 24 wechselt der Dichter dann wieder in den Pl. von V. 22a. 59 ḥajjîn ist eine aram. Pl.-Bildung (vgl. 4,2; 12,11; 31,10) und braucht angesichts der zahlreichen Aramaismen in Kap. 24 nicht in ḥajjâw „sein Leben“ (vgl. wenige Hss; LXX, Sym; Vg) geändert zu werden. 60 Das Nif. von šʿn hat hier passiv. Bedeutung (vgl. DCH). 61 Anstelle von ʾênænnû „weg ist er“ lies ʾênām. 62 Der Parallelismus und die Lesart von 11QTgHi (kjblʾ „wie Gras“ – aram. jablāʾ bezeichnet speziell auch den Hundszahn [cynodon dactylon]) sprechen gegen die traditionelle Übersetzung von kakkol mit „wie alles/alle“ (Weiser; Strauß; CTAT 50/5, 241f). Die Existenz eines hebr. Lexems kol II als Bezeichnung für eine Pflanze (z.B. Malve, hebr. mallûaḥ [vgl. Hi 30,4]; vgl. LXX; DCH) ist unsicher. Möglicherweise liegt auch hier ein ursprünglicher Aramaismus vor (so nach 11QTgHi J. Gray: kîbalāʾ ; ähnlich Hartley: kîbûl); zur weiteren Diskussion siehe Grabbe, Philology, 88f; Witte, Notizen, 118f; Clines. 63 D.h.: sie gehen ein; so nach qpṣ I (vgl. Ges18; KAHAL; DCH). Die Existenz eines qpṣ III (Nif. „weggerafft werden“, als Nebenform zu qbṣ, vgl. Ges18; Weiser) oder qpṣ IV (Nif. „ausgerissen werden“, vgl. DCH) ist unsicher; vgl. dazu und zu weiteren Konjekturen Witte, Notizen, 119f. 64 11QTgHi entschärft den Ausdruck und übersetzt frei „wer nun wird mir eine Antwort geben?“.
Aufbau und Sprachformen
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
fügbarkeit Gottes sowie dem bleibenden Anspruch Hiobs auf sein Recht kontrastiert. Im zweiten Hauptteil (24,1–4.10–12) wird dem Vorwurf, Hiob habe die zentralen Gebote der Menschlichkeit und der Frömmigkeit verletzt (22,6– 9.10–20*), eine Anklage der von Gott zugelassenen Frevel in der Welt gegenübergestellt. Damit verortet Hiob sein Schicksal – wie schon in 9,22–24 – in den weiteren Kontext sozialer Ungerechtigkeit und gesellschaftlichen Leidens. Als Überleitung von der persönlichen Klage zur Klage über das Chaos in der Welt und damit zur Anklage Gottes dient die Passage 23,14–17. In dieser Zweiteilung, die sich auch im Gegenüber der Rahmenverse (23,2/24,12) spiegelt, bietet Hi 23–24 eine Kombination der zwei letzten Reden Hiobs in Kap. 19 mit dem Schwerpunkt auf der persönlichen Leidklage und in Kap. 21 mit der Beschreibung des von Gott gesegneten Lebens der Frevler. Die wichtigsten Sprachformen der Rede stammen aus dem individuellen Klage- und Bittgebet (23,2.15–17, einschließlich des Unschuldsbekenntnisses in 23,10–12), dem Recht (23,3–7), der prophetischen Anklage sozialer Vergehen (24,2–4.9) und der weisheitlichen Disputation (24,25). Die Klage über die Unverfügbarkeit Gottes (23,8–9) kehrt Vertrauensaussagen, wie sie sich in Ps 139,5–10 finden, um.65 In Hi 24,17b–24 liegt eine weisheitliche Beschreibung des Schicksals der Frevler vor, wie sie ihre nächsten Parallelen in den Freundesreden in Kap. 15; 18 und 20 besitzt. Text- und Hi 24 enthält überdurchschnittlich viele philologische und literargeschichtliche Literar- Probleme, die sich bereits an einer sehr verwickelten Textgeschichte ablesen lasgeschichte sen; einzelne Auslegungen verzichten daher an bestimmten Stellen (vor allem im Bereich der V. 13–24) auf eine Übersetzung.66 Noch auffälliger als in anderen Kapiteln ist der Gebrauch der Tempora. Im Bereich von 24,2–16 erscheinen PK- und AK-Formen unterschiedslos überwiegend zum Ausdruck genereller Erfahrungen.67 Dementsprechend vielfältig sind die Deutungen von Hi 24. Auch die hier vorgelegte Interpretation, die versucht, mit möglichst wenigen Änderungen des MT auszukommen, ist in manchen Punkten hypothetisch. 11QTgHi bietet Äquivalente zu 23,1–8 und zu 24,12.13.15.16.17.24.25. In dem noch nicht publizierten Fragment 7 I (Kol. VII B) ist möglicherweise ein Pendant zu 23,15–24,11 erhalten.68 In der LXX fehlt in Kap. 23 ein Äquivalent zu V. 14. Dafür ist 23,15 doppelt übersetzt. 23,9 und 23,15c.d (LXXZi) sind asterisiert; im ,kirchlichen Text‘ der LXX stammen sie aus Th bzw. aus Aq.69 In Kap. 24 sind nach LXXZi von 56 Stichen insgesamt 14 asterisiert, 24,1b hat kein griech. Äquivalent. Die Auffüllungen im ‚kirchlichen Text‘ der LXX stammen aus Th. Auf den OG gehen V. 1a.2–4a.5a.6–7.8b–14a.18aβ.b.19–25a. zurück. Die Lücke des OG im Bereich der masoret. V. 14b–18a könnte durch eine kürVgl. dazu Kynes, Psalm, 115–117. Vgl. Merx, 129; Bobzin, Tempora, 334f; Hesse, 145. Siehe dazu ausführlich Bobzin, Tempora, 325–334. 68 Zu den semantisch relevanten Varianten siehe die Anm. zur Übersetzung. 69 Siehe dazu Meade, Edition, 76f. 65 66 67
Hi 23–24 Die siebte Rede Hiobs
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zere Vorlage bedingt sein, V. 14a stellt eine Paraphrase des hebr. Textes dar, deren Formulierung parallel zu 34,25a ist, wo die griech. Übersetzung allerdings dem MT entspricht. Auch im Bereich von V. 18–20 unterscheidet sich die griech. Fassung erheblich vom MT, was z.T. auf einer anderen Gliederung des Textes, z.T. auf einer anderen Vokalisation und z.T. auf einer Paraphrase des schwer verständlichen und nicht unversehrt erhaltenen hebr. Textes beruht. 24,20c entspricht, gegen den MT, 34,11a (vgl. 21,19bLXX; 33,26 LXX; Ps 61,13LXX; Spr 24,12 LXX). In 24,23 bietet die LXX im Gegensatz zum MT nur einen Stichos, wobei sich der Vers, vor allem in seinem zweiten Teil, erheblich vom MT unterscheidet.70 Schließlich spiegelt sich die komplizierte Überlieferungslage von Kap. 24 auch im Tg, das für V. 18.19.24 umfangreiche innertargumische Varianten aufweist.71 Spuren sekundärer und tertiärer Nachbearbeitungen zeigen sich in 24,5– 8.9.13–25. Dabei handelt es sich nicht um versprengte Reste einer ursprünglichen Freundesrede, sondern um bewusste Fortschreibungen einer Hiobrede.72 Die Abschnitte in 24,5–8(9), 24,13–17 und 24,18–25 unterscheiden sich von allen vorangegangenen Hiobreden in stilistischer, sprachlicher, kompositioneller und inhaltlicher Hinsicht. Sachlich bieten sie eine Parallele zur Schilderung der Bestrafung der Frevler in den Freundesreden, während sie im Widerspruch zur Hiobrede in Kap. 21 stehen. Im Vergleich mit der Beschreibung des Wohlergehens der Frevler in Kap. 21 verschärft sich die Spannung zwischen der Klage über ihr von Gott geduldetes Treiben in 24,1–4.10–12 und der Gewissheit ihrer Bestrafung in 24,13–17a.17b–24. Die Funktion dieser Passage ist es, Hiob als Vertreter der strafenden Gerechtigkeit Gottes zu stilisieren. Sie geht demzufolge wohl auf die Gerechtigkeitsredaktion, die jüngste Bearbeitung eines bereits aus der Novelle und der (redaktionell erweiterteten) Dichtung zusammengefügten Hiobbuches, zurück. Wollte man den Abschnitt 24,13–24 als ursprünglichen Bestandteil einer Hiobrede verstehen, so müsste man ihn ironisch oder vorausschauend im Sinn dessen, wie es (gemäß den Ausführungen der Freunde) sein sollte, deuten.73 Bei der Fortschreibung von Kap. 23–24* könnte aber nicht nur Text ergänzt, sondern auch gestrichen worden sein. Zu den Differenzen zwischen der LXX und dem MT siehe ausführlich Gorea, Job repensé, 87–97. Vgl. dazu Mangan, Targum, 60f. 72 Siehe die Einleitung S. 47f sowie Witte, Leiden, 25–34. Selbst wenn mit einer im Laufe der Textüberlieferung eingetretenen falschen Anordnung einzelner Redestücke zu rechnen ist, bleibt die Aufgabe bestehen, auch den MT zu erklären. Angesichts seines grundsätzlich holistischen Zugangs verwundert, dass Clines sich darauf beschränkt, die im MT angeblich falsch positionierten Stücke (24,18–24) nur als Teile der von ihm rekonstruierten dritten Rede Zophars (27,7–10.13–17; 24,18–24; 27,18–23) auszulegen und nicht als Teil einer Rede Hiobs. Zur Annahme umfangreicher Fortschreibungen in Kap. 24 vgl. in jüngerer Zeit auch J. Gray (V. 13–18.19–25) und Wanke, Praesentia Dei, 393 (V. 18–24 als Teil der „rechtskritischen Bearbeitung“; ähnlich, aber ohne redaktionsgeschichtliche Zuordnung auch Greenstein, 110). Vermeylen, Métamorphoses, 182; 281f; 348, betrachtet nur 24,25 als ursprünglichen Teil einer Hiobrede, während der Hauptteil von Kap. 24 auf eine zweite und vierte Buchbearbeitung zurückgehe. Für Strauß, 73; 175, gehört Kap. 23–24 insgesamt zu einem nachträglich ins Hiobbuch eingelegten „Werkstattgespräch“, das sich von Kap. 22 bis Kap. 28 erstrecke. 73 So in jüngerer Zeit wieder T. Krüger, Truth, 74 (zum forschungsgeschichtlichen Hintergrund dieser These siehe Witte, Leiden, 12f). 70
71
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
23,1–5 Hiobs Wunsch, Gott zu begegnen 23,1 S.o. zu Hi 6,1.74 23,2–3 Die siebte Rede Hiobs setzt mit einem klagenden Aufschrei über die von Gott erfahrene Bedrückung ein (vgl. 3,24; 7,11; 9,27; 10,1; 21,4). Im bisherigen Verlauf des Dialogs einzigartig unter den mit „Und Hiob hob an und sprach“ überschriebenen ursprünglichen Reden fehlt eine direkte Anrede der Freunde.75 Charakteristisch für die Eröffnung der Rede ist Hiobs Hinweis auf die Gegenwärtigkeit seines Leids. Der betonte Einsatz mit der durch ein Homoioteleuton stilistisch hervorgehobenen Wendung gam-hajjôm („auch heute“) fügt sich zu den Klagen in 3,13; 6,3 und 16,7, in denen Hiob energisch auf seine aktuelle Situation verweist. Auch die letzte Rede des Eliphas mit ihren Rückblicken und Zukunftsbildern erscheint Hiob nur als ein Ausweichen vor dem Jetzt. So bleibt ihm, wie es schon in 16,19–20; 19,25–26 und zuletzt in 21,4 angeklungen ist, nur, sein „Seufzen“ (ʾ anāḥāh) und seine „Klage“ (śîḥ)76 direkt vor Gott zu bringen, unter dessen Hand (v.l.)77 er so schwer leidet (vgl. 13,21; 19,21; Ps 32,4). Weil aber Hiob sein von Gott verursachtes Leid als unangemessen empfindet, die Freunde ihm keine Antwort auf Grund und Ziel dieses Leidens geben können und er auch in seinem Leid an Gott festhält, muss Gott selbst Hiob antworten. Der schon mehrfach artikulierte Wunsch Hiobs nach einer direkten Auseinandersetzung mit dem Gott (9,35–10,7; 13,13–23), dessen Nähe ihn ins Leid gestürzt hat und dessen Ferne ihm ein Rätsel ist, kehrt verstärkt wieder. So nimmt Hiob die Mahnung des Eliphas, aus Gottes Mund Weisung (tôrāh) anzunehmen (22,22), vollkommen ernst, aber: Gott selbst soll ihm unmittelbar seine Torah erteilen. Doch dazu müsste es einen Ort (tekûnāh, vgl. Ez 43,11) geben, an dem Gott zu finden ist. 23,4–5 Der Wunsch, zu einem solchen Ort78 Gottes zu gelangen, also Gott selbst zu begegnen (vgl. V. 8–9 versus 1,6), zielt auf eine dialogische und argumentative Auseinandersetzung mit Gott. Wie bereits in Kap. 9; 13; 16 und 19 lässt der Dichter Hiob dies mit Begriffen und Bildern aus dem Recht ausdrücken.79 Für die Freunde und die strikten Verteidiger der absoluten Gerechtigkeit Gottes erweist sich Hiob damit erneut als Frevler (vgl. Ps 50,16–21; SapSal 12,12–18):
Vgl. Hi 12,1; 16,1; 19,1; 21,1; 26,1. Der originale Anfang von Kap. 9–10 ist nicht erhalten (s.o.). 76 Vgl. Ps 55,3; 64,2; 102,1.6; 142,3; SH 8 (TUAT III, 103). 77 Siehe die Anm. zur Übersetzung sowie zum Motiv der Hand Gottes die Auslegung von Hi 1,9–11 und Mies, Job. 78 Das übliche Wort für „Thron“ (kisseʾ, vgl. Hi 26,9; Ps 9,8; 93,2; 97,2; 103,19; Jes 6,1), wie hier tekûnāh häufig übersetzt wird (vgl. Vg), hat der Dichter offenbar bewusst nicht verwendet. Tg identifiziert die Stätte mit dem „Haus seines (d.h. Gottes) Heiligtums“. 79 Vgl. Hi 9,30–34; 13,18–23; 16,19–21; 19,25–26; 31,35–37; 33,13; 40,2; Jer 12,1; Num 20,13. 74 75
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12 Denn wer darf zu dir sagen: „Was tust du?“ Oder wer kann deinem Gericht widerstehen? Oder wer darf dich beschuldigen wegen des Untergangs von Völkern, die du geschaffen hast? Oder wer darf kommen und vor dich hintreten als Verteidiger für ungerechte Menschen? 13 Denn es ist kein Gott außer dir, der du für alle sorgst. Du musst nicht beweisen, dass du nicht ungerecht richtest. 14 Es kann dir auch weder ein König noch ein Tyrann die Stirn bieten um derer willen, die du bestrafst. 15 Weil du aber gerecht bist, so regierst du alle Dinge gerecht und siehst es als deiner Majestät nicht gemäß an, jemand zu verdammen, der die Strafe nicht verdient hat. 16 Denn deine Stärke ist der Ursprung der Gerechtigkeit, und weil du über alle Herr bist, so kannst du auch alle verschonen. 17 Denn an denen, die an die Vollkommenheit deiner Macht nicht glauben, beweist du deine Stärke, und an denen, die davon wissen, bestrafst du ihren Übermut. 18 Aber du, gewaltiger Herrscher, richtest mit Milde und regierst uns mit viel Verschonen; denn du vermagst alles, wenn du willst. (SapSal 12,12–18 LB).
Es ist genau diese Suche nach der Gerechtigkeit Gottes (SapSal 12,15), die Hiob zur direkten Konfrontation mit Gott drängt. In ihr hofft Hiob darauf, Wissen und Erkenntnis (jādaʿ; bîn) geschenkt zu bekommen (V. 5, vgl. Hab 2,1). Nicht das, was die Freunde über Gott sagen, sondern das, was Gott selbst ihm sagt, nicht die Tradition, sondern nur die eigene Erfahrung vermögen Verstehen und Einsicht in das Wesen des ihm zutiefst rätselhaft gewordenen Gottes zu schenken. Um diese ganz auf die unmittelbare, eigene Erfahrung der Gottesbegegnung ausgerichtete Suche Hiobs hervorzuheben, durchziehen die gesamte erste Strophe Verben in der 1. P. Sg. und Suffixe der 1. P. Sg. Betont endet die Strophe im MT mit dem Wort lî („mir“): Hiob erwartet die Rede Gottes zu ihm, für ihn und in Hinsicht auf ihn, d.h. über ihn. Das Bewusstsein der eigenen Unschuld und die Ferne Gottes
23,6–9
Die Hoffnung, von Gott selbst über seinen Fall aufgeklärt zu werden, wird 23,6–7 begleitet von der Erwartung, in diesem Rechtsstreit (rîb) von Gott nicht weiter mit Gewalt (koaḥ) behandelt,80 vielmehr von diesem selbst sorgsam beachtet zu werden. Dabei klingen auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches die Worte Gottes an den Satan an, ob dieser Hiob genau beobachtet habe (1,8; 2,3). Gott selbst hat das bereits getan – doch dies wissen nur die Leser, die den Prolog kennen. Aber Hiob ahnt dies. Und auch in der Formulierung der Gewissheit Hiobs, als ein „Rechtschaffener“ (jāšār) mit Gott zu streiten,81 spiegelt sich nicht nur Eliphas᾽ jüngste Negation der Möglichkeit einer solchen Auseinander80 81
Vgl. Hi 7,17; 9,4 (sek.).19. Vgl. Hi 8,6; 9,32–35; 13,21–22.
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setzung mit Gott (22,4), sondern auch die Kennzeichnung Hiobs in der prosaischen Einleitung des Buches (1,1.8; 2,3).82 Wenn Hiob in diesem Streit das einem Rechtschaffenen zustehende „Recht“ (mišpāṭ [v.l.])83 auf Unversehrheit, d.h. auf šālôm, erhält, dann erfüllt sich für ihn in dieser Begegnung mit Gott in der Zeit auch ein Stück „Ewigkeit“ (lānæṣaḥ) (vgl. 19,25–27). 23,8–9 Bis es so weit ist, sucht (bāqaš Piel [v.l.]) Hiob Gott weiterhin. Das Wort bāqaš ist ein terminus technicus der Frömmigkeitssprache sowohl für ein punktuelles kultisches Aufsuchen Gottes, um eine besondere Offenbarung, ein Orakel, zu erhalten (vgl. Ex 33,7; Ps 24,6), als auch für richtiges Verhalten vor Gott im Sinn von Umkehr und Gottesfurcht.84 Erneut zeigt sich die Programmatik des Namens „Hiob“ – „Wo ist der Vater?“. Erscheint Hiob zunächst als einer, der auf engstem Raum verzweifelt vorwärts (qædæm) und rückwärts (ʾāḥôr) geht, sich suchend nach links (ś emôl) und rechts (jāmîn) wendet,85 als einer, der sich blind im Kreis dreht, so zeigt die Verwendung der hier gebrauchten Wörter, das die Gottessuche Hiobs weitere Dimensionen hat. Es ist eine Suche Hiobs nach Gott in Raum und Zeit, der anders als der Beter von Ps 139 sich nicht mehr von einem ihn umgebenden Gott geborgen erlebt (vgl. 9,11–12). Die Begriffe qædæm und ʾāḥôr haben eine raum-zeitliche Dimension: Geht Hiob nach vorne, so spürt er dem heilvollen Gott in seiner Vergangenheit (qædæm, vgl. 29,2; Ps 44,2) nach, geht er zurück, so sucht er Gott in seiner Zukunft (ʾāḥôr, vgl. 19,25).86 Doch Hiob vermag den rettenden Gott gegenwärtig nicht mehr wahrzunehmen, weder in seiner Vergangenheit noch in der Zukunft. So wendet er sich nach links bzw. gen Norden (ś emôl) und nach rechts bzw. gen Süden (jāmîn) – aber auch hier lässt sich der rettende, ihn gerecht richtende Gott für ihn nicht finden. Mittels der geographischen Konnotation der Begriffe ś emôl und jāmîn wird auf zentrale Stätten der Theophanie Jhwhs, den Gottesberg im Norden (vgl. Ps 48,3; 89,13) und den Gottesberg im Süden (vgl. Ps 89,13 Hab 3,3) angespielt.87
Jhwh von Norden und Jhwh von Süden88
Exkurs
Literatur Pfeiffer, H.: Jahwes Kommen von Süden. Jdc 5; Hab 3; Dtn 33 und Ps 68 in ihrem literatur- und theologiegeschichtlichen Umfeld, FRLANT 211, Göttingen 2005. – Köckert, M.: YHWH in the Northern and Southern Kingdom, in: R.G. Kratz/H. Spieckermann (Hg.), One God – One Cult – One Nation. Archaeological and Biblical Perspectives, BZAW 405, Berlin/New York 2010, 357– 394. – Oorschot, J. van/Witte, M. (Hg.): The Origins of Yahwism, BZAW 484, Berlin/Boston 2017.
Vgl. Spr 2,7; 21,8.29; Pred 7,29; Ps 7,11; 119,37. Vgl. Hi 19,7; 27,2; 29,14; 34,5–6; 40,8. G. Gerleman, Art. bqš suchen, THAT I (62004) 333–336, hier: 335. 85 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 86 Entsprechend übersetzt LXX mit πρῶτα und ἐπ᾽ ἐσχάτοις, vgl. Hi 18,20. 87 Vgl. dazu auch Gordis und Hartley sowie zur in Hi 23,8–9 vorausgesetzten Raumvorstellung insgesamt Janowski, Anthropologie, 318–323. 88 Vgl. dazu auch den Exkurs auf S. 137f. 82 83 84
Hi 23–24 Die siebte Rede Hiobs
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Gemäß der traditionellen religionsgeschichtlichen Auswertung der biblischen Quellen lernt Israel den Gott Jhwh nicht nur am Sinai kennen (vgl. Ex 3; 6; 19), sondern stammt Jhwh selbst aus dem Bereich Nordarabiens/Edoms/Seir (vgl. Dtn 33; Ri 5; Ps 68; Hab 3; 1Kön 19). Für eine solche Lokalisierung könnte die philologische Verwandtschaft des Namens Jhwh mit altnordarabischen Götternamen und die mögliche Zusammenstellung mit dem arab. Verb hawaj sprechen, der zufolge Jhwh der Gott ist, der es wehen lässt. Insofern Jhwh typologisch einem Wettergott, näherhin dem Typ des nordsyrischen Wettergott Baʿal bzw. Hadad entspricht, ist es nicht ausgeschlossen, dass er in Syrien-Palästina autochthon ist und erst über bestimmte überlieferungs- und literargeschichtliche Entwicklungen an den Sinai gelangt ist. Der Befund der Inschriften von Kuntillet ʿAǧrūd (9. Jh. v.Chr.), die zu den ältesten außerbiblischen Belegen für das Tetragramm gehören, ist nicht eindeutig, da hier, sofern die Lesarten richtig sind, von einem Jhwh Temans (KAgr[9]:9), einer südlichen Manifestation oder Verehrung, und von einem Jhwh Samarias, einer nördlichen Manifestation oder Verehrung, die Rede ist (vgl. KAgr[9]:5 [HAE I, 61f]). Jedenfalls kennt die atl. Überlieferung einen Götterberg Jhwhs sowohl im Norden als auch im Süden.
Wenn sich Hiob also metaphorisch den Gottesbergen vergeblich zuwendet und – anders als Mose (Ex 33) und Elia (1Kön 19) – dort Gott nicht wahrnimmt, dann stellen diese Verse eine direkte Reaktion auf die Mahnung des Eliphas dar, er möge aus dem Mund Gottes die Torah annehmen (22,22). Hiob würde diese Torah nur zu gerne empfangen, wenn er denn Gott sehen könnte. Das Mühen Hiobs, Gott zu finden (vgl. auch im Kontrast dazu Ps 139,5), unterstreicht den Wunsch nach der direkten Begegnung (V. 3). Denn im Suchen und im Finden Gottes liegt nach grundsätzlichen atl. Frömmigkeitsvorstellungen die Verheißung von Leben und Barmherzigkeit. 29 Ihr werdet dort den Herrn, deinen Gott, suchen, und du wirst ihn finden, so du ihn von ganzem Herzen und von ganzer Seele suchen wirst. 30 Wenn du geängstet sein wirst und dich das alles treffen wird in künftigen Zeiten, so wirst du dich bekehren zu dem Herrn, deinem Gott, und seiner Stimme gehorchen. 31 Denn der Herr, dein Gott, ist ein barmherziger Gott; er wird dich nicht verlassen noch verderben, wird auch den Bund nicht vergessen, den er deinen Vätern geschworen hat. (Dtn 4,29–31 LB)89
So drängt die Erfahrung der Unsichtbarkeit Gottes (loʾ ʾærʾæh, V. 9) Hiob immer mehr dazu, von Gott selbst Einsicht zu bekommen (ʾābînā, V. 5). Gleichzeitig macht er die Erfahrung, dass er „die Begegnung mit Gott nicht erzwingen (kann).“90 Das Bewusstsein der eigenen Unschuld und die Unverfügbarkeit Gottes
23,10–13
Die Unmöglichkeit der direkten Begegnung mit Gott bedeutet für Hiob erneut 23,10–12 die Erfahrung der Willkür Gottes. Ihr stellt er sein eigenes Unschuldsbewusstsein gegenüber: Gott müsste es eigentlich besser wissen (V. 10, vgl. Ps 1,6; Vgl. Ps 27,7–8; 40,17; 69,7; 83,17; 105,3–4. Weiser, 181. Hi 23,8–9 wird in der Forschung häufig als sekundär betrachtet, vgl. z.B. Fohrer; Wanke, Praesentia Dei, 262 (Ergänzung der „weisheitskritischen Bearbeitung“); Vermeylen, Métamorphoses, 327f (zusammen mit 23,14 Zusatz seitens der „dritten Buchredaktion“). 89 90
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139,2–3.23). Hatte Eliphas zuletzt Hiob vor Augen gehalten, Gott habe letztlich nichts vom frommen Wandel Hiobs (22,3), so hält Hiob weiterhin an seiner Beziehung zu Gott fest. Er widerspricht deutlich dem verfremdenden Zitat des Eliphas, Hiob rechne nicht damit, dass Gott mit den Dingen auf der Erde vertraut sei (jādaʿ, 22,13), und der Unterstellung, er wandle auf gottlosen Wegen (22,15). Als eigentliche Not Hiobs erweist sich immer deutlicher die Diskrepanz zwischen dem Bewusstsein der eigenen Unschuld, die auch Gott bekannt sein müsste (vgl. Ps 1,6a; Spr 2,8b), und der Erfahrung, von Gott wider besseres Wissen als Schuldiger behandelt zu werden. Dabei wird die Überzeugung Hiobs, eine Prüfung durch Gott makellos zu bestehen (V. 10), und nicht von Gottes Weg abgewichen zu sein (V. 11), mittels zahlreicher geprägter weisheitlicher und torahtheologischer Wendungen ausgedrückt.91 Das dreiteilige Unschuldsbekenntnis gipfelt in dem besonders betonten Satz, „das Gebot der Lippen Gottes“ und „die Worte des Mundes Gottes“ stets bewahrt zu haben (V. 12, vgl. Ps 119,72.88): Erneut klingt damit Hiobs Treue zur Torah an, die er in seinem Inneren, in seiner „Brust“ (ḥêq [v.l.]) trägt.92 Hiob hat Eliphas’ letzte Mahnung (22,22) längst befolgt. Aber er wartet auf eine neue Torah (vgl. Jer 31,33) – auf eine Torah, die ihm das Rätsel des Handelns Gottes an ihm, das Rätsel Gottes selbst, erklärt. 23,13 Die abschließende verzweifelte Einsicht in die Unverfügbarkeit93 des einen und einzigartigen Gottes korrespondiert mit dem Abschluss der zweiten Strophe (V. 8–9).94 Wie Hiob in Anlehnung an das Schema Israel (Dtn 6,4–5) formuliert,95 ist ihm der eine, mit sich selbst identische Gott (hûʾ beʾæḥād) in seinem unwiderruflichen Handeln (vgl. Ps 115,3) zutiefst fragwürdig geworden ist. Zur Frage nach der Anwesenheit Gottes tritt die Frage nach dem ureigensten Wesen Gottes. Einmalig im Hiobbuch wird hier von der næpæš (,Seele‘) Gottes gesprochen. Zwar kann das Wort næpæš zusammen mit einem Personalsuffix insbesondere im späteren biblischen Hebräisch das Personalpronomen ersetzen (vgl. die LXX, die hier mit αὐτός übersetzt), doch dürfte der Anthropomorphismus hier bewusst gebraucht sein, um die Identität und die Personalität Gottes zu betonen.96 Die bereits in Hi 7,17 pervertierte Frage nach dem Menschen (vgl. Ps 8,5; 144,3) hat sich endgültig in die Frage „wer ist Gott?“ verwandelt. Somit stellt sich die Frage, ob die doxologische Bestimmung des unvergleich-
91 Zu V. 10 vgl. Spr 17,3; Ps 17,3; 26,2; 66,10; Jes 48,10; Mal 3,3; Sir 2,5 (G); SapSal 3,6; 1QHa XIII,16(18); 1Petr 1,6–7; zu V. 11 vgl. Ps 18,22; 37,34; 44,19; 119,3–4; Spr 8,32; Gen 18,19. 92 Vgl. Dtn 6,6; Ps 37,31; 119,11.51.157; Spr 2,1; 7,1; Jer 9,19. 93 Vgl. Hi 9,12 (sek.); 11,10; 34,23; Jes 14,27; 43,13; Jer 2,24; Pred 8,3. 94 Vgl. die von Wiernikowski, Hiob, 17, zusammengestellten rabbinischen Überlegungen: „‚Er ist einer – wer erwidert ihm‘ wird von einem Aggadisten als Ausdruck für die willkürliche Macht Gottes erklärt; von einem anderen als Ausdruck für die Gerechtigkeit, gegen die sich nichts einwenden lasse.“ 95 Vgl. zudem Hi 31,15; Sach 14,9; Sir 42,21 (HB/M); sowie Dtn 32,6. 96 Vgl. Lev 26,30; 1Sam 2,35; Jes 1,14; 42,1; Jer 12,7; 14,19; 32,41; Spr 6,16. Siehe dazu auch K. Müller, Lobe den Herrn, 245–251.
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lichen Gottes Israels als eines Gottes, der nicht dauerhaft an seinem Zorn festhält, sondern Freude an Barmherzigkeit hat (Mi 7,18), auch für Hiob gilt. Erfahrung von Gottes Willkür und eigene Wahrnehmung des Leidens
23,14–17
Die in V. 13 artikulierte Einsicht in die Unverfügbarkeit Gottes und die Erfahrung, 23,14–15 dass Gott an Hiob gehandelt hat, wird in V. 14 zur Erwartung neuer Leiden. Wie schon in 10,13 und 14,5 und in erneutem Rekurs auf Ps 139 klingt an, dass Hiob sein Leben als göttlich festgesetzt versteht und dass es kein Entrinnen vor dem ihm bestimmten Schicksal (ḥoq) gibt (vgl. Ps 139,16). Hatte Eliphas Hiob geraten, von sich aus Frieden mit Gott zu halten (šālam Qal, 22,21), so ist dieser der Überzeugung, dass Gott unbeirrt sein Werk an ihm vollenden wird (šālam Hif., 22,21). Das Bewusstsein, ausweglos Gott ausgeliefert zu sein, der sich zugleich jedem menschlichen Zugriff entzieht, begründet Hiobs tiefes Erschrecken vor und über Gott. Wie häufig im Buch Hiob wird dies in Umkehrung traditioneller Heilsbilder ausgedrückt (V. 15).97 Nicht aufgrund mutmaßlicher Vergehen gegen die Mitmenschlichkeit sieht sich Hiob vom Schrecken gepackt (22,10), sondern Gott selbst ist für ihn zum Gegenstand tiefer Furcht geworden. Die sich in 16,19–21 und 19,25–26 andeutende Hoffnung ist nach den Ausmalungen Zophars über das zu erwartende Gericht an den Frevlern (Kap. 20), nach Hiobs argumentativer Widerlegung der Theorie von der weltimmanenten gerechten Vergeltung (Kap. 21) sowie nach Eliphas’ direkten Beschuldigungen Hiobs einerseits und bedingten Heilsankündigungen andererseits (Kap. 22) wieder verflogen. Der in 19,25 als Erlöser erhoffte Gott hat wieder die Gestalt eines Zerstörers angenommen. Doch wenn auch Gott, von dem hier erstmals in dieser Rede ausdrücklich als 23,16–17 ʾel und šaddaj gesprochen wird, Hiob bis ins tiefste Innere seiner Person (leb) erschreckt, so verstummt Hiob nicht. Gottesschrecken und Gottesferne vermögen Hiob ebenso wenig zum Schweigen zu bringen (ṣāmat Nif., vgl. 13,20– 22) wie der Rat seiner Freunde, sich Gott zu unterwerfen (22,23).98 V. 17 zeigt in Korrespondenz zu V. 2 Hiob in seinem beharrlichen Klagen vor Gott (vgl. 7,11; 9,35–10,2) und in seinem an das nächtliche Ringen Jakobs erinnernden Kampf (Gen 32,25–31), die Gottesfinsternis (vgl. 22,11) zu durchstoßen und anstelle des verhüllten Antlitzes Gottes99 wieder dessen heilvolle Zuwendung, seinen Segen, zu erleben (vgl. Ps 27,7–9). So leiten die V. 14–17 vom ersten Teil des Monologs, in dem die Unerreichbarkeit Gottes und das Unschuldsbekenntnis Hiobs im Mittelpunkt standen, zum zweiten über, in dem Hiob von der Klage über sein persönliches Schicksal zur Anklage Gottes angesichts der ungestraften Verbrechen der „Frevler“ an den „Armen“ gelangt.
Vgl. Ps 27,1; Jes 12,2 im Kontrast zu Hi 3,25. Siehe die Anm. zur Übersetzung. 99 Siehe die Anm. zur Übersetzung und vgl. Hi 13,24; Ps 10,11; 13,2; 30,8; 102,3; 104,29; 143,7. 97 98
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24,1–12 Anklage Gottes wegen des Chaos in der Welt 24,1 Der Anschluss des maddûaʿ-Satzes in 24,1 an die Negation in 23,17a entspricht der Konstruktion in 21,6–7 (vgl. Ps 10,1; 73,12–13). Die Frage nach dem „Warum?“ erweist sich als sinnvolle Entfaltung der nicht verstummenden Klage Hiobs.100 Diese wird, wie in 21,4–7, zur Anklage des sich in Wolkendunkel (ʾopæl) hüllenden Gottes. Hiob fürchtet sich nicht vor der Dunkelheit, wie sie einst Jhwh am Gottesberg umgab (23,17 versus Dtn 4,11; Sir 45,5). Aber er erschrickt vor Gott selbst und illustriert dies an seinem Entsetzen über die von Gott zugelassenen Frevel in der Welt, über das Ausbleiben, das Verborgensein (ṣāpan Nif.)101 der göttlichen Zeiten (ʿet)102 und Tage (jôm)103 des Gerichts. Mit dem Hinweis auf die jodeʿâw (v.l.), auf „die, die ihn [Gott] kennen“, d.h. die Frommen104, legt Hiob nochmals ein implizites Unschuldsbekenntnis ab (vgl. 23,10). Er stellt sich in die Linie der Frommen, die angesichts des Leidens in der Welt nach Gottes Gerechtigkeit fragen und die sich ein göttliches Gericht wünschen (vgl. Ps 10,12–13). Doch entgegen der Ankündigung des Eliphas (22,19) lässt dieses auf sich warten. 24,2–4 Zwischen der prinzipiell formulierten Frage in V. 1 (vgl. Ps 10,1) und der diese begründenden Folge in V. 2 fehlt eine Verbindung; ebenso fehlt in V. 2 ein explizites Subjekt, zudem ist V. 2a metrisch zu kurz. Vermutlich ist als Subjekt ein Wort für die „Frevler/Bösen“ (r ešāʿîm/rāʿîm) ausgefallen. Als Kehrseite des in Kap. 21 beschriebenen Glücks der Frevler beschreibt Hiob exemplarisch von diesen ausgeübte, aber von Gott (zunächst) ungeahndete Verbrechen gegen grundlegende Gebote des altorientalischen Ethos, wie es sich auch in den Sozialgeboten der Torah, der Propheten und der Weisheit niedergeschlagen hat. Dabei zeigt sich eine Klimax des Frevels: Zunächst thematisiert Hiob mit dem Motiv der Verschiebung von Grundstücksgrenzen und des Raubs der Viehherden die Verbrechen an den Armen indirekt über den Zugriff auf deren Lebensbedarf (V. 2).105 Sodann benennt er die Ausbeutung von Waisen und Witwen, den wesentlichen Repräsentanten der in antiken Gesellschaften rechtlich und sozial besonders hilfsbedürftigen Gruppen (V. 3).106 Die Sequenz gipfelt in der Fest100 Anders Hölscher, 61, der zwischen Hi 23,17 und 24,1 einen „fühlbare(n) Riß in der Gedankfolge“ konstatierte und in neuerer Zeit Kaiser, 88, der Kap. 24 geschlossen einer „Gerechtigkeitsbearbeitung“ zuwies und die ursprüngliche Fortsetzung von 23,17 in 27,2 vermutete (ähnlich Vermeylen, Métamorphoses, 181 [s.o. Anm. 72], mit der mutmaßlichen Textfolge 23,16; 24,25; 27,2–6, und noch radikaler Strauß, 73–75: Kap. 23–24 sei, wie Kap. 22, vollständig sekundär). 101 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 102 Vgl. Ez 30,3 1QS IV,18. 103 Vgl. Hi 15,23; 18,20; 20,28. 104 Vgl. Ps 9,11; 36,11; 87,4; 1Sam 2,12; Jer 2,8; Hos 4,1; Dan 11,32; das Gegenteil in Hi 18,21. 105 Vgl. Dtn 19,14; 27,17; Hos 5,10; Mi 6,14; Spr 22,28; 23,10; Lehre d. Amenemope 7,12–8,16 (TUAT.NF VIII, 333f). 106 Vgl. Ex 22,21; Dtn 10,18; 24,17; Jes 1,17; Jer 7,6; 22,3; Ps 146,9; Sir 4,10; 35,16–17; ÄHG 147, 11–13 (Amun als Vater der Waise und Gatte der Witwe); Kirta-Epos III, vi,33–34; 45–50 (TUAT NF VIII, 265f); Hymnus auf Ninurta als Helfer in der Not IX (14) (Mayer, Hym-
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stellung des direkten Angriffs auf die Armen selbst, die deren Ausschluss aus der Gesellschaft zur Folge hat (V. 4).107 Die Beschreibung ist stereotyp108 und lässt sich nicht nur einer Epoche der Sozialgeschichte des alten Israel zuweisen. Insofern das Hiobbuch in seinen verschiedenen literarischen Schichten aus der Zeit des 5. – 3. Jh. v.Chr. stammt, spiegeln sich in diesen Versen, die der Grundschicht angehören, aber ungleiche soziale und wirtschaftliche Verhältnisse, wie sie auch für die Perserzeit und für die hellenistische Zeit in Juda belegt sind.109 Entscheidend ist die doppelte Funktion dieser ersten Auflistung von Freveltaten: Zum einen ist es nicht Hiob, der sich sozialer Vergehen schuldig gemacht hat, wie Eliphas dies zuletzt behauptet hatte (22,6–9), sondern es sind die Gottlosen (r ešāʿîm). Zum anderen kommt zum rätselhaften Schweigen Gottes gegenüber Hiob dessen Schweigen gegenüber den Armen und Elenden hinzu. Damit ist die traditionelle, vor allem im atl. Recht, aber auch in der Weisheit verankerte Vorstellung von Gott als dem Beschützer und Rechtsbeistand der Armen in Frage gestellt.110 Für Hiob versagt Gott nicht nur ihm gegenüber, sondern kommt seiner Rolle als Hüter des Rechts insgesamt nicht nach. Der bereits in 9,20–24 von Hiob gegen Gott erhobene Vorwurf, die Welt sei in der Hand des Bösen und Gott kümmere sich nicht um die Geschehnisse auf der Welt, werden hier konkretisiert. Die Ausführung der Klage über die von Gott geduldeten Taten der Frevler in 24,5–8 V. 2–4 und in V. 10–12 wird durch die Identifikation der Armen mit verarmten Steppenbewohnern unterbrochen. Während die V. 2–4.10–12 die Bedrückung der „Armen“ im Kulturland und im städtischen Bereich beschreiben, zeigen die V. 5–8 eine hier mit „Wildeseln“ (pæræʾ)111 verglichene mittellose Größe, die ihr Dasein in der Wüste, also im nicht geordneten und schutzlosen Raum führt (V. 5).112 Der Bezug von V. 5–8 auf die als Reiche gedachten Frevler (V. 2–4) scheitert an der Darstellung der kärglichen Lebensverhältnisse in V. 6–8 (vgl. 30,6), die sich eindeutig auf Notleidende bezieht, denen es an Nahrung (V. 5–6), Kleidung (V. 7) und einem schützenden Obdach fehlt (V. 8). Die Besonderheit von V. 5–8 wird außer der inhaltlichen Spannung zu V. 4 und zu V. 10 (Kulturland – Steppe) durch vier weitere Auffälligkeiten unterstrichen: 1) durch das metrisch unausgewogene Tetrakolon in V. 5,113 2) durch die für die Hiobdichtung untypische Verwendung von rāšāʿ im Sinne von „reich“ in V. 6 (vgl. Spr 11,6), 3) durch die wörtliche Überschneidung von nus, 29); siehe auch die Parallelen, die unten zu Hi 29,12–16 und 31,13–32 genannt werden, sowie Janowski, Anthropologie, 252–257. 107 Vgl. Jes 10,2; 29,21; Am 5,12; Mal 3,5; Spr 18,5. 108 Vgl. die Ausführungen zu Hi 22,6–9 und die dort genannten altorientalischen Parallelen, unter diesen besonders die äg. Klagen des Bauern (Hornung, Dichtung, 9–27, besonders 13–15; 20). 109 Siehe dazu Albertz, Hintergrund, 352–355; 357–368 (mit dem Hinweis auf die sozialen Umbrüche im perserzeitlichen Juda, wie sie sich z.B. auch in Neh 5 widerspieglen); Kessler, Sozialgeschichte, 143–148; Knauf, Hiobs Heimat, 73–77. 110 Vgl. Dtn 10,17–19; Ps 12,6; 76,10; 140,13; 146,7–9; Sir 35,15–22. 111 Vgl. Hi 6,5; 39,5–6; Ps 104,11; Jer 2,24; 14,6; Dan 5,21; Hos 8,9; Sir 13,19. 112 Vgl. Hi 30,3–4; 38,26; Jes 32,14–15; VTE § 39 (TUAT I, 170). 113 Siehe die Anm. zur Übersetzung.
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V. 7a mit V. 10a und 4) durch die Parallelen zu dem (sekundären) Abschnitt in 30,1b–8, in dem ebenfalls eine außerhalb des Kulturlandes lebende asoziale Gruppe beschrieben wird. 24,9 Hier liegt ein erneuter Bruch vor: Nun sind wieder die Frevler Subjekt, die Waisen rauben und Arme pfänden (ḥābal I)114. Dabei schließt V. 9 weder an V. 4b noch an V. 8 noch an V. 10 an. Aufgrund der terminologischen Wiederholungen aus V. 2 (gāzal), V. 3 (jātôm und ḥābal) und V. 4 (ʿānî) dürfte es sich nicht um einen dislozierten Vers,115 sondern um eine Ergänzung handeln, die auch gegenüber V. 5–8 sekundär ist. 24,10–11 Die Beschreibung der sozialen Missstände am Beispiel der Misshandlung der Armen, Witwen und Waisen (V. 2–4) wurde ursprünglich mit der Feststellung von Schutzlosigkeit und Hunger (V. 10)116 sowie Fronarbeit (V. 11, vgl. Klgl 5,4f) fortgesetzt. Hunger und Durst der Armen stehen in scharfem Kontrast zu ihrer Arbeit zwischen Reihen (šûrotām) von Olivenbäumen und in einer Kelteranlage (j eqābîm), waren doch Oliven und Wein (sowie Getreide) die wichtigsten landwirtschaftlichen Produkte des alten Israel.117 Die Bedeutung von šûrāh („Reihe/Mauer“) ist nicht ganz sicher, es könnte sich auch um Stützmauern (in einem Weinberg) oder um Steine handeln, mittels derer Oliven in einem Mörser oder in einer Ölmühle zerquetscht wurden.118 jæqæb bezeichnet eigentlich die Kufe, d.h. das unterhalb des Tretplatzes (gat), auf dem die Trauben mit den Füßen zertreten wurden, gelegene und mit diesem über Röhren verbundene Sammelbecken, kann aber auch für die gesamte Kelteranlage stehen.119
24,12 Die Beschreibung der auf den Kopf gestellten Welt- und Gesellschaftsordnung gipfelt in der Feststellung des Hilferufs Sterbender, wohl im Krieg schwer Verwundeter (V. 12a),120 die ihr Leben (næpæš) aushauchen. Sie mündet in dem direkten Angriff auf Gott, er nehme diese Absurdität (tiplāh, „Unfug“) nicht wahr (V. 12b). Damit weist Hiob nicht nur Eliphasʼ Aussicht auf Erhörung seines Gebets ab (22,27).121 Vielmehr sind damit auch die Verheißungen der Torah, Gott erhöre den Hilfeschrei der Armen (Ex 22,21–26) und wahre ihr Recht (vgl. Dtn 10,17–18), ebenso radikal in Frage gestellt wie die Vorstellung, der Gott des Lebens habe kein Gefallen am Tod der Gerechten (Ez 18,32). Der Bezug von 24,12b auf 22,28 (und 23,2) wird noch deutlicher, wenn man der Lesart t epillāh („Gebet“) folgt (vgl. Ps 102,1–2).122 Hi 35,9–10, wo auf die Beschreibung der Unterdrückung der Armen in 24,1–12 rekurriert wird, setzt Zum Wortspiel zwischen ḥbl I und ḥbl II s.o. zu Hi 22,6 sowie Noegel, Janus Parallelism, 81–85. So z.B. de Wilde und Hartley: ursprüngliche Position zwischen V. 3 und V. 4. 116 Vgl. Dtn 24,19–21; Jes 58,7; Spr 25,21; Ruth 2,2–3.7.15. 117 Siehe dazu Zohary, Pflanzen, 54–57; Häusl, Garten, 101–105; 110–115. 118 Eine entsprechende Abbildung bietet D. Kellermann, Art. „Öl und Ölbereitung“, BRL2 (1977) 238–240. 119 K. Galling, Art. „Wein und Weinbereitung“, BRL2 (1977) 362f. 120 Vgl. Ps 88,6; 1Sam 31,1–8; Jes 34,3; Jer 51,52; Ez 18,32; Klgl 2,12; 2Makk 8,2–4. 121 Vgl. Ps 10,17–18; 30,3; 31,23; 34,5.16.18; 50,15; 65,3; 66,19–20; 72,12; 88,14; 91,15; 102,18. 122 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 114
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aber voraus, dass in 24,12b nicht das Gebet gemeint ist. Hingegen könnte für die Lesart t epillāh Elihus Hinweis auf Gebetserhörung in Hi 34,28 in Anschlag gebracht werden. Die zuletzt von Zophar eindrücklich beschriebene Bestrafung der Frevler, die sich an Gott und den Menschen vergehen (20,5–29), bleibt nach Hiobs Erfahrung ebenso aus wie eine gerechte Behandlung seiner eigenen Person durch Gott. Das eigene Leiden Hiobs schärft den Blick für das soziale Unrecht in der Welt und wird, wie schon in Kap. 9, zu einer grundsätzlichen Anfrage an die Beziehung Gottes zur Welt. So zielt der Vorwurf an Gott, er sehe der Ausbeutung der Armen tatenlos zu und überhöre das Flehen der Sterbenden, darauf ab, eine Ankündigung Gottes, wie Mal 3,5 sie formuliert, doch noch zu bewahrheiten: Und ich will zu euch kommen zum Gericht und will ein schneller Zeuge sein gegen die Zauberer, Ehebrecher, Meineidigen und gegen die, die Gewalt und Unrecht tun den Tagelöhnern, Witwen und Waisen und die den Fremdling drücken und mich nicht fürchten, spricht der Herr Zebaoth. (Mal 3,5 LB)
Der verzweifelte Ruf nach dem Auftreten Gottes zum Gericht in der Welt, der den zweiten Teil dieser Rede durchzieht, ist somit ein Gegenstück zu dem im ersten Teil der Rede artikulierten vergeblichen Bemühen Hiobs, Gott selbst und seine Gerechtigkeit zu finden. Bemerkenswert ist die Erwähnung, dass der unerhörte Hilferuf der Sterbenden aus einer Stadt (ʿîr, V. 12a) erfolgt.123 Zum einen zeigt sich hier, dass das Milieu der Dichtung in einem städtischen Umfeld liegt (vgl. 29,7). Zum anderen könnte der Dichter bewusst auf die Eroberung Jerusalems 587 v.Chr. anspielen, die sich, unbeschadet der wiederholt in den folgenden Jahrhunderten erlebten Heimsuchung der Stadt, als die paradigmatische Zerstörung der Gottesstadt tief in das jüdische Gedächtnis eingegraben und sich entsprechend in Klgl 1–5 sowie in einzelnen kollektiven Klagepsalmen (vgl. Ps 44; 79) niedergeschlagen hat. Das Summarium in V. 12 bildet antithetisch zu dem Glauben an einen Gott, der aus der Bedrückung errettet, die Spitze der von Hiob gegen Gott geführten Anklage (vgl. Klgl 3,8; Ps 5,3). Die Rede findet damit „ihren Höhepunkt und wirkungsvollen Abschluss“124. Dabei ist vermutlich in V. 12b ein Kolon mit einer weiteren Anklage Gottes ausgefallen (vgl. 34,28), das den hinteren Rahmen zur Eröffnung in 23,2 bildete.
123 124
Zur abweichenden Lesart von 11QTgHi siehe die Anm. zur Übersetzung. Lamparter, 150; ähnlich Maag, Hiob, 147; Wolfers, Speech-Cycles, 387.
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24,13–25 Nachträge zum Wesen und Schicksal der Frevler 24,13 Die folgende Auflistung von lichtscheuen Verbrechern (vgl. Jes 29,15) unterscheidet sich formal und inhaltlich stark von der Beschreibung der aus V. 2–12* bekannten Frevler und Armen. In V. 13–16 finden sich gehäuft Tristichen, die im Blick auf V. 14 und 15 das Ergebnis einer Textkorruption sind. Der Abschnitt besitzt mit dem stilistisch besonders hervorgehobenen, allgemein formulierten V. 13 eine neue Überschrift. Diese kann sich ausweislich des negativ konnotierten Verbs mārad („widerspenstig sein/sich gegen jmd. auflehnen“) nicht auf die in V. 4 eingeführten Armen beziehen, sondern nur auf eine Gruppe von Frevlern (vgl. Spr 2,13–15; Ps 10,2–11). Ihre Charakteristik als Gegner des Lichts, womit Gott selbst gemeint sein könnte (vgl. Mi 7,8; Ps 27,1), so dass diese als Rebellen gegen Gott erscheinen,125 ist möglicherweise durch den nicht erhaltenen Stichos in V. 12b bedingt. Als diejenigen, die nicht die Wege des Lichts kennen, stehen sie in scharfem Kontrast zu den Frommen, die sich gerade auf diesen Wegen befinden und unter die sich Hiob selbst zählt (vgl. 23,11). Das Tg, das das Wort „Licht“ hier im Gefolge von Spr 6,23 und Ps 119,105.135 im Sinn der Torah versteht,126 ist insofern ganz sachgemäß, als sich Hiob, nicht zuletzt aufgrund der Mahnung des Eliphas in 22,22, zunehmend auf seine Treue gegenüber der Torah beruft. So dient auch 24,13 als indirektes Unschuldsbekenntnis Hiobs (vgl. Ps 119,97–104) und als Beleg für seine ungerechte Behandlung durch Gott. 24,14–17a Die Reihe von in der Nacht (V. 14b) tätigen Verbrechern stellt nach V. 2–12 in gewisser Weise die zweite Seite eines Diptychons über von Gott zugelassene Vergehen dar. In V. 14b ist vermutlich ein Stichos ausgefallen, der die Taten des Diebs entfaltete (vgl. Jer 49,9).127 Für die in V. 15–16 vorgeschlagene neue Versteilung sprechen der Numeruswechsel in V. 16 sowie die parallele Beschreibung des Ehebrechers in Sir 23,18 (G) und PsSal 4,5.128 Der Dreiklang „Mörder“ (V. 14a), „Dieb“ (V. 14b.#) und „Ehebrecher“ (V. 15a.15b.16a*), die in der nächtlichen Dunkelheit ihr Unwesen treiben, ist stereotyp und berührt sich mit den drei Kurzverboten des Dekalogs in Ex 20,13–15 (par. Dtn 5,17–19).129 Es ist geradezu ein Signum der in Kap. 21 und in ähnlichen weisheitlichen Texten beschriebenen r ešāʿîm („Gottlose“), dass diese die Armen und Elenden töten (vgl. Ps 37,14; 94,3–8). Mit V. 16b und 17a folgt ein zu V. 13 paralleles, allgemein formuliertes Summarium, das sich auf alle drei genannten Verbrechertypen bezieht und diese in ihrer Vertauschung von Tag und Nacht, Licht und Finsternis als Angehörige des lebensfeindlichen „Todesschattens“ (ṣalmāwæt) kennzeichnet (vgl. Jes 5,20). Damit besteht V. 13–17a aus zwei Vgl. Num 14,9; Jos 22,16.18.19; Ez 2,3; 20,38, Dan 9,9; Neh 9,26. Vgl. Tg zu 3,16–17; 5,7 (Tg2); 11,8; 30,4; 36,33 (Tg1); 37,21 (Tg2); Mangan, Targum, 15. Hartley sieht diese Entfaltung in V. 16b und stellt dementsprechend um. 128 Vgl. Hi 31,9; SapSal 14,25–26. Zur Szenerie vgl. auch Spr 7,7–10. 129 Vgl. Jer 7,9; Hos 4,2; 1Kön 21,19; Spr 6,27–35; siehe auch Ps 50,18 sowie zu V. 15 Sir 23,18 (G). 125 126 127
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generell gefassten Trikola mit dem Terminus „Licht“, die den Abschnitt rahmen (V. 13; 16aβ+17a), und vier Bikola, die Verbrecher in der Nacht und in der Finsternis beschreiben. Der textkritisch nicht zu beseitigende Numeruswechsel von V. 17a zu V. 17b deutet darauf hin, dass mit V. 17b ein neues Subjekt eingeführt wird. Die Wiederholung des Begriffs „Schatten“ sowie die Parallele zu 34,25(–28) legen es nahe, in V. 17b „Gott“ als implizites Subjekt zu vermuten, das in V. 18aα mit dem betonten hûʾ (vgl. 23,13) unterstrichen wird. V. 17b ist dann Teil eines antithetischen Neuansatzes. Er bildet zusammen mit V. 18aα die Überschrift zu der in V. 18aβ–24 entfalteten göttlichen Bestrafung der Frevler. Sie, die nicht das Licht kennen (nākar Hif., V. 13), werden von dem, der auch die Finsternis und ihre Schrecken durchschaut (nākar Hif., V. 17b, vgl. Sir 15,19; SapSal 1,8–9), gerichtet. V. 17b–18a dient so, wie V. 13, als eine allgemein formulierte Themenangabe: Sie benennt Gottes Fähigkeit zum Gericht (V. 17b) und (soweit textlich rekonstruierbar) seine Tätigkeit als Richter, der sich schnell gegen die Frevler erhebt (V. 18a). Damit scheint nun Hiob doch den Freunden und der von ihnen vertretenen Vorstellung, dass Gott an den Vorgängen auf der Welt nicht uninteressiert sei und in diesem Leben unverzüglich und gerecht richte,130 zuzustimmen und sich selbst zu widersprechen (vgl. 24,12; 21,17). Da kein Hinweis auf eine Zitation bzw. Ironisierung der Freunde oder auf einen radikalen Stimmungsumschwung Hiobs vorliegt, wie es für einzelne Klage- und Bittgebete typisch ist,131 dürfte es sich, wie in 19,28–29, um eine seitens eines Redaktors eingefügte Selbstkorrektur Hiobs handeln: So bekennt sich Hiob nun doch grundsätzlich zur gerechten Vergeltung Gottes (vgl. 22,13), selbst wenn er diese in seinem eigenen Leben noch vermisst. Diese Passage gehört aufgrund ihrer textlichen Schwierigkeiten, vor allem hinsichtlich der unbestimmten Subjekte (Gott, Mensch; Wechsel zwischen Sg. und Pl.), zu den inhaltlich besonders umstrittenen Abschnitten des Hiobbuches. Nach der hier vorgeschlagenen Deutung entfalten vier responsorisch aufeinander bezogene Einheiten (V. 18aβ–19|20|21–22|23–24) die göttliche Bestrafung der Frevler, und zwar im Modus der Beschreibung,132 nicht eines Wunsches133.
Vgl. Hi 4,9; 8,3; 11,11; 18,21; 20,23.29; 22,29; Ps 94,1–2; Mal 3,5. Vgl. Ps 6,9; 13,6; 22,23; 54,8; 57,8; 59,17–18 – zur Deutung dieses Phänomens siehe U. Rechberger, Von der Klage zum Lob. Studien zum „Stimmungsumschwung“ in den Psalmen, WMANT 133, Neukirchen-Vluyn 2012. 132 Vgl. Fohrer; Strauß. 133 So aber Hartley (für V. 19–23), teilweise auch Weiser (für V. 19–20aα ) und J. Gray (für V. 20a.22.23a). 130 131
24,17b– 18aα
24,18aβ– 24
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Der Ankündigung der Zerstörung des Lebens- und Wirtschaftsraums in V. 18aβ.b, für den exemplarisch der Acker und der Weinberg (vgl. V. 6) stehen,134 folgt die in einen Naturvergleich135 gefasste Sentenz zum Ende der Sünder selbst in V. 19, die vom „Fluss (šælaḥ conj.) der Unterwelt“136 verschlungen werden. Wie mehrfach in den Untergangsszenarien der Freundesreden finden mythische Bilder einer über den Alten Orient und den griech.-ägäischen Raum weit verbreiteten Unterweltstopographie ihre Anwendung.137 Die doppelte Ankündigung des Vergessenwerdens in V. 20a (vgl. 18,17) enthält gleichfalls ein Grabmotiv (rîmmāh).138 Sie mündet in einer Sentenz zur Vernichtung des Frevels (ʿawlāh) (V. 20b, vgl. Ps 10,15; 37,17), die wiederum ein Bild aus der Natur139 entlehnt. Kolometrisch handelt es sich offenbar um zwei Kurzbikola (V. 20aα|20aβ.b). Die ebenfalls antithetisch aufeinander bezogenen V. 21–22 und 23–24 beschreiben das Bewahren der Wehrlosen (V. 21) und Niederschlagen der Mächtigen (V. 22) bzw. als ein kurzfristiges Gewährenlassen und Sich-inSicherheit-Wiegen der Frevler (V. 23), dem deren baldige Vernichtung folgt (V. 24). Das handelnde Subjekt wird nicht ausdrücklich genannt. Die Motivik (v.a. in V. 21 und in V. 23b) sowie die Parallelen in den Reden der Freunde sprechen dafür, dass wie in V. 18aα Gott gemeint ist. Bezeichnenderweise trägt Gott hier den Titel „Hirte“ (roʿæh, V. 21), der in der Gebetssprache beheimatet ist und der für machtvollen Schutz und Wahrung des Lebens steht (Ps 23,1; 80,2; Jes 40,11). Als solcher tritt Gott als Hilfe der zu den personae miserae einer antiken Kultur zählenden Unfruchtbaren und Witwen auf (V. 21, vgl. 1Sam 2,5; Ps 113,9). Damit setzt nun Hiob einen kräftigen Kontrapunkt zu seiner Beschreibung der ausgebeuteten Waisen und Witwen in 24,3–4 und zu seiner These eines am Geschehen in der Welt uninteressierten Gottes in 24,12. Er stellt sich gewissermaßen auf die Seite des Beters von Ps 146,9 und bekennt jetzt wie der Psalmist – entgegen seiner Ausführungen wenige Verse zuvor – die machtvolle (koaḥ, vgl. 23,6)140
134 Vgl. Num 16,14; Neh 9,25; Jes 36,17; Jer 12,10; SprLXX 9,12a–c (bei dieser bildhaft illustrierten Mahnung gegen die Lüge, die sich eng mit Motiven von Hi 24,18–20 berührt, handelt es sich um eine über den MT hinausgehende Spruchreihe in der LXX). 135 Vgl. Hi 6,15–17; 7,9; 8,11–12; 14,11. 136 Zum „Fluss der Unterwelt“ vgl. Hi 33,18; 36,12; ug. Kirta-Epos (KTU 1.14) I,21 (šlḥ „Schalch“, vgl. TUAT III, 1218 – anders TUAT.NF VIII, 242: „Schwert“); BT 16–17 (TUAT III, 147: „Chubur- Fluss“); Homer, Od. 10, 512–513; Sappho, frgm. 65,10; Alkaios, frgm. 38a, 2–3.8; Aischylos, Sept. 856; Sophokles, Ant. 811–812; Platon, Phaid. 112a–113c; siehe dazu auch Cornelius, 290 (mit Abb. 70); West, East Face, 155f. 137 Vgl. Hi 18,14; 33,18; 36,12; Kirta-Epos (KTU 1.14–16) I,i,18–25 (TUAT.NF VIII, 242). Zur Deutung von Hi 24,19–20 als chtonisch gefärbte Mythologeme vgl. Fuchs, Mythos, 180. 138 Vgl. Hi 17,14; 21,26; Jes 14,11. 139 Vgl. Hi 19,10; Ex 9,25; Ps 105,33. 140 Vgl. zudem Hi 26,12; 36,22; Dtn 4,37.
Hi 23–24 Die siebte Rede Hiobs
385
Vernichtung der Gewalttätigen (vgl. Ps 147,6). Offenbar rechnet Hiob jetzt doch wie seine Freunde mit einer Erhebung (qûm) Gottes zum Gericht an den Frevlern (V. 22bα).141 Doch während dem einzelnen Frevler dieses Gericht den Lebensmut nehmen wird (V. 22bβ, vgl. 15,22; Dtn 28,66), erhofft sich Hiob von einem solchen Erscheinen Gottes neues Leben (vgl. 19,25; 31,14). Auch wenn Hiob dies hier nicht ausdrücklich sagt, so ergibt sich dieses Bild der Hoffnung doch indirekt vor dem Hintergrund von 16,19–20; 17,13–16; 19,25–26 und 23,2–13. Den Abschluss der kleinen Gerichtsszene, die mit 24,17b einsetzt, bildet ein Tristichon, das ebenfalls ein Phänomen aus der Flora heranzieht, um am Beispiel leicht zu knickender Halme und schnell verwelkender Ährenspitzen die Kurzlebigkeit des Glücks der Frevler zu verdeutlichen (V. 24).142 Damit stimmt Hiob nun – entgegen seiner Position in 21,8 – auch dem bereits von Eliphas ausgeführten weisheitlichen Gedanken der von Gott veranlassten Erhöhung und Erniedrigung zu (5,11–16, vgl. 1Sam 2,7; Sir 11,4–6). Wie die motivischen Verflechtungen zwischen den jeweiligen Verspaaren in V. 17b–24 zeigen, handelt es sich um eine zwar textlich schlecht überlieferte, inhaltlich aber in sich geschlossene Beschreibung des Untergangs der Frevler, wie sie sich ähnlich in den Freundesreden des zweiten Redegangs findet. Es fehlt nur, dass Hiob wie die Betenden von Ps 75,8 und 94,1–2 oder Sir 35,15 ausdrücklich bekennt, dass Gott der Richter ist. Der Abschlussvers des Monologs Hiobs erinnert formal an das sekundäre 24,25 Kolon 9,24b und verleiht mit seiner rhetorischen Frage den vorangegangenen Versen den Charakter der Streit- und Lehrrede (millāh, vgl. 13,17; 21,2), die mit einem direkten (menschlichen) Gegenüber rechnet. Dadurch steht V. 25 in Spannung zur Redeeröffnung in 23,2, welche die folgenden Verse als eine ausschließlich an Gott gerichtete Klage und Anklage kennzeichnet (vgl. 24,12). Somit gehört der Vers zu den gerechtigkeitstheologischen Ergänzungen zu dieser Rede, aufgrund derer es den Freunden nun sehr schwer fallen wird, Hiob noch etwas zu entgegnen, vertritt er doch zuletzt wie sie die Vorstellung eines die Gerechtigkeit in dieser Welt wahrenden Gottes. Betrachtet man die stilistisch und inhaltlich aus Kap. 24 herausfallenden Rückblick V. 5–8.9.13–17.18–24.25 als eine (mehrschichtige) Fortschreibung, so bietet Kap. 23–24 in seinem Grundbestand einen zweiteiligen Monolog, der ein Seitenstück zu Hiobs Beschreibung des glücklichen Lebens der Frevler in Kap. 21 darstellt. Hiob gelangt nun von seinem Wunsch der Gottesbegegnung und seinem Bekenntnis der eigenen Unschuld zur Klage über Gottes unberechenbare Macht und zur Anklage Gottes, der den Frevel in der Welt ungestraft dul-
141 142
Vgl. Hi 31,14; Ps 10,12; 68,2; Jes 28,21. Vgl. Hi 8,12; 15,30–33; 18,16; Ps 37,2.10; 90,6; Jes 40,8.
386
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
det (vgl. 9,24). Die Rede bildet damit eine erste Antwort Hiobs auf die durch Eliphas an ihn gerichtete Beschuldigung sozialen Fehlverhaltens und bekennt sich in Aufnahme von 22,22 zur Treue gegenüber der Torah. So bezeichnet Hiob die zuvor gegen ihn erhobenen Vorwürfe der Misshandlung der Witwen und Waisen (22,6.9, vgl. 24,2–3.[9]), der Bedrückung des Landes (22,8, vgl. 24,2.4), der fehlenden Bekleidung der Armen (22,6, vgl. 24,[7].10a) und des Hungers und Durstes der Armen (22,7, vgl. 24,10b–11) jetzt gleichsam objektiv als Taten der Frevler. In seinem abschließenden Lebensrückblick (Kap. 29) und Reinigungseid (Kap. 31) widerlegt Hiob in einer zweiten Antwort die Anschuldigungen des Eliphas ausdrücklich und untermauert noch über 23,11–12 hinausgehend seinen Gehorsam gegenüber den Geboten der Torah. Damit besitzt die Rede Hiobs in Kap. 23–24* die doppelte Funktion, den von Eliphas geführten Angriff auf Hiob zu entindividualisieren („nicht ich, sondern die Frevler“) und die Anklage gegen Gott zu verstärken: Gott segnet nicht nur die Frevler (21,7), sondern schweigt auch angesichts des Hilferufes ihrer Opfer (24,12). Die später in Kap. 23–24 eingefügten Abschnitte dienen einerseits als Exkurse über die Armen und über bestimmte Verbrechen, andererseits als Bekenntnis Hiobs zu einem Gericht Gottes an den Frevlern in der Welt (vgl. 19,28–29). Die Identifikation der Frevler mit armen Steppenbewohnern (‚outlaws‘) in 24,5–8 hat ihre nächste Parallele in dem sekundären Abschnitt 30,1b–8. Die Beschreibung der lichtscheuen Verbrecher in 24,13–17a und die Ankündigung ihrer Bestrafung in V. 17b–24 besitzt in dieser Motivkombination innerhalb des Hiobbuches eine direkte Parallele in den ebenfalls sekundären Elihureden.143 Demgegenüber steht 34,28–29 in einem scharfen Gegensatz zu dem hier als original beurteilten 24,12. Mit dem Bekenntnis zu der noch in Kap. 21 und in 24,1–4.10–12 geleugneten immanenten Vergeltung in 24,17b–24,24 erscheint nun auch Hiob als Vertreter der Gerechtigkeit Gottes und nimmt so den Freunden den Wind aus den Segeln (24,25). Somit bleibt die Frage, wie sich die Gerechtigkeit Gottes für Hiob selbst verwirklichen wird.
143 Vgl. Hi 24,13 mit 34,27; 24,15–17a mit 34,22; 24,17b mit 34,25; 24,22 mit 34,20b; 24,23 mit 34,21.
Hi 25 Die dritte Rede Bildads
387
Hi 25 Die dritte Rede Bildads 25,1 Und Bildad der Schuachiter hob an und sagte: 2 3 4 5 6
NR
Herrschaft1 und Schrecken2 sind bei ihm3, der Frieden schafft4 in seinen Höhen. Gibt es etwa eine Zahl5 für seine Truppen, und über wem erhebt sich nicht sein Licht6? Und wie kann der Mensch bei El gerecht sein, und wie kann der von der Frau Geborener rein sein? Wenn7 sogar8 der Mond nicht hell scheint9 und die Sterne nicht rein in seinen Augen sind, wieviel weniger der Mensch, die Made, und das Menschenkind, der Moder.
Nõmmik, U.: Die Freundesreden des ursprünglichen Hiobdialogs. Eine form- und traditions- Literatur geschichtliche Studie, BZAW 410, Berlin/New York 2010. – Witte, M.: Philologische Notizen zu Hiob 21–27, BZAW 234, Berlin/New York 1995. – Ders.: Vom Leiden zur Lehre. Der dritte Redegang und die Redaktionsgeschichte des Hiobbuches, BZAW 230, Berlin/New York 1994. – Wolfers, D.: The Speech-Cycles in the Book of Job, VT 43 (1993) 385–402.
Hi 25 bietet eine kunstvoll aufgebaute anthropologische und theologische These, aber keine mit den vorangegangenen Reden vergleichbare Komposition. V. 2 und 6 bzw. 3 und 5 ordnen sich paarweise um die zentrale Aussage zum Wesen des Menschen im Gegenüber zu Gott in V. 4. Diese ist stilistisch vierfach herausgehoben: 1) durch ein ausgeglichenes kolometrisches Verhältnis, 2) durch den sich vom unmittelbaren Kontext abgrenzenden Beginn mit Waw-Apodosis, 3) durch die identische Konsonantenzahl der Rahmenverse (V. 2–3 bzw. V. 5–6) und 4) durch eine in diesem Abschnitt einmalige Gottesbezeichnung (ʾel), die exakt in der Mitte der V. 2–6 steht. Wie in den unmittelbaren Paralleltexten 4,17–19 und 15,14–16 werden die Stilmittel eines Schlusses
1 Der Inf. abs. Hif. hamšel ist als Substantiv gebraucht (vgl. G/K § 113b; J/M § 123b; Jes 14,23; 1Sam 15,23). 2 11QTgHi: „Größe“ (rbw). 3 Gemeint ist Gott (vgl. Hi 9,3.14; 12,13.16; 22,21; 23,7; 37,18); 11QTgHi bietet explizit ʾlhʾ „Gott“. 4 Zur Auslassung eines ausdrücklichen Subjekts nach Partizip vgl. J/M § 154c. 5 11QTgHi: „Sicherheit/Gewissheit“ (rḥṣn); auch LXX („Aufschub“) unterscheidet sich vom MT; zur Diskussion siehe Witte, Notizen, 124f; Ders./Kepper, LXX.E II, 2101. 6 Zur seltenen Suffixbildung ʾôrehû vgl. G/K § 91d; J/M 94h; zur Beibehaltung des MT vgl. die Auslegung. 7 Zur Einleitung eines Konditionalsatzes mit hen siehe die Anm. zu Hi 4,18. 8 ʿad ist hier asservativ gebraucht (vgl. Hi 5,9; 9,10; CTAT 50/5, 245). 9 jaʾ aḥîl geht auf ʾhl II, eine einmalig im MT belegte Nebenform zu hll, zurück.
Aufbau und Sprachformen
388
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
a maiore ad minus und einer Hyperbel angewendet. Wie in diesen Abschnitten sind hymnische und juridische Sprachformen gemischt. Text- und In LXXZi ist V. 6b asterisiert. Im ,kirchlichen Text‘ der LXX stammt er wohl Literar- aus Th.10 In 11QTgHi sind die Verse teilweise erhalten. HsK196 weist als eingeschichte zige bisher bekannte Handschrift Kap. 25 einer Hiobrede zu, indem sie in V. 1 anstatt bildad haššuḥî den Namen ʾijjôb liest. Dies ist entweder ein durch 26,1 bedingter Schreibfehler oder ein sehr junger redaktioneller Eingriff. Gegen die Ursprünglichkeit der aus dem 12. Jh. stammenden HsK196 spricht die geschlossene Unterstützung der Lesart des CodL durch alle anderen bekannten Hss und die antiken Versionen. Insofern ist es verfehlt, auf der Basis dieser singulären Überschrift 25,2–6 (zusammen mit 26,5–14) als eine (wenn auch sekundäre) Rede Hiobs zu betrachten.11 Während die Bildad- und Zopharreden des ersten und zweiten Redegangs dem Muster einer argumentativen Teilhabe an den jeweils vorangegangenen Eliphasreden folgen und inhaltlich das Leiden Hiobs im Rahmen einer in „Frevler und Gerechte“ geschiedenen Menschheit deuten, findet Kap. 25 seine nächsten Parallelen in den sekundären Stücken 4,17–19 und in 15,14–16. Insofern 25,2–6 von diesen Passagen abhängt, ist 25,1 ebenfalls sekundär und damit die ganze dritte ,Rede‘ Bildads eine jüngere Komposition. Sie ist wie 4,12– 21 und 15,11–16 ein Teil der Niedrigkeitsredaktion, der ersten umfassenden Bearbeitung der (noch selbstständigen) Dichtung.12 In der Buchgestalt der Niedrigkeitsredaktion folgte die dritte Bildadrede auf Hiobs harte Anklage Gottes in 24,12. Durch die redaktionsgeschichtlich jüngere Fortschreibung in 24,13–25 seitens der Gerechtigkeitsredaktion erscheint Hi 25 in der ‚Endgestalt‘ als eine Reaktion auf die gesamte vorangehende Rede Hiobs in Kap. 23–24, die sie um die kosmische Dimension des Handelns Gottes und eine grundsätzliche anthropologische Stellungnahme ergänzt. 25,1–6 Das Wesen Gottes und des Menschen 25,1 Auch wenn Kap. 25 über keine Anrede Hiobs und der Freunde verfügt, so zeigt die Überschrift (vgl. 8,1; 18,1) doch, dass der für die Einfügung der folgenden Verse verantwortliche Redaktor diese als eine Rede im Zusammenhang des Dialogs verstanden haben möchte. Dabei hat sich die Perspektive Bildads im Vergleich zu seiner zweiten Rede genau umgekehrt: Stand im Zentrum Zur Diskussion der Herkunft siehe Meade, Edition, 272. So aber Strauß, 102–105, im Rahmen des von ihm für die Kap. 22–28 vermuteten sekundär entstandenen „Werkstattgesprächs“. 12 Siehe dazu die Einleitung S. 53f und ausführlich Witte, Leiden, 59–62; 91–114, sowie im Anschluss daran Nõmmik, Freundesreden, 65–68, und mit Modifikationen Wanke, Praesentia Dei, 388–391 (Rückführung von 25,1–6 – wie 4,12–21 und 15,11–16 auf die „Elihu-Redaktion“), sowie Vermeylen, Métamorphoses, 328–330 (Rückführung von 25,1–6 wie 4,12–21 und 15,11–19 auf eine „dritte Buchredaktion“). 10 11
Hi 25 Die dritte Rede Bildads
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von Bildads zweiter Rede das Schicksal des einzelnen exemplarischen Frevlers, so tritt jetzt die grundsätzliche Bestimmung des Menschen als Frevler in den Mittelpunkt. Dieser Wechsel entspricht spiegelbildlich der Thematisierung der conditio humana in den Reden Hiobs in Kap. 7; 14 und 16–17 einerseits und der Konzentration auf das Glück und ungestrafte Treiben der Frevler in den Reden Hiobs in Kap. 21 und 24 andererseits. Mit der hymnischen Prädikation, allein bei Gott sei Herrschaft und Schre- 25,2–3 cken,13 reagiert Bildad auf Hiobs Beschreibung des von Gott zugelassenen Chaos in der Welt. Er betont Gottes Macht, die im Kosmos Ordnung schafft und sein Richten einschließt (vgl. 21,22; 22,12 versus 24,12). Hiobs Kennzeichnungen Gottes als Krieger in 16,7–14 und 19,10–12 stellt Bildad das Bild eines kosmischen Friedensstifters gegenüber. Motivgeschichtlich steht im Hintergrund die mythische Vorstellung eines Götterkampfs.14 Indirekt könnte Hiob, der eine Begegnung mit dem himmlischen Richter sucht (23,2–9), aus 25,2 die Zusage heraushören, doch wieder seine Integrität (šālôm) erlangen zu können. Denn der Bildad der Niedrigkeitsredaktion nimmt durchaus die Hoffnung Hiobs auf einen Beistand in den „himmlischen Höhen“ (16,19–20) und auf die Erhebung des göttlichen Richters (19,25) sowie die Klage Hiobs über die von Gott ausgehenden Schrecken und Finsternis auf (23,14–15). Er kontrastiert diese aber mit dem als rhetorische Frage gestalteten Lobpreis auf den göttlichen Lichtglanz, verdeutlicht an den unzählbaren „Scharen“ (g edûd) seiner Sterne und dem alles überstrahlenden Licht Gottes. Dass das Wort g edûd hier nicht primär im angelologischen Sinn für Engel steht (vgl. 19,12),15 sondern im kosmologischen Verständnis für die Sterne, zeigt sich am Parallelismus mit „Licht“ (ʾôr), an der Nennung von „Mond“ (jāre aḥ) und „Sternen“ (kôkābîm) in V. 5 sowie an der Parallele in Ps 147,4–5.16 Wenn sich tatsächlich Gottes Licht über alle erhebt,17 dann könnten sich die Hiob von Eliphas gegebene Verheißung, dass Gottes Licht wieder über seinem Weg strahlen werde (22,28), und die von Hiob – auf der Ebene der Gerechtigkeitsredaktion – beschriebene göttliche Bestrafung der „Feinde des Lichts“ (24,13–24) auch ereignen.18 In diesem Sinne erscheinen die Eingangsverse der dritten Rede Bildads dann als Weiterführung der letzten Rede des Eliphas (22,28), als Korrektur des ersten und zweiten Teils der letzten Rede Hiobs (23,2–17; 24,1–12*) sowie als Zustimmung zu den Nachträgen zu der letzten Rede Hiobs (24,13–25). 13 Vgl. Ps 22,29; 59,14; 66,7; 89,10; 103,19; Jes 40,10; Ri 8,23; 1Chr 29,12; 3Hen 42,7 (als Zitat von Hi 25,2). 14 Vgl. dazu Fuchs, Mythos, 133–139. 15 Vgl. Sir 48,9 (HB); Mi 4,14; Gen 28,12; 1Kön 22,19; 1Chr 7,4; 2Chr 26,11; 1Hen 18,15; 80,6. 16 Vgl. Jes 40,26; Jer 33,22; Sir 43,8 (HM/B). Zu den Sternen als Bild für eine unzählbare Menge vgl. auch Gen 22,17; 26,4; Ex 32,13; Nah 3,16 u.ö. 17 Vgl. Ps 36,10; Sir 23,19 (G); 42,16 (HM/B). 18 Aufgrund dieser Bezüge sollte auch ʾôrehû in Hi 25,3 nicht in ʾimrehû/ʾimrô („sein Wort“, vgl. Sir 43,10 [HM/B]; BHK) oder nach LXX (und möglicherweise 11QTgHi) in ʾôr ebô („sein Hinterhalt“, so Hölscher; Fohrer; J. Gray) geändert werden.
390 25,4–6
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Doch die isoliert aus V. 2–3 ableitbare Zukunftsperspektive für Hiob besteht letztlich nicht. Denn im Zentrum seiner kleinen „Rede“ wiederholt Bildad das Motiv der kreatürlichen Unwürdigkeit des Menschen und der fehlenden Gerechtigkeit des Menschen vor Gott (V. 4, vgl. 4,17; 15,14). Damit weist Bildad den von Hiob zuletzt geäußerten Wunsch nach der Begegnung mit Gott zum Rechtsstreit und dessen Bekenntnis zur eigenen Unschuld und Frömmigkeit (23,3–7.10–12) grundsätzlich zurück. Wie in den entsprechenden Zusätzen zur ersten und zweiten Eliphasrede geht es hier nicht nur um die Möglichkeit eines Rechthabens des Menschen gegenüber Gott.19 Vielmehr geht es in einem wesensmäßigen Sinn um ein Gerechtsein.20 Dies zeigen die Verwendung der Wörter zākāh (V. 4b, vgl. 15,14) und zākak (V. 5b, vgl. 15,15), bei denen neben dem religiös-ethischen Moment der Aspekt des kultischen Reinseins mitschwingt,21 und die mit V. 3 korrespondierenden kosmologischen Vergleiche in V. 5: Reinheit vor Gott ist grundsätzlich unmöglich (vgl. 11,4). An der Variation der Vergleichsgrößen (in 4,18 die Engel, in 15,15 die Engel und der Himmel, in 25,5 der Mond und die Sterne) lässt sich gemäß dem Weltbild des antiken Israel auch ein Gefälle der Nähe zu Gott („Engel – Himmel – Sterne“) ablesen.22 Der Bildad der Niedrigkeitsredaktion weist hier auch die zuletzt von Eliphas geäußerte Mahnung, Hiob solle von sich aus Frieden mit Gott erwirken (22,21, vgl. 5,24), und dessen Abschlusswort, dass der Unschuldige aufgrund der „Reinheit seiner Hände“ von Gott gerettet werde (22,30), energisch zurück. Die Schlussfolgerung in V. 6, gemäß der der Mensch anthropologisch und ethisch nur Gewürm (rimmāh, tôleʿāh) sei,23 bildet den betonten Kontrapunkt zur hymnischen Prädikation der Macht Gottes in V. 2 und zum letzten Wort des Eliphas in 22,30. Offenbar greift der Niedrigkeitsredaktor in seiner Konklusion auch bewusst die in Hiobs Äußerung seiner Hoffnung auf Gott als seinen Freund in den himmlischen Höhen gebrauchte Wendung des „Menschensohns“ (bæn-ʾādām) auf (V. 6b, vgl. 16,21). Wie in 16,21 ist die Wendung nicht in einem spezifischen Sinn für eine besondere (himmlische) Mittlergestalt gemeint,24 wie sie sich in frühjüdischen apokalyptischen
So aber z.B. Horst; Terrien; Lévêque, Job, I, 261f. So auch die Mehrheit der neueren Ausleger. 21 Vgl. Hi 9,30; Jes 1,16; Ex 27,20; 30,34; Lev 24,2.7; A. Negoita/H. Ringgren, Art. zāḵāh, zkk, ThWAT II (1977) 569–571. 22 Vgl. dazu auch Fuchs, Mythos 133–135. Houtman, Himmel, 171f, nivelliert diese Abstufung durch eine Gleichsetzung der in Hi 4,18; 15,15 und 25,5 genannten Größen und durch die Behauptung, zwischen den Himmelsbewohnern und dem Himmel mit seinen Himmelskörpern sei nicht klar unterschieden worden. 23 Zu dieser komplexen Bedeutung von tôleʿāh/tôleʿat vgl. Jes 66,24. zum Wortpaar rimmāh und tôleʿāh im Kontext des Ausblicks auf den Tod des Menschen vgl. biblisch Jes 14,11 sowie rabbinisch mAv III,1. 24 S.o. S. 278f. 19 20
Hi 25 Die dritte Rede Bildads
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Schriften und im NT findet, sondern steht einfach für den Menschen als Geschöpf, allerdings mit der Möglichkeit der speziellen Anwendung auf Hiob (vgl. 35,8). Wenn aber der Mensch gegenüber Gott grundsätzlich den Status des Sünders hat, stellt sich die Frage, ob und wie überhaupt eine Beziehung zwischen Gott und Mensch möglich ist. Auf die göttliche Barmherzigkeit, an die einzelne Beter der Psalmen, die gleichfalls auf ihre geschöpfliche Minderwertigkeit verweisen, appellieren (vgl. Ps 103,13–17), oder auf eine von Gott selbst vorgenommene Reinigung und Rechtfertigung des Menschen (vgl. Ps 51,3–9), kommt Bildad nicht zu sprechen. Eine charakteristische Differenz weist die LXX in V. 4 auf, indem der griech. Übersetzer auf die Unmöglichkeit des Menschen verweist, sich selbst zu reinigen (ἀποκαθαρίζομαι). Demgegenüber steht die sich im frühen Judentum entwickelnde Vorstellung, dass Barmherzigkeit bzw. Almosen vom Tode erretten und von der Sünde reinigen (Tob 12,9, vgl. Spr 15,27LXX; Dan 4,24 LXX; Sir 3,30 [HA]). Dabei handelt es sich in Hi 25,4 und Tob 12,9 um die einzigen Belege für ἀποκαθαρίζομαι in der LXX.25
So offenbart der von Bildad gepriesene Lichtglanz Gottes nur die grundsätzliche Inferiorität des Menschen. Der Erwartung Hiobs, Gott als seinen Erlöser und Richter zu sehen (16,19–20; 19,25–26), wird der Boden entzogen. Hiob, der selbst um die geschöpfliche Hinfälligkeit weiß (vgl. 13,28; 14,1–12), der seine Beziehung zu Gott aber unter allen Umständen aufrechterhalten will, und der sich selbst dem Tod nahe und damit als von der Möglichkeit, Gott zu loben, ausgeschlossen erlebt,26 ist damit nicht geholfen. Die dritte Bildadrede signalisiert mit ihren fehlenden Anreden Hiobs und ihrer Wiederholung von bereits zweimal Gesagtem in der ‚Endgestalt‘ des Buches auch das Ende der Weisheit der Freunde. Kap. 22 ist, wie oben dargestellt, als eine Abschlussrede gestaltet, die sich formal und inhaltlich eng an die erste Eliphasrede anlehnt. Daher ist es unwahrscheinlich, dass 25,2–6 den Platz einer ‚originalen‘ dritten Rede Bildads eingenommen hat. Der resultative Charakter von Kap. 22 zeigt, dass in der ursprünglichen Hiobdichtung keine dritte Rede Bildads vorlag. Wenn aber ursprünglich keine dritte Rede Bildads vorhanden war, so gab es auch keine dritte Rede Zophars. Damit sind Versuche, eine vollständige dritte Rede beider Freunde aus Teilen von Hiobreden in Kap. 24 oder Kap. 27 zu rekonstruieren, verfehlt.27 Aber auch die literarkritische und redaktionsgeschicht-
Vgl. dazu ausführlich Witte, Texte und Kontexte, 225–243. Vgl. 11QPsa XIX,1–2; Ps 6,6; 88,11–12. 27 Siehe dazu die forschungsgeschichtliche Übersicht bei Witte, Leiden, 25–36; 239–247, die u.a. um die (methodisch problematischen) Rekonstruktionsversuche von Clines (Hi 25,1–26,14 als dritte Rede Bildads, 27,7–10.13–17; 24,18–24; 27,18–23 als dritte Rede Zophars) und Fox, Speaker, 21–38 (Hi 28 als dritte Rede Zophars) zu ergänzen ist; siehe dazu auch die Einleitung, S. 47f. 25 26
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liche Annahme, Kap. 25 sei die sekundäre Imitation28 der ursprünglichen Abschnitte in 4,17–19 und 15,14–16, scheitert daran, dass Kap. 25 von derselben Hand stammt wie diese Stücke. Für die Kompositionsgeschichte der Hiobdichtung bedeutet dies, dass es ursprünglich neben den drei Reden des Eliphas nur die jeweils parallel strukturierten und sich an den Reden des Eliphas ausrichtenden Reden des Bildad in Kap. 8 und 18 und des Zophar in Kap. 11 und 20 gegeben hat. Die von der Niedrigkeitsredaktion verfasste dritte Bildadrede hat als die im kanonischen Hiobbuch nun letzte Freundesrede die Funktion des Abschlusswortes von der Freundesseite aus Kap. 22 übernommen. Dem jetzt zum dritten Mal vertretenen Motiv von der kreatürlichen Unwürdigkeit und Ungerechtigkeit des Menschen vor Gott kommt damit eine besondere kompositionelle und theologische Bedeutung zu. So wird durch Hi 25 (wie durch 4,17–19 und 15,14–16) die Argumentation der ursprünglichen Freundesreden korrigiert, aber auch sachlich erweitert. Mit der Positionierung von Kap. 25 vor den (ursprünglichen) Herausforderungsreden Hiobs in 27,1–6; 29,2–31,35* sind auf der Stufe der Niedrigkeitsredaktion das Unschuldsbekenntnis Hiobs in 27,2–6 und dessen Reinigungseid in Kap. 31 erheblich relativiert worden. Kompositionsgeschichtlich wurde mit der Einfügung einer zusätzlichen Freundesrede der Keim für eine Umgestaltung des einen Abschlussgesprächs zwischen Hiob und Eliphas zu einer Fortsetzung der Streitgespräche gelegt. Bereits das folgende Kap. 26 verdankt sich vollständig einer durch die Einfügung von Hi 25 veranlassten und auf diese reagierenden Fortschreibung. Damit wird auf der Ebene dieser Fortschreibung die ursprüngliche Tendenz von Hi 25 seinerseits modifiziert.
28 Vgl. schon L. Laue, Die Composition des Buches Hiob. Ein litterar-kritischer Versuch, Halle 1895/6, 71, sowie Mende, Leiden, 179 und Strauß, 60; 73; 104–107, die nur Kap. 25 für das Produkt eines Nachbearbeiters hielten, und Baumgärtel, Hiobdialog, 146, der auch 15,14–16 als „bloße Variation“ des allein ursprünglichen Abschnittes 4,17–19 betrachtete.
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Hi 26 Die achte Rede Hiobs 26,1 Und Hiob hob an und sagte: 2 Wie1 halfst du doch dem ohne Kraft und standest bei dem schwachen Arm? 3 Wie gabst du Rat dem ohne Weisheit und tatest Vernunft in Fülle kund2? 4 Wem3 verkündetest du denn Worte, und wessen Atem ging aus von dir? 5 Siehe4: Die Totengeister zittern vor ihm5, unterhalb des Wassers und seiner Bewohner. 6 Nackt liegt die Scheol vor ihm6, und keine Decke hat der Abaddon. 7 7 Er spannt den Himmel8 über Ödland aus, hängt die Erde auf über dem Nichts. 8 Er bindet das Wasser in seinem Gewölk, und die Wolke birst nicht unter seiner Last. 9 Er verbirgt9 das Angesicht (seines) Thrones10, breitet11 um ihn seine Wolke aus. 10 Einen Kreis ritzt er12 auf dem Angesicht des Wassers ein bis zum äußersten Ende des Lichtes bei der Finsternis.
1 11QTgHi formuliert dies einfach als Frage (h-). LXX und Vg gebrauchen mit jeweils charakteristischen Differenzen gegenüber dem MT und untereinander „wem“; Syr „warum“. 2 Wörtl.: „ließest wissen“ (vgl. Hi 10,2; 37,14; 38,3; 40,7; 42,4). 3 ʾæt ist hier nota accusativi (vgl. LXX; Weiser; Strauß), nicht Präp. im Sinn von „mit wessen Hilfe“ (so Fohrer; Hartley; Clines). 4 hā- ist hier im Sinn von hen gebraucht (vgl. Syr; Vg – dagegen verstehen Aq und Th dies als Fragepronomen). 5 Anstelle von j eḥôlālû (von ḥjl/hwl Polal „sie werden zum Beben gebracht/sie erbeben“) lies jāḥîlû lô (von ḥjl/hwl Qal, vgl. Ps 77,17; 97,4; Jer 51,29; Hab 3,10). 6 D.h.: Gott. 7 Der Gebrauch der Partizipien in V. 7–9(10) deutet darauf hin, dass nicht nur der einmalige Schöpfungsakt gemeint ist, so dass die Prädikate dementsprechend mit einem Vergangenheitstempus zu übersetzen wären (so aber z.B. Bobzin, Tempora, 339; Clines), sondern die stete Bewahrung der Welt. 8 Oder: „den Norden“. 9 Zu dieser Bedeutung der einmalig im AT im Piel verwendeten Wurzel ʾḥz vgl. Wagner, Aramaismen, Nr. 7a; DCH. Dagegen vermutet Seow, Hapax Legomena, 165f, ʾḥz bedeute hier „festsetzen“. 10 Die häufig vollzogene Änderung in kesæh/kesæʾ „Vollmond“ (vgl. Ps 81,4; Spr 7,20) ist unnötig (vgl. CTAT 50/5, 245–247). 11 Zur in der hebr. Bibel einmaligen Form paršez siehe Witte, Notizen, 138, und Clines. Seow, Hapax Legomena, 166f, vermutet eine Verschmelzung von zwei Varianten (prš und prz, jeweils mit der Bedeutung „bestimmen/anordnen“). 12 Anstelle von ḥoq-ḥāg „eine Ordnung zog er als Kreis“ lies ḥāq (von ḥwq) ḥûg (vgl. Hi 22,14; Spr 8,27; Sir 43,12 [HM]; 1QM X,13; ähnlich BHK [ḥāqaq]; Hölscher [ḥoqeq] und Fohrer [ḥaq]).
MR
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11 12 13
Die Säulen des Himmels müssen schwanken13 und sprachlos werden vor seinem Schelten. Durch seine Kraft beruhigte14 er das Meer, und durch seinen Verstand15 zerschlug er Rahab. Durch seinen Wind wurde der Himmel blank16, seine Hand durchbohrte die schnelle17 Schlange.
14
Wenn18 dies nur die Säume seines Weges19 sind, was für ein Flüstern ist dann das Wort20, das wir von ihm hören, und den Donner seiner Macht21, wer kann den klar verstehen?
Literatur Ayali-Dorshan, N.: The Question of the Order of Job 26,7–13 and the Cosmogonic Tradition of Zaphon, ZAW 126 (2014) 402–417. – Brüning, L.: „Lobet den Herrn, ihr Seeungeheuer und all ihr Tiefen“. Seeungeheuer in der Bibel, ZAW 110 (1998) 250–255. – Roberts, J.J.M: ṢAPÔN in Job 26,7, Bib 56 (1975) 554–557. – Witte, M.: Philologische Notizen zu Hiob 21–27, BZAW 234, Berlin/New York 1995. – Ders.: Vom Leiden zur Lehre. Der dritte Redegang und die Redaktionsgeschichte des Hiobbuches, BZAW 230, Berlin/New York 1994. – Wolfers, D.: The Speech-Cycles in the Book of Job, VT 43 (1993) 385–402.
Aufbau und Sprachformen
Kompositionell und inhaltlich ist Kap. 26 eine Sondergröße unter allen Hiob reden. Das Kapitel bildet eine in sich geschlossene, kunstvoll aufgebaute Lehrrede. Diese besteht aus drei Elementen: einer rhetorischen und ironischen Bestreitung der Überzeugungskraft eines Vorredners (V. 2–4), einer hymnenähnlichen Unterweisung (V. 5–13) und einem weisheitlichen Summarium (V. 14). Im Gegensatz zu allen anderen Hiobreden verfügt diese über keine feste Strophik.
So weit erkennbar, lässt in 11QTgHi Gott die Säulen der Erde schwanken (j]zjʿ). So nach rgʿ II in transitivem Sinn (DCH, vgl. Jer 50,34); denkbar wäre auch die Übersetzung „erregen“ nach rgʿ I (vgl. Jer 31,35; Ges18; KAHAL [mit der Annahme nur einer Wurzel rgʿ]; DCH; Weiser); zu möglichen Konjekturen siehe Witte, Notizen, 141, und Clines. 15 Anstelle des Schreibfehlers ûbitwbunātô ist mit dem Qere ûbitbûnātô zu lesen. 16 Das Substantiv šiprāh „Schönheit“ ist anstelle des Adjektivs im Sinn des Prädikatsnomens gebraucht (vgl. G/K § 141,2a; Ges18; KAHAL); eine Fülle von Konjekturen verzeichnen Witte, Notizen, 143, und Clines. 17 Oder: „leuchtende“. Zur Diskussion des Ausdrucks nāḥāš bārî aḥ siehe ausführlich Witte, Notizen, 144f, Clines („the twisting serpent“) und Brüning, Seeungeheuer, 251f. 18 Zur Einleitung eines Konditionalsatzes mit hen siehe die Anm. zu Hi 4,18. 19 Nach dem Ketib ist darkô zu lesen (vgl. Th), nach dem Qere derākâw „seine Wege“ (vgl. viele Hss; Tg; Syr; Vg; Weiser). 20 11QTgHi übersetzt šemæṣ („Flüstern“, vgl. Hi 4,12) mit ʿṭr mlʾ, was entweder gemäß ʿṭr III „rauchen“ auf das Verständnis „Rauch/Hauch eines Wortes“ (ATTM I, 287) oder gemäß ʿṭr II „aufhören“ auf die Wiedergabe „vergehendes Wort“ führt (vgl. DJD XXIII, 107f; Sokoloff, Targum, 47: „small thing“). 21 Auch hier deutet das Ketib auf einen Sg. (g ebûrātô, vgl. viele Hss; LXX; Sym; Syr; Vg; TgHss; Ps 106,8), während das Qere den Pl. vorschlägt (g ebûrotâw „seiner Machttaten“). 13 14
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In 11QTgHi sind Äquivalente zu V. 1–2 und zu V. 10–14 vorhanden. In LXXZi Text- und sind V. 5–11.14a asterisiert, das entspricht 59% des Gesamttextes.22 Die asteri- Literargeschichte sierten Verse stammen im ,kirchlichen Text‘ der LXX aus Th. Hi 26 setzt redaktionsgeschichtlich die Einfügung der dritten Rede Bildads (Kap. 25) voraus und ist damit gegenüber der ursprünglichen Hiobdichtung mindestens tertiär.23 Dass es sich bei Hi 26 um einen späteren Zusatz handelt, zeigt sich an den Parallelen zwischen dem hymnischen Abschnitt in V. 5–14 und den sekundären Abschnitten in Kap. 924 und 12 25 sowie in der tendenziellen Vorwegnahme der ersten Gottesrede in Kap. 38–3926 und der (sekundären) vierten Elihurede (vgl. besonders 36,22–37,24).27 Hi 26,5– 14 ist weder ironisch zu verstehen, sei es als Anklage Gottes,28 sei es als Verspottung Bildads,29 wie die anerkennende Schlussfolgerung in V. 14 zeigt, noch rein resignativ,30 wie an der bewundernden Schilderung der Himmelsphänomene in V. 7–8.13a deutlich wird (vgl. Ps 19,2; Sir 42,22; 43,1). Vielmehr veranschaulichen die Verse, wie Hiob vor der Hoheit des Schöpfers erschrickt, das Kaleidoskop der Schöpfung entfaltet und Gott als „Garant der Schöpfungsordnung verherrlicht“31. Hiob wird so als ein Weiser charakterisiert, der seine Freunde in jeder Hinischt belehrt und dabei über sein Leiden erhaben ist: Hiob gehört auf der Ebene dieser Redaktionsschicht zu denjenigen, die ihren Schöpfer preisen (vgl. 35,10; 36,24), auch wenn er leidet. Eine literarkritische Aufteilung von Hi 26 auf verschiedene Schichten 32 oder auf verschiedene Redner33 ist nicht geboten.
Siehe hierzu ausführlich Meade, Edition, 103–109; Gorea, Job repensé, 99–105. Vgl. Witte, Leiden, 144–154 (mit Darstellung forschungsgeschichtlicher Vorläufer); sowie mit Modifikationen Wanke, Praesentia Dei, 231–241 (nur im Fall von 26,5–14 als Teil der „weisheitskritischen Bearbeitung“) und Vermeylen, Métamorphoses, 281; 328 (mit Verteilung von 26,5–13 auf die „zweite Buchredaktion“ und 26,1–4.14 auf die „dritte Buchredaktion“). 24 Vgl. Hi 26,7 par. 9,8a; 26,9 par. 9,7; 26,11 par. 9,5–6; 26,12 par. 9,8b; 26,13 par. 9,9; 26,14 par. 9,10. 25 Vgl. Hi 26,8 par. 12,15; 26,12 par. 12,12–13; 26,13 par. 12,9; 26,14 par. 12,13. 26 Vgl. Hi 26,5–6 par. 38,16–17; 26,7 par. 38,5; 26,8 par. 38,37; 26,10 par. 38,19; 26,11 par. 38,4.6.; 26,12 par. 38,8–11. 27 Vgl. Hi 26,8 par. 37,11.16; 26,10 par. 36,30; 26,13a par. 37,10; 26,14 par. 36,29.33; 37,2– 5.14.24. 28 So Dell, Job, 132. 29 So Wolfers, Speech-cycles, 396. 30 So Budde. 31 Fuchs, Mythos, 138. Zur Verortung einzelner Verse in Theophanieschilderungen siehe Jeremias, Theophanie, 66–68; 94; 124; 137; 161, und Scriba, Geschichte, 16; 59; 123f; 130. 32 Mende, Leiden, 180; vgl. Anm. 23. Auch Strauß nimmt wohl unterschiedliche Stadien der Fortschreibung an, wenn er Hi 25,1–6 + 26,5–14 und 26,1–4 + 27,1–23 + 28,1–28 als jeweils eine Rede Hiobs im Kontext des sekundären „Werkstattgesprächs“ Hi 22–28 betrachtet. 33 So nach den älteren Versuchen, durch Textumstellung einen ursprünglichen dritten Redegang zu erhalten (siehe dazu Witte, Leiden, 25–36; 239–247), in jüngerer Zeit wieder Clines; J. Gray und K. Brown, Vision, 220 (jeweils Hi 26 als Teil der mutmaßlich ursprünglichen dritten Bildadrede, bestehend aus 25,1; 26,2–4; 25,2–6; 26,5–14) sowie Greenstein, 113 (Hi 25,1; 26,2–4; 25,4–6; 25,2–3; 26,5–14 als dritte Rede Bildads). 22 23
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26,1–4 Infragestellung menschlicher Hilfe und Weisheit 26,1 S.o. zu Hi 6,1. 26,2–4 In einer Kette von sechs rhetorischen Fragen34 wendet sich Hiob an Bildad. Eine Anrede nur eines Freundes durch Hiob findet sich lediglich in dem textlich nicht ursprünglichen Vers 21,3,35 in dem sekundären Stück in 12,7–8 und in der zitatähnlichen Paraphrase in 16,3 (vgl. 15,2). An allen übrigen Stellen richtet sich die singularische Anrede eines Gegenübers in einer Hiobrede an Gott.36 Dass in 26,2–4 aber nicht Gott angesprochen wird, zeigen vor allem der Begriff nešāmāh („Atem/Geist“) in V. 4, der für eine von Gott dem Menschen gegebene, ihn belebende und inspirierende Größe steht (vgl. 27,3; 32,8; 33,4),37 und der hymnenartige Hauptteil, der Gott in der 3. P. Sg. nennt. So bestreitet Hiob zunächst ironisch Bildads seelsorgerliche und intellektuelle Fähigkeit (V. 2–3, vgl. 12,2; 16,2; 21,3) sowie dessen Recht, derart zu ihm reden zu dürfen (V. 4). Mit einer dreifachen negativen Prädikation charakterisiert Hiob sich selbst als kraftlos (vgl. 6,11–13).38 Ihm, der sich von Gott als gebrochen erlebt, vermögen die Hinweise auf Gottes Macht und die menschliche Hinfälligkeit in Kap. 25 in der Tat nicht zu helfen. Gleichwohl weiß Hiob genau um diesen Unterschied zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf. Bildads Rat (jāʿaṣ, vgl. die Ausführungen zu ʿûṣ, 1,1) geht ins Leere. Denn Hiob verfügt über die gleiche Weisheit wie sein Vorredner, der nur Worte des Eliphas nachzusprechen vermag und sich demzufolge als wenig originell erweist. An den Leser des Buches, der in den Prozess des Ratens einbezogen ist, ergeht damit implizit die Frage, was er Hiob denn raten würde. Die Bestreitung der charismatischen Begabung des Vorredners zugunsten einer rein auf Erfahrung beruhenden Argumentation (vgl. Hi 21 versus 20,3; 32,8.18–22 bzw. Hi 6–7 versus 4,12–21) verweist theologiegeschichtlich offenbar auf eine weisheitliche Kritik an dem Eindringen prophetischer Elemente in die Weisheit. Redaktionsgeschichtlich schlägt sich dies nieder in der Positionierung der Majestätsredaktion nach der Elihuredaktion, in der die Inspiration des Weisen eine besondere Rolle spielt (vgl. 32,8).
Vgl. Hi 6,11–13; 13,7–9; und dazu Watson, Poetry, 339. Hier ist ursprünglich ein Pl. zu lesen, vgl. die Anm. zur Übersetzung von Hi 21,3. 36 Vgl. Hi 7,7; 9,28–31; 10,3–18; 13,20–27; 17,3–7. 37 Siehe dazu K. Koch, Spuren, 238–248. 38 Nur gelegentlich wurden diese negativen Attribute im Gefolge von LXX und Vg, hinter deren Verständnis Stellen wie Hi 40,9; Ps 89,14; Jes 62,8 stehen, auf Gott bezogen (vgl. Duhm; Peters). Die Mehrheit der neueren Auslegungen sieht hierin eine (ironische) Selbstbeschreibung Hiobs. 34 35
Hi 26 Die achte Rede Hiobs
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Gottes kosmische Macht
26,5–13
Die Verse bilden einen aus verschiedenen Vorlagen zusammengesetzten hymnenartigen Abschnitt. Insofern kein Aufruf zum Lobpreis erfolgt, liegt aber kein reiner Hymnus vor, sondern eine anthologische Verknüpfung hymnischer Elemente im weisheitlich-lehrhaften Stil.39 Zu jedem Vers lassen sich zahlreiche altorientalische und israelitisch-jüdische Parallelen benennen, vor allem aus den Psalmen und dem großen Schöpferlob in Sir 42,15–43,33, bis hin zu den aus hellenistisch-römischer Zeit stammenden Lobliedern aus Qumran (1QHa). Sie verdeutlichen die traditionsgeschichtliche Beständigkeit der Motivik im Schöpferlob und bei der Beschreibung von Erscheinungen Jhwhs sowie die Vielfalt an mosaikhaften Kombinationen.40 1 Ich preise deinen Namen, Marduk, stärkster der Götter, Deichgraf des Himmels und der Erde, 2 der schön erschaffen ward, allein hoch ist. 3 Du trägst die Würde des Anu, des Enlil, des Ea, die Herrschaft, das Königtum, 4 du vereinigst alle Weisheit, o Vollkommener an Kraft! 5 Gehegter Ratgeber, erhabener Held, übergroßer Gewaltiger, 6 (der) seine Herrschaft prächtig gestaltete, A[nus] Streit ausführte! 7 Im Himmel bist du erhaben, auf Erden König, kunstvoller Planer der Gött[er], 8 der alle Wohnstätten beständig macht, den Kreis des Firmaments und der E[rde] hält!41
In vier Abschnitten beschreibt Hi 26 Gottes Erschaffen und Bewahren der Welt. Dabei gehören stilistisch und inhaltlich jeweils V. 5–6; 7–8; 9–10 sowie 11–13 enger zusammen. V. 7–10 sind vom hymnischen Partizipialstil geprägt, bei dem auf Gott nur mittels eines Suffixes verwiesen wird und der sich im Hiobbuch mit Ausnahme von 5,9 nur in sekundären Abschnitten42 findet. Begann Bildad seine kurze Belehrung mit einem Blick in den Himmel 26,5–6 (25,2b), so setzt Hiob kontrastierend mit einer Schau in die Unterwelt ein. V. 5 verdeutlicht den personalen Aspekt der Unterwelt, indem er das Zittern der r epāʾîm beschreibt. Ob das Wort mit der Verbalwurzel rāpāh „schlaff sein“ zusammenhängt und r epāʾîm dementsprechend „Schlaffe/Kranke“ bezeichnet oder ob es mit der Verbalwurzel rāpāʾ („heilen“) zu verbinden ist und r epāʾîm dann ursprünglich für numinose „Heiler“ steht, ist umstritten. In den spätbronzezeitlichen Texten aus Ugarit verbergen sich hinter den rpʾm/rapiʾūma wohl die vergöttlichten Ahnen der ug. Dynastie.43 In Hi 26,5 dürften unter Vgl. Crüsemann, Hymnus, 118f; Fuchs, Mythos, 135. Vgl. Jeremias, Theophanie, 67f, 88f, 161; Scriba, Geschichte, 59; Ayali-Darshan, Question, 402–417. Die von Ayali-Darshan vorgetragene These, Hi 26,7–13 spiegele in umgekehrter Reihenfolge einen kanaanäischen Weltschöpfungsmythos aus der vorisraelitischen Königszeit wider, ist spekulativ. 41 Aus dem akrostichischen Hymnus des Assurbanipal auf Marduk (übersetzt von K. Hecker, in: TUAT II, 765[–768]). 42 Hi 5,10; 9,5–10; 12,17–24; 25,2; 35,10b–11a; 37,5b.12a. 43 Vgl. KTU 1.20–22 (TUAT.NF VIII, 296–303). 39 40
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den r epāʾîm Bewohner der Scheol, also die „Schatten der Verstorbenen“ bzw. die „Totengeister“ gemeint sein.44 Th und Vg denken an die „Giganten“45 und führen damit ein Motiv aus der in der Antike weit verbreiteten Gigantensage ein,46 die auch im frühen Judentum bekannt war (vgl. Gen 6,4).47 Sym übersetzt hier (und in Spr 9,18; 21,16) mit θεομάχοι („Kämpfer gegen Gott“) 48, Tg und Syr mit „Helden“. Als Teil der Antwort Hiobs auf die Rede Bildads ist bezeichnend, dass Hiob nicht das Gegenüber von Gott und Mensch thematisiert, sondern die Welt der Toten und der großen Meeresungeheuer ins Spiel bringt (vgl. Gen 1,21; Ps 148,7). Hatte Hiob sich eingangs noch im Totenreich Ruhe erhofft (3,13–19, vgl. auch 14,13; 17,11–16), so bekennt er nun, dass auch dort Angst und Schrecken vor Gott bestehen. Dieses Motiv begegnet auch im akkad. Mythos (neuassyr. Fassung) von Ištars Abstieg in die Unterwelt 1–18 (TUAT III, 761) oder bei Homer (Il. 20, 61–66). Der Gottesschrecken (paḥad) und die Gottesherrschaft (hamšel) haben für Hiob in der Tat universale Dimension: von den höchsten Himmelshöhen (Hi 25,2) bis in die tiefsten Tiefen, die hier noch unterhalb der Meere liegend vorgestellt werden (vgl. 11,8; 38,16–17; Jes 14,15).49 V. 6 betont dann stärker die kosmologische Perspektive der Unterwelt, indem er die Offenheit der Scheol und des Abaddon (ʾ abaddôn), des Ortes des endgültigen Untergangs, der Verwesung und des Grabes (vgl. TgHss),50 vor Gott unterstreicht (vgl. 12,22)51 – eine Vorstellung, die Hiob auf der Ebene der ursprünglichen Dichtung bezweifelt (vgl. 14,13; 17,13–14), während er sie auf der Ebene der tendenziell mit der für Hi 25 verantwortlichen Redaktion verwandten Fortschreibung in 24,17b–19 teilt. Wenn selbst der Abaddon, der hier noch nicht wie in rabbinischen Texten die „Hölle“ im Sinne eines unterirdischen Gerichtsortes ist,52 vor Gott nicht verborgen ist (V. 6), dann müsste – so die argumentative Funktion des Ver44 Vgl. Jes 14,9; 26,14.19; Spr 2,18; 9,18; 21,16; Ps 88,11; Inschrift des Tabnit (KAI 13,8; TUAT II, 590); Inschrift des Eschmunazar (KAI 14,8; TUAT II, 591); siehe dazu auch H. Rouillard, Art. „Rephaim“, DDD (21999) 692–700; Fischer, Tod, 172–175. Zur Bezeichnung der vorisraelitischen Bewohner Kanaans als „Rephaim“ vgl. Dtn 2,11.20; 3,11.13; Jos 12,4; 13,12; 1Chr 20,4. 45 So auch Duhm und TurSinai. 46 Vgl. Hesiod, theog. 183–186; Euripides, Ion 987–988; Platon, symp. 190c; Pseudo-Apollodor, bibliotheke 1, 34–39. 47 Vgl. Ez 32,21 LXX; 1Hen 6–11; SapSal 14,6; Sir 16,7; Jdt 16,6; Bar 3,26; Philon, gig. 58–67 (u.a. als Auslegung von Gen 6,1–4). 48 Vgl. Euripides, Bacch. 45; Iph. A. 1408; 2Makk 7,19; Apg 5,39. 49 Zum fließenden Übergang zwischen Urmeer und Unterwelt in der mythischen Vorstellung siehe grundsätzlich Keel, Bildsymbolik, 29–48. 50 Vgl. Hi 28,22; 31,12; Ps 88,12; Spr 15,11; 1QHa XI,17.20; 4Q504 frgm. 1–2 r VII,8. Dieses Wort wird wie das Wort š eʾôl artikellos gebraucht, so dass im Hintergrund noch der Eigenname eines Unterweltsgottes oder zerstörerischen Dämons stehen könnte. 51 Vgl. Ps 135,6; 139,8–12; SapSal 16,13; Am 9,2 – aus der Umwelt des AT vgl. dazu den großen Šamaš-Hymnus 31–38 (TUAT.NF VII, 67f), den Hymnus an Ninurta als Helfer in der Not IX (17) (Mayer, Hymnus, 29: „o du, der die Höhen überwacht, die Tiefen überschaut“); den äg. Hymnus an den Sonnengott ÄHG 104, 15 oder den Hymnus an Ptah ÄHG 140, 223–224. 52 Vgl. bEr 19a; bShab 89a; QohR zu Pred 5,9: Abaddon als ein Name der Gehenna (vgl. TgHi 2,11; 3,17; 5,4.7; 15,21; 17,6; 20,26; 28,5; 38,17.23); siehe dazu Str-B IV, 1078.
Hi 26 Die achte Rede Hiobs
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ses im Munde Hiobs – Gott auch die innere Einstellung Bildads und Hiobs kennen (vgl. 23,10): Unterwelt (š eʾôl) und Abgrund (ʾ abaddôn) liegen offen vor dem Herrn; wie viel mehr die Herzen der Menschen! (Spr 15,11 LB, vgl. Sir 42,18; Hebr 4,12–13)
In Apk 9,11 begegnet Abaddon einmalig im NT als Bezeichnung für einen Unterweltsengel, dessen Name im Griechischen mit Ἀπολλύων „der Verderber“ wiedergegeben wird. Dies lehnt sich einerseits an die LXX-Übersetzung von ʾ abaddôn mit ἀπώλεια, andererseits an die Vorstellung von Apollon als Pestgott und Würgeengel an.53 Führte Bildad als Beleg für die Erhabenheit Gottes dessen selbst den Mond 26,7–8 und die Sterne überstrahlenden Lichtglanz an (25,3–5), so malt Hiob die Macht des Schöpfergottes am Beispiel des Ausspannens des Nordens bzw. des Himmelszeltes (ṣāpôn) über dem „Ödland“ (tohû, LXX: ἐπ᾿ οὐδέν) und der Aufhängung der Erde über dem „Nichts“ (belî-māh, LXX: ἐπὶ οὐδενός). Die Vorstellung, dass die Erde im Luftraum hängt oder schwebt, findet sich auch bei den ionischen Naturphilosophen, bei Platon und Aristoteles, in der römischen Literatur sowie in jüdischen Schriften aus hellenistischer Zeit.54 Gegen die Annahme, dass ṣāpôn in Hi 26 die Erde bezeichne (vgl. V. 7b), und für die Übersetzung mit „Himmel/Norden“ spricht die Konstruktion mit nāṭāh („aufhängen“, vgl. 9,8; 11QPsa XXVI,14). ṣāpôn/Zaphon kann auch den Götterberg bezeichnen, der im religiösen Symbolsystem der spätbronzezeitlichen Stadt Ugarit eine besondere Rolle spielt.55 Im Motiv der über dem „Nichts“ (dem Chaos) aufgehängten Erde spiegelt sich gegenüber der ersten (ursprünglichen) Gottesrede, die von einem „Gründen“ (jāsad) der Erde spricht (38,4–7), ein weiterentwickeltes kosmologisches Denken. Dazu tritt flankierend das Motiv der Wolken, die unter der Last des Wassers, d.h. des Regens, nicht bersten (bāqaʿ Nif.). Dieses Motiv gehört zum Grundbestand des altorientalischen
Vgl. Aischylos, Ag. 1080–1082; M. Hutter, Art. „Abaddon“, DDD (21999), 1. Vgl. Anaximander, frgm. 12A11 (DK); Anaximenes, frgm. 13A6+7 (DK); Platon, Phaid. 108e– 109a; Aristoteles, cael. 294b,13–22; Lukrez, nat. 2, 602–603; Ovid, fast. 6, 269–270; 1Hen 18,2; die in den ConstAp VII,35,1–10 und VIII,12,6–27 überlieferten hellenistischen Synagogengebete Nr. 4,5(2) und Nr. 12,17 (OTP II, 680–682 bzw. 690–694; van der Horst/Newman, Early Jewish Prayers, 59–73). Auch in magischen und mystischen jüdischen Texten aus der Spätantike begegnet das Motiv häufiger (vgl. J. Naveh/S. Shaked, Amulets and Magic Bowls. Aramaic Incantations of Late Antiquity, Jesrualem 31998, 82–84). 55 S.o. S. 139f; Baʿal-Zyklus III,iii,29–31 (TUAT NF VIII, 205f); Pap. Amherst 63 XII,13; XIII,16 (TUAT II, 933f; van der Toorn, Papyrus Amherst, 66; 67f), aber auch Jes 14,13 und mythisch übertragen auf den Zion in Ps 48,3. Pope, Gordis und Ayali-Darshan, Question, 410–414, nehmen diese Bedeutung auch für Hi 26,7 an (s.o. die Auslegung von Hi 23,9). Zur Vielfalt der Verwendung von ṣāpôn siehe auch Keel, Bildsymbolik, 17, und C. Koch, Wohnstatt, 148. 53 54
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Schöpferlobs.56 Hiob erweist sich auch hinsichtlich des Wissens um die kosmische Gewalt Gottes als seinen Freunden ebenbürtig. 26,9–10 Doch während Bildad den Lichtglanz Gottes herausstellt, unterstreicht Hiob im Rahmen seiner kosmisch-mythischen Beschreibung die Verhüllung des im Himmel vorgestellten göttlichen Thrones (kisseh).57 Er betont so – neben dem Bekenntnis zur universalen Herrschermacht (vgl. Ps 103,19) – die Verborgenheit Gottes (vgl. 22,14; Ps 18,12). Tg ergänzt erläuternd, die Verhüllung des Thrones diene dazu, dass die Engel Gott nicht sehen.58 Anders als in Hiobs Klage über die Unerreichbarkeit der Stätte Gottes und über die Finsternis, die Gott umhüllt (23,3.8–9.17), dominiert hier ein belehrender und lobpreisender Grundton. So spricht eben der Hiob der Majestätsredaktion, die auf den Bildad der Niedrigkeitsredaktion reagiert und die Hiob als einen in kosmologischen Fragen versierten Lehrer kennzeichnet (vgl. Sir 42,15– 43,33). Dies zeigt sich dann auch an der folgenden komplexen Notiz über die Einzeichnung des Horizontes (ḥûg [v.l.])59 über dem Ozean als der Grenze, an der das Licht endet und die Finsternis beginnt (vgl. Spr 8,27). Das Motiv der Macht des Schöpfergottes über Licht und Finsternis gehört zum hymnischen Standardrepertoire des Alten Orients.60 Im AT wird es auf das Handeln des einen Gottes fokussiert (Gen 1), der alles, Frieden und Unheil, wirkt (Hi 38,12.19–20; Jes 45,6–7). So ist Hiob auch in dieser Hinsicht ein exemplarischer Vertreter altorientalischer Grundkenntnisse und jüdischen Spezialwissens. Diese doppelte Kennzeichnung Hiobs prägt auch den letzten Teil des hymnischen Mosaiks. 26,11–13 Mit V. 11 hebt eine stark mythologisch gefärbte, sich über drei Bikola erstreckende Beschreibung von Phänomenen bei der Schöpfung und bei der Theophanie an.61 Der Bezug auf das göttliche Schöpfungshandeln zeigt sich vor allem in V. 12–13 und an der Parallele in Jer 10,12 (par. Jer 51,15): Er aber hat die Erde durch seine Kraft gemacht und den Erdkreis bereitet durch seine Weisheit und den Himmel ausgebreitet durch seinen Verstand. (Jer 10,12 LB, vgl. 11QPsa XXVI,13–15)
56 Vgl. EnEl. V,48–52 (TUAT.NF VIII, 113f); das sumer. Lied auf Enki SAHG Nr. 22 (S. 110,13– 14); Gen 7,11; Jes 35,6; Spr 3,20; 8,28; 30,4; Hi 5,10; 36,27; 37,11; 38,25.34.37. 57 Nach Houtman, Himmel, 242f, ist in Hi 26,9 der Himmel nicht der Ort des Thrones, sondern wie in Jes 66,1 der Thron selbst, doch vgl. Ps 11,4; 103,19; Jes 40,22. Zum himmlischen Thron Gottes vgl. auch 1Hen 18,8; syrBar 59,3. 58 Vgl. TgPs 89,8. 59 So. die Anm. zur Übersetzung und zur Sache C. Koch, Wohnstatt, 107. 60 Vgl. z.B. das akkad. Opferschaugebet an Ninurta als Siriusstern SAHG Nr. 22 (S. 275,4); Gen 1,4.18; 1Hen 17,1–6; 23,1–4; 33,1–4; einen Hymnus an den Sonnengott (ÄHG 22C, 3–4). 61 Siehe dazu Jeremias, Theophanie, 66–68; 94; 137; 161; Scriba, Geschichte, 57–70; 77f; Ayali- Darshan, Question, 406–409.
Hi 26 Die achte Rede Hiobs
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Beim Beben der kosmischen Säulen, auf denen nach dem hier zugrundegeleg- 26,11 ten Weltbild der Himmel ruht, handelt es sich sowohl um ein die Schöpfung begleitendes als auch um ein sich bei Jhwhs Erscheinen stets wiederholendes Phänomen,62 so dass sowohl eine Übersetzung im Präsens als auch im Präteritum möglich ist. Die Wendung der „Säulen des Himmels“ ist nur hier im AT belegt.63 Motivisch entspricht sie der Wendung der „Säulen der Erde“ (vgl. 9,6; Ps 75,4). Der Schwerpunkt, zumal im Kontext der Argumentation Hiobs, liegt darauf, dass diese Säulen vor dem göttlichen Schelten (g eʿārāh)64 zittern und sprachlos werden. Wenn selbst die hier mythisch personifiziert beschriebenen Fundamente des Kosmos vor Gott verstummen müssen, dann gilt dies erst recht für den zuvor von Bildad als Wurm beschriebenen Menschen (25,6). Damit bietet dieses Motiv im Munde Hiobs ein kosmologisches Pendant zu Bildads anthropologischem Schlusswort und ein Eingeständnis Hiobs, dass auch er vor Gott eigentlich verstummen müsste. Diese Verse wirken wie ein Exzerpt aus dem über den Alten Orient und 26,12–13 das alte Kleinasien verbreiteten Chaoskampfmythos. Je nach regionaler Ausprägung des Mythos beginnt die Schöpfung bzw. die kosmische Ordnung mit dem Sieg eines Gottes, sei es Baʿal, sei es Marduk, über das zumeist als Drachen personifizierte Urmeer, sei es Jammu oder sei es Tiamat. 65 Hier ist es der Gott Israels, der die auch aus dem ug. Baʿal-Zyklus bekannten Größen, das Meer (jām, vgl. 38,8–11), Rahab66 und die „schnelle/flinke Schlange“ (nāḥāš bārî aḥ), hinter der sich der Leviatan verbirgt (vgl. 3,8; 40,25; Jes 27,1; Am 9,3), niedergekämpft hat.67 Unter Rückgriff auf die altorientalische Mythologie lässt der für diese Verse verantwortliche Redaktor, wie schon in dem gleichfalls sekundären Stück in 9,13–14, Hiob sich in die kosmische Ordnung einfügen. So bekennt sich Hiob jetzt zu Gottes schöpferischer Kraft (koaḥ)68, Klugheit (t ebûnāh)69 und rûaḥ. Wie in Gen 1,2 und Ps 33,6 spielen hier in dem Begriff der rûaḥ die Aspekte des göttlichen Sturmes und des göttlichen Geistes zusammen.70 Andernorts sind es gerade die
Siehe dazu die Ausführungen zu Hi 9,5. Vgl. aber 1Hen 18,3; Gilgm. IX,ii,4 (TUAT III, 716). 64 Vgl. Ps 18,16; 76,7; 104,7; Sir 43,13. 65 Siehe dazu die Auslegung von Hi 9,13–14. 66 Vgl. Hi 9,13; Ps 89,11; Jes 51,9; Sir 43,25 (HM). 67 Zu diesen mythologischen Symbolfiguren siehe C. Uehlinger, Art. „Leviathan“, DDD (21999) 511–515; K. Spronk, Art. „Rahab“, DDD (21999) 684–686; F. Stolz, Art. „Sea“, DDD (21999) 737–747; Fuchs, Mythos, 135–137; Wikander, Job 3,8, 265–271. Nach de Wilde, 250–252, und Brüning, Seeungeheuer, 251f, bezeichnet nāḥāš bārî aḥ im Sinn von „die leuchtende Schlange“ das Sternbild des Drachen. 68 Vgl. Hi 36,22; Ps 65,7; Jer 10,12; 51,15; 1QHa IX,13–14(15–16); 11QPsa XXVI,14. 69 Vgl. Hi 12,13; Spr 3,19; Jes 40,14.28; Jer 10,12; 51,15; Ps 136,5; 147,5; 11QPsa XXVI,14, vgl. auch Ps 104,24 (Weisheit [ḥåkmāh]). 70 Vgl. Hi 15,30; Jes 11,9; 40,7.13; 63,14; Ez 11,24; 37,1; Sach 4,6; Ex 15,8; Ps 33,6. 62 63
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Kraft, die Klugheit und der Geist Gottes, unter denen Hiob leidet oder die er vermisst. Bezeichnenderweise gipfelt das kleine bildungsmythologische Stück in der Nennung von Gottes Hand als handelndem Subjekt (V. 13b): Stand die „Hand Gottes“ in der Rede Hiobs in 19,21 noch für die Vernichtung (vgl. 30,21), so kennzeichnet sie hier wie im sekundären Schöpferlob Hiobs in 12,9 die Beseitigung des Chaos.71 Doch anders als in seiner rhetorischen Selbstidentifikation Hiobs mit dem Chaosmeer und dem Urzeitdrachen, der sich von Gott angegriffen erlebt (7,12), hat dieses Motiv hier keinen ironischen, verzweifelten oder vor Gott klagenden Ton. 26,14 Die Grenzen der Erkenntnis Den Abschluss nicht nur des hymnenähnlichen Teiles, sondern der ganzen Rede bildet ein als Tristichon gestaltetes Summarium. Die einzelnen Kola sind jeweils zu einem Bikolon der Redeeröffnung parallel (V. 14aα par. V. 2; V. 14aβ par. V. 3; V. 14b par. V. 4). Dem menschlichen Gerede (V. 4) stellt Hiob Gottes Donnerwort (raʿam)72 zur Seite, das sich menschlichem Verstehen entzieht. Was der Mensch von Gott erkennen kann, sind letztlich nur dünne Spuren seines Handelns. Von Gott (bô) selbst nimmt der Mensch nur ein Flüstern (šemæṣ) wahr. Mit der Aufnahme des in der hebr. Bibel nur noch in Hi 4,12 belegten Wortes šemæṣ relativiert der für die Einfügung von Hi 26 verantwortliche Redaktor die vom Eliphas der Niedrigkeitsredaktion eingeführte und vom Bildad derselben Redaktionsschicht wiederholte Vorstellung der kreatürlichen Unwürdigkeit und Sündhaftigkeit des Menschen. Dies ist keine speziell dem Eliphas zuteil gewordene Offenbarung, sondern Grundwissen der Weisen („wir haben gehört“, V. 14b). Zugleich schränkt dieser Redaktor mittels der offenen Frage (mî jitbônān) im letzten Kolon der Rede die Forderung, die Hiob auf der Ebene der Grundschicht der Dichtung erhebt, Gott und sein Handeln an ihm verstehen zu wollen, erheblich ein. So bestätigt Hiob nun den eingangs von Eliphas (5,9) geäußerten und später von Elihu breit ausgeführten Gedanken (34,23–24; 36,26; 37,5.23): Gott ist letztlich unerforschlich.73 Damit lässt sich auf der Ebene des ,Endtextes‘ Hi 26,5–14 als die zweite Seite eines Diptychons bezeichnen, zu dem 25,2–6 die erste Seite bildet. In einzelnen Lobliedern aus Qumran begegnen Analogien
Zum Motiv der Hand Gottes siehe die Auslegung von Hi 1,9–11 und Mies, Job. Vgl. Hi 36,33 (re aʿ ); 37,4–5; 40,9; Ps 77,17; 81,8; 104,7; Sir 43,17; 3Makk 2,2. 73 Vgl. Hi 5,9; 9,10; 11,7–9; Spr 30,3–4; Sir 43,27–33; 1QHa XVII,16–17; 1QS XI,19–20; EnEl. VII,155 (TUAT.NF VIII, 131); BT 256–264 (TUAT III, 155); Lud. II,36–38 (TUAT III, 122f); Lehre d. Amenemope 22,5–6 (TUAT.NF VIII, 343); Lehre d. Anchscheschonki 26,14 (TUAT III, 275); Pap. Insinger 31,1 (TUAT III, 314); Pap. Leiden I 350 (Tausend-Strophen-Lied) IV,12–21 (COS 1.16, 25; ÄHG 138, 332–333). 71 72
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zu diesen Stücken, die hier redaktionsgeschichtlich und dramatisch auf zwei Schichten bzw. zwei Redner verteilt sind, im Munde eines Beters. An diesem Punkt haben die literarkritischen Versuche, die aus Hi 25 und 26 eine dritte Rede Bildads rekonstruieren,74 etwas Richtiges gesehen. Doch sprechen, wie oben ausgeführt, der Charakter der dritten Rede des Eliphas als Abschlusswort der Freunde sowie die inhaltliche und die poetologische Besonderheit von Hi 25 gegen die Ursprünglichkeit einer dritten Rede Bildads, sei es in der Kurzform, wie sie im MT vorliegt, sei es in einer hypothetisch aus Kap. 25 und 26 kombinierten Fassung. […] Du hast alle Erkenntnis gelehrt, und alles, was geschehen ist, geschah durch dein Wohlgefallen. Und es gibt keinen anderen außer dir, um auf deinen Rat (ʿṣh) zu antworten und 19 alle deine heiligen Pläne zu verstehen und in die Tiefe deiner Geheimnisse zu blicken und all deine Wunder klar zu erkennen mitsamt der Macht 20 deiner Stärke. Und wer kann deine Herrlichkeit erfassen? Und was ist er denn, der Sohn des Menschen, unter deinen wunderbaren Werken? 21 Und der von einer Frau Geborene, was soll er vor dir erwidern75? Und der, dessen Form aus Staub ist und dessen Wohnung Speise des Gewürms ist. Und der, der ein Auswurf von Speichel (mṣjrwq) ist, 22 geformter Lehm, und auf den Staub ist sein Verlangen gerichtet. Was soll der Lehm erwidern und das von der Hand Geformte, und einen Rat, wie soll er (ihn) verstehen? (1QS XI,17*–22)76
Auf der Ebene der Niedrigkeits- und der Majestätsredaktion steht Hiob kurz vor dem unbekannten Beter dieser Meditation, mit der die Gemeinderegel aus Qumran endet. In seinem (gleichfalls redaktionsgeschichtlich sekundären) Schlusswort wird Hiob ihm noch dichter an die Seite treten (vgl. 40,3– 5; 42,1–6), auch wenn das Buch letztlich andere theologische Antworten auf die Fragen Hiobs geben wird. Bis es so weit ist, wird nochmals der Hiob der Grundschicht sprechen und um sein Recht vor Gott kämpfen.
S.o. S. 395 (mit Anm. 32 und 33). Die Lesung von jšb ist unsicher. Ich folge Lohse, Texte aus Qumran, 43, der ein defektiv geschriebenes Hif. von šwb annimmt (vgl. Z. 18 und Z. 22). García Martínez/Tigchelaar, Dead Sea Scrolls, I, 98f, erwägen die Lesung j(ḥ)šb: „(als was) wird er angesehen“. 76 Vgl. auch 1QHa XVIII,2(4)–12(14). 74 75
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Hi 27–28 Die neunte Rede Hiobs HD 27,1 Und Hiob fuhr fort mit seinem Spruch und sagte: 2 3 4 5 6 GR
MR
So wahr El lebt, der mir mein Recht entzog, und Schaddaj, der meine ,Seele‘ bitter werden ließ: – Ja, noch fließt in mir mein Lebensatem, und Eloahs Hauch weht in meiner Nase noch – 1 Gewiss, meine Lippen werden kein Unrecht reden, und meine Zunge wird gewiss keinen Trug aussprechen2. Fern sei es von mir, [euch Recht zu geben]3, bis ich verscheide: Ich entziehe mir meine Frömmigkeit nicht selbst. An meiner Gerechtigkeit halte ich fest [und lasse sie nicht]4, mein Gewissen5 tadelt nicht einen meiner Tage. 7 8 9 10
Es ergehe wie dem Frevler meinem Feind und meinem Widersacher wie dem, der Unrecht tut. Denn was ist die Hoffnung des Gottlosen, [wenn er6 abschneidet7], wenn (ihm) Eloah seine Lebenskraft entzieht8? Wird El seinen Schrei noch hören, wenn die Not ihn überfallen wird? Oder darf er sich freuen an Schaddaj, wird er rufen können zu Eloah jederzeit?
11 Ich will euch belehren über die Hand Els, was Schaddaj betrifft9, nicht verhehlen. 12 Wenn10 ihr alle es doch gesehen habt, wozu redet ihr dann solche Nichtigkeiten?
1 Zur Frage, ob V. 3–4 syntaktisch zusammengehören und den Inhalt des Schwurs darstellen (so Bobzin, Tempora, 344f) oder ob V. 3 eine Parenthese bildet und erst V. 4 den Inhalt des Schwurs bietet, siehe Witte, Notizen, 150f; zu ʾîm als Schwurpartikel siehe G/K § 149a; J/M § 165a; Waltke/ O’Connor § 40.2.2. 2 Wörtl.: „murmeln/meditieren“; zur bewussten Verwendung der Wurzel hgh siehe die Auslegung. 3 Zur literargeschichtlichen Beurteilung von V. 5a* siehe die Auslegung. 4 Die Wörter wlʾ ʾrph schießen kolometrisch über und dürften eine Glosse sein. 5 Wörtl.: „Herz“, vgl. 1Sam 24,6; 25,31; Sir 14,1 (HA), siehe die Auslegung. 6 D.h.: Gott. 7 Anstelle von jibṣāʿ lies j ebaṣṣe aʿ (vgl. Hi 6,9; Jes 38,12; ähnlich Clines [j ebuṣṣāʿ]). Die Wörter kî jibṣāʿ/j ebaṣṣe aʿ, die den Stichos kolometrisch überfüllen, sind wohl eine Variante zu kî ješæl im zweiten Halbvers. 8 So nach šlh II (vgl. Ges17; DCH; CTAT 50/5, 248f; mittelhebr. šlh und aram. šlʾ); BHS schlägt in diesem Sinn die Lesung jāšol (von šll „herausziehen“) vor. Ges18 hingegen versteht šlh hier im Sinn von „zur Ruhe bringen“ (vgl. Strauß). Zu weiteren Konjekturen siehe Witte, Notizen, 156f. 9 11QTgHi bietet anstelle von ʾšr einen direkten Parallelausdruck zu jad: „Werk“ (ʿbd). 10 Zur Einleitung eines Konditionalsatzes mit hen siehe die Anm. zu Hi 4,18.
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GR 13 Dies ist der Teil des Frevelmenschen11 bei El und dies das Erbe der Gewalttätigen von Schaddaj: 14 Wenn seine Söhne zahlreich werden, ist es für das Schwert, und wenn seine Sprösslinge,12 werden sie nicht satt an Brot. 15 Seine Entronnenen13 werden durch die Pest begraben, und seine14 Witwen werden keine Trauerklage halten. 16 Wenn er auch Silber15 anhäuft wie Staub und sich (zahlreich) wie Dreck Gewänder anschafft, 17 so mag er (sie) sich anschaffen, doch der Gerechte wird (sie) tragen, und das Silber wird der Unschuldige erben. 18 Er hat sein Haus gebaut wie eine Motte16 und wie die Hütte, die der Wächter machte. 19 Reich mag er sich niederlegen, doch nicht noch einmal17, er öffnet seine Augen und ist dahin18. 20 Am Tage19 wird ihn der Schrecken20 holen, in der Nacht raubt ihn der Sturm. 21 Der Ostwind wird ihn aufheben, so dass er vergeht, und wird ihn stürmisch von seinem Ort wegreißen. 22 Und er21 wird gegen ihn22 schleudern23 und kein Mitleid haben, vor seiner Hand wird er schnell die Flucht ergreifen.
11QTgHi versteht ʾādām eindeutig kollektiv (ʾnš ršjʿjn). w eṣæʾ æṣāʾâw steht noch unter der Rektion von ʾim-jirbû (vgl. Bobzin, Tempora, 348f). 11QTgHi liest jpṣwn „sie öffnen (den Mund)“ (vgl. zu dieser Deutung DJD XXIII, 103, sowie Hi 35,16). 13 Anstelle des Sg. lies mit dem Qere und vielen Hss š erîdâw. 14 D.h.: die Witwen aus dem Umfeld (des kollektiv verstandenen) Frevlers aus V. 13 (vgl. Ps 78,64). LXX und Syr lesen „ihre Witwen“, was sich dann auf die Entronnenen bezieht (so auch Clines). 15 11QTgHi konkretisiert: zwzjʾ „Zuz/(Silber-)Münzen“. 16 LXX; Syr und vielleicht auch 11QTgHi (teilrekonstruiert: [kgwgj]n, vgl. DJD XXIII, 109) setzen offenbar die Lesung ʿakkābîš „Spinne“ voraus (vgl. Hi 8,14). Der MT kann beibehalten werden, wenn der Vergleichspunkt in der Brüchigkeit des Hauses selbst gesehen und die Motte als Bild der Vergänglichkeit verstanden wird (vgl. Hi 4,19; Hos 5,12; Ps 39,12). Zur Diskussion verschiedener Konjekturen siehe Grabbe, Philology, 89–91; Witte, Notizen, 165f, und Clines (der selbst dem alten Vorschlag eines ʿāš II/III „Vogelnest“ nach arab. ʿuššun folgt). 17 Anstelle von jeʾāsep „er wird nicht ge-/versammelt“ lies jôsîp (vgl. LXX; Syr; Hi 20,9). 11QTgHi bestätigt allerdings die Lesart des MT. 18 Gemeint ist entweder der Frevler oder der Reichtum. CTAT 50/5, 251, denkt an „Haus“ aus V. 18. 19 Aufgrund des Parallelismus ist wohl bajjôm (oder jômām) anstelle von kammajîm „wie Wasser(fluten)“ (so Weiser) zu lesen (vgl. Dtn 28,66). Clines diskutiert ausführlich die Problematik des MT und bleibt dann bei dessen Lesart kammajîm. 20 Eigentlich Pl., der hier im Sinn eines Kollektivums steht, entsprechend erscheint das Prädikat im Sg. (vgl. G/K § 145k; J/M § 150g). 21 D.h.: Gott (vgl. Driver/Gray), nicht der Wind (so Weiser) oder Menschen (so J. Gray); zu weiteren mutmaßlichen Subjekten siehe Witte, Notizen, 171, und Clines, sowie die Auslegung. 22 ʿālêmô ist eine poetische Sg.-form, gleichbedeutend mit ʿālâw (vgl. Hi 22,2; 27,23; G/K § 103f; J/M § 103m). 23 Vgl. die Anm. zu Hi 15,33 und lies ggf. mit HsK151 jašlîk. 11 12
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23 MR
28,1 2 3 4
Er24 wird in seine Hände klatschen über ihn25 und wird ihn wegzischen von seinem26 Ort. Ja, es gibt für das Silber eine Stätte27 und einen Ort für das Gold, das man auswäscht.28 Eisen kann aus Staub gewonnen und Gestein zu Kupfer29 gegossen werden30. Ein Ende setzte er31 der Finsternis, und jede äußerste Grenze32 erforschte er selbst. 33 Ins Gestein der Dunkelheit und des dunklen Schattens brach er Schächte34 fern vom Licht35, die vergessen sind vom Tritt des Fußes, die arm36 an Menschen sind, schwanken,
Vgl. Anm. 21. Vgl. Anm. 22. 26 Im Gegensatz zu V. 21 ist nun nicht die Wohnstätte des Frevlers gemeint (so Weiser), auch nicht der Ort des Windes (so Clines), sondern der Ort Gottes, von wo er über den Frevler spottet (vgl. Ps 2,4; Duhm). 27 Wörtl.: „Ausgangsort/Quelle“. Sachlich zutreffend, aber engführend, ist die Übersetzung mit Mine (Clines). 28 Zumeist wird der Relativsatz auf den Ort bezogen, an dem man das Gold auswäscht (vgl. LXX; Vg; Weiser). Die masoret. Akzentuation spricht für die obige Übersetzung (vgl. Fz. Delitzsch). Bobzin, Tempora, 354 versteht jāzoqqû in finalem Sinn („um es [dort] auszuschlämmen“). 29 Oder: „Bronze“; neḥûšāh bezeichnet beides; siehe die Auslegung von Hi 20,24. 30 Anstelle von jāṣûq „ergießt sich“ (nach ṣwq II) oder als Partizip pass. von jṣq „gegossen“ (im Sinn von „hart“ mit Bezug auf das Gestein, vgl. Jones, Rumors, 126f) ist wohl jûṣaq (nach jṣq) zu lesen (vgl. V. 2a juqqāḥ sowie Hi 37,18; 1Kön 7,16.23.33); zur Diskussion siehe auch Bobzin, Tempora, 354f, und Clines. 31 Wie in V. 4–11 ist hier Gott gemeint. Zumeist wird als Subjekt in V. 3 der Mensch angesehen, gelegentlich wird aus (kolo-)metrischen Gründen sogar ein ʾādām oder ʾ ænôš „der Mensch“ (vgl. V. 28; 27,13) ergänzt, das durch Haplographie (śām) ausgefallen sei (vgl. BHK). Das betonte hûʾ in V. 3aβ fordert dies jedoch nicht (Hi 23,6; vgl. Jones, Rumors, 128f). 32 Die Wendung lekål-taklît überfüllt den Stichos kolometrisch und könnte das Ergebnis einer Dittographie sein, so dass entweder lekål oder letaklît zu lesen wäre; vgl. hierzu jedoch Hi 11,7; 26,10. 33 Aus poetologischen Gründen ist gegen den MT der Soph Passuq aus V. 3 hinter V. 3aβ (ḥôqer) zu versetzen und V. 3b mit V. 4aα sowie V. 4aβ mit V. 4b zu je einem Bikolon zu verbinden, so dass in V. 3–4 ursprünglich drei Bikola und nicht zwei Trikola vorliegen (vgl. Gordis; gegen Watson, Poe� try, 181, der in V. 4 ein Beispiel für ein ursprüngliches Trikolon nach dem Muster A–B–B’ sieht). 34 Anstelle von naḥal „einen Schacht“ lies neḥālîm, siehe die folgende Anm. 35 Anstelle des unverständlichen gār „Fremder/Gast“ (Weiser: „von da, wo man weilt“) lies ner (vgl. schon Ley, 78), oder gleichbedeutend ʾôr (vgl. Hi 18,6; 29,3). BHS konjiziert naḥal meʿimgār zu neḥālîm ʿam gār/ger „Schächte (grub) ein fremdes Volk“ (ähnlich Hartley; Strauß; Clines). Jones, Rumors, 134–143 liest ebenfalls neḥālîm, behält aber die Lesart meʿim-gār bei und versteht V. 4aβ.b als Spezifikation der Tunnel, die von Passanten vergessen und menschenleer seien. Die Existenz eines aus dem Arab. erschlossenen Wortes gār in der Bedeutung von „Krater“ (so Gordis; Noegel, Janus Parallelism, 89–92) ist unsicher. 36 So mit Jones, Rumors, 140–143, der eine zweite Wurzel dll in der Bedeutung „baumeln“ (vgl. Ges18 s.v. dll I; KAHAL und DCH s.v. dll II; CTAT 50/5, 254–256; Weiser) bestreitet, aber das folgende nāʿû (nʿw) als fehlerhafte Verdoppelung von -n(ô)š interpretiert und streicht. 24 25
Hi 27–28 Die neunte Rede Hiobs
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in die Erde,37 aus der Brot hervorgeht und unter der es sich wie Feuer wendet.
6 Der Ort des Saphirs sind ihre Steine, und Goldstaub gibt es an ihm38. 7 Ein Pfad, den (selbst) kein Raubvogel kennt, und den das Auge des Falken39 nie erspähte, 8 den die stolzen Tiere40 nicht betraten 41 auf dem der Leu42 nicht schritt: 9 In das Felsgestein streckte er43 seine Hand, wendete44 von der Wurzel an die Berge um. 10 In die Felsen trieb er Flüsse, und alles Kostbare sah sein Auge. 11 Die Quellen45 der Ströme dämmte46 er ein, und Verborgenes47 führte er zum Licht. 12
Und die Weisheit: Woher kommt48 sie, und wo ist der Ort der Einsicht?
ʾæræṣ dürfte wie ʾæbæn in V. 3b als Akkusativ von pāraṣ in V. 4a abhängig sein (vgl. Hi 16,14). lô bezieht sich entweder auf māqôm (vgl. Bobzin, Tempora, 358; ähnlich Jones, Rumors, 147: auf meqôm-sappîr) oder wahrscheinlicher auf den Saphir, der „gelegentlich durch Einschlüsse von körnigem Pyrit goldgelb gefleckt ist“ (Zwickel, Edelsteine, 56). 39 ʾajjāh kann verschiedene Raubvögel bezeichnen: Geier (vgl. Hi 15,23), Bussard, Habicht, Falke oder Milan. 40 Die Bedeutung des nur hier und in Hi 41,26 vorkommenden Ausdrucks b enê-šaḥaṣ ist umstritten. 11QTgHi liest tnjn „Schlange/Drache“ (vgl. Ex 7,9; Ps 91,13), in 41,26 dann rḥš („Reptil/Kriechtier“), was dort im Kontext der Beschreibung des Leviatan gut passt (vgl. Jes 27,1; 51,9; Ps 74,13). Zur Deutung als „Schlangen“ siehe die Auslegung. 41 Viele Hss mit zusätzlicher Kopula „und“ (vgl. Syr; Vg). 42 šaḥal bezeichnet wie in Hi 4,10 und 10,16 einen Löwen, kein reales oder mythisches Reptil (Grabbe, Philology, 91–93), siehe dazu ausführlich Strawn, Lion, 322–325. 43 D.h.: Gott (vgl. die Anm. zu V. 3), nicht, wie zumeist angenommen, der Mensch, speziell Bergmänner. 44 11QTgHi: „riss aus“ (ʿq[r]) – das dazu gehörige Objekt ist nicht erhalten. 45 Anstelle von mibb ekî „ohne Tränen“ (vielleicht im Sinn von „damit sie nicht tränen“ [vgl. G/K § 119x; Weiser]) lies mabb ekê (vgl. ug. mbk und hebr. nebæk „Quelle/Quellfluss“ [Hi 38,16]; vgl. Grabbe, Philology, 93–98; CTAT 50/5, 258). 46 Hartley betrachtet ḥbš als eine dialektale Variante zu ḥpś „suchen/durchsuchen“, was BHK für ursprünglich hält (vgl. LXX; Th; Vg); ähnlich Clines mit der Annahme einer Wurzel ḥbś, die auch in Hi 34,17 vorkomme (vgl. DCH). Doch kann man bei der Grundbedeutung von ḥbš „verbinden“ im Sinn von „eindämmen“ bleiben. Zur Diskussion des Wechsels von b und p siehe auch Grabbe, Philology, 96–98; Jones, Rumors, 169f. 47 Anstelle des Possessivsuffixes „ihr Verborgenes“ (bezogen auf die Erde, vgl. V. 5–6) ist wohl einfach taʿ alumah zu vokalisieren (zum Gebrauch dieses Wortes im Pl. im Sinn von „Geheimnisse“ vgl. Hi 11,6; Ps 44,22) und dann hôṣîʾ anstelle von joṣiʾ zu lesen. 48 Anstelle von timmāṣeʾ lies mit HsK157 teṣeʾ (vgl. V. 5.11). timmāṣeʾ ist wohl aus V. 13 eingedrungen. 37 38
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
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Der Mensch kennt nicht den Weg49 zu ihr, und man findet sie nicht im Land der Lebendigen. Die Tehom50 sagte: „In mir ist sie nicht!“, und das Meer sagte: „Bei mir ist sie nicht!“.
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Feingold51 kann man für sie nicht geben und Silber nicht als ihren Kaufpreis wiegen. Man kann sie nicht aufwiegen mit Gold aus Ophir, (auch nicht) mit kostbarem Schoham und Saphir. Ihr vermögen weder Gold noch Glas zu gleichen, und güldene Gefässe taugen nicht als Tausch für sie. An Korallen und Kristall mag man nicht denken, und ein Beutel52 voller Weisheit ist mehr als Perlen. Der Peridot aus Kusch vermag ihr nicht zu gleichen, und mit reinem Gold kann man sie nicht aufwiegen.
Und die Weisheit: Woher kommt sie, und wo ist der Ort der Einsicht? 53 Verhüllt ist sie vor den Augen aller Tiere54 und vor den Vögeln des Himmels ist sie verborgen. Der Abaddon und der Tod sagten: „Mit unseren Ohren hörten wir ein Gerücht von ihr.“
23 Gott nahm ihren Weg wahr55, und56 er selbst kennt57 ihren Ort.
49 Anstelle von ʿærkāh „ihren Wert“, oder, wenn man mit DCH ein im biblischen Hebr. sonst nicht belegtes ʿeræk II in der Bedeutung „Haus“ annimmt, „ihr Haus“ (vgl. Hartley; Jones, Rumors, 178) lies wie in V. 23 und mit LXX darkāh (vgl. Bar 3,20.21.31). Die Lesart des MT erklärt sich von V. 15–19 her. 50 Tehom (t ehôm) bezeichnet die Urflut, das Weltmeer, die Tiefen des Meeres (Hi 38,16.30; 41,24; Ps 71,20; 107,26; 135,6; 148,7; Sir 16,18 [HA]; 42,18 [HM/B]). Das Wort ist gewöhnlich als Fem. konstruiert, hier aber als Mask. (vgl. Jon 2,6; Hab 3,10; Ps 42,8). 51 e s gôr ist entweder eine Verschreibung oder eine Variante von sāgûr, das als Abkürzung für zāhāb sāgûr steht (vgl. 1Kön 6,20–21; 7,49–50; 10,21; 2Chr 4,20.22; 9,20). 52 Die von DCH verzeichneten Lemmata mæšæk I „Erwerb“ und mæšæk III „Preis“ sind unsicher und erscheinen kontextuell erschlossen; zur Bezeichnung eines Beutels mit Saatgut als mæšæk vgl. Ps 126,6. 53 Die Kopula fehlt in LXX; Syr und Vg und dürfte im MT sekundär sein (vgl. V. 13). 54 Anstelle von ḥāj „Leben“ (Weiser: „Lebend’gen“) lies aufgrund des Parallelismus ḥajjāh (vgl. Gen 1,28.30; 9,2; Hi 40,20). 55 Einige Hss lesen anstelle von hebîn hekîn „er richtete ein“ (vgl. V. 27), doch kann die Lesart des CodL beibehalten werden (so auch der CodA). 56 Unter den Fragmenten von 11QTgHi wird hier, soweit erkennbar, einmalig die Kopula w e- mit ʾrw „denn“ wiedergegeben (vgl. im MT dann V. 24); in V. 21 ist die Rekonstruktion ʾrw unsicher. 57 In 11QTgHi ist nur die Buchstabenfolge jṣ erkennbar, die sich entweder zu jṣr „er schuf“, zu jṣp „er sorgt für“ oder zu jṣpʾ „er späht aus“ rekonstruieren lässt, aber nicht zu einer dem MT entsprechenden Form von jdʿ (vgl. DJD XXIII, 112f).
Hi 27–28 Die neunte Rede Hiobs
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24 Denn er selbst kann bis zu den Säumen der Erde blicken und alles, was sich unter dem Himmel regt,58 sehen. 25 Als er dem Wind die Stärke59 gab und das Wasser mit dem Maß ausmaß, 26 als er dem Regen eine Grenze gab und den Gewitterwolken60 einen Weg, 27 da61 sah er sie und zählte sie ab62, richtete63 sie ein und erforschte sie. 28 Aber zum Menschen64 sagte er: „Siehe:65 Die Furcht des Herrn66, das ist Weisheit, und sich vom Bösen fernzuhalten, ist Einsicht“. Zu Hi 27: Reventlow, H. Graf: Tradition und Redaktion in Hiob 27 im Rahmen der Hiobreden des Literatur Abschnittes Hi 24–27, ZAW 94 (1982) 279–293. – Riede, P.: Spinnennetz oder Mottengespinst? Zur Auslegung von Hiob 27,18, in: Ders., Im Spiegel der Tiere. Studien zum Verhältnis von Mensch und Tier im alten Israel, OBO 187, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 2002, 107–119. – Witte, M.: Philologische Notizen zu Hiob 21–27, BZAW 234, Berlin/New York 1995. – Ders.: Vom Leiden zur Lehre. Der dritte Redegang und die Redaktionsgeschichte des Hiobbuches, BZAW 230, Berlin/New York 1994. Zu Hi 28: Cook, J.: Aspects of Wisdom in the Texts of Job (Chapter 28) – Vorlage(n) and/or Translator(s), OTE 5 (1992) 26–45. – Jones, S.C.: Rumors of Wisdom. Job 28 as Poetry, BZAW 398, Berlin/New York 2009. – Küchler, M.: Gott und seine Weisheit in der Septuaginta (Ijob 28; Spr 8), in: H.-J. Klauck (Hg.), Monotheismus und Christologie. Zur Gottesfrage im hellenistischen Judentum und im Urchristentum, QD 138, Freiburg u.a. 1992, 118–143, 218–225. – Lo, A.: Job 28 as Rhetoric: An Analysis of Job in the Context of Job 22–31, VT.S 97, Leiden/Boston 2003. – McKane, W.: The Theology of the Book of Job and the Chapter 28 in Particular, in: M. Witte, (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (FS O. Kaiser), BZAW 345/2, Berlin/New York 2004, 711–722. – Oorschot, J. van: Hiob 28: Die verborgene Weisheit und die Furcht Gottes als Überwindung einer generalisierten חכמה, in: W.A.M. Beuken (Hg.), The Book of Job, BEThL CXIV, Leuven 1994, 183–201. – Wolde, E. van (Hg.): Job 28. Cognition in Context, Bibl. Interp. 64, Leiden/Boston 2003.
58 Anstelle von taḥat kål-haššāmajîm „unter dem ganzen Himmel“ (vgl. Hi 37,3; 41,3) lies kol taḥat-haššāmajîm (vgl. LXX; Vg – zur Formel taḥat haššāmajîm siehe Houtman, Himmel, 16). Demgegenüber vermutet Strauß einen durch Haplographie bedingten Ausfall eines Objekts kol. 59 Wörtl.: „Gewicht“. 60 11QTgHi: „den leichten (qljljn) Wolken“. 61 Zur Einleitung eines Folgesatzes mit ʾāz vgl. Hi 33,16; 2Sam 5,24 (J/M § 166 l N). 62 So nach KAHAL, vgl. Hi 38,37. Ges18 votiert eher für „(lobpreisend) verkündigen“ (ähnlich CTAT 50/5, 263: „décrire/détailler“), während DCH auch die Bedeutung „füllen“ oder „prüfen“ (nach einer Wurzel spr IV, die allerdings nur in Hi 28,27 belegt wäre) aufführt. 63 Umgekehrt zum textkritischen Befund in V. 23 bieten nun fünf Hss h æbînāh „er erkannte“ anstelle h ækînāh, was u.a. Hölscher und J. Gray für ursprünglich halten. 64 11QTgHi: „zu den Menschenkindern“ (lbnj [ʾnšʾ]). 65 Entgegen der masoret. Akzentuation ziehe ich hen zu V. 28aα; zumeist wird V. 28aα als eine (prosaische) Einführung der Schlusssentenz betrachtet, die als eine Anakrusis außerhalb des Metrums stehe (vgl. Gordis). 66 Die nur hier in Hi verwendete Gottesbezeichnung ʾ adonāj fehlt in zwei Hss, während vier Hss jhwh ʾ adonāj und viele Hss jhwh bieten. Wie bei der Verwendung von jhwh in Hi 12,9 ist dieses Problem nicht textkritisch, sondern literargeschichtlich zu lösen. Zu den Gottesbezeichnungen in Hi siehe den Exkurs zu Kap. 4–5.
410 Aufbau und Sprachformen
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Bereits die Überschrift in Hi 27,1, die sich in dieser Form nur noch in 29,1 und ähnlich in 36,1 findet, stellt die neunte Rede Hiobs als eine besondere Größe heraus. Aufbau, Stil und Inhalt bestätigen die Sonderstellung dieser Rede, die thematisch aus drei Teilen besteht. Der erste, selbst zweigliedrige Teil (27,2–6.7– 10) beginnt mit einem in Eidesform gestalteten Unschuldsbekenntnis Hiobs bei gleichzeitiger Anklage Gottes als Rechtsbrecher.67 Mit seinen zahlreichen Begriffen und Formeln aus dem Recht sowie der Betonung des noch in Hiob steckenden Lebenswunsches und seiner unbedingten Redlichkeit bis zum Tod bietet 27,2–6 ein kleines Kompendium atl. Rechtssprache und Anthropologie. Daran schließen sich gleichsam als Anhang eine Verwünschung des Gegners Hiobs und die in rhetorische Fragen gefasste Überzeugung an, dass ein Frevler Gott hoffnungslos ausgeliefert sei (27,7–10). Diese Passage fügt sich aufgrund ihrer Einleitung als Wunsch formal zu den Schwursätzen und aufgrund ihrer Perspektive auf das Lebensende des Frevlers inhaltlich zum Bekenntnis Hiobs zum Leben in V. 2–6. So lassen sich V. 7–10, auch wenn sie den früheren Ausführungen Hiobs über das Schicksal eines Frevlers in 21,6–33 und 24,1–12 widersprechen, funktional als Bekräftigung seines Unschuldsbekenntnisses lesen. V. 11–12 kündigen eine Lehre an (vgl. 15,17) und klagen über die Sinnlosigkeit des Redens der Freunde (vgl. 21,34). Sie eröffnen den zweiten Teil der Rede (27,11–23). Die beiden Verse bestehen aus einer Mischung weisheitlicher und psalmistischer Sprache, fügen sich aber in kein Strophenschema ein und haben keine unmittelbare Verbindung zu V. 2–6 und zu 7–10. Mit V. 13 wird eine Kette von fünfmal zwei Bikola (V. 14–15.16–17.18– 19.20–21.22–23) überschrieben, in der Hiob im Stil der Freundesreden des zweiten Redegangs das Schicksal eines Frevlers (rāšāʿ) beschreibt: Das Glück des rāšāʿ sei nur vorübergehend, an seinem Ende stehe die gerechte Bestrafung von Gott (vgl. 24,13–25). Der Abschnitt, für den kein Strophenschema nachweisbar ist, ist weder eine Zitation oder Rezension der Freunde, die demgemäß durch V. 11–12 eingeleitet wäre, noch eine Ironisierung von deren Worten, vielmehr eine Position Hiobs. Sie steht gleichwohl im Widerspruch zur Tendenz aller bisheriger Reden Hiobs, vor allem zu den Ausführungen Hiobs über das Glück der Frevler in 21,7–33 und ihr ungestraftes Treiben in der Welt in 24,1–12. In 28,1 wechselt erneut der Stil. Mit den vorangehenden Versen unmittelbar nur über das Stichwort māqôm („Ort“, vgl. 27,21.23) verbunden, besteht das gesamte Kap. 28 aus einer Beschreibung der verborgenen und mit keinen Schätzen aufzuwiegenden Weisheit, die allein Gott zugänglich ist. Das Kapitel hat, zumal in V. 14–19, seine nächsten Parallelen in den Proverbien, daneben in Hi 11,6–9 und 39,17. Auch formal unterscheidet sich das Gedicht von Kap. 27 aufgrund der Refrainbildung (28,12.20)68 und der Strophik, bei der 67 Vgl. Hi 9,21; 10,7; 13,18; 16,17; 19,6; 23,7.10–12; 29,12–16; 31,1–40. Siehe zu den genannten Texten auch das Unschuldsbekenntnis des Beters in Lud. II,23–32 (TUAT III, 122). 68 Ein ähnliches Distichon zu Beginn einzusetzen (so Duhm; Fohrer), ist auf der literarischen Ebene der Hiobdichtung unnötig. Zur Refrainbildung in der hebr. (und ug.) Poesie vgl. Watson, Poetry, 163; 295–299.
Hi 27–28 Die neunte Rede Hiobs
411
(ursprünglich) sechs Bikola mit einem Trikolon als Abschluss eine Strophe bilden (28,1–5|6–11|12–14|[15–19]|20–22|23–28). Das Zentrum der dreiteiligen Komposition bildet eine parallel gebaute doppelte Dreierreihe zur Verborgenheit der Weisheit (V. 12–14 + 20–22). Es entsprechen sich a) V. 12 und V. 20 mit der Kernthese, b) V. 13 und V. 21 mit der Beschreibung der Unauffindbarkeit der Weisheit im Bereich des Lebendigen und c) V. 14 und V. 22 mit der Schilderung der Verborgenheit der Weisheit. Die umfangreichen Rahmenteile geben die theologische Perspektive an (V. 1–11 bzw. V. 23–28). Der besondere Wortschatz, die eigentümliche literarische Struktur und der stark reflektierende Charakter sprechen dafür, dass dieser Text zumindest in einzelnen Teilen ursprünglich selbstständig war. Im vorliegenden Zusammenhang erscheint er aber als dritter Teil der neunten Rede Hiobs. Dementsprechend wird Hi 28 hier ausgelegt. In der LXX ist der Charakter von Kap. 28 als Teil einer Hiobrede aufgrund einer Variante in V. 10 noch deutlicher.69 Für die Annahme, es handele sich in Kap. 28 um ein Interludium,70 ähnlich einem Chorlied in der griech. Tragödie, in dem der Dichter in die Rolle des Kommentators tritt und seine eigene Theologie darlegt, fehlen entsprechende Signale in der Überlieferung. Ebenso ist die Deutung als Offenbarungsrede eines jenseitigen Sprechers an Hiob ohne Anhalt am Text.71 Die Sonderstellung, die Kap. 28 im gesamten Hiobbuch einnimmt, ist literar- und theologiegeschichtlich zu erklären. Aufgrund seiner formalen und inhaltlichen Besonderheiten gehört Hi 28 (neben der Rahmenerzählung, den Elihu- und den Gottesreden) zu den in der neueren Forschung am intensivsten behandelten und diskutierten Texten des Hiobbuches.72 In 11QTgHi sind Äquivalente zu 27,1*–4* und 27,11*–20* sowie zu 28,4–13* Text- und (hier nur einzelne Wörter) und zu 28,20–28* erhalten. Nach 26,14 folgt eine LiterarLeerzeile. Da 11QTgHi sowohl in 26,1 als auch in 27,1 eine Redeüberschrift geschichte führt, die sich nur auf Hiob beziehen kann, unterstützt es auch hier den Makrotext des MT. Die Leerzeile kennzeichnet also einen Neueinsatz in 27,1.73 In der ursprünglichen griech. Übersetzung finden sich keine Äquivalente zu 27,19b.21–23 (vgl. HsK607, in der 27,22–23 fehlen)74 und zu 28,3aβ–4aα.5– 9a.14–19.21b–22a.26b–27a.75 Mit diesen ,Auslassungen‘ sind weitere textliche S.u. S. 425 Anm. 136. Vgl. z.B. Weiser; Lévêque, Job, II, 600; Gordis; de Wilde, Habel; Hartley; Newsom, Contest, 80; 170; J. Gray (ein unabhängiges Gedicht, unbekannter Herkunft, vielleicht vom Hiobdichter verfasst, aber nicht von diesem selbst in das Buch eingefügt). Nach Zerafa, Wisdom, 20, war Kap. 28 ursprünglich als Interludium gedacht und wurde erst redaktionell zu einer Hiobrede umfunktioniert. Zu einer Evaluation der unterschiedlichen Gattungsbestimmungen von Hi 28 siehe Jones, Rumors, 236–241. 71 Johnson, Eye, 60. 72 Siehe dazu van der Wolde, Cognition; Lo, Job 28, und besonders Jones, Rumors. 73 Siehe dazu oben S. 61. 74 Mit Gentry, Asterisked Materials, 537, und Cox (Iob, in: NETS) ist V. 19 insgesamt zu asterisieren, und nicht nur V. 19b (so LXXZi und LXXRa). 75 Siehe dazu ausführlich Meade, Edition, 126–129; 133–141; Gorea, Job repensé, 105–117. 69 70
412
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Varianten verbunden, so dass Kap. 28 in der LXX wesentliche kompositionelle und inhaltliche Unterschiede gegenüber dem MT aufweist. Im ‚kirchlichen Text‘ der LXX sind die „fehlenden Stücke“ aus Th nachgetragen. 27,18 ist in der LXX auf einen Stichos komprimiert (vgl. 8,14bLXX). Die bei der Beschreibung des Aufbaus und der Sprachformen vermerkte formale und inhaltliche Disparatheit von Hi 27–28 erklärt sich aus einer sehr komplexen Fortschreibungsgeschichte, die im Zusammenhang der Erweiterungen der Dichtung in Kap. 24–26 steht,76 nicht mittels der Annahme einer im Laufe der Textüberlieferung erfolgten fehlerhaften Anordnung einzelner Passagen.77 Den ältesten Bestandteil bildet der Abschnitt 27,2–6, der ursprünglich Hiobs Herausforderungsreden in 29,2–31,37* einleitete und als Einheit aus fünf Bikola genau dem strophischen Muster von Kap. 29 entspricht. Kap. 29* entfaltet 27,6 im Rückblick auf die Lebenstage Hiobs, Kap. 30* führt die in 27,2–3 angedeutete Anklage gegen Gott aus und Kap. 31* krönt als ein in Eidesform gestaltetes Unschuldsbekenntnis die Integritätserklärung von 27,4–6. Die erneute Anrede der Freunde, von denen sich Hiob im Rahmen der ursprünglichen Dichtung bereits in Kap. 23,1–24,12* abgewendet hatte, in 27,5a*78 steht wohl im Zusammenhang der sekundären Einfügung des jetzt als Lehrrede Hiobs dienenden Gedichts auf die verborgene Weisheit Kap. 28 (vgl. 26,2–4).79 Diese Lehrrede wurde auf der redaktionsgeschichtlichen Stufe ihrer Einfügung mittels der gleichsam sekundären Verse 27,11–12 eingeleitet.80 Tendenziell entspricht die Fortschreibung in 27,11–12; 28,1–28 der Einfügung der Rede in Hi 26 (vgl. 9,2–14; 12,7–13,2). Sie kann wie diese auf die sogenannte Majestätsredaktion zurückgeführt werden. Der Verfasser von 27,11–12; 28,1– 28 verarbeitet hymnische und mythische Elemente, modifiziert im bisherigen Dialog vertretene weisheitliche Positionen und zielt auf eine Annahme der 76 Siehe dazu grundsätzlich auch Mende, Leiden, 180–184; 191f; Wanke, Praesentia Dei, 307– 323; 430; Vermeylen, Métamorphoses, 281. 77 So unter den neueren Kommentaren aber wieder Clines, der in Hi 27,1–6.11–12 die letzte Rede Hiobs innerhalb des Redewechsels mit den Freunden sieht, während er aus 27,7–10.13–17; 24,18–24; 27,18–23 eine dritte Rede Zophars rekonstruiert, an die er dann unmittelbar die Elihureden (Kap. 32–37 zusammen mit Kap. 28 [!] als deren Abschluss) anfügt; siehe dazu auch die Einleitung (S. 47f). Zur Diskussion älterer Modelle siehe Witte, Leiden, 25–34; 239–247. 78 Die Worte „euch Recht zu geben“ überfüllen auch kolometrisch den Vers und fehlen in Syr. Sie liegen sachlich auf der Ebene der Kritik an den Freunden in Hi 42,7–8, die auf die Buchredaktion zurückgeht, sind literargeschichtlich jedoch jünger als diese. 79 Zur Interpretation von Kap. 28 als literargeschichtlich sekundären Teil einer Hiobrede siehe, bei allen Unterschieden in der redaktionsgeschichtlichen Einordnung der Fortschreibungen im Bereich von Hi 24–28, auch Strauß, 133f, 175 (Hi 28 als „abschließende Grundlagenreflexion“ Hiobs im Rahmen der von Strauß als „Werkstattgespräch“ angesprochenen Ergänzung von Kap. 22–28); Wanke, Praesentia Dei, 256–271; 408f. (Hi 28,1–27 als Teil der „weisheitskritischen „Bearbeitung“, 28,28 als Zusatz der „Elihu-Redaktion“); Vermeylen, Métamorphoses, 281; 328; 348 (Hi 28,1– 2.5–6.9–14.21.23–27 als Nachtrag seitens einer zweiten, 28,7–8[?].15–20.22.28 einer „dritten [oder vierten?] Buchredaktion“). 80 Zur sachgemäßen Verknüpfung von 27,11–12 mit 28,1 vgl. bereits Cheyne, Job and Solomon, 41, und Westermann, Aufbau, 24–27. Damit erübrigt sich die Annahme, die ursprüngliche Fortsetzung von 27,11–12 sei nicht erhalten (so aber z.B. Driver/Gray; Dhorme; Hölscher; Fohrer; Habel und Hartley, die V. 11–12 als Teil einer ursprünglichen Hiobrede ansahen).
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begrenzten Erkenntnis des Menschen, der vor dem souveränen Schöpfergott aber nicht nur als völlig minderwertig angesehen wird, wie es in den Passagen der Niedrigkeitsredaktion der Fall ist (4,17–19; 15,14–16; 25,4–6). Die spätere literarische Entstehung von Kap. 28 ist seit G.H. Bernstein (1813) erkannt und wird von der Forschung überwiegend vertreten, auch wenn in neuerer Zeit mehrfach, vor allem mit literaturwissenschaftlichen und rhetorischen Argumenten, die Ursprünglichkeit vertreten wurde.81 Gegen die Ursprünglichkeit sprechen der reflektierend-argumentative Stil, die teilweise inhaltliche Vorwegnahme der Gottesrede(n) sowie der eigentümliche Weisheitsbegriff. Die besondere Gestaltung zeigt, dass Kap. 28 „von vorneherein als geschlossene Komposition angelegt“82 war. Allerdings dürfte der Abschnitt V. 15–19 ein noch späterer Einschub sein: Er unterbricht den Zusammenhang von V. 12–14 und 20–22 und setzt mit der Beschreibung des unvergleichlichen Wertes der Weisheit die grundsätzliche Erwerbbarkeit der Weisheit voraus.83 Die sich stark mit dem Duktus der Freundesreden in 15,20–35; 18,5–21 und 20,4–29 berührenden Abschnitte 27,7–10 und 27,13–23 gehen auf eine noch jüngere Bearbeitung zurück.84 Diese Redaktion legt nun Hiob ausdrücklich ein Bekenntnis zur vergeltenden Gerechtigkeit Gottes in den Mund. Die Verse bieten eine schalenförmig um die Einleitung der Weisheitsrede Hiobs gelegte Konfession zu Gottes strafender Gerechtigkeit und gehen wie 24,13–25 auf die Gerechtigkeitsredaktion zurück.85 Kompositionell und inhaltlich erweitern sie die Unschuldserklärung Hiobs. Damit erscheint 27,11–12 in der ‚Endgestalt‘ als Einleitung einer zweiteiligen Lehrrede (I: 27,13–23 + II: 28,1–28), in der Hiob sich abschließend mit den Reden der Freunde auseinandersetzt. Die Einfügung von zunächst 27,11–12; 28,1–14.[15–19].20–28 und dann von 27,7–10.13–23 hat offenbar die Wiederholung der Überschrift aus 27,1 in 29,1 nach sich gezogen. Die kolometrisch überschießende Betonung, die eigene Gerechtigkeit nicht preiszugeben, in 27,6a* (weloʾ ʾarpæhā) könnte ebenfalls noch ein Teil der Gerechtigkeitsbearbeitung, aber wie 27,8a* (kî jibṣāʿ) auch eine einfache Glosse sein.
81 Lo, Job 28; Newsom, Contest, 169–182; Jones, Rumors. Unter den älteren Kommentatoren war Budde einer der energischsten Vertreter der Ursprünglichkeit von Hi 28 als Teil einer Rede Hiobs. 82 Fohrer, 393. Zur Herleitung von Kap. 28 aus einem Rätselwort mit Antwort siehe Westermann, Aufbau, 130–133, sowie in modifizierendem Anschluss an diesen Jones, Rumors, 234. 83 Vgl. Jones, Rumors, 178f; 211–216. Gelegentlich wird auch noch V. 20 als Nachtrag angesehen (Budde; Hölscher; Küchler, Weisheitstraditionen, 47; Vermeylen, Métamorphoses, 328 [s.o. Anm. 79]). 84 Vgl. Vermeylen, Métamorphoses, 281 (als Ergänzung der „zweiten Buchredaktion“); Wanke, Praesentia Dei, 307–322; (als Teil der „rechtskritischen Bearbeitung“); K. Brown, Vision, 209–220 (nur im Fall von 27,13–23, wobei Brown auch eine Verlegung an das Ende der zweiten Zopharrede in Erwägung zieht). 85 Wenn man Hi 27,13–23 als ursprünglichen Bestandteil einer Hiobrede beibehält, muss man die Passage als Explikation des Wunsches Hiobs aus V. 7 verstehen (so in jüngerer Zeit wieder T. Krüger, Truth, 74; zu älteren Versuchen siehe die Übersicht bei Witte, Leiden, 15–17).
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27,1–6 Anklage Gottes und Bewusstsein der eigenen Frömmigkeit und Gerechtigkeit 27,1 Die Variation der Überschrift gegenüber den Überschriften der vorangehenden Reden zeigt die Fortentwicklung des Dialogs. Nach der Abweisung seiner Freunde in 21,34 und 24,12 sowie (sekundär) in 24,25 und in 26,14 wendet sich Hiob nun ausschließlich an Gott. Die makrokompositionelle Entwicklung des Dialogs sowie die Parallelen zwischen 27,2–6; 29,2–31,37* und der einleitenden Lebensklage Hiobs (3,2–26), die ebenfalls keine direkte Anrede der Freunde besitzt, die auch Elemente aus dem Fluch und dem Schwur verwendet und die mit 3,1 eine über die Reden des Dialogs hinausgehende Überschrift hat, könnten dafür sprechen, in 27,1 die originale Überschrift von V. 2–6* und den folgenden Herausforderungsreden zu sehen. Insofern es sich bei 3,1 um eine sekundäre Verknüpfung der Hiobnovelle und der Hiobdichtung handelt, liegt es aber näher, 27,1 in der vorliegenden Form als redaktionell zu betrachten und auf die Hand zurückzuführen, die 26,1–14 (und 27,11–12; 28,1–28*) eingefügt hat. 27,1 dürfte also ursprünglich wie die Überschrift aller bisherigen Hiobreden „Und Hiob hob an und sagte“ gelautet haben.86 Mit māšāl kann ein normativer Ausspruch, ein Monolog, überschrieben werden, der auf eine direkte Anrede eines Gegenübers verzichtet.87 Hier kennzeichnet der Ausdruck das besondere Bewusstsein Hiobs um die eigene Unschuld, sein ausdrückliches Bekenntnis zur strafenden Gerechtigkeit Gottes und seine mythopoetisch beschriebene Akzeptanz des alleinigen Wissens Gottes um die Weisheit. Auffällig ist der Befund in der LXX, die mit dem Wort προοίμιον übersetzt (vgl. La),88 das in der Gräzität sowohl für einen Hymnus bzw. ein Lied oder eine Vorrede gebraucht sein kann; Letzteres ist hier wahrscheinlich im Blick auf den Charakter von Kap. 27 (und 29–31) als Vorrede gemeint, die auf die Gottesreden hinführt: Das Prooimion bildet also den Anfang einer Rede, in der Poesie nennt man es Prolog, … zuerst geradewegs kundtun, worauf man hinauswill, dann alles weitere dazufügen und mit dem Vorigen verknüpfen ... Die wichtigste Funktion des Prooimions und sein eigentliches Wesen ist es, darauf hinzuweisen, welches Ziel die Rede verfolgt. (Aristoteles, rhet. 1414b–1416a)89
Aq und Vg bleiben näher an der Grundbedeutung von māšāl, wenn sie mit παραβολή bzw. parabola („Gleichnis/Bildwort/Parabel“) übersetzen, wobei auch diese Aspekte vor allem in Hi 28 mitschwingen.90
Vgl. HsK137 und HsK454. Vgl. Num 23,7.18; 24,3.15.20–21; Ps 49,5; 78,2; Sir 50,27 [HB] und dazu König, Stilistik, 80. 88 In der LXX nur in Hi 25,2; 27,1; 29,1. 89 Aristoteles, Rhetorik, übers. u. hg. v. G. Krapinger, RUB 18006, Stuttgart 1999, 185–186. 90 Vgl. Jones, Rumors, 240f. 86 87
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Einmalig unter den Reden des Hiobdialoges erfolgt die Eröffnung mit einem 27,2–3 Schwur, in dem Hiob Gott direkt als den Bestreiter seines Rechts91 und als den Urheber seines Leids92 anklagt. Elihu wird später genau diese Anklage zitieren (34,5). Der fortgesetzte Wunsch Hiobs, mit Gott um sein Recht (mišpāṭ) zu kämpfen, liegt auf der Linie der Rede in Kap. 23 (vgl. 7,11; 10,1). Bezeichnenderweise wird diese Strophe in Gestalt der Schwurformel ḥaj-ʾel („so wahr El lebt!“) mit einem Wort des Lebens und einer Gottesbezeichnung eröffnet (V. 2a). Es ist der zutiefst in seiner Integrität getroffene Hiob, der hier nochmals mit seiner ihm von Gott gegebenen Lebenskraft aufsteht, sich als ganzer Mensch, als lebendige næpæš (,Seele‘) äußert und sich in der beschwörenden Anrede Gottes zumindest indirekt auch auf die heilsame Lebendigkeit und Wirksamkeit dieses Gottes beruft (vgl. 19,25). Die in Kap. 16–17 und 19 aufleuchtende Überwindung der Todessehnsucht Hiobs und die in Kap. 23 artikulierte Bereitschaft, um sein Recht zu kämpfen, zeigen sich hier verschärft. Hinter den anthropologischen Begriffen dieser Verse steht die aus Gen 2,7 und 7,22 sowie aus äg., vereinzelt auch aus altorientalischen und griech. Mythen bekannte Vorstellung von der Belebung des Menschen durch den Schöpfergott mittels der Einhauchung des Atems (nešāmāh, vgl. Hi 32,8; 33,4),93 der sowohl die Lebendigkeit als auch die Sprachfähigkeit bedingt.94 Der Entzug der nešāmāh bedeutet den Verlust jeglicher menschlicher Fähigkeit, sich zu artikulieren (vgl. 34,14–15; Ps 104,29–30; Pred 12,7).95 So klingt auch zum Ende der Reden Hiobs die bereits in seiner Eingangsklage angestimmte Kritik an Gott dem Schöpfer an, der offenbar nicht nur das Chaos zulässt (24,12), sondern auch selbst bewirkt, indem er seinem Geschöpf das von diesem erwartete Recht, das heißt die heilvolle Gemeinschaft mit Gott, entzieht und das Leben zur Qual werden lässt (vgl. 3,20; 10,8–12). Weil Gott ihm zutiefst fragwürdig geworden ist, bleibt Hiob nur noch der Blick auf sich selbst. Gleichwohl zeigt der einleitende Schwur bei Gott, dass Hiob an Gott festhält. Dies haben bereits die Rabbinen gesehen: So zeige Hi 27,2, „dass Hiob Gott aus Liebe diente, denn beim Namen des Königs schwöre nur, wer den König liebe.“96 Zugleich spricht aus der Betonung der noch in Hiob wehenden eigenen nešāmāh, dass er im Gegensatz zu Bildad, der offenbar nur noch noch mit fremdem Atem und Geist reden konnte (26,4), sich selbst treu bleibt und somit, im Sinne der Charakteristik des Prologs, ein integrer Mensch (ʾîš tām) ist (1,1). Ganz am Vgl. Hi 9,28; 10,2; 13,26–27; 19,6; 23,16 – im Kontrast zu Hi 8,3. Vgl. Hi 6,4; 7,12–21; 13,26–27; 16,7; 19,6; 23,2.16. Vgl. z.B. die äg. Stele des Verbannten (Louvre C 256) 13 (TUAT III, 115), einen Hymnus an Amun (ÄHG 98, 28–30); EnEl. VI,129 (TUAT.NF VIII, 122); Euripides, Suppl. 533–534; Horaz, carm. 4, 7,16; Plutarch, mor. 110a; siehe dazu Pettinato, Menschenbild, 42; J.C. Gertz, Das erste Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1–11, ATD 1, Göttingen 2018, 104f. 94 Siehe dazu K. Koch, Spuren, 238–248. 95 Vgl. z.B. Aqhatu-Epos II,iv,25–26 (TUAT.NF VIII, 285) oder die Klage eines Dulders mit Gebet an Marduk (RS 25.460) 26 (TUAT III, 142). 96 Wiernikowski, Hiob, 9 (mit Hinweis auf Ben Paturi in tSota 6.1 und Josua b. Hyrkan in mSota V,5). 91 92 93
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Rande lässt die Hand, die Hi 28 eingefügt hat, Hiob genau dieses in Gestalt eines zitierten Gotteswortes selbst sagen (28,28, vgl. 1,8; 2,3). 27,4–6 In Formeln, die aus dem Bereich des feierlichen Eides stammen, legt Hiob ein verdichtetes Unschuldsbekenntnis ab, das im betonten Festhalten an der eigenen Gerechtigkeit, hier erstmals im Buch ausdrücklich mit dem terminus technicus ṣ edāqāh bezeichnet,97 und dem Bewusstsein der eigenen Integrität gipfelt.98 Im Zentrum steht das Bekenntnis, kein Unrecht (ʿawlāh, r emijjāh) zu reden (V. 4).99 Mit der Verwendung des Wortes hāgāh („murmeln/meditieren“) könnte erneut eine Anspielung auf die Torah vorliegen.100 Hiobs Bekentnis, sich nicht mit seinen Lippen verfehlt zu haben (vgl. 23,12; Spr 8,7), erscheint in der Rückschau und auf der Ebene des ,Endtextes‘ auch als eine Bestätigung des Erzählerkommentars aus 2,10 (vgl. im Gegensatz dazu 11,2; 15,6; Jes 59,3). Ebenso besteht in der ‚Endgestalt‘ zwischen 27,5b und dem Prolog ein direkter Bezug, insofern auch dort die Integrität Hiobs als tûmmāh („Frömmigkeit“) bezeichnet wird (vgl. 1,1; 2,3.9; 31,6). Wenn Hiob bekennt, dass sein „Herz“ (leb) nicht einen seiner Lebenstage tadelt (V. 6b), so nimmt hier der Begriff leb den Aspekt des „Gewissens“ an. LXX und in ihrem Gefolge Hieronymus bieten dementsprechend συνοίδα bzw. conscius sum („ich bin mir etwas bewusst“, vgl. 1Kor 4,4). Der eigentliche Begriff für „Gewissen“ (συνείδησις, conscientia) findet sich in dieser Bedeutung im Rahmen des biblischen Schrifttums wohl erstmals in der zwischen dem 1. Jh. v.Chr. und dem 1. Jh. n.Chr. verfassten Sapientia Salomonis (SapSal 17,11; Pred 10,20 LXX; TestRub 4,3). Innerhalb des frühjüdischen Schrifttums wird der Begriff des „Gewissens“ (τὸ συνειδός) dann bei Philon von Alexandria besonders entfaltet.101
Entscheidend ist die Funktion der gedrängten Rechtssprache in V. 4–6. Wie Hiob jedes Unrecht von sich weist, so erwartet er auch von Gott, dass dieser sich vom Unrecht fernhält. Fern sei es von Gott, den Gerechten wie einen Ungerechten zu behandeln (9,22), denn „sollte der Richter der Welt nicht das Recht herstellen?“ (Gen 18,25). Elihu wird später auf diesen Gedanken zurückkommen (34,10–15). Durch die sekundäre Erweiterung von V. 5a ist die scharfe Abwehr Hiobs, wahrhaft (ʾim) kein Unrecht zu reden und seine Frömmigkeit unter keinen Umständen (ḥālîlāh lî) aufzugeben, um den Aspekt der Unmöglichkeit, den Freunden zustimmen zu können, erweitert. Der Ruf ḥālîlāh, mit dem wörtVgl. sonst nur noch in den Elihureden (Hi 33,26; 35,8; 37,23). Vgl. Hi 6,29–30; 9,21.28; 10,7; 13,18; 16,17; (19,7); (21,6–7); 23,7.10–12; vgl. auch 32,2; 33,9; 34,5 sowie BT 72–73 (TUAT III, 150). 99 Vgl. Hi 6,30; 13,7; Sir 14,1 [G; HA]; Ps 17,3; 39,2; 141,3. 100 Vgl. Ps 1,2; Jos 1,8; Sir 6,37 (HA); vgl auch mit dem Objekt der (göttlichen) Weisheit: Ps 37,30; Sir 14,20 (HA); 4Q525 frgm. 2 II+3,6 sowie mit dem Objekt der Wahrheit (ʾæmæt) Spr 8,7. 101 Vgl. Philon, det. 146; spec. 2,49; virt. 124; zum Phänomen siehe auch TestJud 20,5; TestGad 5,3; TestAsser 1 und dazu C. Maurer, Art. σύνοιδα κτλ., ThWNT 8 (1964) 897–918, hier: 907f; M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 41970, I, 317; II, 184. Zum NT (vgl. Apg 23,1; Röm 2,15; 9,1; 1Kor 8,7; 2Kor 1,12; 1Tim 1,5; 2Tim 1,3; Hebr 9,14 u.ö.) siehe klassisch: J. Stelzenberger, Syneidesis im Neuen Testament, AMT 1, Paderborn 1961. 97
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lich etwas aus dem Bereich des Heiligen „hin zum Profanen“ weggewünscht bzw. abgewehrt wird, bezeichnet eine scharfe Distanzierung, sei es Gottes, sei es eines Menschen, von etwas.102 In Hi erscheint dieser Ruf in unterschiedlicher grammatischer Bezeichnung des Abgewehrten nur in 27,5 und in 34,10. Auf der Ebene der ,Endgestalt‘ bestreitet Hiob mit seinem unbedingten Festhalten an der eigenen Gerechtigkeit vor Gott den zuletzt nochmals von Bildad geäußerten Gedanken, vor Gott könne es vonseiten des Menschen gar keine Gerechtigkeit geben (25,4–6). Während die literargeschichtlich sekundäre Rede in Kap. 26 im ‚Endtext‘ eine Replik Hiobs auf den ersten Teil der kurzen Bildadrede (25,2–3) darstellt, wirkt nun die Eröffnung der Rede in Kap. 27 als Rekurs auf den zweiten Teil der Bildadrede (25,4–6). Darüber hinaus bekräftigt 27,2–6 das Unschuldsbekenntnis in Kap. 23, mit dem Hiob auf die zuletzt von Eliphas gegen ihn erhobenen Vorwürfe (22,4–20) und die ihm von diesem gegebenen Verheißungen für einen Bußfertigen und Unschuldigen (22,21–30) reagierte. Das unerschütterliche Festhalten (ḥāzaq) an der eigenen Gerechtigkeit (ṣidqātî) ist somit auch ein Ausdruck der Hoffnung Hiobs auf die heilvolle Gemeinschaft mit Gott und auf ein erfülltes Leben mit Gott (vgl. Spr 4,13). Der Fortgang der Dichtung muss zeigen, ob dies der richtige Weg ist oder ob hier ein Perspektivwechsel nötig ist, wie ihn Dan 9,18 oder der Beter von 1QS XI vollziehen: 2 … Ja, was mich betrifft, so ist mein Recht (mšpṭj) bei Gott, und in seiner Hand liegt die Vollkommenheit meines Wandels (twm drkj) mitsamt der Geradheit meines Herzens (jšr lbbj), 3 und durch seine Gerechtigkeit (ṣdqwtw) wird mein Vergehen (pšʾj) weggewischt ... 5 … Und aus der Quelle seiner Gerechtigkeit (ṣdqtw) (kommt) mein Recht (mšpṭj), Licht in meinem Herzen (kommt) aus seinen wunderbaren Geheimnissen. (1QS XI,2–5*)
Eine Verwünschung des Gegners Hiobs
27,7–10
Der Verwünschung in V. 7, dass es dem Feind Hiobs wie dem rāšāʿ gehen 27,7–10 solle (vgl. 1Sam 17,36; 2Sam 18,32), folgt in V. 8–9 eine in rhetorische Fragen gefasste Beschreibung des Schicksals des Frevlers. Sie trifft sich begrifflich mit den Freundesreden.103 Die V. 8–10, die V. 7 entfalten, zeigen, dass rāšāʿ einen menschlichen Feind bezeichnet und nicht Gott,104 selbst wenn Hiob über die erlebte Feindschaft seitens Gottes klagt (vgl. 13,24; 19,11) und Gott für ihn in anderen Reden die Züge eines rāšāʿ trägt (vgl. 9,17–24; 16,7–11; 19,6–9). Diese Verse stehen in scharfem Widerspruch zu V. 2–6 und zu den vorangegangenen Hiobreden. Denn einerseits ist Hiob in seiner Rede in Kap. 21 von dem gesegneten Leben der Frevler überzeugt (vgl. 21,6–33). Andererseits Zu einem absoluten Gebrauch dieser „Abwehrformel“ vgl auch 1Sam 2,30; 22,15. Vgl. V. 8 mit Hi 8,13; 11,20; SapSal 5,14; V. 9 mit Hi 15,24; 22,27; V. 10 mit Hi 11,15; 22,26–27. 104 So aber Habel. 102
103
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erlebt doch gerade er, der sich als Gerechter weiß, dass Gott ihm die Hoffnung raubt (vgl. V. 8a mit 17,15), ihm die Lebenskraft (næpæš) nimmt (vgl. V. 8b mit V. 2 und 10,1), seinen Hilferuf nicht erhört (vgl. V. 9 mit 19,7 und 24,12) und ihm die Möglichkeit verweigert, erhört zu werden (vgl. V. 10 mit 13,22). Im jetzigen Kontext verstärken diese Verse (sekundär) in doppelter Weise die Unschuldserklärung Hiobs in V. 2–6: Zum einen unterstreichen sie, dass Hiob im Gegensatz zum Frevler, der hier mit drei unterschiedlichen Begriffen gekennzeichnet wird, doch noch Hoffnung hat, wie sein „beständiges“ (b ekål-ʿet) Rufen zu Gott zeigt (vgl. Ps 34,2; 62,9). Zum anderen hält Hiob seinen Gegnern, zu denen im Verlauf des Dialogs auch die Freunde geworden sind, den Spiegel vor (vgl. 6,28–30). Mit ihren Anklagen Hiobs als rāšāʿ sind aus Freunden Feinde geworden, denen nun selbst das von ihnen beschriebene schlimme Schicksal eines rāšāʿ droht (vgl. 6,14 [sek.]; 19,28–29 [sek.]). Die hohe Konzentration von ausdrücklichen Gottesbezeichnungen in dieser kleinen Passage betont den Kontrast zwischem dem Gottlosen (V. 7–8a) und Gott (V. 8b–10). 27,11–12 Die Ankündigung einer Lehrrede Wie schon in V. 5a überrascht die erneute Anrede der Freunde, die Hiob direkt zuletzt in 21,34 und in dem sekundären Vers 24,25 sowie im Singular in der ebenfalls sekundären Passage 26,2–4 im Blick hatte. In V. 11–12 stellt Hiob nun einerseits den Freunden in Aussicht, sie über (be-) Gottes Macht (wörtl. „Hand“) zu belehren (jārāh III, V. 11).105 Hiob kündigt damit eine eigene Torah über das Wesen und das Handeln Gottes an. Ironisch erinnert er die Freunde an deren eigene, eigentlich alles umfassende Wahrnehmung (ḥāzāh, V. 12a, vgl. 15,17; 34,32; 36,25), die auch die Situation Hiobs einschließt, und charakterisiert ihr Verhalten als „nichtig“ (hæbæl, vgl. 21,34; umgekehrt dann in 35,16). Nichtig, d.h. flüchtig und wertlos sind die Worte der Freunde, weil sie an Hiob vorbeigeredet und seine Lage in der Spannung zwischen eigener Gerechtigkeit und Frömmigkeit und Gottes Handeln an ihm nicht richtig erfasst haben. Das Ziel der Worte der Freunde bleibt Hiob daher fremd. Auf der Ebene der Majestätsredaktion, die V. 11–12 als Einleitung zu Kap. 28 gebildet hat, schlossen diese Verse unmittelbar an 27,6 an: Sie lenkten den Blick von der Gerechtigkeit Hiobs und seinem Verzweifeln an der Rätselhaftigkeit Gottes auf die beschränkte Möglichkeit, Weisheit zu erlangen und mit dieser Gott und die Welt erklären zu können, so wie die Freunde es bisher versucht haben (vgl. 12,7–9; 26,14). Auch der zuletzt von der Niedrigkeitsredaktion im Munde Bildads vorgebrachte Gedanke von der geschöpflichen Hinfälligkeit 105 Vgl. Hi 6,24; 8,10; 12,7–8; 15,17; 34,32. Wie die Konstruktion von jrh III mit b e (vgl. Spr 4,11; Ps 32,8), der Parallelismus mit ʾ ašær (vgl. Ex 4,12) sowie die Parallele zu Hi 12,7.9 zeigen, bezieht sich der Ausdruck b e-jad in Hi 27,11 auf den Gegenstand der Belehrung und nicht auf das Mittel, so wie es Tg versteht (bnbwʾt „durch die Prophezeiung“, vgl. Vg [per manum „durch die Hand“] sowie Ex 9,35; Jes 20,2; Jer 37,2). Siehe dazu auch Mies, Job, 75.
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und Sündhaftigkeit des Menschen erscheint durch V. 12b als nichtig gekennzeichnet, weil er mehr über Gott und den Menschen zu wissen vorgibt, als sich sagen lässt. Durch den literargeschichtlich jüngeren Vorbau von V. 7–10 zielt die Ankündigung einer Lehre über das Handeln Gottes nun aber auch auf eine gedankliche Weiterführung der Vorstellung von seiner Bestrafung der Frevler. Hiob wird damit wie der Beter von Ps 32,8–10106 und wie schon in Kap. 26 immer mehr zum Lehrer seiner Freunde – und der Leser seines Buches. Die erste Lehrrede: Das Schicksal des Frevlers
27,13–23
Diese Passage bietet nun keine neue Lehre (tôrāh), sondern eine summarische Paraphrase der Freundesreden, zumal von 15,20–35; 18,5–21 und 20,4–29. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der in der Forschung immer wieder einmal zugunsten der Annahme der einheitlichen Verfasserschaft des Hiobbuches ins Spiel gebrachte Vorschlag, 27,13–23 als bewusste Zitation oder Imitation der Freunde zu verstehen.107 Die Überschrift zum von Gott gegebenen Schicksal des „Frevelmenschen“ 27,13 berührt sich wörtlich mit der Schlusssentenz Zophars in 20,29 (vgl. PsSal 3,12). Daran schließt sich eine Reihe von fünf syntaktisch jeweils zusammenhängenden Verspaaren an, die beschreiben, was der Frevler alles durch Gott verlieren wird. Die Fünfzahl deutet die Totalität der Vernichtung an. Neu an diesen Worten ist, dass sie aus dem Munde Hiobs kommen. Das Untergangszenario setzt mit dem vorzeitigen Tod der Nachkommen und 27,14–15 damit der Zukunft des Frevlers an.108 Schwert, Hungersnot und Pest bilden eine stereotype Vernichtungstrias, die auch in prophetischen Gerichtsankündigungen erscheint, dort im Kontext von Drohworten gegen das von Jhwh abfallende Israel (vgl. Jer 18,21; Ez 5,12; 6,12; 7,15). Selbst die Fürbitte der Gerechten vermag den Einbruch eines solchen, von Gott geschickten Unheils nicht abzuwenden (vgl. Jer 15,2). Wenn hier die Pest selbst als Totengräberin erscheint, dann meint dies nicht nur die Todesursache, sondern auch, dass die an ihr Verstorbenen gar nicht begraben werden. Das Unheil fällt dadurch besonders drastisch aus, weil der ordentliche Eingang in die Totenwelt und das ehrende Gedenken an die Toten entfallen (vgl. 1Kön 13,22; 2Kön 9,10; Jer 8,2). Dass die Witwen der Umgekommenen keine Trauerklage halten (bākah)109 und somit grundlegende Totenriten nicht ausüben können, unterstreicht die Gewalt der Vernichtung, die über dieses Leben hinausreicht (vgl. Jer 16,4; 22,18–19). Entscheidend ist 106 Häufig wird die Lehrankündigung in Ps 32,8 als Zitat einer Gottesrede bzw. eines Orakels angesehen und auch als solches in LB und EÜ ausgewiesen, doch dürfte es sich hierbei um die Lehre des Beters handeln (vgl. K. Seybold, Die Psalmen, HAT I/15, Tübingen 1996, 136). 107 Vgl. dazu den Forschungsüberblick bei Witte, Leiden, 15–17, sowie in jüngerer Zeit wieder Greenstein, 117–120. 108 Vgl. Hi 5,4; 18,19; 20,10.26; Ps 37,38; 109,9–10.13. 109 Vgl. Gen 23,2; 37,35; 50,3; Lev 10,6; Num 20,29; Dtn 21,13; 34,8; Jes 16,9; Jer 8,23; Ps 78,64 (Gruber, Aspects, 403).
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27,16–17
27,18–19
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27,22–23
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die Funktion der Verse als Revision der zuvor von Hiob geäußerten Meinung, die Nachkommenschaft der Frevler blühe und gedeihe (21,8). Damit schwenkt Hiob partiell auf die Segen-und-Fluch-Theologie der Torah ein (Dtn 28,11 versus Dtn 28,18). Der folgende Doppelvers entfaltet in einem typisch weisheitlichen Kontrastspruch den Verlust des Besitzes (vgl. 15,29; 20,7.11.18; Ps 109,11): Der Frevler wird seinen Reichtum letztlich an den Gerechten verlieren.110 Staub und Lehm, zumeist Metaphern für Hinfälligkeit und Vergänglichkeit (vgl. 4,19; 10,9), stehen hier für die Menge an Silber und kostbaren Gewändern, die der Frevler aufhäufte (vgl. Sach 9,3). Wie die Ausführungen zum Luxus der Frevler in 24,1–12 beinhalten diese Verse auch ein sozialkritisches Moment, ohne dass sie sich angesichts ihrer Typik einer bestimmten sozialgeschichtlichen Situation im alten Israel zuweisen ließen. Dem Verlust des Besitzes folgt die Vernichtung des Wohnraums (vgl. 8,15.22; 15,29.34; 18,14.19) und sämtlicher Habe des Frevlers (vgl. 20,28). In seiner Vergänglichkeit gleicht dessen Haus einer leicht zu zerdrückenden Motte (vgl. 4,19; 8,14; Ps 39,12) und der nur für kurze Zeit aus Zweigen errichteten Hütte eines Erntewächters (vgl. Jes 1,8; Jon 4,5). Der Doppelvers endet betont mit dem Wort ʾênænnû („weg ist er“). Die Korrespondez mit dem erstem Wort im Vers ʿāšîr („reich“) und die Tatsache, dass vom Tod des Frevlers erst in V. 20–23 die Rede ist, sprechen dafür, ʾênænnû nicht auf das Ende des Frevlers zu beziehen,111 sondern auf den Verlust des Reichtums.112 Die Schlinge zieht sich immer enger um den Frevler: Unbehaust wird er am Tag (v.l.)113 von Schrecken, möglicherweise ist an Dämonen gedacht (vgl. 15,21; 18,11.14), eingeholt und in der Nacht vom Sturmwind gepackt (vgl. 15,30; SapSal 5,23). Zu keiner Zeit wird der Frevler mehr einen Ausweg finden (vgl. Dtn 28,66). Was Hiob in 21,18 noch als Wunsch formulierte, erscheint ihm nun, wie seinen Freunden, gewiss. Der in Israel als besonders gefährlich und austrocknend gefürchtete, aus der Wüste kommende Ostwind (qādîm, Scirocco, arab. el-ḫamsīn) dient dabei, wie auch andernorts im AT, als Mittel des göttlichen Gerichts114 am Frevler, der dahin geht, d.h. ums Leben kommt (vgl. Ps 39,14). Gibt der Hiob der Gerechtigkeitsredaktion damit – auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches – indirekt auch eine Deutung des Todes der eigenen Kinder (Hi 1,19)? Die Passage endet pointiert mit der Rückführung des bösen Geschicks des Frevlers auf das Handeln Gottes selbst. Dafür, dass in V. 22–23 weder der „Wind“ aus V. 21 noch ein unpersönliches „man“ oder der „Ort des Frevlers“ 110 Vgl. Spr 13,22; 28,8; 10,25; 12,7; 15,6; Pred 2,26; Achikar VII,13–14 (TUAT III, 332; TAD C1 1.107–108; Weigl, Achikar-Sprüche, 243–347). 111 Vgl. Hi 7,8.21; 24,24; Ps 37,10.36; 103,16. 112 Vgl. Hi 8,22; 24,24; Ps 49,18; Pap. Insinger 4,9; 16,22; 17,8 (TUAT III, 285; 299). 113 Zum Bild im MT vgl. Hi 22,11.16; Ps 18,5.7; 88,17–18; Am 5,24; Jes 8,7; SapSal 5,22. 114 Vgl. Hi 1,19; Jes 17,13; 27,8; Jer 18,17; Ps 103,15–16; zu dem selten gebrauchten Verb śāʿar II („im Sturm davontragen“) vgl. Ps 50,3; 58,10;
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Subjekt sind,115 sondern „Gott“ (vgl. 8,18), sprechen 1) die häufig belegte Verbindung von „Gott“ als Subjekt mit dem Prädikat „schleudern“ (šālak Hif.), 2) der versimmanente Kontext mit der Wendung „erbarmungslos“ (loʾ ḥāmal),116 3) die absolute Nennung der „Hand“ (jad, vgl. V. 11)117 und 4) der betonte Neueinsatz in V. 22 (w e-). So bezeichnet das Schlusswort in V. 23 (māqôm) auch nicht wie in V. 21 den verödeten Wohnort des Frevlers, über den menschliche Zeugen des Gerichts spotten,118 sondern den himmlischen Ort (vgl. Jes 26,21; Mi 1,3), von dem aus Gott selbst über den Untergang des Frevlers spottet (vgl. Ps 2,4; 37,13; 59,9).119 Indem die Redaktion, welche die V. 13–23 als ersten Teil einer abschließenden Lehrrede eingefügt hat, Hiob nun wie die Freunde im zweiten Redegang die Überzeugung von der strafenden Gerechtigkeit Gottes vertreten lässt, korrigiert sie einerseits Hiobs starke Infragestellung des ungestraften Treibens der Frevler: In diesem Punkt stimmt Hiob jetzt den Freunden zu. Das Bekenntnis Hiobs zur strafenden Gerechtigkeit dient rhetorisch, so wie V. 7–10, als Unterstreichung des Bekenntnisses der eigenen Gerechtigkeit und als zumindest indirekter Ausdruck, selbst künftig als Gerechter und Unschuldiger (V. 17) erkannt und anerkannt zu werden. Andererseits erinnert Hiob die Freunde nun genau an diese ihre eigenen Ausführungen und relativiert so die zuletzt von Bildad geäußerte Vorstellung, vor Gott sei wesenhaft jeder Mensch ein Frevler: Es gibt doch eine Differenz zwischen gerecht und ungerecht – nur muss sich dies im Fall Hiobs noch erweisen. Insofern bleibt ebenso ein Dissens zwischen Hiob und seinen Freunden wie zwischen Hiob und Gott. Zugleich erscheinen auf der Ebene der Gesamtkomposition die V. 13–23 wie die V. 7–10 auch als dramatische Warnung an die Freunde, sich ihrerseits nicht durch „nichtige“, weil letztlich den Kern des Problems nicht treffende, Reden gegenüber Hiob selbst um Kopf und Kragen zu reden und sich so das Schicksal eines Frevlers zuzuziehen. Die merkwürdige motivische Übereinstimmung, welche die V. 14–23 mit der Beschreibung der Schläge gegen Hiob im Prolog (1,13–19), aber auch in einzelnen Versen mit der Dichtung, aufweisen,120 verdankt sich wesentlich der Topik der Untergangsbilder, die sich einer vollständigen Angleichung an die im Prolog geschilderte Situation Hiobs entzieht, daneben auch dem literarischen Phänomen, dass Redaktoren Spannungen zu übernommenen Texten nicht vollkommen ausgleichen. Dass sich Hiob durch diese Beschreibung des Schicksals des Frevlers nun selbst als solcher verstehe und zumindest indirekt ein Schuldbekenntnis ablege, so wie es ihm zuletzt Eliphas nahegelegt hat (vgl. 22,23–26), ist angesichts der Eröffnung in V. 2–6 und des in Kap. 31 folgenden umfassenden Unschuldsbekenntnisses unwahrscheinlich. Siehe die Anm. zur Übersetzung. Vgl. Hi 16,13; Klgl 2,2.17.21; 3,43; Ez 5,11; 7,4.9; 8,18; 9,10; Sach 11,5.6; SapSal 11,26; 12,8. 117 Vgl. Hi 6,9; 10,7; (12,9); 19,21; 23,2 (v.l.); (26,13); SapSal 16,13; Tob 13,2; vgl. auch Hi 15,30. 118 Vgl. 1Kön 9,8; Jer 49,17; Klgl 2,15–16; Zeph 2,15. 119 Möglicherweise hat gerade deswegen die LXX, die auch an anderen Stellen Anthropomorphismen redigiert, diese Verse ausgelassen. 120 Vgl. Hi 27,14.18–19.21 mit 1,18–19; Hi 27,21 mit 9,17; Hi 27,22 mit 16,13. 115 116
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28,1–28 Die zweite Lehrrede: Das Wesen der Weisheit Die Beschreibung des Schicksals des Frevlers wird vom Nachdenken über das Wesen, den Ort und die Erreichbarkeit der Weisheit abgelöst, die das dritte große Thema des māšāl Hiobs darstellt. Die unmittelbare Verbindung zum zweiten Teil der Rede bilden der Begriff māqôm, der zudem jeweils zu Beginn einer neuen Strophe bzw. Sinneinheit erscheint (V. 1.6.12.20.23), und das Motiv des Silbers (28,1–2, vgl. 27,16–17). Vom „Ort“ des Frevlers (27,21) und vom „Ort“ Gottes (27,23) geht der Blick zum „Ort“ der Weisheit (28,12.20.23). Von der Beschreibung des geschichtlichen Handelns Gottes am Frevler kommt Hiob zur Darstellung des Wirkens Gottes in der Schöpfung. Zumeist werden die beiden Strophen V. 1–5.6–11 als eine Beschreibung des ungeheuren technischen Leistungsvermögens des Menschen am Beispiel des bis in das Innere der Erde vordringenden Bergbaus gedeutet. Für die V. 1–2 trifft diese Deutung zu (vgl. Bar 3,17–18). Ebenso setzt die Nennung einzelner Edelsteine in V. 6 sowie in V. 16–19 die im Alten Orient, im Wadi el-ʿAraba und auf dem Sinai seit dem 4. Jt. v.Chr. belegte Praxis des Bergbaus selbstverständlich voraus.121 Dennoch ist aufgrund des unbestimmten Subjekts in V. 3–4.9–11 unklar, ob hier tatsächlich der Mensch oder nicht vielmehr Gott als handelnde Größe gemeint ist. Für Letzteres sprechen die hymnische Motivik in V. 3–11, Anklänge an Schöpfungsvorstellungen im AT und im Alten Orient, die Formulierung von V. 4b („arm an Menschen“), die Wiedergabe von Hi 28* in der LXX, die Tendenz von Hi 28 als Seitenstück zu Hiobs (sekundären) Lehrreden in 9,2–14; 12,7–13,2 und 26,1–14 sowie die Ankündigung in 27,11–12, über „die Hand Gottes“, mithin das schöpferische Wirken Gottes zu belehren (28,9, vgl. 12,9; 26,13). Schließlich deutet die kompositionelle Position von Hi 28 im Kontext von Hiobs dreiteiligem māšāl in Kap. 27–28 darauf hin, dass in 28,3–11, wie dann eindeutig in 28,23–28, allein von Gottes Handeln die Rede ist.122 Während in der ,Endgestalt‘ des Dialogs in 27,13–23 die von den Freunden vor allem im zweiten Redegang gebotene Beschreibung des Untergangs des Frevlers aufgenommen wird, wirkt 28,1–28 dann als eine modifizierte Zustimmung zu der von den Freunden teilweise hymnisch beschriebenen Schöpfertätigkeit Gottes und als eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Frage nach Weisheit und Erkenntnis (vgl. 11,6–9). Dabei steht Hi 28 in einem kritischen Gespräch mit einzelnen weisheitlichen Passagen in den Sprüchen Salomos, zumal in Spr 2–3; 8,22–31; 30,4.18–19, die teilweise verneinend, teilweise zustimmend aufgenommen werden. M. Weippert, Art. „Bergbau“, BRL2 (1977) 42–44. Vgl. LXX; Raschi; Ibn Esra und in neuerer Zeit Houtsma, Studien, 63; TurSinai, 396f, und Greenstein, Poem, 268f; ders., Job, 161. Eine vermittelnde Position nimmt Jones, Rumors, 31–87, 233f ein, der Hi 28,1–11 vor dem Hintergrund altorientalischer königlicher Expeditionen deutet und hier die mythisch-königliche Beschreibung eines paradigmatischen Entdeckers („the ‚first disco vereræ“) sieht, der wie Gilgameš die Weiten (weniger die Tiefen) der Erde erforscht. 121 122
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Den Neueinsatz signalisiert das affirmative kî („ja“), das keine Begründung zu 28,1–2 der vorhergehenden (redaktionsgeschichtlich jüngeren) Beschreibung des Untergangs des Frevlers in 27,13–23 einleitet, sondern die in 27,11 angekündigte Lehrrede (vgl. Jes 15,1). Den Auftakt zu dieser bildet die zweizeilige Sentenz zur Auffindung und Bearbeitung von kostbaren Metallen (Silber, Gold, Eisen, Erz). Die Sentenz bietet einen kleinen kulturgeschichtlichen Einblick in die archäologisch, ikonographisch und literarisch belegte Metallgewinnung im 1. Jt. v.Chr. (vgl. Dtn 8,9; 1Hen 65,7).123 Möglicherweise wird auf Kupferminen auf der Sinaihalbinsel angespielt.124 Der Schwerpunkt der Verse liegt allerdings nicht auf der Ebene der Realien, sondern des paradigmatischen und metaphorischen Gebrauchs der Größen Gold und Silber im Kontext weisheitlicher Beschreibungen der Weisheit (ḥåkmāh, griech. σοφία). So rufen beispielsweise die Proverbien immer wieder dazu auf, die Weisheit „wie Gold und Silber“ zu suchen: 1 Mein Sohn, wenn du meine Rede annimmst und meine Gebote behältst, 2 sodass dein Ohr auf Weisheit achthat, und du dein Herz der Einsicht zuneigst, 3 ja, wenn du nach Vernunft rufst und deine Stimme nach Einsicht erhebst, 4 wenn du sie suchst wie Silber und nach ihr forschst wie nach Schätzen, 5 dann wirst du die Furcht des Herrn verstehen und die Erkenntnis Gottes finden. 6 Denn der Herr gibt Weisheit, und aus seinem Munde kommt Erkenntnis und Einsicht. 7 Er lässt es den Aufrichtigen gelingen und beschirmt die Frommen. 8 Er behütet, die recht tun, und bewahrt den Weg seiner Getreuen. 9 Dann wirst du verstehen Gerechtigkeit und Recht und Frömmigkeit und jeden guten Weg. 10 Denn Weisheit wird in dein Herz eingehen, und Erkenntnis wird deiner Seele lieblich sein, 11 Besonnenheit wird dich bewahren und Einsicht dich behüten, – (Spr 2,1–11 LB, vgl. Spr 8,10–11).
Genau mit einem solchen Rat setzt sich der Hiob der Majestätsredaktion hier auseinander: Ja, Silber und Gold lassen sich finden, aus Erzen lassen sich Metalle gewinnen – dies sei menschlicherseits möglich. Dies gelte aber nicht für die Weisheit (V. 12–14, 20–27). Hier sind der menschlichen Leistungsfähigkeit deutliche Grenzen gesetzt.125 Ein Einblick in die eigentlichen Tiefen des Seins ist dem Menschen verwehrt. Dies zeigen klar die folgenden Verse, in denen von Gottes Tätigkeit in der Schöpfung die Rede ist. Mit dem Motiv der von Gott begrenzten Finsternis in V. 3aα könnte, wie in 28,3–5 26,10 und 26,13, ein Rückgriff auf den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht
123 F. Joannès/J. Siegelová/J.D. Muhly, Metalle und Metallurgie, RLA 8 (1997) 96–136; P.T. Nicholson/I. Shaw (Hg.), Ancient Egyptian Materials and Technology, Cambridge 2000; F.F. Healy, Mining and Metallurgy in the Greek and Roman World, London 1978. 124 M. Weippert, Art. „Metall und Metallbearbeitung“, BRL2 (1977) 219–224; J.P. Brown, Israel, II, 224–228. Zur Läuterung von Gold siehe auch Ps 12,7; 1Chr 28,18; 29,4. 125 Vgl. dazu Seneca, ep. 90, 10–12 (Apelt, Seneca, IV, 83f), der auch die Eisengewinnung als Beispiel für ein besonderes technisches Können des Menschen nennt – im Unterschied zur Philosophie und zur Weisheit, als deren Aufgabe er die Entdeckung der Wahrheit hinsichtlich göttlicher und menschlicher Dinge bestimmt (ep. 90, 3 [Apelt, Seneca, IV, 80]). Insofern unterscheiden sich Seneca und Hi 28 in dieser Hinsicht.
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in Gen 1,2.3–5 vorliegen (vgl. Hi 28,11b; 37,15LXX).126 Die mythologischen Beschreibungen des Schöpferhandelns im Bereich des Himmels und des Meeres in Hi 26 werden um die Aspekte des göttlichen Wirkens in und unter der Erde erweitert und mit dem Bekenntnis zusammengefasst, dass Gott einfach alles durchforscht (V. 3aβ, vgl. 11,7). Dabei verbergen sich hinter den von Gott selbst in das dunkle Felsgestein gehauenen Schächten wohl unterirdische, finstere Höhlen bzw. Stollen, die vom Menschen nicht betreten werden können. Die „Vergessenen“ (V. 4aβ) sind nicht, wie zumeist gedeutet, Arbeiter in einem Bergwerk, die in großer Tiefe und fern von menschlichen Wohnstätten an Seilen baumeln und auf unsicherem Boden schwanken (V. 4b), sondern Höhlen im Bereich des tiefsten Schattens (ṣalmawæt, V. 3b). Der Ausdruck ṣalmāwæt steht hier, wie in 10,21–22 und 38,17 für das unter der Erde vorgestellte Totenreich. Aufgrund der im Inneren stets rumorenden, wie Feuer brodelnden Erde (V. 5)127 schwanken die unterirdischen Schächte oder Höhlen selbst. Wie in 9,5–6 und 26,11 wird damit wohl auf Erdbebenphänomene angespielt, über die allein der Schöpfer verfügt. Die Negation der Schöpfung, die Hiob in seiner Eingangsklage mit der Herabrufung der urzeitlichen Finsternis auf seinen eigenen Geburtstag und so auf seine gesamte Existenz versuchte (vgl. 3,3–4 versus Gen 1,3–4), wird hier aufgehoben. Es erfolgt eine kritische Selbstkorrektur Hiobs gegenüber 23,17 und ein Kommentar zu 25,2–6: Auf der redaktionsgeschichtlichen Ebene der um Kap. 28 erweiterten Dichtung deutet sich damit eine weitere Entwicklung Hiobs an. 28,6–8 Mit der Feststellung, dass das Gestein der Erde den wertvollen „Saphir“ (sappîr), gemeint ist der in der Antike aus Badachschan (Afghanistan) importierte blaue Lapislazuli,128 und Goldkörner enthält, kehrt der Dichter zum Motiv des dem Menschen erreichbaren und bekannten Ortes zurück (V. 6, vgl. V. 1–2), um dann erneut den Blick in das allein dem Auge des Schöpfers vorbehaltene Innere der Erde zu werfen (V. 10). Auch hier dient die Aufzählung der verschiedenen Lebewesen, die niemals in das Innere der Erde vorgedrungen sind (V. 7–8), nicht der Betonung der besonderen Leistungsfähigkeit des Menschen, sondern der einmaligen Möglichkeiten Gottes. Die genannten Raubvögel, Wildtiere und Löwen erscheinen wie in der ersten Gottesrede in Hi 38,39–39,30 als in jeweils eigentümlicher Hinsicht dem Menschen überlegene, allein von Gott als ihrem Schöpfer versorgte und übertroffene Wesen. Dies gilt hinsichtlich der besonders scharfsichtigen Greifvögel (V. 7, vgl. V. 21; 39,29), hinsichtlich der
126 Zur allgemein altorientalischen Motivik vgl. auch den großen Šamaš-Hymnus 176–177 (TUAT. NF VII, 72) oder einen äg. Hymnus an den Sonnengott (ÄHG 22C, 3f). 127 Sofern in Hi 28,1–11 eine Beschreibung des antiken Bergbaus gesehen wird, wird V. 5b auf die Praxis des „Feuersetzens“ zwecks Sprengung von Gestein gedeutet (vgl. Weiser; Hartley). 128 Zwickel, Edelsteine, 57. Zur Nennung des „Saphirs“ in einer Reihe weiterer Edelsteine siehe Ez 28,13 sowie zu seinem besonderen Wert Ex 24,10; 28,18; 39,11; Hhld 5,14; Klgl 4,7; Sir 32,5 (HB/F); Tob 13,16 (4Q196 frgm. 18,7); 4Q554 frgm. 2 II,15.
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Schlangen (b enê-šaḥaṣ),129 die sich auch auf felsigem Gestein und in Felsspalten bewegen können (V. 8a, vgl. Spr 30,19), und hinsichtlich der gewaltigen Löwen (V. 8b).130 Alle übertreffen sie in gewisser Weise den Menschen und entziehen sich mittels ihrer spezifischen Fähigkeiten dem menschlichen Verstehen (vgl. Spr 30,18–19.30). Doch reicht auch ihre Stärke nicht an die Gewalt und Fähigkeiten Gottes heran. Wie in den gleichfalls auf die Majestätsredaktion zurückgehenden Versen 28,9–11 12,9 und 26,13 steht der Begriff der „Hand“ für die Schöpfermacht Gottes (V. 9). Mit dem Motiv, dass Gott seine „Hand“ in das harte Felsgestein (ḥāllamîš) streckte (vgl. V. 4a.10a), klingt zugleich das Wunder des während des Wüstenzuges Israels aus dem Felsen quellenden Wassers an.131 Insofern dürfte auch das Wort j eôrîm, das im Sg. in der hebr. Bibel zumeist den großen Fluss schlechthin, den Nil bezeichnet,132 in V. 10a nicht für Bergwerksstollen stehen,133 sondern für Flüsse, die Gott spaltend in die Felsen trieb (vgl. Jes 48,21; Ps 78,15–16).134 Umgekehrt zeigt sich die Schöpfermacht Gottes in seinem Eindämmen der „Quellen der Ströme“ (V. 11a, vgl. 1QHa XI,16[17]), womit wie schon in 26,12–13 ein mythisches Motiv, hier das der urzeitlichen Fluten,135 aufgenommen ist (vgl. 38,8). Mit dem ‚Exoduspsalm‘ Ps 114 teilt die Passage das Motiv des Bebens der Berge, die Gott von Grund auf umzuwälzen vermag (V. 9b, vgl. V. 4b; 9,5; Ps 114,4.6–7). Auch vor diesem Hintergrund liegt es nahe, Hi 28,3–11 auf das Handeln Gottes zu beziehen. Die Spitzenaussage bieten V. 10b und V. 11b: An das, was das Auge Gottes einst gesehen hat und jederzeit sieht (vgl. 7,8; 14,3; 34,21), reicht keine kreatürliche Wahrnehmung heran.136 Gott allein bringt das Verborgene ans Licht.137 So endet dieser Teil der Lehrrede Hiobs, wie er begonnen hat: mit einem Bekenntnis zu Gottes Macht über die Finsternis (V. 3, vgl. 26,10; Jes 45,7) und mit einem Kontrast zu den vorhandenen, aber begrenzten menschlichen Möglichkeiten, etwas hervorzubringen (V. 1–2). Mit der Notiz, dass Gottes Auge „alles Kostbare“ (kål-j eqār) sieht (V. 10), wird bereits auf die eigentliche Kostbarkeit, die 129 Nicht allgemein das Wild oder wilde Tiere (so Weiser); siehe die Anm. zur Übersetzung sowie ausführlich Jones, Rumors, 151–153. Dagegen versteht Hartley diesen Ausdruck als eine Sammelbezeichnung für den in V. 8b genannten Löwen. 130 Zur Zusammenstellung von „Schlangen“ und „Löwen“ vgl. Ps 91,13 sowie Jones, Rumors, 154–159 und ikonographisch z.B. IPIAO IV Nr. 1001. 131 Vgl. Dtn 8,15; Ps 114,8; siehe auch Dtn 32,13. Zum Motiv der Hand Gottes, welche die Erde zum Beben bringt, siehe auch SibOr 3,675–676. 132 Vgl. Gen 41,1; Ex 1,22; Jes 19,8. 133 So Ges18 s.v. bqʿ Piel 3; s.v. j eʾor 5. 134 Vgl. in diesem Sinn auch einen Chnum-Hymnus von Esna (ÄHG 145B, 24–25). 135 Nach der ug. Mythologie wohnt der Gott El am „Quellfluss der beiden Ströme inmitten der Betten der beiden Fluten“ (mbk nhrm qrb apq thmtm) (vgl. Baʿal-Zyklus [KTU 1.1–6; 1.8] II,iii,4 [TUAT.NF VIII, 199]). 136 Die LXX (vgl. auch LaB,S) unterscheidet sich hier charakteristisch vom MT, insofern sie Hiob sagen lässt, sein Auge (vgl. 13,1; 19,27; 42,5) habe alles Wertvolle gesehen, wodurch Hiobs besondere Weisheit unterstrichen und gleichzeitig die Gottesschau in 38,1 und 42,5 deutlicher als im MT vorbereitet wird. 137 Vgl. 12,22; 37,15LXX; Dan 2,22; 2Kor 4,6.
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nur Gott zugänglich ist, geblickt, die Weisheit: „sie ist kostbarer (jāqar) als Perlen, und alle Schätze sind nicht mit ihr zu vergleichen“ (Spr 3,15). Dies wissen auch die Sprüche des Achikar: Auch bei den Göttern ist sie (die Weisheit) ge[e]hrt; mi[t ihr zusammen] ist [ihrem Herrn] die Herrschaft. In den Hi[mmel] ist sie gesetzt; ja, der Herr der Heiligen hat [sie] erhöht. (Achikar X,1)138
28,12–28 Die Grenzen menschlicher Erkenntnis und des menschlichen Zugriffs auf die Welt gelten auch für den Erwerb der Weisheit. So sind die dritte und vierte Strophe nun der Darstellung der alleinigen Verfügungsgewalt Gottes über die bei der Schöpfung entdeckte Weisheit gewidmet (V. 12–22*|23–28). Dabei ist die einleitende Kopula in V. 12 nicht antithetisch zu den Möglichkeiten des Menschen, sondern synthetisch bzw. klimaktisch zum Handeln Gottes zu verstehen.139 Ein möglicherweise sekundär eingefügter Exkurs gilt der Beschreibung des unvergleichlichen Wertes der Weisheit. 28,12–14 Mit der Frage nach der Fundstätte (vgl. Sir 1,6 [G]; Bar 3,15) der Weisheit und der Einsicht (bînāh, griech. ἐπιστήμη) begegnet das zentrale Begriffspaar der atl. Weisheitsliteratur, mittels dessen das Ideal eines gelingenden Lebens beschrieben wird.140 Weisheit und Einsicht bezeichnen das Vermögen, sich in der Welt orientieren und die Phänomene genau unterscheiden (bîn) zu können. Sie gelten als „Baum des Lebens“ und „Weg des Lebens“ (Spr 3,18; 6,23). Doch während dem Weisen (ḥākām, griech. σόφος) nach traditioneller Überzeugung Weisheit zumindest annäherungsweise durch Erziehung, Erfahrung, Beobachtung und Tradition möglich ist, geht es hier um mehr: Hier bezeichnet das Wortpaar ḥåkmāh und bînāh umfassendes Wissen. Es geht um die Frage nach dem, was die Welt, und das heißt im Kontext der Rede Hiobs auch die vom Chaos geprägte Lebenswelt Hiobs, im Innersten zusammenhält – diese Weisheit ist dem menschlichen Wahrnehmen, Erfahren (jādaʿ) und Verstehen entzogen. Zu einem solchen Wissen fehlt dem Menschen, von dem nun nach V. 4b wieder ausdrücklich die Rede ist, der Zugang. Denn dieses Wissen findet sich, mythisch gesprochen, weder im „Land der Lebendigen“ (V. 13, vgl. Ps 27,13; 52,7; 116,9), d.h. auf dieser Erde und in diesem Leben, noch in der dem Menschen nicht zugänglichen tehôm (griech. ἄβυσσος), dem Urmeer tief unter der Erde (V. 14),141 oder im die Erde umgebenden Meer. Die poetische Personifikation des sprechenden Meeres greift wie in 9,13–14 und 26,12–13
Übersetzung von I. Kottsieper in: TUAT III, 335f (vgl. TAD C1 1.79; Weigl, Achikar-Sprüche, 73–79). 139 Eine antithetische Übersetzung läge nahe, wenn in V. 3–11 von den Fähigkeiten des Menschen gesprochen würde. 140 Vgl. Spr 1,2; 4,5.7; 9,10; 23,23 u.ö. 141 Vgl. Gen 1,2; 7,11; Hi 38,16; Ps 135,6; 148,7. 138
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auf den Mythos vom Chaosdrachenkampf zurück und dient dem Gedanken von der absoluten Unerforschlichkeit der Weisheit (vgl. Sir 24,28–29 [G]). Der Aspekt der Unerreichbarkeit der Weisheit wird mit Metaphern, die auch 28,15–19 in Spr 3,13–15.19; 8,10–11; 16,16 und in dem aus Qumran bekannten, wohl aus der Mitte des 2. Jh. v.Chr. stammenden Weisheitstext 4Q525 frgm. 2 III,1–7 begegnen, um das Motiv ihrer Unvergleichlichkeit ergänzt. Die Identifikation der einzelnen Vergleichsgrößen, zumal der verschiedenen Edelsteine (vgl. Ex 28,17–20; 39,10–14; Ez 28,13),142 ist nicht in allen Fällen sicher. Es handelt sich um sehr kostbare, luxuriöse, teils exotische Waren, die den ungeheuren Wert der Weisheit und die Unmöglichkeit, diese mit menschlich verfügbaren Mitteln erwerben zu können, unterstreichen soll. Der Besitz dieser Stoffe kennzeichnet gleichermaßen 1) königlichen Reichtum, für den im AT Salomo paradigmatisch ist (1Kön 10,14–23, vgl. Klgl 4,7), 2) kultische Besonderheit, wie das entsprechend ausgestattete Gewand des Hohepriesters (Ex 28) oder das Material einzelner heiliger Geräte des Jerusalemer Jhwh-Tempels (1Kön 6,20; 7,49–50), und 3) mythische Landschaften, wie den urzeitlichen Garten Eden (Gen 2,10–14; Ez 28,13),143 den Edelsteinwald im Gilgm.,144 den Palast Baʿals im Baʿal-Zyklus145 oder das himmlische Jerusalem (Apk 21,18–21). Gerade im Bild des im Garten Eden mit Gold und Edelsteinen, die auch in Hi 28,15–19 aufgezählt werden, geschmückten Urmenschen in Ez 28 (vgl. Hi 15,7), verbinden sich die Motive der Weisheit und des Luxus. Vielleicht stand auch diese Motivverknüpfung im Hintergrund der Einfügung von Hi 28,15–19, wenngleich gerade in diesen Versen gegenüber dem Kontext die mythische Dimension durchbrochen ist und der Schwerpunkt auf dem Vergleich mit dem ungeheuren Wert der Weisheit liegt.146 Dieser hyperbolisch den Wert einer Größe herausstellende Aspekt zeigt sich auch in Ps 19,11 und 119,72.127, wo mittels dieser Stoffe der Wert der Torah unterstrichen wird, und in Sir 6,15 und 7,18, wo in ähnlicher Weise der unvergleichliche Wert der Freundschaft herausgestellt wird. Ophir bezeichnet wie in 22,24 metonymisch das von dort stammende Gold.147 28,16 Der Schoham ist ein Edelstein, wobei unsicher ist, ob es sich um einen Onyx, einen Karneol oder einen Smaragd (einen hellgrünen Beryll) handelt, der bei Sikait-Zubaru in Ägypten (zwischen Edfu und dem Roten Meer) abgebaut wurde148 (vgl. Gen 2,12; Ex 28,20; Ez 28,13).
H. Weippert, Art. „Edelstein“, BRL2 (1977) 64–66; Zwickel, Edelsteine, Mainz 2002. In diesem Sinn hat bereits TgHi in 28,6–7 das Motiv des Gartens Edens und des Lebensbaumes eingetragen. 144 Gilgm. IX,v,45–? (TUAT III, 718f). 145 KTU 1.4 IV,v,15–40 (TUAT.NF VIII, 217f). 146 Zum Verständnis von V. 15–19 vor dem Hintergrund der Zusammenstellung einzelner Güter in altorientalischen Handelsurkunden und Rechnungen siehe Jones, Rumors, 213 mit Hinweis auf Ez 27,12–24 und Jes 3,18–23 sowie der Zitation eines Beispiels aus neubab. Zeit. 147 S.o. S. 360f. 148 Vgl. Zwickel, Edelsteine, Mainz 2002, 61f. 142 143
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
28,17
Das in der hebr. Bibel nur hier belegte Wort zekôkît meint Glas (vgl. Th [ὕαλος]149; Hieronymus [vitrum]), dessen Herstellung in Ägypten und Mesopotamien seit dem 3. Jt. v.Chr. nachgewiesen ist. In vorhellenistischer Zeit galt es im Alten Orient als Ersatzmaterial für Edelsteine und wurde wie diese und Gold sehr hoch geschätzt.150 28,18 Die genaue Bedeutung des nur hier und in Ez 27,16 belegten Wortes rāʾmôt ist unsicher. Es könnte für (schwarze) Korallen, eine Seemuschel oder die „Mutter der Perle“ stehen, jedenfalls für eine kostbare Handelsware, die aus Edom nach Tyros ausgeführt wurde (vgl. Ez 27,16). Th versteht rāʾmôt wohl als Form von rûm („hoch sein“) (μετέωρα „hoher Platz“, „Himmelskörper“, vgl. Sym; La; Vg). Das hap. leg. gābîš ist eine Kurzform des häufiger belegten Wortes ʾælgābîš und bezeichnet ursprünglich Eis (vgl. Ez 13,11.13: Hagel), hier einen Kristall oder Bergkristall. Th transkribiert einfach (γαβις, vgl. La). Auch die Identifikation der mehrfach zum Vergleich mit dem Wert der Weisheit herangezogenen penînîm151 ist umstritten; es könnte sich um (rote) Korallen, Rubine oder um Perlen handeln. Der besondere Wert zeigt sich an den Parallelisierungen mit Gold.152 Th hat wohl penîmîm („innerste/geheime Dinge“) gelesen (vgl. La; Vg). 28,19 Der Peridot (vgl. Ex 28,17; 39,10; Ez 28,13) ist ein durchsichtiger, fahlgrüner, olivenförmiger Edelstein (Eisen-Magnesium Silikat), der auch mit dem Topas (vgl. Th; La; Vg) oder dem Chrysolith identifiziert wird. Kusch, von Th zutreffend mit Äthiopien wiedergegeben, bezeichnet das Gebiet südlich des ersten Nilkataraktes. Im AT steht es häufig neben oder parallel zu Ägypten.153 Möglicherweise ist die Vulkaninsel Ǧeziret Zabarǧad (St. JohnsIsland), ca. 300 km östlich von Assuan, die „weltweit bedeutendste Fundstätte des Chrysolit (Peridot)“ im Blick.154 Mit der Erwähnung von reinem Gold, aus dem nach Ex 31,8 und Lev 24,6 der Leuchter und der Schaubrottisch im „Zelt der Begegnung“, dem in die Zeit des Exodus projizierten Prototyp des Jerusalemer Jhwh-Tempels, bestanden, schließt der Exkurs. 28,20–22 Begrifflich gegenüber den V. 12–14 nur leicht variiert, lässt der Dichter Hiob erneut die rhetorische Frage nach der Herkunft und der Fundstätte der Weisheit stellen. Wie in V. 7–8 sind es nun die wilden Tiere und die Vögel, die exemplarisch für die Unmöglichkeit stehen, die Weisheit in dem den Geschöpfen maximal zugänglichen Raum zwischen Himmel und Erde zu finden. Der unter der Erde vorgestellte Bereich wird jetzt, in analoger poetischer Personifikation, durch den Abaddon, das Totenreich (vgl. 26,6),155 und den Tod (vgl. 18,13; Vgl. Aristoteles, meteor. 389a,7–8; Platon, Tim. 61b; Philon, legat. 364b; Apk 21,18.21 Zu Herstellung, Produkten und Fundorten im Alten Orient und in Israel/Palästina siehe H. Weippert, Art. „Glas“, BRL2 (1977) 98f; A.L. Oppenheim/H. Kühne, Art. „Glas“, RLA 3 (1971) 407–427; P.T. Nicholson, Egyptian Faience and Glass, Princes Risborough 1993. 151 Vgl. Spr 3,15; 8,11; Klgl 4,7; 4Q525 frgm. 2 III,7. 152 Vgl. Spr 20,15; Sir 30,15; 31,6 (HB). 153 Vgl. Gen 10,6; Jes 11,11; 20,3–5, Ez 30,4; Nah 3,9; Ps 68,32. 154 Zwickel, Edelsteine, 54; vgl. Plinius, nat. 37, 108 (Eichholz, 250f) („Topazos/Topasinsel“). 155 S.o. zu Hi 26,6. 149
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Ps 49,15; Jer 9,21) repräsentiert, die von der Weisheit zwar etwas gehört haben, aber nicht wirklich, d.h. aufgrund des eigenen Sehens (Hi 42,5), um sie wissen. Im ursprünglichen griech. Text, der die V. 21b.22a nicht enthielt, handelt es sich dabei sich um eine Aussage des sich selbst unter die Weisen rechnenden Hiob, der entsprechende Kunde vernommen hat. Der MT ist hier stringenter: Der gesamte Kosmos, weder die belebte,156 noch die unbelebte Welt, kann über die Weisheit verfügen. Im Kontext der Rede Hiobs ist dies die völlige Absage an das weisheitliche Konzept, mittels der ḥåkmāh Leben gestalten und erklären zu können. Vielmehr ist ein grundsätzlicher Wechsel der Perspektive nötig. Dieser wird nun in der Schlussstrophe vollzogen. Sie setzt betont mit der 28,23–27 Gottesbezeichnung ʾælohîm, der einzigen ausdrücklichen Nennung Gottes innerhalb der in 27,11–12 angekündigten Lehrrede, ein und unterstreicht wie in V. 3 mittels des Personalpronomens hûʾ („er“), nun im Sinne von „er allein“, dass nur Gott den Weg zur Weisheit erkannt hat. Die Weisheit erscheint als kosmische Größe, die der Schöpfung vorausgeht und allein vom Schöpfer, der den gesamten Kosmos überschaut, wahrgenommen werden konnte (V. 24).157 Exemplarisch für die Schöpfungstätigkeit Gottes, die mit dem Auffinden 28,25–27 und dem Prägen der Weisheit verbunden ist, sind die Einrichtung einer Ordnung für Wind und Wasser, Regen und Donner, mithin für meteorologische Phänomene.158 Schöpfung ist hier, wie auch sonst in der hebr. Bibel und im Alten Orient, ein göttliches Ordnen nach Maß und Ziel (vgl. SapSal 11,20), ein Strukturieren schon vorhandener Materie, keine creatio ex nihilo. Diese Vorstellung wird zwar vor allem durch den Gebrauch des nur mit dem Subjekt „Gott“ konstruierten Verbs bārāʾ („erschaffen“) im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht und in einzelnen Schöpferdoxologien bei Deuterojesaja vorbereitet.159 Im Horizont der biblischen Schriften findet sie sich aber erstmals im auf Griechisch abgefassten 2Makk 7,28 (2./1. Jh. v.Chr.) sowie in Röm 4,17 und Hebr 11,3. Systematisch reflektiert begegnet die Vorstellung der creatio ex nihilo erstmals bei Theophil von Antiochien (2. Hälfte 2. Jh. n.Chr.). Die Verfügungsgewalt Gottes über die Weisheit wird mittels des Vierklangs 28,27 von sehen, abzählen, einrichten, erforschen unterstrichen (vgl. 12,13). Gleichwohl steht diese Zuordnung der Weisheit zu Gott in gewisser Spannung zu der in Ps 104,24 und Spr 3,19 vertretenen Vorstellung, nach der Gott die Welt in bzw. mit der Weisheit gegründet hat,160 und zu der von Jesus Sirach vollzogenen Relation, der zufolge Gott die Weisheit geschaffen hat (κτίζω, Sir 1,9 [G]).161 Betont steht das Verb ḥāqar („erforschen“) am Ende dieser Kette, womit der Zur Wendung kål-ḥāj („alles Leben“, V. 21) vgl. Hi 12,10; 30,23; (34,15); Ps 143,2; 145,16. Vgl. Hi 26,6; Sir 16,17–18; 39,19–20. 158 Vgl. Gen 1,2; Hi 36,27; 38,10.25 (38,25b = 28,26b); 38,26.28; Spr 8,27–31; Sir 43,13–17; Ps 135,7; Jes 40,12; 1Hen 17,2–3; 18,3–5; vgl. auch das in den ConstAp VIII,12,6–27 überlieferte hellenistische Synagogengebet Nr. 12,34 (OTP II, 690–694: 692). 159 Vgl. Gen 1,1.21.27; 2,3; 5,1–2; Jes 41,20; 45,7–8.18. 160 Vgl. auch Jer 10,12 par. 51,15. 161 Sir 1 liegt bis heute nur in der griech. Übersetzung des um 120 v.Chr. schreibenden Enkels Ben Siras sowie den jüngeren syr. und lat. Übersetzungen vor. 156
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Bogen zurück zur Eröffung der Beschreibung von Gottes Schöpfertätigkeit in V. 3b geschlagen wird. Das inhaltliche Gegenüber zu V. 3a, mit dem Rekurs auf den Einsatz der Schöpfung mittels Begrenzung der Finsternis, stellt der abschließende V. 28 dar, insofern nun die Rolle des Menschen bestimmt wird. So spiegeln sich in der Rahmung von Hi 28 das erste und das letzte Schöpfungswerk des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts (Gen 1,3–5.26–27). 28,28 Wie in der Lehrrede in 26,14 ist der Abschlussvers als Trikolon gestaltet,162 und wie dieser endet er mit einem von der Wurzel bîn abgeleiteten Begriff der Erkenntnis (bînāh „Einsicht“). Im Rückgriff auf die Eingangssentenz (V. 1–2) und die Kehrverse (V. 12.20), aber auch auf die Einleitung in 27,1, wird das Verhältnis des Menschen (ʾādām)163 zu der ihm verborgenen Weisheit bestimmt. Diese wird als Gottesfurcht (vgl. 4,6; 15,4; 22,4) identifiziert. Das Summarium fügt sich gut in das jeweils sechs Bikola umfassende Strophenmuster ein und dürfte, unabhängig davon, ob es auf einer früheren Traditionsstufe zum Grundbestand des Weisheitsliedes gehörte, auf die Hand zurückgehen, die das Gedicht für die Einlage in die Hiobdichtung bearbeitet hat.164 Angesichts der Unerreichbarkeit der kosmischen Weisheit (vgl. 15,7–8) besteht die dem Menschen zugängliche Weisheit und Einsicht darin, Gott zu fürchten und sich vom Bösen fernzuhalten. Anders als Spr 1,7, wo die Gottesfurcht als Anfang bzw. Wurzel der Weisheit bezeichnet wird,165 erscheint sie in Hi 28,28 als die dem Menschen gemäße Form der Weisheit. Auch wenn hier eine gewisse Skepsis im Sinn einer letzten Unerkennbarkeit Gottes und seines Wirkens deutlich wird (vgl. 26,14), ist diese Folgerung kein Sarkasmus.166 Vielmehr zeigt sich die Demut des Weisen, der auf eine vollkommene Durchdringung der Rätsel der Welt verzichtet und die Gottesfurcht als die ihm von Gott geschenkte Form von Weisheit und Klugheit annimmt (vgl. Spr 21,30). In diesem Sinn lässt auch Euripides einen Boten sagen: Gehorsam und Frömmigkeit den Göttern gegenüber sind das höchste Glück – wohl auch ein Schatz voll höchster Weisheit für alle Menschen, die danach zu handeln wissen. (Euripides, Bacch. 1150–1152)167
So unterstreicht Hi 28,28 das Unschuldsbekenntnis Hiobs in 27,5–6. Auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches entspricht diese Einsicht Hiobs genau der ihm im Prolog verliehenen Charakteristik (1,1.8; 2,3, vgl. Spr 8,13), die ihm Siehe die Anm. zur Übersetzung. TurSinai und Greenstein denken an den ersten Menschen, Adam (vgl. Hi 15,7–9). 164 Dagegen vermuteten u.a. Duhm; Driver/Gray; Dhorme; Fohrer; Wanke, Praesentia Dei, 397; 430; Vermeylen, Métamorphoses, 328, dass erst nach der (sekundären) Einfügung von Kap. 28* ein noch späterer Bearbeiter V. 28 ergänzt und somit die Tendenz des Gedichtes umgedeutet habe. 165 Vgl. auch Spr 9,10; 15,33; Ps 111,10; Sir 1,20 (G). 166 Budde, 163, glaubt hier einen „Pessimismus“ zu erkennen, vgl. Habel, 393: V. 28 diene in einem orthodoxen Gewand ironisch „as a deliberate foil for the climactic protestation of the hero“. 167 Übersetzung von Ebener, Euripides, III, 231. 162 163
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zunächst auch die Freunde noch geben (4,6), bevor sie ihm diese dann vehement bestreiten (15,4; 22,4). Im Rückblick zeigt sich in Hi 28 also eine dreifach gestufte Argumentation. Für Irdisches, entfaltet im Doppelvers zur Fundstätte von Gold und Silber (V. 1–2), gibt es einen Ort, so dass der Mensch aufgrund seiner Fähigkeiten dieses auffindet. Für die als präexistent gedachte kosmische Weisheit aber gibt es keine dem Menschen erreichbare Fundstätte (V. 12.20). Um diese weiß allein Gott, der Schöpfer aller Dinge (V. 23), der die Welt vollkommen durchdrungen (V. 3–11), dem Kosmos eine Ordnung (V. 24–26) gegeben, der Weisheit ihren Ort angewiesen (V. 27) und dem Menschen die Gottesfurcht als Weisheit verordnet hat (V. 28, vgl. Spr 3,7). Die Lehre (tôrāh), die Hiob hier seinen Freunden erteilt, besteht in der Gottesfurcht, zu der er sich gegenüber dem Vorwurf des Eliphas nachdrücklich bekennt (vgl. 4,6; 15,4; 22,4; Ps 25,12), und in der Flucht vor dem Bösen – angesichts des Schicksals Hiobs schwingen in beiden Größen, der Gottesfurcht und der Flucht vor dem Bösen, auch die existentielle Furcht vor Gott und der Versuch mit, dem Lebensfeindlichen und Lebenszerstörenden zu entgehen. Hatten die Freunde, wie der Weisheitslehrer in Spr 3,11–12, Hiob geraten, als Weiser die Zucht Gottes nicht abzulehnen (5,17), so setzt sich Hiob kritisch mit dem lebenspraktischen Weisheitsverständnis auseinander, wie es in Spr 3,13–18 entfaltet wird, während er die in Spr 3,7 erteilte Mahnung zur Gottesfurcht und die in Spr 3,19–20 vorliegende Vorstellung von Gott als Schöpfer teilt. Damit steht das Verständnis von Weisheit, Religion und Ethos in Hi 28,28 traditionsgeschichtlich und theologisch eng neben dem Buch Kohelet. Wenn dann in der rabbinischen Auslegung Weisheit, Gottesfurcht und die Torah identifiziert werden,168 so liegt dies durchaus in der Fluchtlinie von Hi 28,28, obgleich dieser Vers ursprünglich eher als ein kritischer Reflex auf die Torah (vgl. Dtn 4), auf die Vorstellung, mittels Weisheit das Leben heilvoll gestalten zu können (Spr 2–3*), und auf die Personifikation der Weisheit in Spr 8,22–31 zu verstehen sein dürfte. In LXX, in deren ursprünglicher Fassung Kap. 28 nur V. 1–3a.4b.9b.10– 13.20–21a. 22b–26a.27b–28 umfasste, sind die Verse noch deutlicher auf die Tätigkeit Gottes fokussiert, über dessen Werke Hiob staunt (vgl. V. 10b).169 So findet Hi 28* in LXX funktional seine nächste Parallele im hymnischen Lobpreis auf den Schöpfer, der „alles in Weisheit geschaffen hat“ (Ps 104,24, vgl. Sir 43,27–29).
168 Vgl. exemplarisch bShab 89a, wo unter Zitation von Hi 28,14.22.23 eine Legende mitgeteilt wird, der zufolge der Satan sich bei Gott erkundigt, wo sich die Torah verberge, sowie ShemR I zu Ex 1,20, wo der Lohn der Gottesfurcht der äg. Hebammen (Ex 1,17) gemäß Hi 28,28 mit der Torah identifiziert wird. 169 Vgl. Cook, Aspects, 46–45, und Küchler, Gott, 128–133; 218–221.
432 Exkurs
Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
Hi 28 und die Gestalt der Weisheit im Alten Testament und im frühen Judentum
Literatur Hempel, C. u.a. (Hg.): The Wisdom Texts from Qumran and the Development of Sapiential Thougth, BEThL 159, Leuven u.a. 2002. – Goff, M.J.: Discerning Wisdom. The Sapiential Literature of the Dead Sea Scrolls, VT.S 116, Leiden/Boston 2007. – Küchler, M.: Frühjüdische Weisheitstraditionen. Zum Fortgang weisheitlichen Denkens im Bereich des frühjüdischen Jahweglaubens, OBO 26, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1979. – Mack, B.L.: Logos und Sophia. Untersuchungen zur Weisheitstheologie im hellenistischen Judentum, StUNT 10, Göttingen 1975. – Marböck, J.: Weisheit im Wandel. Untersuchungen zur Weisheitstheologie bei Ben Sira, BBB 37, Bonn 1971 (rev. ed., BZAW 272; Berlin/New York 1999). – Merkelbach, R.: Isis Regina. Zeus Sarapis. Die griechisch-ägyptische Religion nach den Quellen dargestellt. Stuttgart/Leipzig 1995 (22001). – Müller, D.: Ägypten und die griechischen Isis-Aretalogien, Abhandlungen der Sächsichen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse 53/1, Berlin 1961. – Neher, M.: Wesen und Wirken der Weisheit in der Sapientia Salomonis, BZAW 333, Berlin/New York 2004. – Schipper, B.U./Teeter, D.A. (Hg.): Wisdom and Torah. The Reception of ‘Torah’ in the Wisdom Literature of the Second Temple Period, JSJ Supplement 163, Leiden/Boston 2013.
Hi 28 gehört mit seinem spezifischen, mythologisch gefärbten Weisheitsbegriff zu einer Reihe von frühjüdischen Texten, die in vielfältiger Weise über das Wesen der Weisheit als einer selbstständigen, wenn auch Gott untergeordneten Macht, teilweise als Hypostase verstandenen Größe, reflektieren. Diese Texte spiegeln eine in hellenistischer Zeit in jüdischen Kreisen intensiv geführte Diskussion über das Wesen der Weisheit, über Formen göttlicher Offenbarung und menschlicher Erkenntnis sowie über das Verhältnis von Weisheit und Torah. Die nächste Parallele zu Hi 28 stellt die Selbstprädikation der Weisheit in Spr 8,22–36 dar. Beide Texte gehen von der Präexistenz der Weisheit aus (Hi 28,23.27; Spr 8,22–26, vgl. Sir 1,4.9 [G]; 24,3.9 [G]; SapSal 7,25–26) und betonen deren besondere Rolle bei der Schöpfung (Hi 28,24–26; Spr 8,27– 31, vgl. Spr 3,19; SapSal 7,22; 8,5–6; 9,9). Während Spr 8,30–31 die Weisheit aber als Person stilisieren kann,170 erscheint sie in Hi 28,26 eher als eine stofflich-materielle Größe. Mit dem Bekenntnis, Weisheit sei vom Menschen nicht zu finden und zu erwerben, steht Hi 28,1–14.20–28 im Gegensatz zu dem Makarismus, in den Spr 8 mündet: 32 So hört nun auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege einhalten! 33 Hört die Zucht und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind! 34 Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore! (Spr 8,32–34 LB)
Die Vorstellung der ,verborgenen Weisheit‘ in Hi 28 ist eine Antithese zum Bild der ,nahen Weisheit‘ in Spr 8 und theologiegeschichtlich wohl jünger als
170 Personifiziert begegnet die Weisheit des Weiteren als „Schwester“ (Spr 7,4), „Braut“ (SapSal 8,2), „Geliebte“ (Spr 4,6.8), „Frau“ (Sir 15,2; 51,13–22 [HB]; SapSal 7,21), „Mutter“ (Sir 4,11; 15,2) und „Gastgeberin“ (Sir 15,3; 24,19 [G], vgl. JosAs 8,5.9; 15,5; 16,16; 19,5).
Hi 28 und die Gestalt der Weisheit im Alten Testament und im frühen Judentum
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Spr 8.171 Die Materialisierung der Weisheit in Hi 28* bildet eine kritische Korrektur zur Personifikation der Weisheit in Spr 8. Sie dient der Wahrung des strikten Monotheismus, der durch Spr 8* tendenziell aufgeweicht wird. Der sekundäre Abschnitt 28,15–19 entspricht dagegen der Vorstellung von der Erwerbbarkeit der Weisheit in Spr 1,20–33; 3,13–26; 4,7–9; 8,1–21 und 9,1–17 und hellt das skeptisch gestimmte Gedicht in Hiobs Mund auf. Insbesondere Sir 1 und 24, die bisher nur in der griech., syr. und lat. Version des um 190/180 v.Chr. auf Hebräisch abgefassten Sirachbuches erhalten sind, stehen mit ihrer Weisheitsreflexion nahe im Umkreis von Hi 28,1–14.20–28. Wie in Hi 28,25–27 finden sich die Motive 1) der Präexistenz der Weisheit (Sir 1,1.4.9; 24,9), 2) ihrer besonderen Rolle bei der Schöpfung (Hi 28,25–27; Sir 1,9; 24,8–9), 3) ihrer kosmischen Verborgenheit (Hi 28,14.20; Sir 1,6) und 4) der alleinigen Verfügungsgewalt Gottes über sie (Hi 12,13.16; 28,23; Sir 1,6; 24,3.8–9). Gegenüber Hi 28,1–14.20–28 ist die Weisheit in Sir 24 wie in Spr 8 konsequent personifiziert. Dabei steht die Selbstprädikation der Weisheit in der 1. P. Sg. wohl auch unter dem Einfluss zeitgenössischer Aretalogien der äg. Göttin Isis, die in hellenistischer Zeit zu einer im gesamten Mittelmeerraum verehrten Allgottheit aufgestiegen ist. Eine Besonderheit von Sir 24, auch im Vergleich mit Spr 8, ist die Niederlassung der Weisheit am Tempel in Jerusalem (Sir 24,8–10) und ihre Inkarnation in der mosaischen Torah: Dies alles ist das Buch des Bundes des höchsten Gottes, das Gesetz (νόμος), das Mose uns geboten hat als Erbe für die Gemeinden Jakobs. (Sir 24,23 [G])
Die Weisheit ist damit einerseits wie in Spr 8 eine dem Frommen erreichbare, nahe Größe (Sir 1,16.18; 4,11): Glücklich der Mensch, der über die Weisheit nachsinnt, der auf die Einsicht schaut. (Sir 14,20 [HA] – vgl. Ps 1,1–3)
Andererseits ist die Weisheit in Sir 24 durch ihre Verkörperung in der Torah wie in Hi 28 auch re-materialisiert. Während aber in Hi 28,28 die Gottesfurcht als die dem Menschen entsprechende Form der Weisheit bezeichnet wird, sind im Sirachbuch die Gottesfurcht, die Weisheit und das Halten der Torah identisch (Sir 19,20).172 Die Folge der in Dtn 4,6 angelegten Gleichsetzung von schriftlich fixierter Torah und hymnisch gepriesener, ursprünglich bei Gott 171 Zur Typologie der ‚verborgenen‘ und ,nahen‘ sowie der ,entschwundenen Weisheit‘ vgl. Mack, Logos, 21; van Oorschot, Weisheit, 183–201, und im Anschluss an diesen Wanke, Praesentia Dei, 240–272. 172 Vgl. Sir 2,16 (G); 21,11 (G); Ps 119,97–104; 4Q525 frgm. 2 II+3,3–5; syrBar 38,2; 48,24; 77,16; TestLev 13,1–9.
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Hi 4–28 Das Streitgespräch Hiobs mit seinen Freunden
wohnender Weisheit ist, dass der Weise ein Loblied auf die Weisheit singen kann, die er schon von früher Jugend an suchte und die er schließlich fand (Sir 51,13.26 [HB]). Durch eine Personifikation, Lokalisierung und Identifizierung ist die Weisheit im Sirachbuch (wieder) die ‚nahe Weisheit‘, die sie in den Proverbien ist, wenngleich dort (noch) nicht in Kombination mit dem Zion und, jedenfalls in den älteren Schichten, mit der Torah. Gegenüber der absoluten Transzendenz der Weisheit und Gottes, dessen Distanz zum Menschen durch seinen alleinigen Besitz der Weisheit in Hi 12,13 und 28,23–28 unterstrichen wird, und gegenüber der aus Hi 27,11–12; 28,1–14.20–28 sprechenden frommen Skepsis in Gestalt des Verzichts auf Spekulation und der Konzentration auf die Gottesfurcht wird im Sirachbuch auch die Immanenz der Weisheit herausgestellt und ein optimistisches Bild des Torahtreuen gezeichnet: Der Fromme darf sich freuen, weil Gott die Weisheit (σοφία) auf alle seine Werke ausgegossen (Sir 1,9 [G]) und diese sich ein irdisches „Fundament für immer“ (Sir 1,15 [G]) eingerichtet hat. Theologie- und entstehungsgeschichtlich nahe bei Sir 24 steht das nur in seiner griech. Version erhaltene Lehrgedicht auf die σοφία in Bar 3,9–4,4.173 Einerseits werden in direkter terminologischer Überschneidung mit Hi 28 1) die Unauffindbarkeit der Weisheit,174 2) das alleinige göttliche Wissen um sie175 und 3) ihre Auffindung durch Gott bei der Schöpfung beschrieben.176 Andererseits erfolgen wie in Sir 24,23 [G] 1) die ,Nationalisierung‘ der Weisheit (Bar 3,37), 2) die Identifizierung mit der Torah (4,1) und 3) die damit verbundene Annahme ihrer Erwerbbarkeit (3,9–14.37; 4,1b.2.4). Den Gipfel der Identifikation der Weisheit innerhalb der jüdisch-hellenistischen, vorrabbinischen Literatur bildet die Definition in dem als philosophischen Traktat zu bezeichnenden 4. Makkabäerbuch, das mutmaßlich im 1. oder 2. Jh. n.Chr. entstanden ist:177 Denn Weisheit ist demzufolge Erkenntnis göttlicher und menschlicher Dinge und ihrer Ursachen. Diese ist nun wiederum Erziehung des Gesetzes, durch die wir die göttlichen und menschlichen Dinge wirklich (σεμνῶς) lernen. (4Makk 1,16)
173 Zur Anlehnung von Bar 3,15–28 an Hi 28* sowie an Sir 1 (G) und 24 (G) (bzw. deren mutmaßliche hebr. Vorlage) vgl. Küchler, Weisheitstraditionen, 49; O.H. Steck, Israels Gott statt anderer Götter – Israels Gesetz statt fremder Götter. Beobachtungen zur Rezeption von Hi 28 in Bar 3,9–4,4, in: I. Kottsieper u.a. (Hg.), „Wer ist wie du, Herr, unter den Göttern?“. Studien zur Religionsgeschichte Israels (FS O. Kaiser), Göttingen 1994, 457–471; S.A. Adams, Baruch and the Epistle of Jeremiah, Septuagint Commentary Series, Leiden 2014, 105; 110. 174 Vgl. Bar 3,15.20.23.27.31 mit Hi 28,12.20; Bar 3,17 mit Hi 28,21b; Bar 3,17b mit Hi 28,1–2. 175 Vgl. Bar 3,29 mit Hi 28,21b.23; Bar 3,32.36 mit Hi 28,23; 12,13. 176 Vgl. Bar 3,32–33 mit Hi 28,24–27. 177 Siehe dazu H.-J. Klauck, 4 Makkabäerbuch, JSHRZ III, Gütersloh 1989, 665–667; D.A. daSilva, 4 Maccabees. Introduction and Commentary on the Greek Text in Codex Sinaiticus, Septuagint Commentary Series, Leiden 2006, XIVf.
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Unter den in Qumran gefundenen Weisheitsschriften gehört das vielleicht noch im 3. Jh. v.Chr., wahrscheinlich aber später verfasste Preislied auf die Weisheit in 11QPsa XVIII (= Ps 154; SyrPs 2) in das Umfeld von Hi 28.178 Wie in Hi 28,23–25 wird die Weisheit mit der Schöpfungstätigkeit Gottes in Zusammenhang gebracht. Gleichwohl ist die Weisheit in 11QPsa XVIII personifiziert, was auch für die Weisheitstexte 4Q185 und 4Q525 diskutiert wird,179 und als eine Form der ,nahen Weisheit‘ reflektiert. Tendenziell steht die Weisheit auch in 11QPsa XVIII mit dem ‚Gesetz‘ in Verbindung, insofern sie bei denen ist, deren Reden der „Weisung des Höchsten“ (twrt ʿljwn) gilt (11QPsa XVIII,14[12], vgl. 4Q525 frgm. 2 II+3,4). Die Aufgabe der Weisheit ist es, zur Verkündigung der „Herrlichkeit Gottes“ (kbwd jhwh) anzuleiten (11QPsa XVIII,3). In der zwischen dem 1. Jh. v.Chr. und 1. Jh. n.Chr. entstandenen SapSal stellt die σοφία, die vor allem in Kap. 6–10 ein zentraler Begiff ist, dann deutlich eine Hypostase dar, insofern sie als Person an der Stelle Gottes handelnd in Schöpfung und Geschichte auftreten kann, ohne dass aber das Wesen Gottes im Wirken der Weisheit aufgeht (7,22–24; 10,1–11,1). Ihr Ausgehen von Gott wird einer Emanation vergleichbar beschrieben (7,25; 9,6). Die aus Hi 28 bekannten Attribute der ḥåkmāh sind in SapSal auf die σοφία angewendet.180 In Aufnahme mittelplatonischer Vorstellungen und ebenfalls von Elementen aus der zeitgenössischen Isis-Theologie ist die Weisheitstheologie der SapSal weiter entfaltet. Diese gehört wie 4Makk 1,16; 2Hen 33,3; 44,1; 48,4 oder Aristobul frgm. 5,10181 zu einem Aspekt der facettenreichen Nachgeschichte von Hiobs Lehrrede in Kap. 27–28*. Dabei berührt sich SapSal hinsichtlich der Personifikation (wieder) stärker mit dem Weisheitsverständnis von Spr 8 und weist selbst thematische Parallelen zur Sophia- und Logos-Lehre des ungefähr zeitgleich wirkenden jüdischen Philosophen Philon von Alexandria (ca. 25 v.Chr. – 40 n.Chr.) auf.182 Einen unmittelbareren Nachbarn besitzt Hi 28 in der kurzen Beschreibung der ‚entschwundenen Weisheit‘ in 1Hen 42. Das schwer zu datierende Stück liegt bisher nur auf Äthiopisch vor und wirkt an seiner gegenwärtigen literarischen Position fehlplatziert. Die Parallele zu Hi 28,12–14.20–22 besteht in der Beschreibung der Universalität der Weisheit und ihrer kosmischen Lokalisierung. Über Hi 28 hinaus und im Gegensatz zu Sir 24 (und Bar 3) wird 178 Vgl. D. Lührmann, Ein Weisheitspsalm aus Qumran (11QPs XVIII), ZAW 80 (1968) 87–98; A.S. van der Woude, Die fünf syrischen Psalmen, JSHRZ IV, 43–45; Goff, Wisdom, 240–247. 179 Vgl. Goff, Wisdom; 135–139; 214–217. 180 „Unvergleichlicher Wert“: SapSal 7,8–9.29; 8,7, vgl. Hi 28,14–19. „Sein bei Gott“: SapSal 7,15; 8,3; (9,2.6), vgl. Hi 28,23–25; 12,13. „Erwerbbarkeit“: SapSal 1,4.6; 6,9.12–25; 7,7.27; 8,2, vgl. partiell Hi 28,15–19. „Wirken in der Geschichte“: SapSal 10,1–11,1, vgl. Hi 12,13–25. „Auftreten im Kontext der Schöpfung“: SapSal 7,25; 9,1.9, vgl. Hi 28,23–27. 181 Vgl. N. Walter, Fragmente jüdisch-hellenistischer Exegeten: Aristobulos, Demetrius, Aristeas, JSHRZ III, 276. 182 Vgl. dazu ausführlich Mack, Logos, 63–95 sowie knapp O. Kaiser, Weisheit Salomos, 87–89, und L. Mazzinghi, Weisheit, IEKAT, Stuttgart 2018, 39f. Zur Identifikation von Weisheit und Torah in der rabbinischen Literatur siehe Lévêque, Job, II, 605, und Küchler, Weisheitstraditionen, 54–57.
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berichtet, dass die Weisheit vergeblich versuchte, auf der Erde eine Heimstatt zu finden, und daher (wieder) Wohnung im Himmel nahm, möglicherweise, weil sie von den Menschen auf der Erde nicht angenommen wurde.183 Das Motiv der im Himmel wohnenden Weisheit kennen auch die Sprüche des Achikar (X,1), allerdings wird dort die Weisheit den Menschen von den Göttern geschenkt (IX,16).184 Das Motiv der ,entschwundenen Weisheit‘ begegnet schließlich in 4Esr 5,9–10 und syrBar 48,36 wieder. Die gesamtbiblische Bedeutung von Hi 28 zeigt sich schließlich daran, dass im NT zahlreiche Aspekte der kosmischen Weisheit auf Jesus Christus übertragen werden. Insbesondere der Prolog des Johannesevangeliums, der in Jesus Christus den auf der Erde vorübergehend „Wohnung nehmenden“ Logos erkennt (vgl. Joh 1,14 mit Sir 24,8), erweist sich als Erbe der frühjüdischen Weisheits- und Logosspekulation. Rückblick Ursprünglich endete der Dialog zwischen Hiob und seinen Freunden mit einem Abschlussgespräch Hiobs mit Eliphas (Kap. 22,1–24,12). Unmittelbar daran schloss sich der in 27,1–6 eröffnete, dreigliedrige Reinigungseid mit der Herausforderung Gottes an (Kap. 29–31). Durch die mehrfachen redaktionellen Nachbearbeitungen in Kap. 24,13–25; 25,1–26,14; 27,7–10.13–23; 28,1–28 sind die literarische Architektur, das Hiobbild, aber auch die Theologie und die Anthropologie der Dichtung grundlegend verändert worden: Die beiden Lehrreden Hiobs über Gottes Macht und Herrlichkeit und seinen ausschließlichen Zugriff auf die kosmische Weisheit (26,1–14; 27,11–12 + 28,1–28) sowie Hiobs Bekenntnisse zur strafenden Gerechtigkeit Gottes (24,13–25; 27,7–10.13–23) ergänzen nun seine Unschuldserklärungen. Sie modifizieren seine Aussagen und diejenigen seiner Freunde zu den Möglichkeiten weisheitlicher Welterkenntnis und Lebensgestaltung und entziehen wesentlichen Argumenten der Freundesreden, aber auch der erst in den Elihureden (Kap. 32–37) und in den Gottesreden (Kap. 38–41) folgenden Kritik an Hiob weitgehend den Boden. Wie die besondere Überschrift in 27,1 und die Sentenz in 28,28 zeigen, ist die weisheitliche Auseinandersetzung über die Frage nach der Gerechtigkeit und nach dem Wesen Gottes und des Menschen zu einem ersten Abschluss gekommen, so dass sich eine dreifache Zwischenbilanz ziehen lässt: Erstens hält Hiob an seiner eigenen Gerechtigkeit und an der Annahme, von Gott ungerecht behandelt zu werden, grundsätzlich fest. Zweitens stimmt Hiob hinsichtlich einer schlussendlichen Bestrafung der Frevler durch Gott mit den Freunden überein. Drittens erkennt Hiob als wesentliche Differenz zwischen Gott und Mensch die Verfügungsgewalt Gottes als des Schöpfers über die Weisheit an, betont aber zugleich seine eigene sich in Gestalt von Gottesfurcht verwirklichende, bleibende Bezogenheit auf Gott. Weil jedoch eine göttliche Reaktion auf diese Punkte noch aussteht und weil Hiob zwar über den Ort des Frevlers, Gottes 183 184
Black, Enoch, 46 bzw. 203. TUAT III, 335f; TAD C1 1.79.189; Weigl, Achikar-Sprüche, 73–79; 507–509.
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und der Weisheit grundsätzlich Bescheid weiß, nach seinem eigenen Platz in der Welt aber immer noch sucht, kann die in Hi 28,28 gipfelnde Rede nicht den Abschluss der Dichtung bilden. Vielmehr haben die Weisen, welche die Dichtung in ihrem hinteren Teil so stark bearbeitet haben, bewusst die Fortsetzung mit der Herausforderungsrede Hiobs und damit die auf die Gottesreden zulaufende dramatische Gestaltung bewahrt.
IV. Hi 29–31 Die Herausforderungsrede Hiobs an Gott MR
29,1 Und Hiob fuhr fort mit seinem Spruch und sagte:
HD 2 3 4 5 6
Wäre ich doch wie in den früheren Monden, wie in den Tagen, da Eloah mich bewahrte, als er seine Leuchte über meinem Haupt strahlen ließ1, ich bei seinem Licht durch die Finsternis ging, so, wie ich in den Tagen meiner Jugend2 war, als noch Eloahs Freundschaft3 auf meinem Zelt lag, als Schaddaj noch bei mir selbst war, meine jungen Leute mich umringten, als meine Schritte in Dickmilch4 badeten und der Fels vor mir Ströme von Öl ausgoss.5
7 Als ich hinauszog zum Tor hin zur Stadt,6 auf dem Marktplatz meinen Sitz errichtete:7 8 Sahen mich die jungen Leute, so versteckten sie sich, und die Greise8 erhoben sich, blieben stehen. 9 Die Vornehmen hielten ihre Worte zurück und legten9 die Hand auf ihren Mund. 10 Die Stimme der Fürsten versteckte sich, und10 ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen. 1 e b hillô ist wohl aus behahillô entstanden, lies bahillô; zur Bildung des Inf. cstr. (Hif.) mit Suffix siehe Brockelmann, Syntax § 68b. 2 Wörtl.: „Winter“ (als Zeit der Saat, vgl. Gen 8,22); zur Diskussion von alternativen Wiedergaben von ḥoræp (u.a. mit „Herbst“) siehe Clines. 3 Anstelle von b esôd wird häufig b esôk gelesen („als er umzäunte/beschützte“, vgl. LXX; Sym; Syr; Hi 1,10; 3,23; Ps 5,12; 91,4). Doch besteht vor dem Hintergrund von Ps 25,14 kein Anlass, den MT zu ändern (vgl. CTAT 50/5, 264); siehe dazu die Auslegung. 4 e b ḥemāh entspricht b eḥæmʾāh (vgl. wenige Hss; Ges18 s.v. ḥemāh II; Hi 20,17). 5 Aufgrund der Überlänge des Kolons ist zu überlegen, ob ṣûr „Fels“ als Dittographie von jāṣûq zu streichen ist oder ʿimmādî „vor mir“ sekundär aus V. 5a eingedrungen ist (vgl. Weiser; Clines); doch vgl. Dtn 32,13. 6 Hiobs Wohnsitz ist offenbar außerhalb der Stadt gedacht. Die Wortfolge šaʿar ʿ alê-qāræt wird häufig als problematisch angesehen; zu erwarten wäre eher ʿ alê-šaʿar qāræt „zum Tor der Stadt“. Clines diskutiert 13 unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten. Die LXX setzt anstelle von šaʿar „Tor“ die Lesart šaḥar „am Morgen“ voraus. 11QTgHi bietet eine Doppellesung („am Morgen zu den Toren der Stadt“). 7 V. 7 setzt einerseits die Kette der Temporalsätze in V. 3–6 fort und dient andererseits als Überschrift für die folgenden Verse (vgl. Bobzin, Tempora, 366). 8 11QTgHi: „Männer“ (gbrjn). 9 Die PK in V. 9b ist abhängig von der AK in V. 9a (vgl. Hi 4,3–4; J/M § 112dN). 10 Die Kopula fehlt in 11QTgHi.
Hi 29–31 Die Herausforderungsrede Hiobs an Gott
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Ja, das Ohr, das mich hörte,11 pries mich glücklich, und das Auge, das mich sah, legte Zeugnis für mich ab.
12 Ja, ich rettete12 den Elenden, der um Hilfe rief,13 und die Waise und14 den, der ohne Beistand war. 13 Der Segen dessen, der am Zugrundegehen war, kam auf mich, und das Herz der Witwe ließ ich jubeln.15 14 Mit Gerechtigkeit hatte ich mich bekleidet, und sie kleidete mich,16 wie das Obergewand und der Turban (galten) mir das Recht. 15 Augen war ich für den Blinden, und Füße für den Lahmen, das war ich. 16 Ein Vater war ich gewiss für die Armen, und einen Streit, den ich nicht kannte,17 erforschte ich. 17 Und den Kiefer dessen, der Unrecht tat, zerschmetterte18 ich, und aus seinen Zähnen warf ich den Raub. 18 19 20
Und ich dachte: „Mit meinem Nest mag ich verscheiden, und wie der Phönix19 will ich meine Tage mehren, zum Wasser seien meine Wurzeln offen, und Tau ruhe nachts auf meinem Zweig. Meine Ehre sei stets neu bei mir, und mein Bogen sprosse auf in meiner Hand.“20
11 11QTgHi konstruiert deutlicher als der MT einen Konditionalsatz: „Wenn mich ein Ohr hörte, pries es mich.“ Clines übersetzt dementsprechend den MT, doch ist kî hier eher emphatisch gebraucht. 12 Die PK-Formen in V. 12–13.16b sind frequentativ gebraucht (vgl. Bobzin, Tempora, 368.370). 13 Die LXX („vor dem Mächtigen“) las anstelle von mešawweaʿ offenbar merāšāʿ „vor dem Frevler“ (vgl. Ps 37,40) oder miššô aʿ „vor dem Vornehmen“ (vgl. Hi 34,19), was gelegentlich als ursprünglich angesehen wird (vgl. Clines). Auch 11QTgHi hat, soweit erkennbar, zumindest das masoret. me als Präp. min verstanden. Zu einer analogen Differenz zwischen dem MT und der LXX vgl. Ps 72(71),12. 14 Einige Hss lesen nur loʾ, so dass die Wendung loʾ ʿozær eindeutig einen asyndetischen Relativsatz zu jātôm bildet („die Waise, die keinen Helfer hatte“, vgl. LXX; Syr; Vg), wobei das waw auch explikativ erklärt werden könnte (vgl. Hartley; Clines). 15 Auch hier berührt sich die vom MT abweichende Lesart von 11QTgHi („und [im Mu]nd der Witwe wurde ich zum Gebet“ [d.h. ein Gegenstand des Gebets; vgl. TestHiob 15,5; Apg 8,24]) mit der LXX („und der Mund der Witwe pries mich glücklich“). 16 Soweit angesichts des fragmentarischen Zustandes erkennbar, hat 11QTgHi wie die LXX beide Formen von lbš als 1. P. Sg. und eine davon als Prädikat von V. 14b verstanden. 17 loʾ jādaʿtî wird hier als asyndetischer attributiver Relativsatz zu rib verstanden (vgl. LXX; Vg; Syr), nicht als Relativsatz in der Funktion eines Genitivs zu rib („den Streit eines Unbekannten“; so aber Weiser); vgl. Anm. 14. 18 Zu wāʾ ašabb erāh als Pseudo-Kohortativ siehe Waltke/O’Connor § 34.5.3b. 19 Oder: „Sand“ (so Hartely; Greenstein), vgl. 1Kön 4,20; 5,9; Jes 48,19; Hab 1,9; Ps 139,18; zur Diskussion siehe auch Grabbe, Philology, 98–101; Noegel, Janus Parallelism, 94–97 (mit der Annahme der bewussten Doppeldeutigkeit); CTAT 50/5, 266–271; Clines sowie die Auslegung. 20 V. 18–19 sind noch Teil der auf die Zukunft gerichteten Selbstreflexion Hiobs und kein Rückblick, der entsprechend präterital zu übersetzen wäre (vgl. Kaiser).
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21 Auf mich hörte man und wartete,21 und man schwieg bei meinem Rat. 22 Nach meinem Wort sagte22 man nichts mehr, und über sie träufelte meine Rede. 23 Und man wartete auf mich wie (auf) den Regen, und ihren Mund sperrten sie zum Spätregen auf. 24 Lachte ich ihnen zu, glaubten sie es nicht,23 und leuchtete mein Angesicht,24 ließen sie (das ihre) nicht fallen. 25 Prüfte ich ihren Weg25, so setzte ich mich als erster und saß wie ein König mitten in der Truppe26, wie einer, der die Trauernden tröstet. HD 30,1 Aber jetzt lachen über mich die jünger sind als ich an Tagen, GR deren Väter ich (sogar) verachtete, sie zu den Hunden meines Viehs zu setzen. 2 Auch die Kraft ihrer Hände, zu was nützt sie mir?27 An ihnen28 ist die volle Kraft (schon) zugrunde gegangen, 3 durch Mangel und durch Hunger29 unfruchtbar, die, die Trockenheit abnagen30, ödes Land31,
21 Zum Problem der Tempora in V. 21–25 siehe Bobzin, Tempora, 371–375: Die PK-Formen sind durchgehend frequentativ gebraucht (vgl. V. 12–13.16) – eine Umstellung von V. 21–25 hinter V. 10 (so Hölscher; Fohrer; J. Gray) ist nicht geboten. 22 Wörtl.: „wiederholten“. 23 Zahlreiche Hss setzen die Lesart weloʾ voraus (vgl. 11QTgHi; LXX; Sym; Syr; Tg), wodurch die Konstruktion von V. 24a als Konditionalgefüge deutlicher ist als im MT. Eine Streichung der Negation (so BHK) ist nicht geboten. Strauß sieht das Verhältnis von Bedingungssatz und Folgesatz in V. 24a genau umgekehrt. 24 ʾôr kann sowohl Verbalform sein (vgl. Weiser; Hölscher) als auch Substantiv („das Licht [meines Angesichts ließen sie nicht fallen]“, vgl. Fohrer; Hartley; Clines). 25 11QTgHi: „meinen Weg“ (ʾrḥj) im Sinn der Selbstprüfung Hiobs (vgl. Hi 1,5). 26 11QTgHi: „an der Spitze seiner Streitmacht“ (brʿš ḥjlh). 27 In 11QTgHi (wie auch in Tg) erscheint die rhetorische Frage als negativer Aussagesatz. 28 11QTgHi („unter/an ihrer Bedrückung“ [bʾkpjhwn], zu ʾkp vgl. Hi 33,7) versteht ʿljmw wohl im Sinn von ʿullām „ihr Joch“. 29 Das aram. Lehnwort kāpān begegnet in der hebr. Bibel nur in Hi 5,22; 30,3 (Wagner, Aramaismen, Nr. 133). 30 11QTgHi („sie weiden den Bewuchs“ [rʿjn hwʾ jrq]) entspricht weitgehend dem MT, wenn rʿjn nicht als „Wunsch“ verstanden wird (so ATTM I, 289; Hartley), sondern als Part. Pl. von rʿj (vgl. DJD XXIII, 116f; Sokoloff, Targum, 124f; Shepherd, Targum, 128f). Gordis und Hartley folgen für den MT der Bedeutung von ʿrq im Aram. („fliehen/umherstreifen“), ähnlich Noegel, Janus Parallelism, 103f, der eine bewusste Polysemie annimmt („abnagen“ und „fliehen“). 31 Der Text ist hier kaum ursprünglich. Zum einen weist der Vers eine metrische Überlänge auf, zum anderen schließt V. 3b mit der Lesart ʾæmæš „gestern abend“ nur schwer an V. 3a an. Möglicherweise ist anstelle von ʾæmæš ʾæræṣ zu lesen (vgl. Fohrer) und zusammen mit dem Wort šôʾāh als Apposition zu ṣijjāh zu verstehen. Das Wort ûmešoʾāh wäre in diesem Fall das Ergebnis einer Dittographie. HsK207 bietet ʾ ænôš „Mensch/Menschen“, was Seidl, Ijobs Monologe, 30f, für ursprünglich hält. CTAT 50/5, 276, weist ʾæmæš den Nebensinn des durch die nächtliche Dunkel-
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4 die Melde pflücken am Gesträuch und Ginsterwurzeln als ihre Speise32. 5 Aus der Gemeinschaft 33 werden sie vertrieben, man schreit über sie wie über einen Dieb. 6 An den Hängen34 von Wadis müssen sie hausen, in Löchern der Erde und der Felsen35, 7 zwischen Sträuchern müssen sie schreien, am Ort von Nesseln sich zusammenfinden. 8 Söhne von Nutzlosen, auch Söhne von Namenlosen sind sie, sie sind aus dem Land ausgestoßen. HD 9 Aber jetzt36 bin ich ihr Spottlied geworden und ich wurde für sie zum Gerede. 10 Sie verabscheuen mich, halten sich fern von mir, und vor meinem Angesicht halten sie den Speichel nicht vor mir zurück. 11 Denn er37 löste seine38 (Bogen-)Sehne und bedrückte39 mich und er gab40 die Zügel frei vor meinem Angesicht.
heit verursachten Schauerlichen oder Unheimlichen („lugubre/sinistre“) zu (vgl. Jer 2,6.31). Clines unterstellt, dass das Wort ʾæmæš hier im Sinn von „am Rande von“ gebraucht sei, und diskutiert elf unterschiedliche Konjekturen. 32 Ändert man die Punktation in leḥummām/leḥāmmem „um sich zu wärmen“ (vgl. Jes 47,14; Clines) erscheinen die Wurzeln des Ginsters als Brennmaterial. 33 Dieses Kolon ist im Vergleich zu den anderen Kola der Passage eigentlich zu kurz. BHK schlägt die Ergänzung von gôjîm „der Völker“ vor; Fohrer und Gray ergänzen ʾ anāšîm „Männer“. 34 Die Bedeutung des nur hier belegten Wortes ʿārûṣ (vgl. arab. ʿarḍ „Talrand“, ʿurḍ „[Ab-]Hang“) ist nicht ganz gesichert, möglicherweise handelt es sich um eine Verschreibung von naʿ aṣûṣ „Dornengestrüpp“ (vgl. Jes 7,19). Noegel, Janus Parallelism, 105f, vermutet eine bewusste Ambiguität zwischen dem erschlossenen Nomen ʿārûṣ und dem Part. Pass. von ʿrṣ „schrecken/sich erschrecken“ (vgl. Hi 13,25; 15,20; 27,13): „in the gully“ // „in terrors“. 35 Bei dem Wort kep, das in der hebr. Bibel nur hier und in Jer 4,29 (vgl. noch Sir 40,14 [HM/B]) belegt ist, handelt es sich um einen Aramaismus (Wagner, Aramaismen, Nr. 130). 36 Bei dem einleitenden w eʿattāh handelt es sich um eine sekundäre Wiederaufnahme von V. 1 nach dem Exkurs in V. 1aγ–8. 37 D.h.: Gott. 38 So gemäß dem Ketib (vgl. LXX; Vg). Nach dem Qere (jitrî „meine Sehne“, vgl. Tg) handelt es sich um Hiobs Bogensehne bzw. Seil, die bzw. das Gott schlaff, d.h. unwirksam gemacht hat (pittāḥ) (vgl. Weiser). 39 Zum Problem der Verwendung der PK nach AK s.o. zu Hi 16,9b. 40 Anstelle von šilleḥû „sie gaben frei/ließen schießen“ lies wie in V. 11a die 3. P. Sg. šillaḥ (vgl. Vg [allerdings mit der Veränderung des Bildes: „er legte Zügel in meinen Mund“]; die Mehrzahl der Hss der LXX/Th).
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12 Auf der Rechten erheben41 sich seine Sprösslinge42 gaben meine Füße frei,43 und schütten ihre Wege des Unheils auf um mich herum. 13 Sie rissen meine Pfade auf zu meinem Verderben, und steigen auf,44 ohne dass sie einer zurückhält45 14 Wie durch eine breite Bresche kommen sie heran,46 unter Verwüstung47 wälzen sie48 sich heran. 15 Um mich gewunden ist Schrecken,49 50 es verfliegt wie der Wind meine Würde51, und wie Gewölk zog meine Rettung dahin. 16 17
Aber jetzt verströmt mein Leben52 in mir, es packen mich die Tage meines Elends. In der Nacht durchbohrte er53 mir54 meine Knochen,
41 Die PK scheint (wie in den folgenden Versen) zum Ausdruck des Fortwirkens der Erfahrung Hiobs in die Gegenwart gebraucht zu sein (vgl. die Anm. zu Hi 16,9b.11; 19,10.12); zu diesem Problem siehe Bobzin, Tempora, 380. 42 Die Bedeutung des hap. leg. pirḥaḥ/pirḥāh ist nicht ganz sicher, gewöhnlich „Brut“ (abgeleitet von prḥ, „sprossen“; vgl. Ges18; KAHAL), vielleicht ist hier einfach pirḥô/pirḥhû/perāḥâw zu lesen (vgl. Tg: „ihre Söhne“); weitere Konjekturen verzeichnet Clines. 43 D.h.: sie ließen die Füße gleiten. Dieses Kolon ist wohl eine Dublette zu V. 11b. Weiser verlegt es an den Beginn von V. 13a; Hartley fühlt es mit dem Schlusswort von V. b (ʾêdām „[zu] ihrem Unheil“). 44 Gegen den MT ist aus kolometrischen Gründen leḥawwātî zu V. 13a und joʿîlû „sie tragen bei/ sie helfen mit“ (von jʿl) als (waj)jaʿ alû (von ʿlh) zu V. 13b zu ziehen. Für die Änderung der Punktation von jʿjlw spricht auch 11QTgHi jtwn „sie kommen“. Clines diskutiert diese Möglichkeiten, übersetzt dann aber doch den MT. Weiser bleibt auch beim MT, verbindet aber V. 12b mit V. 13aα. 45 Anstelle von ʿozer „hilft“ lies ʿoṣer (vs. Hartley und Strauß: „ihnen gegenüber [habe ich] kein[en] Helfer“ und Clines: „sie brauchen keine Hilfe“). 46 11QTgHi (btqp šḥjn jtwn) unterscheidet sich hier stark vom MT, wobei diese Übersetzung umstritten ist („mit Gewalt kommen sie in meine Geschwüre“ oder „mit Gewalt kommen meine Geschwüre“, vgl. Hi 2,7; zur Übersetzung von 11QTgHi siehe DJD XIII, 119; Sokoloff, Targum. 125); zum Gebrauch der PK vgl. Anm. zu V. 12. 47 šôʾāh wie in V. 3. 48 11QTgHi: „ich bin gebeugt“ (ʾtkppt). 49 Dieses Kolon, das nicht unmittelbar zum synonymen Parallelismus von V. 15aβ.b passt, könnte sekundär sein (vgl. Hölscher; Fohrer). Im Fall seiner Ursprünglichkeit (so Weiser) hebt das Trikolon die besondere Bedeutung des Verses im Aufbau von Kap. 30 hervor. Opel, Anspruch, 60, liest tah apok und versteht wie auch im Fall des folgenden tirdop „Gott“ als Subjekt. Allerdings erfolgt eine Anrede Gottes im „Du“ erst in V. 20. 50 Anstelle von tirdop „du verfolgst“ (mit dem Subjekt „Gott“, vgl. V. 21–23; 13,25; 19,22; Opel, Anspruch, 61) oder unpers. „es geht hinweg“ (so Weiser) ist wohl terādep zu lesen (vgl. LXX). 51 11QTgHi bietet eine Doppelübersetzung „mein Glück und meine Würde“, LXX „meine Hoffnung“, Sym „meine Wünsche“, einige Hss und Syr wie in V. 13 „meine Pfade“ (ntjbtj). 52 Wörtl.: „ergießt sich meine ‚Seele‘“. 53 D.h.: Gott (so auch Hartley). In 11QTgHi und LXX sind die „Knochen“ Subjekt des passivisch konstruierten Satzes (vgl. auch Vg und TgHss), wobei beide Versionen im Folgenden anstelle von nqr die Lesart nqdw/nqd „sie brennen/werden verbrannt“ voraussetzen, was J. Gray für ursprünglich hält und als niqq edû liest. Dagegen nimmt Weiser ein unpers. Subjekt an (vgl. Opel, Anspruch, 61), während Beer, Text, 195, die „Nacht“ als Subjekt versteht (vgl. Clines). 54 Wörtl.: „weg von mir“, vgl. Hi 30,30a.
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und die, die mich zernagen,55 ruhen nicht. 18 Mit großer Kraft ergreift56 er mein Kleid, wie57 mein Hemd umfasst58 er mich. 19 Er hat mich in den Dreck geworfen,59 und ich wurde Staub und Asche gleich. 20 21 22 23
Ich rufe (fortwährend)60 zu dir um Hilfe, aber du antwortest mir nicht. Ich stehe vor dir, damit61 du mich genau beachtest. Du verwandelst dich zum Grausamen für mich, feindest mich an mit der Stärke deiner Hand. Du erhebst mich zum Wind, lässt mich dahinfahren und lässt mich mit Krachen62 vergehen. Ja, ich weiß: In den Tod wirst du mich heimbringen, in das Haus, da alles Leben sich versammelt.
24 63Doch streckt nicht, wer unter Trümmern liegt,64 die Hand aus oder ruft er in seinem Unglück nicht um Hilfe65? 25 Gewiss, ich weinte über einen, der schwere Zeiten hat66, und meine ‚Seele‘ war über einen Armen betrübt. 55 D.h.: meine Schmerzen. 11QTgHi (ʿdqj) legt ein Verständnis von „Adern“ nahe, was auf der Basis von aram. ʿarqāʾ (II, Levi, Wörterbuch über die Targumin, s.v.) bereits in der mittelalterlichen jüdischen Exegese und in neuerer Zeit u.a. von Hölscher; Hartley; J. Gray auch für den MT angenommen wird (vgl. auch LXX νεῦρά μου „meine Sehnen/Nerven“). 56 Anstelle von jitḥappeś „hat sich unkenntlich gemacht“ lies jitpoś (vgl. 11QTgHi; LXX). 57 Zu diesem Verständnis von kepî vgl. Brockelmann, Syntax § 117a. Möglich wäre auch die Interpretation von pæh „Mund“ als Kragen, der am Gewand zugeschnürt wird (vgl. CTAT 50/5, 283f). 58 Wörtl.: „umgürtet“, vgl. jedoch arab. ʾazzara „bekleiden/umhüllen“. 59 Dieses Kolon ist metrisch zu kurz. Driver/Gray ergänzen am Versbeginn hen ʾel „Siehe, Gott“ (vgl. Hi 8,20; 36,22). 11QTgHi könnte mit der Lesart ʾḥtwnj („sie ließen mich hinabsteigen“, Pl. wie in V. 18 sowie in Syr und Tg) auf horidanî verweisen (vgl. BHK). 60 Duratives Impf. wie auch in V. 21–22. 61 Zur Auflösung von V. 20bβ als Finalsatz vgl. Bobzin, Tempora, 383f (die von ihm vorgeschlagene Änderung der Punktation von wattitbonæn in wetitbonæn ist unnötig). Bei einem solchen Verständnis erübrigt es sich, in Parallele zu V. 20a weloʾ „aber nicht“ zu ergänzen (vgl. HsR593; Vg; Weiser) oder bjn (Hitp.) hier im Sinn von „anglotzen“ zu verstehen (Clines). 62 Oder: „im Sturmgebraus“ (vgl. Hi 9,17), so nach dem Ketib (t ešuwwāh/t ešuʾāh, vgl. t ešuʾôt in Hi 36,29; 39,7). Das Qere legt die Lesart tušijjāh „mit Erfolg/Klugheit“ (vgl. Hi 5,12; 6,13 bzw. 11,6; 12,16; 26,3) nahe. 63 Der gesamte Vers scheint im MT verderbt zu sein. Die Versionen weichen z.T. erheblich vom MT und untereinander ab und weisen zahlreiche Varianten auf. Mitunter wird ganz auf eine Übersetzung verzichtet. Die obige Übersetzung versucht mit einem Minimum an Konjekturen auszukommen. 64 So nach dem MT; vgl. auch Hartley, der aber Gott als nicht explizit genanntes Subjekt annimmt und den Satz als Aussage versteht (ähnlich Grabbe, Philology, 101–103 als negativer Wunsch). Zu erwägen ist, ob nicht anstelle von ʿî wie in V. 16 und 27 ʿ ånî „(im) Elend“ (vgl. Hi 10,15; 36,15.21) oder ʿānî „(gegen) einen Elenden“, verbunden mit der Änderung von jišlaḥ in ʾæšlaḥ „ich streckte aus“, zu lesen ist. Häufig wird eine Form von ṭābaʿ „versinken“ (vgl. Jer 38,6.22; Ps 69,3.15) konjiziert (vgl. BHK; BHS: „gegen einen Ertrinkenden“). Daneben existieren zahlreiche weitere Änderungsvorschläge (vgl. CTAT 50/5, 286–288; Clines; Opel, Anspruch, 61). 65 Anstelle von lāhæn šûaʿ „deshalb Geschrei?“ lies loh (= loʾ) j ešawwe aʿ (ähnlich Hartley: lô j ešawweaʿ „one cries to him for help“). 66 Wörtl.: „einen harten Tag“.
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Ja, ich hoffte auf Gutes, aber es kam Böses, und ich wartete auf Licht, aber es kam Finsternis. Meine Eingeweide sind zum Sieden gebracht und schweigen nicht, vor mich sind Tage des Elends getreten.
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Trauernd gehe ich einher ohne Trost67, stehe in der Versammlung und rufe um Hilfe. Ein Bruder bin ich den Schakalen geworden und ein Gefährte den Straußenhennen. Meine Haut wurde schwarz an mir und mein Gebein heiß vor Trockenheit. Und zur Trauer wurde mein Leierspiel und mein Flötenklang zum Klagelied68.
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HD 4 5
31,1 Eine Verpflichtung hatte ich meinen Augen auferlegt, niemals69 eine junge Frau zu betrachten. 2 Denn was wäre der Lohn Eloahs von oben und das Erbe Schaddajs aus der Höhe? 3 Wartet denn nicht Unheil auf den, der Unrecht tut, und Missgeschick auf die Übeltäter? Sieht er selbst70 denn nicht meine Wege und zählt er nicht alle meine Schritte? Wenn71 ich mit Nichtigem72 Umgang hatte und zum Trug mein Fuß hineilte –
67 Anstelle von ḥāmmāh „Glut/Sonne“ lies næḥāmāḥ (vgl. Hi 6,10; Ps 119,50). DCH verzeichnet ein sonst nicht weiter belegtes ḥemmāh III in der Bedeutung „Schutz“. 68 Wörtl.: „zur Stimme von Weinenden“. 69 māh steht hier im Sinn einer Negation (vgl. Spr 20,24; Hhld 8,4; Sir 13,2.17 [HA]). Für die von BHK und BHS vorgeschlagene Korrektur von ûmāh ʾætbônen in mehitbônen spricht die Paral lele in Sir 41,20 (HM). 70 D.h.: Gott. 71 Mit V. 5 beginnt eine Reihe von mit der Konjunktion ʾîm bzw. ʾîm-loʾ eingeleiteten Sätzen (V. 7.9.13.16.19.21.24.25.26.29.33.38.39 bzw. V. 20.31.36), deren Wiedergabe in den Übersetzungen schwankt. In den Fällen, bei denen ein Nachsatz folgt, handelt es sich eindeutig um reale Bedingungssätze (V. 7–8; 9–10; 13–14; 21–22; 38–40). Wenn kein Nachsatz folgt, könnte es sich um apokopierte Schwursätze handeln, in denen Hiob betont, dass er etwas Bestimmtes ganz sicher nicht getan hat („gewiss nicht“) bzw. dass etwas ganz sicher getan wurde oder getan werden wird („gewiss“, V. 20.31.36). Die Stereotypie in Kap. 31 legt es nahe, die ʾîm- bzw. ʾîm-loʾ-Sätze mit Ausnahme von V. 36, wo ʾîm-loʾ eindeutig zum Ausdruck einer Beteuerung steht, durchgehend als reale Bedingungssätze mit „wenn“ bzw. „wenn nicht“ zu übersetzen und im Fall des Fehlens eines Nachsatzes einen impliziten Folgesatz anzunehmen (vgl. Opel, Anspruch, 79–82). Der Wechsel der Tempora in den einzelnen ʾîm-Sätzen scheint dadurch bedingt zu sein, dass teilweise der Charakter eines sich wiederholenden oder noch andauernden Verhaltens oder Handelns ausgedrückt werden soll. Häufig wird dies in den Übersetzungen nicht deutlich gemacht; zum Problem siehe Bobzin, Tempora, 388–401; Opel, Anspruch, 80–82. 72 Einige Hss bieten wie in Hi 11,11 metê-šāwʾ „Männer des Nichtigen“ (vgl. LXX; Syr)
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Er wiege mich auf der Waage der Gerechtigkeit, und Eloah erkenne meine Frömmigkeit.73
7 Wenn mein Schritt je vom Weg abwich und mein Herz hinter meinen Augen ging und an meinen Händen ein Makel klebte, 8 dann will ich säen, und ein anderer soll essen, und meine Sprößlinge74 sollen entwurzelt werden. 9 Wenn sich mein Herz betören ließ wegen einer Frau und ich an der Tür meines Nachbarn auf der Lauer lag, 10 dann soll meine Frau für einen anderen mahlen und andere sollen sich über sie beugen. 11 Denn das ist bekanntlich eine Freveltat75, und das ist eine bestrafungswürdige Schuld76. 12 Ja, das ist ein Feuer, das bis zum Abaddon fressen und alle meine Habe entwurzeln77 wird. 13 14 15
Wenn ich je das Recht meines Dieners missachtete78 und das meiner Magd in ihrem79 Streit gegen mich, was könnte ich dann tun, wenn El sich erhebt, und wenn er untersucht, was könnte ich ihm dann erwidern? Erschuf nicht der, der mich im Schoß erschuf, auch ihn,80 und bereitete uns81 im Mutterleib nicht der Eine?82
73 Dieser Vers ist kein direkter Nachsatz zu V. 5, sondern syntaktisch eigenständig (vgl. Bobzin, Tempora, 389f; Opel, Anspruch, 83). Betont erfolgt die ausdrückliche Nennung des Subjekts (Eloah) erst in V. 6b (vgl. zu diesem Stilmittel Watson, Poetry, 336f). 74 Gemeint sind die Gewächse, die Hiob gepflanzt hat (vgl. Jes 34,1; 42,5), nicht seine Kinder (vgl. aber Hi 5,25; 21,8; 27,14). 75 11QTgHi: „Zorn“ (rgz), im Sinn von „etwas, was Zorn verursacht“, ähnlich LXX. 76 Lies wie in V. 28 ʿāwôn pelîlî (vgl. viele Hss). Zur hier vorliegenden Satzteilfolge als Ausdruck einer generellen Überzeugung siehe Michel, Grundlegung II, 100. Die LXX benennt nochmals ausdrücklich das Vergehen, „die Frau eines (anderen) Mannes zu schänden“ (siehe dazu Witte/ Kepper, LXX.E II, 2109; Opel, Hiobs Anspruch, 196). 77 Aufgrund des Parallelismus ist zu überlegen, ob anstelle von t ešāreš nicht eher tiśrop „verbrennen“ zu lesen ist (BHK); doch vgl. auch CTAT 50/5, 291, mit dem Vorschlag, šrš hier im Sinn von „bis zur Wurzel zu verbrennen“ zu übersetzen (vgl. Dtn 32,22). 78 Gegen die masoret. Versteilung ist aus kolometrischen Gründen der Atnach unter ʿabdî zu setzen (vgl. BHK). 11QTgHi formuliert noch skrupulöser: „ich wurde ungeduldig“ (ʾtqṣr). 79 Nach dem MT bezieht sich das Pluralsuffix auf den Diener und die Magd (vgl. Weiser); es ist aber wohl beribāh zu lesen. 80 4QHia frgm. 1 weist mit der Wortfolge ʿśnj bbṭn eine kleine Differenz gegenüber dem MT auf, der die Folge bbṭn ʿśnj hat. Dadurch ist die chiastische Entsprechung der beiden Kola noch deutlicher als im MT (A–B–C // C’–B’–A’). Seow, Text Critical Notes, 191f, deutet dies auch als eine inhaltliche Verschiebung, insofern 4QHia die Schöpfungstheologie besonders betone. Das Suffix in ʿāśāhû „er erschuf ihn“ bezieht sich auf den Diener in V. 13a zurück, inkludiert aber die in V. 13b (vgl. Anm. 78) genannte Magd. 81 Zur Punktation von j ekunænnû siehe G/K § 58k; 72cc; zu erwarten wäre j ekonenænnû/ j ekônenenû (vgl. Dtn 32,6; Ps 119,73). 82 11QTgHi bietet anstelle einer rhetorischen Frage eine affirmative Aussage (ʾrw „denn/siehe“).
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Wenn ich je den Geringen einen Wunsch verweigerte und die Augen der Witwe verschmachten ließ und meinen Bissen ganz alleine aß, aber die Waise nicht auch von ihm gegessen hat – Denn von meiner Jugend an wurde sie mir groß83 wie einem Vater84, und von Mutterleibe an geleitete ich sie85.
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Wenn ich je sah, wie einer am Zugrundegehen war ohne Kleid und wie es keine Decke für den Armen gab, wenn seine Lenden mich nicht segneten und er sich an der Schur meiner Lämmer nicht wärmen konnte – Wenn ich gegen den Frommen86 meine Hand erhob, weil ich im Tor Beistand für mich sah, dann falle meine Schulter von ihrem87 Nacken, und mein Arm werde aus seinem Gelenk gebrochen. 23 Ja, Schrecken zu mir, Unheil Els, und vor seiner Erhabenheit vermag ich nichts.
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Wenn ich Gold zu meiner Zuversicht machte und zum Golde88 sagte: „Mein Vertrauen“, wenn ich mich dann freute, dass mein Vermögen groß ist und dass meine Hand Starkes gefunden hat – Wenn ich je das Licht ansah, wie es leuchtet, und den Mond, wie herrlich er vorüberzieht, und mein Herz sich heimlich verführen ließ und meine Hand meinen Mund küsste, 28 auch das ist eine bestrafungswürdige Schuld, denn verleugnet hätte ich El dort oben.
83 D.h.: die Waise (vgl. V. 17), wobei gdl entweder im Sinn von „heranwachsen“ steht (vgl. Fohrer) oder im Sinn von „bedeutend sein“ (vgl. Opel, Anspruch, 84). In beiden Fällen ist die häufig vorgeschlagene Änderung des masoret. gedelanî in giddelanî „er (d.h. Gott) zog mich groß“ oder in ʾ agaddelænnû „ich zog ihn groß“ (vgl. BHK; BHS; Weiser) unnötig (CTAT 50/5, 292–294). 84 Oder: „wie ein Vater“. 85 D.h.: die Witwe (vgl. V. 16). Auch hier ist eine Änderung von ʾanḥænnāh in nāḥanî „er führte mich“ oder ʾanḥænnû „ich führte ihn“ (vgl. BHK; BHS) nicht nötig (vgl. die vorhergehende Anm. sowie CTAT 50/5, Opel, Anspruch, 84; Clines). 86 Anstelle von ʿal-jātôm „gegen die Waise“ (so Weiser, vgl. V. 17) lies ʿ alê-tām, da von der Waisen bereits in V. 17 die Rede ist. 87 Das finale h in mi-šikmāh kann als enklitisches Pers.-Pron. 3. P. Sg. fem. (ohne Mappiq-Schreibung) verstanden werden (vgl. BHS). 88 Während in V. 24a das Wort zāhāb verwendet wird (vgl. Hi 28,6.17), erscheint in V. 24b ohne Bedeutungsunterschied das Wort kætæm (vgl. Hi 28,16.19).
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29 Wenn ich mich je freute am Unglück dessen, der mich hasst, und ich mich erregt habe89, dass ihm Böses widerfuhr – 30 Aber ich habe90 meinen Gaumen nicht sündigen lassen91, indem ich im Fluch seine ‚Seele’92 forderte. 31 Wenn nicht die Männer meines Zeltes sprachen: „Wie wäre einer von seinem Fleisch nicht satt geworden?“ 32 Auf der Straße musste kein Fremder nächtigen93, meine Pforten öffnete ich stets dem Wanderer94. 33 Wenn ich mein Vergehen wie Adam95 bedeckte, indem ich meine Schuld in meiner Hemdtasche versteckte, 34 weil ich mich vor der großen Menge fürchtete und der Spott der Sippen mich schreckte und ich schwieg, ohne zur Tür hinauszugehen – 35 Würde El96 mich doch nur hören! Siehe: (Hier ist) mein Zeichen – Schaddaj antworte mir! – und das Schriftstück, das mein Gegner schrieb.97 98 36 Gewiss , ich will es auf meine Schulter legen, will es mir aufsetzen99 als (reiche) Krone100. 37 Die Zahl meiner Schritte will ich ihm verkünden, wie ein Fürst will ich mich ihm nahen. 38 Wenn je gegen mich mein Acker schrie und alle seine Furchen weinten, 39 wenn ich seine Kraft verzehrte ohne Lohn und die ,Seele‘ seiner Besitzer seufzen ließ, 89 So nach dem MT (von ʿwr II Hitpol.); diese Lesart ist jedoch umstritten. BHS erwägt, entweder auf Basis einer aus dem Ug. erschlossenen, im biblischen Hebr. aber nicht belegten Wurzel ʿdd/ʿwd (vgl. HAL; DCH) hitʿodadetî „ich sprang freudig auf/frohlockte“ oder gemäß Ps 60,10; 65,14 hitroʿaʿ etî „ich jauchzte“ (vgl. 11QTgHi; Syr; Tg) zu lesen. 90 Oder im Sinn eines deklarativen Perfekts: „ich lasse nicht“ (vgl. Strauß). 91 Zu nātan im Sinn von „erlauben, etwas zulassen“ vgl. Gen 20,6; 31,7; Ex 3,19. 92 Einige Hss lesen napšî, so dass V. 30b syntaktisch von loʾ nātattî abhängt („meine ‚Seele‘ nicht im Fluch [etwas] fordern lassen“) 93 Nach Noegel, Janus Parallelism, 110–112, liegt hier wieder ein Janus-Parallelismus vor, insofern jljn auf die Wurzel ljn „nächtigen“ und lwn „murren“ verweise. 94 Anstelle von lāʾoraḥ „zum Weg hin“ lies lāʾore aḥ (vgl. LXX; Aq; Th; Syr; Vg; Tg). 95 Oder: „wie der Mensch/wie Menschen es zu tun pflegen“ (vgl. Ps 82,7; Weiser; Hartley; Strauß); Fohrer und J. Gray ändern zu meʾādām „vor Menschen“; doch siehe Clines und die Auslegung. 96 Anstelle von lî šome aʿ „(gäbe es doch) einen für mich, der mich hört“ (vgl. Weiser) lies ʾel jišmaʿ (vgl. Hi 35,13). 97 Erkennt man V. 35b als eine Glosse, die das in V. 35a genannte Zeichen erläutert, erübrigt sich die Annahme, ein Kolon sei ausgefallen (so aber Hölscher; Fohrer; J. Gray). Ursprünglich ist dieses Kolon kaum (so aber Weiser; Hartley; Strauß). 98 ʾîm-loʾ ist hier (im Gegensatz zu V. 20 und 31) eindeutig eine Beteuerungspartikel, vgl. Hi 17,2; 22,20. 99 Wörtl.: „umbinden“. 100 a ʿ ṭārôt kann als Intensiv-Pl. verstanden werden und braucht nicht mit zwei Hss in den Sg. geändert zu werden.
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dann sollen anstelle von Weizen Dornen sprossen und anstelle von Gerste der Taumellolch.
Zu Ende sind die Worte Hiobs.
Literatur Zu Kap. 29–31 insgesamt: Fuchs, G.: Mythos und Hiobdichtung. Aufnahme und Umdeutung altorientalischer Vorstellungen, Stuttgart u.a. 1993, 141–172. – Lévêque, J.: Anamnèse et disculpation: la conscience du juste en Job, 29–31, in: M. Gilbert (Hg.), La sagesse de l’Ancien Testament, BEThL 51, Leuven 1979, 231–248. – Loretz, O.: Könige als gerechte Richter, in: Ders., Götter – Ahnen – Könige. Der „Rechtsfall“ des Menschen vor Gott nach altorientalischen und biblischen Texten, AOAT 290, Münster 2003, 337–435. – Opel, D.: Hiobs Anspruch und Widerspruch. Die Herausforderungsreden Hiobs (Hi 29–31) im Kontext frühjüdischer Ethik, WMANT 127, Neukirchen-Vluyn 2010. – Seidl, T.: Ijobs Monologe. Sprachwissenschaftliche Analysen zu Ijob 29–31, ATSAT 101, S. Ottilien 2017. Zu Kap. 30 speziell: Riede, P. „Ich bin ein Bruder der Schakale“ (Hi 30,29). Tiere als Exponenten der gegenmenschlichen Welt in der Bildsprache der Hiobdialoge, in: Ders., Im Spiegel der Tiere. Studien zum Verhältnis von Mensch und Tier im alten Israel, OBO 187, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 2002, 120–132. Zu Kap. 31 speziell: Dick, M.B.: The legal metaphor in Job 31, CBQ 41 (1979) 37–50. – Kunz, A.: Der Mensch auf der Waage. Die Vorstellung vom Gerichtshandeln Gottes im ägyptischen Totenbuch (Tb 125) und bei Hiob (Ijob 31), BZ 45 (2001) 235–250. – Kunz-Lübcke, A.: Hiob prozessiert mit Gott – und obsiegt – vorerst (Hiob 31), in: T. Krüger u.a. (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, AThANT 88, Zürich 2007, 263–291. – Kutsch, E.: Unschuldsbekenntnis und Gottesbegegnung. Der Zusammenhang zwischen Hiob 31 und 38ff, in: Ders., Kleine Schriften zum Alten Testament, BZAW 168, Berlin/New York 1986, 308–335. – Oeming, M./Schmid, K.: Hiobs Weg. Stationen von Menschen im Leid, BThSt 45, Neukirchen-Vluyn 2001, 57–75. – Oßwald, E.: Hiob 31 im Rahmen der alttestamentlichen Ethik, ThV 2 (1970) 9–26. – Otto, E.: Theologische Ethik des Alten Testaments, ThW 3,3, Stuttgart 1994, 167–172. – Rechenmacher, H.: taw und sipr in Ijob 31,35–37, in: T. Seidl/S. Ernst (Hg.), Das Buch Ijob. Gesamtdeutungen – Einzeltexte – Zentrale Themen, ÖBS 31, Bern 2007, 165–180. – Witte, M.: Hiobs „Zeichen“ (Hiob 31,35–37), in: Ders., Hiobs viele Gesichter. Studien zur Komposition, Tradition und frühen Rezeption des Hiobbuches, FRLANT 267, Göttingen 2018, 101–119. – Ders.: Die Torah in den Augen Hiobs, in: Ders.: Hiobs viele Gesichter, 121–132.
Aufbau und Sprachformen
Die Kap. 29–31 bilden einen dreiteiligen Monolog Hiobs, der vom Dialog mit den Freunden zur direkten Herausforderung Gottes zum Rechtsstreit führt. Makrokompositionell gliedert sich die Rede in einen Rückblick Hiobs auf vergangene Segenszeiten (Kap. 29), in eine Beschreibung gegenwärtigen Leidens (Kap. 30) und in ein umfassendes Unschuldsbekenntnis (Kap. 31). Dieses zielt auf eine für die unmittelbare Zukunft erwartete und die Fragen Hiobs endgültig beantwortende Begegnung mit Gott. Als Eröffnung dieser mit 95 Versen umfangreichsten Rede Hiobs dient das in juridischer Sprache abgefasste kurze Unschuldsbekenntnis in 27,(1).2–6, das jetzt aufgrund der späteren Einfügungen von 27,7–28,28 von seiner unmittelbaren Fortsetzung in 29,2 getrennt ist. Gleichwohl bildet der Abschluss in 28,28 mit seiner spezifischen Bestimmung der Gottesfurcht ein passendes Motto für die gesamte nun folgende Rede, zumal in ihrem dritten Hauptteil (Kap. 31). In zunächst vier Strophen zu je fünf Bikola (2–6|7–11|12–16|[17.18–20]|21–25) blickt Hiob auf seine glückliche Vergangenheit zurück. Mit hyperbolischen Bildern beschreibt er sein ver-
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gangenes wirtschaftliches und soziales Glück. Der Segen Gottes, ausgedrückt in Symbolen des Lichts und umschrieben mit Fruchtbarkeitsbildern, verwirklichte sich in hohem gesellschaftlichen Ansehen (V. 7–11.21–25) und in sozialer Tätigkeit, vor allem zugunsten rechtlich benachteiligter Menschen (V. 12–16). Die Unschuldstage Hiobs waren Segenstage – für Hiob selbst wie für andere (29,2–6 versus 29,12–16.21–25). Im Gegenüber von einstigem Glück (29,2) und jetzigem Unglück (30,16.27) verklärt sich die Vergangenheit zur goldenen Zeit. Doch die Tage des Segens sind für Hiob verflogen (vgl. 17,11), obgleich er gemäß der (sekundär eingefügten) Sentenz 28,28 stets das Böse mied. Das Bewusstsein seiner Unschuld ist geblieben. Aus der ursprünglich direkten Folge von 27,2–6 und 29,2–25 spricht, wie aus der Sequenz von „aktueller Lebensklage“ (Kap. 30) und „negativem Sündenbekenntnis“ (Kap. 31), die Vorstellung vom Ethos als einer Konstanten im Strom der Zeit. Der heilsgeschichtliche Rückblick in Kap. 29 bedient sich vor allem psalmistischer und weisheitlicher Sprachformen. Hiob erscheint im Stil eines altorientalischen Königs, der als ein besonderer Vertrauter der Gottheit und als Stellvertreter seines Gottes in der Welt für die Aufrechterhaltung von Recht und Gerechtigkeit auftritt (V. 14.25).101 Während im priesterschriftlichen Motiv der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,26–27) ein Element der altorientalischen Königsideologie im Dienste der Royalisierung des Menschen transformiert wird, ist dieses in Hi 29 im Sinne einer Royalisierung des Weisen verwendet.102 In scharfem Kontrast zur Schilderung der früher erlebten Segenszeiten steht die Darstellung gegenwärtigen Leidens in Kap. 30. In ursprünglich sechs Strophen zu je vier Bikola (30,1aα.β[1aγ–8]9–11|12–15*|16–19|20–23|24–27|28–31) entfaltet Hiob nochmals, wie schon in den Kap. 3; 16–17 und 19, im Stil der aus den Psalmen bekannten Individualklage sein gegenwärtiges Unglück. Dabei beschreibt er die Erfahrung, erstens von seiner ihm einst vertrauten Umwelt entfremdet und nun verachtet zu sein (30,1–11), zweitens von Gottes Sprösslingen wie von Kriegern verfolgt zu werden (30,12–15), drittens sich mitten im Leben im Bereich des Todes zu befinden (30,16–23), viertens absoluter Hilflosigkeit im Leid (30,24–27) und fünftens großer Einsamkeit in Trauer und Leid (30,28–31). Die Klage hat einen doppelten inhaltlichen Brennpunkt: zum einen die Selbstbezeichnung als „Staub und Asche“ (30,19), von der aus sich ein – wenn auch erst auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches – Beziehungsnetz zum Prolog (2,8) und zu Hiobs Schlusswort (42,6) knüpfen lässt; zum anderen den in der 2. P. Sg. gehaltenen Aufschrei zu Gott (30,20–23), der den Hilferuf überhöre und nicht ins Leben, sondern zum Tod führe (vgl. 19,7; Vgl. Ps 72,12; Jer 22,15–16; 23,5; 33,15; Jes 11,5. Dieses Motiv gehört zum Standard der altorientalischen Königsideologie, vgl. z.B. ÄHG 20, 31–35 oder den Codex Hammurapi I,1–49 (TUAT I, 40). Siehe dazu auch den Exkurs zur Gottesebenbildlichkeit auf S. 176. 102 Vgl. dazu ausführlich A.F. Wilke, Kronerben der Weisheit. Gott, König und Frommer in der didaktischen Literatur Ägyptens und Israels, FAT II/20, Tübingen 2006, besonders 282–299; Opel, Anspruch, 52–58. 101
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23,8; 24,12). Damit nimmt die breite Klage Hiobs erneut Züge der Anklage des gewalttätigen Gottes an, der als Urheber des Leidens dieses zugleich auch wenden könnte, was er aber im Fall Hiobs nicht tut. Gattungsgeschichtlich hat die Kontrastierung des gegenwärtigen Unglücks (Kap. 30) mit dem früheren Glück (Kap. 29) ihren Ursprung in der Leichenklage, wie sie in kollektiver Form auch in den Stadtuntergangsklagen der sogenannten Klagelieder Jeremias begegnet (vgl. Klgl 1,6–7; 2; 4). Diese bieten neben einzelnen Klagepsalmen (vgl. besonders Ps 6; 22; 38) auch motivisch die nächsten Parallelen zu Hi 30 (vgl. v.a. Klgl 3). Den dritten Hauptteil des Monologs bildet in Kap. 31 ein umfassendes Unschuldsbekenntnis in juridischer Sprache. 103 Dabei wird auf Elemente der bedingten Selbstverfluchung bzw. eines Reinigungseides zurückgegriffen. Konditional gefasste Aufzählungen dienen als besonders stark betonte Aussagen für das, was Hiob ganz bestimmt nicht getan hat. Mitunter wird die eigentliche Folge, die das potentielle Vergehen nach sich ziehen müsste, nicht explizit ausgesprochen, aber im Sinn einer Selbstverfluchung bzw. eine Bestrafung durch Gott mitgedacht („apokopierter Schwursatz“).104 Im Deutschen erscheint das als eine Aposiopese. In den Aufzählungen konkretisiert Hiob seine in den vorangegangenen Reden punktuell eingestreuten kurzen Unschuldsbekenntnisse105 in materialethischer Hinsicht und überführt die Beschreibung seines vorbildlichen Verhaltens aus dem Lebensrückblick in Kap. 29 in die Sprache des Rechts. Der eigentliche Adressat ist Gott, den Hiob nun endgültig dazu auffordert, in seinem Fall Stellung zu beziehen und ihn wirklich als unschuldig zu erweisen. In seiner jetzt vorliegenden Form wird das Unschuldsbekenntnis mit einer drei Bikola umfassenden grundsätzlichen Erklärung Hiobs zu seiner Integrität in sexualethischer Hinsicht und zur grundsätzlich gerechten Vergeltung Gottes eröffnet (31,1–3) sowie mit einer ebenfalls drei Bikola umfassenden Erklärung zum rechtem Verhalten gegenüber dem Ackerboden beschlossen (V. 38–40a). Den eigentlichen Rahmen bilden die dreigliedrige Erklärung der Unschuld vor Gott (V. 4–6) und die ebenfalls dreigliedige Aufforderung, Gott möge Hiob jetzt endlich erhören (V. 35–37). In diesem inneren (ursprünglichen) Rahmen korrespondieren in konzentrischer Anlage V. 4 und V. 37 über die Wendung „die Schritte zu zählen“ bzw. „die Zahl der Schritte“, V. 5 und V. 36 über die Körperbegriffe „Fuß“ und „Schulter“ sowie V. 6 und V. 35 über den Appell an Gott, er möge Hiobs Unschuld anerkennen.
Singulär vertritt Greenstein die These, dass der Reinigungseid bereits in Hi 30,24 einsetzt. Für diese These könnte sprechen, dass der Ausblick auf den Tod, wie ihn 30,20–23 bietet, häufig am Ende eines Abschnitts oder einer gesamten Rede Hiobs steht. Dagegen spricht der Aufbau von Hi 31, und zwar sowohl in seiner ursprünglichen als auch in seiner fortgeschriebenen Gestalt. 104 Vgl. Hi 31,5; 31,16–17; 31,19–20; 31,24–27; 31,29; 31,31; 31,33. 105 Vgl. Hi 6,28–30; 9,21; 13,18; 16,17; 19,6; 23,7.10–12; 27,4–6. 103
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4a Sieht er selbst denn nicht meine Wege, 4b und zählt er nicht alle meine Schritte? Eröf fnung 5 Wenn ich mit Nichtigem Umgang hatte und zum Trug mein Fuß hineilte – 6 Er wiege mich auf der Waage der Gerechtigkeit, und Eloah erkenne meine Frömmigkeit. 7–34*
[Unschuldsbekenntnis]
Korpus
35 Würde El mich doch nur hören! Siehe: (Hier ist) mein Zeichen – Schaddaj antworte mir! –106 36 Gewiss, ich will es auf meine Schulter legen, will es mir aufsetzen als (reiche) Krone. 37a Die Zahl meiner Schritte will ich ihm verkünden, Abschluss 37b wie ein Fürst will ich mich ihm nahen. In seinem Hauptteil thematisiert dieses Bekenntnis die grundsätzliche Wahrhaftigkeit (V. 7–8), die Ehe (V. 9–10), das Verhalten gegenüber Abhängigen (V. 13–14 + 16–17) und Armen (V. 19–22), die Gottesverehrung (V. 24–27), die Behandlung von Feinden und Fremden (V. 29–32) und den Umgang mit Schuld (V. 33–34). Jeweils zwei Bikola gehören enger zusammen (V. 7–8|9– 10|13–14|16–17|19–20|21–22|24–25|26–27|29–30|31–32|33–34). Einzelne Abschnitte sind durch Qualifikationen des potentiellen Vergehens (V. 11–12.28), Begründungen des Handelns Hiobs (V. 18) und Deklarationen zu Gottes Gericht (V. 15.23) unterbrochen. In der ‚Endgestalt‘ lassen sich die doppelte Rahmung und das Korpus zu fünf Strophen mit jeweils sechs Bikola und zwei Strophen mit jeweils fünf Bikola zusammenfassen (V. 1–6|7a[b]–12|13–18|19– 23|24–28|29–34a[b]|35a[b]–40a). Je nach inhaltlicher Zuordnung werden in der Forschung zwischen 10 und 16 Vergehen unterschieden.107 Dabei handelt es sich, wie in Kap. 29, um das Ethos des wohlhabenden Mannes. Abgesehen von seiner grundsätzlichen sprachlichen Verankerung in atl. (und altorientalischen) Rechtstexten und weisheitlichen Mahn- bzw. Lehrreden108 besitzt Hiobs Unschuldsbekenntnis seine nächsten formgeschichtlichen ParZu Text- und Literarkritik von V. 35 siehe die Anm. zur Übersetzung und die Auslegung. Zu einer Listung von zehn (oder zwölf) Vergehen vgl. z.B. Hesse und Strauß; zu einer Listung von elf Vergehen vgl. Weiser und Habel; zu einer Listung von zwölf Vergehen vgl. Fohrer; de Wilde; J. Gray; zu einer Listung von 14 Vergehen vgl. Hölscher; Gordis und Hartley. 108 Neben den Spr sind hier vor allem die äg. Lebenslehren (Brunner, Weisheitsbücher, 101–349), bab. Ratschläge und Warnungen für rechtes und falsches Tun und Reden (Counsels of Wisdom [Lambert, BWL, 96–107; 311–317; 345f; TUAT III, 163–169; ANET, 426–427; 595f]) sowie die aram. Sprüche des weisen Achikar (TAD C1 1; TUAT III, 320–47; JSHRZ.NF II; Weigl, Achikar-Sprüche) zu nennen. 106 107
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allelen innerhalb des AT in Integritätserklärungen (Dtn 26,13–14; Ez 18,5–9; Ps 7,4–6; 15; 24,3–4)109 und in Bestimmungen zur Lösung eines Rechtsstreits, bei dem keine Zeugen zur Verfügung stehen, mittels eines vor Gott abgelegten Reinigungseides oder eines Gottesurteils/Ordals (vgl. Ex 22,7–8).110 Die formale Struktur der Bedingungssätze und angekündigten Sanktionen im Fall einzelner Vergehen berühren sich zudem mit „Nichtigkeitsflüchen“ bzw. „Fluchwünschen“ gegenüber eidbrüchigen Vasallen im altorientalischen Vertragsrecht,111 wie es theologisch transformiert auch im AT begegnet (vgl. Dtn 28,15–68). Wichtige strukturelle Analogien außerhalb des AT stellen Unschuldsbekenntnisse in den Klagen der mesopotamischen Vorwurfdichtungen,112 in Unschuldserklärungen in Biographien aus Ägypten, mitunter auch in äg. Hymnen an den Sonnengott (vgl. ÄHG 71, 78–85), sowie das sogenannte negative Sündenbekenntnis des 125. Spruchs aus dem äg. Totenbuch dar.113 Hier erklären die Verstorbenen, dass sie der universalen Gerechtigkeit (äg. Ma’at) entsprechend gelebt und gehandelt haben. Litaneiartig kann hier der Betende bekennen, was er alles nicht getan hat. Das entworfene Ideal entspricht dem in den äg. Lebenslehren vermittelten, am Maßstab der sozialen und religiösen Gerechtigkeit orientierten Ethos. Einzelne hierbei aufgezählte soziale und religiöse Taten begegnen in gleicher Weise in Hi 31.114 Sowohl die Biographien als auch das Totenbuch hatten ihren Sitz im Leben im äg. Grab- und Totenkult. Speziell der 125. Spruch des Totenbuches ist daher vor dem Hintergrund des äg. Jenseitsglaubens zu verstehen. So legt der Verstorbene hier sein Bekenntnis vor den 42 Totenrichtern ab. Mit dem äg. Totenspruch, aber auch mit einzelnen Lebenslehren, teilt Hi 31 die Vorstellung von der göttlichen Gerichtswaage.115
109 Vgl. auch ApkZeph 7,4–5. Zu entsprechenden Unschuldsbekenntnissen in altorientalischen Gebeten siehe z.B. das Gebet des heth. Königs Kantuzzili (CTH 373 Vs. 15’–19’ [TUAT.NF VII, 106]). 110 Zu dieser Sache im mesopotamischen Recht vgl. z.B. den Codex Hammurabi § 266 bzw. § 132 (TUAT I, 74 bzw. 58) oder die Mittelassyrischen Gesetze §§ 17; 22; 25 (TUAT I, 83–85) sowie in der sich in vielerlei Hinsicht mit dem Hiobbuch berührenden bab. Weisheitsdichtung Lud. IV,l–m (TUAT III, 132); ein Beispiel für die Anwendung des Eides vor den Göttern in einem Rechtsverfahren auf Elephantine aus dem Jahr 401 v.Chr. bietet TAD B7.2 (vgl. TUAT.NF I, 267f). Zur Sache siehe Boecker, Recht, 27f; 148f. 111 Vgl. besonders VTE (672 v.Chr.) (TUAT I, 160–176), aber auch die aram. Inschriften von Sefire (Mitte 8. Jh. v.Chr.; KAI 222–224; TUAT I, 178–189) und aus der klassischen Antike z.B. den „Eid von Plataiai“ 42–47 (479 v.Chr.; HGIÜ I, Nr. 40; J.P. Brown, Israel, I, 278). 112 Vgl. z.B. Lud. II,23–32 (TUAT III, 122). 113 Zu den Biographien siehe Brunner, Weisheitsbücher, 353–408 (besonders S. 353–357, 374f, 389–391); zum 125. Spruch des äg. Totenbuches siehe Hornung, Totenbuch, 233–245; TUAT II, 510–518; COS 2.12, 59–64. 114 Ehebruch; Unrecht gegenüber Abhängigen, Witwen und Waisen; Unwahrhaftigkeit; Vergötzung des Reichtums; Manipulationen am Ackerland; kultische Vergehen. 115 Vgl. die Große biographische Inschrift des Petosiris (4. Jh. v.Chr.) 16–22 (TUAT II, 532); Pap. Insinger 4,17; 5,6 (TUAT III, 285f).
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Vignette zum ägyptischen Totenbuch 125, aus: IPIAO IV Nr. 1144. Zeichnerin: U. Zurkinden-Kolberg. Das Bild zeigt eine Verstorbene (in Begleitung der hinter ihr stehenden Göttin Isis) vor der Gerichtswaage. Auf dieser wird das Herz der Verstorbenen als Repräsentant ihrer Person und ihrer sittlichen Integrität gegen die mit dem Anch-Zeichen, dem Zeichen des Lebens, und der Feder ausgestatten Ma’at, der Göttin der Gerechtigkeit, aufwogen. Im Fall eines gerechten Lebens wird die Verstorbene zu einer Gerechtfertigten und selbst zu einem unsterblichen Osiris. Das Wiegen wird von dem schakalköpfigen Gott Anubis vollzogen. Auf der Waage sitzt in Gestalt eines Pavians Thot, der Gott der Weisheit.116
Die Gerichtsvorstellung und die Gottesvorstellung im äg. Totenbuch wie in den Biographien einerseits und in Hi 31 andererseits weisen aber auch spezifische Unterschiede auf. So ist Hi 31 zunächst als eine ethische Reflexion im Kontext des Jhwh-Glaubens zu verstehen, die in verschiedenen ethischen Entwürfen prophetischer, weisheitlicher, kultischer und – von der bisherigen Forschung wenig ausgewertet – dtn.-dtr. Herkunft wurzelt, dabei verschiedene rechtliche Gattungen mischt und diese Sprachformen und Traditionen brennglasartig zusammenfasst. Ein wesentlicher Bezugstext ist auch der Dekalog, mitunter wird direkt auf einzelne Gebote angespielt.117 In seiner ,Endgestalt‘ gehört Hi 31 zu den Höhepunkten der atl. Ethik mit zahlreichen sachlichen Parallelen vor allem in frühjüdischen Weisheitstexten.118 Hinsichtlich seiner Gesamtkomposition und der Tendenz seines Ethos wird Hi 31 nicht zu Unrecht häufig in der Nähe der ethischen Höhenlage der Bergpredigt Jesu angesiedelt. Bei der Auslegung von Hi 31 ist jedoch zu beachten, dass dieser Text nicht nur isoliert als ein Muster frühjüdischer Ethik betrachtet wird, sondern auch als Teil einer Rede Hiobs 116 Zahlreiche vergleichbare Darstellungen bietet Seeber, Untersuchungen, welche die ikonographische Entwicklung vom Neuen Reich bis in die römische Zeit illustrieren. 117 Oeming, in: Oeming/Schmid, Hiobs Weg, 66–73; Witte, Hiobs viele Gesichter, 101–132; Opel, Hiobs Anspruch, 86–136. 118 So besonders in Sir, SapSal, Tob, TestXII (zumal in TestRub; TestIss; TestJos), Ps-Phok und Philon, aber auch in der aus Qumran bekannten ‚esoterischen‘ Lehre 4QInstruction (1Q26; 4Q415–418.423); vgl. dazu ausführlich Opel, Hiobs Anspruch, 136–151; 231–325.
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im Kontext der dialogischen Auseinandersetzung mit seinen Freunden und vor allem mit Gott. So grundsätzlich die hier aufgeführten potentiellen Verfehlungen bzw. Nicht-Verfehlungen sind, so stehen sie doch im Dienst der Widerlegung der gegen Hiob seitens der Freunde erhobenen Vorwürfe und der impliziten Anklage Gottes, er verhalte sich gegenüber Hiob nicht so, wie es seiner moralischen und religiösen Integrität und seiner Vorstellung vom Wesen und der Gerechtigkeit Gottes entspreche. Mit seiner Kombination psalmistischer, weisheitlicher und rechtlicher Sprachformen, Metaphern und Motive spiegelt sich in der großen Rede in Hi 29–31 nochmals das grundlegende Kompositionsmuster der Hiobdichtung, für welche die Mischung, Verfremdung und Neukodierung unterschiedlicher Gattungen kennzeichnend ist und die sich einer eindimensionalen Zuweisung zu einer bestimmten Tradition (Psalmen; Weisheit; Recht) entzieht.119 Text- und In 4QHia sind Reste weniger Wörter aus Hi 31,14–21 erhalten. Sie entsprechen Literar- mit einer kleinen Ausnahme dem auch vom MT repräsentierten Text.120 In geschichte 11QTgHi sind Fragmente zu 29,7–16; 29,24–30,4; 30,13–20; 30,25(?)–31,1; 31,8–16; 31,26–32 und 31,40 erhalten. Mitunter weisen diese charakteristische Unterschiede zum MT bei gleichzeitiger Übereinstimmung mit Lesarten der LXX, gelegentlich auch mit Syr und Tg, auf. Echte Varianten finden sich zu Lesarten in 29,7.13; 30,17.18 und 31,29. In 31,10 wurde das zweite Kolon offenbar (aufgrund seines drastischen Inhalts?) nicht übersetzt, in 31,29 könnten angesichts des Platzes auf der Rolle drei bis vier Kola mehr vorhanden gewesen sein, die kein Äquivalent im MT und den anderen antiken Versionen besitzen, ohne dass sich angesichts des fragmentarischen Zustandes von 1QTgHi genauer sagen ließe, was hier stand.121 In LXXZi sind 29 Verse ganz oder teilweise asterisiert (vgl. 29,10b.11a.13a.19– 20.24b.25; 30,1aγ.2–4a.7a.11b–13a.16a.18b.20b.22b.27; 31,1–4.18.23b– 24a.27a.35aα).122 Sie stammen im ,kirchlichen Text‘ LXX überwiegend aus Th.123 Die Verse 29,10–11 sind zu einem Bikolon zusammengezogen, wobei V. 10aLXX V. 11aMT entspricht. Ein echtes Äquivalent zu 29,10aMT fehlt. Die aus Th stammende Einfügung von 29,10b und V. 11a in den griech. Text hat zu einer Dublette geführt. In 30,5–6 weist LXX nur ein Bikolon auf, zu dem syntaktisch noch V. 7b als drittes Kolon gehört. V. 5LXX bietet (mit charakteristischen Differenzen) das Pendant zu V. 5bMT. Aufgrund des Fehlens von 31,1–4 sind in der LXX 30,28–31 und 31,5–6 zwar motivisch enger aneinandergerückt (vgl. Ps 1,1), Hiobs abschließendes Unschuldsbekenntnis hat nun aber keine eigentliche Einleitung. Insofern die Fassung der LXX von 31,35–37 anders S.o. S. 20–26. Siehe die Anm. zur Übersetzung. 121 Vgl. dazu DJD XXIII, 124. 122 Siehe dazu ausführlich Gorea, Job repensé, 118–153. 123 Zur Frage, ob die asterisierten Verse bzw. Versteile 29,13a; 30,1c(30,1aγMT) und 31,2a aus Th und/oder Aq stammen, siehe Meade, Edition, 151–153; 160f; 181–183. 119 120
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als der MT keine Herausforderung Gottes bietet, die mit der Eröffnung der Gottesrede in 38,3 korrespondiert, sondern ein weiteres moralisch-rechtliches Feld thematisiert, auf dem sich Hiob bewährt hat, trägt das gesamte Kap. 31 in LXX einen anderen kompositionellen und tendenziellen Charakter als im MT. Aus dem Selbstporträt Hiobs in Kap. 29, das einerseits als Folie für die Darstellung der negativen Gegenwartserfahrungen dient, andererseits als Aufruf an Gott, sich doch seiner Freundschaft mit Hiob zu erinnern, fallen die V. 17 und 18–20 als eine spätere Ergänzung sowie V. 25b als eine Randglosse heraus. Wenn in V. 18 eine Anspielung auf den Mythos vom Vogel Phönix vorliegt, der nach äg. Vorstellung in enger Beziehung zu Osiris und zum Totenreich steht und der nach späterer Legendenbildung alle 500 Jahre wiederkehrt,124 dann gehören diese Verse wie die eschatologischen Splitter in 14,12* und 19,28–29* zu einer sehr späten auferstehungstheologischen Redaktion der Hiobdichtung, wie sie sich auf einer noch jüngeren Stufe auch in 42,17aLXX zeigt.125 In der Elendsschilderung in Kap. 30 dürften die textlich wohl nicht unversehrt erhaltenen und sich in den antiken Versionen mitunter stark vom MT unterscheidenden V. 1aγ–8, in denen eine Identifikation der Hiob verachtenden Menschen mit armen Steppenbewohnern erfolgt, sekundär sein.126 Diese Passage berührt sich eng mit der sekundären Identifikation der Gottlosen in 24,5– 9.13–25 und könnte derselben Redaktionsschicht angehören. Allerdings bietet der Abschnitt einen inhaltlich passenden Kontrast zu Hiobs Selbstporträt in Kap. 29. Innerhalb dieses Exkurses fügen sich die V. 1aγ–4 und V. 5–8 zu jeweils einer Strophe, wobei die zweite Strophe aufgrund der Korrespondenz von V. 5a und V. 8b eine höhere Kohärenz aufweist. Das Unschuldsbekenntnis Hiobs in Kap. 31 wird jetzt durch zwei Nachträge in V. 1–3 und 38–40a, die sprachlich und intentional der Redaktion entsprechen, die Hiob eindeutig als Bekenner des gerechten Vergeltungshandelns Gottes stilisiert (vgl. 24,13–25; 27,7–10.13–23), zusätzlich gerahmt.127 Ebenfalls sekundär könnten die gerichtstheologischen Qualifikationen einzelner Vergehen in V. 11–12.23.28 sein, welche die konditionalen Ketten gedanklich und stilistisch durchbrechen.128 V. 11 (vgl. V. 28), V. 12 und V. 23 stehen der aus 24,19 erkennbaren, im Hiobbuch sekundären Gerichtsvorstellung nahe, welche die „Unterwelt“ als Sündenterminus einbezieht. Allerdings begegnet eine besondere Kennzeichnung einzelner Vergehen als todes- oder strafwürdig auch
124 Vgl. Hesiod, frgm. 304; Herodot, hist. 2, 73; Ovid, met. 15, 391–407; Plinius, nat. 10,3–5 (Eichholz, 292–295); 12, 85 (Rackham, IV, 62f); Tacitus, ann. 6, 28; im frühjüdischen Schrifttum: EzTrag 254–268; grBar 6–8; 2Hen 12,1–3; Rabbinica: TgPs 50,1; bBB 25a; 73b; bGit 31b; BerR XIX zu Gen 3,6 (weitere bei CTAT 50/5, 266–268); Feldmar, Fortschreibungen, 234–238. 125 Siehe dazu auch Opel, Anspruch, 42–47; Feldmar, Fortschreibungen, 98–129; 275. 126 Vgl. dazu bereits Duhm; Fohrer; Opel, Anspruch, 67–70 (jeweils V. 2–8); J. Gray (V. 3–8). 127 Strauß hält auch V. 4 für sekundär (vgl. LXX). 128 Vgl. Strauß (nur im Fall von V. 12); J. Gray (nur im Fall von V. 11–12; V. 23 sei ursprünglich, gehöre aber hinter V. 34); vgl. auch Wanke, Praesentia Dei, 322–336, der 31,1–3.7–15.18.21– 23.28.33.35b(c). 38–40aβ(b) der „rechtskritischen Bearbeitung“ zuweist.
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in äg. Weisheitslehren.129 Schließlich könnten die Reflexion auf den Schöpfergott in V. 15 sowie der textlich umstrittene V. 18, die beide ebenfalls formal aus dem Gefüge der Konditionalsätze herausfallen, sekundär sein.130 Sie fügen sich jedoch zu diesem Gedankengang, so dass sie ebenfalls zum ursprünglichen Bestand des Reinigungseides gezählt werden können. Kleinere Zusätze bilden jeweils das dritte Kolon in V. 7, 34 und 35 sowie die Notiz, dass Hiobs Worte nun zu Ende seien (V. 40b). Dass die Herausforderungsrede abgesehen von 30,20–23 und 31,35–37 insgesamt erst auf eine spätere oder mehrere spätere Redaktionen zurückgeht,131 die in besonderer Weise Hiobs Unschuld und Gerechtigkeit betonten, ist trotz der Länge dieser Rede und der formgeschichtlichen Besonderheit von Kap. 31 unwahrscheinlich. 29,1–25 1. Der Rückblick auf die gesegnete Vergangenheit 29,1–6 Hiobs einstige Achtung bei Gott 29,1 Die Überschrift entspricht der in 27,1 und ist vermutlich wie diese (in der vorliegenden Form) von der Majestätsredaktion gebildet. Die Annahme, sie habe ursprünglich wie die Überschriften der Hiobreden in Kap. 6–23 („Und Hiob antwortete und sagte“) gelautet,132 erübrigt sich. Kap. 29 hatte als ursprüngliche Fortsetzung von 27,1.2–6 keine eigene Überschrift.133 Die folgenden Verse bildeten dementsprechend in der ursprünglichen Komposition die zweite Strophe des Rückblicks auf die gesegnete Vergangenheit und stellen erst in der jetzt vorliegenden Buchgestalt eine nunmehr erste Strophe dar. 29,2–6 Der sehnsüchtige Wunsch Hiobs nach den „Tagen“, da Gott ihn wohl behütete, knüpft unmittelbar an Hiobs Bekenntnis zu seiner Gerechtigkeit (ṣedāqāh ) und zur Integrität seiner „Lebenstage“ in 27,6 an. Während Hiob sich selbst treu geblieben ist, hat Gott sich offenbar geändert. Aus dessen sorgsamem Bewachen (šāmar, V. 2, vgl. Ps 16,1; 121,7–8) ist ein unheilvolles Überwachen geworden (10,12–14; 13,27; 14,16). Dabei klingt im Wunsch nach den „frühe-
Vgl. Lehre d. Ani (aus der 18. Dynastie), 46, 57 (Brunner, Weisheitsbücher, 200f). So Hölscher; Kaiser, 56; 91; Wanke, Praesentia Dei, 430. 131 So Kaiser, 126 (im modifizierten Anschluss an Baumgärtel, Hiobdialog, 131f; 147, der Kap. 30 insgesamt als Konglomerat unterschiedlicher Fragmente, redaktioneller Überleitungen und versprengter Stücke beurteilte) sowie Syring, Hiob, 168, und Vermeylen, Métamorphoses, 181, die nur 31,35*–37 für ursprünglich halten. 132 Vgl. BHK. 133 Dagegen rechnet Fohrer Hi 29,1 in der vorliegenden Form als originären Hinweis auf den zweiten Teil der Dichtung. Dabei ist vorausgesetzt, dass es ursprünglich eine dritte Rede Zophars gab, die Hi 29 voranging. 129 130
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ren (qædæm) Monden“ ein mythisches Element an.134 Der Begriff qædæm steht auch für die Urzeit (vgl. 1,3), mithin für die ideale Zeit schlechthin, für die Zeit, da Jhwh das Chaos besiegte und die Weltordnung einsetzte (Jes 51,9). So birgt der Wunsch Hiobs auch die bereits in Kap. 16 und 19 aufgeblitzte Hoffnung auf eine Überwindung des in sein Leben eingedrungenen Chaos (vgl. Kap. 3). Dementsprechend bedient sich Hiob im Kontrast zur Herabrufung der Finsternis über seinen Geburtstag (3,4–9) und zu seinen Erfahrungen der Finsternis (17,12–13; 19,8; 23,17) nun zur Beschreibung seines einstigen Glücks einzelner Metaphern des Lichts, wie sie sonst Segensworte (vgl. 22,28; Num 6,24–26; Ps 67,2) und Vertrauensbekenntnisse prägen (vgl. Ps 18,29; 27,1). Im Zusammenpiel mit der sekundär vorgebauten Lehrrede in Kap. 28 unterstreicht Hiobs Rückblick auf das über ihm leuchtende Licht Gottes (V. 3, vgl. 18,5; 2Sam 22,29) sein die Eingangsklage korrigierendes Bekenntnis, Gott setze der Finsternis ein Ende (28,3) und bringe alles ans Licht (28,11). Die Glückstage Hiobs waren Tage der Freundschaft Gottes (V. 4) – ganz entsprechend der Vorstellung, dass Gott mit denen, die ihn fürchten, und mit den Aufrichtigen vertrauten, d.h. einen heilvollen Umgang pflegt (vgl. Ps 25,14; Spr 3,32–33). Erneut prallen die ambivalenten Erfahrungen Hiobs mit seinem Gott aufeinander: der vergangenen Freundschaft und der gegenwärtigen Feindschaft (13,24; 16,9; 19,11). So ist Hiob beides: der exemplarische Gottesfreund135 und der exemplarische Gottesfeind. Diese Gottesfreundschaft artikulierte sich in der unmittelbaren heilvollen Gemeinschaft mit Gott136 und den Menschen (V. 5), Letztere hier repräsentiert durch die „jungen Leute“ (neʿārîm). Hinter diesen können auf der Ebene der ,Endgestalt‘ des Buches die ums Leben gekommenen Kinder Hiobs gesehen werden (vgl. 1,19; 8,4; Ps 127,3–5; 128,3). Im Kontext der ursprünglichen Dichtung ist aber wohl eher an Hiobs intakte Lebensgemeinschaft zwischen Jung und Alt gedacht (vgl. V. 8 sowie 19,13–19), die noch nicht vom Ausschluss des Leidenden geprägt ist. Die Strophe gipfelt in der Beschreibung überquellenden Segens (V. 6), womit Hiob indirekt nochmals ein Unschuldsbekennntnis ablegt (vgl. 20,17). Wenn die Beschreibung nicht nur den gesegneten Hiob als reichen Besitzer von Viehherden und Ölbäumen zeichnet, sondern auch bildhaft zu verstehen ist, so hat sie ihre nächste biblische Parallele im heilsgeschichtlichen Rückblick des Mose auf die Führung und Bewahrung Israels durch Jhwh in Dtn 32,13–14.137 Insofern das „Moselied“ auch an anderen Stellen der Hiobdichtung anklingt,138 ist nicht ausgeschlossen, dass der Dichter auch hier auf Dtn 32 zurückgreift und damit Hiob als einen Bekenner des einen und einzigen Gottes und Kenner der Heilsgeschichte Israels zeichnet. Zugleich erscheint dann 134 Zur besonderen Form des Parallelismus membrorum in V. 2, bei dem der Parallelismus aus einem Nomen (qædæm) und einer Verbalkonstruktion (ʾ ælô ah jišmerenî) besteht, siehe Watson, Poetry, 157. 135 S.o. zu Hi 16,20. 136 Vgl. Gen 35,3; Ps 23,4; 46,8. 137 Vgl. auch Gen 49,11; Dtn 33,24. 138 S.o. zu Hi 11,4 sowie ausführlich Greenstein, Parody, 66–78.
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der Rückblick in Hi 29,6 auch als ein eindringlicher Appell an Gott, er möge sich auch jetzt als gerecht erweisen: Er ist der Fels. Seine Werke sind vollkommen; denn alle seine Wege sind recht. Treu ist Gott und kein Böses an ihm, gerecht und wahrhaftig ist er. (Dtn 32,4 LB)
29,7–11 Hiobs einstige Achtung bei den Menschen Die zweite Strophe entfaltet den in V. 5b angesprochenen Gedanken des sich in gesellschaftlicher Achtung niederschlagenden Segens. Die Schilderung Hiobs, der einst zur Stadt aufstieg (V. 7), bildet gewissermaßen die Überschrift für die folgenden Verse. Insofern die Hiobdichtung die Reden Hiobs und seiner Freunde nicht lokalisiert und sich das im Prolog genannte Uz einer geographischen Festlegung entzieht,139 ist auch hier eine Verortung der Stadt (qæræt) unmöglich. Entscheidend ist die Topik: Der als besonders reich und angesehen geltende Hiob begab sich einst von seinem Landsitz aus unter Menschen, zog durch das Stadttor, das im Alten Orient als Nahtstelle zwischen gesichertem Wohnraum und lebensfeindlicher Umwelt gilt und das die entscheidende Stätte der Rechtsprechung ist, und errichtete seinen Thron (môšab, vgl. Ez 28,2) auf dem in der Nähe des Tores gelegenen Marktplatz.140 So erschien der außergewöhnliche Hiob inmitten des Alltäglichen und erfuhr dort eine besondere soziale Hochschätzung, die Zeichen des außergewöhnlichen Segens ist – ganz im Gegensatz zur gegenwärtig erfahrenen Entfremdung und Isolation von seiner vertrauten Umwelt (19,13–20). Im Angesicht des königlichen Hiob verbargen sich die Jungen und erhoben sich die Alten, kurz: alle erwiesen Hiob höchsten Respekt. Die Greise und die politischen Würdenträger, diejenigen, denen aufgrund ihrer Lebenserfahrung besondere Weisheit und das erste Rederecht in der Versammlung der Bürger einer Stadt zustand, blieben stehen und schwiegen (V. 8–9, vgl. Lev 19,32; Hi 32,7–8; Spr 31,23). Diese Szenerie bedient sich typischer Bilder zur Darstellung sozialer Achtung.141 Sie ist zugleich durchlässig auf den Fall Hiobs, der sich zuletzt den nicht enden wollenden Reden seiner Freunde ausgesetzt sah, die ihre Worte gerade nicht zurückhielten und die nicht die Hand auf den Mund legten (V. 9–10).142 Den Kontrast zum ehrfurchtsvollen Schweigen bilden der Lobpreis und das positive Zeugnis seitens derer, die Hiob einst aufmerksam wahrgenommen haben: Das „hörende Ohr“ und das „sehende Auge“ stehen hier metonymisch für den ganzen Menschen (V. 11). S.o. zu Hi 1,1. Vgl. Esr 10,9; Neh 8,1.3.16; 2Chr 32,6. 141 Vgl. SapSal 8,9–12 (als Folge besonderer Weisheit). 142 Vgl. Hi 4,2; 16,3; 20,2–3; 21,2–3.5. Zu dem in Hi 29,9 beschriebenen Gestus des Schweigens vgl. auch Hi 40,4; Mi 7,16; Spr 30,32; Sir 5,12; SapSal 8,12, sowie zum Bild des Klebens der Zunge in V. 10 als Ausdruck des Verstummens Ez 3,26. 139 140
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Auch in dieser Strophe zeigt sich eine Mischung typischer Motivik königlicher Ideologie (vgl. Ps 72,17; Mal 3,12) mit der Applikation auf den leidenden Hiob, der nun seitens seiner Freunde und Gottes gerade keine Glücklichpreisung und keine günstige Zeugenschaft mehr erfährt (vgl. 10,17; 16,19). Hiobs einstige vorbildliche soziale Gerechtigkeit I
29,12–17
Der Beschreibung der einstigen gesellschaftlichen Wertschätzung folgt deren 29,12–16 Begründung. Ganz im Gegensatz zu den zuletzt von Eliphas erhobenen Beschuldigungen (22,6–9) hat sich Hiob in vorbildlicher Weise um die Benachteiligten der Gesellschaft gekümmert. Auch hier entspricht das soziale Verhalten Hiobs königlicher Ethik, der gemäß es erste Aufgabe des Herrschers wie auch seiner Beamten ist, sich um Arme, Witwen und Waisen zu kümmern und umfassenden Rechtsbeistand zu bieten (vgl. Ps 72,12–14; Jer 22,16; 2Hen 42,8–9). Dieses Ideal gilt in gleicher Weise in Ägypten, Mesopotamien und Syrien-Palästina für den König und die wohlhabenden und verantwortlichen Beamten.143 Diese Fürsorge ließ über Hiob Segen (berākāh) kommen (V. 13, vgl. 31,20; Dtn 24,13) – bezeichnenderweise ist dies der einzige Beleg für das Substantiv „Segen“ im Hiobbuch, dessen Verbalwurzel (bārak) ein Leitwort der Rahmenerzählung darstellt.144 Genau in der Mitte der Strophe steht Hiobs ausdrückliches Bekenntnis zu Gerechtigkeit (ṣædæq) und Recht (mišpāṭ, V. 14, vgl. Ps 72,2; 119,121). Dies sind die Größen, die Hiob auch von Gott erwartet (vgl. 8,3; Ps 9,5; 89,15). In der Metapher des Gewandes, konkret eines ärmellosen Obergewandes oder Mantels, wie er im antiken Israel von hochgestellten Personen getragen wurde (vgl. 1Sam 18,4), und eines Kopfbundes oder Turbans, wie er auch zur Kleidung des Hohepriesters (Sach 3,5) oder des Königs (Jes 62,3; Sir 11,5; 47,6) gehörte, erscheint Gerechtigkeit als grundlegende Haltung Hiobs (vgl. 27,5–6). Mit derselben Metapher kann die Gerechtigkeit Gottes beschrieben werden, und zwar ebenso die Gerechtigkeit, die Gott selbst auszeichnet (vgl. Jes 59,17), wie die Gerechtigkeit, die Gott dem Menschen verleiht (Jes 61,10; Ps 132,9). Beides erwartet Hiob, der sich in seiner Solidarität mit den wirtschaftlich und körperlich Benachteiligten der Gesellschaft als wahrer Gottesknecht erwiesen hat. Mit seiner Funktion als „Auge“ für den Blinden und „Fuß für den Lahmen“ hat Hiob Gott entsprechend gehandelt (Ps 146,7–9, vgl. Ps-Phok 24). Betont endet V. 15 mit dem Ausruf „das war ich!“ (ʾānî). In ähnlicher Weise ist das abschließende Bekenntnis Hiobs hervorgehoben, er sei „Vater der Armen“ gewesen und habe sich sogar um einen ihm unbekannten Vgl. z.B. die Beschreibung Danʾilus im ug. Aqhatu-Epos I,v,4–8 (TUAT.NF VIII, 278) und III,i,20–25 (TUAT.NF VIII, 286f), die Mahnungen Yaṣṣubus an seinen Vater Kirta im ug. Kirta-Epos III, vi,33–34.45–50 (TUAT.NF VIII, 265f) oder entsprechende Ratschläge in den akkad. Counsels of Wisdom (TUAT III, 165f,56–65) und der äg. Lehre d. Amenemope 4,4–5; 16,9–14 (TUAT.NF VIII, 331; 346) und der äg. Lehre d. Amenemhet 18 (Brunner, Weisheitsbücher, 173). 144 Vgl. Hi 1,5.10.21; 2,5.9; 42,12. 143
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Rechtsfall145 gekümmert, obwohl er rechtlich hierzu nicht verpflichtet gewesen sei (V. 16). Auch dieses Motiv gehört, wie die Vorstellung, dass der König ein von Gott eingesetzter Richter ist, zum Repertoire der altorientalischen Königsideologie und begegnet beispielsweise in der um 825 v.Chr. abgefassten phönizischen Inschrift des Königs Kilamuwa von Samʾal/Zincirli (KAI 24,9–13): Ich, Kilamuwa, der Sohn des Chaja, saß auf dem Thron meines Vaters. Unter den 10 früheren Königen knurrten die Muškābîm wie Hunde. Ich aber war dem einen ein Vater und war dem anderen eine Mutter 11 und war dem dritten ein Bruder. Und wer nie ein einziges Schaf gesehen hatte, ich machte ihn zum Besitzer einer (Kleinvieh-)Herde. Und wer nie ein einziges Rind gesehen hatte, ich machte ihn zum Besitzer 12 einer Großviehherde und zum Besitzer von Silber und zum Besitzer von Gold. Und wer nie Leinen gesehen hatte seit seiner Jugend, in meinen Tagen bedeckte (man) ihn (mit) Bys13sos. Und ich hielt die Muškābîm bei der Hand, sie aber richteten Empfindung(en auf mich,) wie die Empfindung(en) des Vaterlosen auf seine Mutter (gerichtet ist/sind).146 9
In gleicher Weise kann der hohe äg. Beamte Menthu-User im frühen 2. Jt. v.Chr. bekennen: Ich war ein Vater für die Waise und ein Helfer der Witwe. In meiner Stadt schlief niemand hungrig ein.147
Umgekehrt kann der unter gesellschaftlicher Willkür leidende beredte Oasenmann den von ihm um Rechtshilfe angerufenen Oberverwalter Rensi mahnen: Denn du bist der Vater der Waisen, der Gatte der Witwe, der Bruder der Geschiedenen, der Schurz dessen, der keine Mutter hat.148
Doch der Dichter von Hi 29 spielt in dem paronomastisch149 herausgehobenen V. 16 auch mit dem Namen Hiobs („Wo ist der Vater?“).150 Während Hiob dem königlichen Ethos entsprechend selbst Vater der Armen war (vgl. Sir 4,10), sucht er Gott vergeblich als seinen Vater (vgl. Ps 68,6). Mit ihrer Häufung an Rechts- und Gerechtigkeitsbegriffen (ṣædæq, mišpāṭ, rîb) rückt diese Strophe eng neben die ursprüngliche Eröffnungsstrophe der Rede in 27,2–6 und neben die Suche Hiobs nach dem ihm zukommenden Recht (23,2–13). Zugleich gibt sie schon eine Vorschau auf Hiobs ausführliches Unschuldsbekenntnis in Kap. 31. In Hiobs Sorge um die Bedürftigen, die das rechtlich Gebotene übertrifft und zu einer Haltung geworden ist, verwirklicht sich Siehe die Anm. zur Übersetzung. Übersetzung von H.-P. Müller, in: TUAT I, 639. 147 Übersetzung von H. Brunner, Weisheitsbücher, 374f. 148 Übersetzung von D. Hornung, Dichtung, 13. 149 Vgl. die Alliteration auf ʾ (a)- und die Paronomasien auf -ab. 150 Siehe dazu die Einleitung S. 6f sowie die Auslegung von Hi 1,1. 145 146
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seine Gerechtigkeit – und seine wahre Gottesebenbildlichkeit. Der Rückblick Hiobs auf seine Mitmenschlichkeit spiegelt eine zentrale Argumentationsfigur weisheitlicher Ethik: Den wahren Weisen kennzeichnet Barmherzigkeit, so wie Barmherzigkeit ein wesentliches Signum Gottes ist – Barmherzigkeit ist eine Form der imitatio dei (vgl. Ps 112; Sir 4,7–10; Arist 210; 281).151 Dieser Vers passt zwar sachlich zur Beschreibung des richterlichen Eingreifens 29,17 Hiobs und zur Spiegelung von Gottes Strafe für den Frevler (vgl. Ps 3,8; 58,7; 124,6). Allerdings fällt er aus dem bisherigen Strophenschema heraus. Auch syntaktisch erscheint er als Nachtrag. Die gewaltsame Metaphorik, die den Frevler im Stil eines Raubtieres zeichnet,152 unterstreicht Hiobs massiven Einsatz als Richter zugunsten der Unterdrückten. Hoffnung über den Tod hinaus?
29,18–20
Die Selbstreflexion Hiobs über sein Lebensende und seine erwartete Zukunft unterbricht die Schilderung seiner gesellschaftlichen Achtung (V. 7–16.21–25). Mit drei Bildern unterschiedlicher Herkunft gibt Hiob hier seiner Überzeugung hinsichtlich eines täglich neu vom Segen Gottes gezeichneten Lebens Ausdruck. Das erste Bild scheint nicht nur die Hoffnung auf ein langes Leben im Kreis 29,18 der Familie, die hier metaphorisch als „Nest“ (qen)153 bezeichnet wäre und dementsprechend auch die Kinder Hiobs (Hi 1,18–19) einbeziehen würde, und auf einen Tod in einem guten Alter („satt an Tagen“) auszudrücken,154 sondern auch die Gewissheit, wie der legendäre Vogel Phönix (ḥôl, vgl. äg. benu) mit seinem Nest zu verbrennen, wobei aus der Asche ein neuer Phönix entsteht (vgl. Ovid, met. 15, 391–407). Im frühen Judentum war der Phönix als „König aller Vögel“ bekannt (EzTrag, 3./2. Jh. v.Chr.). Diese Deutung des Wortes ḥôl, das auch für „Sand“ stehen kann (vgl. Jes 48,19; Hab 1,9), ist allerdings umstritten. Die LXX und Vg denken an eine Palme und beziehen die Aussage Hiobs so auf ein möglichst hohes Lebensalter (vgl. Ps 92,13–15).155 Im Rahmen der christlichen Literatur zeigt sich erstmals im ersten Clemensbrief (kurz vor 100 n.Chr.) eine Anwendung der Phönixlegende auf die Auferstehung:
Vgl. dazu auch ausführlich Witte, Texte und Kontexte, 225–243. Vgl. Gen 49,9; Num 23,24; Jes 5,29. Zum Vergleich der Frevler speziell mit einem Löwen siehe Hi 4,10–11 und die dort genannten Parallelen sowie Strawn, Lion, 51f; 331. 153 Vgl. Dtn 32,11; Jes 16,2. Mitunter wird qen auch als Ausdruck für „Familie“ ohne jegliche metaphorische Konnotation verstanden; zur Diskussion siehe Clines. 154 Vgl. Hi 5,26; 42,17; KAI 226,3; großer Šamaš-Hymnus 99–100 (TUAT.NF VII, 69). 155 Unter den neueren Auslegern vertritt entschieden de Wilde die Auffassung, hier handele es sich um die Palme; vgl. auch J. Gray, der allerdings naḥal (II, vgl. Num 24,6; Hhld 6,11) liest (und in V. 18a umfangreiche Änderungen vornimmt). Zu Vorkommen und Symbolik der (Dattel-)Palme (tāmār) siehe Zohary, Pflanzen, 60f, und Häusl, Garten, 75–78. 151 152
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25,1 Betrachten wir das auffallende Zeichen, das in den östlichen Gegenden geschieht, d.h. in den Gegenden um Arabien. 2 Es gibt nämlich einen Vogel, der Phönix heißt; dieser ist der einzige seiner Art und lebt 500 Jahre; und wenn er bereits seiner Auflösung im Tode nahe ist, macht er sich ein Nest aus Weihrauch und Myrrhe und den übrigen Spezereien; ist die Zeit erfüllt, so begibt er sich in dieses Nest und stirbt. 3 Während aber das Fleisch in Fäulnis übergeht, entsteht ein Wurm, der sich von dem Fäulnissaft des verendeten Tieres nährt und Flügel bekommt; wenn er dann kräftig geworden ist, hebt er jenes Nest auf, in dem die Gebeine des früheren Vogels sind, und fliegt mit diesen von Arabien bis nach Ägypten in die Stadt, die Heliupolis heißt. 4 Und bei Tage, wenn alle es sehen, fliegt er zum Altar des Helios, legt sie dort nieder und kehrt so wieder zurück. 5 Die Priester schauen nun die Zeittafeln nach und finden, daß er nach Vollendung des 500. Jahres gekommen ist. 26,1 Halten wir es nun für besonders erstaunlich, wenn der Schöpfer die Auferstehung aller, die ihm in der Zuversicht rechtschaffenen Glaubens heilig gedient haben, bewirken wird, wo er uns sogar durch einen Vogel seine erhabene Verheißung veranschaulicht? (1Clem 25,1–26,1)156
Benu-Vogel, aus: H. Gressmann, Altorientalische Bilder zum Alten Testament, Berlin/Leipzig 1927, Abbildung Nr. 545.
Nach dem bab. Talmud verdankt der Phönix seine Unsterblichkeit dem Wunsch Noahs: Möge es (Gottes) Wille sein, daß du nie sterben sollst. So heißt es auch: So dachte ich: bei meinem Nest werde ich verscheiden und wie ein Phönix meine Tage mehren. (bSanh 108b)157
29,19 Die in der LXX und Vg bereits in V. 18b vorliegende Pflanzenmetaphorik kommt im MT nun auch in V. 19 zur Anwendung, wenn Hiob seine einstigen Lebensmöglichkeiten im Bild eines am frischen Wasser stehenden Baumes beschreibt, dessen Zweige vom nächtlichen Tau belebt werden (vgl. 14,8–9; 156 Übersetzung von J.A. Fischer, Die Apostolischen Väter, I, 56–59. In 1Clem 26,3 zitiert Hi 19,26 als Beleg für die Auferstehung; vgl. dann auch im 2./3. Jh. n.Chr. Physiologus Nr. 7. 157 Übersetzung von Goldschmidt, Talmud, IX, 126.
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18,16). Damit tritt Hiob an die Seite des in Ps 1,1–3 glücklich gepriesenen Weisen und Torahfrommen (vgl. Jer 17,8). Möglicherweise handelt es sich auch um eine Anspielung auf das Motiv des Lebens- oder Weltenbaumes (vgl. Gen 3,22.24; Ez 31,7).158 Wie Ps 1 ist in Hi 29,18 das Bild für eine eschatologische Deutung offen. Eine Transparenz auf ein Leben nach dem Tod besitzt auch das zunächst ganz realistische Bild vom Tau (vgl. Gen 27,28; Sir 43,22), insofern dieser in der vorderorientalischen und der äg. mythischen Symbolik für besonders intensive Lebenskraft steht (vgl. Jes 26,19).159 In der dritten Selbstreflexion zur einst erhofften Lebenskraft mischen sich mit 29,20 dem Bild der sich stets erneuernden Würde (kābôd) und des neu aufsprossenden (ḥālap I Hif.)160, d.h. jeweils neu spannbaren Kriegsbogens (qæšæt), der sowohl in der Hand eines Königs als auch Gottes erscheinen kann,161 Metaphern aus der Welt der Natur und der Kultur (vgl. Gen 49,22–24). So spiegelt sich auch im Motiv des Bogens die altorientalische Königsideologie, nach der der kämpfende König irdischer Repräsentant des Kriegsgottes sein kann (vgl. Ps 18,15 versus Ps 18,35) und sich im Handeln des Königs göttliches Handeln zeigt.162 Der zerbrochene Bogen hingegen kennzeichnet Machtverlust und Demütigung (vgl. VTE § 48; 77 [TUAT I, 171, 174]). Diese Hoffnungsaussage steht in scharfem Kontrast zu Hiobs Klage über die ihm von Gott entrissene Würde in 19,9 – dem einzigen Beleg für das anthropologische Schlüsselwort kābôd (vgl. Ps 8,6) im Buch Hiob neben 29,20 – und zu seiner gleichsam metaphorischen Beschreibung Gottes als machtvoll gegen ihn kämpfenden Bogenschützen in 6,4 und 16,12–14 (vgl. 30,11; Klgl 2,4; 3,12). Dabei ist auch das Bild in 29,20, das wie der gesamte erste Teil der Herausforderungsrede in 29,2–25 in der glücklichen Vergangenheit Hiobs situiert ist, nicht nur ein (indirektes) Bekenntnis zu Gottes Erneuerung dieses Lebens (vgl. Jes 40,31; 41,2), sondern auch Ausdruck einer eschatologischen Hoffnung. So haftet dem Begriff des Neuen (ḥādāš), der hier einmalig im Buch auf Hiob selbst angewendet wird, auch der Aspekt des Endgültigen, heilvollen und gegenwärtiges Erleben radikal und unumkehrbar Transformierenden an (vgl. Ps 51,12; Ez 36,26; Jes 65,17; 66,22).163
158 So Egger-Wenzel, Phönix, 101, die zusätzlich darauf hinweist, dass nach rabbinischer Tradition der Phönix im Garten Eden lebte (vgl. BerR XIX zu Gen 3,6 und dazu auch E. Lipiński, Rešāfīm: From Gods to Birds of Prey, in: A. Lange u.a. (Hg.), Mythos im Alten Testament und seiner Umwelt (FS H.-P. Müller), BZAW 278, Berlin/New York 1999, 256. 159 Vgl. dazu M. von Nordheim, Geboren von der Morgenröte? Psalm 110 in Tradition, Redaktion und Rezeption, WMANT 117, Neukirchen-Vluyn 2008, 84–89; Feldmar, Fortschreibungen, 249f. 160 Noegel, Janus Parallelism, 97–103, vermutet hier eine bewusst doppeldeutige Verwendung der Wurzel ḥlp I und ḥlp II (Qal „durchbohren“), womit auf Hi 20,24 angespielt werde. 161 Zum Bogen allgemein s.o. zu Hi 20,24; siehe dazu auch O. Keel, Der Bogen als Herrschaftssymbol, in: Ders. u.a. (Hg.), Studien zu den Stempelsiegeln aus Palästina/Israel, Bd. III, OBO 100, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1990, 27–65; 263–279. 162 Siehe dazu auch Opel, Anspruch, 42. 163 Zu ḥādāš als eschatologischem terminus technicus siehe weiterhin Jer 31,31; CD-A VI,19; VIII,21; 1QpHab II,3; 1QHa V,17(28)–18(29).
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Eigentümlich sind die Deutungen von J.P. Brown, Hi 29,20 beziehe sich in sexuellem Sinn auf die Erneuerung der Fruchtbarkeit Hiobs, und von R. Egger-Wenzel, in Hi 29,20 wünsche Hiob, dass sich seine Leber (kābed, vgl. Klgl 2,11) erneuere und dass sein Bogen stets zum Schießen bereit sei, womit der Interpolator von 29,18–20 einerseits auf den Prometheusmythos (vgl. Hesiod, theog. 525–526), andererseits auf das Sternbild des Sagittarius anspiele.164
Im Kontext des Rückblicks auf frühere Segenszeiten und der Beschreibung seines umfassenden gerechten sozialen Handelns unterstreicht die Fortschreibung in V. 18–20 einerseits die Erwartung Hiobs, dass seine Gerechtigkeit auf sein Leben zurückwirke (vgl. Spr 21,21). Auch Hiobs Bekenntnis zur Gottesfurcht als Weisheit (Hi 28,28) erscheint als ein Grund zur Hoffnung auf ein langes Leben (vgl. Spr 9,9–10). Andererseits konkretisiert die Fortschreibung die in den folgenden Versen genannten heilsamen und tröstenden Worte Hiobs. Insofern diese Verse eschatologisch zu verstehen sind, ergänzen sie Hiobs Ausführungen um das Bekenntnis zu einem Leben nach dem Tod (vgl. PsSal 14,1–4). Gleichwohl werden die Forderung Hiobs nach Gerechtigkeit in diesem Leben und sein Versuch, Gottes Handeln zu verstehen, durch die Hoffnung auf eine sich postmortal erweisende Gerechtigkeit nicht überflüssig. 29,21–25 Hiobs einstige vorbildliche soziale Gerechtigkeit II Hiobs Rückblick auf die besondere Wertschätzung seines Rates setzt die Beschreibung seiner einstmals hohen gesellschaftlichen Achtung, wie sie sich im respektvollen und erwartungsfrohen Schweigen der Versammlung der Ortsund der Rechtsgemeinde niederschlug, aus V. 7–16 fort. Eine Umstellung der V. 21–25 (z.B. hinter V. 10)165 ist insbesondere bei einer Bestimmung von V. 17–20 als Nachtrag nicht nötig. Diese Strophe korrespondiert hinsichtlich ihrer Metaphorik eng mit der Strophe in V. 2–6. Beide Strophen bilden ein Diptychon, dessen zwei Tafeln Hiob als Empfänger und als Spender göttlichen Segens zeigen. 29,21 Dass Hiob einst als Ratgeber und Tröster besonders geschätzt war, hatte eingangs auch Eliphas zugestanden (4,2–6). Doch im Verlauf des Dialogs haben die Freunde immer weniger auf Hiobs Rat und Worte gehört. So blickt Hiob hier nicht nur allgemein zurück, sondern ruft zumindest auch indirekt seine Freunde erneut dazu auf, ihm wieder zuzuhören (vgl. 21,1–5). Mit dem Hinweis auf seinen Rat (ʿeṣāh) fällt ein Leitwort des gesamten Buches in seinen verschiedenen literarischen Schichten, das sich von der Verortung des Geschehens im Lande Uz (1,1) über die Ausführungen zum Rat der Weisen (5,13) und der Gottlosen (10,3) sowie den Rat Gottes (12,13) bis zu den Gottesreden (38,2) und Hiobs Schlussbekenntnis (42,3) als ein ständiges Ringen um menschliches und göttliches Raten sowie als Kampf um menschliche und göttliche Weisheit darstellt. 164 J.P. Brown, Israel, II, 151, bzw. Egger-Wenzel, Phönix, 96–104 (in Weiterführung von Ceresko, Job, und Hartley). 165 In diesem Sinn Budde und im Anschluss daran Hölscher und Fohrer sowie J. Gray (der zudem V. 11–13 hinter V. 14–17 positioniert).
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Dem seitens der Freunde wiederholt gegen Hiob erhobenen Vorwurf des win- 29,22–23 digen, ungestümen und unbedachten Redens (15,2; 18,2) steht die sich erneut eines Bildes aus der Natur bedienende Rückschau auf die als ein belebender Regen166 wahrgenommenen Worte gegenüber (vgl. Dtn 32,2). Hierdurch wird betont, dass Hiob als wahrhaft Weiser Worte des Lebens hatte.167 Hiobs freundlich zugewandtes Gesicht schenkte unverhofft neuen Lebens- 29,24–25a mut (V. 24), er brachte denen Segen, die betrübt ihr Angesicht gesenkt hatten (vgl. Gen 4,6; Sir 13,25–26).168 Erneut erscheint Hiob in der Rolle eines Gnade gewährenden Königs (vgl. Spr 16,15) und eines Stellvertreters Gottes. Diese Profilierung Hiobs ergibt sich aus dem Wortgebrauch und der Motivik: So ist es das Wort Gottes, auf das die Frommen sehnsüchtig warten (jāḥal, V. 21 versus Ps 31,25; 119,43.81.147), und das Leuchten des göttlichen Antlitzes verheißt Segen (V. 24 versus Num 6,25; Ps 4,7; 67,2; 80,4 bzw. Ps 36,10). Wenn in der LXX Hiobs Freunde als Könige erscheinen (vgl. HiLXX 2,11; 42,17e), dann dürfte neben der in dem Nachtrag zur LXX mitgeteilten Gleichsetzung Hiobs mit dem edomitischen König Jobab (42,17dLXX) auch die königliche Zeichnung Hiobs in 29,7–25, insbesondere der ausdrückliche Vergleich mit einem in der Mitte seiner Truppe thronenden und richtenden König (V. 25) Pate gestanden haben. Im Abschluss der Herausforderungsrede in 31,35–37 und in der Eröffnung der Gottesreden (38,3) wird diese Königs- und Heldenmetaphorik wiederaufgenommen. Was traditionsgeschichtlich als eine Anwendung von Königsepitheta und königlichen Funktionen (vgl. Ps 72) auf den Weisen erscheint, begegnet schließlich rezeptionsgeschichtlich im Testament Hiobs in der Ausstaffierung Hiobs zu einem unermesslich reichen und gerechten König von Ägypten (TestHiob 28,7). Das den ersten Teil der großen Herausforderungsrede abschließende Kolon 29,25b wirkt wie eine Glosse, vielleicht zu V. 24.169 Hierbei könnte es sich aber auch um die bewusste Gestaltung von V. 25 als Trikolon handeln. Denn mit dem Hinweis auf die „Trauernden“ (ʾ abelîm) leitet das Kolon zur Schilderung der eigenen Trauer Hiobs in Kap. 30 über, die ebenfalls im Schlusskolon die Wurzel ʾābal verwendet (30,31). Mit dem Begriff niḥām findet sich in betonter Schlussstellung ein Leitwort des gesamten Buches, mittels dessen Hiob in der Rolle erscheint, wie er sie von seinen Freunden für sich erwartet.170 Die Ausführungen Hiobs zu seiner sozialen Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Achtung in 29,2–25 dienen der Vertiefung seines in 27,2–6 abgelegten Unschuldsbekenntnisses, der konkreten Widerlegung der gegen ihn in 22,6–9 erhobenen Vorwürfe, der Auseinandersetzung mit dem von Gott in der Welt zugelassenen sozialen Unrecht (24,1–12) und der Kontrastierung mit der vorangehenden und nachfolgenden Schilderung seines gegenwärtigen Leids, das ihm malqûš bezeichnet den in Israel/Palästina im März/April fallenden Regen vor der Ernte. Vgl. Spr 15,2.4; 16,21–25, vgl. Ps 119,131. Zu diesen Gesten siehe auch Gruber, Aspects, 355–358 und 557f. 169 Vgl. Hölscher; Weiser. 170 Hi 2,11; 7,13; 16,2; 21,34; 30,28 (conj.); 42,6.11, vgl. Jes 61,2–3. 166 167 168
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als unangemessene Behandlung seitens Gottes erscheint. Dennoch liefern sie auch Anknüpfungspunkte für eine Kritik menschlicher Selbstherrlichkeit, die an späterer Stelle von Elihu und Gott geübt wird oder wie sie in Pred 7,16 und Jer 9,22–23 formuliert wird: 22 So spricht der Herr: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. 23 Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr. (Jer 9,22–23 LB)
30,1–31 2. Die Klage über die gegenwärtige Not 30,1–11 Hiob als Gegenstand des Spotts 30,1aα.β Ganz im Gegensatz zu Hiobs freundlichem und Leben ermöglichendem Zulachen (29,24) steht das Verlachen, das er gegenwärtig selbst erfährt. Entgegen dem sozialen Kodex der Antike und des Alten Orients erlebt Hiob nun keine Achtung seitens der Jüngeren (vgl. 29,8; 32,6). Diese Kontrasterfahrung wird durch das einleitende Wort w eʿattāh („doch jetzt“) unterstrichen (vgl. 30,9.16; 4,5). Ebenso steht die Verwendung des Begriffs jôm („Tag“) zu Beginn dieser Redepassage in bewusstem Gegensatz zu Hiobs einleitender Beschreibung seiner Lebenstage unter dem Segen Gottes (29,2.4[18]). 30,1aγ Die prosaisch wirkende verächtliche Kennzeichnung der Väter derer, die Hiob in V. 1aγ –b verspotten, leitet einen Exkurs zur (hyperbolischen) Beschreibung der sozialen Ächtung Hiobs ein (30,1aγ–8). Die Deutung der Verse wird durch den offenbar nicht unversehrt erhaltenen Text und durch den Gebrauch seltener Wörter erschwert. Die zum Teil starke Abweichung der alten Übersetzungen deutet darauf hin, dass der Text schon in der Antike beschädigt und teilweise nicht verständlich war. So viel ist deutlich: Es handelt sich um Arme, die vom Hunger ausgezehrt sind, sich von Pflanzen, die in der Steppe wachsen,171 ernähren müssen und als Ausgestoßene ein erbärmliches Dasein in der Steppe fristen. 30,1b–4 Diejenigen, deren Spott Hiob erfährt, sind nicht nur jünger als er, sondern stehen auch in sozialer Hinsicht weit unter ihm. In dem Bildwort in V. 1b schwingt, selbst wenn hier von Hütetieren die Rede ist, eine Geringschätzung des „Hundes“ (kælæb) mit.172 In drastischer Beschreibung erscheinen die SpötSiehe dazu mit entsprechenden Abbildungen Zohary, Pflanzen, 144f. Vgl. 1Sam 24,15; 2Sam 3,8; 9,8; 16,9; 2Kön 8,13; Pred 9,4; KAI 24,10; ÄHG 150, 15–18. Im Hintergrund der negativen Konnotation des Hundes steht der halbwilde Straßenhund, der sich von Abfall und Aas ernährt (vgl. Ex 22,31; 1Kön 14,11; Jer 15,3). Eine positive Wertung des Hundes im Alten Orient und Ägypten spiegelt sich in der Haltung von Jagd- und Wachhunden 171 172
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ter Hiobs als verarmte, hungernde und aus der Gesellschaft Vertriebene, denen jegliche Lebenskraft (kælaḥ, vgl. 5,26) abhanden gekommen ist (V. 2–3, vgl. 24,5–6.10). Ihr heilloses (galmûd, V. 3)173 Schicksal gleicht dem von Frevlern, wie es in den Reden der Freunde beschrieben wurde (vgl. besonders 15,30–34). Die Strauchmelde (atriplex halimus L., Salzkraut, V. 4a) gehört zu den häu- 30,4 figsten Wüstenpflanzen. Sie wächst an salzigen Quellen, an trockenen Bachufern und in Oasen und trägt kleine Früchte.174 Bei dem hier genannten Ginster (retama raetam [Forssk.] Webb, V. 4b) handelt es sich um den weißen Ginster, der in den Wüsten Israels und in Arabien häufig vorkommt und als Schattenspender genutzt werden kann (vgl. 1Kön 19,4–5). Seine Wurzeln bieten einerseits gutes Brennmaterial (vgl. Ps 120,4),175 andererseits sind sie eigentlich wie alle Bestandteile des Ginsters giftig. Wenn der MT hier richtig ist, unterstreicht das Kolon die bittere Armut der beschriebenen Gruppe (vgl. 2Makk 5,27; 10,6). In scharfem Kontrast zum geordneten Leben in der Stadt, in der Hiob einst 30,5–8 hohes Ansehen genoss (29,7), gleichen diese Ausgestoßenen dem vom Angesicht Gottes vertriebenen Kain (V. 5, vgl. Gen 4,11–16). Sie leben wie Verbrecher an den steilen Abhängen felsiger Schluchten (Wadis) und in Höhlen (vgl. 1Sam 14,11; Jes 2,19). Wo Dornengestrüpp (śîḥ) und Nesseln (ḥārûl, urtica urens L., urtica pilulifera L.)176 wachsen, brüllen sie wie hungrige Wildesel (V. 6–7, vgl. 6,5; 24,5–8).177 Das den Exkurs beschließende Summarium (V. 8) unterstreicht den Gegensatz zwischen Hiob und denen, die ihn jetzt verachten, indem diese als b enê-nābāl („Nabal-Söhne“) bezeichnet werden. Dabei umfasst das Wort nābāl die Aspekte intellektueller, religiöser und sozialer Mängel. Der nābāl leugnet oder verkennt die Wirklichkeit Gottes (vgl. Dtn 32,6; Ps 14,1) und bildet damit das genaue Gegenteil zu Hiob (vgl. 2,10). Seine Bedeutungslosigkeit spiegelt sich in seinem fehlenden Namen, in diesem Leben wie nach dem Tod (vgl. 18,17; Spr 10,7; Sir 41,10–13). Um so dramatischer ist es, dass der gegenüber Gott und den Menschen vorbildliche Hiob nun in seinem Leid zum Gespött solcher Menschen wird (vgl. Ps 39,9), nach der LXX in V. 5–6 sogar zum Opfer von Dieben. (vgl. ANEP Nr. 183; IPIAO IV Nr. 1015; 1389). Mitunter wurden in Mesopotamien und Ägypten Hundegottheiten verehrt. Auf eine kultische Verehrung auch im phönizischen und palästinischen Raum deuten Hundegräber hin; siehe dazu K. Galling, Art. „Hund“, BRL2 (1977) 149f; P. Riede, Art. „Hund“, wibilex 2010 (Zugriffsdatum: 6.11.2020) (https://www.bibelwissenschaft. de/stichwort/21622/). 173 Wörtl.: „unfruchtbar“. 174 Tg1 hat mallûaḥ als millûaḥ verstanden und dies zum Anlass genommen, zusätzlich einen Hinweis auf die Torah einzuspielen: „Diejenigen, welche die Worte des Gesetzes von der Tafel (lûaḥ) ihres Herzens löschen wegen der Worte der Welt.“ (vgl. Tg zu 3,17; 5,7; 11,8; 22,22; 24,13; 36,33; 37,21 sowie Jer 17,1; Spr 3,3; 7,3). Tg2 entspricht weitgehend dem MT. 175 Vor diesem Hintergrund erklärt sich die in der Anm. zur Übersetzung vermerkte Konjektur; vgl. Clines, 946. 176 So mit Zohary, Pflanzen, 162. Die genaue Identifikation von ḥārûl ist allerdings unsicher. So könnte es sich hierbei auch um eine Wolfsmilchart (Euphorbie), die wilde Artischoke oder die Platterbse handeln, jedenfalls um ein Unkraut, das u.a. in der Salzsteppe, an Müllplätzen oder zerstörten Orten wächst (vgl. Spr 24,31; Zeph 2,9; 1QHa XVI,24[25]–25[26]). 177 Zur Szenerie vgl. Gen 21,15–16.
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Mit V. 9 wird, abzüglich des ersten Wortes, die ursprüngliche erste Strophe fortgesetzt. War Hiob in seinen guten Zeiten ein Gegenstand des Segens (29,11.13), so ist er nun ein Objekt des Spotts und der abfälligen Rede (vgl. 17,6). Das Motiv begegnet mehrfach in Klagen leidender Gerechter.178 Es spiegelt die menschliche Grunderfahrung, dass Leiden dadurch noch größer wird, dass man nicht mehr zu und mit dem Leidenden redet, sondern über ihn. Für Hiob schlägt sich dies nieder in der Erfahrung völliger Entfremdung und Demütigung (V. 10, vgl. 19,13–20). Den eigentlichen Grund für seine Situation sieht er wie in seinen vorangegangenen Klagen im Handeln Gottes, den er hier betont am Ende der Strophe nennt (V. 11). Entsprechend der Metaphorik in den Klagen, vor allem in Kap. 16 und 19, erscheint Gott im Bild eines Kriegers, der seinen Bogen gegen Hiob gerichtet hat (vgl. 6,4; 16,12–13) und sich gegenüber Hiob zügellos verhält.
30,12–19 Hiob als Opfer von Gottes Gewalt 30,12–15 Die ursprünglich zweite Strophe vertieft die Beschreibung des kriegerischen Gottes, der gegen Hiob seine „Sprösslinge“179, d.h. seine Scharen ins Feld führt (vgl. 16,9–14; 19,12). Dem in seinen Segenszeiten einem König inmitten seiner Truppen gleichenden Hiob (29,25) sind nun die feindlichen Truppen Gottes entgegengetreten. Dieses Bild basiert wie das Motiv von den „Söhnen Gottes“ (1,6; 2,1) auf der Vorstellung Gottes als eines himmlischen Königs, der sich zur Durchsetzung seines Willens unterschiedlicher Werkzeuge bedient. Diesen sieht sich Hiob wehrlos ausgesetzt. Steht die „rechte Seite“, auf der bzw. gegen die sich die göttlichen Scharen erheben (V. 12), für das einstige Glück Hiobs, so kennzeichnet die Metaphorik der Unheilswege (V. 12b, vgl. 19,12b), des Ausgleitens der Füße und der aufgerissenen Pfade (V. 13a, vgl. 19,8) den durchkreuzten Lebensplan Hiobs: Hiob hat vollkommen den festen Boden unter den Füßen verloren. Erneut fasst der Dichter die Klage Hiobs über die Bedrückung durch Gott in das Bild einer eroberten und zerstörten Stadt (vgl. 16,14; 19,11–12). So erlebt Hiob an sich selbst den Tag der totalen Verwüstung (šôʾāh, V. 14, vgl. Zeph 1,15). Das Schlusskolon (V. 15) konstatiert den Verlust der Menschenwürde und die absolute Hilflosigkeit (vgl. 19,9). Das Schicksal Hiobs scheint unumkehrbar, wie ein verwehter Wind und eine vorübergezogene Wolke (vgl. 7,9; Hos 13,3; Jes 44,22; SapSal 2,4). 30,16–17 Zum dritten Mal erklingt als Einleitung einer Strophe das kontrastive w eʿattāh („aber jetzt“, 30,1.9), mittels dessen Hiob seine gegenwärtigen Elendstage (vgl. 10,15) den einstigen Segenstagen gegenüberstellt. Die Fülle seines Lebens ist verflogen. Seine næpæš (,Seele‘), gemäß der atl. Anthropologie die von Gott dem Menschen in der Schöpfung geschenkte Lebenskraft, zerfließt in Hiob (vgl. 178 Jes 50,6; Jer 20,7; Klgl 3,14; Ps 69,11–13; vgl. auch 1QHa X,11(13), BT 76–77.252–253 (TUAT III, 150.155); Pap. Amherst 63 VII,7–8 (TUAT II, 931; van der Toorn, Papyrus Amherst, 55). 179 Siehe die Anm. zur Übersetzung.
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1Sam 1,15; Klgl 2,12; Ps 22,15). Erneut sieht Hiob Gott selbst als denjenigen an, der seine Gebeine (ʿæṣæm) gerade nicht bewahrt (Ps 34,20–21), sondern ihm nachts Schmerzen verursacht (vgl. 7,12–16). Hier spiegelt sich die Erfahrung leidender Menschen, dass gerade die Nacht zur Qual werden kann (7,3f; Ps 6,7; Sir 40,5–6)180. Die drastische Formulierung, dass Gott selbst Hiobs Knochen durchbohrt, steigert ähnlich wie Klgl 3,4 ein Stereotyp der Klagepsalmen (vgl. Ps 6,3; 22,15; 31,11; 102,4). Sie korrespondiert mit der im Prolog erzählten Freigabe von Hiobs Körper an den Satan (2,4–7). Das Bild des übergriffigen Gottes, der Hiob mit aller Gewalt am Obergewand 30,18 packt und diesen wie das knöchellange, direkt auf der Haut getragene Untergewand umgibt, verdeutlicht, wie nah Gott Hiob ist. Der Griff Gottes nach Hiobs Gewand ist zugleich der Griff nach seiner Gerechtigkeit (vgl. 29,14). Der feindliche Gott klebt Hiob auf der Haut. Auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches spielt Gott die Rolle des Satans, der sich an Hiobs Gerechtigkeit vergreift und diesem unter die Haut geht (2,7). Die Szenerie erinnert an den Kampf Jakobs am Jabbok (Gen 32,23–30). Doch erfährt Hiob hier nicht wie Jakob den Segen des ihm zu nahe kommenden Gottes, sondern den Fluch. Das Summarium, das gemäß der in der Übersetzung gebotenen Ergänzung 30,19 erst- und einmalig innerhalb der Gegenwartsklage in Kap. 30 ausdrücklich Gott (ʾel) nennt, korrespondiert mit der Zusammenfassung der ersten (ursprünglichen) Strophe in 30,11. Es markiert zugleich im (ursprünglichen) Aufbau den Abschluss des ersten Teils und entspricht mit dem Ausblick Hiobs auf seinen Tod dem Abschluss der Elendsklagen Hiobs in 7,21; 10,21–22 und 17,16. In der Selbstbezeichnung Hiobs als „Staub und Asche“ (V. 19b), die in Hiobs Schlusswort in 42,6 eine entscheidende Rolle spielt,181 klingt aber auch das Niedrigkeitsbekenntnis Abrahams aus seinem Gespräch mit Gott in Gen 18,27 an. Im Verbund mit anderen lexikalischen und motivischen Parallelen zwischen den Vätergeschichten und dem Hiobbuch spielt Hi 30,19 daher eine zentrale Rolle in der rabbinischen Gegenüberstellung von Hiob und Abraham.182 Schon im um 100 n.Chr. entstandenen Testament Abrahams gilt Hiob als das Paradigma des Gottesknechts, mit dem sich nur Abraham messen kann (TestAbr A 15). Eine Variante zur Wiedergabe von Hi 30,19 im frühmittelalterlichen Hiobtargum (Tg2) lässt Hiob sich ausdrücklich mit Abraham vergleichen: Sie betrachten183 mich wie Adam, der aus Lehm geschaffen ist, / und gleich wie Abraham, der wie Staub und Asche war, bin ich geworden.
Zu entsprechenden Parallelen in altorientalischen Texten s.o. zu Hi 7,3f. Die LXX paraphrasiert den hebr. Text („du aber hältst mich gleichsam für Lehm, in der Erde und dem Staub ist mein Teil“), wobei der intratextuelle Bezug innerhalb der LXX zu Hi 42,6 durch die Verwendung des Wortes ἥγημαι („ich halte mich“) verstärkt wird. 182 Vgl. bBB 15b; ARN Β 43,32.34 (Becker, Avot, 146). Zur Sache siehe Witte, Hiobs viele Gesichter, 170–189, hier: 182–184. 183 Tg2 (ʾšwwn) stimmt hier semantisch mit der LXX (ἥγησαι, v.l. ἥγηται) und Syr (ʾdmjwnj) überein; im Hintergrund steht möglicherweise die Lesart trʾnj bzw. jrʾnj (von rʾh „sehen“) anstelle des masoret. hrnj (von jrh I „werfen“). 180 181
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Die ebenso in dieser Variante aufscheinende Gegenüberstellung von Hiob und Adam, die mehrfach im rabbinischen Targum begegnet und in Anspielungen auf Gen 1–11 im Hiobbuch selbst ihren Ausgangspunkt hat, spiegelt eine Rezeption der frühen jüdischen Adamspekulation. In dieser finden sich eine positive Linie, welche die Herrlichkeit Adams als des Ersterschaffenen betont (vgl. Sir 49,16; 1QS IV,23),184 und eine negative, welche auf die Sünde Adams verweist, in deren Gefolge der Tod in die Welt gekommen sei (vgl. CD-A X,8; SapSal 10,1).185 Von diesem Adam, dem ersten Sünder, setzt sich Hiob nach Tg2 in 30,19 und 31,33 deutlich ab.186 30,20–23 Hiobs vergeblicher Schrei zu Gott 30,20 Mit dem im Du an Gott gerichteten Hilfeschrei beginnt der zweite Hauptteil der Elendsschilderung in Kap. 30. Erstmals seit der Bitte und Klage zu Beginn des zweiten Redegangs (17,2–7) wechselt Hiob wieder in die direkte Anrede Gottes. Dabei entspricht die direkte Klage den Beschreibungen und Vorwürfen in 9,16; 19,7 und 24,12, Gott erhöre kein Gebet.187 Das „Stehen“ (ʿāmad)188 Hiobs kennzeichnet die Haltung des Betenden, der darauf wartet, von Gott beachtet zu werden. Doch Hiob macht die gleiche Erfahrung wie der Beter des dritten Klagelieds: „Und wenn ich auch schreie und um Hilfe rufe, so verstopft er doch die Ohren vor meinem Gebet.“ (Klgl 3,8). Das müsste an sich die Erfahrung eines Frevlers sein (vgl. Hi 27,9–10) – aber wie der Beter von Klgl 3 ist Hiob genau das nicht. 30,21 Vor dem Hintergrund, dass Hiob selbst den um Hilfe Rufenden gerettet hat (29,12), erscheint ihm die Haltung Gottes zutiefst fragwürdig. Dies geht einher mit Hiobs Erfahrung der absoluten Fremdheit Gottes. Die radikale Veränderung seines Schicksals kann für Hiob ihre Ursache nur in einer radikalen und, anders als für die Beter von Jes 63,10, grundlosen Verwandlung Gottes haben. Der barmherzige und gnädige Gott ist für Hiob zum Grauen und zu einem Satan geworden (vgl. 13,24–25; 16,9; 19,11). 184 Vgl. zudem 1QHa IV,15(27); CD-A III,20; TestAbr A 11,9–11; B 8,12; SibOr 3,24; BerR VII zu Gen 1,26; XVI zu Gen 2,10 (in Verbindung mit Hi 12,13); XVII zu Gen 2,21; XXI zu Gen 3,22; bHag 12a; bBB 58a; bSan 38b; PesK XII,1 (Wünsche, Pesikta, 128f); TgPs 92,1 (vgl. TgCant 1,1); TgPs 94,10. 185 Vgl. zudem 4Esr 3,7.21; 4,30–31; 7,10–11; TestLev 18; grBar 4,8.13.16; syrBar 18,1–2; 23,4; 48,42; 54,15; 56,5–6; VitAdEv; grApkEsr 2,10; ApkSedr 4,4; 5,1–2; 7,4–5; BerR X zu Gen 2,1; bSan 38b. 186 Witte, Hiobs viele Gesichter, 182–189. 187 Vgl. dagegen Ps 10,17–18; 30,3; 31,23; 34,5.16.18; 50,15; 65,3; 66,19–20; 72,12; 88,14; 91,15; 102,18. 188 Zum Gebrauch von ʿāmad (zumeist erweitert um die Wendung lipnê jhwh „vor Jhwh“) im kultischen Sinn vgl. Lev 9,5; Jer 7,10; 15,1.19; 2Chr 20,13; Ps 134,1; 135,2 sowie die spätere Bezeichnung des Achtzehnbittengebets als ʿamidāh; siehe dazu auch Gruber, Aspects, 149–151, sowie U. Ehrlich, Language, 9–28. Dagegen versteht Clines, 955, ʿāmad hier in einem juristischen Sinn („I stand up to plead“).
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Die Hoffnung Hiobs, Gott wieder als einen Vertrauten, als einen nach sei- 30,22–23 nem eigentlichen Wesen Handelnden zu erleben, die in 19,25–27 aufblitzte, ist völlig verflogen. Wieder sind es Bilder des Krieges (V. 21b, vgl. 16,9) und des Gewittersturmes (V. 22, vgl. 9,17), mit denen Hiob den Zorn Gottes beschreibt, unter dem er leidet, dessen Grund und Ziel er nicht kennt und der zum Tode führt (vgl. Ps 90,9; 102,11). Diese Worte sind identisch mit Worten, die auch der Verfasser der Novelle Hiob in den Mund gelegt hat (1,21). Sie sind hier aber weder Ausdruck des Dulders, der sich in das Geschick seiner Geschöpflichkeit fügt, noch Teil eines Appells an die Barmherzigkeit des Schöpfergotts (10,9), sondern der Klage und Anklage Gottes (vgl. 7,7). So knüpft das betonte „ich weiß“ (jādaʿtî) in V. 23 an die resignativen Einsichten Hiobs in 9,28 und 10,13 an. Hiob fällt hier wieder weit hinter seine Gewissheit zurück, in Gott den Erlöser zu sehen (19,25). Der Ausblick auf das Leben ist abermals dem Bewusstsein des Todes gewichen (vgl. 17,11–16). Die Bilder von Gott, der ins Leben und in den Tod führt, prallen hier unmittelbar aufeinander. Hinter der mythischen Wendung vom „Haus der Versammlung allen Lebens“ (vgl. 17,13; Pred 12,5) steht, wie hinter der ausführlichen Beschreibung der Scheol in Hiobs Eingangsklage (3,13–19), die Erfahrung der Allgemeinheit des Todesgeschicks und die Vorstellung vom Tod als einem Gleichmacher (vgl. Ps 49,10.13.20; Pred 3,19–20).189 Hiobs absolute Enttäuschung von Gott
30,24–27
Die Deutung der folgenden Verse wird durch den vermutlich nicht unver- 30,24–25 sehrt erhaltenen Text erschwert und differiert in der Forschung stark. Nach der oben vorgeschlagenen Textrekonstruktion und Übersetzung handelt es sich in V. 24 um eine rhetorische Frage, mittels derer Hiob seinen Hilfeschrei (šāwāʿ [conj.], wie in V. 20) begründet. Das Ausstrecken der Hand dessen, der unter Trümmern liegt, ist dann ein Bild für Hiob selbst, der sich aber, auch wenn er am Rand des Todes steht, noch nicht ganz aufgegeben hat. Dass Hiob auch angesichts des Todes mit sich selbst identisch bleibt, zeigt sich in seinem folgenden Bekenntnis: Er hatte und hat Mitleid mit einem, der einen „schweren Tag“ (q ešeh-jôm) hat (V. 25). Das Bekenntnis schaut einerseits auf Hiobs Beschreibung seiner sozialen Gerechtigkeit (29,12–16) zurück und auf sein ausführliches Unschuldsbekenntnis in Kap. 31 voraus – insofern erfüllt dieser Vers eine wichtige Scharnierfunktion zwischen dem Lebensrückblick in Kap. 29 und dem Lebensausblick in Kap. 31; andererseits erfüllt dieses kleine Bekenntnis erneut die Funktion einer Anklage Gottes, der angesichts der schweren Tage Hiobs (V. 16.27) keine Träne vergießt (bākāh).190 Für Hiob sind die Verhältnisse auf den Kopf gestellt: Gott verhält sich gegenüber ihm nicht wie Gott – Siehe dazu oben auf. S. 124–126 den Exkurs zu Kap. 3. Der Charakter der Anklage wird noch schärfer, wenn man Hartley folgt, der Gott als Subjekt von V. 24a nimmt (siehe die Anm. zur Übersetzung). 189 190
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und ihm, Hiob, ergeht es wie einem Gottlosen, obwohl er sich entsprechend der Gerechtigkeit verhalten hat, die nach traditionellem Verständnis Gott von sich selbst und vom Menschen erwartet. In der LXX unterscheidet sich V. 24 stark vom MT: So wünscht Hiob hier, sich angesichts fehlender Hilfe und angesichts des übergroßen Leidens selbst Gewalt antun zu können (χειρόομαι), womit er wohl an Selbstmord denkt (vgl. Homer, Il. 18, 33–34; Od. 11, 277–278; Aischylos, Prom. 747–751).191 30,26–27 Noch massiver als in anderen Reden, dabei poetisch besonders hervorgehoben lässt der Dichter Hiob der traditionellen Vorstellung der Entsprechung von Glaube und Glück den Bankrott erklären: Die Erwartung, Lebensförderliches zu erhalten, wurde bitter enttäuscht. Anstelle des Segens hat sich Grauen eingestellt (vgl. 3,25–26; 7,7; Jer 8,15; 14,19). Mit den Gegensatzpaaren von „gut“ und „böse“, „Licht“ und „Finsternis“ wird der Kontrast, der diese gesamte Rede Hiobs kennzeichnet, auf den Punkt gebracht (vgl. 10,22).192 Dieser Satz erscheint wie eine Bestätigung der Reaktionen Hiobs im Prolog (1,21; 2,10) – doch fehlt hier jeder doxologische Akzent. 30,27 Diese Strophe endet ebenso, wie die vorangehende begonnen hatte: mit einer Beschreibung der körperlichen Leiden Hiobs, die sich in einem nicht zur Ruhe kommenden Inneren (meʿæh) – nach der Nennung der næpæš (V. 16) und der ʿæṣæm (V. 17) der dritte anthropologische Zentralbegriff – niederschlägt, und einer Gegenüberstellung seiner Unglückstage (vgl. 16). Insofern die kochenden Eingeweide auch Ausdruck tiefster Trauer sind (vgl. Klgl 1,20; 2,11),193 leitet dieser Vers zur abschließenden Strophe über. 30,28–31 Hiobs absolute Einsamkeit und Trauer 30,28 Die letzte Strophe unterstreicht nochmals die Trauer und Einsamkeit des Leidenden (vgl. Ps 35,14; 38,7; 42,10; 43,2).194 Entgegen der Verheißungen der Freunde fehlt Hiob jeglicher göttliche und menschliche Trost (næḥāmāh, V. 28 [conj.]).195 Der Trost, den Hiob selbst einst spendete (29,25), findet keine Entsprechung. Sein Schrei um Hilfe (vgl. V. 20.24) verhallt unerhört in der Versammlung (qāhāl). Der Begriff qāhāl erscheint nur hier im Hiobbuch und kann sowohl die politische als auch die gottesdienstliche Gemeinde bezeichnen.196 30,29 Die Entfremdung von menschlicher Gemeinschaft korreliert mit der Verschwisterung mit wilden Tieren, die sich an verwüsteten Orten aufhalten und Siehe dazu grundsätzlich J. Dietrich, Tod, der Hi 30,24 jedoch nicht behandelt. Vgl. SH 68–69 (TUAT III, 106). 193 Zum realen medizinischen Hintergrund verschiedener im Alten Orient bekannter und behandelter Fieberkrankheiten siehe TUAT.NF V, 78–84; Scurlock/Andersen, Diagnoses, 27–37. 194 Vgl. Gilgm. VIII,ii, 19–20; IX,i,1–5 (TUAT III, 713; 715) und dazu M. Barré, ‚Wanderung about‘ as Topos of Depression in Ancient Near Eastern Literature and in the Bible, JNES 60 (2001) 177–187. 195 Vgl. Hi 5,11 bzw. Hi 16,2; 21,34; Ps 69,21; Klgl 1,21. 196 Vgl. Ex 16,3; Dtn 5,22; bzw. Ps 22,23.26; 35,18. 191 192
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die nach israelitisch-jüdischem Verständnis unrein sind: mit Schakalen (canis aureus/mesomelas/adustus)197, die im Umfeld von Nekropolen leben und sich von kleinen und mittelgroßen Beutetieren, aber auch von Aas ernähren, und mit Straußen (struthio camelus, V. 29)198, die in der als Chaos angesehenen Wüste leben.199 Sofern der Rückgriff auf diese Tiere nicht nur in einem übertragenen Sinn für die durch die Krankheit bedingte Unreinheit und für das sich im Leiden manifestierende Chaos erfolgt, verdeutlicht dieses Bild die Erfahrung, dass dem von den Menschen Enttäuschten (vgl. 6,15) und aus menschlicher Gesellschaft Ausgestoßenen oft nur noch die Gemeinschaft der Tiere bleibt. Vor dem Hintergund der in V. 31 angesprochenen Verwandlung von Hiobs einst fröhlichem Spiel auf der Kastenleier (kinnôr) und der ʿugāb, wohl einer Doppeloboe,200 in den Klagegesang (vgl. Klgl 5,15) kennzeichnet der Hinweis auf die beiden Wüstentiere die Einsamkeit Hiobs, seine Existenz im Raum von Chaos und Tod (vgl. Jes 34,13; Jer 50,39) sowie den durchdringenden Klang seiner Trauer, der an das Heulen der Schakale und den Schrei der Strauße erinnert (vgl. Mi 1,8). Das Bild der schwarz von Hiob herabhängenden Haut und seines brennen- 30,30 den Gebeins kennzeichnet nochmals den vollkommenen Verlust an Lebenskraft (vgl. 10,11).201 Wie die Bilder in V. 17 und in V. 27 ist auch dieses Bild stereotyp (vgl. Klgl 3,4; 4,7–8), doch entspricht es den Klagen Hiobs um seine Haut (7,5; 19,20.26) und korrespondiert wie die Abschlussstrophe des ersten Teils (V. 16–19) auf der Ebene der Gesamtkomposition mit der zweiten Himmelsszene und ihren Folgen (2,4–7). Die Beschreibung des gegenwärtigen Leidens endet betont mit Begriffen 30,31 der Trauerklage (vgl. Gen 50,10–11; Am 8,10) und unterstreicht somit nochmals den Kontrast zur Schilderung des einstigen Glücks Hiobs, der Trauernde zu trösten vermochte (29,25).202 Sie bildet das poetische Gegenüber zur Darstellung der Trauerriten Hiobs in 1,20–21 und das Gegenbild zur fröhlichen Musik der Menschen, die sich (noch) am Leben freuen (21,12). 197 Die LXX übersetzt tannîm („Schakal“) mit „Sirenen“ (vgl. Jes 34,13; 43,20), was sie auch als Äquivalent für jaʿ anāh („Strauß“) verwenden kann (vgl. Jes 13,21; Jer 50,39 [27,39LXX]; Mi 1,8). Sofern damit nicht an einen kleinen Singvogel gedacht ist, sondern an die in der griech. Mythologie breit belegten geflügelten weiblichen Mischwesen, die wohl ursprünglich Todesdämonen waren, erhält der Text in der LXX eine besondere mythologische Note. Die klassische griech. Literatur kennt auch das Motiv der Sirenen im Kontext der Trauerklage (vgl. Euripides, Hel. 164–178). Für die frühchristliche Schrift des Physiologus (Nr. 13) handelt es sich in Hi 30,28 eindeutig um die mythischen Sirenen. 198 Cornelius, 285, identifiziert jaʿ anāh mit einer Eule (vgl. ʾoaḥ in Jes 13,21, kos II in Ps 102,7 und aram. ṣdh in KAI 222 A, 33), da kontextuell besser ein Nachtvogel passe. Doch sprechen sowohl die antiken Übersetzungen von Hi 30,29 als auch die Symbolik der V. 28–31 (Einsamkeit; Klagegeschrei) gut für einen Strauß. 199 Vgl. Jes 13,21–22; 34,13; Jer 9,10; 50,39; Klgl 4,3; inschriftlich z.B. im Rahmen von Fluchformeln in den aram. Staatsverträgen von Sefire (KAI 222 A, 32–33 [TUAT I, 181]). Zur Klassifikation des Straußes als unreines Tier vgl. Lev 11,16; Dtn 14,15. 200 Vgl. Hi 21,12; Gen 4,21; Ps 150,4; entsprechende Beispiele aus der altorientalischen Bildkunst bietet IPIAO IV Nr. 1232; 1234. 201 Zum medizinischen Umgang mit entsprechenden Symptomen im Alten Orient s.o. zu Hi 2,7 und Scurlock/Andersen, Diagnoses, 231–241. 202 Auch stilistisch ist der Abschlussvers durch einen Chiasmus besonders hervorgehoben.
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31,1–40 3. Unschuldsbekenntnis und abschließende Herausforderung Gottes 31,1–6 Hiobs Hoffnung auf ein gerechtes göttliches Gericht 31,1–3 Der unvermittelte Übergang von Hiobs Klage über seinen jetzt von tiefer Trauer gekennzeichneten Lebensweg (30,31) zum Bekenntnis, seine Augen nicht lüstern auf eine unverheiratete, noch unter dem Schutz des Familienvaters stehende junge Frau gerichtet zu haben (V. 1), erklärt sich vor dem Hintergrund, dass der Reinigungseid in seinem vorderen (und hinteren) Teil sekundär erweitert wurde. Dieses Bekenntnis bedient sich mit dem Ausdruck kārat b erît (wörtlich „einen Bund schneiden“)203 feierlicher Rechtssprache. Sachlich gehört es zur Erklärung der sexualethischen Integrität Hiobs in V. 9–12 und entspricht mit seiner starken Betonung des begehrlichen Blickes der auf die innere Einstellung und die Gesinnung zielenden Tendenz des zehnten Gebotes, zumal in seiner Fassung in Dtn 5,21. Die Augen gelten nach atl. Anthropologie als Ort des personalen Wahrnehmens und Erkennens sowie als Medium von Gefühlen, gerade auch im sexuellen Bereich (vgl. Jes 3,16; Ez 23,16; Hhld 4,9). So wird das „Sehen“ zum Ausgangspunkt des Ehebruchs.204 Hi 31,1 vertieft die aus der israelitischen Königszeit stammende rechtliche Regelung zur Ehelichung und/oder Ersatzzahlung, die der verheiratete Mann, der mit einer unverheirateten Frau Geschlechtsverkehr hat (Ex 22,15–16; Dtn 22,28–29), leisten muss, in ethischer Hinsicht und radikalisiert das Ehebruchsverbot (Ex 20,14; Dtn 5,18, vgl. Mt 5,27–29). Dieses Motiv hat zahlreiche Parallelen vor allem in der frühjüdischen Weisheit und spiegelt die hohe Bedeutung, die sexualethische Fragen für die jüdische Identität in der persischen und hellenistischen Zeit hatten.205 Letzteres dürfte auch der Grund dafür sein, den Reinigungseid jetzt mit V. 1 beginnen zu lassen. Als Anknüpfungspunkt für die Einfügung gerade an dieser Stelle könnte gemäß der weisheitlichen Warnung Ben Siras vor dem sorglosen Umgang mit Frauen (Sir 9,1–9) der Rückblick Hiobs auf sein einst freudiges Musizieren in 30,31 darstellen. So unterstreicht nun V. 1, dass sich Hiob auch in Zeiten unbeschwerter Lebensfreude absolut integer verhalten hat (vgl. Sir 9,5 – ganz im Gegensatz zu den großen Helden der Geschichte Israels (vgl. 1Kön 11,4–5; Sir 47,19– 20). Eine kultische Konnotation, wie sie 1Kön 11,4–5 prägt, ist in V. 1 nicht ersichtlich. Dass unter der „jungen Frau/Jungfrau“ (b etûlāh) selbst eine Göttin,
Die Vertauschung der üblichen Wortfolge in Hi 31,1 (vgl. noch Jes 61,8) signalisiert den Neueinsatz. b erît, traditionell mit „Bund“ übersetzt, meint die „Verpflichtung“, die ein Stärkerer gegenüber einem Schwächeren entweder sich selbst („Selbstverpflichtung“) oder diesem auferlegt („Fremdverpflichtung“) oder die zwei gleich starke Größen sich gegenseitig auferlegen (E. Kutsch, Art. b erīt Verpflichtung, THAT I [62004] 339–352). 204 Vgl. 2Sam 11,2; DanSus 7–8; Sir 41,20; TestRub 3; PsSal 4,4; großer Šamaš-Hymnus 88–89 (TUAT.NF VII, 69). 205 Vgl. SapSal 14,26; TestRub 1,6; 3,3.10; 4,6; 5,1–5; TestIss 7,2; TestJos 2–9; Philon, decal. 168–169; Ps-Phok 3; siehe dazu auch Opel, Hiobs Anspruch, 250–253. 203
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näherhin die Jungfrau Anat zu verstehen sei,206 so dass Hiob gleich zu Beginn des Reinigungseides seine Treue gegenüber dem ersten Gebot ausdrückte (vgl. dann aber 31,24–27), ist unwahrscheinlich. Die als doppelte (rhetorische) Frage gestaltete Fortsetzung in V. 2–3 kennzeichnet den begehrlichen Blick eindeutig als ein seitens Gottes „aus der Höhe“207 strafwürdiges Vergehen (ʾāwæn, V. 3). Diese Formulierung entspricht den Gerichtssummarien in den Beschreibungen des Schicksals eines Frevlers in den Freundesreden (vgl. 11,11; 20,29; 34,8) und Hiobs sekundären Bekenntnissen zur gerechten Vergeltung Gottes (vgl. 27,13). Hier dient der Ausblick auf die von Gott zugeteilte Strafe und das dem Frevler zustehende Unheil im Umkehrschluss als Ausdruck der Hoffnung Hiobs auf eine seinem guten, gerechten Verhalten entsprechende Belohnung durch Gott. Insofern Hiobs jetziges Leben aber ganz im Gegenteil vom Unheil (ʾêd, nekær) gekennzeichnet ist (vgl. 30,12), bezieht sich diese Hoffnung offenbar auf eine jenseitige Vergeltung. Damit entspricht dieser Auftakt des Reinigungseides den eschatologisch orientierten Nachträgen in 14,12aβ; 19,28–29 und 31,11–12.23.28. Die rhetorische Frage, ob Gott (hûʾ, Er) nicht die Lebenswege (dæræk) 31,4–6 Hiobs sehe (V. 4), knüpfte ursprünglich unmittelbar an die letzte Strophe von Kap. 30 an, in der Hiob sein Gehen (hālak) in Elend und Trauer beklagte (30,28–31). Das eingangs von Eliphas geäußerte Zugeständnis eines tadellosen Wandels (4,6), die eigene Überzeugung der Unschuld und die Vorstellung, dass die bewusste Wahrnehmung allen Geschehens auf der Erde und damit auch von Hiobs Handeln zum Wesen Gottes gehören,208 kennzeichnen das grundlegende Lebensrätsel Hiobs. Dessen Lösung erhofft sich Hiob durch eine göttliche Überprüfung seiner Gesinnung und seines Handelns. Denn Hiobs „Schritte“ durch das Leben waren alles andere als die eines Frevlers (vgl. 18,7; Ps 37,23) – seine Wege waren unsträflich (vgl. Ps 119,1–7). Deshalb breitet er im Stil einer negativen Beichte vor Gott und vor den inzwischen verstummten Freunden aus, welche bösen, das heißt lebenszerstörenden und dem israelitischjüdischen Ethos widersprechenden Taten er alle nicht begangen hat. Die Auswahl der genannten Taten ist exemplarisch und soll umfassend Hiobs Tadellosigkeit verdeutlichen. Dieser Katalog spiegelt aber nicht nur jüdisches Ethos der persischen und hellenistischen Zeit wider, sondern ist zugleich ein Maßstab zur Selbstprüfung für die Leser des Buches. Den Auftakt bildet das allgemeine Bekenntnis zum Verzicht auf Falschheit (šāwʾ) und Trug (mirmāh, vgl. 15,35), mithin zur Wahrhaftigkeit gegenüber Gott und den Menschen (V. 5). Dabei umfasst der schillernde Begriff šāwʾ gemäß seinem Gebrauch im Dekalog hier auch den Missbrauch des Namens Jhwhs und damit ein Vergehen an der Heiligkeit Jhwhs selbst (Ex 20,7; Dtn 5,11). Hinter Hiobs Eingangsbekenntnis steht sowohl die Erfahrung, dass der Ausgangspunkt konkreter Verfehlungen gegen eine bestimmte Norm die Unwahrhaftigkeit und die Lüge sind (vgl. Jes 59,4), als auch die Überzeugung, dass Ceresko, Job, 107f. mimmāʿal (vgl. Hi 3,4; 31,28), mimmeromîm; siehe dazu auch Houtman, Himmel, 266f. 208 Vgl. Hi 14,16; 23,10–11; 34,21, Ps 139,2–3. 206 207
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Gott ebendiese nicht heilvoll wahrnehmen wird.209 Weil aber Hiob wahrhaftig gehandelt hat, so müsste er – dieser Logik folgend – von Gott doch wahrgenommen werden (vgl. Ps 26). Das Bild des Fußes, der nicht zum Trug eilte, verdeutlicht, dass sich die grundsätzlich lautere Gesinnung Hiobs unmittelbar in einem entsprechenden Handeln geäußert hat: Denken und Handeln, Wort und Tat bildeten bei Hiob eigentlich eine ideale Einheit. Sollte zudem mitschwingen, dass der Begriff šāwʾ auch zur Bezeichnung von Götzen gebraucht werden kann (vgl. Ps 31,7; Jer 18,15), dann läge bereits im Auftakt ein grundlegendes Bekenntnis Hiobs zum ersten Gebot vor. Die Metapher der „Waage der Gerechtigkeit“ (moʾz enê-ṣædæq), auf der Hiob wünscht, von Gott gewogen zu werden (V. 6), könnte auf die oben beschriebene äg. Gerichtsvorstellung zurückgehen. Sie findet sich auch in anderen frühjüdischen Weisheitstexten und lebt von der Vorstellung Gottes als gerechtem Richter (vgl. 4Q418 frgm. 127,6; 1Hen 41,1; 61,8).210 In den unmittelbaren Kontext der göttlichen Gerichtsvorstellung gehört auch das Wortpaar ṣædæq und tummāh (vgl. Ps 7,9), wobei damit auf die (ursprüngliche) Eröffnung der Herausforderungsrede in 27,5–6 zurückgegriffen wird. Auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches ergibt sich eine unmittelbare Beziehung zur Feststellung der „Frömmigkeit“ Hiobs seitens Gottes und der Frau (2,3.9). So wünscht Hiob sich hier das, was die Leser, die vom Prolog herkommen, längst wissen, nämlich das Erkennen und Anerkennen (jādaʿ) seiner Integrität (tummāh) durch Gott. 31,7–34 Hiobs hypothetische Vergehen gegen Mensch und Gott Charakteristisch für die Entfaltung des Reinigungseides ist die konsequente Zuspitzung auf die ethische Gesinnung, die hinter den einzelnen Handlungen steht. In Übereinstimmung mit dem frühjüdischen Ethos, wie es sich vor allem im Sirachbuch zeigt, und in materialem Anschluss an den Dekalog (Ex 20; Dtn 5) thematisiert der Reinigungseid ethisches Verhalten im Bereich der Familie, des sozialen Umfeldes und des Kultes. 31,7–8 Das Verspaar berührt sich hinsichtlich des Wegmotivs und der Körperbegrifflichkeit mit V. 5 (vgl. 23,11–12) und hinsichtlich der Fokussierung auf den begehrlichen Blick als Ausgangspunkt moralischen Fehlverhaltens mit V. 1 (vgl. Num 15,39; Sir 5,2). Der von den „Augen“ empfangene Reiz findet seinen Widerhall im „Herzen“ (leb) als dem nach altorientalischem und äg. Menschenbild entscheidenden Ort intellektueller und moralischer Entscheidungen (s.o. zu Hi 8,10; 11,13; 27,6).211 Erstmalig innerhalb des Unschuldsbekenntnisses ist dem potentiellen Vergehen, das im Vordersatz (Protasis) genannt wird, eine potentielle Strafe, die im Nachsatz (Apodosis) aufgeführt wird, zur Seite gestellt. Vgl. Hi 35,13; Ps 12,3–4; 24,4; 26,4. Zum Motiv des göttlichen Wiegens vgl. auch Spr 16,2; 21,2; 24,12, sowie in der klassischen Antike Homer, h. 4 (auf Hermes),324; Bakchylides, Dithyramben, 3,25. 211 Siehe oben die Auslegung von Hi 8,8–10. 209 210
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Dabei wird mit der aus dem Bereich von Saat und Ernte entlehnten Metapher der wirtschaftliche Untergang des Täters als Sanktion ins Auge gefasst (V. 8, vgl. 5,5; 20,18; 27,16–17).212 V. 8 lässt sich inhaltlich nicht vollständig mit der Beschreibung des Verlustes von Hiobs Besitz im Prolog (1,13–19) harmonisieren und zeigt, ähnlich wie die Spannung zwischen 19,17 und 1,18–19, die literargeschichtlich unterschiedliche Herkunft der Hiobnovelle und der Hiobdichtung. Der Nachtrag in V. 7b unterstreicht mittels eines weiteren Körperbegriffs (kap „Hand“, vgl. 9,30; 16,17; 22,30) und des Wortes „kleben“ (dābaq, vgl. Jos 7,11) den sehr engen Zusammenhang von Denken und Handeln und kennzeichnet Hiob als makellos (vgl. Sir 44,19 [HB]). Möglicherweise interpretiert der Glossator mittels des Begriffs meʾûm („Makel/Schandfleck“, vgl. 11,15; Sir 11,33 [HA]; 44,19 [HB]) das in V. 7a allgemein formulierte Verhalten schon in Richtung des in V. 9–10 thematisierten Ehebruchs (vgl. Sir 47,20). Das bereits im (sekundären) Auftakt des Unschuldsbekenntnisses angesprochene 31,9–12 Verhalten des Mannes gegenüber einer Frau wird in zwei Doppelversen zum Thema Ehebruch vertieft. Gegenüber dem als Prohibitiv, d.h. als unbedingtem Verbot, formulierten und nur aus zwei Worten bestehenden Dekalogverbot beschreibt Hiob mittels der Formulierung des „Auf der Lauer-Liegens“213 und der „Verführung des Herzens“214 die Korrumpierung der inneren moralischen Instanz, die sich als Treuebruch artikuliert.215 Zugleich bezieht Hiob eine Selbstbestrafung mit ein. Entsprechend der Vorstellung des ius talionis („Spiegelstrafe“), die gedanklich hinter dem gesamten Bekenntnis steht, erscheint als Folge eines derartigen Vergehens die Auslieferung der eigenen Frau. Diese drastische Sanktion basiert auf der patriarchalen Struktur der israelitisch-jüdischen Familie, in der die Ehefrau (b eʿulat baʿal) zum Besitz des Mannes (baʿal) zählt216 – diesem androzentrischen Verständnis entsprechend wird mit der Preisgabe der Frau primär der Mann geschädigt. Das Leid der Frau kommt damit nicht in den Blick, zumindest explizit. Angesichts entsprechender atl. und altorientalischer Fluchtexte ist nicht ausgeschlossen, dass V. 10 nicht die Auslieferung der eigenen Frau zu einer Tätigkeit als Sklavin im Blick hat,217 sondern sexuell konnotiert ist.218 In diesem Sinn haben bereits LXX, Tg und Vg das Wort ṭāḥan („mahlen“) verstanden, wobei die LXX (aufgrund einer Verlesung?) in V. 10b auch die eigenen Kinder in diese Sanktion einschließt.219
Vgl. Lev 26,16; Dtn 28,18.30.38; Jes 65,22; Jer 12,4; Am 5,11; Mi 6,15; Zeph 1,13; Hag 1,6; VTE § 47; § 64 (TUAT I, 170f, 173). 213 Vgl. Dtn 19,11; Spr 1,11; 7,12; 23,28. 214 Der Ausdruck kann auch im Blick auf die Treue gegen Jhwh verwendet werden (vgl. Dtn 11,16). 215 Vgl. Hi 24,15; Spr 7,8–9; Sir 23,18 (G); SapSal 14,24. 216 Gen 20,3; Ex 21,3.22; Dtn 22,22; 24,4; 2Sam 11,26 217 Vgl. Ex 11,5; Jes 47,2–3; Ri 16,21; Homer, Od. 20, 105–111. 218 Vgl. Dtn 28,30; 2Sam 12,11–12; Jer 8,10; VTE § 42 (TUAT 1, 70). 219 Vgl. Homer, Il. 3, 298–301. 212
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In den beiden möglicherweise nachgetragenen Versen, von denen V. 11 eher Prosa als Poesie ist, wird Ehebruch als eine besondere Schande (zimmāh)220 und als ein besonders strafwürdiges Vergehen charakterisiert, das beinahe kosmische Dimensionen annimmt und umfassende wirtschaftliche Auswirkungen hat. Tendenziell entspricht dies der im atl. Recht erhobenen Forderung der Todesstrafe für einen Mann und eine Frau, die Ehebruch begehen (vgl. Lev 20,10; Dtn 22,22). Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass das Motiv des bis in den „Abgrund/die Unterwelt“ (ʾ abaddôn)221 verzehrenden Feuers nicht nur metaphorisch die tiefgreifenden sozialen, ökonomischen und psychischen Folgen des Ehebruchs beschreibt (vgl. Spr 6,27–35),222 sondern auch eine eschatologische Konnotation hat (vgl. PsSal 14,9; 15,10; 4Q416 frgm. 2 III,4). In diesem Fall bezöge sich der umstrittene Ausdruck pālîl (zumeist als „Schiedsrichter“ gedeutet, vgl. Ex 21,22) auf ein jenseitiges Richten. Dabei könnte auch hier, wie in Kap. 31 insgesamt, ein traditionsgeschichtlicher Einfluss des äg. Totenbuchs vorliegen.223 Sexualethisch sind aus Hi 31,9–12 vier für das antike Judentum charakteristische Entwicklungen ablesbar: 1) eine grundsätzliche Aufwertung der Stellung der Frau, 2) die Praxis der Monogamie (vgl. V. 10a), 3) die radikale Beurteilung des Ehebruchs als Grund allen Übels224 und 4) die besondere Bedeutung der Familie.225 31,13–23 In vier Richtungen entfaltet Hiob seinen untadeligen und über das im atl. Recht Geforderte hinausgehenden humanen Umgang mit abhängigen, rechtund schutzlosen sowie bedürftigen Menschen. 31,13–15 Die von Hiob garantierte Möglichkeit eines Rechtsstreits von Dienstab hängigen226 gegen ihn als Herren (V. 13) überwindet zwar nicht das reale soziale Gefälle in der jüdischen Gesellschaft der persischen und hellenistischen Zeit, übertrifft jedoch das atl. Prozessrecht.227 In den gerichts- und schöpfungstheologischen Folgesätzen wird eine grundsätzliche humane und egalitäre Tendenz sichtbar, insofern das Verhalten gegenüber Dienstabhängingen zu einem Kriterium der richterlichen Beurteilung durch Gott wird, der selbst Garant des Rechts der Armen ist (V. 14),228 und insofern der Diener wie der Herr als 220 Vgl. im Rahmen einer Deklarationsformel („Das ist eine Schandtat“) in einer Liste von Sexualtabus in Lev 18,17 (20,14); 11QTa LXVI,15. 221 Vgl. Hi 26,6; 28,22; Ps 88,12; Spr 7,27; 15,11. 222 Vgl. die Lehre d. Pap. Louvre 2414 7 (Brunner, Weisheitsbücher, 293: „Wer zu einer verheirateten Frau geht, ist auf dem Weg zum Tode.“). 223 Vgl. Feldmar, Fortschreibungen, 185f; 222–233. 224 In der LXX wird dies noch deutlicher (siehe die Anm. zur Übersetzung), vgl. TestSim 5,3; TestJud 13,3; Philon, decal. 121–131; spec. III, 8. 225 Siehe dazu grundsätzlich F. Fechter, Die Familie in der Nachexilszeit. Untersuchungen zur Bedeutung der Verwandtschaft in ausgewählten Texten des Alten Testaments, BZAW 264, Berlin/New York 1998. 226 Ob es sich hier um Sklaven und Sklavinnen oder um Knechte und Mägde handelt, lässt sich anhand der Begriffe ʿæbæd und ʾāmāh nicht entscheiden. 227 Vgl. Ex 21,2–11.20–21.26–27; Lev 25,39–55; Dtn 15,12–18; 23,16–17 sowie in der Fluchtlinie von Hi 31 die differenzierten Mahnungen zum Umgang mit Sklaven in Sir 7,20–21; 33,25–33 (30,33–38). 228 Vgl. Dtn 10,17–19; Ps 12,6; 76,10; 140,13; 146,7–9; Sir 35,15–22.
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Geschöpf eines und desselben Gottes angesehen werden (V. 15). Die Motive von Gott als universalem Richter, dessen gerichtliches Auftreten (qûm) und Untersuchen (pāqad) Hiob ja gerade wünscht (19,23–25, vgl. Ps 7,7; 12,6), und von Gott als Schöpfer implizieren die Vorstellung von der rechtlichen und anthropologischen Gleichstellung aller Menschen. Die in Hi 31,15 aufleuchtende schöpfungstheologische Argumentation ist typisch für die Ethik der atl. Weisheit und lässt sich für alle ihre literatur- und traditionsgeschichtlichen Phasen zeigen.229 Spezifisch für Hi 31 ist die in V. 15b gebrauchte Gottesbezeichnung ʾæḥād „Der Einzige“ (vgl. 23,13; Sach 14,9; Mal 2,10.15),230 die ihre nächste Parallele im Schema Israel (Dtn 6,4–5), also dem Bekenntnis Israels zur Einzigartigkeit und Einheit seines Gottes Jhwh, besitzt (vgl. Sach 14,9). Der Glaube an den einen Gott wird hier zur Grundlage des Ethos und erweist sein Potential zur Relativierung sozialer Unterschiede. Die rechtliche und wirtschaftliche Unterstützung der Armen (dallîm)231, Wit- 31,16–18 wen und Waisen gehört zu den ethischen Grundordnungen im Alten Orient: Brot gab ich dem Hungrigen, Wasser dem Dürstenden, Kleider dem Nackten (äg. Totenbuch 125, 126–28).232
Im AT sind diese Regeln vor allem in den Sozialgesetzen des Bundesbuches (Ex 20–23*) und des Deuteronomiums,233 in weisheitlichen Sentenzen und Mahnreden (vgl. Tob 4) sowie in der sogenannten Sozialkritik der Propheten verankert.234 Die Mahnung, die Armen nicht zu unterdrücken, vielmehr ihre Bitten zu erhören und sie zu unterstützen, wird an den Willen Jhwhs selbst gebunden und ihre Missachtung seiner Sanktion unterstellt (vgl. Spr 21,13; Sir 4,6–10): 22 Beraube den Armen nicht, weil er arm ist, und unterdrücke den Elenden nicht im Tor; 23 denn der Herr wird ihre Sache führen und wird denen, die sie berauben, das Leben rauben. (Spr 22,22–23 LB, vgl. Lehre d. Amenemope 4,4–5 [TUAT.NF VIII, 331])
229 Vgl. Hi 33,6; Spr 14,31; 17,5; 22,2; 29,13; Mal 2,10 sowie Eph 6,9 – zu einer entsprechenden Redewendung vgl. aber das auch das akkad. Epos von Zimri-Lim II,22–23 (COS 4.51, 233) und den äg. Sargspruchtext Nr. 1130 Z. 463f (TUAT II, 509). 230 Siehe dazu C.H. Gordon, His Name Is ‚One’, JNES 29 (1970) 198f; Ceresko, Job, 129–131; Seow, Critical Notes, 192. 231 Vgl. Ex 23,3; 30,15; Lev 19,15. 232 Übersetzung von D. Hornung, Totenbuch, 240. 233 Vgl. besonders Dtn 10,18–19; 14,29; 16,11–20; 24,14–15.17–21; 26,12–13; 27,17.19. 234 Vgl. Ps 112,9; Spr 19,17; 21,13; 22,9; 29,7; Sir 4,1–10; Tob 4,1–21 bzw. Am 2,6–7; 4,1; 5,11–12; 8,4.6; Jes 58,7.10, vgl. Mt 25,34–40.
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Hiob ist diesem göttlichen Willen „von Kindesbeinen an“, wie es hyperbolisch zur Betonung der Unterstützung des elternlosen Kindes und der Witwe heißt (V. 18),235 nachgekommen (vgl. 29,12–13.16). Hiob hat sich, wie er nach 29,16 nochmals betont,236 zeitlebens als exemplarischer Vater erwiesen und damit seinerseits eine Antwort gegeben auf die Frage, die in seinem Namen steckt und die er von Gott selbst beantwortet haben möchte. Er hat die weisheitliche Mahnung, den Waisen wie ein Vater und den Witwen wie ein sie wirtschaftlich versorgender Ehemann zu sein, ernst genommen und erwartet dementsprechend, von Gott als Sohn anerkannt und von diesem gerettet zu werden (Sir 4,10 [HA]). Die Formulierung in Hi 31,18 lässt aber auch noch eine andere Deutung zu.237 Versteht man das Verb gādal in V. 18a im Sinn von „groß/bedeutend sein“ (vgl. Gen 48,19; 1Sam 26,24) und bezieht die Vergleichspartikel aus keʾāb („wie ein Vater“) auch auf das Wort ʾimmî („meine Mutter“), dann nimmt Hiob für sich in Anspruch, der Waisen und der Witwe dieselbe Wertschätzung geschenkt zu haben wie seinem Vater und wie seiner Mutter. Damit läge eine Anspielung auf das Elternehrgebot (vgl. Ex 20,12; Dtn 5,16) vor, die sich gut zu den Anspielungen auf den Dekalog in Hi 31 fügen würde.238
31,19–20 Die Pflicht, den Bedürftigen (ʾæbjôn) zu kleiden (vgl. Jes 58,7),239 hat Hiob entsprechend seiner Möglichkeiten als wohlhabender Viehbesitzer voll erfüllt, und zwar in einem solchen Maß, dass ihn die Armen gesegnet haben – neben der Erinnerung an den Segen (b erākāh), den Hiob selbst einst seitens der Armen erfuhr (29,11.13), ist dies die einzige Verwendung der Wurzel bārak in der Hiobdichtung. Beide Verse (29,13 und 31,20) bilden das Spiegelbild zur Feststellung des Satans, Gott habe Hiob reich gesegnet, in der ersten Himmelsszene (1,10): Der exemplarisch von Gott Gesegnete machte von seinem Segen in idealer Weise Gebrauch – und erhofft nun seinerseits, da er selbst am Umkommen ist (ʾābad, 31,19, vgl. 29,18), ein göttliches Echo auf das menschliche Segenswort (vgl. Jes 58,8–11). 31,21–22 Hiobs Ausführungen zu seinem vorbildlichen gesellschaftlichen Verhalten gipfeln im Bekenntnis, seine Macht und seinen Einfluss nicht im „Tor“ (šaʿar), d.h. vor Gericht, missbraucht zu haben.240 Auch hier zielt der Hinweis, sich im Bewusstsein der Unterstützung vor Gericht nicht an einem Unschuldigen (conj. tām)241 vergriffen und dementsprechend sich selbst als aufrichtig (jāšār) erwiesen zu haben (vgl. Spr 29,10), nicht nur auf die Anerkennung seiner eigenen moralischen Integrität. Er ist zugleich ein Appell an Gott, selbst die Vgl. BT 72–73 (TUAT III, 150). S.o. die Auslegung von Hi 29,16 und die dort genannten Parallelen aus dem Alten Orient. 237 Vgl. die Anm. zur Übersetzung. 238 Vgl. dazu Witte, Hiobs viele Gesichter, 110; Opel, Anspruch, 117–120. Unter der Voraussetzung, dass gidd elanî und ʾanḥennî zu lesen sei (siehe die Anm. zur Übersetzung) und V. 18 zwischen V. 20 und V. 21 anzuordnen sei, interpretiert J. Gray den Vers als Zitat der von Hiob Geretteten. 239 Vgl. äg. Totenbuch 125,128 (Hornung, Totenbuch, 240,128). 240 Vgl. Hi 5,4; Spr 22,22; Am 5,12. 241 tām als Bezeichnung umfassender Integrität beinhaltet hier auch Schuldlosigkeit im juridischen Sinn (vgl. Ps 64,5). 235 236
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Hand nicht länger gegen ihn, den Unschuldigen, gewaltsam zu erheben (vgl. 9,20–21 bzw. 19,21; 23,2 [v.l.]; 30,21). Der vermeintlichen Gewalt gegen den Schwachen entspricht die im Nachsatz genannte, das Vergehen spiegelnde Strafe. Auch wenn die genaue anatomische Zuordnung der in V. 22 genannten Begriffe nicht ganz klar ist, so wird doch deutlich, dass die Selbstverwünschung auf ein brutales Zerbrechen des Armes zielt, des Organes, das zugleich für die Ausübung von Macht steht (vgl. Ps 10,15). Mit seinem Bekenntnis zur vollen wirtschaftlichen Unterstützung und sozialen Würdigung der personae miserae weist Hiob nochmals die Beschuldigung zurück, die Eliphas in seiner letzten Rede gegen ihn erhoben hatte (22,6–9, vgl. 29,13–16.17). Auch wenn Gott offenbar keinen Anstoß am Leiden der Welt nimmt (9,22–24; 24,1–12), so hat Hiob doch das Seine dafür getan, den Armen und Elenden zu helfen. Bezogen auf den Dekalog lassen sich Hiobs Wahrung des Rechts der Armen und sein Einsatz für die unterpriviligierten Gruppen als eine Konsequenz des Diebstahlverbotes (Ex 20,15; Dtn 5,19) und des Begehrverbotes (Ex 20,17; Dtn 5,21) verstehen. Wie die entsprechenden Dekaloggebote, aber auch ältere Rechtstexte des AT (vgl. Ex 21,33–22,14) zeigen die Verse 13–22 das atl. Bewusstsein für den Anspruch des Menschen auf den Schutz seines Eigentums und für die gesellschaftliche Notwendigkeit umfassender gerechter ökonomischer und rechtlicher Verhältnisse.242 Der Nachtrag qualifiziert die aufgezählten sozialen Vergehen als Verbrechen 31,23 an Jhwh selbst, die einen vernichtenden „Gottesschrecken“ (paḥad) nach sich ziehen (vgl. Dtn 32,35), vor dem Hiob keinen Bestand haben könnte. Der Vers liegt auf der gleichen literargeschichtlichen und tendenziellen Ebene wie V. 3 und bezieht sich, da Hiob an seiner Person ja bereits den Gottesschrecken erlebt (vgl. 3,25; 22,10; 30,15), anders als V. 14 (und 13,11) wohl auf ein endzeitliches Gericht (vgl. Jes 24,17–18; Sir 36,2 [HB]).243 Das vierte große Thema des Reinigungseides betrifft mögliche Verletzungen 31,24–27 des Gottesrechts. Funktional entspricht das Bekenntnis Hiobs, sein Vertrauen nicht auf vergänglichen Reichtum gesetzt (V. 24–25)244 und weder das Licht, d.h. die Sonne (vgl. 37,21; Hab 3,4; Homer, Od. 3, 335), noch den Mond mittels eines Handkusses kultisch verehrt zu haben (V. 26–27),245 dem ersten und dem zweiten Gebot des Dekalogs.246 Denn eigentlicher Grund von Hoffnung und Vertrauen ist für den Frommen und den Weisen Gott.247 Als solcher hat Hiob sowohl die Ausschließlichkeit Jhwhs gewahrt als auch dessen Bildlosigkeit (Dtn 4,15–18). Die nachträglich in die dritte Eliphasrede eingelegte Auf-
Vgl. Jes 5,8; Mi 2,1–2; Am 2,6; 4,1; 5,10–12; 8,4–6. Siehe dazu auch Feldmar, Fortschreibungen, 172–174; 275. Vgl. Ps 49,7; 62,11; Spr 11,4.28; Sir 5,1.8; 31,3–11; TestJud 19,1; Mk 10,17–23; Lehre d. Amenemope 9,10 (TUAT.NF VIII, 334). 245 Vgl. Dtn 4,19; 17,3; Jer 8,1–2; Ez 8,16; Zeph 1,4–5. Zum kultischen Gestus der Kusshand vgl. 1Kön 19,18; Hos 13,2; Keel, Bildsymbolik, 290; 293 (Abb. 420); 346; IPIAO IV, 104–107. 246 Vgl. Ex 20,2; Dtn 5,6 bzw. Ex 20,3–6; Dtn 5,7–10 sowie Dtn 6,4–5; Ps 119,127. 247 Vgl. Ps 40,5; 71,5; 78,7; Spr 22,19. 242 243
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forderung, Hiob möge sich von seinem Gold trennen (Hi 22,24–25),248 ist damit obsolet. Auch hier kommt dem Herzen die besondere Rolle der zentralen Instanz in ethischen und religiösen Entscheidungen zu (V. 27, vgl. Dtn 11,16): Im Herzen entscheidet sich, ob es, veranlasst durch die äußere Wahrnehmung bestimmter Phänomene, zu einer entsprechenden Tat kommt. Die hier vorliegende Verknüpfung der Anschauung der Gestirne mit ihrer potentiellen Verehrung entspricht der atl. Schöpfungstheologie: Sonne, Mond und Sterne gelten als wunderbare Werke, die auf Gott als den Schöpfer hinweisen, selbst aber keine Götter sind. Die archäologisch, ikonographisch und literarisch breit belegte kultische Verehrung der Gestirne – als Repräsentanten oder Symbole einzelner Gottheiten – ist bei allen Differenzen in der konkreten Ausformung nicht auf eine bestimmte Phase der Religionsgeschichte des Alten Orients beschränkt. Gerade die frühjüdische Weisheit betont dagegen im Schatten von Gen 1,16–18, dass eine Verehrung der Gestirne zwar kosmologisch verständlich, theologisch aber unsinnig sei, weil Schöpfer und Geschöpf verwechselt würden (Sir 42,15–43,33; SapSal 13,1–9).249 Vielmehr sind die Sterne selbst zum Gotteslob aufgerufen (Ps 148,3). Somit ist Jhwh das alleinige Licht für den atl. Beter (vgl. Ps 27,1; 84,12), worüber auch Hiob sich im Klaren ist. 31,28 Die in ihrem ersten Teil V. 11b entsprechende, nachträgliche (?) Qualifikation der Verehrung der Gestirne als absolut strafwürdiges Verbrechen unterstreicht, ganz auf der Linie der Torahtreue Hiobs, dass dieser den einen Gott nicht verleugnet hat (vgl. Spr 30,9; Jes 59,13; Jer 5,12). Theologisch lässt sich dieser Abschnitt als Zentrum des Reinigungseides (in seiner ,Endgestalt‘) auffassen. 250 31,29–32 Die Wahrung der Würde des Feindes (V. 29–30) und des Rechts des Fremdlings (ger, V. 31–32) geht über das im Dekalog ausdrücklich Gesagte hinaus, entspricht aber einerseits dem für das gesamte alte Israel wie für die Antike nachweisbaren Ethos des unbedingt zu gewährenden Gastrechts251 und liegt andererseits erneut in der Fluchtlinie des Begehrverbotes des Dekalogs. Mit dem Bekenntnis, er habe sich weder über das Unglück (pîd) seines Feindes gefreut (vgl. 12,5) noch seinem Feind geflucht, teilt Hiob das Ethos, das hinter Spr 24,17 steht: Über den Sturz deines Feindes freue dich nicht, und über sein Straucheln juble nicht dein Herz.252
S.o. S. 360f. Vgl. Platon, leg. 886a; 897b. Zu dem auf den Schöpfergott hinweisenden Charakter der Natur siehe auch Cicero, Tusc. 1, 68–70, und zur Sache O. Kaiser, Weisheit Salomos, 113, mit weiteren Parallelen aus der klassischen Antike. 250 Vgl. Otto, Ethik, 170. 251 Zur rechtlichen Verankerung siehe Ex 22,21; 23,9.12; Lev 19,10.33–34; 23,22; Dtn 10,19; 24,17.19–21; 27,19; Jer 7,6; 22,3; Ez 22,29; Sach 7,10; Mal 3,5; zur narrativen Ausgestaltung vgl. Gen 18; 19; Ri 19,15–21. 252 Vgl. Ex 23,4–5; Dtn 22,1–4; Spr 20,22; 24,29; 25,21–22. 248 249
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Der ausdrückliche Verzicht auf Schadenfreude und auf die Verwünschung seines Gegners – ganz im Gegensatz zu dem sekundär Hiob in den Mund gelegten Fluchwunsch in Hi 27,7 – erweist Hiob als das genaue Gegenteil eines Frevlers (rāšāʿ, Ps 10,7). Dieser Vers bestätigt den Erzählerkommentar aus 2,10, Hiob habe sich auch mit seinen Worten nicht verfehlt (ḥāṭāʾ).253 Motivgeschichtlich zählt dieser Vers wie Spr 24,29 und insbesondere Lev 19,18 zu den Wurzeln der Mahnung Jesu, seine Feinde zu lieben und denen Gutes zu tun, die einen hassen (Mt 5,43–48; 22,39, vgl. Röm 12,20; 1Petr 3,9).254 Das Motiv der umfassenden Speisung255 und der Beherbergung des Fremdlings wird dann im TestHiob 9–15 breit zu einer ausführlichen Beschreibung von Hiobs Gastfreundschaft und Diakonie ausgebaut (vgl. Mt 25,34–40), die mehrere Kapitel umfasst. Das abschließende Bekenntnis der Aufrichtigkeit, das möglicherweise ein 31,33–34 Nachtrag ist (vgl. 7,20aα.21aα) – zumindest gilt dies für das dritte Kolon in V. 34 –, unterstreicht nochmals den gesinnungsethischen Akzent des gesamten Reinigungseides und kehrt mit seiner allgemeinen Benennung von Schuld zum Auftakt in V. 5–7 zurück. Hiob hat, selbst wenn er sich gegenüber Gott oder den Menschen verfehlt haben sollte, dies nicht nach „Menschenart“ (keʾādām) verheimlicht, sondern ohne Furcht vor sozialer Ächtung offen zugegeben. Damit setzt er sich auch am Ende des Reinigungseides, selbst wenn dieser unmittelbar an Gott gerichtet ist, nochmals mit seinen Freunden auseinander (vgl. 8,5–6; 11,3–4; 15,5–6; 22,5). Die Verse bilden zugleich ein Pendant zu Hiobs früherer Forderung, Gott möge ihm doch seine Vergehen und seine Schuld konkret aufweisen (13,23, vgl. 14,17). Insofern der Ausdruck keʾādām auch „nach Adams Art“ bedeuten kann (vgl. TgHi 31,33),256 ist nicht ausgeschlossen, dass der Verfasser dieser Verse auf die Paradieserzählung in Gen 2–3 und den Versuch Adams und seiner Frau anspielt, sich vor Gott zu verstecken (Gen 3,7, vgl. auch die Ausflucht Kains in Gen 4,9).257 Hiob verkörpert demgegenüber auch im Umgang mit Schuld ein Vorbild: Er weiß darum, dass die Verdrängung von Schuld die Beziehungen zu anderen Menschen, zu sich selbst und zu Gott belastet (vgl. Spr 28,13; Ps 32,3–5; PsSal 9,6; TestRub 3,5).
Vgl. Hi 1,5; 1,21; 7,20; 10,14; 35,6. Zu Vorläufern dieser Mahnung in der altorientalischen Weisheit vgl. entsprechende akkad. Sprüche und Ratschläge (Counsels of Wisdom: ANET, 426,35–40; 595,41–44; TUAT III, 165,41–44). 255 Vgl. Pap. Insinger 16,11–15 (TUAT III, 298f). 256 S.o. den Exkurs zu Hi 30,19: „Hiob und Adam“; vgl. auch Gordis, 353. 257 Siehe dazu auch die Auslegung von Hi 15,7. 253 254
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31,35–37 Hiobs ultimative Bereitschaft zur Begegnung mit Gott Diese Passage gehört zu den umstrittensten Versen des gesamten Buches. Zumeist wird sie vor dem Hintergrund gedeutet, dass das „Zeichen“ (tāw)258 in V. 35 für die Unterschrift Hiobs unter seine als Verteidigungsschrift verstandene Unschuldserklärung in Kap. 31 stehe. Im Hintergrund dieser Deutung steht die Tatsache, dass das Wort tāw zugleich den Schlussbuchstaben des hebr. Alphabets benennt, der im Althebräischen die Form eines Andreaskreuzes (x) hat und als solcher epigraphisch als Zugehörigkeits- oder Eigentumsmerkmal nachgewiesen ist.259 Dabei rekurriert diese rechtsgeschichtliche Deutung auch auf das vor allem aus dem äg. Recht mindestens seit der Ptolemäerzeit bekannte Verfahren, der richtenden Instanz die Klage und Verteidigung in schriftlicher Form vorzulegen (vgl. Diodor Siculus 1, 75).260 Als Bestätigung und Ergänzung dieser Deutung wird V. 35b verstanden, sei es, dass Hiob wünsche, sein Rechtsgegner möge die „Schrift“ (sepær) endlich verfassen,261 sei es, dass Hiob fordere, ihm das bereits verschriftete Dokument vorzulegen.262 Dabei ist strittig, ob diese „Schrift“ im Sinne einer Anklageschrift263 oder einer Entlastungsurkunde264 zu interpretieren sei. Schließlich wird das Wort „antworten“ (ʿānāh) in V. 35a vor dem Hintergrund seiner Verwendung in juristischen Kontexten265 für eine rechtsgeschichtliche Deutung angeführt. Ebenfalls in rechtsgeschichtlichen Kategorien bewegt sich der Vergleich zwischen der transzendent orientierten Gerichtsvorstellung im 125. Spruch des äg. Totenbuches und der immanent ausgerichteten Gerichtsvorstellung in Hi 31: In Umkehrung 258 Zur philologischen Diskussion von tw siehe Witte, Hiobs viele Gesichter, 104, sowie Noegel, Janus Parallelism, 112f, der twj nicht nur von tāw ableitet („mein Zeichen“), sondern zugleich auch als eine Kurzform von tʾwtj („mein Wunsch“, nach taʾ awāh, vgl. Gordis, de Wilde; J. Gray) versteht. 259 Vgl. D. Diringer, Le iscrizioni antico-ebraiche palestinesi, Pubblicazioni della r. università degli studi di Firenze. Facoltà di lettere e filosofia III/ii, Florenz 1934, 292, taf. xxv; G.A. Reisner u.a. (Hg.), Harvard Excavations at Samaria 1908–1910, I, Cambridge 1924, 119; G.I. Davies u.a., Ancient Hebrew Inscriptions, I, Cambridge u.a. 1991, Nr. 3.215. Allerdings begegnen auch andere Buchstaben als tāw als Eigentumsmarkierung. 260 Siehe dazu E. Seidl, Ägyptische Rechtsgeschichte der Saiten- und Perserzeit, ÄF 20, Glückstadt 1968, 38–42; ders., Ptolemäische Rechtsgeschichte, ÄF 22, Glückstadt 21962, 89–99. 261 kātab wäre in diesem Fall ein prekatives Perfekt, vgl. Vg und Syr; Greenstein u.v.a. 262 Zur Bezeichnung unterschiedlicher Rechtsdokumente als sepær vgl. Dtn 24,1.3; 1Sam 10,25; Jes 50,1; Jer 3,8; 32,10–11 sowie häufig in den aram. Papyri aus Elephantine aus dem 5. Jh. v.Chr. (z.B. TDA B2 1,15; B2 2,16; B2 3,18; B4 4,11 u.v.a.). 263 So z.B. Fohrer; Strauß; J. Gray und mit umfassender Interpretation im Rahmen eines Gerichtsverfahrens Magdalene, Scales, 180–182 (siehe dazu S. 24). Nach Ebach, Hiob II, 90, ist diese Anklageschrift wie die in Hi 19,23–24 genannte „Schrift“ mit dem Hiobbuch selbst gleichzusetzen; in eine ähnliche Richtung geht auch Clines, 1032f: Die ursprünglich metaphorisch als schriftlicher Text verstandenen Unschuldsbekenntnisse Hiobs und die als Geste gedachte Unterschrift (tāw) seien schließlich ein realer schriftlicher Text geworden; die von Hiob erbetene Schrift seines Gegners, Gott, sei gleichwohl (metaphorisch) eine Anklageschrift. 264 So z.B. Habel; Hartley. 265 Vgl. Dtn 5,20; Mi 6,3; 1Sam 12,13 sowie Hi 9,15.32; 19,7; 23,5–6 und dazu Magdalene, Scales, 166; 177–182, die auch in dem šomeaʿ in V. 35a einen (von Gott zu unterscheidenden) unabhängigen Richter sieht (vgl. Hi 9,33–35).
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der äg. Vorstellung des negativen Schuldbekenntnisses im Rahmen des Totengerichts vor Osiris würde Hiob „den Erweis seiner Schuld wie das Zeichen seiner Gerechtfertigterklärung (sic!) tragen“.266 Dass der Dichter bei der Gestaltung der Klagen Hiobs vor und gegen Gott juridische Motive verwendet und Hiob sein Verhältnis zu Gott in rechtlicher Metaphorik beschreiben lässt, ist klar.267 Der Argumentationsgang und die Traditionsgeschichte von Hi 31 sowie der Wortgebrauch von tāw erlauben allerdings auch eine andere als die rechtsgeschichtliche Deutung von 31,35–37 und damit des gesamten Reinigungseides. In Ez 9,4.6 sowie davon abhängig in CD-B XIX,12 steht tāw (griech. σημεῖον) für ein Zeichen der Zugehörigkeit zu Jhwh (vgl. PsSal 15,6).268 Diese Funktion lässt sich auch dem Zeichen Hiobs zuweisen. So soll das Zeichen Hiobs wie den in Ez 9 und in PsSal 15,6 genannten Gerechten bei der unmittelbaren Begegnung mit Gott Schutz gewähren und zugleich Loyalität gegenüber Gott ausdrücken. Der Ruf Hiobs „Siehe – (hier ist) mein Zeichen“ bedeutet dann „ich gehöre zu Jhwh“ (vgl. Jes 44,5). Ein zweiter Aspekt kommt hinzu: Die ethischen Felder, die in Hi 31 angesprochen werden, haben wie oben dargestellt neben ihrer Verankerung in der weisheitlichen Ethik fast alle eine Parallele im Dekalog. Dass das Tötungsverbot nicht ausdrücklich erscheint, versteht sich angesichts der gesinnungsethisch und schöpfungstheologisch subtilen Stilisierung von Hi 31 von selbst (vgl. V. 15.29–30). Das Fehlen eines Pendants zum als genuin israelitisch angesehenen Sabbatgebot (Dtn 5,12–15) ist typisch für weisheitlich geprägte Unschuldsbekenntnisse. So wird in mit Hi 31 vergleichbaren „Konfessionen“269 ebensowenig der Sabbat thematisiert wie in der so stark an der Torah orientierten Ethik des Sirachbuches, des Tobitbuches oder der Sapientia Salomonis. Mit anderen Worten: Hiob bekennt in Kap. 31, nicht nur die zentralen Gebote der Torah und das hinter ihnen stehende Ethos gelebt, sondern dieses sogar übertroffen zu haben. Er tritt am Ende seines Bekenntnisses gleichsam mit der radikalisierten Torah als seinem „Zeichen“, das ihm Schutz bei der Begegnung mit Gott gewähren soll, Gott entgegen. Konkret könnte dieses „Zeichen Hiobs“ als eine Form eines sogenannten Phylakterions, d.h. eines Amuletts, verstanden werden, das gemäß Ex 13,9; Dtn 6,8–9; 11,18 Teile des Dekalogs und des Schema Israel enthält und am Körper getragen werden soll. Archäologisch sind amulettähnliche Gebets- und Erinnerungszeichen mit Jhwh-Worten über die Phylakterien aus der Wüste Juda (vgl. 1Q13; 4Q128–148; 5Q8; 8Q3) und den Pap. Nash mindestens schon für das 2./1. Jh. v.Chr. belegt. Die ältesten literarischen palästinischen Belege fallen in die Zeit um 100 v.Chr. Angaben zum Ursprung der Tefillin im bab. Talmud (bSan 92b) verweisen für Vorformen der Phylakterien auf die persisch-hellenistische Zeit, also die Epoche, in der auch
Kunz, Der Mensch auf der Waage, 235–250; 249 (Kursivsatz im Original); vgl. dazu auch Feldmar, Fortschreibungen, 229–232 (Hiob als Osiris?). 267 Vgl. Hi 9,32–33; 13,22; 19,7; 23,4–6; 27,2. 268 Vgl. das „Zeichen (ʾôt) Kains“ in Gen 4,15 und in diesem Sinn auch Stevenson, Critical Notes, 145 (ein Tattoo auf dem Arm oder Handgelenk als Loyalitätszeichen gegenüber Gott). 269 Ps 15; 24; 26; 101; 119,101–102; Jes 33,14–16; Mi 6,6–8; TestIss 4; TestBen 6. 266
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das Hiobbuch mit seinen unterschiedlichen literarischen Schichten entstanden ist. Den frühesten literarischen Beleg für die griech. Bezeichnung der Tefillin als φυλακτήριον („Schutzmittel/Amulett“) bietet Mt 23,5, während Josephus die Praxis und die Funktion der Tefillin ohne Verwendung eines Spezialbegriffs beschreibt (ant. Iud. 4, 212–213 [6,5]). Aber auch die Silberröllchen vom Ketef Hinnom (HAE I, 447–456) belegen, unabhängig davon, ob sie nun in das 6. Jh. v.Chr. oder in das 2./1. Jh. v.Chr zu datieren sind, schon für die vorrabbinische Zeit die Verwendung von Texten aus der Torah auf Amuletten, und zwar in ihrer doppelten Funktion, mittels der Dokumentation der Zugehörigkeit zu Jhwh Schutz und Segen anzuziehen und lebensfeindliche Mächte abzuwehren.
Die Glosse in 31,35b, die das „Zeichen Hiobs“ mit der Schrift identifiziert, die der Gegner Hiobs, d.h. Gott (vgl. 10,2; 23,6), geschrieben hat270, trifft das Richtige, insofern gemäß Ex 24,12 Gott selbst als Verfasser des Dekalogs verstanden wird.271 So gibt Hiob hier noch ein letztes Mal seiner Hoffnung Ausdruck, dass Gott, der gegen ihn streitet, ihn erhören werde.272 Als letztes Mittel, Gott zum Reden zu bringen, dient Hiob der Hinweis auf sein „Zeichen“, auf sein Phylakterion. Die Mahnung des Eliphas, Hiob möge aus Gottes Mund Weisung (tôrāh) annehmen und Gottes Worte in sein Herz legen (22,22, vgl. Dtn 11,18; 32,46), erscheint so auch rückblickend nicht einfach als ein weisheitlicher Rat: Hiob hat die Worte aus Gottes Mund nicht nur in bzw. an seiner Brust (23,12 [v.l.]). Er bewegt die Worte der Torah in seinem Mund (27,4, vgl. Ps 1,2) und setzt sich diese wie eine Krone auf,273 und zwar als Signum seiner Gerechtigkeit (29,14) und gleichsam als Ersatz für seine verlorene Würde (31,36 versus 19,9; 30,18). Hiobs Bekenntnis zu seiner Treue gegenüber Gott und seinen Geboten gipfelt in der metaphorischen Selbstbezeichnung als „Fürst“ (nāgîd, V. 37b, vgl. 29,25). Das Wort nāgîd bildet nicht nur lautmalerisch ein Pendant zum Wunsch, Gott die eigenen Lebenswege zu verkünden (ʾaggîdænnû, V. 37a), sondern korrespondiert mit der Semantik, das „Zeichen“ der Torahobservanz als Krone bzw. um den Kopf gebundenes Diadem zu tragen. Die Bezeichnung nāgîd steht in der Mehrzahl ihrer Belege für die von Jhwh bestellten Könige Israels, zumeist für David.274 Dem Duktus des Unschuldsbekenntnisses in Kap. 31 mit der Berufung Hiobs auf die zeichenhaft am Körper getragene „Schrift Gottes“ folgend, bedeutet die Verwendung des Titels nāgîd, dass sich Hiob mittels seiner Torahtreue in den königlichen Stand versetzt sieht. Es ist die Torah, die Hiob als den königlichen Weisen (vgl. Hi 29) und als Erben Davids erscheinen und ihn in vollem Bewusstsein seines Rechts vor Gott treten lässt. Hi 31,36–37 stellt damit einerseits einen Verwandten der Sentenz in Sir 11,1 dar, die nach einer im Jerusalemer Talmud (jBer VII,2) überlieferten Variante dem Weisen Nicht: „schreiben möge“ (so aber Hartley). Vgl. Ex 34,1; Dtn 4,13; 5,22; 9,10; 10,2–4. 272 Vgl. Hi 9,35–10,2; 16,19–21; 19,23–25; 23,5. 273 Zu dieser Metaphorik vgl. im Blick auf weisheitliche Mahnungen Spr 6,21 bzw. im Blick auf die Weisheit Spr 4,9; Sir 6,31. 274 1Sam 13,14; 25,30; 2Sam 5,2 (par. 1Chr 11,2); 6,21; 7,8 (par. 1Chr 17,7); Jes 55,4; 1Chr 5,2; 4Q504 frgm. 1–2 IV,6–7; 11QPsa XXVIII,11. 270 271
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zusagt, unter „Fürsten“ (negidîm) zu thronen.275 Andererseits steht Hi 31,36– 37 neben dem Ausspruch von Rabbi Schimʿon in mAv IV,17(13): Es gibt drei Kronen: die Krone der Torah, die Krone des Priestertums und die Krone des Königtums; aber die Krone des guten Namens überragt sie alle.276
Mit seinem Unschuldsbekenntnis in Kap. 31 hat Hiob nicht nur die gegen ihn gerichteten Anklagen der letzten Freundesrede (22,6–9) abgewiesen und damit die Voraussetzung für eine erfolgreiche Erhörung seines Gebets (22,27) geschaffen, sondern er tritt mit der Torah an der Stirn Gott gegenüber, in der Erwartung, über ihm werde wieder Gottes Licht erstrahlen (vgl. 29,2–3), wie es Eliphas (22,28) und die Torah verheißen (Num 6,24–26; Ps 119,105.135). Wenn nun Hiob mit dieser Herausforderungsrede die von Dtn 30,9–15 vertretene Position, dass die Torah dem, der sie hält, das Leben schenkt, in Frage stellt, und er die Torah selbst als Zeugen (ʿed) gegen ihren Urheber in Anschlag (vgl. Dtn 31,24–26) bringt, dann spiegelt sich hier erneut ein kritischer Diskurs über die Rolle der Torah wider. Im Rahmen der atl. Weisheitsliteratur hebt sich hierbei die in der Hiobdichtung laut werdende Stimme charakteristisch von der Identifikation der Weisheit mit der Torah ab, wie sie sich z.B. in Sir 24 niedergeschlagen hat.277 Die LXX unterscheidet sich in V. 35–37 erheblich vom MT: So bietet die LXX hier keinen Aufruf an Gott, sondern ein Bekenntnis Hiobs, eine Vertragsurkunde (συγγραφή), möglicherweise einen Schuldschein, zerrissen zu haben. So jedenfalls hat das auf der LXX basierende TestHiob die Passage verstanden (11,11–12), wenn dort Hiob bekennt, einen gegen ihn gerichteten Schuldbrief gelesen und mit einem „Kranz der Tilgung“ versehen und nichts von seinem Schuldner genommen zu haben (vgl. Ez 18,5[6]–9; Lk 7,41–42; 16,1–9).278
Weitere hypothetische Vergehen und ihre Konsequenz Nach der allgemeinen Benennung des offenen Umgangs mit Schuld (V. 33–34), nach der gezielten Aufforderung Gottes, er möge nun endlich den torahtreuen Hiob erhören (V. 35), und nach Hiobs Erklärung, er sei für die direkte Auseinandersetzung mit Gott gerüstet (V. 36–37), wirkt ein weiteres Bekenntnis eines konkreten Vergehens deplatziert. Seit dem 17. Jh. finden sich daher die unterschiedlichsten Vorschläge, die V. 38–40a an einer anderen Stelle des
275 Zum Motiv der Herrschaft der Gerechten/Weisen vgl. Hi 36,7; Jes 60,21; Ps 37,9.22.29; SapSal 3,8; 5,16; SibOr 3,767–771; 1Hen 5,7; 96,1; 108,12; 4Q525 frgm. 2 II+3,9–10. 276 Vgl. auch bJoma 72b und die spätere Vorstellung von den drei Kronen in TestAbr B 10,8. 277 S.o. den Exkurs zur personifizierten Weisheit (S. 432–436). 278 Schaller, JSHRZ III, 335.
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Reinigungseides zu positionieren.279 Angesichts der Ergänzung des Reinigungseides zu Beginn (V. 1–3) und des Phänomens, dass die Gerechtigkeitsredaktion Texte anhängt (vgl. 24,13–25), liegt die Annahme eines Nachtrages näher.280 Zwar findet sich die Anrufung der Erde als Zeugin in einem Rechtsverfahren auch in diversen atl., altorientalischen und klassischen antiken (Vertrags-)Texten,281 doch legt V. 39 nahe, dass es nicht um eine allgemeine Anrufung der Erde geht, sondern um ein konkretes Vergehen am Ackerland.282 Hiob bekennt nun zusätzlich, dass er weder den Ackerboden noch die, die ihn bearbeiteten, noch „seine Besitzer“ (b eʿālæ̂hāh) ausgebeutet habe. Unter Letzteren sind nicht Bedürftige, die am Ackerrand Nachlese halten durften (vgl. Lev 23,22), Feldarbeiter (vgl. Dtn 24,14–15) oder Pächter gemeint,283 auch keine Schutzgottheiten des Ackers (vgl. Hi 5,23),284 sondern Vorbesitzer, von denen Hiob das Land zu einem diese zufriedenstellenden Preis erworben hat: (9–14) (Dieses Objekt) hat Yaḥṣi-Dagān, der Sohn des ʿAbda-malik von Ninurta und den Ältesten von Emar, den Besitzern des Feldes zum vollen Preis von 1 1/2 Schekel Silber (gekauft). (15–16) Diese haben das Geld in Empfang genommen, ihr Herz ist zufrieden. (Aus einer Feldverkaufsurkunde aus Emar [RE 2])285
Die zitierte Urkunde ist zwar wesentlich älter als das Hiobbuch (die spätbronzezeitliche südöstlich von Aleppo am Euphrat gelegene Königsstadt Emar ging 1187 v.Chr. unter), die vorausgesetzten rechtlichen Regelungen des Verkaufs von Land zu einem angemessenen Preis, der den Verkäufer, zumal wenn dieser aus einer Not heraus verkaufen muss, nicht ins Elend stürzt, waren jedoch grundsätzlich auch für spätere Zeiten und Regionen des Alten Orients gültig (vgl. z.B. 1Kön 21,2; Jer 32,8–9.15; Neh 5,3).286 So wehrt Hiob hier den gegen ihn erhobenen Vorwurf des Eliphas aus 22,8 ab und steht Hiob auch in der Entrichtung eines angemessenen Kaufpreises für Land nicht hinter Abraham und Jakob zurück (Gen 23,15–17; 33,19).287 Sieht man im Hintergrund von Hi 31,39 zudem die atl. Rechts- und Sozialvorstellung des Brachjahres, das 279 So ordnete z.B. Budde V. 38–40a zwischen V. 12 und V. 13 ein, Duhm zwischen V. 32 und V. 33, Driver/Gray zwischen V. 34 und V. 35 (so auch Weiser; Fohrer; de Wilde; Hartley; Clines), Hölscher zwischen V. 8 und V. 9 (so auch Pope; Rowley) oder J. Gray zwischen V. 15 und V. 16. Weitere Umstellungsvorschläge verzeichnet Clines. 280 Vgl. Strauß; Opel, Anspruch, 86f, 133f. 281 Vgl. Hi 16,18; Gen 4,10; Dtn 31,28; Ps 50,4; Jes 1,2; Mi 6,2; äg.-heth. Friedensvertrag zwischen Ramses II. und Hattusili III. § 25 (die Erde als eine Zeugin neben vielen anderen im Rahmen der Schwurgötterliste) (TUAT I, 150f); Eid von Plataiai (HGIÜ I, Nr. 40,19). 282 Vgl. äg. Totenbuch 125,35–36 (Hornung, Totenbuch, 235; (TUAT II, 511f). 283 Dazu passt aber nicht der Begriff baʿal. Clines interpretiert daher bʿl als eine Nebenform zu pʿl („arbeiten“, vgl. DCH s.v. bʿl II; Grabbe, Philology, 97). 284 Fuchs, Mythos, 186f (im Anschluss an S. Mowinckel, Psalmenstudien II. Das Thronbesteigungsfest Jahwäs und der Ursprung der Eschatologie, Kristiania 1922, 95). 285 Übersetzung von J. Tropper/J.-P. Vita, in: TUAT.NF I, 159. 286 Vgl. z.B. einen am Toten Meer gefundenen aram. Landkaufvertrag aus dem 2. Jh. n.Chr. (ATTM I, 321–323). Zur Bemessung des Wertes eines Ackers auf Basis des zu erwartenden Ertrags, nicht auf Basis der Fläche, vgl. Lev 27,16. 287 Zu Hiob als Grundbesitzer s.o. zu Hi 7,1.
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einerseits der Erholung des Bodens, andererseits der Versorgung der Armen und der Tiere dient (vgl. Ex 23,10–11), und das in Gestalt des Sabbatjahres Ausdruck der Anerkennung Jhwhs als Herrn des Landes ist (vgl. Lev 25,1– 23), dann zielt das Bekenntnis nicht nur darauf, keine unfairen Preise gezahlt zu haben (vgl. Lev 25,14–17; Neh 5,1–13), sondern auch darauf, sich nicht an Gott als dem eigentlichen Besitzer des Landes vergangen zu haben (vgl. Ps 24,1; PsSal 2,29).288 Hiob bestätigt so am Ende nochmals seine absolute Anerkennung Jhwhs als seines Gottes (Lev 25,17). Die potentielle Sanktion, dass anstelle fruchtbaren Weizens und Gerste (Dtn 8,8; Jo 1,11)289 Dornen und Unkraut (båʾšāh)290 wachsen sollen (V. 40a), zielt dann wie V. 8 auf eine Vernichtung der wirtschaftlichen Lebensgrundlage des Täters und entspricht dem Nichtigskeitsfluch in Dtn 28,18.38–42291 und den Verwünschungen der Frevler in den Reden der Freunde Hiobs (Hi 15,30–33; 18,16). Der Kolophon Die prosaische Notiz, dass die Worte Hiobs vollendet sind (tammû), kennzeichnet – ähnlich wie redaktionelle Unterschriften unter einzelnen Psalmen (vgl. Ps 72,20) oder unter prophetischen Texten (vgl. Jer 48,47; 51,64) – eine Zäsur zwischen dem originalen Reinigungseid und den später eingefügten Elihureden (Kap. 32–37). Möglicherweise steht die Notiz redaktionsgeschichtlich im Zusammenhang mit der Einfügung der Elihureden, auf die Hiob nicht mehr antworten wird.292 Sie kann aber auch noch später eingefügt worden sein, was jedoch nicht bedeutet, dass sie einfach zu streichen und nicht im Rahmen des heute vorliegenden Textes zu interpretieren sei.293 Die organische Zusammengehörigkeit der Herausforderungsreden und der ersten Gottesrede spricht dagegen, dass 31,40b das ursprüngliche Ende eines früheren Hiobbuches (ohne Gottesreden) markierte,294 auch wenn altorientalische Texte 288 Auch in der zitierten Urkunde aus Emar ist letztlich der Gott Ninurta Besitzer der Ländereien. Zur näheren Regelung des Verkaufs von Grund und Boden in Lev 25 siehe E.S. Gerstenberger, Das 3. Buch Mose. Leviticus, ATD 6, Göttingen 1993, 347–349. 289 Zu Anbau und Ernte siehe Häusl, Garten, 21–27. 290 Die genaue Identifikation der nur hier in der hebr. Bibel genannten Pflanze ist unsicher. Eine Kunstbildung nach der Wurzel bʾš („stinken“) im Sinn von „Stinkpflanze“ (vgl. akkad. buʾšu, eine stinkende Pflanze) ist nicht ausgeschlossen. Möglicherweise ist der giftige Lolch (Taumelloch, lolium temulentum) gemeint (https://www.botanikus.de/informatives/giftpflanzen/alle-giftpflanzen/ taumel-lolch/: 30.09.2020); vgl. auch ζιζάνιον in Mt 13,25–30. 291 Vgl. die aram. Inschrift von Sefire A 28–29.32–33 (KAI 222 A; TUAT I, 181); Sophokles, Oid. T. 269–271 (J.P. Brown, Israel, I, 278). 292 So Pilger, Erziehung, 46. 293 Dies betont zutreffenderweise auch Strauß, 237f, z.B. gegen Fohrer, 427. 294 So einst G.L. Studer, Über die Integrität des Buches Hiob, JPTh 1 (1875) 688–723, hier: 714–718; Volz, Hiob, 80; Baumgärtel, Hiobdialog, 1. Vgl. auch Jastrow, 71–74, der das ursprüngliche Buch auf ein Symposion Hiobs mit seinen drei Freunden beschränkte (Hi 3–27), aber die Frage offenließ, ob es noch eine abschließende Antwort Hiobs auf die (rekonstruierte) ‚dritte‘ Rede Zophars (Hi # 31,2–4; 27,7–23; 30,2–8) gegeben habe (a.a.O., 297).
31,40b
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unabhängig vom Schriftträger (Tontafel; Papyrus) sehr häufig mit vergleichbaren Kolophonen beschlossen werden können.295 Der Nachsatz beschließt die seit der Eingangsklage in Kap. 3 von Hiob ausgesprochenen Klagen, Bitten, Anklagen, Unschuldsbekenntnisse und Herausforderungen Gottes und markiert, dass menschlicherseits nun nichts mehr gesagt werden kann.296 Wenn Hiob so von seiner Seite her alles getan hat, Gott zu fürchten und vor dem Bösen zu fliehen (28,28), dann kann er jetzt nur noch schweigen. Gegen die Deutung von V. 40b als integralem Teil der Hiobrede, mit denen Hiob feierlich erkläre, dass seine Worte nun beendet seien,297 spricht die Formulierung in der 3. P. Sg. und die namentliche Nennung Hiobs. Dessen ursprünglich letztes Wort in einer Rede lautete vielmehr „ich will ihm (d.h. Gott) nahen/begegnen“ (ʾ aqār abænnû, V. 37b, vgl. Ps 65,4; 119,169). Insofern der Begriff tām aber nicht nur „beendet sein“, sondern auch „vollendet sein“ im Sinn von „vollkommen/ unschuldig sein“ bedeuten kann, ergibt sich eine Beziehung zur Charakterisierung Hiobs im Prolog des Buches (1,1) und zu den Erzählerkommentaren in 1,22 und 2,10: Hiob ist vollkommen (tām) – das weiß der Leser (vgl. 1,1), das weiß Gott (vgl. 1,8) und das weiß Hiob selbst. Nur einer wird dies jetzt noch problematisieren und damit zugleich die Frage aufrechterhalten, ob sich aus dieser Vollkommenheit auch der Anspruch eines nach menschlichen Maßstäben vollkommenen Lebens ableiten lässt: Elihu Ben Barachel (Hi 32–37).
295 Aus der Fülle des Materials vgl. z.B. den heth. Mythos vom Verschwinden und Wiederfinden der Sonnengottheit (CTH 323; TUAT III, 815) oder die demot. Erste Setnegeschichte (Hoffmann/ Quack, Anthologie, 161). Dabei werden im Kolophon häufig der Schreiber und die Textgattung genannt. 296 Weiser, 216. Vor diesem Hintergrund hält Clines Hi 31,40b im Verbund mit 38,1 für die ursprüngliche Überleitung von Hiobs Abschlussrede zur Gottesrede. 297 Vgl. Oeming, in: Oeming/Schmid, Hiobs Weg, 65.
V. Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus Andersen, R.: The Elihu Speeches: Their Place and Sense in the Book of Job, TynB 66 (2015) Literatur 75–94. – Lauber, S.: Weisheit im Widerspruch. Studien zu den Elihu-Reden in Ijob 32–37, BZAW 454, Berlin/Boston 2013. – Mende, T.: Durch Leiden zur Vollendung. Die Elihureden im Buch Ijob (Ijob 32–37), TrTSt 49, Trier 1990. – Pilger, T.: Erziehung im Leiden. Komposition und Theologie der Elihureden in Hiob 32–37, FAT II/49, Tübingen 2010. – Vermeylen, J.: „Pour justifier mon Créateur“. Les discours d’Élihou (Job 32–37) et leur histoire littéraire, in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (FS O. Kaiser), BZAW 345/II, Berlin/New York 2004, 743–773. – Ders.: Métamorphoses. Les rédactions successives du livre de Job, BEThL 286, Leuven 2015, 320–367. – Wahl, H.-M.: Der gerechte Schöpfer. Eine redaktions- und theologiegeschichtliche Untersuchung der Elihureden – Hi 32–37, BZAW 207, Berlin/New York 1993. – Witte, M.: Noch einmal: Seit wann gelten die Elihureden im Hiobbuch (Kap. 32–37) als Einschub?, BN 67 (1993) 20–25.
Ein prosaischer Prolog begründet das Auftreten Elihus und gibt programmatisch dessen Herkuft an (32,1–5). Ob diese Passage ursprünglich mit den Elihureden verbunden war oder ob diese erst bei und zwecks deren Einführung in das „erste Hiobbuch“ geschrieben wurde, ist umstritten.1 In der vorliegenden Fassung dient der Prolog als Leseanweisung für die gesamten Elihureden. Daran schließt sich ein 160 Verse umfassender, poetisch gestalteter Monolog an, der durch Einführungsformeln in 32,6; 34,1; 35,1 und (leicht abgewandelt) in 36,1 in vier einzelne Reden unterschiedlichen Umfangs gegliedert wird. Dies entspricht kompositionell den vier zuvor aufgetretenen Rednern Hiob, Eliphas, Bildad und Zophar sowie numerisch den vier (sic!) Gottesreden,2 kann aber auch so verstanden werden, dass sich die erste bis dritte Rede Elihus thematisch mit jeweils einem ,Redegang‘ (Kap. 4–14; 15–21; 22–26) auseinandersetzt und die vierte Rede als Antwort auf Hiobs Abschlussrede (Kap. 27,1–6 [27,7– 28,28; 29,1]; 29,2–31,40*) sowie als Vorbereitung der Gottesreden erscheint.3 Die langen Reden in 32,6–33,33 und 36,1–37,24 weisen jeweils zwei Teile auf (I: 32,6–22; 33,1–7 und II: 33,8–33 bzw. I: 36,1–21 und II: 36,22–37,24), so dass diese gelegentlich als je eigene Reden angesprochen werden.4 Charakteristisch für die einzelnen Reden Elihus sind ihr umfangreicher rhetorischer Eröffnungs- und Schlussteil, in dem jeweils Hiob und die drei Freunde angesprochen werden. Die Exposition der gesamten Komposition bildet der erste Teil der ersten Rede (32,6–33,7), deren zweiter Teil (33,8–33) themaVgl. Lauber, Weisheit, 178–179; 182. (I) Hi 38,1–39,30; (II) 40,1–2; (III) 40,6–41,26 und (IV) 42,7–8 (vgl. Pilger, Erziehung, 206). 3 Vgl. dazu auch J. Gray, der nach den Adressaten, an welche die Reden Elihus (primär) gerichtet seien, gliedert: (I) Hi 32,6–22 (an Hiob und die Freunde), (II) Hi 33,1–30 (an Hiob), (III) Hi 34 (an die Freunde), (IV) 35,1; 33,31–33; 35,2–36,25 (an Hiob) [zu dieser Kombination vgl. Fohrer], (V) 36,26–37,13 (Zitat eines Hymnus), (VI) 37,14–24 (an Hiob). 4 So z.B. von Wahl, Schöpfer, 45; 53, für Hi 32,6–33,33. 1 2
Aufbau und Sprachformen
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tisch die eigentlich erste Rede darstellt. Sie deutet das Leiden Hiobs als eine Erziehungsmaßnahme Gottes und entfaltet die Vorstellung von einem Engel, der zugunsten des Menschen vor Gott eintritt und seine Rechtfertigung bewirkt. Im Zentrum der zweiten Rede (Kap. 34) steht ein schöpfungs- und geschichtstheologischer Nachweis der vergeltenden Gerechtigkeit und der Freiheit Gottes, der sich, wann und wie er will, verbirgt und offenbart. Die dritte Rede vertritt pointiert die Vorstellung von der Erhabenheit des Schöpfergottes. Sie richtet die Aufmerksamkeit auf die soziale Dimension menschlicher Gerechtigkeit und auf die angemessene Reaktion auf Gottes Gerichtshandeln (Kap. 35). Die vierte Rede fasst in ihrem ersten Teil die vorangegangenen Reden zusammen (36,1–21), bietet einen Spitzensatz theologischer Leidensdeutung (36,15) und entfaltet im zweiten Teil (36,22–37,22a), der zugleich die Reden Elihus insgesamt beschließt, ausführlich den Gedanken vom gerechten Schöpfergott. Die Abschlussverse (37,22b–24) enthalten nochmals die Quintessenz aller Elihureden: ein Bekenntnis zu Gottes unfassbarer Größe, Unverfügbarkeit und Gerechtigkeit und einen Aufruf zur Gottesfurcht angesichts der letztlichen Undurchschaubarkeit Gottes (vgl. 26,14; 28,28). Die Elihureden teilen insgesamt die von den Freunden vertretene Theorie der zweiseitigen Vergeltung, die der gerecht richtende Gott garantiert, betonen aber noch grundsätzlicher die Gerechtigkeit Gottes (34,12; 36,6; 37,23). Sie sind durchgehend von der Überzeugung geprägt, dass erstens Gott absolut gerecht ist, zweitens Hiob sich gegenüber Gott, aber auch gegenüber der von den Freunden entfalteten Vergeltungstheorie im Unrecht befindet, und drittens Elihu durch seine Ausführungen Hiob argumentativ überzeugen und zu einer Rettung versprechenden Unterwerfung und Umkehr zu Gott bewegen kann. Dabei werden auch die Freunde Hiobs nicht aus der Kritik Elihus ausgespart, der seinerseits eine eigenständige Antwort auf die Fragen Hiobs geben will. Diese doppelte Stoßrichtung, gegenüber Hiob und gegenüber den Freunden, ist bei der Auslegung der Reden zu beachten. Kennzeichnend für die besondere, auf Überzeugung zielende Ausrichtung der Elihureden ist die häufige Verwendung der Wurzeln jādaʿ („wissen/erkennen“) und bîn („verstehen/ einsehen“) samt ihrer Derivate. Die wesentlichen Sprachformen der Elihureden stammen wie die der Freundesreden aus dem Bereich der Weisheit und der Psalmen. Wie in den Reden Hiobs und seiner Freunde kommen entsprechend der Betrachtung des Leidens Hiobs vor dem Hintergrund der göttlichen Gerechtigkeit auch zahlreiche juridische Begriffe zur Anwendung. Die wiederholten Aufrufe zum genauen Zuhören5 können mit einer captatio benevolentiae verbunden sein.6 Immer wieder findet sich eine Apostrophe, d.h. ein Wechsel der angeredeten Adressaten, zu denen nicht nur Hiob und seiner Freunde zählen, sondern auch diejenigen, die als
5 6
Vgl. Hi 32,10–11; 33,1.31.33; 34,2.10.16; 37,14. Vgl. Hi 32,6–7; 33,3; 34,2–4.34; 36,2–4.
Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
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Weise hörend oder lesen an dem Gespräch teilhaben.7 Insgesamt verfügen die Elihureden über eine besondere rhetorische Gestaltung, wenngleich sie weniger Metaphern aufweisen als die Reden Hiobs und seiner Freunde.8 Die Frage nach der literarischen Entstehung wird unabhängig von der über- Text- und wiegend in der Forschung seit dem 19. Jh. vertretenen Annahme, die Kap. 32–37 Literarseien grundsätzlich sekundär,9 kontrovers beantwortet. Auf der einen Seite geschichte werden die Reden als eine weitgehend literarisch einheitliche Komposition betrachtet.10 Auf der anderen Seite stehen diverse Modelle zu einem teilweise mehrstufigen Wachstum. In diesen werden inhaltliche und argumentative Differenzen zwischen den einzelnen Reden oder auch innerhalb dieser als Hinweise für unterschiedliche konzeptionelle Vorstellungen gewertet, die auf mehrere Autoren und Redaktoren führen. Die wichtigsten Vorschläge dieser Art kamen in neuerer Zeit von Theresia Mende (1990), Jacques Vermeylen (2004/2015), Tanja Pilger (2010) und Stefan Lauber (2013).11 Nach Mende wurde die Grundschicht des Hiobbuches durch den Verfasser der Elihureden (EV) im 3. Jh. v.Chr. grundlegend bearbeitet, so dass die Elihuredaktion sich im gesamten Buch niedergeschlagen hat. Auf die Redaktion des EV seien drei buchweite Bearbeitungen (B1–B3) aus der Zeit Antiochos III. und Antiochos IV. (187–164 v.Chr.) und spätere Glossierungen erfolgt. Im Bereich der Elihureden zeigten sich demnach folgende Schichten: EV: Hi 32,2–3.6–14; 33,1–15aα.b.16–30; 34,2–6.10b–15.21–24.26–29a; 36,5–7aα.b. 8–12.15.22–23; 37,23. B1: Hi 34,1.16–20.25.33; 35,2.3b; 36,1.13–14.16–21.24–33; 37,14–15.17–22. B2: Hi 32,4; 33,31–33; 34,7–10a.34–37aα.b; 35,1.3a.4–8.12–16; 37,24. B3: Hi 32,1.5.15–22; 34,29b–32; 35,9–11; 36,2–4; 37,1–3.5–12 (ohne msbwt und lpʿlm kl ʾšr jṣwm).13 Glossen: Hi 33,15aβ; 34,37aβ; 36,7aβ; 37,4; msbwt und lpʿlm kl ʾšr jṣwm in 37,12; 37.16. Für Vermeylen stellen die Elihureden eine zweischichtige Redaktion des Hiobbuches aus dem ersten Drittel des 2. Jh. v.Chr. dar. Die Grundschicht stamme vom Anfang des 2. Jh. v.Chr. (zeitgleich zu Ben Sira); auf eine Redaktion aus der Zeit zwischen 167/164 v.Chr. gingen Hi 32,4–5.6b.10.15– 16.18; 33,31; 34,7–9.10aα.16–20.25.29b–33; 35,1–12.14–15; 36,13–14; 37,1–3.5.11–13*.16 zurück.
7 Vgl. Hi 32,15–16; 36,26; 37,2.5 und dazu Lauber, Weisheit, 141–145; 188; 267, mit weiteren Beispielen, bei denen sich der Adressatenwechsel am Wechsel von der 2. P. Sg. in die 3. P. Sg. zeigt, häufig in den Psalmen, wenn von der Rede zu Gott in die Rede über Gott gewechselt wird (z.B. Ps 23), aber auch in Pred 4,17–5,6; Sir 47,12–22; 48,1–11. 8 Siehe dazu Wahl, Schöpfer, 149–152; Lauber, Weisheit, 186–189; 200–203; 219–222; 240– 242; 251–253; 264–268; 281f sowie ausführlich zur Textpragmatik der Elihureden a.a.O., 308–374. 9 Siehe dazu ausführlich S. 48–50; 55. 10 So die Mehrzahl der Kommentare und Wahl, Schöpfer. 11 Ältere Vertreter einer literarischen Schichtung der Elihureden sind Mo. Jastrow; Buttenwieser; Kraeling und W.A. Irwin, The Elihu Speeches in the Criticism of the Book of Job, JR 17 (1937) 37–47; zu ihrer forschungsgeschichtlichen Würdigung siehe Lauber, Weisheit, 35–39.
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
Nach Pilger bilden die Elihureden eine eigenständige, in sich mehrschichtige Redaktion eines bereits aus Rahmenerzählung und Dichtung bestehenden Hiobbuches. An die spätperserzeitliche Grundschicht, die nur eine Rede Elihus bot, hätten sich drei Fortschreibungen aus dem 3. Jh. v.Chr. und punktuelle Nachträge angeschlossen. Grundschicht: 1. Fortschreibung: 2. Fortschreibung: 3. Fortschreibung: Glossen:
Hi 32,1.6–10.18–22; 33,1–14.15aα.b.16–25.29–33; 36,22 23. 27–33; 37,6–14. Hi 32,11–17; 36,5–15. Hi 32,2–5; 33,26–28; 34,1–6.10–15.23–32.36–37; 36,1–4. Hi 34,16–22.33; 35,1–15; 36,16–21.24–26; 37,1–5.15–19.23–24. Hi 33,15aβ; 34,7–9.34–35: 35,16; 37,1–5 (sic!)12; 37,20–22.
Nach Lauber sind die Elihureden das Ergebnis einer redaktionellen Zusammenstellung ursprünglich eigenständiger und zunächst getrennt überlieferter Kommentare zur älteren Hiobdichtung.13 Diese in der Mitte des 3. Jh. v.Chr. im Raum einer Weisheitsschule entstandenen Kommentare spiegelten mit unterschiedlichen Weisheitskonzepten und Theologien verschiedene Reaktionen auf die Dichtung in Hi 3–31; 38–41 wider. Als solche je eigenständig entstandenen drei Kommentare erscheinen Hi 33; 34 und 35, von denen Hi 36,1–21 abhängig sei und die seitens einer ersten Redaktion mittels der Einfügungen von 32,6–22; 34,1; 35,1; 36,1; 34,29–30.31–33; 35,14–15 und 36,6 (?) kompositionell verbunden worden seien. Eine weitere Redaktion habe diese Komposition (32,6–36,21) mit 36,22–23.24–37,13.14–19 verknüpft und sei ihrerseits sukzessiv um 37,20; 37,21–22 und 37,23 ergänzt worden. Eine Art Endredaktion von Hi 32–37 habe diese Reden mittels 32,1–5 in ein „Hiobbuch“ integriert, das bereits aus Dichtung und Rahmenerzählung bestanden habe.
Gegenüber diesen sehr komplexen Entstehungsmodellen, in denen kleine inhaltliche und formale Differenzen auf unterschiedlichen literarischen Stufen zugewiesen werden, dürfte insgesamt aber nur zwischen einer Grundschicht, die im Wesentlichen Kap. 32–37 umfasste und die eine sehr facettenreiche, aber in sich stimmige Theologie bietet, und wenigen punktuellen Nachträgen (Glossen) zu unterscheiden sein. Die für eine literarkritische Schichtung in Anschlag gebrachten Argumente lassen sich in der Mehrzahl durch eine andere Übersetzung, eine andere Bestimmung des syntaktischen Verhältnisses zwischen unmittelbar aufeinander folgenden Versen, durch die Identifikation einzelner Passagen als Variation oder Verfremdung von Abschnitten in Hi 3–31 sowie durch den Aufweis der feinen Nuancierung einzelner theologischer Argumente entkräften.14 In der ursprünglichen griech. Übersetzung sind die Elihureden um 123 Stichen kürzer.15 Dadurch entspricht ihr Umfang ungefähr dem der Gottesreden im OG. Des Weiteren erscheint in der LXX Hi 32,17 als eine prosaische Redeeinleitung, so dass Elihu (LXX: Elius) nun fünf Monologe hält. Kompositionell verschiebt sich damit die oben für den MT genannte Korrespondenz: die Hi 37,1–5 wird von Pilger, Erziehung, einmal der dritten Fortschreibung zugewiesen, einmal der vierten (a.a.O., 249 bzw. 131; 136). 13 Vgl. in diesem Sinn grundsätzlich schon H.H. Nichols, The Composition of the Elihu Speeches, AJSL 27 (1911) 97–186. 14 So auch Wahl, Schöpfer, 109 u.ö., Strauß, 267; 325–327 – gegen Lauber, Weisheit, 167–182. 15 Siehe dazu ausführlich Gorea, Job repensé, 153–195. 12
Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
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erste Rede Elihus/Elius (32,6–16) erscheint nun als eine Antwort auf den ersten ,Redegang‘ (Kap. 4–14), die zweite Rede (32,17–33,33) als eine Antwort auf den zweiten ,Redegang‘ (Kap. 15–21), die dritte Rede (34,1–37) als eine Antwort auf den dritten ,Redegang‘ (Kap. 22–26), die vierte Rede (35,1–16) als eine Antwort auf Hiobs erste Abschlussrede (Kap. 27–28) und die fünfte Rede (36,1–37,24) als eine Antwort auf Hiobs zweite Abschlussrede (Kap. 29–31). Als Parallele zu der Notiz in 31,40, die das Ende der Reden Hiobs markiert, bietet LXX über den hebr. Text hinausgehend in 38,1 die Wendung μετὰ δὲ τὸ παύσασθαι Ελιουν τῆς λέξεως („Nachdem aber Elius mit der Rede aufgehört hatte“). Damit werden die Elihu-/Eliusreden zum einen inhaltlich und formal als „Rede“ (λέξις) klassifiziert,16 zum anderen wird der Block dieser Reden stärker in das Buch eingebunden, als das in der hebr. Fassung der Fall ist. Inhaltlich ist im OG die theologische Komplexität der Elihureden vermindert. Die Position Elihus ähnelt stärker als im MT der der Freunde. Die Leidenstheologie ist auf den Aspekt der Disziplinierung durch das Leiden verdichtet und die Umkehrtheologie vermindert. Durch die Ergänzung der in der freien und kreativen Übersetzung des OG ursprünglich fehlenden Stücks aus der sehr wörtlichen Übersetzung des Th erscheint die Argumentation Elihus/Elius in LXX weniger klar und stringent als im MT.17
16 Vgl. Hi 36,2; 38,1; Aristoteles, rhet. 1408b,21; 1414a,8.18. Zum Aufbau einer λέξις in der klassischen Rhetorik siehe H. Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, Ismaning 101990, § 449–452. 17 Vgl. dazu Konkel, Elihu Speeches, 135–157.
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
Hi 32,1–5 Der Prolog der Elihureden ER
1 Und diese drei Männer hörten auf, Hiob zu antworten. Denn er1 war gerecht in seinen Augen2. 2 Da entbrannte der Zorn des Elihu3, des Sohnes des Barachel, des Busiters aus der Sippe Ram. Über Hiob entbrannte sein Zorn, weil dieser sich selbst für gerecht hielt vor4 Gott. 3 Und über dessen drei Freunde entbrannte sein Zorn, deswegen weil sie keine Antwort5 gefunden und so Gott6 zu einem Frevler erklärt hatten. 4 Elihu aber hatte gegenüber Hiob mit Worten7 gewartet. Denn jene waren älter als er an Lebenstagen. 5 Als Elihu sah, dass im Mund der drei Männer keine Antwort war, da entbrannte sein Zorn.
Text- und In 4QHia sind wenige Wörter aus 32,3–4 erhalten, die, abgesehen von einer Literar- orthographischen Variante, dem MT entsprechen. 11QTgHi bietet fragmengeschichte tarisch Äquivalente zu 32,1–3, charakterisch ist die Wiedergabe der Sippenbezeichnung Elihus rām (V. 2) mit dem Namen rwmʾh, womit auf die Nebenfrau Nachors, Reuma/Ruma (r eʾumāh, ῾Ρουμα, vgl. Gen 22,24; Josephus, ant. Iud. 1, 153 [6,5]), weniger wahrscheinlich auf das in Jos 15,52 und 2Kön 23,36 (vgl. Josephus, bell. Iud. 3, 233 [7,21]) erwähnte Dorf Ruma (Kh. er-Rumeh),8 angespielt sein könnte. In LXXZi sind die V. 4b–5 asterisiert. Wie sich bei der Auslegung zeigen wird, dürfte der Prolog aus einer Grundschicht (V. 1.2aα.5) und einer Erweiterung (V. 2aβ.b–4) bestehen, aber nicht gänzlich ein späterer Zusatz zu einem Grundstock der Elihureden sein.9
11QTgHi: „Hiob“ (so auch LXX; La). HsK248 und Syr lesen „in ihren (d.h. der Freunde) Augen“, was teilweise als ursprünglich betrachtet wird (vgl. Hölscher; Strauß). Auch in der Überlieferung der LXX und des Sym finden sich beide Lesarten (vgl. LXXZi; Meade, Edition, 205). 3 Die Orthographie des Namens Elihu schwankt ohne Bedeutungsunterschied zwischen ʾ ælîhû (32,4; 35,1) und ʾ ælîhûʾ (32,2.5.6; 34,1; 36,1; 4QHia frgm. 2 zu 32,4). 4 Wie in Hi 4,17 ist die Präpostion min hier im Sinn des Gegenübers zu Gott gebraucht (vgl. LXX; Vg; 35,2; G/K § 133b), nicht zur Angabe eines Komparativs („gerechter als Gott“, so aber Waltke/O’Connor § 24.2g; Clines). 5 11QTgHi: „Worte“. 6 Die masoret. Lesart „Hiob“ stellt eine frühe Schreiberkorrektur dar (vgl. die textkritische Anm. zu Hi 7,20), die allerdings in ihrer Authentizität umstritten ist (CTAT 50/5, 304). Ursprünglich ist wohl hāʾ ælohîm „Gott“ zu lesen (vgl. Fohrer; J. Gray). Hingegen bleiben Weiser; Strauß und Clines beim MT, vgl. Lauber, Weisheit, 45f, der die Negation loʾ aus V. 3a auch auf V. 3b bezieht („und [sie] ihn nicht des Unrechts überführten“). 7 So mit dem MT. Dagegen folgt Weiser BHK und liest b edabberām „als/während sie redeten“. 8 So DJD, XXIII, 126. B.Z. Wacholder, Review: Le targume de Job de la grotte XI de Qumrân, JBL 91 (1972) 414–415, mutmaßt eine Anspielung auf Rom; siehe kritisch dazu schon A.D. York, זרע רומאהas an Indication of the Date of 11QtgJob?, JBL 93 (1974) 445–446. 9 Letzteres vermutet Lauber, Weisheit, 178f; 182; 190f. 1 2
Hi 32,1–5 Der Prolog der Elihureden
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Der Zorn Elihus Ausgangspunkt für die Reden des Elihu ist das Verstummen der Freunde (V. 1a). Dabei ist zu überlegen, ob V. 1 noch auf die den Elihureden vorlaufende Buchredaktion zurückgeht. Für diese Annahme könnte die Parallele zwischen V. 1b und den Erzählerkommentaren in 1,22 und 2,10 sprechen. Der eigentliche Prolog der Elihureden würde dann in 32,2 einsetzen. Dass zwischen 32,1 und 32,2 ein gedanklicher Einschnitt liegt, haben bereits die ältesten Tradenten gespürt. 11QTgHi hat zwischen 32,1 und 32,2 eine volle Leerzeile und markiert den Neueinsatz in 32,2 mit dem Wort ʾdjn („dann“) deutlicher als der MT mit wa („und“). Ebenso haben die Masoreten 32,1 gegenüber 31,40 und 32,2 als eine eigene Einheit abgegrenzt.10 Gegen die literargeschichtliche Rückführung von V. 1 auf die Buchredaktion spricht aber, dass in 2,11–13 die Gesprächspartner Hiobs gerade nicht als „Männer“ (ʾ anāšîm V. 1, vgl. V. 5; 37,24),11 sondern als „Freunde“ (reʿîm) bezeichnet werden. Nach der masoret. Gestalt von V. 1 geben die Freunde wegen der Selbstgerechtigkeit Hiobs resigniert auf und schweigen.12 Dies ruft den Zorn Elihus hervor (V. 2–3). Dessen Bezugspunkte sind einerseits die Unschuldsbekenntnisse Hiobs in 6,24–25 und 9,21 sowie insbesondere in 27,5–6 und 31,1–40, andererseits die Theologumena der Niedrigkeitsredaktion in 4,17; (9,2); 15,14; 25,4. Eine dritte Begründung für das Auftreten Elihus ist durch eine alte Schreiberkorrektur in V. 3b verwischt.13 Ursprünglich dürfte hier anstelle von Hiob „Gott“ (hāʾ ælohîm) gestanden haben: Elihu tritt auch auf, weil die Freunde Hiob nicht widerlegen konnten, so dass sie nun, wenn auch ungewollt, Gott selbst ins Unrecht setzten (vgl. 13,7–12), wörtlich Gott als einen Frevler (rāšāʿ) erscheinen ließen, mithin theologisch defizitär redeten.14 Zwar entspricht die Kennzeichnung Hiobs als rāšāʿ der Tendenz der Reden der Freunde, zumal im zweiten Redegang. Dennoch deutet die Intention und Argumentation der Elihurede darauf hin, dass sich die Kritik Elihus genau darauf bezieht, dass die Freunde letztlich Gott als Frevler erscheinen ließen (vgl. 32,13; 34,17). Leitend für den Prolog ist das Motiv des Zornes, das in den fünf Versen viermal auftaucht und den Abschnitt rahmt (V. 2aα.2aβ.3a.5b). Über dieses Motiv sind auf der Ebene des ,Endtextes‘ die Elihureden mit dem Epilog des Buches verknüpft: So präfiguriert der Zorn Elihus über Hiob und seine Freunde den Zorn Jhwhs über Eliphas und seine beiden Freunde Bildad und Zophar in 42,7 (vgl. 4,9). Das vierfache Auftreten dieses Motivs entspricht den vier Reden EliSo hat z.B. der CodA vor und nach Hi 32,1 eine Leerzeile, der CodL bietet vor V. 1 ein großes Spatium und nach V. 1 eine Leerzeile; vgl. dazu auch Kutsch, Textgliederung, 224; Strauß. 11 Dagegen spricht die LXX auch in Hi 32,1 von Freunden. 12 Die Variante, der zufolge Hiob in ihren (d.h. der Freunde) Augen gerecht gewesen sei (vgl. die Anm. zur Übersetzung) entspricht tendenziell der jüngeren Kennzeichnung Hiobs als „gerecht“ im LXX-Überschuss in Hi 1,1. 13 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 14 Vgl. zu ršʿ (Hif.) im Sinn von „zu einem Frevler erklären/schuldig sprechen“ Hi 9,20; 10,2; 34,17.29; 40,8. 10
32,1–5
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
hus; der doppelte Gegenstand von Elihus Zorn, die Freunde und Hiob, korreliert mit dem doppelten Adressaten seiner Reden.15 Diese Zweipoligkeit zieht sich durch alle Reden Elihus, der sich mit Positionen beider Seiten argumentativ auseinandersetzt und nicht einseitig nur Hiob kritisiert. Allerdings könnte die Vervierfachung des Zornesmotivs auch erst auf eine Nachbearbeitung zurückgehen. So deutet die Inversion in V. 2aβ.b–3 auf einen Nachtrag zu V. 2aα hin, der ausdrücklich die Szene vom Zorn Gottes über die Freunde Hiobs in 42,7–9 thematisiert. Für die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von V. 1–2aα und V. 5 könnte die parallele Formulierung des Zornesmotivs ohne zusätzliche Nennung des Objekts wie in V. 2aβ.3 (b e-) sprechen, wobei die Begründung des Zorns jeweils in einem mit kî eingeleiteten Satz vorangeht (V. 1b bzw. V. 5). Zu dem Einschub wäre dann aufgrund der Abhängigkeit von V. 4b von V. 3 auch der gesamte V. 4 zu zählen. Dafür, dass in V. 4 eine andere Hand vorliegt, könnte auch die gegenüber V. 2 und V. 5 variierte Schreibweise des Namens „Elihu“ sprechen (vgl. auch 32,6, 34,1 und 36,1 gegenüber 35,1). Dementsprechend ließen sich V. 1.2aα.5 auf die Grundschicht der Εlihureden zurückführen, V. 2aβ.3–4 hingegen auf eine Hand, welche die Elihureden noch weiter an das „erste Hiobbuch“ angepasst bzw. in dieses eingefügt hat.16 Dass der Zorn Elihus über die mangelnde Antwortfähigkeit der Freunde entbrennt (32,3aβ.5), erklärt sich vor dem Hintergrund der weisheitlichen Überzeugung, dass eine sanfte Antwort Grimm beruhigt, während ein kränkendes Wort Zorn aufkommen lässt (Spr 15,1). Weil die Freunde ihrer Aufgabe als Weise und als Tröster nicht gerecht wurden (vgl. Spr 15,23), erscheint der Zorn Elihus gewissermaßen als „heiliger Zorn“ in Entsprechung zu Gottes Zorn über das Unrecht (vgl. Hi 42,7; Spr 7,15) berechtigt und steht nicht im Widerspruch zum atl. und altorientalischen Ideal des Weisen.17 Elihu erscheint als ein Pendant zu Mose, dessen Zorn über das von Jhwh abgefallene Israel entbrennt (Ex 32,19), und zu dem für Jhwh eifernden Pinhas (vgl. Num 25,7–12; Sir 45,23–25). Programmatisch sind die Namen Elihus in V. 2: Elihu, d.h. „Mein Gott ist er“, ist ein Sohn von Barachel, d.h. „Gott segnet“, der Buziter aus der Sippe Ram, d.h. „Gott ist erhaben“. Diese Genealogie ist literarisch konstruiert, auch wenn sie echte Namen verwendet und mit der Angabe von Name, Vatersname, Stamm und Geschlecht konventionell ist (vgl. Tob 5,11–14). So handelt es sich bei „Elihu“ um einen geläufigen semitischen Personennamen. Inschriftlich ist er z.B. auf einem hebr. Ostrakon aus Arad aus dem 8. Jh. v.Chr. nachgewiesen.18 In der Form hwil kommt dieser Name in Texten aus Ugarit vor; in der Form ilušuma ist er im Akkadischen belegt. Im Kontext der Jhwh-Verehrung ist er ein Bekenntnis zu dem allein wahren Gott.19 Die LXX transkribiert – mit leichten orthographischen Varianten – zumeist als Ελιους, Ελιου, Ηλιου oder Ελιμουθ, Vgl. Hi 32,7–22; 34,1–15; 37,2; 37,24 bzw. 33,1–33; 34,16–37; 35,2–16; 36,2; 37,14; 37,19. Vgl. Pilger, Erziehung, 52, die allerdings V. 2–5 insgesamt für sekundär hält. 17 Zum Zorn als Kennzeichen des Toren vgl. Spr 22,24; 29,22 sowie zum „Zorn Elihus“ Pilger, Erziehung, 181: „Die zornige Erregung wird … zu einem integralen Wesensmerkmal einer weisen Person.“ 18 Arad (8):69,4 (HAE II/1, 59). 19 Vgl. Dtn 32,39; Jes 43,10; Jes 43,13; Jes 48,12; Ps 102,28. 15 16
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die Vg schreibt durchgehend Heliu, Luther mitunter Heliud. Im AT tragen neben dem Gesprächspartner Hiobs vier weitere Figuren diesen Namen: erstens der ephraimitische Urgroßvater Samuels (1Sam 1,1), der in 1Chr 6,12 als Eliab („Mein Gott ist Vater“) und in 1Chr 6,19 als Eliël („Mein Gott ist El/ Gott“) erscheint, zweitens ein Häuptling aus Manasse, der David unterstützte (1Chr 12,21), drittens ein korachitischer Torwächter (1Chr 26,7) und viertens ein Bruder Davids (1Chr 27,18), der in 1Sam 16,6 und 2Chr 2,13 unter dem Namen Eliab begegnet. Der im AT nur in Hi 32,2.6 gebrauchte, aber ebenfalls gut vorderorientalische Name Barachel (aram. brkʾl, akkad. ba-ri-ki-ilu; safatenisch brkʾl) steht als Ausdruck des sich in der Geburt eines Kindes realisierenden Segens Gottes, vergleichbar dem Namen Berechja (bærækhjāh/û, „Jhwh hat gesegnet“).20 Die Verwendung dieses Patronyms verdeutlicht das Profil der Figur Elihus im Hiobbuch, insofern damit ein Leitwort des Prologs (vgl. bārak in 1,5.10–11; 1,21; 2,5.9; 42,12),21 andererseits ein Schlüsselbegriff aus Dtn 28 aufgenommen ist. So bezeugt Elihu mit dem Namen seines Vaters das Fortwirken des Segens Gottes, den Hiob durch sein Schicksal in Frage gestellt sieht. Aufschlussreich ist auch das Gentilizium „der Busiter“ (ha-bûzî): Bus (bûz) erscheint einerseits in der Genealogie des Nahor (Gen 22,20–21) als Bruder des Uz (ʿûṣ) dem Eponym des mutmaßlichen „Heimatlandes“ Hiobs (Hi 1,1), und des Kemuël, des „Vaters Arams“ (Gen 22,21b). In Jer 25,23 hingegen steht Bus neben den arabischen Ortslagen Tema und Dedan und bezeichnet einen ostarabischen Stamm oder Landstrich. Mit der Herkunft Elihus aus Bus wird unabhängig von der genauen Lage eine besondere Nähe zu Hiob aus Uz angedeutet (vgl. Hi 33,6). Eine über den MT hinausgehende Notiz der LXX in V. 2 lässt Elihu wie Hiob „aus der Ausitis“ kommen (vgl. 1,1 LXX), die nach einem nur in LXX vorliegenden Epilog in Hi 42,17b an der Grenze von Idumäa und Arabien liegen soll. Bei dem jüdisch-hellenistischen Exegeten Aristeas erscheint Elius als Ζωβίτης (Sobiter), was wohl in Βωζίτης (Bositer = Busiter) zu korrigieren ist.22 Liest man die Herkunftsbezeichnung „der Busiter“ vor dem Hintergrund des einzigen atl. Belegs neben Hi 32,2 in Ez 1,3, so erscheint Elihu als Verwandter des priesterlichen Visionärs Ezechiel (j eḥæzqeʾl „Gott stärke/stärkte“). Für den Leser, der das Ezechielbuch und seine wichtigsten Themen kennt, wird so schon im Prolog der Charakter Elihus als einem von Gott prophetisch inspirierten Tröster und Mahner der Gerechtigkeit angedeutet. Andererseits lässt sich das Nomen bûz mit der Verbalwurzel bûz „geringschätzen“ (vgl. Hi 12,5.21; 31,34 [!]) verbinden, die in weisheitlichen Sentenzen im Zusammenhang der Gegenüberstellung des Weisen 20 Vgl. 1Chr 6,24; 1Chr 15,17; 2Chr 28,12; Sach 1,7; inschriftlich: Gar (7): 1,1 (HAE I, 251f); Arad (6): 22,1 (HAE I, 388); Siegel Nr. 2.26 – 2.31 (HAE II/2, 177f). Auch im judäischen Murašu- Archiv aus Nippur (455–403 Jh. v.Chr.) und in den judäischen Dokumenten aus Al Jahudu (572– 477 v.Chr.) begegnet dieser Name mehrfach (vgl. M.D. Coogan, West Semitic Personal Names in the Murašu Documents, HSM 7, Missoula 1976, 16f, bzw. Pearce/Wunsch, Documents, 44 [Nr. 52:1, 4 u.ö.]). Die LXX transkribiert Βαραχιηλ. 21 Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Einfügung der Elihureden erst nach der Buchredaktion erfolgte s.o. S. 55; 58. 22 N. Walter, Fragmente jüdisch-hellenistischer Exegeten: Aristobulos, Demetrius, Aristeas, JSHRZ III, 296.
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und des Toren bzw. des Frommen und des Gottlosen gebraucht wird (Spr 12,8; 18,2–3; 23,9; Ps 31,19): Der Tor (kesîl) hat keine Lust an Einsicht, sondern nur am Entblößen seines Herzens. Wenn ein Gottloser (rāšāʿ) kommt, kommt auch Geringschätzung (bûz), und bei Schande ist auch Spott. (Spr 18,2–3, vgl. auch bûz in Spr 1,7 und in 11,12 sowie ḥærpāh in Hi 19,5)
Ram ist als Sippenname im AT nicht mehr belegt, sondern findet sich nur als Personenname für den Sohn des Judäers Hezron, des Sohnes des Perez (Rut 4,19; 1Chr 2,9–10), und für einen Judäer aus der Sippe Jerachmeel (1Chr 2,25.27). Für eine genaue geographische Einordnung Elihus trägt auch der Sippenname nichts aus.23 Wertet man ihn gemäß Rut 4,19 und dem Nachspann in der Hiob-LXX (42,17c) genealogisch aus, erscheint Elihu auf der Stufe der Enkelgeneration Hiobs, was seiner Kennzeichnung als jungem Mann in Hi 32,6 entspricht. Im rabbinischen Targum wird der künstlich gebildete Sippenname Ram auf der Basis von Gen 22,21, wo Buz als Neffe Abrahams erscheint (vgl. Gen 11,26–27.29), als Bezeichnung für Abram/Abraham interpretiert (vgl. TgHi zu 14,18), wodurch die Nähe Elihus zu Hiob unterstrichen und dessen Rechtgläubigkeit betont wird. Eleazar b. Azarja identifiziert Elihu aufgrund der Auflösung der Epitheta bæn barakʾel („Sohn des Barachel“) als bæn šæbber akô ʾel („Sohn, den Gott gesegnet hatte“, vgl. Gen 26,12) und rām als ʾabrām (Abram, vgl. Gen 17,5) mit Isaak, der, als er auf dem Altar zum Opfer gebunden war, alle Götzentempel verächtlich erscheinen ließ (vgl. die Verbalwurzel bûz „verachten“).24 Schließlich trifft sich der Name Ram mit hymnischen Prädikationen Gottes als des schlechthin Erhabenen (Ps 113,4; 138,6; Jes 57,15): 15 Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der ewig wohnt, dessen Name heilig ist: Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf dass ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen. 16 Denn ich will nicht immerdar hadern und nicht ewiglich zürnen; … (Jes 57,15–16a LB)
Das bisherige Schweigen seines Helden begründet der Elihuprolog schließlich mit dem Hinweis auf das geringere Alter (Hi 32,4, vgl. V. 6). Denn gemäß der antiken und altorientalischen Gesellschaftsordnung orientiert sich die Redefolge der an einem Gespräch Beteiligten an ihrem Alter (32,6aβ–10).25 So beginnt Elihu erst dann zu reden, als die Freunde Hiobs nichts mehr zu entgegnen wissen. 23 Dagegen versteht Cornelius, 289, den Namen Ram (rām) gemäß Gen 22,21 als Hinweis auf Aram (ʾarām) bzw. die Aramäer. 24 Zitiert bei W. Bacher, Die Agada der Tannaiten, I, Von Hillel bis Akiba, Straßburg 21903, 225; siehe dazu auch R. Weiss, תרגום, 257. 25 Vgl. Hi 8,8–10; 15,10; 30,1; Sir 6,34 (G); 32,7–9; Lev 19,32; Lehre d. Amenemope 4,5–7 (TUAT.NF VIII, 331). Zur Wertschätzung des Alters siehe auch Platon, leg. 879b–c und Ps-Phok 22 sowie zur Sache Lux, Baum des Lebens, 136–148.
Hi 32,6–33,33 Die erste Rede Elihus
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Hi 32,6–33,33 Die erste Rede Elihus 32,6 Und Elihu, der Sohn des Barachel, des Busiters, hob an und sagte: ER 7 8 9 10
Jung bin ich an Lebenstagen, und ihr seid Greise. Deshalb hatte ich Angst1 und fürchtete mich, euch mein Wissen kundzutun. Ich dachte: Die Betagten sollen reden, und die Menge der Jahre tue Weisheit kund. Doch der Geist Els2 ist im Menschen, und der Atem Schaddajs verleiht ihm3 Einsicht. (Auch) Nicht-Betagte können weise sein, und Nicht-Alte können das Recht wahrnehmen.4 Deshalb sage ich: Hört5 auf mich, ich will mein Wissen6 kundtun, ja ich!
11 12
Siehe: Ich wartete7 auf eure Reden, wollte euren großen Verstand8 zu Ohren bekommen.9 Bis ihr die Worte erforscht hattet, da achtete ich genau auf euch.10 Aber, siehe: Für Hiob gab es niemanden, der zurechtwies, niemanden unter euch, der auf seine Worte antwortete.
1 So unter der Annahme einer Wurzel zḥl II (aram. dḥl) mit der Bedeutung „Angst haben“ (vgl. Ges17; KAHAL; DCH), in diesem Fall liegt in V. 6b ein Hendiadyoin vor (vgl. Bobzin, Tempora, 404); anders Ges18 nach arab. zaḥala „ich verkroch mich“ (vgl. zḥl I in Dtn 32,24; Mi 7,17; Fohrer). 2 Anstelle von rûaḥ-hîʾ „der Geist ist es“ (so Weiser) bzw. „Geist – er ist“ (Lauber, Weisheit, 47) lies rûaḥ-ʾel oder rûaḥ-ʾ ælô ah; auf diese Lesart führen einige Hss und Sym, die rû aḥ-hûʾ bieten, insofern hûʾ (er selbst/er) als (Ersatz für) eine ausdrückliche Gottesbezeichnung gebraucht werden kann (vgl. BHK; Hölscher). J. Gray setzt dementsprechend jhwh ein, doch ist der Gebrauch des Tetragramms auch in den Elihureden sonst nicht nachgewiesen (siehe die Anm. zu Hi 12,9). 3 Wörtl.: „ihnen“ (d.h. die Menschen, bezogen auf das Kollektivum ʾ ænôš). 4 Zum Bezug der Negation loʾ, die auch auf das zweite Kolon ausstrahlt, auf rabbîm „Alte“ (vgl. in diesem Sinn Gen 25,23; DCH s.v. rab I.6) und auf z eqenîm anstelle auf die Prädikate (so Weiser) siehe Lauber, Weisheit, 47; sachlich ähnlich Clines: „es sind nicht nur die Alten oder die Ergrauten“). 5 Zur Pluralfunktion des Adhortativs in der Poesie vgl. Lauber, Weisheit 47. Zwei Hss bieten den kontextuell passenden Plural šimʿû (vgl. auch LXX; Syr; Vg). 6 11QTgHi: „meine Worte“ (ebenso in Hi 32,17). 7 11QTgHi: „ich hoffte“ (sbrt). 8 Bei tebûnotêkæm handelt es sich um einen Intensiv-Pl. 9 Zur Problematik der Tempora in V. 10–17 siehe Bobzin, Tempora, 407–410. 11QTgHi bietet in V. 11aβ.b zusätzlich erläuternd die Wörter tsjpwn und swp „ ... ihr beendetet ... bis ihr ausforschtet das Ende ...“. 10 Gegen die masoret. Versteilung bilden wohl V. 11b.12aα ein Bikolon.
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
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Dass ihr (jetzt) nur nicht11 sagt: „Wir haben Weisheit gefunden, El soll ihn wegwehen12, kein Mann.“ Aber an mich hat er keine Worte gerichtet, und mit euren Sprüchen will ich ihm nicht erwidern. Erschrocken sind sie, sie antworten nicht mehr, die Worte sind ihnen13 ausgegangen.
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Aber soll ich noch warten,14 weil sie nicht reden, weil sie dastehen und nicht mehr antworten? So will auch ich, ja ich, meinen Teil antworten, ich will mein Wissen15 kundtun, ja ich! Denn ich bin angefüllt mit Worten, und der Geist drängt mich in meinem Innern. Siehe: Mein Inneres ist wie Wein, der nicht geöffnet ist, der wie (aus) neuen Schläuchen hervorsprudelt.16 Ich will reden und und mich (so) erleichtern, ich will meine Lippen öffnen und antworten. Aber ich will niemanden begünstigen17 und keinem Menschen einen Ehrennamen geben.18
Zum elliptischen Gebrauch von pæn vgl. Dtn 29,17; Jer 51,46; Sir 15,12 (HA). Anstelle von jiddepænnû liest HsK245 jæhdepænnû „er stoße ihn weg“ (vgl. Hi 18,18) und HsK207 jirdepænnû „er verfolge ihn“ (vgl. Hi 13,25b). 11QTgHi bietet die Lesart ḥjbnʾ „er (d.h. Gott) hat uns für schuldig erklärt“ (vgl. Sokoloff, Targum, 69; 129; CTAT 50/5, 307 – anders DJD XXIII, 128, und ATTM I, 291: „den wir für schuldig erklärten“). Dies könnte auf die mittelhebr. und aram. belegte Wurzel nzp „drohen/einen Verweis geben“ hindeuten, so dass hier möglicherweise ndp II oder eine Form von gdp (Piel „schmähen“, vgl. Sir 48,18 [HB]) anzunehmen wäre. Allerdings spricht die Parallele zu Hi 13,25a dafür, bei ndp I „verwehen“ zu bleiben, und zwar im eigentlichen Sinn des Verjagens, nicht nur des Widerlegens. Damit erübrigt sich auch die Änderung in jallepenû „er lehrt uns“ (vgl. Hi 35,11; Dhorme; Hölscher). 13 11QTgHi: „ich hielt [Worte] zurück“ (nṭrt). 14 w ehôḥāltî ist wohl ein Pf. consec. in fragendem Sinn; hingegen versteht Bobzin, Tempora, 407f, alle AK-Formen in V. 16 präterital. 15 11QTgHi: „meine“ Worte (vgl. Hi 32,10). 16 V. 19b ist sowohl lexikalisch als auch grammatisch problematisch. Die hier gebotene Übersetzung folgt der Annahme eines hap. leg. ʾôb I/II (vgl. KAHAL; DCH – hingegen bleibt Ges18 bei einer Wurzel ʾôb „Grube“) und geht davon aus, dass nach der Vergleichspartikel ke die eigentlich zu erwartende Präp. min „aus“ ausgelassen ist (vgl. J/M § 113h; Lauber, Weisheit, 51f). BHK erwägt anstelle von jibbāqe aʿ, das sich weder ungezwungen auf das Fem. bæṭæn noch auf den Pl. ʾobôt beziehen lässt (vgl. aber CTAT 50/5, 311; Hartley; Strauß), j ebbaqe aʿ „er (d.h. der Wein), lässt platzen“ zu lesen (vgl. Bobzin, Tempora, 411); umfangreichere Änderungen nimmt J. Gray vor (k enoʾdôt tîrôš jibqaʿ „wie Schläuche, die neuer Wein sprengt“), Clines bezieht die Verben unmittelbar auf das Innere, nicht auf den Wein bzw. die Weinschläuche. 17 Wörtl: „das Angesicht von jemandem heben“. 18 Zumeist wird knh mit „schmeicheln“ übersetzt, doch spricht die Kontrastierung von Gott und Mensch eher für die obige Übersetzung (vgl. Jes 44,5; 45,4; Sir 36,12(17) [HB]/36,11(14) [G]); 47,6 [HB]; Strauß). 11 12
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22 Denn ich verstehe mich nicht darauf, einen Ehrennamen zu geben,19 wie schnell höbe mich sonst mein Schöpfer hinweg. 33,1 Aber höre doch, Hiob, meine Worte, und alle meine Reden bekomme zu Ohren. 2 Siehe doch, ich öffne meinen Mund, meine Zunge redet in meinem Gaumen. 3 Mein Herz wird Worte des Wissens bekennen,20 meine Lippen reden lauter. 4 Der Geist Els hat mich gemacht, und der Atem Schaddajs hält mich am Leben21. 5 Wenn du kannst, dann erwidere mir! Lege22 vor meinem Angesicht dar und stell dich vor mir auf. 6 Siehe, ich bin wie23 du für El, von Ton bin auch ich abgekniffen24. 7 Siehe: Schrecken vor mir soll dich nicht überfallen, und meine Hand25 soll dich nicht belasten. 8 Doch du hast in meine Ohren gesagt, und so hörte26 ich die Stimme der Worte: 9 „Rein bin ich, ohne ein Vergehen, sauber27 bin ich gewiss und ohne Schuld.28
19 Zur Konstruktion von jādaʿ mit asyndetischem Objektsatz vgl. Hi 23,3MT (Brockelmann, Syntax 143a; J/M, § 157b). 20 Anstelle von jošær-libbî ʾamārāj w edaʿat „Aufrichtigkeit meines Herzens sind meine Worte, und Wissen ...“ lies aus Gründen des Parallelismus jāšer libbî ʾimrê dāʿat, allerdings setzt dies die Annahme einer hebr. Wurzel šrr nach syr. šr „die Wahrheit sagen/bestätigen“ voraus (vgl. DCH s.v. šrr IV/VII; Hölscher); dagegen konjiziert Fohrer zu jāšiq „es fließt über“ und J. Gray zu ješ b elibbî „es gibt in meinem Herzen“. Der MT, dem Weiser folgt, ist wohl durch die Wendung jošær-lebāb bedingt (vgl. Ps 119,7; Dtn 9,5; 1Chr 29,17, doch vgl. auch Spr 19,27). 21 Anders als der MT (t eḥajjenî) bietet die LXX hier mit „der mich lehrt“ eine Parallelformulierung zu Hi 32,8, die möglicherweise auf die Lesart tḥwnj/teḥawwenî zurückgeht. 22 Elliptisch für „Worte vorlegen“, vgl. Hi 32,14; 37,19. 23 Zur Verstärkung der Vergleichspartikel ke mittels pî siehe Brockelmann, Syntax §109f; Ges18. 24 Das Verb qrṣ bezeichnet wie akkad. karāṣu das Abkneifen des Lehms als Arbeit des Töpfers, nicht das Formen (so aber Strauß). 25 Das hap. leg. ʾækæp ist wohl eine Nebenform zu kap (vgl. Hi 13,21; LXX; KAHAL; DCH) und nicht von der Verbalwurzel ʾkp „drängen“ im Sinn von „Druck“ abzuleiten (vgl. Ges18; DCH/ CDCH). 26 Zur Verwendung der PK als Tempus der Vergangenheit mit modalem Nebensinn vgl. Hi 38,17.22 und dazu J/M § 113o; Bobzin, Tempora, 415f. 27 11QTgHi gibt das hap. leg. ḥap mit dem geläufigeren nqʾ/nqj (und zusätzlicher Kopula) wieder. 28 Gegen die masoret. Akzentuation, die den Atnach unter ʾānokî (v.l. ʾānî) gesetzt hat, gehört die Wortfolge ḥap ʾānokî zum zweiten Kolon; dementsprechend hat der CodA nach pāšaʿ ein Spatium (vgl. BHK: BHS).
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10 Siehe,29 Anlässe30 findet er gegen mich, er hält mich für seinen Feind, 11 legt meinen Fuß in den Block, beobachtet alle meine Wege.“31 12 Siehe: Darin bist du nicht im Recht, ich muss dir antworten.32 Ja, Gott ist größer als der Mensch. 13 Warum streitest33 du gegen ihn? „Ja, auf keines meiner Worte antwortet er.“34 14 Doch auf eine Weise pflegt El zu reden und auf eine zweite Weise, (nur) erblickt man es nicht. 15 Im Traum,35 dem36 nächtlichen Gesicht, wenn Tiefschlaf auf die Männer fällt, im tiefen Schlummer auf dem37 Lager: 16 Da38 öffnet er dann das Ohr39 der Männer, und mit Gesichten schreckt er sie40,
29 11QTgHi versteht hen, das eine Konjunktion oder eine Interjektion sein kann, eindeutig als Konjunktion („wenn“). 30 D.h.: Anlässe zur Abwendung; die Bedeutung von tenûʾāh als Anlass (vgl. Syr) ist aber nicht gesichert (vgl. Pilger, Erziehung, 41: „Beschwerden“; Lauber, Weisheit, 56: „Feindschaften“; Strauß, 284: „Aufhebungen [der Existenz]“), möglicherweise ist tôʾ anôt („Vorwände“, vgl. Ri 14,4) zu lesen. 11QTgHi; LXX; La; Vg bieten jeweils ein Wort für „Fehler/Vergehen/Beschwerden“. 31 Die Imperfekte in V. 10–11 stehen zum Ausdruck der andauernden bzw. wiederholten Erfahrung Hiobs (vgl. G/K § 107b–f). Insofern ist in V. 11a möglicherweise anstelle von jāśem jāśim zu lesen (vgl. J/M § 114l). In V. 11b liest 4QHia frgm. 3 das Pf. šmr „er beobachtete“, was Ergebnis einer Haplographie nach rglj sein könnte, sich allerdings mit der Lesart von 11QTgHi wskr „und er verstopfte“ und LXX berührt. 32 In der LXX ist V. 12a noch ein Zitat Hiobs („Wie sagst du denn: Ich bin gerecht, aber er hat mich nicht erhört?“). 33 11QTgHi: „sprichst du große Worte“ (rbbrn tmll – dabei ist wohl rbrbn zu lesen; Sokoloff, Targum, 131; DJD XXIII, 130). 34 V. 13b ist wohl wie V. 9–10 ein Zitat (vgl. Hi 9,16), so dass debāraj „meine Worte“ zu lesen ist (in diesem Sinn die LXX, die aber weitere kleiner Differenzen gegenüber dem MT aufweist; BHK zieht auch debār kā [„deine Worte“] in Erwägung). Bleibt man beim MT (debārâw „seine Worte“), ist das Suffix entweder auf Gott zu beziehen (vgl. V. 13a) und als Subjekt von jaʿ anæh ein unpersönliches „man“ anzunehmen (vgl. G/K § 144d und zur Sache Hi 9,3.15.32) oder auf den Menschen aus V. 12b (vgl. Weiser; Strauß), dem Gott nicht antwortet. Letzteres wäre dann eine Position Elihus, wogegen aber dessen Ausführungen in V. 14 sprechen. 35 11QTgHi: „in Träumen“. 36 Wenige Hss und Syr lesen „im nächtlichen Gesicht“, was auch für 11QTgHi angenommen werden kann, wenn bḥdjdj ljl[ʾ] in bḥzw dj ljljʾ korrigiert wird (vgl. Sokoloff, Targum, 131; zur Diskussion siehe DJD XXIII, 130). 37 11QTgHi: „auf seinem Lager“. 38 Zur Einleitung eines Folgesatzes mit ʾāz vgl. Hi 28,27; 2Sam 5,24 (J/M § 166 l N). 39 LXX: „den Verstand“ (νοῦς – eine Verschreibung von οὖς?, vgl. Hi 12,11 nach den griech. Codices A; B; S). 40 Die obige Wiedergabe orientiert sich an der LXX (ἐν εἴδεσιν φόβου ... ἐξεφόβησeν = j eḥittem [vgl. Aq; Syr]) und korrigiert in motivischer Parallele zu V. 15 mosārām in marʾîm (vgl. Num 12,6; BHK [wo auch môrāʾîm „Schrecknisse“ erwogen wird]). Eine wörtliche Wiedergabe des MT lautete, „durch ihre Erziehung/Warnung versiegelt/verschließt (jaḥtom) er sie“, sofern mosār eine
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um einen Menschen von seinem Tun41 abzubringen und den Hochmut von einem Mann auszutilgen42, (um) zu verschonen43 seine ,Seele‘ vor der Grube und sein Leben vor dem Gang durch den Fluss44.
45 19 Oder er wird zurechtgewiesen mit Schmerzen [auf seinem Lager]46, und Streit47 herrscht in seinen Knochen fortwährend, 20 und sein Leben ekelt sich48 vor seiner Speise und seine ,Seele‘ vor seinem Lieblingsessen, 21 so dass sein Fleisch aufhört, ansehnlich zu sein,49 und seine Knochen kahl sind50, nicht sehenswert,51 22 und sich dann genähert hat der Grube seine ,Seele‘ und sein Leben denen, die den Tod bringen52, –
23
Wenn es dann vor ihm53 einen Engel gibt, einen Fürsprecher, einen unter den Tausend, um für54 den Menschen das ihm Gebührende zu verkünden,
Nebenform zu mûsār ist (vgl. Aq; Hi 36,10; DCH; CTAT 50/5, 319), bzw. „durch ihre Fesselung versiegelt/verschließt (jaḥtom) er sie“, wenn mosār als Nebenform von môser/môserāh verstanden wird (vgl. Ges18; Hi 12,18). 41 Anstelle von maʿ aśæh lies mimmaʿ aśehû (vgl. Syr; Tg; Vg). 42 Anstelle von j ekassæh „er wird bedecken“ lies jiksaḥ/j ekasse aḥ (vgl. Jes 33,12). 43 jaḥśok steht hier in finaler Funktion (vgl. Bobzin, Tempora, 420). 44 Gemeint ist der Fluss der Unterwelt, wie in Hi 24,19 (conj.) und 36,12, keine „Waffe/Speer“ (šælaḥ I, vgl. LXX; Vg; Tg und 11QTgHi zu 36,12; Weiser); zur Diskussion siehe auch Grabbe, Philology, 103f. 45 Zur Problematik der Tempora in V. 19–22 und ihrer Wiedergabe im Präsens oder im (exemplarischen) Präteritum siehe Bobzin, Tempora, 421–424. 46 Die Wendung ʿal-miškābô überfüllt das Kolon und könnte eine Dublette zu bemakʾôb oder eine Glosse parallel zu V. 15b sein. 47 So gemäß dem Ketib rîb anstelle des Qere rôb „Menge“ (vgl. viele Hss; Th; Syr; Vg; Tg). Oder sollte ein hap. leg. dûb „Schwund“ (vgl. dwb Hif. in Lev 26,16) konjiziert werden? (so Hölscher; Wahl, Schöpfer, 62). Will man den MT ändern, wäre die Lesart rāqāb b e- „Eiter in“ idiomatischer (vgl. Spr 12,4; 14,30; Hab 3,16 und dazu Beer, Text, 211). 48 Anstelle von wezih amattû „verekelt ihm“ (so Weiser) und lies w ezih amāh. 49 Oder: „so dass man es nicht mehr sieht“ (vgl. Rouillard, sens, 39; 43; 50), vgl. Hi 7,8. 50 So gemäß dem Qere wešuppû (nach šph „kahl sein“ hier im Sinn von „fleischlos sein“; vgl. viele Hss; LXX; Vg; Tg) anstelle des Ketib ûš epî „Kahlheit“; dagegen versteht Rouillard, sens, 47–50, šuppû antithetisch zu V. 21a (vgl. die vorangehende Anm.) im Sinn von „sichtbar werden“. 51 Oder als asyndetischer Relativsatz: „die (vorher) nicht gesehen wurden“ (vgl. Rouillard, sens, 41; 47–50). Zur masoret. Kennzeichnung des lauthaften Charakters des Aleph mittels darunter gesetztem Punkt siehe G/K § 14d; § 64e. 52 Eine Änderung des Textes in lemô metîm „zu den Toten“ (so BHK; BHS; ähnlich Strauß: lammumātîm „zu denen, die getötet werden sollen“), limqôm metîm „zum Ort der Toten“ (so Hölscher) oder lemê-māwæt-mô „zu den Wassern des Todes“ (so Ross, Job, 40) ist unnötig. 53 D.h.: Gott (so mit Hartenstein, Angesicht, 87f, der zu entsprechendem Gebrauch von ʿal auf Hi 1,6; 2,1; 1Kön 22,19 und Sach 6,5 verweist), nicht, wie zumeist angenommen, der dem Tod nahe Mensch. 54 Zumeist wird le als Angabe des Adressaten, dem der Fürsprecher etwas verkündet, verstanden. Dafür könnte der übliche Sprachgebrauch von ngd (Hif.) le sprechen. Doch siehe dazu ausführlich Hartenstein, Angesicht, 87, sowie die Auslegung.
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dann ist er55 ihm gnädig und sagt:56 „Befreie57 ihn vom Abstieg in die Grube58, ich habe ein Lösegeld für ihn59 gefunden, kräftig60 sei sein Fleisch (wie) von61 Jugend an, er kehre zurück zu den Tagen seiner Jugend.“62
26 Betet er63 zu Eloah64, dann wird der ihm freundlich sein65 und (ihn) sein Angesicht mit Jubel66 sehen lassen67. Und wenn er dem Menschen (so) seine68 Gerechtigkeit zurückgab,
55 D.h.: Gott; andere denken an den Engel (vgl. Fohrer; Strauß und dazu ausführlich Pilger, Erziehung, 62f). 56 Aus poetologischen Gründen ist V. 23b mit V. 24aα zu einem Bikolon zu verbinden. 57 Wenn die Lesart pedāʿehû stimmt, liegt ein hap. leg. vor (pdʿ); die Bedeutung „befreien “ (vgl. Ges18; DCH) ist nicht ganz gesichert. Grabbe, Philology, 105–107, erwägt nach der syr. Wurzel pdʿ die Bedeutung von „zerbrechen“ (und zwar die Fesseln des Todes). Zwei Hss bieten das geläufigere perāʿehû, was angesichts der Unsicherheiten des hap. leg. und des Vorschlags von Grabbe hier vielleicht zu lesen ist (vgl. Seow, Hapax Legomena, 167f). Aufgrund der Parallele zu V. 28 wäre auch pedehû „kaufe ihn los“ denkbar, so offenbar 11QTgHi: pṣhj (vgl. Hi 5,20; Ps 49,16; Ross, Job, 40; Clines). 58 11QTgHi: „vor dem Verderben“ (ḥblʾ). Auch die Fortsetzung von V. 24 unterscheidet sich in 11QTgHi (wie in der LXX) sehr stark vom MT; dabei scheint 11QTgHi wie die LXX zusätzlichen Text im Umfang von etwa zwei Stichen gehabt zu haben, die, soweit der fragmentarische Text (ʾšh jšnqh wjtmljn „Feuer, er wird es ersticken, und sie werden gefüllt sein“), erkennen lässt, wie in der LXX auf die Restitution des Geretteten blicken (vgl. Sokoloff, Targum, 132; DJD XXIII, 131f). 59 Aus kolometrischen Gründen könnte ein (le)napšô ergänzt werden (vgl. Ex 30,12; Spr 13,8). 60 Die Lesung des hap. leg. ruṭ apaš ist unsicher. Entweder handelt es sich um eine vierradikalige Wurzel im Pass. Qal (vgl. G/K § 56; DCH; CTAT 50/5, 324f), oder, und dies ist wahrscheinlicher, es ist jiṭpaš/ṭāpaš zu lesen (vgl. Ps 119,70; akkad. ṭapāšu „fett sein“; Grabbe, Philology, 107f; Seow, Hapax Legomena, 169f). Die LXX (ἁπαλυνεῖ „er macht weich/zart“) könnte rukkekāh vorgefunden haben (vgl. Jes 1,6). In 4QHia sind nur zwei Buchstabenreste erhalten. Weitere Vorschläge diskutieren Hartley und Clines. 61 Oder: „mehr als in (seiner Jugend)“ (CTAT 50/5, 326). 62 V. 25 gehört noch zur in V. 24 eingeleiteten wörtlichen Rede (vgl. Tg); anders Weiser, der in V. 25 die Beschreibung der bereits eingetretenen Gesundung sieht. 63 D.h.: der Mensch, nicht der Engel. 64 4QHia und 11QTgHi: „El“ (vgl. Hi 5,8; 8,5; 13,3; 15,13.25; 16,11; 34,23.31; 38,41). 65 11QTgHi: „er wird ihn hören“. 66 11QTgHi: „während er ihn heilt/durch eine Heilung“; der aram. Übersetzer hat möglicherweise btrwph (vgl. Ez 47,12) gelesen (DJD XXIII, 132). 67 wajjarʾ kann auch Qal sein („er sieht“, vgl. 11QTgHi; Tg; Vg – LXX: „er wird eintreten“), wobei dann der Mensch Subjekt ist (so Weiser). In diesem Fall müsste man einen mehrfachen Subjektswechsel in V. 26 annehmen, da in V. 26aβ und in V. 26b eindeutig Gott Subjekt ist (vgl. Strauß). 68 D.h.: die dem Menschen seitens Gottes zukommende Gerechtigkeit. Gott gewährt dem Menschen wieder die heilvolle Gemeinschaft mit ihm.
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27 wird der vor Männern bekennen69 und dann sagen:70 „Ich hatte gesündigt und das Rechte verdreht, aber El71 hat mir nicht vergolten72, 28 er hat meine ,Seele‘ losgekauft vor dem Gang durch den Fluss73, und mein Leben sieht jetzt (wieder) das Licht.“74 29 30 31 32 33
Siehe: All dieses wirkt El, zweimal, dreimal an einem Mann, um seine ‚Seele‘ von der Grube zurückzubringen, um licht zu werden75 im Licht der Lebenden. Pass auf, Hiob, höre auf mich, schweige, und ich, ja ich werde reden. Wenn es (noch) Worte gibt, dann erwidere mir doch76. Rede, denn ich hätte Lust, dir Recht zu geben. Wenn nicht, dann höre du auf mich, schweige, damit ich dich Weisheit lehre.77
69 Anstelle von jāšor „er wird blicken“ lies wie in Hi 33,3 jāšer. BHK und BHS schlagen vor, in jāšîr „er singt (Loblieder)“ zu ändern (vgl. Weiser). Doch spricht die gedankliche Symmetrie der Rede Elihus wie in Hi 33,3 für eine Ableitung von šrr IV. 70 Aus poetologischen Gründen ist V. 26b mit V. 27aα zu einem Bikolon zu verbinden (vgl. 4QHia frgm. 4–5; DJD XVI, 173). Auch 11QTgHi, das V. 26b freier übersetzt, scheint V. 27aα mit V. 26b verbunden zu haben, wobei der aram. Übersetzer jāšor wohl als jāšār verstanden hat („und gemäß dem Werk seiner Hände wird er ihm vergelten“, vgl. Hi 33,23.27; 34,11; Ps 62,13). Ein abschließendes Urteil über 11QTgHi ist hier gegenwärtig nicht möglich, da nach dem Äquivalent zum masoret. bitrûʿāh ein Textausfall vorliegt (vgl. DJD XXIII, 131f). Eine Änderung von jāšæb (mit dem Subjekt „Gott“) in j ebaśśer bzw. j esapper („und er [d.h. der genesene Mensch] kündete“; vgl. BHK) ist angesichts des Chiasmus in V. 26–27aα unnötig, so entsprechen sich die Kola V. 26aα/V. 27aα und V. 26aβ/V. 26b. Was in 4QHia als Äquivalent zum masoret. wajjāšæb stand, ist nicht mehr zu erkennen. 71 Aus kolometrischen Gründen ist ʾel (oder hûʾ) zu ergänzen; andere ergänzen kaʿ awônî „nach meiner Sünde“ (vgl. BHK). Zu erwägen wäre auch, gemäß 11QTgHi keʾoraḥî „nach meinem Weg“ einzufügen (vgl. Hi 34,11). 72 Wörtl.: „hat mich nicht entsprechend behandelt“ (vgl. Strauß); eine Änderung in šiwwāh oder in šillem (vgl. BHK) ist unnötig, da „vergelten“ im semantischen Horizont der Grundbedeutung von šwh („gleich sein“) liegt (gegen Clines, 682: „and there was no profit in it for me“). 73 Aufgrund der Parallele zu V. 18 ist wohl mit zwei Hss baššālaḥ anstelle von baššāḥat „in die Grube“ (danach Weiser: „vor dem Tod“) zu lesen, zumal šaḥat in der Regel mit jrd und nicht mit ʿbr konstruiert wird. 74 So nach dem Ketib (vgl. Th; Syr). Nach dem Qere (napšô „seine ‚Seele‘“ bzw. ḥajjātô „sein Leben“; vgl. viele Hss; Vg; Tg) ist der Vers kein Teil der von Elihu zitierten Rede des Geretteten, sondern eine Feststellung Elihus; in diesem Fall läge es nahe, V. 28b so zu übersetzen: „und sein Leben siehst du (Hiob) im Licht.“ (vgl. V. 30b.) 75 Anstelle von leʾôr (= leheʾôr, Inf. Nif. von ʾwr mit apokopiertem he, vgl. G/K § 51l; 72v) wird häufig mit Blick auf V. 28 in lirʾôt (von rʾh) geändert (vgl. Syr; BHK); denkbar wäre auch, einen Inf. Hif. von rʾh zu konjizieren (larʾôt), doch kann der MT angesichts des Wortspiels leʾôr b eʾôr die ursprüngliche Lesart bewahrt haben. 76 Zum Suffix mit Nun energicum am imperativisch gebrauchten Inf. vgl. G/K § 61d; J/M § 65d; zur Funktion des Imperativs als Protasis im konditionalen Satzgefüge vgl. Hi 11,14; 33,31 (Diehl, Imperativ, 338). 77 Vgl. die Anm. zu Hi 13,13.
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
Literatur Hartenstein, F.: Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32–34, FAT 55, Tübingen 2008, 86–91. – Janowski, B.: Sühne als Heilsgeschehen. Studien zur Sühnetheologie der Priesterschrift und zur Wurzel KPR im Alten Orient und im Alten Testament, WMANT 55, Neukirchen-Vluyn 1982 (22000). – Johansson, N.: Parakletoi. Vorstellungen von Fürsprechern für die Menschen vor Gott in der alttestamentlichen Religion, im Spätjudentum und Urchristentum, Lund 1940. – Mowinckel, S.: Hiobs gōʼēl und Zeuge im Himmel, in: K. Budde (Hg.), Vom Alten Testament, BZAW 41, Gießen 1925, 207–212. – Oeming, M.: Elihus Auswege – der Antimonolog, in: Ders./K. Schmid, Hiobs Weg. Stationen von Menschen im Leid, BThSt 45, Neukirchen-Vluyn 2001, 77–93. – Ross, J.F.: Job 33:14–30: The Phenomenology of Lament, JBL 94 (1975) 38–46. – Rouillard, H.: Le sens de Job 33,21, RB 91 (1984) 30–50.
Aufbau und Sprachformen
Die erste Rede Elihus besteht aus zwei großen, annähernd gleich langen Teilen (Hi 32,6–33,7 und 33,8–33) mit insgesamt zehn Strophen unterschiedlichen Umfangs. Der erste, dreigliedrige Teil bildet eine breit angelegte Exposition, eine Art „apologetische Selbstintroduktion“78: Elihu begründet sein bisheriges Schweigen mit einem Hinweis auf sein gegenüber den Freunden geringeres Alter und legt ausführlich seine Motivation dar, nun selbst das Wort zu ergreifen. In zwei Strophen zu je sechs Bikola und zwei Strophen zu je sieben Bikola werden den Freunden und Hiob bzw. den Hörern und Lesern, die den Dialog stumm verfolgen, als wesentliche Gründe für das Reden Elihus göttliche Inspiration und Schwächen in der Argumentation vor Ohren geführt sowie alle am Gespräch Beteiligten, insbesondere Hiob, zum aufmerksamen Zuhören aufgefordert (A: 32,6–10|11–15|16–22; 33,1–7). Die letzte Strophe (33,1–7) könnte aufgrund ihres pointierten Neueinsatzes mit w eʾûlām š emaʿ-nāʾ ʾijjôb („aber höre doch Hiob“) und ihrer Parallelen zu den Lehreröffnungen in Ps 49,2–5 und Spr 8,6–8 bereits zum zweiten Teil gezählt werden. Der um Gehör werbende Stil, die Kennzeichnung der eigenen Worte als „Wissen“ (daʿat, 33,3, vgl. deʿ a 32,6.10.17; 36,3) und der zu 32,22 parallele schöpfungstheologische Abschluss (33,7)79 sprechen aber dafür, 33,1–7 noch zum ersten Teil, d.h. zur großen Exposition zu zählen. Diese dient nicht nur als ausführliche Einleitung der ersten Rede Elihus, sondern als Einführung aller Elihureden. Hinsichtlich der Angabe des Anlasses und der Absicht der Rede, der Anrede der Adressaten, der captatio benevolentiae und des Selbstlobes des Redners sowie der Skizzierung des Argumentationsgangs weist das eigentliche Proömium der Elihureden starke Parallelen zu Proömien in der klassischen griech. Rhetorik auf. In der biblischen Literatur berührt es sich mit dem Prolog des griech. Sirachbuches (SirProl) und mit 2Makk 2,19–31(32).80
Wahl, Schöpfer, 45. Auch einzelne Reden Hiobs weisen am Ende einer Strophe oder der gesamten Rede einen schöpfungstheologischen Abschluss auf (vgl. 7,21; 10,20–22; 14,21–22; 17,11–16 und dazu Watson, Poetry, 65). 80 Siehe dazu ausführlich Lauber, Weisheit, 308-333, der u.a. das Proömium zum Euagoras des Atheners Isokrates (436–338 v.Chr.) mit Hi 32,(1-5).6–22 vergleicht. 78
79
Hi 32,6–33,33 Die erste Rede Elihus
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Hi 33,8–33 bildet, thematisch betrachtet, die eigentlich erste, ebenfalls aus drei Teilen bestehende Rede (B). Sie setzt mit einer ausdrücklichen Zitation von Vorwürfen Hiobs gegen Gott ein (33,8–11) und benennt zugleich Elihus wesentliche Gegenargumente, nämlich Gottes unvergleichliche Größe sowie Art und Ziel göttlicher Offenbarung und Rettung (33,12.13–14). Wie schon in der Exposition sind vor allem Worte Hiobs aus Kap. 13 ein Bezugspunkt. Diese werden dann in vier Strophen zu je vier Bikola entfaltet (33,15–28): eine Strophe beschreibt den bösen Traum als Offenbarungsmedium (33,15–18), zwei Strophen entfalten den Sinn von Krankheit, die mittels eines Fürspracheengels überwunden wird (33,19–22|23–25), eine letzte Strophe, die auch als Abschluss des Mittelteils verstanden werden kann, bietet das Gotteslob des Genesenen (33,26–28). Eine aus fünf Bikola bestehende, wie die Eröffnung in 33,8–14 zweigliedrige Strophe beschließt die gesamte Rede mit einem Rückblick auf die thematische Einführung in 33,12–14 und einem erneuten Aufmerksamkeitsruf an Hiob (33,29–30.31–33, vgl. 37,14). Im Gegensatz zu den Freundesreden im Bereich von Hi 4–22 ist die erste Rede Elihus nicht nur wesentlich länger, sondern auch hinsichtlich ihrer Strophik flexibler. Allerdings weist die Textgeschichte in 33,23–28 darauf hin, dass hier nicht der ursprüngliche Text erhalten und mit Textausfall zu rechnen ist. Fasst man gegen die masoret. Segmentierung V. 23b und 24aα bzw. V. 26b und V. 27aα sowie 32,11b und 32,12aα zu je einem Bikolon zusammen und betrachtet man 33,15aβ als Glosse nach 4,13, lässt sich aber zumindest auf der Ebene des ‚Endtextes‘ eine durchgehende Gliederung in Bikola wahrscheinlich machen. Mit den anderen Reden im Hiobbuch teilt die erste Elihurede ihre weisheitlichen Sprachformen und den Charakter der weisheitlichen Streitrede (vgl. v.a. Hi 13), wobei sie noch mehr rhetorische und persuasive Elemente aufweist und mit ihrer direkten Anrede der Freunde und Hiobs eine besondere suggestive Kraft entfaltet. Begriffe des Redens und Hörens prägen vor allem die große Exposition und den Schluss und unterstreichen den diskursiven Charakter. Im Rahmen der atl. Weisheit zeigt sich eine starke motivische und rhetorische Berührung mit den Sentenzen in Spr 16. In der Deutung von schwerer Krankheit als Erziehungsmaßnahme Gottes, auf die der betroffene Mensch mit einem Sündenbekenntnis und nach erfolgter Heilung mit einem Dankgebet reagiert, weist diese erste thematische Auseinandersetzung Elihus mit Hiob starke Parallelen zu den sogenannten „Krankheitspsalmen“ auf (vgl. Ps 6; 32; 38). Eine literarische und theologische Besonderheit sind die Beschreibung der himmlischen Umstände, die zur Rettung des Erkrankten führen, und die Positionierung des Sündenbekenntnisses nach der erfolgten Heilung. 4QHia enthält Äquivalente zu Hi 33,10–11 (frgm. 3) und zu 33,24–30 (frgm. Text- und 4–5), die kleinere Unterschiede gegenüber dem MT aufweisen.81 Die Passage Literar33,28–30 wird zudem in Bruchstücken in 2Q15 geboten, dessen wenige les- geschichte 81
Siehe die Anm. zur Übersetzung.
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
baren Wörter dem Konsonantenbestand des MT entsprechen. In 11QTgHi sind Fragmente zu 32,10–17 sowie zu 33,7–16 und zu 33,24–32 erhalten, in denen sich kleinere, im Bereich von 33,24–28 auch größere inhaltliche Differenzen gegenüber dem MT zeigen.82 Das Kolon 33,12a hat in 11QTgHi kein Äquivalent zum MT und könnte aufgrund eines Schreiberirrtums, aber auch aus inhaltlichen Gründen hinsichtlich einer Entlastung Hiobs ausgelassen worden sein. In LXXZi sind 32,11b–12.15–16; 33,8a.19b.20b.28–29.31b–33 asterisiert. Im ,kirchlichen Text‘ der LXX stammen diese aus Th. Ähnlich wie 11QTgHi unterscheidet sich LXX vor allem im Bereich von 33,12–13.23–30 quantitativ und inhaltlich deutlich vom MT. Abgesehen von der Glosse in 33,15aβ finden sich entgegen einzelner Thesen in der neueren Forschung keine eindeutigen Hinweise zu einer literargeschichtlichen Differenzierung dieser Rede.83 Die Wiederholungen und die Wechsel in der Anrede der Freunde sowie Hiobs im ersten Teil lassen sich durchgehend stilistisch und rhetorisch begründen; tendenzkritisch verweisen diese somit nicht auf unterschiedliche Verfasser. Ebenso wenig überzeugt eine Umstellung einzelner Verse in der Exposition,84 wodurch eine vermeintlich stringentere Gedankenführung deutlich würde. Wiederaufnahmen, Rück- und Vorverweise, Adressatenwechsel, Ellipsen und Anakoluthe sind vielmehr ein Merkmal der Elihureden. Die textlich schwierige Passage über den Fürspracheengel hebt sich zwar syntaktisch von der Strophe in 33,19–22 und motivisch von der sonstigen direkt auf das Handeln Gottes und des Menschen fokussierten Argumentation Elihus ab. Andererseits setzen die Elihureden bereits die Integration der nächtlichen Vision des Eliphas in 4,12–21 mit ihrem negativen Bild der Engel (vgl. 4,18; 15,15) voraus, dem nun – wie auch der Figur des Satans in den Himmelsszenen 1,6–12; 2,1–7, die der erste Buchredaktor eingeführt hat – eine positive himmlische Gestalt gegenübergestellt wird: Demzufolge gibt es doch einen himmlischen Fürsprecher zugunsten des Menschen (vgl. 5,1; 16,19–21; Sach 3,1). Zudem setzen die Ausführungen über die Erhörung des Gebets und das Bekenntnis des Geretteten in 33,26–28 eine Notiz über ein Rettungshandeln Gottes voraus: Genau dieses beschreiben die Verse über den Fürspracheengel. Sie enthalten gerade das inhaltliche Plus der ersten Rede Elihus gegenüber den Reden der Freunde. Wollte man hingegen V. 23–25 für eine spätere Fortschreibung halten, dann müsste man im potentiellen Gebet und Sündenbekenntnis des schwer Erkrankten (V. 26a.27) die Voraussetzung für die Wende zum Heil sehen und V. 26b.28 ebenfalls für sekundär halten, da V. 26b mit V. 23b korrespondiert und der zu 33,18 parallele V. 28 nur in Zum Textüberschuss von 11QTgHi im Bereich von Hi 33,24–25.26–27 siehe die Anm. zur Übersetzung. 83 Zu entsprechenden literarkritischen Hypothesen, denen zufolge Kap. 32–33 auf bis zu vier Hände zurückgeht (vgl. Mende, Leiden, 21–29; 41–45; Pilger, Erziehung, 66f; 244f) s.o. S. 493f. 84 So aber im Anschluss an Duhm und Hölscher in neuerer Zeit wieder J. Gray mit der Positionierung von Hi 32,11–14 zwischen V. 16 und 17 und der Annahme von V. 10 als Glosse. 82
Hi 32,6–33,33 Die erste Rede Elihus
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der Rückschau auf eine erfolgte Rettung sinnvoll ist. Anstelle des durch einen Engel vermittelten Heils stünde dann die durch menschliches Gebet und Sündenbekenntnis bewirkte Umkehr Gottes. Elihus unbändiger Drang zu reden
32,6–33,7
Die Überschrift entspricht strukturell den Redeüberschriften in der bisherigen 32,6aα Dichtung (3,1–26,1), nennt aber im Unterschied zu den Überschriften der Freundesreden zusätzlich zur Herkunftsbezeichnung den Namen des Vaters (vgl. 32,2), wobei sich das Gentilizium „der Busiter“ sowohl auf Barachel beziehen lässt als auch auf Elihu selbst. Hatte bereits der Verfasser des Prologs bzw. ein späterer Redaktor Elihus bis- 32,6aβ– heriges Schweigen mit dessen geringerem Alter gegenüber den Freunden Hiobs 10 begründet (32,4), so erscheint diese Begründung nun auch ausdrücklich im Munde des Protagonisten selbst. Im Gegensatz zu den jüngeren Ratgebern des Königs Rehabeam, die ohne Scheu vor der Autorität der Älteren den verhängnisvollen Rat geben, das Anliegen des Volkes, die Lasten der Fron zu erleichtern, abzulehnen (1Kön 12, vgl. Sir 47,23), scheute sich Elihu bisher zu reden und überließ zunächst den Älteren das Feld. Doch schon aus der ersten Strophe, die pointiert mit einem betonten ʾ anî („ich“) einsetzt und endet (V. 6aβ bzw. V. 10b),85 spricht das besondere Selbstbewusstsein Elihus, der seine Worte zweifach als Wissen charakterisiert (V. 6b bzw. 10b, vgl. 32,17; 36,3). Hatten Bildad und Eliphas ihre Erkenntnis auf lange Erfahrung und Tradition gegründet (vgl. 8,8–10; 15,9–10), so beruft sich Elihu in besonderer Weise auf die ihm zuteil gewordene göttliche Inspiration (V. 8, vgl. 32,18; Dtn 34,9; Ez 11,5).86 Nicht das Alter an sich bürgt für Weisheit (vgl. 12,12–13; Sir 25,4–6 [G]), sondern der im Menschen wohnende Geist Gottes schenkt diese und verleiht Einsicht, so dass auch Jüngere weise sein und sich auf das Recht verstehen können (V. 9, vgl. Gen 41,38–39; Spr 16,1; Dan 5,11–14). Damit entkräftet Elihu zugleich die Klage Hiobs, er werde jetzt von Jüngeren verspottet (vgl. 30,1 versus 29,8). An die Stelle von Erkenntnis, die mittels über Generationen weitergereichter Traditionen erlangt wird wie im Fall der Freunde oder die mittels persönlicher Erfahrung gewonnen wird wie im Fall Hiobs, tritt damit ein spezielles Offenbarungswissen, das schöpfungsmäßig zwar prinzipiell jedem Mensch zugänglich ist,87 faktisch aber nur einzelnen Menschen punktuell und aktuell zuteil wird. Der Repräsentant des geoffenbarten Wissens ist der inspirierte Weise, der seine biblischen Prototypen in Joseph (vgl. Gen 41,38–39) und in Daniel besitzt (vgl. Dan 2–4; 5) und der in der jüdischen Literatur der hellenistischen Zur chiastischen Korrespondenz von Hi 32,6a und 32,10 siehe auch Watson, Poetry, 207. In Tg wird dieser Aspekt besonders betont, wenn ausdrücklich vom „Geist der Weissagung“ (n bûʾ atāʾ) die Rede ist (vgl. Tg zu 27,11). 87 Vgl. z.B. auch den großen Šamaš-Hymnus 149 (TUAT.NF VII, 71): Šamaš öffnet den Verstand der Menschen. 85 86
e
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
Zeit, verstärkt seit dem 2. Jh. v.Chr., in Erscheinung tritt.88 Ben Sira beschreibt einen solchen Menschen: 6 Und wenn der Herr, der Große, es will, wird er mit dem Geist der Erkenntnis erfüllt. Er selbst lässt Worte seiner Weisheit sprudeln und dankt dem Herrn im Gebet. 7 Er lenkt sein Wollen und Wissen in rechte Bahnen und denkt über die Geheimnisse des Herrn nach. 8 Er legt seine Bildung und Lehre dar und rühmt sich des Gesetzes des Bundes des Herrn. 9 Viele werden seine Einsicht loben, und bis in Ewigkeit wird sie nicht ausgelöscht. Sein Andenken wird niemals vergehen, und sein Name wird von Geschlecht zu Geschlecht bestehen. 10 Von seiner Weisheit werden die Völker erzählen, und die Gemeinde wird sein Lob verkünden. 11 Solange er lebt, hat er einen größeren Namen als tausend andere; und auch nach seinem Tode bleibt er ihm. (Sir 39,6–11 [G] LB, vgl. SapSal 1,4–5; 7,27).
An der Ableitung der Erkenntnis aus Gottes „Atem“ (nešāmāh) zeigt sich eine spezifische erkenntnistheoretische Färbung dieses Schöpfungsbegriffs (vgl. 26,4; 4Q504 frgm. 8 r5).89 Summarisch benennt die erste Strophe die vier Größen, um die es im Kern des Hiobdialogs geht und die sich auch durch die Reden Elihus ziehen: Erkenntnis, Weisheit, Einsicht und Recht. Ob damit die Situation Hiobs und sein Ringen mit Gott zutreffend erfasst werden und wie Elihu diese Begriffe füllen wird, muss sich zeigen. 32,11–15 Die zweite Strophe erscheint als Pendant zur prosaischen Begründung des Zornes Elihus mit dem Ausbleiben einer adäquaten Antwort auf Hiob seitens der Freunde (32,4a) und als Weiterführung der Begründung des bisherigen Schweigens Elihus. Dem eigenen Reden sollte ein sorgfältiges Prüfen der vorgebrachten Argumente vorangehen.90 Doch das Ergebnis dieser Prüfung verlief für Elihu enttäuschend. So spricht Elihu wie Hiob (vgl. 13,1–12; 16,2–6; 21,34) seinen Vorrednern nicht nur ironisch die Kompetenz ab, sondern zieht aus ihrem Verstummen auch die Konsequenz, nun selbst als Hiobs môkî aḥ erscheinen zu müssen (32,12). Dessen Funktion erhellt sich aus zwei weisheitlichen Sentenzen:
88 Siehe dazu auch die Einleitung S. 28f sowie S.I. Thomas, Hearing the Vision: גלה אזןin Qumran Sectarian Texts, HeBAI 5 (2016) 59–74. 89 Tg bietet wie in Hi 4,9 anstelle des Atems wieder die göttliche Memra (vgl. Tg zu 33,4; 37,10); siehe dazu auch K. Koch, Spuren, 238–248. 90 Dieses „Prüfen“ wird noch dadurch unterstrichen, dass in V. 11 das unvokalisierte Wort ʾz(j)n sowohl von ʾzn I (Hif., „hören“) als auch vonʾzn II (Piel „abwägen/testen“, vgl. Pred 12,9) abgeleitet werden kann (Noegel, Janus Parallelism, 113–115).
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Ein goldener Ring und Geschmeide aus Gold, ein weiser Zurechtweisender (môkî aḥ) an einem hörenden Ohr. (Spr 25,12) Wer einen Menschen zurechtweist (môkî aḥ), findet letztlich91 Gunst, mehr als der schmeichlerische Redner. (Spr 28,23)
Hiob hatte die Hoffnung auf Gott als seinen môkî aḥ ausgedrückt, und zwar im Sinne eines Schlichtenden (9,33) und eines Recht Schaffenden (16,21). In Elihus Mund schwingen wohl alle drei Aspekte von jākaḥ (Hif.) mit: zurechtweisen, schlichten und Recht verschaffen. 92 Aus der als Zitat der Freunde charakterisierten Erklärung, sie hätten Weisheit gefunden und Gott selbst solle Hiob wegwehen (nādap, V. 13, vgl. 11,5; 15,17–18),93 ist ersichtlich, dass Elihu zwei Gründe dazu bewegen, Hiob entgegen zu treten: zum einen die Vorstellung, Hiobs Worten noch einmal mit neuen Argumenten begegnen zu können, zum anderen die Überzeugung, Gott werde an Hiob, der sich von Gott wie ein Blatt weggeweht erlebt (13,25), doch anders handeln als an den Frevlern (r ešāʿîm, vgl. Ps 1,4; 61,3). Die Sprach- und Geistlosigkeit der Freunde darf kein Zeichen der Zustimmung zu Hiobs Worten sein. Ebenso wenig scheint für Elihu das vor allem im zweiten Redegang von den Freunden Hiob ausführlich vor Augen gestellte Schicksal eines rāšāʿ weiterführend gewesen zu sein (vgl. 32,3bMT). Mit der Bestreitung der Weisheit der Freunde, die sich mit Hiobs Polemik trifft (vgl. 12,2; 13,5; 17,10), nimmt Elihu für sich selbst in Anspruch, Anderes, vor allem auch theologisch Anderes, als die Freunde sagen zu können (V. 14, vgl. 13,12). Ob er seinem eigenen Anspruch, eine passende, weil von Gott selbst gegebene Antwort zu haben (Spr 16,1), gerecht wird und ob er sich als einer, der wirklich zurechtweist, schlichtet und Recht verschafft, erweist, der dementsprechend selbst am Ende „Gunst findet“ (Spr 28,23), oder ob sich die Berufung auf besondere Inspiration und die Kritik an den Freunden als inhaltslose Rhetorik entpuppen, werden die weiteren Ausführungen zeigen. Die dritte Strophe beginnt wie die zweite mit dem Hinweis Elihus auf 32,16–22 sein vergebliches Warten auf überzeugende Antworten auf Hiobs Fragen und führt den in der ersten Strophe geäußerten Wunsch, nun das eigene Wissen zu verkünden,94 gesteigert fort (V. 17 par. 32,6.10, vgl. Sir 39,12–13). Dabei steht das ebenfalls schon in der ersten Strophe angeklungene Motiv des gött-
Das Wort ʾaḥ araj schießt kolometrisch über und könnte sekundär sein (vgl. Syr). Einseitig in juridischem Sinn versteht dies Magdalene, Scales, 228, die in der Figur Elihus insgesamt einen zweiten Kläger gegen Hiob und ein irdisches Pendant zum Satan sieht, der aber im Gegensatz zu diesem als Zeuge und zum Wohle Gottes auftrete (a.a.O., 225–246). 93 Siehe die Anm. zur Übersetzung. Gegen Weiser handelt es sich bei dem gesamten V. 13 (nicht nur bei V. 13a) um ein Zitat. 94 Zu beachten ist das doppelte ʾap-ʾ anî „ich, ja ich“. 91 92
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lichen Geistes (rûaḥ)95 im Innern des Menschen im Zentrum, zumal wenn dieser sich als prophetisch begabt erweist (vgl. Mi 3,7–8). Anhand der Metapher des Weins, der aus neuen und das heißt aus besonders reißfesten Schläuchen hervorsprudelt (bāqaʿ Nif.),96 unterstreicht Elihu seinen besonderen Drang zu reden (V. 19–20). Die Fülle der Worte drängt einfach aus ihm heraus (vgl. Jer 4,19; 6,11; 20,9). Dabei unterstreicht Elihu seine intellektuelle Integrität mit der Notiz, ohne Ansehen der Person zu sprechen (vgl. Hi 13,8.10) und damit dem göttlichen Gebot der Unparteilichkeit zu entsprechen (V. 21, vgl. Dtn 1,17; Spr 24,23). Nur die Wahrheit bzw. das, was er für die Wahrheit hält, will Elihu verkünden – und dies im Angesicht Gottes, den Elihu bewusst als seinen Schöpfer bezeichnet (vgl. 33,4; 35,10)97 und dem allein es obliegt, einen Menschen mit einem Ehrennamen auszustatten (vgl. Jes 44,5; 45,1). Der stilistisch durch ein Homoioteleuton und eine Paronomasie besonders hervorgehobene Schluss der Strophe in V. 22b (jiśśāʾenî ʿośenî) rekurriert einerseits auf die schöpfungstheologische Motivik der Eingangsstrophe (vgl. V. 8). Andererseits spielt er die Vorstellung von Gott als gerechtem Richter ein (vgl. 31,15), der unverzüglich (kimʿaṭ) richtet (vgl. Ps 2,12; 81,15). Damit bietet der Vers in nuce einen Grundzug der Theologie aller Reden Elihus: die Vorstellung von Gott als gerechtem Schöpfer (vgl. 33,4; 35,10; 37,5). 33,1–7 Waren in den ersten drei Strophen die Freunde Hiobs als direktes Gegenüber angesprochen, so wendet sich Elihu in der vierten Strophe direkt an Hiob, den er hier erstmals namentlich anspricht (V. 1).98 Mittels eines Chiasmus in V. 1 sowie einer Alliteration pātaḥtî pî und eines vierfachen Homoioteleutons auf -î in V. 2 ist der Höraufruf99 an Hiob stilistisch besonders betont. Wie in der dritten Strophe unterstreicht Elihu seinen unbedingten Wunsch zu reden, wobei er erneut auf seine besondere Erkenntnis und die Lauterkeit seines Herzens (leb)100, d.h. seiner ganzen Person verweist (V. 3, vgl. Ps 49,4). Die Reinheit seiner Lippen, nach dem Prolog das Kennzeichen Hiobs selbst (2,10, vgl. 27,4), soll verbürgen, dass er tatsächlich im Namen Gottes redet (vgl. Spr 8,6–8; Zeph 3,9). Dabei fordert er den, der zuletzt Gott herausgefordert hatte (31,35–37), dazu auf, sich ihm zu stellen (jāṣab Hitp., V. 5). Das Bekenntnis zur eigenen Geschöpflichkeit, das motivisch auf die im Alten Orient und in der Antike weit verbreiteten Bilder von der Belebung des Menschen durch den göttlichen Geist (rûaḥ, nešāmāh V. 4) und 95 Vgl. dagegen Hi 8,2 und 15,2, wo rûaḥ windiges, d.h. flüchtiges und wertloses Wissen kennzeichnet. 96 Vgl. Mt 9,17; Mk 2,22; Lk 5,37–38; siehe auch die Anm. zur Übersetzung sowie Lauber, Weisheit, 51f. 97 Zur Bezeichnung Gottes als Schöpfer des einzelnen Beters vgl. auch das Lobversprechen des Beters in der bab. Beschwörung Maqlu VI,125’’ (TUAT.NF IV, 169). 98 Solche Vokative sind typisch für die Elihureden (vgl. Hi 33,31.33; 34,2.10.32; 37,14 und dazu A. Michel, Herausstellungsstrukturen, 134). 99 Vgl. Hi 13,17; 15,17; 32,10; 33,31.33. 100 Vgl. Spr 2,2.10; 8,5; 15,28; 16,21.23; 18,15; Ps 90,12; Koh 10,2; Sir 51,20; s.o. zu Hi 8,10 und 27,6 sowie Abart, Lebensfreude, 35–38.
Hi 32,6–33,33 Die erste Rede Elihus
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der Erschaffung des Menschen aus Lehm (ḥomær) zurückgreift (V. 6, vgl. 10,9),101 dient der Solidarisierung mit Hiob (vgl. 31,15). Gleichzeitig bereiten der Hinweis auf die fortwährende Lebenserhaltung durch den göttlichen Atem (V. 4b, vgl. 27,3) und die Ankündigung, Hiob nicht zu belasten (V. 7), Elihus eigene inhaltliche Auseinandersetzung vor. Doch indem Elihu in jeder Zeile dieser Strophe auf sich selbst verweist und einzelne Begriffe gebraucht, mit denen Hiob sein Erschrecken vor dem ihm zum Dämon gewordenen Gott beschreibt (vgl. 33,7 mit 7,14; 9,34; 13,21; 23,2), oszilliert diese Strophe merkwürdig zwischen aufrichtigem seelsorgerlichem Reden, einem übersteigerten Selbstbewusstsein sowie einer fast tragikomischen Verkennung der eigenen Situation und der Hiobs. So wird Hiob zwar dem Bekenntnis der allgemeinen Geschöpflichkeit ohne weiteres zustimmen – er hat ja selbst immer wieder auf diese hingewiesen (vgl. 10,9), doch kann ihm die solidarisch gemeinte Erklärung, Elihu gleiche ihm im Blick auf Gott vollkommen, nur als gründliche Missachtung seiner unvergleichlichen Lage erscheinen, erlebt er sich doch gerade als außergewöhnlich von Gott verfolgt.102 So deutet sich schon hier an, dass Hiob, der mit Gott über sein Schicksal disputieren (vgl. 13,22) und sich allein vor Gott aufstellen will (vgl. 31,35–37), Elihu keine Antwort geben wird (33,5). Gottes Maßnahmen zur Erziehung des Menschen
33,8–33
Mit der ausdrücklichen Zitation Hiobs hebt der zweite Teil der Rede und 33,8–14 damit die eigentliche thematische Auseinandersetzung mit Hiob an (vgl. 11,4; 22,13). Diese Strophe ist exemplarisch für die Rhetorik der Elihureden: Auf eine als Zitat gekennzeichnete Aufnahme von Worten oder Gedanken Hiobs folgt ein scharfer Widerspruch mit einem theologischen Kernsatz aus der Weisheit, der dann argumentativ entfaltet wird. Dabei besteht die Zitation aus einer Mischung von Worten oder Sätzen, wie sie sich wörtlich in einer Hiob- oder auch einer Freundesrede finden, und Begriffen, die so nur in den Elihureden belegt sind103. Erster Ansatzpunkt der Kritik Elihus sind die Unschuldsbekenntnisse 33,9–11 Hiobs, wie er sie vor allem in seiner zweiten und dritten Rede abgelegt hat (vgl. 9,21; 10,7; 13,18; 16,17). Zweiter Ansatzpunkt sind Hiobs Vorwürfe, Gott behandele ihn als seinen Feind (vgl. 13,24b; 7,20; 19,11; 30,21) und überwache (in feindlichem Sinn) alle seine Schritte (vgl. 10,14; 13,27). Beide Äußerun101 Vgl. Gen 2,7; Hi 4,17; Ps 33,6; 104,29–30; Pred 12,7; 1QS XI,22; 1QHa XIX,3(6); XX,26(29); 4Q511 frgm. 28+29,4; Kirta-Epos (KTU 1.14–16) III,v,28–9; (TUAT.NF VIII, 264); Gilgm. II,ii,34 (TUAT III, 675); Enki und Nimach 31–32 (TUAT III, 391); Lehre d. Amenemope 24,13– 14 (TUAT.NF VIII, 344f). Siehe dazu Pettinato, Menschenbild, 40–44; Keel, Bildsymbolik, 183f (Abb. 278). Die enge inhaltliche Zusammengehörigkeit von V. 4 und V. 6 bedeutet aber nicht, dass V. 4 ursprünglich auf V. 6 gefolgt sei (so aber J. Gray). 102 Vgl. Hi 7,12–16; 10,13–17; 13,24–27; 16,7–13; 19,6–12.21–22; 30,16–19. 103 Vgl. hap in Hi 33,9; t enûʾāh in 33,10.
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gen berühren in der Tat Hiobs Selbstverständnis. Bereits die Freunde hatten ihm dies zum Teil mit ihren eigenen Worten zum Vorwurf gemacht (vgl. 11,4; 15,5; Spr 16,2). Allerdings hat Hiob nie behauptet, er sei rein (zak), ohne Vergehen (pæšaʿ) und ohne Schuld (ʿāwôn), so wie ihn Elihu zitiert (33,9), sondern lediglich erklärt, er sei sich keiner Schuld bewusst (9,20–21) und wolle daher von Gott darüber belehrt werden, worin er sich konkret verfehlt habe (10,2; 13,23; 23,4–7; 27,5–6; 31,1–40). Für den Fall eines Irrtums oder eines Vergehens bittet Hiob vielmehr ausdrücklich um Vergebung, so in dem wohl sekundären Versteil 7,21aα (vgl. 10,6; 13,26), bzw. um Verschonung (14,17; 19,4). Allerdings können gerade das Beharren Hiobs auf seiner Integrität (27,5–6) und sein ausführliches Unschuldsbekenntnis in Kap. 31 mit dem Wunsch, Gott direkt gegenübertreten zu wollen, von Elihu als Selbstgerechtigkeit verstanden werden (vgl. 32,1.2; 34,5–6; 35,2–3). Das Bekenntnis Hiobs zum offenen Umgang mit Schuld in 31,33–34 fand der Verfasser der Elihureden möglicherweise noch nicht vor. Im Zusammenhang der ‚Endgestalt‘ des Buches relativieren diese Verse die Zitation Elihus. 33,12–14 Dessen erstes Argument, Gott sei größer (rābāh) als der Mensch, ist nachvollziehbar, auch wenn es weder neu ist (V. 12)104 noch von Hiob bestritten wurde; denn dieser leidet gerade an der Übergröße Gottes (vgl. 10,1–7). Somit formuliert V. 12b eine von allen Rednern geteilte Grundüberzeugung, die von diesen aber gemäß der Einschätzung Elihus nicht konsequent beachtet und bedacht wurde. Die zurückschauende Frage (maddûaʿ) nach dem Grund von Hiobs Streit (rîb) gegen Gott und die Zitierung Hiobs, Gott antworte nicht (V. 13, vgl. 9,16; 19,7; 30,20), reagiert einerseits auf Hiobs sehnlichen Wunsch einer erhellenden Gottesbegegnung (vgl. 10,2; 21,4; 23,6; 31,35) und bereitet andererseits die folgenden, das bisher Gesagte nun wirklich weiterführenden Ausführungen vor: Gott lässt sich nicht auf den menschlichen Rechtsstreit ein (vgl. dagegen Gen 18,22–33), doch er redet tatsächlich, und zwar auf seine Weise (V. 14) – nur nimmt der Mensch dies nicht richtig wahr (šûr). In Anlehnung an die in der Weisheit beliebte Stilfigur eines gestaffelten Zahlenspruchs nennt Elihu zwei spezifische Arten Gottes zu reden (vgl. 33,29, s.o. zu 5,19).105 Die Beschreibung und Auslegung dieser göttlichen Redeweisen bildet den thematischen Kern der ersten Elihurede. 33,15–18 Die erste Art und Weise des göttlichen Redens stellt der Traum dar.106 Diese Sequenz berührt sich sowohl mit dem Nachtgesicht des Eliphas (4,12–21), das die Niedrigkeitsredaktion in die ursprüngliche Dichtung eingefügt hat und an die ein Glossator mittels der Ergänzung von 33,15aβ weiter angepasst hat (vgl. 4,13b), als auch mit Hiobs Beschreibung, von Gott mit Albträumen Vgl. Hi 4,17; 9,2–3; 15,14; 25,4; Sir 43,28; Pred 6,10. Siehe dazu auch Steinman, Numerical Sayings, 292–294, der Hi 33,13–30 als einen zweifach gerahmten (V. 13–14 und V. 28–29) großen gestaffelten Zahlenspruch versteht, in dessen Korpus (V. 15–28) drei göttliche Redeweisen, erstens mittels des Traums (33,15–18), zweitens mittels einer Krankheit (33,19–22) und drittens mittels eines himmlischen Fürsprechers (33,28–28) entfaltet werden. 106 Zum Traum im AT und seiner Umwelt s.o. die Auslegung von Hi 4,12–16. 104
105
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heimgesucht zu werden (7,12–16, vgl. PsSal 6,3). Insofern setzt sich Elihu nun auch inhaltlich mit Hiob und seinen Freunden auseinander. Mit Eliphas und Hiob teilt er die Überzeugung, dass Gott im Traum zum Menschen spricht und dass er – sofern die oben gebotene, sich an der LXX orientierende Textrekonstruktion von V. 16b stimmt107 – den Menschen mit Visionen aufschreckt (7,13–14; SapSal 18,19). Neu ist die Deutung, die Elihu dieser Form der göttlichen Erscheinung gibt: Sie dient weder dazu, dem Menschen seine kreatürliche Niedrigkeit vor Augen zu führen, so Eliphas (4,17), noch will sie vernichten, so Hiob (7,13–14). Sie will vielmehr den Menschen von seinen eigenen Taten abbringen (V. 17, wörtl. „sich fernhalten lassen“, sûr, vgl. 1,1.8; 2,3; 28,28) sowie zur Umkehr und zur Demut bewegen (vgl. 36,10.15). Seinen eigentlichen Sinn findet der nächtliche Schreckenstraum in der Bewahrung vor dem vorzeitigen Tod, hier umschrieben mit dem Bild der Grube bzw. des Grabes (šaḥat)108 und des aus der vorderorientalischen und griech. Mythologie bekannten Unterweltsflusses (šælaḥ)109, in den ihn sein eigenes Handeln, vor allem sein Hochmut führen könnten (V. 17, vgl. Spr 16,5). In dieser Zielformulierung klingen sowohl die grundsätzliche Charakterisierung Hiobs im Prolog und die Definition menschlicher Weisheit als Flucht vor dem Bösen an (V. 17a, vgl. 1,1; 28,28)110 als auch die sich durch die gesamte Dichtung ziehende Selbstbezeichnung Hiobs als gæbær („Mann“, V. 17b)111. Dem nächtlichen Nachtgesicht kommt letztlich eine lebenserhaltende, soteriologische Bedeutung zu. Es steht im Dienst eines göttlichen Erziehungs- und Rettungshandelns, und es liegt an Hiob, die ihm zuteil gewordenen Visionen und Auditionen entsprechend zu deuten und wie ein von Gott selbst belehrter Schüler zu hören (Jes 50,4–5). So zielt Elihus Interpretation des nächtlichen Schreckenstraums auf eine Veränderung des Blickwinkels Hiobs und auf eine Schärfung seines Wahrnehmens (šûr, V. 14): Der Blick soll weg vom eigenen Werk (V. 17) hin auf Gottes Werk führen. Dieser Gedanke wird noch deutlicher, wenn man in V. 16b dem MT folgt und in mosar eine Nebenform zu mûsār („Zucht/Erziehung“) erkennt (vgl. 5,17; 36,10; Ps 94,12; Spr 3,11–12; SapSal 12,22; PsSal 10; 14,1–3; 2Makk 6,16).112 Dass Gottes Handeln am Menschen ein pädagogischer Akt ist, soll auch 33,19–22 Elihus zweites Fallbeispiel zeigen. Mit einem „oder“ (we) ist dieses klar vom ersten Beispiel als eigenständige Größe abgesetzt und soll nun V. 14b illustrieren. Betont beginnt die Strophe mit dem weisheitlichen terminus technicus jākaḥ (Hif. „zurechtweisen“)113, mittels dessen Krankheit und Schmerzen als Erziehungsmaßnahme Gottes gedeutet werden. Auch dieses Beispiel Siehe die Anm. zur Übersetzung. Vgl. Hi 17,14; 33,22.24.(28).30; Ps 7,16; 16,10; 30,10; 49,10. S.o. S. 384. 110 Vgl. zudem Spr 3,7; 14,16; 16,6.17. 111 Vgl. Hi 3,3.23; 10,5; 14,10.14; 16,21. 112 Siehe die Anm. zur Übersetzung, sowie zu Sache Wahl, Schöpfer, 61; 72; 133; 161f; Finsterbusch, JHWH als Lehrer, 20–26; 33; Pilger, Erziehung, 62; 138–176. 113 Vgl. Hi 5,17; 6,25–26; 15,3; Ps 6,2; 38,2; 94,10; Spr 9,7–8; 15,12; 19,25. 107 108 109
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ist trotz seiner Topik114 und seiner unpersönlichen Formulierung unmittelbar auf Hiob und die Klagen über sein vergehendes Leben zu beziehen.115 Wie der von Elihu beschriebene anonyme Kranke sieht Hiob sich von Gott selbst an den Rand des Todes gebracht.116 Die existentielle Not wird durch die begrifflichen und stilistischen Entsprechungen zwischen V. 20a/22b, 20b/22a, 21a/21b, den doppelten Gebrauch der anthropologischen Wörter næpæš („Seele“, vgl. 6,7) und ḥajjāh („Leben“) in V. 20 und V. 22 sowie den Chiasmus in V. 22 besonders hervorgehoben. Mit dem Begriff der „Todesdämonen“ bzw. der „Todesengel“ (m emitîm, V. 22) klingt wie schon in V. 18 ein Motiv der Unterweltsmythologie an.117 Im Gegensatz zum ersten Fallbeispiel, das mit der summarischen Nennung des Ziels des göttlichen Erziehungshandelns abgeschlossen wird (V. 18), ist V. 22 auf eine Fortsetzung angewiesen. So wird mit dem Motiv der Todesengel zugleich der Übergang zur nächsten Strophe vorbereitet. 33,23–25 Diese Verse gehören zu den textlich, literargeschichtlich und motivisch umstrittensten Stücken im Hiobbuch. Die antiken Übersetzungen, zumal 11QTgHi und LXX, unterscheiden sich hier besonders stark vom MT;118 die Funktion der Tempora und die Subjekte in V. 23b–24 werden in der Forschung ganz unterschiedlich bestimmt; die vom MT gebotene Versgliederung in V. 23/24 (und in V. 26/27) widerspricht dem Grundmuster der Parallelismen in Kap. 32–33; die sachliche Zuordnung von V. 25, sei es noch als Teil der in V. 24 eingeleiteten Rede, sei es schon als Beginn der dann in V. 26 fortgesetzten Beschreibung der Genesung des Geretteten, ist strittig. Insofern ist die Vielfalt der möglichen Auslegungen hier noch höher als in anderen Bereichen des Hiobbuches. 33,23 Die Rettung des von Gott durch Krankheit bis an den Rand des Todes gebrachten Menschen wird durch einen Engel (malʾāk „Bote“) ermöglicht.119 Im traditionsgeschichtlichen Hintergrund steht wie in Hi 1,6–12 und 2,1–6 die Vorstellung des göttlichen Thronrats (vgl. 1Kön 22,19).120 Die Bezeichnung melîṣ kennzeichnet den malʾāk als einen „Fürsprecher“, „Dolmetscher“ oder
Vgl. Ps 6,3–4.7–8; 32,3–4; 38,3–4.6–9; 107,18; Spr 5,11. Vgl. Hi 6,5–7.13–14; 7,8; 19,20; 30,16–17.27.30. 116 Vgl. Hi 7,13.15; 17,1.14; 30,23; Sir 51,6. 117 Vgl. Hi 33,23LXX (siehe die nächste Anm.); 40,11; 2Sam 24,16; Ps 78,49; Spr 16,14; zu Namtar als Wesir der Unterweltsgottheit Ereškigal siehe die neuassyrische Version von Išars Abstieg in die Unterwelt 67.110–126 (TUAT III, 763; 756). 118 So erscheinen beispielsweise in der LXX anstelle des Fürspracheengels „tausend todbringende Engel“, von denen der dem Tode Nahe nicht verwundet wird, wenn er Buße tut und sich Gott zuwende (vgl. Hi 36,14 LXX) oder anstelle des Motivs des Lösegeldes folgt eine Beschreibung der körperlichen Restitution des Leidenden („dann wird er dafür sorgen, dass er nicht in den Tod fällt; / und er wird seinen Körper erneuern wie Farbe auf einer Wand, / und seine Knochen wird er mit Mark füllen“), die im MT erst in V. 25 ausgeführt wird. Ob 11QTgHi wie die LXX kein Äquivalent zum Motiv des Lösegeldes hatte, lässt sich angesichts des fragmentarischen Zustandes der Hs nicht sagen. 119 S.o. den Exkurs zu Engeln im AT bei der Auslegung von Hi 4,18 (S. 146–148). 120 Siehe dazu ausführlich Hartenstein, Angesicht, 86–91. 114 115
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„Vermittler“ vor Gott (vgl. 5,1),121 der zu den himmlischen „Tausendschaften“ gehört.122 Aus diesen ragt er als einzigartiger (ʾæḥād) Fürsprecher zugunsten des Menschen hervor. Er bildet eine Gegenkraft zum Satan (1,6–12; 2,1–7) und zu den himmlischen Boten, denen Gott nicht traut (4,18). Hatte der Satan Gott dazu bewegt, Hiob mittels des Verlustes seines Besitzes und seiner Gesundheit schwer auf die Probe zu stellen (1,11; 2,5), so interveniert der Fürspracheengel wie ein weiser Ratgeber vor dem König (Spr 16,14), indem er Gott selbst das dem Menschen Gebührende (jošær), und das heißt letztlich das Hiob Gebührende, mitteilt. Der in V. 23b genannte „Mensch“ kann angesichts der vorausgesetzten Szenerie der himmlischen Intervention nicht der Adressat sein, dem die göttliche Sprache übersetzt wird. Für diese zumeist vertretene Deutung könnte auf die Konstruktion von nāgad (Hif.) mit le der Person verwiesen werden (vgl. Hi 36,9); doch spricht die Parallele zu 13,7–8 dafür, le hier im Sinn von „zugunsten“ zu verstehen.123 So ist der Mensch der Gegenstand und Gott der Adressat der Rede des Engels. Der Begriff jošær bezeichnet dann hier auch nicht die Pflicht oder die Aufrichtigkeit des Menschen, sondern das dem Menschen angemessen Zukommende (vgl. Ps 22,32a).124 Der Fürspracheengel erinnert damit gewissermaßen Gott selbst an die Auflage, die er dem Satan gemacht hatte, nämlich bei allen Schlägen letztlich das Leben des aufrichtigen (jāšār) Hiob zu bewahren (1,1; 2,6) – dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass nur die Leser um diese Einschränkung wissen. Mit seinem Blick in den Himmel greift Elihu den Wunsch Hiobs nach einem Mittler (môkî aḥ, griech. μεσίτης, 9,33) und einem himmlischen Fürsprecher (16,19–21) auf, modifiziert dessen Erwartung aber angelologisch.125 Insofern ist die (in-)direkte Identifikation des Fürsprechers mit Elihu selbst126 unwahrscheinlich, auch wenn dieser hinsichtlich seines Selbstverständnisses, Hiob zurechtzuweisen (jākaḥ), ihm zu antworten (ʿānāh) und zwischen Gott und Hiob vermitteln zu wollen, als irdischer Vertreter Gottes und des himmlischen melîṣ erscheint. Motivisch entspricht das Bild vom Fürspracheengel vor Gott der Vorstellung des erweiterten Prologs 121 Vgl. Hi 16,20 (conj.); 1QHa XIV,13(16); Tob 3,11+16 (G I); 12,12; Sach 1,12; TestLev 3,5; TestAbr 14; TestDan 6. TgHi 33,23 übersetzt wie in 16,20 mit dem aus dem Griech. entlehnten Wort p eraqlîṭāʾ/p eraqlêṭāʾ „Anwalt/Fürsprecher“ (s.o. S. 277). 122 Vgl. Dan 7,10; 1Hen 14,22; Mt 26,53. TgHi 33,23 spezifiziert die Tausend mit dem griech. Lehnwort qāṭêgôr/qaṭêgôr/q eṭêgôrāʾ (vgl. κατήγορος) als „Ankläger“. 123 Vgl. Ps 56,10; 118,6–7; 124,1; 2Chr 19,6. 124 Vgl. dazu auch Hartenstein, Angesicht, 87f; ähnlich, aber stärker im juridischen Sinn der durch den als himmlischen Verteidiger verstandenen melîṣ eingeforderten Rechte des Menschen D.N. Freedman/B.E. Willoughby, Art. malʾāḵ, ThWAT IV (1984) 902f, und Greenstein, 141 („To declare a person upright“). Auch TgHi scheint den MT in etwa diesem Sinn verstanden zu haben („Wenn dann Gerechtigkeit in ihm [d.h. dem Menschen] ist, dann wird ein Engel bereitet, ein Verteidiger, einer der Söhne der tausend Ankläger, um dem Menschen seine Redlichkeit zu verkünden“). 125 Vgl. dazu auch Ross, Job, 41, der allerdings die Modifikation darin sieht, dass Elihu an die Stelle des von Hiob erwarteten rechtlichen Vermittlers einen kultischen Vermittler setze, und der als traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Hi 33,14–30 das atl. Klagegeschehen annimmt. 126 In diese Richtung geht die Deutung von Willi-Plein, Sprache, 134 mit Anm. 16 und 152. Vgl. dazu auch die Stilisierung Jeremias als Fürbitter (Jer 7,16; 11,14; 14,11; 32,16; 37,3; 42,2.4.20) und das Selbstverständnis des Beters von 1QHa X,13(15).
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von Gott als himmlischem König, der von den Gottessöhnen bzw. der Schar der Engel umgeben wird (1,6; 2,1, vgl. Dan 7,10). Theologisch wird damit analog zum Motiv der Offenbarung im Traum die Transzendenz Gottes betont. Religionsgeschichtlich steht diese kleine Szene im Kontext der in der jüdischen Literatur besonders seit dem 3./2. Jh. v.Chr. verbreiteten Vorstellung der fürbittenden Engel: Und jetzt fürchtet den Herrn, meine Kinder, und hütet euch vor dem Satan und seinen Geistern. Nähert euch Gott und dem Engel, der für euch bittet: Denn dieser ist der Mittler (μεσίτης) Gottes und der Menschen zum Frieden Israels, und er wird gegen die Königsherrschaft des Feindes stehen. (TestDan 6,1–2).127
Gesamtbiblisch findet Hi 33,23–26 ein Gegenüber und eine mehrdimensionale theologische Weiterentwicklung im Sinne einer „substitutiven Stellvertretung“ zunächst im vierten Gottesknechtslied (Jes 52,13–53,12),128 dann in der Kennzeichnung Jesu Christi als Mittler (μεσίτης), der sich selbst als „Lösegeld“ (ἀντίλυτρον) gegeben hat (1Tim 2,5–6), und als Tröster (παράκλητος), der als „Sühnopfer“ (ἱλασμός) für die Sünden der Welt gestorben ist (1Joh 2,1–2). So ist in Elihus Fürspracheengel (wie in den vergleichbaren Mittlerengeln der jüdisch-hellenistischen Literatur) „das göttliche Mysterium ahnungsvoll vorgebildet, das in Jesus Christus geschichtliche Gestalt gewonnen hat.“129 In der rabbinischen Diskussion über die Rolle eines Fürsprechers130 beim himmlischen Gericht ist Hi 33,23 ein Schriftzitat: Folgende sind die Fürsprecher des Menschen: Buße und gute Werke. Selbst wenn neunhundertneunundneunzig über ihn zu Ungunsten sprechen, und einer über ihn zu Gunsten spricht, wird er gerettet, wie es heißt: [Hi 33,23] (bShab 32a).131
33,24–25 In V. 24a wechselt das Subjekt: Die Rede des Engels bewirkt, dass Gott sich erbarmt und nun seinerseits den Engel beauftragt, den am Rand des Todes stehenden Menschen zu retten und gesunden zu lassen. Es ist Gott selbst – nicht der Engel –132, der gnädig ist (ḥānan)133 und der ein „Lösegeld“ (kopær) für den Menschen gefunden hat.134 Bezeichnenderweise wird nur hier im Hiobbuch ḥānan mit Gott als Subjekt verwendet; der Begriff der göttlichen Vgl. zudem TestLev 3,5–6; 6,2; Tob 12,15; Jub 30,20; 1Hen 9,3; 39,5; 40,6.9; TestAss 6. H. Spieckermann, Art. „Stellvertretung“, TRE 32 (2001) 135–137, hier: 136. Weiser, 223. 130 Dort wie in TgHi 16,20 und 33,23 als p eraqlîṭāʾ/p eraqlêṭāʾ bezeichnet (s.o. Anm. 121). 131 Übersetzung: Goldschmidt, Talmud, I, 526; vgl. mAv IV,11(13); bBB 10a und siehe dazu auch die Auslegung von Hi 16,21. 132 So aber Janowski, Sühne, 171f; Pilger, Erziehung, 62f; 158–161 (im Sinn der „repräsentativen Stellvertretung“). 133 Vgl. Ex 33,19; Num 6,25; Ps 25,16; 26,11; 27,7; 30,11 u.v.a. 134 Zum begründenden Charakter des Pf. māṣāʾtî nach der Aufforderung zur Befreiung siehe Diehl, Imperativ, 302. 127 128 129
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Gnade (ḥen) erscheint im Hiobbuch überhaupt nicht. Der Terminus des Lösegelds hat seinen eigentlichen Ort im Bereich des Rechts, näherhin im Bereich des privaten Schadenersatzrechts und der Auslösung von der Todesstrafe (vgl. Ex 21,30; Num 35,31–32; Spr 13,8).135 Wie in Ps 49,8 wird er in Hi 33 metaphorisch zur Bewahrung vor dem Tod verwendet, allerdings nicht wie dort zur Beschreibung der Errettung aus dem endgültigen Tod, sondern aus dem vorzeitigen. Dieses Bild entspricht der Bewahrungsnotiz in V. 18 und bildet das positive Gegenüber zu V. 22. In der Schwebe bleibt, worin das gefundene Lösegeld eigentlich besteht: in der Tatsache der Fürsprache des Engels oder in deren hier nicht ausdrücklich mitgeteiltem Inhalt? Für Ersteres könnte Spr 16,14 sprechen, für Letzteres eine Notiz in den Lobliedern aus Qumran – falls der Gerettete (beziehungsweise Hiob) kein rāšāʿ war: „Du nimmst kein Lösegeld für die Taten der Bosheit (ršʿh)“ (1QHa VII,27[37], vgl. 1Hen 98,9–10). Zu erwägen wäre auch, ob hier bereits die frühjüdische und neutestamentliche Vorstellung von einem himmlischen Gnadenschatz vorliegt, „in den die Gerechten ‚einzahlen‘ und aus dem weniger gerechten Hilfsbedürftigen ‚zugezahlt‘ wird“.136 Allerdings würde auch dies nur zwischen den Zeilen gesagt. Die häufig in der Forschung vertretene Annahme, dass das Lösegeld in der durch den Engel bewirkten Buße des Erkrankten besteht,137 setzt voraus, dass unter jošær die Pflicht des Menschen, hier dann die Pflicht zur Umkehr, zu verstehen sei. Zwar kann im frühen und später im rabbinischen Judentum der Buße, wie auch dem Gebet, guten Werken und Almosen oder der Torah eine sühnewirkende und fürsprechende Funktion zugeschrieben werden,138 doch wird genau dies in Hi 33,23–24 nicht gesagt. Entscheidend ist, dass Gott dank des Fürsprechers einen kopær gefunden hat und der Mensch aufgrund eines innergöttlichen Handelns aus dem ihn „existentiell gefährdenden Unheilsgeschehen“139 herausgenommen wird. Dass im hebr. Text die Subjekte in V. 24 unbestimmt bleiben, ist dann möglicherweise bewusst so gestaltet, um die Interaktion zwischen dem Engel und Gott als ein innergöttliches Geschehen zu kennzeichnen, das sich letztlich dem menschlichen Verstehen entzieht. Versteht man den Vers als Fortsetzung der Rede des sich gnädig erweisenden 33,25 Gottes,140 so malt er aus, was die Bewahrung vor dem Gang ins Totenreich bedeutet. Aus dem Empfang des Lösegelds folgt die Ankündigung Gottes selbst, der von tödlicher Krankheit Gezeichnete werde seine als „Fettwerden“ (conj. ṭāpaš) des abgemagerten Fleisches (vgl. V. 21)141 beschriebene Vitalität Vgl. dazu ausführlich Janowski, Sühne, 153–174. Oeming, in: Oeming/Schmid, Hiobs Weg, 90f; vgl. Röm 4,25; 5,7–8; 11,28; 1Joh 2,12. 137 Vgl. Lévêque, Job, I, 548–552, J. Gray; Janowski, Sühne, 149f; Wahl, Schöpfer, 67. In diesem Fall ist der jošær dann die Buße des Menschen (vgl. Jes 30,15; 31,6; 44,22; Ez 18,21–22; Hos 14,2). 138 S.o. S. 518–520; vgl. Sir 3,30; J. Behm, Art. παράκλητος, ThWNT V (1954) 798–812, hier: 809. 139 Janowski, Sühne, 171. 140 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 141 Siehe die Anm. zur Übersetzung. Zum Motiv des „Fettseins“ als Zeichen des Segens vgl. Dtn 31,20; Spr 11,25; 13,4; 28,25. 135 136
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wiedererlangen und zu den Tagen der Jugend zurückkehren, die von Gesundheit geprägt waren. Auf Hiob bezogen wird damit dem, der über den Verfall seines Fleisches klagte (7,5; 19,20, vgl. 2,5–7) und der sich nach der Zeit seines Frühlings zurücksehnte (29,2–4), neue Hoffnung zugesagt. Eine Rückkehr Hiobs in den Status vor der göttlichen Heimsuchung und damit zu einer ungestörten Gottesgemeinschaft kündigt sich an (vgl. 29,2, vgl. 1,10). 33,26–28 Ausdruck der intakten Gottesgemeinschaft, die hier ganz im eigentlichen Wortsinn mit dem Begriff der (wiedererhaltenen) Gerechtigkeit (ṣedāqāh) bezeichnet wird (vgl. 27,6), sind die Erhörung des Gebets und göttlicher Segen. Dass der Begriff ʿātar hier nicht die Fürbitte des Engels bezeichnet,142 sondern das Beten des Geretteten, zeigt spätestens V. 27. Mit Heilsbildern, wie sie bereits den Schluss der letzten Eliphasrede bestimmten (22,27–30),143 beschreibt Elihu eine Kette von Reaktionen auf die erfolgte Rettung. Dabei ist das Gebet (V. 26a) nicht die Voraussetzung der Bewahrung vor dem Tod, sondern Folge dieser. Es setzt seinerseits die heilvolle Schau des göttlichen Angesichtes frei (vgl. Gen 33,10; Ps 11,7; 44,4). Mögen auch das Motiv der heilvollen Zuwendung Gottes (rāṣāh, rāṣôn), die Wendung, das Angesicht Gottes zu sehen, und der Begriff des Jubels (terûʿāh) im Kult beheimatet sein und zunächst die im Gottesdienst vermittelte Erfahrung der segensreichen Gegenwart beschreiben,144 so nimmt Elihu hier doch die Erwartung Hiobs, er werde am Ende Gott sehen (19,27), auf und blickt prophetisch auf dessen Vision (rāʿāh) und erhörte Fürbitte (hitpallel) voraus, die das Buch beschließen werden (42,5.8–10). Der Klage Hiobs über die Abwendung Gottes von ihm (19,7; 30,20) ist damit ein starker Kontrapunkt gegeben. Hatte Elihu zu Beginn seiner Rede Hi 13,24b zitiert (vgl. 33,10), so reagiert er nun auf 13,24a (vgl. 33,26aβ). Spiegelbildlich zur heilswendenden Fürbitte des Engels (V. 23b) und zur daraus folgenden Gnadenrede Gottes (V. 24 drittes Kolon) entfaltet Elihu die Wiederherstellung der dem Menschen seitens Gottes zukommenden Gerechtigkeit (ṣidqātô),145 und die sich an diese anschließende Bekenntnisund Dankrede des Menschen (V. 26b+27 erstes Kolon). Dem Bekenntnis Gottes, ein Lösegeld gefunden zu haben, entspricht das Sündenbekenntnis des Geretteten (V. 24 drittes Kolon/V. 27 zweites und drittes Kolon). Die göttliche Aufforderung an den Engel, den Erkrankten vor dem Tod zu bewahren, besitzt ihr Pendant im Zeugnis des Bewahrten, tatsächlich vor dem Gang in die Unterwelt losgekauft und in das Leben zurückgebracht worden 142 Vgl. Gen 25,21; Ex 8,5 und im Sinn der Fürbitte des Engels Oeming, in: Oeming/Schmid, Hiobs Weg, 84–86; Pilger, Erziehung, 63f; 147–163. 143 Hi 5,18–21; 8,20–21; 11,13–20; vgl. auch ÄHG 169, 14–15. 144 Vgl. Num 6,24–26 und zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund ausführlich Hartenstein, Angesicht. 11QTgHi hält hier ausdrücklich fest, dass Gott heilt (zum textgeschichtlichen Hintergrund dieser Differenz zum MT siehe die Anm. zur Übersetzung). 145 Häufig wird V. 26b wie auch die analoge Wendung in 1Sam 26,23 im Sinn der Vergeltung gemäß der Gerechtigkeit des Menschen verstanden (vgl. 1Kön 8,32; DCH s.v. šwb Hif. 3h); allerdings zeigt die Entsprechung zu V. 23b (jåšrô), dass es nicht um die vom Menschen ausgeübte Gerechtigkeit geht (so aber in Ez 18,22–32), sondern um die ihm seitens Gottes geschenkte.
Hi 32,6–33,33 Die erste Rede Elihus
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zu sein (V. 24 zweites Kolon/V. 28). Auch hier ist, anders als in den Mahnungen der Freunde (vgl. 8,6; 11,13–16; 22,21), das Bekenntnis der Sünde nicht die Bedingung der Rettung, sondern deren Folge. Erst in der Rückschau ergibt sich für den Geretteten die Erkenntnis, dass er sich verfehlt und Recht verdreht hatte,146 Gott ihm aber gerade nicht „Gleiches mit Gleichem vergolten hat“147. Aus dieser Erkenntnis fließt dann der Dank des in die Kultgemeinde zurückgekehrten Geretteten (vgl. 30,28–31). Das kleine Danklied in V. 28, das zahlreiche Parallelen in einzelnen Psalmen, frühjüdischen und altorientalischen Gebeten hat,148 greift auf die negative Klimax des zweiten Fallbeispiels in V. 22 zurück und beschließt dieses in Parallele zum Schluss des ersten in V. 18. Dass der Gerettete bekennt, Gott (und nicht der Engel) habe ihn vor dem Tod bewahrt (V. 28), entspricht ganz Hiobs Rückführung seines Schicksals auf Gott selbst (und nicht auf den Satan) in 1,21 und 2,10. Die beschriebenen Redeweisen Gottes, Traumbilder als Maßnahmen, den 33,29–30 Menschen zur Korrektur seines Lebens zu bewegen, und das Eingreifen eines Fürspracheengels sind kein einmaliges Geschehen, sondern wiederholen sich (vgl. V. 14; Ps 62,12). Summarisch benennt Elihu nochmals als Ziel dieses göttlichen Handelns die Rettung des Menschen vor dem vorzeitigen Tod und dessen Rückführung in das Licht der Lebenden/des Lebens (ʾôr haḥajjîm V. 30, vgl. Ps 56,14); Letzteres meint sowohl das Leben in der Gemeinschaft der Lebenden, die andernorts auch als „Land der Lebenden“ bezeichnet werden kann,149 als auch das Leben im Angesicht Gottes, das heißt in der ungestörten Kommunikation mit Gott (vgl. V. 28; Ps 36,10; PsSal 3,12; Joh 8,12). Blickt man abschließend nochmals auf die Argumentation Elihus in 33,12–30 zurück, so liegt die Rettung des Menschen nicht in dessen Hand. Sie gründet in der Freiheit Gottes, der größer ist als der Mensch (33,12b), der sich aber auch des Menschen erbarmt (33,24). Insofern Elihu, zumal in 33,23–25, einen Rechtfertigungsvorgang beschreibt, dessen Initiative allein bei Gott liegt, der dem Menschen nicht nach menschlichem Maßstab vergilt (V. 27b), lässt sich auch von einem Evangelium Elihus sprechen.150 Was der Mensch tun kann, ist, die Zeichen Gottes als solche wahrzunehmen, so im Fall des Traums, und auf ein gnädiges Handeln Gottes zu hoffen, so im Fall des himmlischen Fürsprechers. Zu beidem, zur richtigen Deutung der ihm von Gott gesandten Träume und zum bleibenden Vertrauen auf Gott, auch wenn dessen Handeln den Menschen bis an die Grenze des Belastbaren führen und sich die Gründe dafür nicht unmittelbar erschließen, will Elihu Hiob animieren. Damit werden einerseits Hiobs Elendsbeschreibungen und Klagen über den ihn heimsuchenden Gott aufgenommen: Die leidvollen Vgl. Ps 41,5; 51,6; 2Sam 24,17. Vgl. Ps 103,10 versus Hi 34,11; Ps 62,13; Sir 35,24; 11QPsa XXII,10. 148 Vgl. Ps 30,3–4; 116,3–9; DanLXX 3,88; Sir 51,1–12; 1QHa XI,20; ein Hymnus auf Marduk 183–188 (TUAT II, 758); vgl. auch 2Kor 1,9–10. 149 Vgl. Jes 38,11; 53,8; Jer 11,19; Ez 26,20; Ps 27,13; 52,7. 150 H.-M. Wahl, Das ‚Evangelium’ Elihus (Hiob 32–37), in: Beuken (Hg.), The Book of Job, 356–361; ähnlich Oeming, in: Oeming/Schmid, Hiobs Weg, 92f. 146 147
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
Erfahrungen des Mannes (gæbær, 33,17) Hiob sind tatsächlich Maßnahmen Gottes, doch nicht zur Vernichtung, sondern zur Erziehung. Andererseits wird Hiobs Anspruch abgewiesen, er könne aufgrund seiner moralischen und religiösen Integrität und gemäß Kap. 31 aufgrund seiner Torahtreue von sich aus Gott gegenübertreten und zu einer Antwort bewegen. In dieser Hinsicht steht auch die erste Rede Elihus, wenngleich sehr viel verhaltener als die Grundschicht der Hiobdichtung, in einer kritischen Distanz zu einer vor allem dtr. geprägten Torahtheologie, wie sie sich in unterschiedlichen Facetten durch das gesamte Hiobbuch zieht. 33,31–33 Elihu beschließt seine Rede mit dem eindringlichen Aufruf an Hiob, er möge auf ihn hören und sich von ihm belehren lassen (ʾālap Piel, vgl. 15,5; 35,11). Mit der weisheitlichen Rhetorik (vgl. 37,14; Spr 4,1.20; 5,1) und der Hinwendung zu Hiob, dem er gerne Recht geben würde (ṣādaq Piel), – wenn er es denn könnte – kehrt Elihu zu seinen anfänglichen Ausführungen zurück und leitet bereits zu seiner nächsten Rede über.151 Elihu ist sich seiner besonderen Erkenntnis bewusst und fühlt sich Hiob verbunden. Entschieden lautet das Schlusswort der Rede „Weisheit“ (ḥåkmāh). Im Gegensatz zur Weisheit der Älteren und der Freunde (32,7.13, vgl. 12,2) ist damit das Wissen um Gottes verborgenes Handeln bezeichnet, so wie es Elihu in 33,8–30 beschrieben hat. Anders als in dem sekundären, der Einfügung der Elihureden aber redaktionsgeschichtlich vorangehenden Nachtgesicht des Eliphas (vgl. 4,21) soll der Mensch in diesem Text nicht ohne Weisheit sterben. Liest man die erste Elihurede im Kontext der ,Endgestalt‘ des Buches, so stellt sie auch eine Korrektur bzw. Ergänzung der Hiob erst von einer jüngeren Redaktion in den Mund gelegten resignativen Einsicht dar, der Mensch höre von Gottes Handeln nur ein Flüstern (26,14), und tiefergehende Einsicht sei ihm letztlich versagt, da allein Gott Zugang zur Weisheit habe (28,28, vgl. 12,12–13). Dieser Korrektur zufolge weiß Elihu mit seinem Blick in das himmlische Vermittlungsgeschehen (33,23–25) hier mehr.
151 Eine Umstellung der Verse (so Fohrer; de Wilde; J. Gray [s.o. S. 491 Anm. 3]) ist unnötig, vgl. dazu auch Wahl, Schöpfer, 70.
Hi 34 Die zweite Rede Elihus
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Hi 34 Die zweite Rede Elihus 34,1 Und Elihu hob an und sagte: 2 Hört, ihr Weisen, meine Worte, und ihr Wissenden, bekommt mich zu Ohren. 3 Denn das Ohr prüft die Worte, wie1 der Gaumen die Speise2 schmeckt. 4 Das Recht wollen wir für uns wählen3, wollen unter uns wissen, was gut ist. 5 6 7 8 9
Denn Hiob hat gesagt: „Ich bin im Recht, aber El entzog (mir) mein Recht. Trotz4 meines Rechts werde ich betrogen5, unheilbar (steckt) der Pfeil6 in mir, ohne ein Vergehen.“ Wer ist ein Mann wie Hiob, der Spott7 trinken muss wie Wasser, hinsichtlich8 der Gemeinschaft mit Übeltätern und des Umgangs mit Männern des Frevels? Denn man9 hat gesagt: „Ein Mann hat keinen Nutzen10 dadurch, dass er gegenüber Gott freundlich ist.“
Vgl. die Anm. zu Hi 5,7. BHK und BHS erwägen die Vokalisation ʾokæl wie in Hi 12,11 (vgl. Weiser), doch kann auch der Inf. ʾækæl beibehalten werden (vgl. Lauber, Weisheit, 69). 3 Oder: „prüfen“ (vgl. Hi 29,25). Die Annahme einer zweiten Wurzel bḥr (so Ges18) ist dabei unnötig. 4 Zum konzessiven Gebrauch von ʿal (vgl. Waltke/O’Connor § 11.2.13f) siehe auch Hi 10,7. 5 Anstelle von ʾ akazzeb „muss ich lügen“ (vgl. Weiser) lies ʾækkāzeb. Zu erwägen ist auch die Lesart j ekazzeb „er [d.h. Gott] behandelt mich als Lügner/betrügt mich“ (vgl. LXX; CTAT 50/5, 329). Gordis und Hartley verstehen den MT als ein indirektes Zitat („Ich werde für einen Lügner gehalten“). 6 Diese Formulierung geht auf Hi 6,4 zurück und sollte nicht in maḥaṣ/maḥ aṣî „Wunde/meine Wunde“ (vgl. Jes 30,26; Fohrer; J. Gray) oder makkātî „meine Wunde“ (vgl. Jer 15,18) geändert werden (vgl. auch Hi 16,13). 7 11QTgHi übersetzt laʿag im Sinn von Blasphemie mit ḥṭjʾ „Sünden“. Zur Frage, ob Hiob hier Täter oder Opfer ist, trägt 11QTgHi jedoch nichts bei, da der Text von V. 7 zu fragmentarisch erhalten ist. 8 Aus kolometrischen Gründen ist w eʾāraḥ „und er geht“ zu streichen; le leitet demgemäß keine final aufzulösende Infinitivkonstruktion ein (so aber Lauber, Weisheit, 70), sondern steht hier im Sinn von „was anbetrifft“ (vgl. G/K § 143e) und führt damit den gegen Hiob erhobenen Vorwurf ein. 9 Zumeist wird Hiob als implizites Subjekt von ʾāmar „er hat gesagt“ angenommen (vgl. Hi 34,5; 33,8). Hierbei handelt es sich jedoch um ein Zitat aus der dritten Rede des Eliphas (vgl. Hi 22,2), so dass sich eine unpersönliche Übersetzung empfiehlt (vgl. G/K § 144d); siehe die Auslegung. 10 11QTgHi übersetzt skn mit šnʾ „verändern“, wobei unklar ist, was der Mensch nicht verändert, da die folgenden Wörter nicht erhalten sind. 1 2
ER
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
10 Deshalb, ihr Männer von Verstand11, hört mich 12! Fern sei von El der Frevel13 und von Schaddaj das Unrecht,14 11 wenn15 er einem Menschen seine Tat vergilt und es einen Menschen gemäß seinem Weg treffen lässt. 12 Ja, gewiss, El wird gewiss nicht freveln und Schaddaj16 nicht das Recht beugen.17 13 Wer hat ihm die Erde18 anvertraut, und wer hat den ganzen Erdkreis gegründet?19 14 Wenn er seinen Geist zu sich zurücknimmt20 und seinen Atem zu sich versammelt21, 15 so verscheidet alles Fleisch insgesamt, und der Mensch kehrt zum Staub zurück22.
Wörtl.: „Herz“, vgl. Hi 12,3; 17,4; 34,34. Aus poetologischen Gründen ist möglicherweise ḥ akāmîm oder ein ähnliches Wort zu ergänzen (vgl. V. 2 und V. 34); ähnlich schlägt BHK vor, im ersten Kolon nach lāken ḥ akāmîm haʾ azînû „Wohlan, ihr Weisen, nehmt zu Ohren, …“ zu lesen. 13 11QTgHi: „Lüge“ (šqr). 14 Sehr häufig werden die Nomina ræšaʿ und ʿāwæl in Inf. cstr. geändert (mer ešoaʿ … meʿawwel „zu freveln … Unrecht zu tun“; vgl. zumindest für den zweiten Fall 11QTgHi; Weiser). In beiden Fällen bleibt jedoch das Subjekt in der Schwebe; eindeutig ist die LXX, die diese Aussage auf Elihu/ Elius selbst bezieht, der bekennt, gegenüber Gott nicht das Recht zu beugen (so auch für den MT Pilger, Erziehung, 70, während Lauber, Weisheit, der ebenfalls beim MT bleibt, Gott als Subjekt versteht). Da das zweite Kolon eigentlich zu kurz ist, erwägt BHK, anstelle von meʿāwæl gemäß V. 12 und 8,3 meʿawwet ṣædæq „der das Recht beugt“ zu lesen. 15 Anstelle von kî poʿal wird häufig entsprechend V. 11b mit LXX; Sym; Syr (kî) kepoʿal „gemäß der Tat“ gelesen (vgl. BHK), doch dürfte der MT die ursprüngliche Lesart bewahrt haben, wobei kî hier nicht kausal (so Fohrer; Hartley) oder affirmativ (so Weiser; Clines) gebraucht ist, sondern konditional (vgl. die Auslegung). 16 11QTgHi übersetzt hier, soweit angesichts des fragmentarischen Zustandes erkennbar, einmalig šaddaj mit mrʾ „Herr“; nach der Rekonstruktion von DJD XXIII, 134, wäre dies auch in Hi 34,10 der Fall. 17 In 11QTgHi und in LXX erscheint die Aussage des MT als rhetorische Frage. 18 ʾār eṣāh ist wohl eine poetisch bedingte Sonderform von ʾāræṣ (vgl. Hi 37,12; G/K § 90f; J/M § 93i; und das Homoioteleuton ʾār eṣāh … kullāh) und keine falsche Vokalisation von ʾār eṣoh/ʾār eṣô „seine Erde“ (vgl. die HsK173; Weiser; Spr 8,31). 19 Hier nun formuliert 11QTgHi nicht als Frage, sondern als Aussage: „Er hat die Erde gemacht und den Erdkreis gegründet“; vgl. die LXX, die zumindest V. 13 auch als Aussage formuliert. 20 Anstelle von jāśîm ist mit einigen Hss jāšîb zu lesen (vgl. LXX; Syr), libbô zu streichen und rûḥô als Objekt zu jāšîb aus V. 14b in das erste Kolon zu ziehen. Zum MT („wenn er sein Herz [d.h. seine Aufmerksamkeit] auf sich selbst richtet“) vgl. Hi 1,8; 2,3 (siehe auch CTAT 50/5, 330f; Weiser; Strauß; Clines), doch sprechen poetologische und motivische Gründe für die vorgeschlagene Änderung. 21 11QTgHi: „zurückhält“ (jklʾ). 22 11QTgHi: „sie (d.h. die Menschen) werden liegen/sich legen (im Staub)“ (jškbwn, vgl. Tg [mit Ausnahme der Hs )ב. 11 12
Hi 34 Die zweite Rede Elihus
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16 Aber wenn Einsicht (da ist),23 dann höre dies, bekomme zu Ohren die Stimme meiner Worte! 17 Kann etwa einer, der das Recht hasst, herrschen24, oder kannst du den Gerecht-Starken25 zu einem Frevler erklären26? 18 Ihn, der zum König sagt27 „Du Nichtsnutz“, „Frevler“ zu den Edlen, 19 (ihn), der Fürsten nicht begünstigt28 und den Vornehmen nicht vor dem Geringen kennt. Denn das Werk seiner Hände sind sie allesamt,29 20 plötzlich sterben sie, und zwar mitten in der Nacht.30 Völker werden ins Wanken gebracht31 und gehen dahin, und er beseitigt32 den Tyrannen33, nicht von Menschenhand. 21 22 23
Denn seine Augen sind über den Wegen eines Mannes, und alle seine Schritte sieht er. Es gibt keine Finsternis und keinen dunklen Schatten, dass sich dort die Übeltäter verbergen könnten. Ja, er setzt über einen Mann keinen Zeitpunkt34, dass er mit Gott vor Gericht gehen könnte.
23 BHK und BHS schlagen vor, das von den Masoreten als Adhortativ von bîn akzentuierte, nach der Konjunktion ʾim syntaktisch aber problematische bînāh in bînotāh „wenn du Einsicht hast“ zu ändern (vgl. LXX; Sym; Syr; Tg; Vg). Am einfachsten ist es, den Akzent von der ersten auf die zweite Silbe zu verschieben und das Nomen bînāh anzunehmen (vgl. Pilger, Erziehung, 70f; Lauber, Weisheit, 71). Hartley bleibt beim MT, versteht ʾim jedoch als emphatische Partikel („indeed“). 24 Wörtl.: „binden/anschirren“ (vgl. Gen 22,3; Num 22,21). 25 D.h.: Gott. 26 Die unmittelbare Anrede Hiobs nach dem allgemein formulierten ersten Kolon ist auffällig. Möglicherweise ist mit zwei Hss die 3. P. Sg. jaršî aʿ zu lesen, wobei dann der „Gerecht-Starke“ das Subjekt ist (vgl. V. 12 sowie Syr; Tg). 27 Anstelle von haʾ amor „kann man sagen?“ lies hāʾomer (vgl. HsR349; LXX; Syr, Vg; CTAT 50/5, 333). 28 Wörtl.: „das Angesicht von Fürsten hebt“ (vgl. Hi 32,21). 29 Das Kolon hat kein Äquivalent in der LXX und könnte sekundär sein. 30 V. 20aα bildet wohl zusammen mit V. 19b ein Bikolon. 31 Anstelle von j egoʿ ašû ʿām wird häufig in jigw eʿû šôʿîm „Vornehme sterben“ geändert (vgl. V. 15.19, sowie BHK; BHS); doch kann man den MT beihalten, wenn man das als Kollektivum pluralisch konstruierte ʿām als pars pro toto versteht (vgl. Vg: populi; CTAT 50/5, 335). 32 Anstelle von jāsîrû „sie beseitigen“ lies mit HsK191 jāsîr „er (d.h. Gott) beseitigt“. Fohrer ändert in jāsûr „er muss weichen“ (vgl. HsK17, die jāsûrû liest), was aber auch nur unter der Voraussetzung der Änderung ʾabbîrîm sinnvoll ist; dasselbe gilt für den Vorschlag von Wahl, Schöpfer, 85, Hofal zu lesen (jûs erû „sie [die Gewalttätigen] werden beseitigt“), was aber auch die Lesart ʾabbîrîm voraussetzt (vgl. die folgende Anm). Ohne den Text zu ändern, wäre auch eine Auflösung der 3. P. Pl. als ein unpersönliches „man“ möglich (vgl. die Anm. zu Hi 18,18; CTAT 50/5, 335). 33 Anstelle von ʾabbîr liest HsK17 gemäß dem pluralischen Prädikat ʾabbîrîm (vgl. Hi 24,22). Die Inklusio mit V. 18 (mælæk) spricht für die singularische Lesart. 34 Anstelle von ʿôd „noch/andauernd“ (Weiser: „lang“) ist wohl môʿed zu lesen.
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
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Er zerbricht stets die Starken unerforschlich35 und setzt36 sodann andere an ihre Stelle.
25 Wohlan,37 er kennt ja ihre Taten, und wendet (sie)38 nachts, so dass sie zermalmt daliegen.39 26 Am Platz40 der Frevler klatscht er sie,41 an einem Ort, wo man es sieht,42 schlägt er sie43, 27 da sie nun einmal44 von ihm abgewichen sind und für alle seine Wege kein Verständnis hatten, 28 dass er45 den Schrei des Geringen vor sich bringt und er den Schrei der Elenden hört. 29 Aber wenn er sich selbst still verhält, wer erklärt dann zum Frevler? Und wenn er sein Angesicht verbirgt, wer erblickt46 ihn dann? Aber auf das Volk und die Menschen sieht er47, 35 11QTgHi versteht (wie die LXX) die Wendung loʾ ḥeqær im Sinn von „zahllos/ohne Ende“ (vgl. Hi 36,26; 1Kön 7,47; Jer 46,23), doch vgl. Hi 5,9; 9,10; Ps 145,3; Spr 25,3; Jes 40,28. Zumeist wird diese Wendung hier juridisch aufgelöst („ohne Verhör/Untersuchung“). 36 Die Punktation als Impf. consec. ist unsicher, möglicherweise ist w ejaʿ amîd zu lesen, doch vgl. die Anm. zu Hi 4,5; 7,18; 14,10 sowie J/M § 118q und Bobzin, Tempora, 437f, der allerdings im Präteritum übersetzt. 37 lāken ist hier im Gegensatz zur kausalen Verwendung in Hi 20,2; 32,10; 34,10; 37,24 und 42,3 affirmativ gebraucht (vgl. Gen 4,15; 1Sam 28,2; Jer 2,33). 38 Mit Syr kann das Suffix der 3. P. Pl. ergänzt werden, so dass anstelle von w ehāpak wah apākām zu lesen ist. 39 V. 25b fehlt in 11QTgHi und im OG. 40 Anstelle der Präp. taḥat „unter/an der Stelle/wie“ (vgl. Weiser) ist möglicherweise eine Form von ḥtt „zerschmettern“ zu konjizieren (vgl. LXX; Jes 9,3), sei es heḥet oder jāḥet (vgl. Budde und Bobzin, Tempora, 439, die ḥamātô tāḥet „sein Zorn zerschmettert“ lesen und s epāqām zu V. 26b ziehen; siehe dazu auch die nächste Anm.). Gordis ändert in taḥat rišʿām „als Entgelt für/wegen ihre/ ihrer Bosheit“ (vgl. Hartley; Clines). Der Parallelismus mit māqôm und die Parallele zu Hi 40,12 sprechen für eine Beibehaltung des MT. 41 In 11QTgHi fehlt ein Äquivalent zu taḥat r ešāʿîm. s epāqām erscheint als wjrmʾ hmwn („und er wird sie werfen“), vgl. die vorhergehende Anm. sowie zu dieser „Lücke“ in 11QTgHi Shepherd, Targum, 48 42 Wörtl.: „am Ort der Sehenden“, d.h. an einem öffentlichen Ort. 43 V. 26b ist kolometrisch zu kurz. Es empfiehlt sich, hikkām oder ein ähnliches Wort zu ergänzen; zu entsprechenden Vorschlägen siehe Clines. 44 Die Kombination der Relativpartikel ʾ ašær mit der hier kausal verwendeten Konjunktion ʿal-ken ist einmalig in der hebr. Bibel und wäre im Fall der Ursprünglichkeit eine Variante zu kî ʿal-ken (so Wahl, Schöpfer, 87). Möglicherweise ist ʾ ašær entweder zu streichen (so Hölscher), in den kolometrisch zu kurzen V. 26b zu integrieren (so Dhorme), um ein vorangestelltes ʿal zu ergänzen (J. Gray) oder als Verschreibung eines zu V. 26b gehörenden Verbs zu deuten; vgl. dazu auch Clines. 45 Implizites Subjekt des V. 27 explizierenden Inf. lehābîʾ könnten auch die Frevler sein (vgl. Vg; CTAT 50/5, 339; Weiser), doch spricht V. 28b dafür, Gott als Subjekt zu nehmen. 46 11QTgHi bietet jtjbnh und schließt ohne Kopula V. 29b an: „wer wird ihm antworten über ein Volk?“. 47 jāḥad (traditionell „allesamt“ [Weiser: „einzelnen“; Strauß: „beide“]) ist entweder ein Aramaismus (ḥdh II, hebr. ḥzh, vgl. KAHAL; DCH; Hi 3,6 [conj.]) oder in jāḥaz zu korrigieren (vgl. Hölscher; Greenstein, ähnlich BHK: jipqod „sucht er heim“ oder jāʿûr/jāʿîr „wacht er“; de Wilde jāḥar „zürnt er“). Die Präp. ʿal bedeutet zwar in Kombination mit dem Verb ḥzh in der hebr. Bibel
Hi 34 Die zweite Rede Elihus
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dass nicht ein gottloser Mensch herrsche, einer von den Fallstricken48 des Volkes.
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Ja, zu Eloah sage doch:49 „Ich habe getragen,50 will nicht (mehr) unrecht handeln51. Ohne dass52 ich sehe,53 lehre du mich! Wenn ich Unrecht getan habe, so tue ich es nicht wieder.“ Soll er etwas in deinem Sinn vergelten, wenn du verachtest?54 Ja, du selbst musst wählen55 und nicht ich, und was du weißt, rede.56
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Männer von Verstand57 mögen mir sagen und ein weiser Mann, der mich hört: „Hiob wird nicht mit Wissen reden und seine Worte nicht mit Verständnis.
in der Regel „über/betreffs“ (vgl. Jes 1,1; Am 1,1; Mi 1,1), doch kann sie hier auch im Sinn von „auf herab“ gebraucht sein (vgl. Ps 14,2) – gegen Clines, der mit diesem Argument beim MT bleibt und ʿal als verkürzten Nominalsatz versteht („er ist über“, d.h. „er herrscht“). 48 11QTgHi: „sie strauchelten“. 49 Anstelle von ʾæl-ʾel hæʾāmar „hat er/einer je zu El gesagt?“ ist wohl besser ʾæl-ʾ ælô ah ʾemor zu lesen, da die Fragepartikel h a-/ha-/hæ- eigentlich zu Beginn des Verses stehen müsste und mit V. 31– 32 offenbar bereits die direkte Applikation auf Hiob erfolgt (vgl. Hölscher, der ʾæl-ʾ ælô ah ʾāmar ḥānep liest: „doch spricht der Gottlose zu Gott, …“). Im Anschluss an die in BHK vorgeschlagene Textänderung (h ajoʾmar ʾel ʾel k niššeʾtî) hält Weiser V. 31–32 für das Zitat einer hypothetischen Rede Gottes („Soll Gott etwa sagen: ‚Ich habe mich geirrt ...‘“; so auch Fohrer und Wahl, Schöpfer, 89f, die noch V. 33 zu dem vermeintlichen Zitat einer kleinen Gottesrede zählen, was zwar tendenziell dem Auftakt der zweiten Gottesrede in Hi 40,7–14 entspräche, aber weitere massive Textänderungen voraussetzt). 50 nāśāʾ steht elliptisch für nāśāʾ ʿāwôn (vgl. Gen 4,13; Ex 28,38.43; Lev 5,1; Ez 18,20) bzw. für nāśāʾ ḥeṭʾ (vgl. Lev 20,20; 24,15; Num 18,22). Eine Änderung in niššeʾtî „ich habe geirrt/mich täuschen lassen“ (von nāšāʾ Nif.), wie von BHK vorgeschlagen (vgl. Weiser), ist unnötig. 51 11QTgHi hat anstelle von loʾ wohl lô „auf ihn/an ihm“ gelesen und übersetzt ʾḥbl mit ʾjḥl, wobei unklar ist, ob jḥl gemäß der hebr. Wurzel jḥl mit „warten“ wiederzugeben ist (so DJD XXIII, 136; ATTM I, 292; Zuckerman, Examples, 273f [mit der Annahme, der Targumist zitiere hier wörtlich Hi 13,15 Qere]) oder gemäß der syr. Wurzel jḥl mit „verzweifeln/aufgeben“ (so Sokoloff, Targum, 77: „will I forsake him?“). 52 11QTgHi: „an/in ihm (d.h. Gott) alleine“ (blḥwdwhj); vgl. dazu die vorangehende Anm. 53 BHK schlägt vor, blʿdj in ʿôd zu ändern und noch zu V. 31 zu ziehen sowie anstelle von ʾæḥ æzæh nach Vg (vgl. auch Syr) ʾim ḥāṭāʾtî „wenn ich gesündigt habe“ zu lesen (vgl. Hölscher). Doch spricht der Bezug zu Hi 19,26–27 dafür, den MT beizubehalten. 54 In 11QTgHi erscheint das Kolon als Aussage, nicht als rhetorische Frage. mʾs ist hier wie in Hi 42,6 ohne explizites Objekt gebraucht; Clines ergänzt „ihn“. 55 Oder: „prüfen“, siehe die Anm. zu Hi 34,4. 56 Das dritte Kolon könnte Fragment eines ursprünglichen Bikolons oder Zusatz (so Fohrer; J. Gray) sein. 57 Wörtl.: „Herz“, vgl. Hi 12,3; 34,10.
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
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O dass doch58 Hiob immerfort geprüft werde wegen der Antworten59 unter60 Männern des Übels, ja, er wird seine Sünde noch steigern,61 Vergehen zwischen uns ausspeien62 und vermehren seine Worte gegen63 El.“64
Literatur Cox, C.E.: Elihus’s Second Speech according to the Septuagint, in: W.E. Aufrecht (Hg.), Studies in the Book of Job, SRS 16, Waterloo 1985, 36–53. – Wolfers, D.: Sire! (Job XXXIV 36), VT 44 (1994) 566–569. – Zuckerman, B.: Two Examples of Editorial Modification in 11QtgJob [Job 36,14; 34,31], in: G.A. Tuttle (Hg.), Biblical and Near Eastern Studies (FS W.S. LaSor), Grand Rapids 1978, 269–275.
Aufbau und Sprachformen
Die zweite Rede Elihus wird mit einer eindringlichen Anrede der Versammlung der Weisen, vor der über die Fragen Hiobs gestritten wird, eröffnet (A1: 34,2– 4). Ein ausdrücklich als solches gekennzeichnetes Zitat Hiobs, das mit einem weiteren Zitat, dessen Zuweisung an einen bestimmten Vorredner Elihus umstritten ist, kontrastiert wird (A2: 34,5–8.9), bildet den Ausgangspunkt und den Gegenstand der folgenden Ausführungen. In ihrem Mittelpunkt steht die Verteidigung der Gerechtigkeit und Freiheit Gottes, die aus dessen Wesen und Schöpfersein abgeleitet sowie an dessen Macht über die Mächtigen in der Welt veranschaulicht wird (B1–4: 34,10–30). Anhand von direkten Anreden der Gesprächspartner und Begründungsformeln lässt sich dieser Hauptteil selbst in vier annähernd gleich lange Abschnitte untergliedern (34,10–15|16–
58 ʾābî ist wohl eine seltene Wunschpartikel (vgl. 2Kön 5,13; Syr; TgHss; Ges18; KAHAL; DCH; G/K § 159cc; J/M § 105f; 163c), nach BHK der Rest einer Dittographie von ʾijjôb in V. 35. Vg (pater mi) und Tg (ʾbʾ dbšmjʾ „der Vater im Himmel“ [nach der Mehrzahl der Hss, teilweise als Doppelübersetzung], vgl. TestHiob 33,3; Mt 6,9) verstehen das Wort als Anrede Gottes („mein Vater“), was innerhalb der hebr. Bibel einmalig wäre, aber im frühjüdischen Schrifttum belegt ist (vgl. 4Q372 frgm. 1,16; 4Q460 frgm. 9 I,6; 1QHa XVII,35; Sir 23,1.4 [G]). Auch wenn dieser Ausruf mit Elihus Bezeichnung Gottes als „mein Schöpfer“ (Hi 32,22; 35,10) korrespondieren und gut zur Bedeutung des Namens Hiob passen würde, so spricht doch die Konstruktion von V. 36 für die Auflösung von ʾābî als Einleitung eines Wunschsatzes. 59 Oder: „Sitzungen“ (gemäß t ešûbāh II, vgl. DCH s.v.). 60 Anstelle von b eʾanšê lesen einige Hss keʾanšê „wie Männer“ (vgl. LXX), was häufig für ursprünglich angesehen wird (vgl. Weiser; Strauß). 61 Aus poetologischen Gründen ist pæšaʿ wohl zu V. 37aβ zu ziehen (vgl. LXX; Syr), auch wenn die Formulierung in Sir 3,27 (HA) dafür sprechen könnte, dieses Wort noch als Teil von V. 37aα zu verstehen („er häuft auf seine Sünde noch Vergehen“, vgl. Weiser); doch siehe auch zum Gebrauch von josîp ʿal ohne zusätzliches Akkusativobjekt Esr 10,10; 2Chr 28,13; Ps 71,14; 115,14. 62 So nach spq II (vgl. Jer 48,26), doch wäre auch die Ableitung von spq I (mit dem impliziten oder ausgefallenen Objekt kappajîm/kappâw) denkbar (vgl. Weiser; Fohrer; Strauß: „er klatscht in die/seine Hände“ [als Zeichen des Spotts]); zahlreiche Hss bieten jiśpoq, was dann parallel zu V. b wäre: „er gibt reichlich (d.h. Worte) von sich“ (vgl. śpq II; aram. spq I; Hi 36,18. CTAT 50/5, 348 erwägt diese Bedeutung auch für spq). Dhorme legt aram. spq III „Zweifel erheben“ zugrunde und liest jaspîq (vgl. DCH s.v. spq II; Clines). 63 Nicht „über“ (so Strauß), vgl. Dtn 1,41. 64 Sofern V. 37aβ ursprünglich ist, handelt es sich um ein Trikolon, wie es gelegentlich zum Abschluss einer Strophe oder einer größeren poetischen Einheit erscheint (vgl. Watson, Poetry, 182f; 206).
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20|21–24|25–30).65 Dabei entsprechen sich der erste und der zweite bzw. der dritte und vierte Unterabschnitt inhaltlich und formal stärker. Eine Empfehlung an Hiob, was er nach Elihus Meinung wirklich zu Gott sagen solle, bildet das Pendant zu der die Rede einleitenden Zitation und beendet, vergleichbar dem fiktiven Sündenbekenntnis des Geretteten am Ende der ersten Elihurede (33,27–28), den Hauptteil der Rede (B5: 34,31–33). Eine erneute Anrede der Weisen, denen von Elihu gleichfalls passendere Worte in den Mund gelegt werden (V. 34 versus V. 9), beschließt den langen Monolog (C: 34,34–37). Seine wesentlichen Begriffe und Sprachformen stammen aus dem Bereich der Weisheit und des Rechts; mitunter klingen hymnische Formulierungen (34,13– 15.18.29a) und kultisch-rituelle Wendungen (34,31b.32b) an. Eine besondere Nähe hinsichtlich der Beschreibung der göttlichen Reaktion auf das Geschehen in der Welt besteht zu Ps 94. Wie schon in der ersten Rede Elihus variiert im Gegensatz zu den Reden in der ursprünglichen Dichtung die Länge der einzelnen Strophen. Dafür sind die einzelnen Teile der Rede deutlicher durch direkte Anreden Hiobs, seiner Freunde und eines als schweigend anwesend gedachten weisheitlichen Forums sowie mittels rhetorischer Elemente (Imperative, rhetorische Fragen, Konklusionen) und der Gegenüberstellung von Zitaten gegliedert. Die Vielzahl der rhetorischen Fragen unterstreicht den diskursiven Charakter. Die Anrede der Weisen und Hiobs sowie die kritische Auseinandersetzung mit einzelnen Sätzen beider Seiten zeigen, dass Elihu sich um eine argumentative Weiterführung des Dialogs Hiobs mit seinen Freunden bemüht und dass auch die zweite Rede Elihus trotz ihrer inhaltlichen Nähe zu den Reden der Freunde einen eigenständigen und differenzierten Beitrag zu den im Hiobbuch verhandelten Problemen leistet. In 11QTgHi sind Fragmente zu V. 6–17 und 24–34 erhalten. Eine kleine Leerstelle Text- und nach V. 9 deutet an, dass der Schreiber in V. 10 den Beginn eines neuen Rede- Literarabschnitts gesehen hat. Die Versteile 25b–26aα sind in 11QTgHi ohne Äquivalent, geschichte was sich im Fall der Lücke von V. 25b mit dem OG trifft. Daneben berührt sich 11QTgHi auch semantisch mehrfach mit der LXX gegen den MT. Im OG war die zweite Rede Elihus wesentlich kürzer. V. 3–4.6b–7.11b.18b.23a.25b.28–33 sind im ,kirchlichen Text‘ der LXX überwiegend aus Th nachgetragen.66 Sowohl im OG als auch im ,kirchlichen Text‘ fehlt ein Äquivalent zum masoret. V. 19b. Das „Fehlen“ der textlich besonders schwierigen und im MT kaum ursprünglich überlieferten V. 28–33 könnte darauf hindeuten, dass der griech. Übersetzer diesen Abschnitt, der möglicherweise auch in seiner Vorlage schadhaft war, einfach ausgelassen hat. Während die auf Th zurückgehenden Passagen dem MT stark entsprechen, weist der OG in Hi 34 besonders markante Unter65 Zu einer alternativen Gliederung des Hauptteils siehe Wahl, Schöpfer, 73, der V. 16–22 und 23–30 jeweils als eine Strophe betrachtet, und Pilger, Erziehung, 75, die V. 16–22 und 23–32(!) als Unterabschnitte abgegrenzt. Gegen die von J. Gray vorgeschlagene Strophik (V. 5–9|10–15|16–19.29b–30|20– 22.25|23–24.26–29a|31–37) spricht, dass sie die Umstellung einzelner Vers[teil]e voraussetzt. 66 Zur Herkunft der asterisierten Verse siehe auch Meade, Edition, 237–255.
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
schiede auf.67 Durchgehend zeigt sich die Tendenz, sowohl die Gerechtigkeit Hiobs (vgl. V. 6.8) als auch Gottes zu betonen. Hinzu kommt eine konsequente Einspielung der Torah (νόμος) als Norm richtigen ethischen und religiösen Verhaltens (vgl. V. 8.17.20.22.27.37). Entgegen der in neuerer Zeit vertretenen literarkritischen Aufteilungen von Hi 34 auf mehrere Hände68 dürfte die Rede literarisch einheitlich sein. Eigentliche Widersprüche oder stilistische Unterschiede, die zur Annahme unterschiedlicher Schichten innerhalb dieser Rede oder gegenüber der ersten in 32,6–33,33 berechtigten, liegen nicht vor.69 Wiederholungen und Redundanzen wie in 32,6–33,33 sind ein Merkmal des Elihudichters. Mitunter erklären sich unterschiedliche Argumente vor dem Hintergrund der diskursiven Anlage der Rede und einer verfremdenden Zitationstechnik, bei der in Zitaten Worte aus Hiobreden und aus Freundesreden gemischt werden. Auch eine umfangreiche Glossierung lässt sich mit Ausnahme eines Zusatzes in V. 29b–30 nicht wahrscheinlich machen. Die Mehrzahl der literarischen und poetologischen Probleme der Rede kann textkritisch oder durch eine vom MT abweichende Segmentierung einzelner Kola gelöst werden. 34,1–9 Die Worte Hiobs und der Freunde auf dem Prüfstand 34,1 Die Überschrift entspricht der Form der Überschriften der Hiobreden im Hauptteil der Dichtung, die lediglich die Antwort- und Redeformel sowie den Namen des Redners (ohne Angabe eines Gentiliziums oder seines Herkunftsortes) nennt. Nach Stephan Lauber geht sie erst auf die Redaktion zurück, welche die ursprünglich als jeweils unterschiedliche, eigenständige Kommentare zum Hiobdialog verfassten Reden in Kap. 33; 34 und 35 verbunden habe. 70 Betrachtet man jedoch die zweite Elihurede als eine weitergehende thematische Auseinandersetzung mit der Position Hiobs und der Freunde, dann kann 34,1 auch als die ursprüngliche Überschrift einer zum Grundbestand der Komposition des Elihudichters zählenden Rede in Kap. 34 angesehen werden. Die Überschrift dient somit als Gliederung der Elihureden. 34,2–4 Diese Rede setzt mit einem eindringlichen Höraufruf an die Weisen (ḥakāmîm)71 ein, womit Elihu an das Schlusswort seiner vorangehenden Rede anknüpft (ḥåkmāh, „Weisheit“, 33,33). Der Auftakt kennzeichnet die Ausführungen Eli67 Siehe dazu C.E. Cox, Origen’s Use of Theodotion in the Elihu Speeches, SecCen 3 (1983) 89–98, hier: 92, sowie ausführlich Gorea, Job repensé, 170–178. 68 So Mende, Leiden, 58–69; Vermeylen, Métamorphoses, 323; 347; Pilger, Erziehung, 68–89; s.o. S. 493f, vgl. aber auch Kaiser, 93, der V. 7–10a.19b.20b.37aβ einer „späten Bearbeitung“ der Grundschicht der Elihureden und V. 29b.30–33 einer „Gerechtigkeitsbearbeitung“ zuweist. Zur Beurteilung von V. 9–10a als sekundär siehe schon Budde und Hölscher. 69 Vgl. Lauber, Weisheit, 160–162, der aber selbst, unberechtigt, Hi 34,29–30.31–33 als redaktionelle Harmonisierungen betrachtet (a.a.O., 174–176; 229–232). 70 Lauber, Weisheit, 181; 441; s.o. S. 494. 71 Vgl. Hi 12,2; 15,2.18; 17,10; 34,34.
Hi 34 Die zweite Rede Elihus
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hus als eine weisheitliche Lehrrede72 und bestimmt das genaue Hören (šāmaʿ) und Zuhören als Quelle der Erkenntnis. Dementsprechend zieht sich der Begriff šāmaʿ als ein Leitwort durch die gesamte Rede.73 Die Eingangsverse bieten mit ihrer Häufung von Begriffen des Erkennens (jādaʿ) geradezu eine kleine weisheitliche Erkenntnislehre (vgl. 32,8–13). Das Ohr erscheint, unterstrichen durch ein bereits in 12,11 verwendetes (und daher gelegentlich als sekundär angesehenes)74 Bildwort, als Organ der differenzierten Wahrnehmung (V. 2). Gegenstand des genauen Prüfens (bāḥan)75 und des Auswählens (bāḥar) soll das Recht (mišpāṭ) sein, also genau die Größe, die Hiob für sich im Blick auf sein Verhältnis zu Gott eindringlich einfordert (13,18; 19,7; 23,4; 27,2). Sechsmal wird Elihu diesen Begriff in seiner zweiten Rede verwenden und sich so ausdrücklich mit Hiobs Klagen über das ihm verweigerte Recht auseinandersetzen (vgl. 33,9).76 Dezidiert gipfelt der erste Teil der Exposition in der Aufforderung, gemeinsam zu erkennen (jādaʿ), was „gut“ (ṭôb) ist, also intensiv mit dem vertraut zu werden, was lebensförderlich und sinnvoll ist (V. 4).77 Damit greift die Schlusszeile den Begriff jādaʿ aus V. 2 auf und lässt zugleich die erste und die zweite Schöpfungserzählung anklingen, wo einerseits in göttlicher Selbstprädikation der gesamten Schöpfung das Prädikat „gut“ verliehen wird,78 andererseits dem Menschen die grundsätzliche Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Gut und Böse zugestanden wird.79 Beide Themen von Gen 1–3, die Güte der Schöpfung Gottes und die Frage der menschlichen und göttlichen Differenzierung von Gut und Böse, bestimmen die zweite Rede Elihus und erweisen sie als eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der von Hiob im Dialog artikulierten Sehnsucht nach dem Guten (7,3; 10,3; 30,26), aber auch mit der im Prolog angesprochenen Rückführung von Gut und Böse auf Gott (2,10). Vor dem Hintergrund, dass mitunter die Barmherzigkeit Gottes und Gott selbst als ṭôb bezeichnet werden können,80 zielt die Rede Elihus auch auf eine Wesensbestimmung Gottes. In diese gemeinschaftliche81 Suche nach Erkenntnis sind nicht nur Hiob, seine Freunde82 und ein stumm anwesendes Publikum ein-
72 Vgl. Spr 4,1; 5,7; 8,32–33; Ps 49,2–5; CD-A I,1; II,2; 4Q298 frgm. 3–4 II,4–5. Zur formalen Klassifikation als „Lehrrede“ vgl. auch Strauß, 291. 73 34,2.10.16.(28).34, vgl. 33,1.(8).31.33. 74 Vgl. Hölscher; de Wilde. 75 Zur Wendung bḥn mljn vgl. Gen 42,16 und 4Q299 frgm. 1,6 (jeweils bḥn dbrjm). 76 Folgt man der in der BHK vorgeschlagenen Ergänzung von mišpāṭî („mein Recht“) in V. 33, sind es sogar sieben Mal (vgl. Wahl, Schöpfer, 75); allerdings ist diese Konjektur unsicher. 77 Zu dieser Redewendung vgl. Jes 7,16. 78 Gen 1,4.10.12.18.21.25.31. 79 Gen 3,5.22, vgl. Sir 17,7 (G). 80 Vgl. Ps 135,3; 136,1; 145,9; Klgl 3,25; 2Chr 7,3 bzw. Ps 16,2; Sir 51,12a (HB); 1QS X,12 ; Mt 19,16 (par. Mk 10,17; Lk 18,18). 81 Vgl. die bewusste Formulierung in der 1. P. Pl. in V. 4. 82 Dagegen spricht nicht, dass Elihu in Hi 32,13 bestreitet, dass die Freunde „Weisheit“ gefunden haben (so aber Pilger, Erziehung, 76). Dass Hi 34,2 ironisch zu verstehen sei (so Mende, Leiden, 59f), wird durch den Text nicht angezeigt.
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
geschlossen, sondern auch die Hörer und Leser des Buches, sofern sie sich als Weise und Wissende verstehen (V. 2, vgl. V. 10.16.34). 34,5–9 Von einer Zitationsformel (kî-ʾāmar) gerahmt (V. 5a.9a, vgl. 33,12; 35,3), gibt der zweite Teil der Exposition den konkreten Untersuchungsgegenstand der Rede an: Hiobs Behauptung, von Gott ungerecht behandelt zu werden (V. 5–6), und, daran anknüpfend, die Fragen nach dem angemessenen Umgang mit Hiob (V. 7–8) und mit Gott (V. 9). 34,5–6 Die Zitation Hiobs nimmt dessen wiederholte Unschuldserklärungen auf, vor allem den (ursprünglichen) Auftakt des großen Abschlussbekenntnisses in 27,2–6 (vgl. 33,8–11).83 Sodann kombiniert sie in einer chiastisch betonten Gegenüberstellung von Hiobs Recht und gottgewirktem Leid Motive aus Hiobs Klagen über den als feindlichen Krieger erlebten Gott (V. 6, vgl. 6,4; 16,13–14; 19,6–9). Im Zentrum dieses kleinen Chiasmus und damit auch inhaltlich im Herz der Zitation steht der doppelte Verweis Hiobs auf sein Recht (mišpāṭ). Die Bestimmung des genauen intratextlichen Bezugspunkts von V. 6a wird allerdings dadurch erschwert, dass die Vokalisation des Wortes ʾkzb unsicher ist. Nach dem MT würde sich Hiob darüber beklagen, dass er trotz seines Rechts – auf den Rat der Freunde hin – aktiv lügen (kāzab Piel) solle, was dann im Sinne des Redens wider die eigene Erfahrung und Wirklichkeitsdeutung zu interpretieren wäre (6,28; 24,25, vgl. auch 17,11–12; 31,5). Der Zusammenhang mit V. 5 und die Fortsetzung in V. 6b hingegen sprechen dafür, ʾkzb passivisch zu verstehen,84 sei es, dass sich Hiob als Lügner wahrgenommen und von Gott bestraft erfährt (vgl. 9,20–21.29; 10,2; Spr 30,6), sei es, dass Hiob sich als von Gott getäuscht und betrogen erlebt (so gemäß der LXX). Für letzteres könnte die Parallele zur zweiten ,Konfession Jeremias‘ (Jer 15,10–21) sprechen, in welcher der leidende Gerechte über seine „unheilbare“ (ʾānûš, wie in Hi 34,6) Wunde und über die Fremdheit seines Gottes klagt, der sich für ihn von der Quelle des Lebens zu einem trügerischen (ʾakzāb!), d.h. schnell versiegenden Wasser verwandelt hat.85 Die Formulierung, Hiob erkläre sich frei von einem Vergehen (b elî-pæšaʿ), sind allerdings Elihus eigene Worte (vgl. 33,9) und haben so keinen wörtlichen Anhalt in einer Rede Hiobs.86 34,7–9 Die motivischen Entsprechungen von V. 6 zu den „Konfessionen Jeremias“, zumal zur fünften „Konfession“ in Jer 20,7–18, geben auch die Richtung für das Verständnis des Folgenden an. So geht es in der rhetorischen Frage in V. 7 nicht, wie zumeist angenommen, um den Spott, den Hiob ausübt,87 sondern um die Verspottung, die Hiob selbst trinken, d.h. ertragen muss (vgl. 12,4–5;
Vgl. Hi 6,28–30; 9,15.20–21; 10,7.15; 13,18; 16,17; 29,14; 31,4–37. Vgl. die Anm. zur Übersetzung (kāzab Nif.). 85 Jer 15,18; 17,16–17; 20,7, vgl. Hi 10,8.16; 30,21 sowie 1QHa XIII,28(30); XVI,28(29). 86 Pilger, Erziehung, 78, zieht hieraus die redaktionsgeschichtliche Konsequenz, Hi 34* als eine Fortschreibung von Hi 32–33* zu betrachten (vgl. auch Lauber, Weisheit, 172; 181). Allerdings entspricht die Form der Zitation und der Redundanz der Rhetorik der Elihureden. 87 Vgl. in diesem Sinn z.B. Fohrer, sowie ausführlich Wahl, Schöpfer, 79, und Pilger, Erziehung, 78f. 83 84
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16,10; 17,2.6; 30,9).88 Die Formulierung stammt motivisch aus der Klage über den von einzelnen Leidenden erlebten Spott (laʿag)89 und nimmt mit dem Bild des Trinkens (šātāh) wie schon in V. 6 Bezug auf Hiobs Klage in 6,4. Zudem rekurriert Elihu mit dem Begriff gæbær auf Hiobs Selbstbezeichnung in 3,3.23; 16,21. Im Kontext des um den Prolog angereicherten Buches korrespondiert die von Elihu gestellte Frage nach der Vergleichbarkeit Hiobs in paradoxer Weise mit dem göttlichen Urteil über dessen Unvergleichlichkeit (1,8; 2,3). Auch die Fortsetzung der Frage Elihus in V. 8 ist keine Anklage Hiobs, sondern eine inhaltliche Explikation der Verspottung Hiobs, insofern ihm – seitens der Freunde – unterstellt werde, sich mit Verbrechern und Frevlern zu verbünden (vgl. Ps 1,1). Die Frage Elihus, wer ein Mann „wie Hiob“ sei, ist keine Brandmarkung Hiobs als Spötter und Frevler im Sinne der Freunde (vgl. 11,2–3; 15,16; 18,2–4; 22,15), die von Elihu hier, wie bereits in 32,11–16, selbst kritisiert werden (vgl. 32,3). Sie ist vielmehr der Versuch, der Ambivalenz des Schicksals Hiobs, der unter dem Spott Gottes (vgl. 9,23) und seiner Umwelt leidet (vgl. 17,6), auf die Spur zu kommen. Elihu versteht sich dementsprechend offenbar als der von Hiob erhoffte Fürsprecher (môkî aḥ), der ihm bei Gott und seinen Nächsten Recht verschafft (jākaḥ; 16,21; 32,12).90 Dies schließt eine deutliche Widerlegung einzelner Behauptungen Hiobs, die in Elihus Augen als unangemessen oder falsch erscheinen, gerade nicht aus (vgl. 33,8–14). Elihu bezeichnet aber Hiob – jedenfalls in seiner bisherigen Argumentation – nicht grundsätzlich als einen Frevler, wie dies die Freunde in ihren Reden über das Schicksal eines rāšāʿ im zweiten Redegang und zuletzt Eliphas getan hatten (22,5–10.15). Er geht vielmehr den Fragen nach, wer Hiob und wer Gott sei und in welchem Verhältnis beide zueinander stehen, und prüft hierbei auch die von seinen Freunden vorgebrachten Argumente. Dabei scheint Elihu hier Hiobs umfassendes Bekenntnis der Treue zur Torah in Kap. 31 durchaus ernst zunehmen, wenn er darüber nachdenken will, wie denn auf die Behauptung des leidenden Hiob, Gott gegenüber im Recht zu sein (34,5–6), die Elihu aufgrund seiner Theologie ausdrücklich nicht teilt (vgl. 33,9–12), mit Spott und Diffamierung reagiert werden kann. Wie schon in seiner ersten Rede bemüht sich Elihu also um eine gegenüber den Ausführungen der Freunde modifizierte Bestimmung des Verhältnisses von menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit, von menschlichem Leid und göttlicher Macht. In der ursprünglichen griech. Übersetzung umfasste die Zitierung Hiobs nur die V. 5.6a.8, wobei V. 8 im Gegensatz zum MT als ein Unschuldsbekenntnis Hiobs erscheint (vgl. 10,7; 33,9). V. 7 (Th) könnte, weil er von den ursprüng-
88 So tendenziell richtig bereits Hertzberg, Hiob, 138f, der allerdings V. 5–8 insgesamt als Zitierung Hiobs, V. 7 als indirekte Rede im Zitat und V. 9 als Glosse versteht, die hinter Hi 35,3 gehöre. 89 Vgl. Ps 44,14; 79,4; 123,4; Jer 20,7. 90 Sofern man in Hi 16,20a dem MT folgt, wird der Bezug von Hi 34 auf Kap. 16 noch deutlicher; siehe jedoch die Anm. zur Übersetzung und die Auslegung von 16,20.
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lichen Übersetzern als scharfe Anklage Hiobs verstanden wurde, ausgelassen worden sein.91 34,9 Dass es Elihu letztlich um das Wesen Hiobs und Gottes und deren gegenseitige Beziehung geht, zeigt sich auch an dem die Exposition beschließenden Zitat. Dieses wird zumeist als eine Paraphrase von Hiobworten (z.B. von 7,20a; 9,22; 21,14–15.23–26) verstanden. Die Formulierung geht jedoch, wie die Aufnahme des sonst nur in Reden des Eliphas verwendeten Begriffs sākan zeigt (vgl. 15,3; 22,2.21), eindeutig auf Worte des Eliphas zurück. Dieser hatte zuletzt behauptet, dass der Einsichtige (maśkîl) durch seine Frömmigkeit zwar Gott keinen Nutzen bringen (sākan) könne, wohl aber sich selbst (22,2). So bleibt hier nun in der Schwebe, ob Elihu Hiob, Eliphas oder nicht vielmehr beide zitiert, insofern nämlich die Positionen beider Seiten von ihm geprüft werden sollen. Die Doppeldeutigkeit und damit auch die doppelte Stoßrichtung dieses Zitats zeigt sich auch in der objektlosen Konstruktion von sākan: als vermeintliches Hiobzitat wäre „sich selbst“ zu ergänzen,92 als vermeintliches Eliphaszitat „Gott“. Auch hier scheint ein Objekt im Zitat bewusst ausgelassen zu sein, weil Elihu beides prüfen möchte: ob und inwiefern menschliches Wohlverhalten gegenüber Gott einen Nutzen bringt. In seiner dritten Rede wird Elihu dieses Thema vertiefen (vgl. 35,3).93 Sachlich korrespondiert es mit der Leitfrage des Satans im Prolog, ob Hiob Gott „umsonst“ fürchte, mithin Frömmigkeit sich im Leben auszahle (1,9; 2,3). 34,10–33 Der Erweis der Gerechtigkeit Gottes aus dem Wesen Gottes 34,10a Ein erneuter, wohl aufgrund eines Textausfalls im MT etwas verkürzter Höraufruf an die Weisen, hier als „Männer von Herz (ʾanašê lebāb)“94 angesprochen, eröffnet die eigentliche argumentative Auseinandersetzung mit dem Vorwurf der Rechtsbeugung durch Gott, der Anklage Hiobs als Frevler und der Frage nach dem Ziel menschlicher Frömmigkeit. 34,10b– Mit dem Abwehrruf „fern sei“ (ḥālilāh, vgl. 27,5) postuliert Elihu die Dis12 tanzierung Gottes von jeglichem Frevel und Unrecht (V. 10, vgl. Gen 18,25). Die Formulierung beinhaltet sowohl das Bekenntnis zur absoluten Gerechtigkeit Gottes als auch die Aufforderung, Gott gegenüber keinen Frevel und kein Unrecht zu verüben. V. 11 entfaltet diese These, nicht begründend („denn“), wie zumeist angenommen wird, was im Widerspruch zu dem von Elihu zitierten Bekenntnis des Geretteten, Gott habe ihm nicht Gleiches mit Gleichem vergolten (33,27), stünde, sondern konditionierend („wenn“): Wenn Gott
Siehe dazu auch Gard, Exegetical Method, 89f; Heater, Translation Technique, 108. So wird in der Regel V. 9 ausgelegt. Gelegentlich wird daher Hi 34,9 als sekundäre Prolepse betrachtet (Budde; Hölscher). 94 Zum Bedeutungsspektrum des anthropologischen Zentralbegriffs leb/lebāb s.o. zu Hi 8,10 und zu 27,6. 91 92 93
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einem Menschen entsprechend seiner Taten vergilt (šillem),95 dann geschieht dies jenseits von Unrecht. Der Grund dafür liegt im Wesen Gottes selbst, der gar nicht freveln kann (jaršî aʿ )96 und das Recht nicht brechen wird (V. 12, vgl. 8,3; 34,17). Diese Seite der Argumentation entspricht auch der Theorie der Freunde und der Erwartung Hiobs. Die Formulierung Elihus schließt aber nicht aus, dass eine dem Handeln des Menschen entsprechende Vergeltung auch ausbleiben kann, so mit Hiob (vgl. 21,16–19; 24,12), ohne dass dadurch aber die Gerechtigkeit Gottes grundsätzlich in Frage gestellt wäre, so gegen Hiob (vgl. 9,20–24; 19,7; 21,30). Das heißt dann aber, dass Gott zwar grundlegend gerecht ist, das Wesen seiner Gerechtigkeit sich dem Menschen jedoch nur partiell erschließt. Damit deutet sich hier eine Modifikation des Verständnisses von Gerechtigkeit an, demzufolge Hiobs Leiden weder ein Zeichen göttlicher Ungerechtigkeit ist (so Hiobs Sicht) noch eine Folge von Hiobs Vergehen (so die Sicht seiner Freunde). Neben die Betonung dieser besonderen Gerechtigkeit Gottes tritt das Bekennt- 34,13–15 nis zu Gottes alleiniger Macht als Schöpfer der Erde und als Herr über Leben und Tod. Das als rhetorische Frage gestaltete schöpfungstheologische Bekenntnis (V. 13) dient wie der Hinweis auf Gottes besondere Größe in 33,12 als Begründung der sich menschlichen Maßstäben entziehenden göttlichen Gerechtigkeit. Punktuell nimmt Elihu damit rhetorisch und inhaltlich eine Stilfigur97 und ein zentrales Argument der Gottesreden vorweg. Gott ist der Herr des Kosmos; das Leben und Überleben aller Geschöpfe hängen allein von dem diesen zeitweise zur Verfügung gestellten Geist (rû aḥ,) und Atem (nešāmāh) ab (V. 14–15). Diese Vorstellung ist charakteristisch für altorientalische und klassisch-antike Anthropologie,98 sie prägt die atl. Weisheit99 und wird selbstverständlich auch von Hiob und seinen Freunden geteilt. Innerhalb der Auseinandersetzung zwischen Hiob und seinen Gefährten ist aber für Elihu spezifisch, wie eng er die Gerechtigkeit und die Schöpfertätigkeit als Wesensmerkmale Gottes zusammenschaut und damit deutlicher auf Hiobs Anfragen an die Schöpfermacht (vgl. v.a. Kap. 3) und an die Gerechtigkeit Gottes (vgl. v.a. Kap. 9) reagiert als seine Freunde. Dabei impliziert das Motiv der Gabe und des Entzugs des göttlichen Geistes nicht nur die Vorstellung, dass Gott Herr über die menschliche Lebenszeit ist, sondern auch, dass das Leben an sich ein Zeichen der Verbundenheit mit Gott ist. Bezogen auf Hiob folgt daraus, dass dieser, selbst wenn er sich von Gott ungerecht behandelt und verfolgt sieht, was Elihu bestreitet (33,8–12), nicht grundsätzlich gottlos sein kann: Lebendigkeit
95 Vgl. Ps 62,13; Spr 13,13.21; 19,17; 24,12; 25,21–22; Sir 16,14; 35,24; Ruth 2,12; 1Sam 24,20; Jes 59,18; Mt 6,4; Röm 12,19; siehe auch zu Hi 41,3. 96 ršʿ Hif. ist hier im Gegensatz zu seinem sonstigen deklarativen Gebrauch im Hiobbuch (9,20; 10,2; 15,6; 32,3; 24,29; 40,8) transitiv gebraucht (vgl. im Qal in Hi 9,29; 10,7; 10,15). 97 Vgl. Hi 36,22.23; 38,2.5.25.36–37.41; 39,5; 41,3.5. 98 Zu entsprechenden Texten aus der Umwelt des AT s.o. zu Hi 27,3. 99 Vgl. Hi 33,4; Ps 104,29–30; Pred 3,20; 12,7; Sir 40,11.
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und Gottlosigkeit schließen sich gegenseitig aus.100 Damit nimmt Elihu wie bereits in der Exposition seiner Rede modifizierend Hiobs Bekenntnis zum Leben in 27,2–6 auf: Allein an der Tatsache, dass Hiob noch lebt, zeigt sich, dass er nicht aus der Gemeinschaft mit Gott herausgefallen ist, auch wenn er dies immer wieder beklagt (vgl. Kap. 10; 16; 19), sich zeitweise aus ihr völlig herausgenommen zu werden wünscht (vgl. Kap. 14) und sie letztlich mittels des Rekurses auf seine eigene Gerechtigkeit und seine Treue zur Torah neu zu erzwingen versucht (27,1–6; 29*; 31*). Der oben zitierte Satz, dass der Mensch durch seine Frömmigkeit nicht nützt bzw. keinen Erfolg hat (V. 9), stimmt für Elihu – aber nur in dem Sinn, dass der Mensch durch sein Handeln nicht die Gemeinschaft mit Gott bewirken kann, nicht in dem Sinn, dass der Mensch durch seine Frömmigkeit weder sich selbst noch gar Gott nutzen würde. Dass damit Frömmigkeit, zumal in Gestalt des Gebets, nicht obsolet wird, diese vielmehr das angemessene Verhalten gegenüber Gott darstellt, hat Elihu schon in seiner ersten Rede ausgeführt (33,26–28). 34,16–20 Durch einen erneuten, nun singularisch formulierten und damit stärker direkt auf Hiob applizierten Aufmerksamkeitsruf eingeleitet (vgl. 33,1.31) setzt Elihu seine Apologie des gerechten Schöpfergottes fort. Sie zu verstehen bedarf besonderer Einsicht und Unterscheidungsfähigkeit (bînāh, V. 16, vgl. als Leit- und Schlusswort in 28,12.20.28). Aus der unbestreitbaren Herrschaft Gottes, hier metaphorisch umschrieben mit dem Wort „anschirren“ oder „die Zügel führen“101, ergibt sich seine Gerechtigkeit (V. 17). Die in Gestalt einer doppelten rhetorischen Frage (vgl. V. 29) formulierte These entspricht dem hymnischen Prädikat, dass Gerechtigkeit (ṣædæq) und Recht (mišpāṭ) die Stützen des göttlichen Thrones sind (vgl. Ps 89,15; 97,2), und korrespondiert mit der altorientalischen Vorstellung (idealer) Königsherrschaft (vgl. Ps 72,1–2): Als Herrscher kann Gott, von Elihu hier einmalig im AT mit dem Epitheton „Gerecht-Starker/Gewaltig-Gerechter“ (ṣaddîq kabbîr)102 bezeichnet, Recht und Gerechtigkeit gar nicht hassen (vgl. Ps 11,7; 33,5; Dtn 32,4). Demzufolge wäre es absurd, wenn Hiob Gott als Frevler darstellen, Gott schuldig sprechen wollte (rāšaʿ Hif.). Der Wechsel in die direkte Anrede Hiobs (taršî aʿ) in 100 In der jüngsten Weisheitsschrift des AT, der zwischen dem letzten Drittel des 1. Jh. v.Chr. und dem ersten Drittel des 1. Jh. n.Chr. entstandenen SapSal, wird diese Korrelation dahingehend modizifiert, dass zwischen einem geistlichen und einem biologischen Tod unterschieden wird: Den geistlichen Tod erleiden die Gottlosen schon in diesem Leben, auch wenn sie dies selbst angesichts ihrer physischen Lebendigkeit so nicht sehen würden, während die vom Leiden geprägten Gerechten das Leben im eigentlichen Sinn haben und darüber hinaus auch das ewige Leben erreichen werden (vgl. SapSal 2–3). 101 Fohrer. Vg folgt mit sanare der ebenfalls für ḥbš belegten Bedeutung „binden/verbinden (eine Wunde)“ (vgl. Jes 30,26; 61,1; Ez 30,21; Hos 6,1). Damit verschiebt sich das Bild von der Herrschaft Gottes zu seiner Tätigkeit als Arzt (vgl. Hi 5,18). Auch wenn diese Übersetzung gut zu der in Hi 34,6 zitierten Klage Hiobs passt (vgl. 6,4; 7,5; 19,20), spricht doch die Fortsetzung in V. 17–24 für die herrschaftsbezogene Deutung. 102 Zu kabbîr als Gottesprädikat vgl. Hi 36,5. Die LXX verschiebt die Prädikation vom Aspekt der Macht auf den der Ewigkeit, wenn sie Gott als „Ewig-Gerechten“ bezeichnet. Zur Kombination zweier Adjektive vgl. die Kennzeichnung Hiobs als ṣaddîq tāmîm in Hi 12,4 (vgl. Gen 6,9).
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V. 17b ist textlich umstritten,103 dürfte aber vor dem Hintergrund derselben Formulierung in der Eröffnung der zweiten Gottesrede (40,8) ursprünglich sein und auf entsprechend zu verstehende Aussagen Hiobs in 9,20 reagieren: Hiobs Bestreitungen der Gerechtigkeit Gottes geraten in die Nähe der Kennzeichnung Gottes als eines rāšāʿ;104 – aber auch die Freunde stehen aufgrund ihrer den Elihudichter nicht überzeugenden Widerlegungen Hiobs gleichsam unter dem Verdikt, Gott als Frevler erscheinen zu lassen (32,3). Die an hymnische Formulierungen erinnernde rhetorische Frage (V. 17, vgl. V. 12; 40,8) wird mit der ebenfalls an hymnische Sprache105 angelehnten Beschreibung der göttlichen Macht fortgesetzt, die sich auch in der sozialen Wirklichkeit niederschlägt (V. 18–19, vgl. 36,7). In dieser erweist sich die rettende Gerechtigkeit Gottes.106 Diese geschichtstheologischen Ausführungen haben zahlreiche Parallelen in den Psalmen107 und entsprechen der vor allem in der atl. Gerichtsprophetie, aber auch in der Exodusüberlieferung entfalteten Vorstellung von Gott, der die irdischen Herrscher richtet.108 Sie berühren mit dem Motiv der Unparteilichkeit Gottes gegenüber den Mächtigen ein Herzstück biblischer Theologie: 17 Denn der Herr, euer Gott, ist der Gott aller Götter und der Herr über alle Herren, der große Gott, der Mächtige und der Schreckliche, der die Person nicht ansieht und kein Geschenk nimmt 18 und schafft Recht den Waisen und Witwen und hat die Fremdlinge lieb, dass er ihnen Speise und Kleider gibt. 19 Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. 20 Den Herrn, deinen Gott, sollst du fürchten, ihm sollst du dienen, ihm sollst du anhangen und bei seinem Namen schwören. 21 Er ist dein Ruhm, und er ist dein Gott, der bei dir solche großen und schrecklichen Dinge getan hat, die deine Augen gesehen haben. (Dtn 10,17–21 LB, vgl. 1Sam 16,7; Mal 1,9; Apg 10,34).
Der Vierklang „König, Edle, Fürsten, Vornehme“ (V. 18–19) nennt die wesentlichen Typen der altorientalischen Oberschicht bis in die hellenistische Zeit, wobei die Priester ausgespart sind (vgl. aber 12,17–21.24). Die Gott in den Mund gelegte Qualifikation eines Königs als „Nichtsnutz/Schädling“109 erhält vor dem Hintergrund der altorientalischen bis in die hellenistisch-römische Zeit lebendigen Ideologie der Göttlichkeit des Königs und seiner die Gesellschaft einschließlich des Kultes repräsentierenden und stabilisierenden Funktion eine besondere Schärfe. Ob der Dichter hier auf konkrete Ereignisse anspielt (vgl. Siehe die Anm. zur Übersetzung. Vgl. Hi 9,17–24.30–31; 16,12–14; 19,6–9; 30,18–23. 105 Vgl. Hi 9,7; Jes 44,26–28. 106 Vgl. Ps 31,2; 51,16; 71,2; 143,11. 107 Vgl. Ps 36,7; 96,13; 98,9; 103,6; 146,7–10. 108 Vgl. 1Sam 2,7–8; Ps 113,5–9; 117,16 LXX; 147,6; 149,4 LXX; Dan 4,14; Sir 10,14–15; Tob 4,19 (G-I); Lk 1,51–53. 109 Der Begriff b elijjāʿal meint in Parallele zu rāšāʿ Nichtswürdiger oder Verderbenbringender und ist hier kein Eigenname (Belial/Beliar) des Satans oder des Bösen, wie es im Qumranschrifttum, in außerkanonischen frühjüdischen Schriften und im NT häufig der Fall ist (vgl. z.B. 1QS I,24; II,19; 1QM I,1; IV,2; 1QHa XI,29(39)–33(34); 4Q225 frgm. 2 II,14; Jub 1,20; 15,33; TestRub 4,7.11; 6,3; TestLev 19,1; 2Kor 6,15). Das positive Gegenüber zu Hi 34,18 bietet Jes 44,28. 103 104
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Sir 10,10.14–15)110 und sich aus der Nichterwähnung von Priestern (vgl. aber Hi 12,19) auf seine eigene soziale Verortung schließen lässt,111 ist angesichts der Typisierung schwer zu sagen. Argumentativ dient die durch Gott allein mittels seines Wortes erzielte Demütigung der irdischen Machthaber der Widerlegung von Hiobs Vorwurf, Gott kümmere sich nicht um die Geschehnisse in der Welt und schaue der Ausbeutung der Armen tatenlos zu (24,1–12). Dass Hiob sich auf der Stufe der Majestätsredaktion selbst zu der in der Geschichte erweisenden Macht Gottes bekannt hat (vgl. 12,16–25), kann der Elihudichter redaktionsgeschichtlich noch nicht wissen. Auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches erscheinen diese Sentenzen Elihus dann als notwendige Erinnerung Hiobs an von ihm selbst richtig ausgeführte Gedanken. Auch der zweite Teil der eigentlichen Argumentation Elihus endet mit einer zwei Bikola umfassenden schöpfungstheologischen Sequenz, die nun gezielt den plötzlichen (rægaʿ)112 Tod der irdischen Machthaber, die wie jeder gewöhnliche Mensch als Geschöpf Gottes sterblich sind (vgl. 31,15; 32,22; 33,6; Sir 10,11), in den Blick nimmt (V. 19b–20, vgl. V. 14–15). Die Deutung von V. 20 wird allerdings dadurch erschwert, dass hier der Text schon in einzelnen Handschriften und in den antiken Versionen unterschiedlich tradiert ist und daher in der Forschung zahlreiche Vorschläge der Korrektur vertreten werden. Parallel zu Hi 12,23–24 und zu dem in 34,29–30 und 36,20 ausgeführten Gedanken, dass Gottes Macht sich nicht nur über die Herrscher, sondern über ganze Völker erstreckt, dürfte auch hier auf das geschichtliche Phänomen des Untergangs von Völkern als Beispiel für Gottes Gerichtshandeln angespielt sein. Im Schlusskolon (V. 20b) wird dann nochmals Gott als die Größe genannt, die einen Tyrannen unversehens („nicht mit Menschenhand“)113 zu stürzen vermag. Auch hier muss offenbleiben, ob damit auf ein zeitgeschichtliches Ereignis angespielt wird oder ob ein Topos vorliegt. Die Wendung vom plötzlichen Tod der Mächtigen „mitten in der Nacht“ (ḥaṣôt lājlāh) könnte allerdings auch eine Anspielung auf die Exodusüberlieferung, näherhin auf das Motiv der mitternächtlichen Tötung der Erstgeburten der Ägypter als Folge des Gerichts Jhwhs über den Pharao sein (vgl. Ex 11,4–5). Das Tg hat die plötzlich Umkommenden dann ausdrücklich mit den Bewohnern von Sodom114 und mit den Ägyptern115 identifiziert.
110 Zur Diskussion, ob hier auf Alexander den Großen, Antiochos III. oder Ptolemaios IV. angespielt ist, siehe Newsom, Contest, 219; B.C. Gregory, Historical Candidates for the Fallen King in Sirach 10,10, ZAW 126 (2014) 589–591. 111 So Wahl, Schöpfer, 86. 112 Vgl. Hi 20,5; Num 16,21; 17,10; Ps 6,11; 73,19; Jes 47,9. 113 Vgl. Dan 2,34; 8,25. 114 Vgl. einzelne Varianten des Tg zu Hi 14,18 (Tg2); 28,5 (Tg2). Zum negativen Sodomstereotyp im Schatten von Gen 18–19 (Dtn 29,22; Jes 13,19; Jer 49,18; Am 4,11; Zeph 2,9) in der frühjüdischen Literatur siehe Jub 16,5–6; Sir 16,8; 3Makk 2,5; TestNaph 3; Josephus, ant. Iud. 1, 194 (11,1). 115 Vgl. TgHi 5,12.
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Das Bekenntnis, dass Gottes Augen nichts verborgen sei (V. 21, vgl. 24,23), 34,21–24 stellt einen Allgemeinplatz altorientalischer Gottesvorstellung dar. Er findet sich nicht nur in der israelitisch-jüdischen Weisheit und Gebetssprache, 116 sondern auch in mesopotamischen und äg. Texten, zumeist im Lobpreis des richtenden (Sonnen-)Gottes. Hirte der unteren, Hüter der oberen Welt, der recht leitet das Licht des Weltalls, Šamaš, bist du! Du überschreitest immer wieder das weite, ausgedehnte Meer, dessen Tiefe nicht einmal die Igigi kennen. Š[amaš,] deine Strahlen steigen in den Apsû hinab, [die Geist]er des Meeres können dein Licht sehen. (Aus dem großen akkad. Hymnus an Šamaš )117
Die Formulierung in V. 21–24 nimmt jedoch zugleich Hiobs Wunsch auf, Gott möge als Richter doch endlich „seine Schritte wahrnehmen“ (14,16; 31,4.6). So dient die Sentenz einerseits der Begründung für Gottes Gericht an den Mächtigen, andererseits als Zusage an Hiob, Gott werde dessen Wege schon richtig sehen. Auch die Fortsetzung dieser Sentenz in V. 22 (mit einer zweifachen Verneinung) hat eine doppelte Ausrichtung: Zum einen stellt Elihu der Beschreibung Hiobs des ungestraften Lebens der Frevler in Kap. 21 und 24 das Motiv des auch die dichteste Finsternis (ḥošæk, ṣalmāwæt) durchdringenden Schöpfer- und Richtergottes gegenüber. Zum anderen entzieht Elihu damit der teils von Hoffnung, teils von Verzweiflung geprägten Vorstellung Hiobs, es könne einen Ort geben, wo er sich vor Gott – nicht als Frevler, sondern als ungerecht Verfolgter – verbergen könne (10,22; 14,13–14; 17,13–16), den Boden.118 Hiobs Herabrufung der „Finsternis“ und des „Todesschattens“ auf seinen Geburtstag und damit auf sein Leben, womit die Dichtung beginnt (3,3–9), ist damit eine Absage erteilt. Gottes Herrschaft erstreckt sich auch über die dunklen Räume und Zeiten, die nach altorientalischer und antiker mythischer Vorstellung dem Menschen unverfügbar und bedrohlich sind (7,13–14). Gleichwohl bestätigt Elihu auf der Ebene des um Passagen wie 12,22; 26,6 und 28,3.24 fortgeschriebenen Buches erneut Worte Hiobs und trifft sich mit der Grundübersetzung des Beters von Ps 139. Wie schon in Hi 23,8–9 erscheint dieser Psalm als ein wesentlicher Intertext. Weil vor Gott alle Wege des Menschen offenliegen, braucht er dem Menschen gar keinen besonderen Zeitpunkt (v.l.) für das Gericht zu setzen – ganz abgesehen davon, dass ein solches menschlicherseits gar nicht möglich ist, sondern in der Freiheit Gottes liegt (V. 23, vgl. Pred 11,9; 12,14). Auch hier reagiert Elihu einerseits auf die Klagen Hiobs 116 Vgl. Spr 15,3; Sir 15,18–19; 39,19; SapSal 1,8–10; Ps 11,4; 139,11–12; Jer 23,23–24; 32,19; Am 9,1–4; JosAs 6,3; im frühchristlichen Schrifttum: Hebr 4,13; 1Clem 21,3; 27,6; IgnEph 15,3; Polyk II 4,3. 117 Übersetzung von K. Hecker, in: TUAT.NF VIII, 68 (vgl. Lambert, BWL, 128f). 118 In der LXX ist der Bezug von Hi 34,21 zu 24,1 noch deutlicher als im MT, 24,1 LXX: „Aber weshalb sind die (rechten) Stunden vor dem Herrn verborgen?“ – 34,21 LXX: „Denn er ist ein Beobachter der Werke der Menschen, und für ihn ist nichts verborgen, was sie tun.“
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über das scheinbar mangelnde Richten Gottes in der Welt (21,7–34; 24,1–12), andererseits auf Hiobs Wunsch, mit Gott in einen Rechtsstreit treten zu können (23,2–7; 31,4–6.35–37), sowie auf Eliphas’ Hinweis, Gott begebe sich nicht wegen Hiobs Gottesfurcht in einen Rechtsstreit mit diesem (22,4). Gleichzeitig nimmt er modifizierend Hiobs eigene Worte aus 9,32–33 auf (vgl. 13,18–19; 14,3 [sek.]). Wenn dieser sich dort einen Schlichter (môkî aḥ) wünschte (9,33), dann scheint sich Elihu wieder selbst als ein solcher anzubieten, indem er eine neue Sicht auf Gott und auf Hiobs Fall gibt, was er in seiner ersten Rede mit der Deutung des Leidens als Erziehungsmaßnahme Gottes und der Aussicht auf eine himmlische Vermittlung menschlicher Gerechtigkeit schon einmal getan hat (33,12–30). Ein göttliches Gericht ist letztlich vom Menschen nicht einklagbar, sondern, wie der Hiob der Niedrigkeitsredaktion selbst bestätigte, nur erlebbar (14,3, vgl. Ps 143,2). Elihu unterstreicht diesen Gedanken, allerdings nicht in direkter Anwendung auf Hiob, mit dem allgemeinen Hinweis darauf, dass Gott auf unerforschliche Weise (lô-ḥeqær) die Starken in der Welt beseitigt und unversehens austauscht (vgl. 1Sam 2,7–8; Lk 1,51–53). 34,25–26 Der Grund dieses wunderlichen Handelns Gottes ist seine Kenntnis der Vorgänge auf der Welt (V. 25). Auch das mag Hiob zunächst nicht als Trost erscheinen, erlebt er sich doch von Gott zerbrochen und verkannt (vgl. 16,7; 19,6; 30,18–19). Andererseits könnte Hiob aus Elihus gerichtstheologischer Grundüberzeugung heraushören, dass Gott auch die Taten (maʿ abādîm) seines Knechtes (ʿæbæd, 1,8) Hiob kennt119 und er dementsprechend, auch wenn es jetzt überhaupt nicht danach aussieht, doch auf ein gutes Ende hoffen kann. Denn auch wenn Hiob sich in seinem sozialen Status massiv herabgesetzt erfährt (19,13–20; 30,1–9), so stehen doch nicht andere an seiner Stelle (34,24b). Wie schon V. 20 könnte die Wendung der nächtlichen Umkehrung des Schicksals der Mächtigen (V. 25b) nicht nur ein Ausdruck für die Unbeständigkeit menschlicher Macht und die Unberechenbarkeit des göttlichen Gerichts sein (vgl. Jes 15,1), sondern auch eine Anspielung auf die Vernichtung der Macht des Pharao in der Pessachnacht (Ex 11–12). Dem Bild des nächtlichen Untergangs steht das der Vernichtung der Frevler an einem für alle sichtbaren Ort zur Seite (V. 26). Es korrespondiert mit der Sentenz, dass vor Gott kein Ort verborgen ist, er vielmehr alles ans Licht bringt, und unterstreicht Elihus Überzeugung von einem offensichtlichen Gerichtshandeln Gottes in der Welt, das Hiob einerseits vehement bestritten, andererseits in ihm sekundär von einer nach dem Elihudichter tätigen Redaktion in den Mund gelegten Worten ganz ähnlich beschrieben hatte (vgl. 34,25–26 mit 24,17.23; 27,23). Sollte Hiob dann nicht auch erwarten können, „an einem Ort, wo man es sieht“ (V. 26), restituiert zu werden? 34,27–28 Das göttliche Gericht, das die Mächtigen so plötzlich trifft, ist nicht unbegründet. Es wurzelt in ihrem Abweichen von Gott und in ihrer mangelnden Einsicht in sein Wirken (V. 27). Diese Formulierung ist offen für eine 119
Vgl. Hi 11,11; Ps 14,2; 33,13–15; 139,2; Sir 16,17–18; 39,19–20.
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Bezugnahme auf die Torah, so wie es LXX in ihrer Wiedergabe mit der Abkehr vom „Gesetz“ (νόμος) Gottes und seinen „Geboten“ (δικαιώματα)“ eindeutig zum Ausdruck bringt.120 Sie wird konkretisiert mit dem Motiv der Unterdrückung der Armen, deren Hilferuf Gott selbst vor sich bringt und erhört (vgl. Ps 12,6 und Ps 94,3–8 sowie zur Verbindung mit der Torah Ps 94,12). Dieses Motiv gehört zum Standardrepertoire der sich durch die Torah, die Propheten und die Schriften ziehenden Vorstellung von Jhwh als Beistand der Erniedrigten und Entrechteten.121 Es verweist ebenso auf die Exodusüberlieferung (vgl. Ex 3,7–9) wie auf die Anklage Hiobs, Gott erhöre den Hilferuf der Ohnmächtigen nicht (24,12), auf Hiobs eigenen Schrei nach Recht (19,7; 16,18) und auf Hiobs Bekennntis, gerade in seinem eigenen Umgang mit den Armen Einsicht in die Wege Gottes bewiesen zu haben (29,12–16; 31,13–23). Zugleich unterstreicht Elihu nochmals, dass die Initiative zum Gerichtsakt von Gott selbst ausgeht (V. 20), der – stilistisch mittels einer Doppelnennung (Anadiplosis) besonders hervorgehoben – den Schrei der Elenden (ʿanijjîm 34,28, vgl. 36,6) vor sich kommen lässt. Auch hier erscheinen dann die seitens der Gerechtigkeitsredaktion nach der Elihuredaktion Hiob in den Mund gelegten Bekenntnisse zum göttlichen Schutz der Schwachen (24,21) und zum Gericht an den Frevlern (31,3) als eine Prolepse der Worte Elihus. Die rhetorische Frage, wer im Fall des Schweigens Gottes richtet, beschließt 34,29–30 den Hauptteil der Argumentation Elihus: Wenn Gott nicht schuldig spricht (rāšaʿ Hif.),122 dann richtet keiner, und wenn Gott sich verbirgt, dann nimmt ihn keiner wahr (šûr, V. 29a). Dies wissen auch die Freunde (vgl. 11,10) und das weiß auch Hiob – klagt er doch immer wieder über die Verborgenheit Gottes (vgl. 9,11 [sek.]; 13,24; 23,8–9; 24,1).123 Doch Elihu will Hiob gerade davon überzeugen, dass Gott sichtbar richtet und sich offenbart (vgl. 33,14). So enthält diese Frage sowohl eine Kritik an der Bestreitung von Gottes alleiniger Richtertätigkeit als auch an dem Glauben, Gott aus eigener Kraft sehen zu können. Damit klingt wie schon in der ersten Rede eine Aufnahme des (sekundär) Eliphas in den Mund gelegten Offenbarungsberichts (vgl. 4,12–21), aber auch ein Rekurs auf Hiobs Gewissheit an, Gott letztendlich zu seinen Gunsten einschreiten zu sehen (vgl. 19,26). Im Schlussteil (34,31–37) dieser Rede sowie in seiner dritten und vierten Rede geht Elihu hierauf weiter ein (35,13–14; 37,21–24). Der Sinn der unmittelbar folgenden Passage (V. 29b–30) ist unklar. Die Auslegung wird dadurch erschwert, dass erstens der syntaktische Anschluss von V. 29b an V. 29aβ nicht eindeutig ist, zweitens V. 29 in der vorliegenden Gestalt ein Trikolon bildet, drittens V. 30 keinen Parallelismus membrorum Die griech. Übersetzung mag auf der Lesung meʾårḥô „weg von seinem Weg“ anstelle der masoret. Lesung me’aḥ arâw „weg von ihm“ beruhen. Dies ist der einzige Beleg für den Begriff νόμος in HiLXX. 121 Vgl. Ex 22,21–23; Ps 9,10.13; Sir 4,6; 35,16–22; Jer 22,3; Sach 7,9–10; Mal 3,5. 122 Vgl. Hi 10,2; Ex 32,8; 1Kön 8,32; Ps 37,33; Spr 12,2; 1QpHab 10,5; 1QHa XV,12(15). 123 Vgl. Ps 44,24–25; 88,15; 102,3; 143,7. 120
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aufweist und viertens die antiken Versionen stark vom MT und untereinander abweichen. Ohne zumindest kleinere Eingriffe in den MT kommt man kaum aus.124 Folgt man der Konjektur, die der Übersetzung zugrunde gelegt ist, und zieht man V. 29b und V. 30 als ein Bikolon zusammen,125 dann unterstreicht diese Sequenz die Überzeugung von der souveränen Weltlenkung Gottes, der auf die Völker herabblickt (ḥāzāh), damit kein Gottloser (ʾādām ḥānep) herrsche (vgl. Dan 2,21; 4,14; Sir 10,14–15). Letzterer würde dabei metaphorisch in typisch dtr. Sprache als ein „Fallstrick“ (môqeš)126 und Verführer des Volkes bezeichnet (vgl. 1Kön 12,30; Sir 47,23). Dieser Textsinn ergibt sich auch, wenn man in V. 29b beim MT bleibt, aber in V. 30 mamlîk („er lässt herrschen“) liest.127 Bei dieser Lesart erscheint die geschichtlich zu verifizierende Tatsache, dass sich Tyrannen gegen Gott und die Menschen vergehen, als eine von Gott selbst verfügte, damit aber auch zeitlich befristete Maßnahme (vgl. Hi 34,18–20). In der prophetischen Deutung weltgeschichtlicher Vorgänge ist diese Vorstellung breit entfaltet, wenn dort einzelne fremde Herrscher als Werkzeuge des Gerichts Jhwhs gegen sein Volk gedeutet werden.128 Dabei macht die Passage V. 29b–30 insgesamt den Eindruck eines sekundär in den Text geratenen Randkommentars, wobei auch hier offenbleiben muss, ob es sich um eine konkrete zeitgeschichtliche Anspielung handelt. 34,31–33 Mit der direkten Aufforderung Hiobs zu einem Schuldbekenntnis, zu einer Bitte an Gott und zur Selbstprüfung kehrt Elihu zum Eingang seiner Rede zurück und benennt eine Alternative zu Hiobs Beharren auf dem eigenen Recht (34,5–6). Dieser Rat entspricht grundsätzlich den Empfehlungen der Freunde,129 setzt aber doch eigene Akzente. Die elliptische Formulierung nāśātî (V. 31), die um den Begriff ʿāwôn (oder ḥeṭʾ) zu ergänzen ist, ist ähnlich wie in der Antwort Kains (Gen 4,13) doppeldeutig und kann sich sowohl auf eine begangene Schuld als auch auf die ertragene Strafe beziehen. In beiden Fällen zielt sie auf eine Einsicht Hiobs (vgl. Neh 1,7). Ein Schuldbekenntnis Hiobs, wie es dem Leidenden in 7,21aα von einer späteren Redaktion in den Mund gelegt ist, kennt der Elihudichter noch nicht.130 Die Empfehlung, sich direkt an Gott zu wenden, nimmt Hiobs Rufe zu Gott auf, überführt jedoch die in ihnen insbesondere in der großen Unschuldserklärung in Kap. 31 artikulierten Bekenntnisse zur eigenen Gerechtigkeit in ein doppeltes „ich tue es nicht mehr“ (V. 31bβ.32bβ): Anstelle einer Auflistung potentieller, aber nicht begangener Verfehlungen im Stil einer „negativen Konfession“ (Kap. 31) soll das BekenntDoch siehe auch Lauber, Weisheit, 75f, und Clines, die am MT festhalten. J. Gray versucht dieses Problem mittels Umstellung von V. 29b–30 hinter V. 19 zu lösen. 126 Vgl. Ex 23,33; 34,12; Dtn 7,16; Jos 23,13; Ri 2,3; 8,27. 127 So im Anschluss an Th und Vg (vgl. auch Tg und dazu CTAT 50/5, 342) Gordis, der zusätzlich môqeš als Metapher für „Sünde“ versteht und min kausal auflöst (vgl. G/K § 199z). 128 Vgl. Jes 10,5–19; 44,28; 45,1; Jer 25,9; 27,6; siehe zur Aufnahme dieser Vorstellungen in Hi 34,21–30 auch Newsom, Contest, 216–219. 129 Vgl. Hi 5,8; 8,5–6; 11,13–14; 22,21–23.27–28. 130 Möglicherweise steht die masoret. Punktation von hʾmr als hæʾāmar („hat je einer gesagt?“) dann im Kontext einer Harmonisierung beider Stellen (siehe die Anm. zur Übersetzung). 124 125
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nis wirklicher Schuld treten (vgl. 33,27–28), an die Stelle der Rückschau der Blick in die Zukunft. Auch die Hiob in den Mund gelegte Bitte, Gott selbst möge ihn belehren (jārāh Hif. V. 32a, vgl. 11,5),131 nimmt einen Wunsch Hiobs nach einer direkten Unterweisung durch Gott auf (vgl. 10,2; 13,22; 23,5), löst diesen aber von Hiobs Erwartung einer direkten Gottesschau (19,26–27; 23,8– 9; 24,1; 31,35–37, vgl. 35,13–14). Denkt Elihu hier an eine Vermittlung allein durch das Wort Gottes? Erst am Ende des Buches wird sich klären, inwiefern das Reden und das Sehen Gottes zusammenhängen (vgl. 37,23–24; 42,5; 1QS XI,2–6). Sofern Elihu mit dem nur hier im Hiobbuch mit Gott als Subjekt gebrauchten Begriff jārāh auf Hiobs Darlegung seiner Treue zur Torah in Kap. 31 anspielt, stellt er Hiob indirekt eine Belehrung durch Gott, den wahren Lehrer (35,11; 36,22),132 in Aussicht – auch abgesehen davon, dass Hiob (jetzt) selbst Gott sieht. Letzteres ist nicht gänzlich ausgeschlossen, liegt aber in der Freiheit Gottes, der sich offenbart, wann, wo und wie er will. Damit ist die zuletzt von Elihu allgemein formulierte Frage nach Möglichkeiten der Wahrnehmung des richtenden Gottes (V. 29) nochmals auf Hiob selbst angewendet. Im Gegensatz zu den konditionierten Verheißungen der Freunde verzichtet Elihu auf eine weitergehende Beschreibung der wohlwollenden Reaktion Gottes im Falle einer Umkehr Hiobs und lässt hier offen, in welcher Weise Gott auf Hiobs Erklärungen reagieren werde. Gott werde vergelten, sowohl im Blick auf Geschehen in der Welt als auch im Blick auf Hiob, aber er werde dies in absoluter Freiheit tun und nicht nach dem Maßstab Hiobs (V. 33). Die Tatsache, dass Hiob verwirft (māʾas) – wobei die absolute Verwendung des Verbs māʾas offenlässt, ob damit ein generelles negatives Urteil Hiobs gemeint ist (vgl. 18,4; 21,19–20.33) oder eine spezielle Verachtung seines Lebens (vgl. 9,21) – kann nicht das Kriterium für Gottes Handeln sein. Die Prüfung (vgl. V. 4) dieses Grundsatzes göttlicher Vergeltung und göttlicher Unverfügbarkeit sowie die Wahl, wie er sich nun gegenüber dem Handeln Gottes verhalten wolle, unterstellt Elihu abschließend Hiob selbst: Dieser muss selbst seine Antwort auf die von ihm selbst gestellten Fragen finden, und zwar im Licht der Ausführungen Elihus, und dann sagen, was er wirklich weiß. Die rhetorische Selbstbeschränkung Elihus („nicht ich“) stellt ein Gegengewicht zur Berufung auf sein eigenes Wissen dar (vgl. 32,16–22). Die betonte Redeaufforderung an Hiob korrespondiert mit dem Abschluss der ersten Rede Elihus (vgl. 33,32). So will Elihu Hiob zu der Erkenntnis bringen, die der anonyme Beter der Gemeinderegel aus Qumran schon hat (1QS X,11–18*): 11 […] Aber zu Gott will ich sprechen: Meine Gerechtigkeit (ṣdqj), 12 und zum Höchsten: Gründer meines Gutes (ṭwbj)133, Quelle des Wissens und Quelle der Heiligkeit, Höhe der Herrlichkeit und Macht von allem zu ewiger Verherrlichung. Ich will wählen, was 13 er mich lehrt, 131 Vgl. 1Kön 8,36; Jes 2,3 (par. Mi 4,2); Jes 28,26; Ps 25,8; 27,11; 32,8; 86,11; 119,33.102; 1QS X,12–13. 132 Siehe dazu Finsterbusch, JHWH als Lehrer, 15f; 35 („Der Mensch [Hiob] wird gehalten, in schwieriger Lage die Unterweisung im Dialog mit Gott zu suchen [Hi 34,32]“). 133 S.o. zu Hi 34,4.
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und gerne annehmen, wie er mich richtet. Wenn meine Hände und meine Füße anfangen sich zu strecken, will ich seinen Namen segnen (ʾbrk); [...] 16 [...] Und ich werde wissen, dass in seiner Hand das Gericht (mšpṭ) 17 über alles Lebendige ist und alle seine Werke Wahrheit sind. Aber wenn sich Not auftut, will ich ihn rühmen, und über seine Hilfe will ich gleichsam jubeln. Ich werde niemandem heimzahlen eine böse 18 Tat, und mit Gutem will ich jeden verfolgen. Denn bei Gott ist das Gericht über alles Lebendige, und er selbst vergilt jemandem seine Tat […]
34,34–37 Abschließende Prüfung der Worte der Weisen 34,34–37 Noch einmal wendet sich Elihu abschließend an die „Männer von Herz“ (vgl. V. 10) und legt diesen in Gestalt eines mehrzeiligen Zitates (V. 35–37)134 die Erwartung in den Mund, Hiob werde, wenn er denn nochmals rede (V. 33b), dies ohne Verstand und Einsicht tun (V. 35)135. Dieses Zitat, in dem Hiob zweimal namentlich genannt wird, bezieht sich nicht, wie zumeist angenommen, auf die bisherigen Reden Hiobs zurück, sondern drückt eine mögliche Reaktion Hiobs auf die Darlegungen Elihus aus. Die fiktive Antwort der Weisen umfasst den Wunsch eines fortwährenden Prüfens Hiobs wegen seiner vermeintlichen Gemeinschaft mit Frevlern (V. 36, vgl. V. 8)136 und führt analog zur Überleitung am Ende der ersten Rede (33,31–33) auf diese Weise bereits auf eine weitere Rede Elihus hin. Eine solche noch andauernde Prüfung, die hier wohl kaum ein weitergehendes Prüfen mittels Leid meint (33,19),137 könnte trotz Hiobs Klage über Gottes durchbohrenden Blick in 7,18 durchaus im Sinne Hiobs selbst sein (vgl. 31,6). Gegenstand einer solchen Prüfung wäre die Frage, ob und inwiefern Hiob sich mit seinen Worten weiterhin gegen Gott vergeht und ob die Freunde mit ihrer Beurteilung Hiobs als unbelehrbarem Sünder Recht haben. Betont lautet das letzte Wort der Rede „Gott“ (ʾel, vgl. 18,21; 20,29). Dabei kann sich der mutmaßliche Vorwurf, Hiob vermehre seine Vergehen und seine „Rebellion“ (pæšaʿ) mittels seiner fortgesetzten Reden, nur auf ein Reden gegen Gott beziehen (vgl. 15,4.13), da Elihu ja kurz zuvor Hiob ausdrücklich Worte empfohlen hat, die er zu Gott sagen solle (V. 31–32). In LXX hingegen erscheint die Schlussbemerkung Elihus, entsprechend der durchgehend in der griech. Übersetzung feststellbaren Tendenz, Hiob als gerecht darzustellen, als eine Warnung an sich selbst und die Freunde, die eigene Sünde nicht durch zu viele Worte weiter zu vermehren.
134 Gelegenlich wird dieses Zitat auf V. 35 beschränkt (vgl. Kaiser; Hartley; Strauß). Der Duktus der Argumentation spricht dafür, auch V. 36–37 als Teil einer fiktiven Rede der in V. 34 angeredeten Weise zu verstehen. 135 Zu śkl Hif. vgl. Hi 22,2 und zum in 34,35 gegen Hiob erhobenen Vorwurf vgl. Hi 38,2; 42,3. 136 Legt man für t ešûbāh die Bedeutung „Sitzungen“ zugrunde (s.o. die Anm. zur Übersetzung), so wird die schon für V. 8 festgestellte Parallele zu Ps 1,1 noch deutlicher. 137 So aber Fohrer; vgl. auch Weiser, der eine solche Deutung nicht ausschließt.
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Hi 35 Die dritte Rede Elihus 35,1 Und Elihu hob an und sagte: 2 3 4
Hältst du dies für Recht, sagst: „(Dies ist) meine Gerechtigkeit vor Gott“, dass du (nämlich) sagst: „Was nützt es dir1, was bringt es mir, wenn ich nicht sündige“? Ich will dir Worte erwidern und deinen2 Freunden bei dir.
5 Schau zum Himmel und betrachte und blick zum Himmelsgewölbe3, das so hoch ist fern von dir. 6 Wenn du sündig bist4: Was kannst du ihm5 antun? Und wenn deine Vergehen zahlreich sind: Was kannst du für ihn tun? 7 Wenn du gerecht bist: Was kannst du ihm geben, oder was kann er aus deiner Hand nehmen? 8 Einem Mann wie dir (gilt) dein Frevel und einem Menschenkind deine Gerechtigkeit. 9 Wegen der Menge an Ausbeutungen6 erheben sie Klagegeschrei, rufen um Hilfe wegen der Gewalt der Mächtigen.
1 D.h.: Gott. Eine Änderung in lî „mir“ (vgl. Weiser) oder eine Auflösung von V. 3aβ als indirekte Rede (vgl. Lauber, Weisheit, 83) beseitigt die doppelte Perspektive der zitierten und in den folgenden Versen von Elihu beantworteten Frage und nivelliert die Bipolarität der Argumentation; zum Bezug von lāk auf „Gott“ vgl. auch das Zitat in Hi 11,4, sowie CTAT 50/5, 349; Pilger, Erziehung, 90. 2 LXX: „(deinen) drei“ (BHK hält das für ursprünglich). 3 Oder: „zu den Wolken“ (vgl. Hi 37,18); zum semantischen Problem siehe Houtman, Himmel, 21f; 348, der in Hi 35,5 (wie in Jer 51,9; Ps 36,6; 57,11; 108,5) an den unbewölkten Himmel (als Wohnort Jhwhs) denkt. 4 Die AK steht hier für einen Stativ (vgl. Bobzin, Tempora, 445). 5 11QTgHi: „dir selbst“ (?); so nach DJD XXIII, 138; die Lesung b]k ist allerdings nicht gesichert. 6 Die häufig vorgeschlagene Änderung der Vokalisation in ʿoš eqîm/ʿ ašôqîm „Bedrücker“ (vgl. HsR368; Th; Vg) ist unnötig (vgl. Am 3,9; Pred 4,1).
ER
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10 Aber man7 sagt nicht: „Wo ist Gott, mein Schöpfer8?“ der Lobgesänge9 gibt in der Nacht, 11 der uns mehr als das Vieh der Erde lehrt10 und uns weiser macht als die Vögel des Himmels. 12 Daher11 schreien sie, ohne dass er antwortet,12 angesichts des Hochmuts der Bösen. 13
Gewiss, Nichtiges13 wird El nicht14 hören, und Schaddaj wird nicht darauf blicken15.
7 Wörtl.: „er sagt“. Dies wird mitunter direkt auf Hiob bezogen (vgl. Pope; TurSinai). Die Anrede Hiobs in der 2. P. Sg. wechselt aber erst in V. 15–16 in die Rede über Hiob in der 3. P. Sg. Bereits für 11QTgHi kann aufgrund der Auflösung von ʿośaj als dj ʿbdnh „der uns gemacht hat“ die (nicht erhaltene) Lesung ʾmrjn vermutet werden (so für den MT BHK); zum unpers. Gebrauch der 3. P. Sg. vgl. G/K § 144d. 8 Die pluralische Vokalisation ʿośaj unterstreicht, dass es um Gott als Schöpfer geht (vgl. Jes 54,5; Ps 149,2; Pred 12,1). 11QTgHi liest mit dem Suffix der 1. P. Pl., was aber eine sekundäre Angleichung an V. 11 darstellt. Das Zitat umfasst nur V. 10a; V. 10b–11 sind bereits der Kommentar Elihus. 9 So nach zāmîr (I). Die LXX könnte mit φυλακάς „Wächter“ auf eine Ableitung von zāmîr III (vgl. DCH mit Hinweis auf 2Sam 23,1 sowie HAL zu zmr III) verweisen, wenn der griech. Text nicht auf eine Lesart šmrwt zurückgeht (zur Diskussion siehe Grabbe, Philology, 108–110; J. Gray, 83f; Clines). In 11QTgHi ist das entsprechende Äquivalent nicht erhalten, am Versende findet sich aber, über den MT hinausgehend, das Wort lnṣbtnʾ, wobei umstritten ist, ob dies „(für) unsere Pflanzung“ bedeutet (so DJD XXIII, 138f; ATTM I, 293) oder „(für) unsere Festigkeit/Stärke“ (so Sokoloff, Targum, 79; 136). 10 mallepenû ist eine kontrahierte Form von meʾallepenû (vgl. BHS). 11QTgHi bietet pršnʾ „der uns abgesondert/unterschieden hat“ (vgl. LXX: διoρίζων), was auf eine Form von plh Hif. „besonders behandeln“ (vgl. Ex 8,18) zurückgehen könnte (vgl. DJD XXIII, 139), aber auch eine Paraphrase sein kann. 11 Zu dieser Nuance von šām siehe König, LG II/2, § 373k sowie Bobzin, Tempora, 447; vgl. Ps 14,4–5; 36,13; 53,6; Hos 6,7). 12 Zur Auflösung von V. 12aα als eingeschobenen Umstandssatz siehe Bobzin, Tempora, 447. 13 šāwʾ ist Objekt zu jišmaʿ (vgl. 11QTgHi; LXX; Vg; Syr; Tg) und damit kein Ausruf („umsonst“; so aber Weiser) oder Nominalsatz („Aber ist es nicht wahr, dass …“), von dem die folgenden Satzteile als indirekte Rede abhängen (so Gordis). 14 In 11QTgHi fehlt die Negation, das zweite Kolon ist dann vermutlich antithetisch zu verstehen. 15 11QTgHi: „auf Nichtiges hört er nicht“ (h]blʾ [lʾ] jṣtnh), so nach DJD XXIII, 137f, vgl. V. 16; allerdings ist diese Lesung nicht ganz gesichert; Sokoloff, Targum, 78f, liest [wd]ḥlʾ [lʾ] jṣtnh „and the feared one will not listen to“; ATTM I, 293, rekonstruiert [wj]ṣlʾ [lʾ] jṣtnh „wer (nicht) betet, den erhört er nicht.“
Hi 35 Die dritte Rede Elihus
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14 Auch wenn du sagst: „Du erblickst ihn nicht“,16 so ist Gericht17 vor seinem Angesicht, und du musst auf ihn warten18. 15 19Aber jetzt, weil es keinen gibt20, der seinen Zorn21 untersucht, und man das Vergehen22 nicht richtig23 erkannt hat, 16 da kann Hiob mit Nichtigkeiten24 seinen Mund aufsperren, in Unwissen die Worte mehren25. Althann, R.: Syntax and Meaning in Job 35,15, JNSL 24 (1998) 71–74.
16 Zumeist wird V. 14aβ als indirekte Rede verstanden. Die Analogie zu V. 3 sowie zu Hi 34,5 und 34,9 spricht dafür, auch hier eine direkte Rede zu sehen, in der das „Du“ dann den Charakter eines unpersönlichen „man“ annimmt (vgl. König, LG II/2, § 324b mit Hinweis auf Jes 7,25; 12,1; Ps 37,1; 49,17; 118,13a; Spr 19,25; 26,12 u.a.). In diesem Sinn könnten auch Vg und die Mehrzahl der Hss von Tg die Form t ešûrænnû verstanden haben, wenn sie jeweils mit der 3. P. Sg. übersetzen (vgl. Peters). Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass Tg und Vg auch an „Gott“ als Subjekt dachten, wobei das Suffix -nû dann wie -nā in V. 13b für ein Neutrum stünde („er sieht es nicht“, dementsprechend liest Kissane j ešûrænnû). J. Gray erwägt nach einigen Hss t ešûrænnî „du siehst mich (nicht)“ oder j ešûrænnî „er sieht mich (nicht)“. Syr (lʾ tšbḥjwhj „du preist ihn [nicht]“) und die LXX (σώσει με „er rettet mich“) weichen noch stärker ab, wobei Syr wohl eine Form von šîr (vgl. Hi 36,24) anstelle von šûr gelesen hat. 17 Die Lesart dîn ist textkritisch nicht zu beanstanden (vgl. Hi 19,29; 36,17). Aufgrund der Parallele zu Ps 37,7 (62,6) schlägt aber BHK vor, dôm „sei still!“ zu lesen. V. 14b ist kein Teil der direkten, zitierten Rede (so Wahl, Schöpfer, 99f; Clines), sondern bietet die Position Elihus (vgl. die Fügung der Kola in V. 10). 18 e t ḥôlel kann als Impf. Poal von ḥjl III verstanden werden (vgl. Ges18; DCH s.v. ḥjl II). Lauber, Weisheit, 85, bleibt auch beim MT, bestreitet aber die Existenz einer Wurzel ḥjl III und übersetzt nach ḥjl I („du musst seinetwegen zittern“). 19 Der Vers enthält zahlreiche philologische Probleme, so dass die Übersetzungen und Auslegungen hier stark voneinander abweichen. Ohne kleine Eingriffe in den MT lässt sich kaum ein sinnvoller Text rekonstruieren. 20 Die Konstruktion von ʾajin im st. abs. mit folgendem Pf. ist ungewöhnlich – zu erwarten wäre ein st. cstr. mit folgendem Partizip (ʾên poqed; vgl. Hi 32,12; Fohrer; Bobzin, Tempora, 448f) –, aber grammatikalisch nicht ausgeschlossen, wenn ʾajin als Nominalsatz verstanden wird, von dem pqd ʾpw als Objektsatz abhängt (vgl. auch Strauß; Lauber, Weisheit, 86). 21 D.h.: Hiobs Zorn, nicht der Zorn Gottes. 22 Das Lexem paš ist nur hier in der hebr. Bibel belegt. Kontextuell bedeutet es wohl „Übermut“ oder „Torheit“, zur Diskussion siehe Grabbe, Philology, 110–112; CTAT 50/5, 351f; Clines; Seow, Hapax Legomena, 170f (mit der Erklärung als Verbalform von einer Wurzel pwš/pšš „bleiben“ und der Annahme einer Verschreibung von b und k im Sinn von kî). Möglicherweise ist anstelle von bpš einfach pšʿ/pæšaʿ zu lesen (vgl. Th; Sym; La; Vg). 23 Zu einem nachgestellten adverbialem meʾod vgl. Ps 139,14. 24 hæbæl ist hier adverbial gebraucht, vgl. Hi 9,29; 21,34; 27,12; Jes 30,7. 25 Viele Hss lesen jakbîd „er macht schwer“ (vgl. Th; Sym). Eine Änderung des MT (so Wahl, Schöpfer, 100) ist jedoch unnötig.
Literatur
550 Aufbau und Sprachformen
Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
Die auffallend kurze dritte Rede Elihus beginnt ohne rhetorische Selbsteinführung (vgl. Hi 32,6–10; 36,2–4) oder einen Höraufruf an die Weisen (vgl. 34,2) unmittelbar mit einer als Zitat Hiobs gekennzeichneten Problematisierung zum Verhältnis von menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit und der Erklärung Elihus, dieses Problem im Angesicht Hiobs und seiner drei26 Freunde zu lösen (A: V. 2–4).27 Der Auftakt mit einem Zitat knüpft an die mit einer zitatähnlichen Paraphrase schließende Rede in 34,34–37 an und nimmt gleich im ersten Bikolon deren Schlusswörter (ʾemær/ʾāmar; ʾel) auf. Wie die zwei ersten Elihureden hat die dritte einen doppelten Adressatenkreis. Elihu setzt sich auch hier mit den Argumenten beider Seiten auseinander und liefert in Abwägung dieser Positionen eine eigene differenzierte Antwort (V. 3). Diese wird im Hauptteil in drei Strophen zu je vier Bikola geboten,28 die jeweils einen eigenen thematischen Schwerpunkt besitzen (B: V. 5–8|9–12|13–16). Charakteristisch für den Hauptteil sind ein mehrfacher Wechsel der angeredeten Personen, der Perspektiven und Positionen, mitunter innerhalb eines Bikolons, sowie eine konzentrische Anlage der Strophen, bei denen jeweils zwischen dem ersten und vierten bzw. zweiten und dritten Bikolon besondere begriffliche und inhaltliche Bezüge bestehen. Bereits in der frühen Textüberlieferung sind die Personenwechsel an einzelnen Stellen durch eine Angleichung der Numeri verwischt. Teilweise haben sich moderne Kommentare diesen Vereinheitlichungen angeschlossen und damit die argumentative Komplexität der Rede aufgelöst. In der ersten Strophe des Hauptteils fordert Elihu Hiob zu einem Perspektivwechsel auf und richtet den Fokus auf die Folgen des Handelns Hiobs für seine Umwelt (V. 5–8): Neben die Frage nach Grund und Ziel menschlicher Gerechtigkeit im Blick auf das eigene Ergehen und im Blick auf Gott tritt die Frage nach der sozialen Dimension von Gerechtigkeit und Sünde. Damit nimmt Elihu Hiobs Bekenntnisse zu seinem vorbildhaften sozialen Handeln und Verhalten auf, insbesondere aus Kap. 29 und 31, verlagert jedoch den Schwerpunkt vom „Ich“ Hiobs auf das „Du“ des Nächsten. Die zweite Strophe kreist um die Frömmigkeit in der Gesellschaft (V. 9–12). Sie setzt sich mit der von Hiob vor allem in Kap. 9; 21 und 24 gestellten Frage nach dem Unrecht in der Welt und mit der Reaktion Gottes auf dieses auseinander. Eine Antwort findet Elihu im Mangel des Gebets zu Gott dem Schöpfer. Die letzte Strophe, die zugleich als Abschluss der Rede dient (C: 35,13–16), bietet zunächst wieder in Gestalt eines Zitates (V. 14, vgl. V. 3) in kritischer Aufnahme von Hiobs Ausführungen in Kap. 23 und 31 ein Bekenntnis Elihus zur grundsätzlichen Richtertätigkeit Gottes und einen Aufruf Hiobs zur Geduld (V. 13–14). Sie schließt mit einer (indirekten) Verteidigung des Auftretens Elihus und einer Qualifikation der Reden Hiobs als nichtig und unbedacht (V. 15–16). Damit rekurriert diese Passage einerseits auf die große Exposition der Elihureden in 32,7–33,7 (vgl. besonders 32,11–22) So explizit die LXX in V. 4b. Zur Verlegung von Hi 33,31–33 zwischen 35,1 und 35,2 s.o. S. 491 Anm. 3 und S. 524. 28 Zu einer alternativen Gliederung siehe Wahl, Schöpfer, 93; 97, der V. 13 zur Einheit von V. 9–12 zählt. 26 27
Hi 35 Die dritte Rede Elihus
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und leitet andererseits, wie die Schlusssequenzen in 33,31–33 und 34,34–37, zu einer weiteren Rede Elihus über. Formal bildet auch die dritte Rede Elihus eine weisheitliche Streitrede, in der Begriffe aus der Welt des Rechts eine wesentliche Rolle spielen und einzelne hymnische Elemente verwendet sind (vgl. V. 10–11). 4QHia enthält nur drei Wörter aus V. 16, die dem MT entsprechen. In 11QTgHi Text- und sind Äquivalente zu V. 6–15 erhalten, die in V. 6.10.11.12 charakteristische LiterarUnterschiede gegenüber dem MT aufweisen. In V. 10b kann für 11QTgHi auf- geschichte grund der Größe der Lücke zwischen den erhaltenen Wörtern sogar ein Textüberschuss gegenüber dem MT angenommen werden, ohne dass sich angesicht des fragmentarischen Zustandes der Handschrift gegenwärtig sagen lässt, was hier genau stand. Im OG fehlten V. 7b–10a.12a.15–16, möglicherweise wurden diese Stichen bewusst ausgelassen, um das Bild Hiobs zu idealisieren. 29 Im ,kirchlichen Text‘ der LXX sind diese aus Th nachgetragen. V. 3 ist in der LXX auf einen Stichos konzentriert. Einige griech. Hss kompensieren die Kürze der Rede, indem sie in 36,1 keine Überschrift bieten.30 Eine literarische Schichtung ist nicht erforderlich.31 Ein Anlass zur Annahme einer (umfangreichen) Glossierung32 oder zur Rückführung der Rede auf einen anderen Verfasser als den der Grundschicht der Elihureden33 besteht nicht. Der Wortgebrauch, die Art der Komposition und der Rhetorik sowie die Argumentation und die Tendenz entsprechen den vorangegangenen Elihureden, auch wenn diese dritte Rede sehr viel kürzer ist. Bei den von Tanja Pilger und Stephan Lauber geltend gemachten inhaltlichen Widersprüchen zu Kap. 34, die zur Einschätzung führen, Kap. 35 stelle eine jüngere Fortschreibung oder einen eigenständigen, von Kap. 34 unabhängigen Kommentar zum „Hiobbuch“ dar, der mittels der Einfügung von V. 14–15 redaktionell an Kap. 34 angepasst worden sei,34 handelt es sich um Nuancierungen und Erweiterungen der bisherigen Argumentation Elihus.
Vgl. Gard, Exegetical Method, 75f; Goreae, Job repensé, 179–182. Vgl. die griech. Minuskeln 336, 728 und 575 sowie eine Hs der altlat. Übersetzung (Laβ). 31 Gegen Mende, Leiden, 75–80, und Vermeylen, Métamorphoses, 323; 348 (s.o. S. 493). 32 Vgl. Hölscher, der V. 15f zusammen mit 36,1 für sekundär hält, und 36,2 als ursprüngliche Fortsetzung von 35,14 betrachtet, Kaiser, der V. 13 als Glosse ansieht, oder Pilger, Erziehung, 101, die V. 16 als Zusatz beurteilt. 33 Vgl. mit unterschiedlicher redaktionsgeschichtlicher Einschätzung Mende, Leiden, 84f; Pilger, Erziehung, 100f; 136; 206–211; 246f; Lauber, Weisheit, 172f, und Vermeylen, Métamorphoses, 348; s.o. S. 493f. 34 Vgl. Pilger, Erziehung, 100f; 136 bzw. Lauber, Weisheit, 174f, 246f. Dabei setzt Laubers These, dass es sich bei V. 14–15 um eine Präzisierung der Gerechtigkeitsvorstellung handele, eine stark von der hier gebotenen Übersetzung abweichende Wiedergabe von V. 14–15 voraus. 29 30
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35,1–4 Vom Nutzen der Gerechtigkeit 35,1 Die Überschrift entspricht der der zweiten Elihurede (34,1). Sie kann wie 34,1 als ursprüngliche Gliederung einer zum Grundbestand der Elihureden gehörenden Komposition verstanden werden und braucht nicht als redaktionelle Klammer zunächst getrennt überlieferter Kommentare zu einem älteren Hiobbuch angesehen werden.35 35,2–4 Der Auftakt mit seiner direkten, wenn auch nicht namentlichen Anrede Hiobs setzt die vorangehenden Ausführungen Elihus unmittelbar fort. Mit dem Begriff mišpāṭ („Recht“) wird schon im ersten Kolon das wichtigste Leitwort der Rede Elihus in Kap. 34 aufgegriffen (V. 2a). Die mittels des Begriffs ṣædæq („Gerechtigkeit“) ausgedrückte Thematisierung des Verhältnisses Hiobs zu Gott (V. 2b) knüpft direkt an das Schlusswort in 34,37 (ʾel „Gott“) an. Elihus Reformulierung des mutmaßlichen Rechtsanspruchs Hiobs (V. 2b) orientiert sich einerseits sprachlich an den Klagen Hiobs über die Feindschaft Gottes (ḥāšab, 13,24; 19,11) und sachlich an dessen Unschuldsbekenntnissen in 6,29 und 9,20–21, die Elihu wie in den Passagen der Niedrigkeitsredaktion ausdrücklich auf die Wendung „vor/gegenüber Gott“ (meʾel, LXX: ἐνάντιον)36 zuspitzt. Andererseits entfaltet Elihu das zitierte Bekenntnis Hiobs mit einem weiteren Zitat, das gemäß der Einleitungsformel kî-tômar als Wiederholung von Worten Hiobs erscheint, sich lexikalisch aber wie die Zitate in den vorangegangenen Elihureden als eine Mischung aus Worten Hiobs, der Freunde und Elihus selbst erweist (vgl. 34,5–9). Dabei ist die Erläuterung des ersten Zitates mittels des zweiten nicht ohne Ironie und Polemik, denn erstens hatte Hiob die ihm hier in den Mund gelegte Frage sinngemäß selbst als einen charakteristischen Ausspruch von Frevlern angeführt (21,14–15) und zweitens in seinen Unschuldsbekenntnissen nicht den Nutzen seiner Frömmigkeit als Grund seiner Gerechtigkeit bezeichnet, sondern den Zusammenhang zwischen seiner Frömmigkeit und seinem Leiden bzw. seiner Behandlung durch Gott problematisiert (vgl. 9,21). Gleichwohl ist die Frage nach dem Grund und dem Ziel menschlicher Frömmigkeit und Gerechtigkeit ein Leitmotiv des gesamten Hiobbuches, das sich vom Prolog an durch die gesamte Dichtung zieht.37 Gerade in ihrer von Elihu auf die Frage nach dem Nutzen für Gott (V. 3a) und für Hiob selbst (V. 3b) fokussierten Doppelpoligkeit erscheint diese in einer besonderen Fügung, die an die Tendenz der Frage des Satans erinnert (1,9): Mit der Gerechtigkeit Hiobs steht und fällt auch die Glaubwürdigkeit Gottes. Elihu, der im Gegensatz zum Dichter und zum Leser nichts von den Himmelsszenen weiß, sondern Gegen Lauber, Weisheit, 181; 441. Vgl. Hi 4,17; (9,2; 25,4: ʿim); 32,2. Zu einer ausführlichen Diskussion, ob min hier auch komparativ verstanden werden kann („Meine Gerechtigkeit ist mehr als die Gottes“, so Gordis; Clines; Strauß) siehe Pilger, Erziehung, 93. 37 Vgl. Hi 1,9; 15,3; 21,14–15; 22,2–3; 34,9. 35
36
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auf der Ebene der von Hiob und seinen Freunden gehaltenen Reden argumentiert, zielt mit der Zitation auf einen Blickwechsel Hiobs. Dass der Verzicht auf Sünde sowohl auf den Täter als auch auf Gott eine Rückwirkung haben kann, wird nicht bestritten. Allerdings gibt es eine dritte Dimension menschlicher Gerechtigkeit und Frömmigkeit, an die Elihu Hiob und seine Freunde erinnern möchte. Die soziale Dimension der Gerechtigkeit
35,5–8
Der Wechsel der Perspektive wird mit einem dreifachen lehrhaften Aufruf zum 35,5 Sehen eröffnet. Das Wort šûr („sehen“), das eine Lieblingsvokabel Elihus darstellt,38 hat hier die Funktion eines Leitwortes (vgl. V. 13–14). Der Blick zum Himmel soll Hiob einerseits aus einem Kreisen um sich selbst befreien (vgl. 37,18; 38,37), andererseits den Abstand zwischen Gott und dem Menschen vor Augen führen.39 Um Letzteren weiß Hiob an sich (vgl. 22,12–14), doch haben nach Elihus Einschätzung die intensive Suche nach Gott (23,8–9) und der dringliche Wunsch der unmittelbaren Gottesbegegnung (31,35–37) ihn diesen vergessen lassen. Die Mahnung liegt theologisch auf der Ebene der Aufforderung an Hiob, er möge sich von Gott belehren lassen, auch wenn er ihn nicht sieht (34,31–32), und des Hinweises, Gott richte (rāšaʿ Hif.; šalem Piel), aber nicht nach der Maßgabe Hiobs (34,29.33, vgl. Ps 11,4–7). Die Fragenkette (vgl. 37,14–20) nach den Auswirkungen von Hiobs Ver- 35,6–7 halten und Handeln auf Gott, sei es Sünde, sei es Gerechtigkeit, nimmt die Zitation aus V. 2 in modifizierter Weise auf. Sie erinnert an Ausführungen Hiobs in 10,3–14, insbesondere an die Hiob von einer späten, nach der Komposition der Elihureden tätigen Redaktion in den Mund gelegten Worte in 7,20aα, ohne mit ihnen identisch zu sein (vgl. 13,22–23; 14,16). Zudem unterstreicht sie die Distanz von Gott und Mensch und die Unmöglichkeit, Gott zu manipulieren (vgl. Pred 5,1). 40 Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine rhetorische Frage, die einfach mit „nein“ oder „nichts“ zu beantworten wäre.41 Mindestens auf der Ebene eines den Prolog mit den Himmelsszenen umfassenden Buches ist klar, dass ein religiöses Fehlverhalten Hiobs Folgen für Gott selbst haben kann (vgl. 1,9; 2,3). Aber auch im unmittelbaren Kontext der argumentativen Auseinandersetzung, die Elihu mit Hiob und mit dessen Freunden führt, ist es eine offene Frage, die eine andere Nuance hat als die ganz ähnlich klingende Frage des Eliphas in 22,2–3 (vgl. 34,9). GotVgl. Hi 33,14.29; 34,27; 35,5.13.14; außerhalb der Elihureden in Hi 7,8; 17,15; 20.9: 24,15. Vgl. Dtn 33,26; Ps 36,6; 57,11; 108,5; Jes 55,8–9; Lehre d. Amenemope 4,18–19 (TUAT. NF VIII, 331f). 40 Dieser Gedanke ist auch stilistisch besonders betont mittels des dreifach auf Gott verweisenden Suffixes -ô, wodurch die drei Kola in V. 6a.6b.7a einen Endreim bilden: bô – lô – lô. Demgegenüber bietet V. 7b.8a.8b ein mittels des auf die 2. P. Sg. – Hiob – verweisenden Suffixes -kā ein Homoioteleuton: mijjādekā (jiqqaḥ) – riš ʿækā – ṣidqātækā. 41 In diesem Sinn versteht jedoch die Mehrheit der Auslegungen die Fragen in V. 5–6. 38
39
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tes Souveränität und Transzendenz einerseits sowie andererseits seine Wahrnehmung der Welt und sein Handeln in ihr stehen hier in einer spannungsvollen Beziehung. 35,8 Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben Auswirkungen auf die Umwelt Hiobs. Im Kontrast zur Schau in den Himmel als der Sphäre Gottes lenkt Elihu den Blick Hiobs auf die Erde als den Raum des Menschen, der hier bewusst mit dem seine Geschöpflichkeit betonenden Begriff „Menschenkind“ (bæn-ʾādām) bezeichnet wird (vgl. 16,21; 25,6; Ps 8,5; 115,16). Auch dies hat prinzipiell schon Eliphas gesagt, wenn er Hiob konkrete Vergehen gegen seine Mitmenschen unterstellte (22,5–9), was Hiob selbst zu einer umfassenden Beschreibung seiner gesellschaftlichen Gerechtigkeit (29,12–25) bewegte sowie zu seinem Bekenntnis, die grundlegenden Sozialgebote der Torah eingehalten zu haben (31,7–34*). Doch Elihu betont diesen Aspekt besonders, wenn er Hiob, dem in ethischer und religiöser Hinsicht unvergleichlichen Gottesknecht (ʾên kāmohû, 1,8), vor Augen stellt, dass sich sein Denken und Handeln zum Bösen wie zum Guten (ṣ edāqāh) auf seinen Nächsten richtet, der ihm in kreatürlicher Hinsicht als Geschöpf Gottes grundsätzlich gleicht (ʾîš kāmôkā, V. 8, vgl. Lev 19,18). 35,9–12 Die Frage nach dem Schöpfer 35,9 Mit dem Rekurs auf den Hilfeschrei (zāʿaq; šāwaʿ )42 der unter Ausbeutung und Gewalt der Mächtigen Leidenden greift Elihu Hiobs Beschreibung des von Gott geduldeten Elends der Armen (24,1–12), aber auch seine eigenen Ausführungen über Gottes Gericht über die Tyrannen in der Welt (34,17– 29) auf. An dieser Stelle richtet Hiob seinen Blick jedoch auf das religiöse Verhalten der Unterdrückten. Die Darstellung bildet ein Pendant zum Perspektivwechsel in V. 5–8. Dass es in der Welt ungestrafte Unterdrückung gibt, wie es Hiob ausgeführt hat (21,7–33; 24,1–12), ist die eine Seite. Dass Gott die Unterdrücker aber zu der ihm richtig erscheinenden Zeit bestraft, wie es die Freunde in ihren Lehrreden über die Frevler (r ešāʿîm; 15,20–35; 18,5–21; 20,4–29) und zuletzt auch Elihu gesagt haben (34,27–30), ist die andere Seite. 35,10–11 Dass es aber auch bei den Unterdrückten selbst Defizite im Umgang mit der eigenen Lage gibt, insofern diese zwar um Hilfe rufen, aber nicht nach Gott als ihrem Schöpfer fragen (35,10a), ist ein von Elihu neu in die Diskussion eingebrachter Gedanke. Gott bringt den Hilfeschrei der Armen vor sich (34,28) – aber es kommt auch auf dessen Inhalt und Richtung an (vgl. 5,8; Ps 53,3; 88,2–3). Die Wendung „Wo ist mein Schöpfer?“, die in ihrem bekenntnishaften Stil aus einem Psalm stammen könnte (vgl. Ps 42,9–10;
42
Stilistisch betont im Zentrum des chiastisch angelegten Verses.
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95,6; Jer 2,6.8),43 steht exemplarisch für das Beten und reagiert auf Hiobs Vorwurf, Gott stoße sich nicht an den Absurditäten in der Welt (24,12). Wie bei der Beschreibung der Unterdrückung der Armen in 24,1–12 und des Gerichts Gottes an den Mächtigen in 34,17–30 muss hier offenbleiben, ob auf ein konkretes zeitgeschichtliches Ereignis angespielt wird. Die Konzentration des Gebets auf die Frage nach Gott als Schöpfer nimmt die Bekenntnisse Hiobs zu diesem auf (10,8–12; 31,15). Sie ist charakteristisch für die Schöpfungstheologie der Elihureden44 und bereitet schon Elihus ausführliche Hinführung (36,22–37,24) auf die erste Gottesrede vor, in deren Mittelpunkt die Auseinandersetzung mit der Anfrage Hiobs an die Macht des Schöpfergottes steht (vgl. Hi 3 versus Hi 38). Die im hymnischen Partizipialstil gefasste Entfaltung der Frage nach dem Schöpfer (V. 10b–11) zielt auf eine spezifische Erkenntnis Gottes und auf eine besondere Wahrnehmung der eigenen Situation: Gott selbst legt dem Menschen das nächtliche Gotteslob (zemirôt) in den Mund.45 Gott stattet den Menschen mit besonderer Erkenntnis aus, die ihn von den Tieren unterscheidet (vgl. 28,21).46 Traditionsgeschichtlich stehen die Motive der Gottesebenbildlichkeit (vgl. Gen 1,26–28; Ps 8,5–9) und des Lehrersein Gottes (vgl. 34,32; 36,22) im Hintergrund. 47 Bewusst lautet das Epitheton „mein Schöpfer“ (ʿośāj, V. 10), da im Gebet letztlich der je Einzelne vor seinem Gott steht, und bewusst lautet die Entfaltung (V. 11), dass Gott „uns lehrt“ und „uns weise macht“, weil es um das Handeln Gottes am Menschen an sich geht. Rhetorisch zeigt sich erneut, wie Elihu einerseits auf Hiob als Einzelnen eingeht, andererseits sich selbst, die Freunde und den Kreis der Weisen in den Disput einbezieht (vgl. 33,6; 34,2). Argumentativ bemüht sich Elihu um eine Erklärung der von Hiob beschriebenen 35,12 und von ihm nicht geleugneten ausstehenden Erhörung des Hilferufes der Unterdrückten (vgl. Ps 22,3). Zugleich appelliert Elihu zumindest indirekt auch an die Unterdrückten, ihr Leiden mit dem Gebet zu Gott dem Schöpfer und der Reflexion der eigenen Rolle als von Gott selbst unterwiesene Geschöpfe zu bewältigen. Der Gedankengang erscheint angesichts des von Hiob beklagten eigenen und fremden Leidens und angesichts der überzeitlichen Erfahrung
43 Vgl. Kaiser, 94. Aus der Umwelt des AT vgl. z.B. das Bekenntnis zu Re „Re, mein Herr! Du bist Schöpfer, der (auch) mich erschuf, der (für mich) sorgt, / der sich wendet auf meinen Ruf!“ (J. Assmann, ÄHG 195, 283–285). Möglicherweise spielt V. 9 auch auf den Namen Hiobs („Wo ist der Vater?“) an (vgl. Mathys, in: Kaiser/Mathys, Hiob, 132). 44 Vgl. Hi 32,22; 33,4.6; 36,3, neben 4,17. 45 Vgl. Ps 16,7–8; 42,9; 92,3; 119,55.62; 121,6; PsSal 3,2. Tg entfaltet dies erläuternd zum himmlischen Lobgesang der Engel vor Gott (vgl. Hi 38,7; 4Q405 frgm. 19). 46 Im Gegensatz zu Hi 12,7–8 und Spr 6,6 sind die Tiere hier nicht das Mittel der Belehrung über Gottes Schöpfung (so Habel, Hartley), sondern Wesen, die vom Menschen hinsichtlich einer geringeren Erkenntnis unterschieden sind. 47 Stilistisch wird dies durch die chiastische Anlage des Bikolons besonders hervorgehoben, insofern das Bikolon mit dem Wort ʾālap (Piel „lehren“) beginnt und mit dem Wort ḥākam (Piel „weise machen“) endet.
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radikaler Entwürdigung von Menschen paradox. Er entspricht jedoch der in der ersten Elihurede ausgeführten Deutung des Leidens als einer pädagogischen Maßnahme Gottes (33,15–18). Wie in seiner ersten Rede bringt Elihu die Vorstellung eines nächtlichen Heils- und Offenbarungshandelns in die Diskussion ein (vgl. 33,15 par. 4,13). Er stellt dieses der Klage Hiobs über die nächtlichen Heimsuchungen durch Gott gegenüber (7,3; 30,17) und unterstreicht die Bedeutung des Gebets als die dem Menschen in jeder Lebenssituation angemessene Haltung gegenüber Gott. Nach Elihus Verständnis ist der Mensch auch im Leiden ein zum Gotteslob und zur Reflexion begabtes und beauftragtes Wesen (vgl. 36,24). Der Lobpreis von Ps 8 wird hier zwischen den Klagerufen (zāʿaq, ṣāʿaq) der Unterdrückten (V. 10.12) verortet. Dies ist eine Zumutung – sowohl für Hiob, der gemäß seinem Namen („Wo ist der göttliche Vater?“) und seinen Klagen intensiv auf der Suche nach dem sein Geschöpf bewahrenden Gott ist (10,12; 23,3.8–9), als auch für diejenigen, die selbst von Leid betroffen sind –, aber es ist auch ein Versuch, die menschliche Existenz zu relativieren und zu transformieren. 35,13–16 Göttliches Gericht und menschliche Geduld 35,13–14 Die sich in der zweiten Strophe zeigende Spannung zwischen der Vorstellung von der Unverfügbarkeit und Souveränität Gottes (vgl. 34,29.32) und der Bedeutung des Gebets zieht sich auch durch den letzten Abschnitt der Rede. Der Auftaktvers qualifiziert den Schrei der Unterdrückten als „Nichtiges“ (šāwʾ) und liefert damit thetisch die ausdrückliche Begründung, weshalb Gott diesen Schrei, selbst wenn er ihn vor sich bringt (34,28), nicht erhört und wahrnimmt. Der Begriff šāwʾ umfasst die Aspekte des nicht Aufrichtigen, der Lüge und des Trugs, des Vergeblichen und Lebensfeindlichen (vgl. 11,11; 31,5). Er markiert das genaue Gegenteil zu einem von Gerechtigkeit und Verlässlichkeit gekennzeichneten Verhalten (Jes 59,4), zum Bekenntnis zu Gott als Schöpfer, zum Gotteslob und zur Selbsterkenntnis. Die Argumentation Elihus entspricht damit der Tendenz des Dekalogverbots, den Namen Jhwhs zu missbrauchen (Ex 20,7; Dtn 5,11, vgl. auch Hi 31,5),48 das, als Gebot betrachtet, auf den rechten Gebrauch des Gottesnamens im Gebet zielt. Der Verzicht auf šāwʾ, das Bekenntnis zu Jhwh, das Gotteslob und die Selbsterkenntnis bilden eine Voraussetzung heilvoller Wahrnehmung durch Gott (vgl. Ps 24,4, Jes 59,1–2) – ohne aber eine Garantie dafür zu sein. Denn Gott ist frei. Diesen Gedanken hat Elihu in seiner zweiten Rede breit ausgeführt (vgl. 34,10–30.33). Er wiederholt ihn hier knapp, wenn er den über die Unnahbarkeit und Verborgenheit Gottes klagenden Hiob (vgl.
48
Vgl. mit Bezug auf den äg. Gott Ptah eine analoge Mahnung in ÄHG 150, 10–14.
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24,1.12) zur Geduld ermahnt (V. 14b): Gott werde sich wahrnehmen lassen und richten, aber allein zu der von ihm bestimmten Zeit (34,23.29). Dogmatisch gesprochen, reflektiert Elihu das Phänomen des deus revelatus und des deus absconditus. Die Kürze des Ausdrucks, die unterschiedlich aufzulösende syntaktische Struktur von V. 14 und die textlich umstrittene Form ûteḥôlel haben in der Forschung zu einer Vielzahl von Auslegungen geführt, die sich mitunter stark voneinander unterscheiden. Nach dem hier vorgelegten Verständnis greift Elihu Hiobs Klage über den für ihn – und damit eigentlich für jeden Menschen – nicht wahrnehmbaren Gott (9,11–12 [sek.]; 23,8–9) sowie dessen Wunsch nach einer unmittelbaren gerichtlichen Gottesbegegnung (23,3–7; 31,35–37) auf. Er versichert Hiob, dass die richterliche Entscheidung (dîn) wirklich bei Gott liege (36,17), und ruft ihn angesichts dessen zu einem demütigen Ausharren (ḥîl) auf. Damit erinnert Elihu Hiob zugleich an seine in 16,19–21 und 19,25–27(28–29 [sek.]) aufblitzende Hoffnung einer Gottesschau und einer richterlichen Entscheidung Gottes und bereitet, wie dann besonders in seiner folgenden Rede, die in Hi 38,1 präsentierte Theophanie vor. Motivgeschichtlich klingen zum einen, wie in den Himmelsszenen des Prologs (1,6–12; 2,1–6) und wie in der ersten Elihurede entworfenen himmlischen Rechtfertigungsszene (33,23–28), die Vorstellung vom Königs- und Richtergott an (vgl. Ps 9,5; 82,1), zum anderen das vor allem in Psalmen aus persischer und hellenistischer Zeit vertretene Frömmigkeitsideal des geduldigen Wartens und Hoffens auf Gottes (endgültiges) Gericht (vgl. Ps 37,7)49. So bietet V. 14b die eigentliche theologische Antwort auf die eingangs gestellte Frage (V. 2): Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt (ṣidqî meʾel), sind das bedingungslose Vertrauen auf Gott (vgl. Gen 15,6) und die Gottesfurcht (vgl. Gen 22,12) – so, wie es der Hiob des Prologs (1,1.21) und der Majestätsredaktion (28,28) verkörpert und woran Hiob auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches nun seitens Elihu argumentativ erinnert wird. LXX , Syr und Varianten zu Tg rufen dementsprechend (mit unterschiedlichen Nuancen) Hiob zum Gebet auf, was sich philologisch leicht aus einer dem MT entsprechenden Vorlage erklären lässt,50 sich aber jeweils gut zur jeweiligen Theologie der Versionen fügt.
Vgl. jeweils mit dem Verb jḥl (siehe die Anm. zur Übersetzung) Ps 38,16; 42,6.12; 43,5; 130,5; Klgl 3,24; Mi 7,7. 50 Während der Aufruf Hiobs zum Gotteslob in der LXX wohl auf einer Lesart hll basiert, setzt die Empfehlung der eindringlichen Bitte in Syr möglicherweise eine Lesart von ḥlh II („gnädig stimmen“) voraus, vgl. Ex 32,11; Ps 119,58; Dan 9,13). Tg bietet nur hier das Wort ṣlj (ṣlh „beten“), das in anderen Targumen für eine Vielzahl hebr. Wörter für „beten“ verwendet wird. 49
558 35,15–16
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Elihus Aufruf zum Ausharren entspricht die Kritik an Hiobs Zorn (vgl. 18,4)51 über ein seiner Vermutung nach ausbleibendes göttliches Gericht; denn ein solcher Zorn kennzeichnet gerade nicht den Weisen und Frommen (vgl. Ps 37,8; Hi 36,13). Die Feststellung, dass Hiobs Zorn bisher nicht ausreichend untersucht oder gar gestraft worden sei (pāqad), korreliert mit Elihus Kritik an den Freunden, die keine Antwort auf Hiob gefunden haben (32,12), und mit seinem eigenen Selbstverständnis, Hiob zurechtweisen zu können (32,16–22). Denn: „Weise besänftigen (sûb) den Zorn“ (Spr 29,8b). In die Untersuchung soll auch der bisher nicht hinreichend (meʾod) erkannte Frevel (v.l.) einbezogen werden. Dabei muss angesichts der nicht gesicherten Textrekonstruktion offenbleiben, ob damit ein von Hiob ausgeübter Frevel gemeint ist (34,37)52 oder das religiöse Fehlverhalten der Unterdrückten (35,9–12). Wie die Schlussworte der ersten und der zweiten Rede bereitet der Doppelvers weitere Ausführungen Elihus vor. Käme es nicht dazu, so bestünde die Gefahr, dass sich Hiob fortgesetzt „nichtig“ (hæbæl, vgl. 21,34; 27,12) und unverständig (b elî-daʿat, vgl. 34,35; 36,12; 38,2) äußern53 und so die Chance vergeben würde, sein Schicksal in der Begegnung mit Gott doch noch zu verstehen. Dann wären nicht nur die Worte Hiobs und sein Ringen um eine gerechte Behandlung durch Gott hæbæl (9,29), sondern Hiob selbst wäre – wie es der Dichter mittels der unmittelbaren Nebeneinanderstellung der Worte ʾijjob hæbæl in V. 16a andeutet – hæbæl, die personifizierte Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit (7,16–17, vgl. Ps 39,6; 144,4). Hiob wäre dann ein Bruder Abels (hæbæl, vgl. Gen 4). Davor will ihn Elihu, der sich selbst als wissend (33,4; 36,4) versteht, bewahren, auch wenn er mit seiner Rede „dem eigentlichen Anliegen Hiobs nicht gerecht“ zu werden scheint54. Deshalb setzt er zu einer abschließenden vierten Rede an.
Zumeist wird ʾappô als Subjekt verstanden und auf den Zorn Gottes bezogen, der noch nicht heimgesucht habe (vgl. Hi 4,9; 20,23.28; 21,17.30); doch sprechen die Wortfolge pāqad ʾappô, die Zusammengehörigkeit von V. 14 und 15 sowie der Gedankengang der Rede für einen Bezug auf Hiob. V. 15 ist weder eine Fortsetzung der Zitierung Hiobs aus V. 14 (vgl. Hartley; Althann, Syntax, 71–74) noch zitierende Paraphrase eines Zwischenrufers (so J. Gray), sondern die Position Elihus, wie das einleitende w eʿattāh zeigt. 52 Vgl. Hi 7,21; 13,23; 14,17; 31,33; 33,9. 53 Zum Bild des spöttisch und feindlich aufgerissenen Mundes (V. 16a) vgl. Klgl 2,16; 3,46. 54 Wahl, Schöpfer, 99f. 51
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Hi 36–37 Die vierte Rede Elihus 36,1 Und Elihu fuhr fort und sagte: 2 Warte1 mir noch ein wenig, dass ich dir kundtue,2 denn noch gibt es Worte für Eloah. 3 Ich will mein Wissen aus der Ferne3 holen und meinem Schöpfer Gerechtigkeit zuschreiben. 4 Ja, wahrlich, keine Lüge sind meine Worte, einer mit vollkommenem Wissen ist bei dir. 5 6 7
Siehe: El ist stark und verachtet nicht4. Stark ist er an Kraft des Verstandes 5. Den Frevler wird er nicht am Leben erhalten, aber das Recht der Demütigen6 wird er einsetzen. Er wird dem Gerechten seine Augen7 nicht entziehen und wird sie als Könige auf8 den Thron setzen9, und so setzt er sie ein für immer und sie sind erhöht.10
8
Aber wenn11 sie einmal in Fesseln gebunden sind, gefangen in den Stricken des Elends12
1 Bei ktr handelt es sich um einen lexikalischen Aramaismus (vgl. Wagner, Aramaismen, Nr. 144), zur aram. Prägung des gesamten Halbverses vgl. Wahl, Schöpfer, 102. 2 Vgl. die Anm. zu Hi 13,13. 3 Oder gemäß Hi 39,29 „in die Ferne“. Die Parallele zu Hi 36,25 und der Duktus der vierten Elihurede sprechen für die obige Übersetzung. Lauber, Weisheit, 89, vermutet ein zeitliches Verständnis („aus früher Zeit“, vgl. 2Kön 19,25 par. Jes 37,26). 4 Nach der LXX und Tg ergänzen einige Ausleger als explizites Objekt tām oder tāmîm „den Frommen“ (vgl. Hi 8,20 und dazu Wahl, Schöpfer, 104), da mʾs ein Objekt verlange und sich ohne Objekt ein Widerspruch zu V. 6 ergebe; doch siehe Hi 34,33; 42,6. 5 Wörtl.: „Herz“, vgl. Hi 34,10.34. V. 5b ist auffallend kurz, so dass es unterschiedliche Vorschläge gibt, durch Umstellung einzelner Wörter aus V. 5 oder durch freie Ergänzungen ein kolometrisch ausgeglichenes Bikolon zu erhalten, von denen aber keiner überzeugt; zur Diskussion siehe Clines und Lauber, Weisheit, 90. 6 Zum Wechsel vom Sg. (eines Kollektivums) in V. 6a zum Pl. in V. 6b vgl. V. 7 und V. 15 sowie J/M § 135. 7 D.h.: seine Gnade. 8 4QHia liest bksh anstelle von lksʾ. 9 Der Vers scheint kaum unversehrt erhalten zu sein. In der vorliegenden Form bildet er ein Trikolon, wobei in V. 7aβ ein Prädikat fehlt. Den geringsten Eingriff in den MT bildet die Einfügung eines jôšîbem, das durch Haplographie von wajjošîbem ausgefallen sein könnte (Budde; Clines); vgl. 11QTgHi; Syr; Tg, die die Verbform jšjbm mit V. 7aβ verbinden. Denkbar wäre auch die Korrektur von w eʾæt „und mit“ (vgl. Tg; Th) in w ejāšîtem (vgl. Dhorme, der w ešāt vorschlägt, dies jedoch auf die Einsetzung der Könige bezieht); allerdings zielt dieser Versteil eher auf die Demütigen (V. 6b) und den Gerechten (V. 7aα). 11QTgHi scheint ʾt als nota accusativi verstanden zu haben, das unmittelbar folgende Verb ist nur fragmentarisch erhalten: lmlkjn jtbj (oder jtbw) „Könige, sitzend/sie sitzen“. 10 11QTgHi bietet, sofern die von DJD XXIII, 139–141 vorgeschlagene Rekonstruktion zutrifft, die Lesart [wkl r]ḥjmwhj lrḥzn jrmwn „[und alle seine Freu]nde werden in Sicherheit erhöht sein“. 11 11QTgHi: „und wenn mit (Gebundenen …)“ (wʾp ʿm). 12 11QTgHi: „der Elenden“ (msknjʾ).
ER
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
9 und er ihnen dann ihre Tat13 verkündet und ihre Vergehen, dass sie übermütig waren, 10 und er dann ihre Ohren zur Erziehung öffnet und dann sagt, dass sie umkehren sollen vom Übel14, 11 wenn sie hören und dienen, dann vollenden15 sie ihre Tage im Glück und ihre Jahre in Freuden16. 12 13 14 15
Aber wenn sie nicht hören, gehen sie dahin [in den Fluss]17 und verscheiden in18 Unwissen. Und die, die ein gottloses Herz haben, hegen Zorn, sie rufen nicht um Hilfe, wenn er sie bindet. Sterben muss19 in der Jugend ihre Lebenskraft und ihr Leben20 unter Qedeschen21. Er wird den Elenden mittels seines Elends retten und mittels Bedrängnis ihr22 Ohr öffnen23.
16
Und auch dich lockt24 er gewiss aus dem Rachen der Not, < ..................................................................................... >25 Weite, keine Enge, ist an ihrer26 Stelle und Ruhe27 deines Tisches, er ist voll von Fett.
11QTgHi: „ihre Taten“ (ʿbdjhwn; vgl. Tg; Syr; LXX). 11QTgHi: „von ihren bösen Taten“ (mn bʾ jšthwn, vgl. Tg). 15 Anstelle von j ekallû bieten viele Hss j eballû „sie genießen“ (vgl. Hi 21,13); die Lesart des CodL j ekallû wird von 4QHia und den antiken Versionen gestützt (vgl. auch den CodA). 16 11QTgHi: „in Ehre und Freude“ (bjqr wʿdnjn). V. 11b dürfte eine Glosse sein. 17 11QTgHi: „Schwert“ (vgl. Vg; Tg [mit einer Doppelübersetzung: „mit Waffen des Krieges plötzlich“]). Das Wort b ešælaḥ (vgl. Hi 24,19; 33,18) überfüllt den Vers kolometrisch und könnte aus Hi 33,18 eingedrungen sein; zur Bedeutung siehe die Anm. zu Hi 33,18. 18 Anstelle von kiblî „wie ohne“ lies mit vielen Hss biblî wie in Hi 35,16 (vgl. Vg), wobei die Präp. b e hier auch kausal gebraucht sein könnte: „wegen Unwissens“ (vgl. Hartley). 19 Möglicherweise ist anstelle des Jussivs mit einigen Hss tāmût zu lesen, vgl. die Anm. zu Hi 15,33; anders Bobzin, Tempora, 455, der tāmot im Sinn von wattāmåt versteht. Dieses Prädikat wirkt fort auf V. 14b. 20 11QTgHi: „ihre Stadt“ (mdjnthwn, d.h. der Ort, wo sie leben). 21 Zu den stark abweichenden Lesarten von 11QTgHi (mmtjn) und LXX (ἀγγέλων) siehe die Auslegung. 22 Wie in V. 7b (conj.) bezieht sich das Pluralsuffix auf die Gruppe der Elenden und Gerechten. 23 Vgl. die Anm. zu V. 14 sowie Hi 15,33; zu erwägen ist auch die Lesart jiglæh. 24 Die AK steht hier in einem faktisch-deklarativen Sinn (vgl. G/K 106m–n). 25 Hier scheint ein Kolon ausgefallen zu sein (vgl. Hölscher; Fohrer). 26 Der Bezug des fem. Suffixes ist angesichts der Lücke nach V. 16aα unklar. Denkbar wäre ein Bezug auf das als Fem. verstandene Wort raḥab (vgl. Strauß), möglicherweise ist anstelle von taḥt jāh einfach taḥt kā „an deiner Stelle“ zu lesen (vgl. Vg; Weiser); zu einer umfassenderen Änderung siehe Wahl, Schöpfer, 110. 27 naḥat könnte eine Dittographie von taḥt jāh sein (so Hölscher; Fohrer), doch spricht kolometrisch und motivisch nichts dagegen, beim MT zu bleiben. Clines ändert zu niḥat (von nḥt): „und die Fülle (meloʾ anstelle von māleʾ) an Fett drückte deinen Tisch nieder“. 13 14
Hi 36–37 Die vierte Rede Elihus
17
561
Und das Gericht über den Frevler (er)füllst28 du, Gericht und Recht werden zugreifen.
18 Doch gib acht29, dass er30 dich nicht durch Überfluss31 weglockt, und die Menge an Lösegeld verführe dich nicht. 19 Richtet sonst dein Hilferuf zu ihm32 etwas aus in der Not und alle (deine) Kraftanstrengungen? 20 Lechze nicht nach der Nacht, da Völker33 an ihrem Ort auffahren. 21 Hüte dich, wende dich nicht dem Übel zu, dass du dieses dem Elend vorziehst34. 22 23
Siehe: El erweist sich stets als groß in seiner Kraft. Wer ist ein Lehrer35 so wie er? Wer hat ihm jemals seinen Weg vorgeschrieben, und wer hat je gesagt36: „Du hast Unrecht getan“?
28 Anstelle des Qal von mlʾ, das zumeist intransitiv im Sinn von „mit etwas angefüllt sein“ steht (vgl. Hartley; Strauß), ist als Piel zu punktieren (vgl. 1Kön 1,14; 2,27; Ps 20,5–6). Gleichwohl ist die Wiederholung der Wurzel mlʾ nach V. 16 auffällig, so dass Dhorme und Hölscher tādîn lesen „du wirst richten“ und in V. b unter Rückgriff auf kî aus V. 18 jād kā konjizieren („deine Hände ergreifen“). Weiser bleibt beim MT, versteht die Aussage jedoch als Anklage Hiobs („Doch wenn du wie ein Frevler richtest,...“). 29 Anstelle von ḥemāh „Grimm/Zorn“ lies ḥ ameh (vgl. DCH s.v. ḥmh I; aram. ḥmʾ „sehen“); siehe auch die Anm. zu Hi 19,29. Die Lesart ḥemāh wird allerdings von den antiken Übersetzungen unterstützt, so dass Weiser und Strauß eine Änderung ablehnen, dann allerdings das folgende pæn als einfache Negation und eine mask. Konstruktion von ḥemāh annehmen müssen (vgl. Lauber, Weisheit, 94). Hartley streicht kî ḥemāh. 30 Subjekt ist nach der unter Anm. 28 aufgeführten Änderung wie in V. 16a „Gott“, nicht „das Recht“ (so aber z.B. Pilger, Erziehung, 106); zur Formulierung pæn hasît ekā vgl. Jes 36,18. 31 sæpæq entspricht śæpæq (abgeleitet von śpq II), vgl. Hi 20,22; dagegen leitet Weiser sæpæq im Sinn von „Lästerung“ von śpq I ab (vgl. Clines). 32 Anstelle von loʾ ist möglicherweise lô zu lesen (vgl. Ps 5,4; Weiser); doch ist auch nach dieser Konjektur nicht ganz klar, ob bṣr im Sinn von b eṣār (so in der obigen Übersetzung; vgl. V. 16) oder als eine Form von bæṣær „Gold“ (vgl. Hi 22,24–25) zu verstehen ist; Fohrer streicht (lʾ) bṣr als Glosse; Strauß betrachtet lʾ bṣr als Zitat des Hilferufs „nicht durch Not“; zur Diskussion siehe CTAT 50/5, 363f. 4QHia bestätigt den MT (vgl. Luther/Tigchelaar, More Fragments). 33 Nach der jüngsten Rekonstruktion des in DJD XXIII noch nicht identifizierten Fragments Nr. 23 von 4QHia, die Tigchelaar, 4Q99, 129–134, jetzt vorgeschlagen hat, bietet 4QHia hier die Variante ʿjnjm bzw. ʿnjjm („Elende“), vgl. Hi 34,28; 36,6; Ps 9,13; 12,6. 34 Bei dieser Übersetzung ist vorausgesetzt, dass bḥr hier mit ʿal konstruiert ist (vgl. Ges18; DCH; CTAT 50/5, 366f). Dagegen schlägt BHK vor, anstelle von ʿal-zæh ʿawlāh „Unrecht“ zu lesen. BHS erwägt mit Syr eine Vokalisation als Pual buḥartā „deshalb wurdest du geprüft“ (so auch Weiser; vgl. Hi 7,18), was aber wegen des folgenden min problematisch ist. Die Einfügung eines sonst im biblischen Hebr. nicht belegten Wortes ʿ alîzāh „Erhebung“ (nach einer Wurzel ʿlz, vgl. DCH) ist kontextuell bedingt. 35 Die LXX bietet „Herrscher“ (vgl. La), was auf aram. mārāʾ (vgl. Dan 2,47) anstelle des masoret. môræh zurückgehen könnte (vgl. J. Gray, der das für ursprünglich hält). Vg bietet „Gesetzgeber“. 36 4QHia bietet jʾmr „wird/mag sagen“, was Ergebnis einer Dittographie von mj sein kann, aber mit Sym; Tg und Vg korreliert.
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
24 25
Bedenke, dass du sein Werk preist37, das Männer schon besungen38 haben. Alle Menschen haben es gesehen, ein Mensch39 kann es von fern erblicken.
26 27 28
Siehe: El ist groß40, ohne dass wir es wissen können, die Zahl seiner Jahre ist unerforschlich41. Ja, er zieht42 die Wassertropfen43 herauf, sie träufeln44 als Regen zu seinem Nebel45, den dann die46 Wolken niederrieseln, auf viele Menschen tröpfeln.
37 4QHia bot ursprünglich wie der MT tśgjʾ und wurde dann in śgjʾ „(dass) sein (Werk) groß ist“ korrigiert (vgl. V. 26 sowie 11QTgHi; LXX und Syr [jeweils im Pl.]). 38 11QTgHi: „gesehen“ (ḥzw). 39 11QTgHi: „und die Menschenkinder“ (wbnj ʾnšʾ); dementsprechend steht das Prädikat dann im Pl. (jbqwn); auch die LXX, die sich ansonsten hier stark vom MT unterscheidet, bietet einen Pl. (βρότοι). 40 11QTgHi liest hier zusätzlich wjwmwhj śgjʾ „und seine Tage sind viel“. 41 Die Kopula vor loʾ ist wohl eine Dittographie (vgl. J. Gray – hingegen versteht Lauber, Weisheit, 100 den Anschluss von w eloʾ-ḥeqær in Parallele zu w eloʾ nedāʿ in V. 26a „als rhetorisches Mittel zur Emphase“). 42 So unter der Annahme einer Wurzel grʿ II; damit erübrigt sich die beliebte Korrektur von niṭpêm-mājim in neṭāpîm mijjām „er zieht (grʿ) Tropfen aus dem Meer“ (vgl. BHK). Ohne Änderung des MT vertreten Strauß und Lauber, Weisheit, 10, die Ableitung von grʿ (I) im Sinn von „trennen“, ähnlich Houtman, Himmel, 256 im Sinn von „den Vorrat kleiner machen“. 43 11QTgHi: „Wolken“ (ʿnnj). 44 jāzoqqû wird häufig in den Sg. mit Gott als Subjekt geändert (vgl. Vg; BHK; BHS), was angesichts von V. 28 unnötig ist. 4QHia bietet wohl auch einen Pl., aber mit Kopula (vgl. Syr; Th; Vg) und als PK: wzqw. 11QTgHi liest wzjqj „und Stürme von (Regen)“. 45 Das nur hier und in Gen 2,6 vorkommende Wort ʾed könnte auch gemäß dem akkad. Wort edû „Wasserflut/-strom“ den Himmelsozean bezeichnen (vgl. Fohrer [„in allgemeinerer Bedeutung ‚Wasserstrom‘“ – ähnlich Houtman, Himmel, 256: der niederströmende Regen]). Die obige Übersetzung folgt dem mittelhebr. Wortgebrauch (vgl. Th: νεφήλη „Wolke“; Grabbe, Philology, 112–114; Clines [mit Streichung des Suffixes und Ersetzung der Präp.: meʾed]). 11QTgHi bietet ein Verb jhkn, was entweder von hwk „gehen“ (vgl. ʿdʾ) abgeleitet werden kann (Sokoloff, Targum, 83; 140f; ATTM I, 294) oder von kwn „formen“ (DJD XXIII, 144f). 46 11QTgHi: „seine“. Dabei leitet 11QTgHi den Vers ohne Relativpronomen (vgl. Th), aber mit w „und“ ein.
Hi 36–37 Die vierte Rede Elihus
29
Versteht man etwa47 die Ausbreitungen48 des Gewölks, das Lärmen seiner Hütte49?
30 31 32
Siehe: Er hat um sich ausgebreitet sein Licht50, und die Wurzeln des Meeres51 hat er bedeckt. Ja, dadurch richtet52 er Völker, gibt er Speise in Fülle. Beide Handflächen53 hat er mit Licht bedeckt und er befahl ihm54 als der, der es treffen lässt55.
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47 Die Ursprünglichkeit der Verseinleitung mit ʾap ʾim ist nicht ganz gesichert. Das einleitende ʾap, das jetzt als Verstärkung der mit ʾim eingeführten rhetorischen Frage dient (vgl. Hi 6,12; 39,27 bzw. 34,17; 40,8), könnte sekundär sein, eventuell ist aber nach Syr wie in Hi 26,14 einfach nur mî „wer“ zu lesen (vgl. BHK). Jedenfalls weist V. 29a eine kolometrische Überlänge gegenüber V. 30b auf. Dies scheint auch der Übersetzer von 11QTgHi empfunden zu haben, wenn er nach dem einleitenden hn, was er zumeist zur Wiedergabe von ʾim (vgl. Hi 27,4; 36,11 u.ö.), aber auch von ʾap kî verwenden kann (vgl. Hi 35,14), einen Leerraum gelassen hat und dann erst mit einem Äquivalent zu mprśj fortfährt (siehe die nächste Anm.). 48 Gelegentlich wird vorgeschlagen, anstelle von mipr eśê gemäß Hi 37,16 mit HsK245 in mipleśê „das Schweben“ zu ändern (vgl. Hölscher; Fohrer). 11QTgHi bietet mn prs „wer hat ausgebreitet?“. 49 11QTgHi unterscheidet sich hier stark vom MT, wobei die Deutung der erhaltenen Wörter …] th mn ṭll umstritten ist. Sokoloff, Targum, 83; 141, versteht dies als einen zu V. 29 (siehe Anm. 47) parallelen Fragesatz („Wer hat bedeckt?“), während DJD XXIII, 143–145, ...]th zu ʾtrgwšth „of his thunder“ rekonstruiert und mn ṭll als Ortsangabe versteht („from his pavilion“; ähnlich ATTM I, 294: „aus dem Schatten“). 50 Nach Th (ἠδώ) und TgHss (miṭrāʾ) schlägt BHK vor, in ʾedô „seinen Nebel/seine Flut“ zu ändern (vgl. V. 27). 11QTgHi; Syr; Vg und TgHss entsprechen dem MT. 51 Die häufig vorgenommene Änderung von šåršê hajjām in rāʾšê hārîm „die Gipfel der Berge“ (so BHK, vgl. Gen 8,5) basiert auf der Vorstellung des über den Bergen thronenden und richtenden Wettergottes. Die Polarität des MT ist jedoch sinnvoll. Die Annahme, ksh (Piel) sei hier zum Ausdruck des Gegenteils seiner eigentlichen Bedeutung im Sinn von „aufdecken“ gebraucht (so Hartley; Clines), ist Spekulation. 52 Der Gedanke des Gerichts scheint selbst im Kontext des Parallelismus unvermittelt, so dass BHK anstelle von jādûn in jāzûn „er speist“ (nach einer syr. und mittelhebr. belegten Wurzel zwn, vgl. māzôn „Nahrung“ [Gen 45,23]; DCH; KAHAL) ändert, doch kann der MT, der von allen antiken Versionen einschließlich 11QTgHi gestützt wird, beibehalten werden (vgl. Ps 104,27–29; 136,25). 53 Gemeint sind die Hände Gottes. 4QHia bietet wohl eine Variante, ohne dass angesichts des fragmentarischen Zustandes der Hs zu sagen ist, welches Wort hier genau stand: …ʾm … . Dies könnte gemäß der Lesart von 11QTgHi ʿl mʾmrh „nach seinem Befehl“ auf ʾmrw führen, was möglicherweise sogar ursprünglich ist (vgl. Hi 20,29; 22,22; 23,12) – denkbar wäre dann auch eine ursprüngliche Lesart ʿl pjw/pjmw (vgl. Num 27,21; Dtn 34,5; zu -mô als Singularsuffix vgl. Hi 20,23; 22,2; 27,23; G/K § 103f; J/M § 103m). 54 ʾôr ist hier als Fem. gedacht (vgl. Jer 13,16; G/K § 122o; CTAT 50/5, 376); einige Hss lesen das zu erwartende mask. Suffix ʿālâw. 55 Das Wort b emapgî aʿ ist umstritten. Bleibt man bei der masoret. Vokalisation (als Partizip Hif. von pgʿ), bezeichnet es entweder Gott als den „Vollstrecker“, wobei be als Beth essentiae verstanden ist (so mit CTAT 50/5, 376, 379; Strauß), oder den „Angreifer“, gegen (präpositionales be) den Gott das Licht entbietet (so Weiser). Zu erwägen ist auch, gemäß Hi 7,20 mipgāʿ „Zielscheibe/Ziel“ zu vokalisieren (vgl. BHK; BHS). Bobzin, Tempora, 463, folgt Dhorme und vermutet einen aram. gebildeten Inf. („aufs Ziel loszugehen“).
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
33
Es kündet ihn an sein Donnerhall56, eifernder58 Zorn ist sein Wirbelsturm59.
57
37,1 2
Eben deswegen bebt mein Herz60 und springt auf von seinem Ort.61 Hört doch, hört doch62 das Toben seiner Stimme, und das Grollen63, das aus seinem Munde fährt.
3 4
Unter dem ganzen Himmel lässt er es64 los und sein Licht über den Enden der Erde. Hinter ihm brüllt seine65 Stimme, er lässt donnern mit seiner erhabenen Stimme. Und er hält die Blitze66 nicht zurück, wenn er seine Stimme hören lässt.
56 So nach re aʿ I (vgl. Ex 32,17), wenn man nicht gemäß Hi 26,14; Ps 77,19 und Sir 43,17 [HM] raʿam/raʿmô lesen will (vgl. BHK). Syr; Tg (in allen drei Varianten, die sich in der Überlieferung des Tg zu V. 33 finden, und mit umfangreichen Erweiterungen, u.a. in Tg1 mit der Einspielung der Torah); Th und Vg übersetzen nach re aʿ II „Freund“. 4QHia (rʿjw) könnte eine orthographische oder sachliche Variante darstellen. 57 In diesem Kolon ist jedes Wort unsicher, so dass manche Kommentare auf eine Übersetzung verzichten. Ohne Änderung des MT erhält man kaum einen befriedigenden Sinn. Eine Auswahl aus der Vielzahl von Konjekturen bieten Clines und Lauber, Weisheit, 103f. 58 Anstelle von miqnæh „Vieh/Besitz“ ist meqanneʾ zu lesen (ähnlich BHS nach Ez 8,3: maqnæh/ maqnîʾ, und Clines [unter Annahme eines miqnæh II]: miqneh). 59 Anstelle von ʿal-ʿôlæh „gegen den, der aufsteigt“ lies nach Sir 43,17 [HM] ʿalʿôlāh/ʿalʿôloh; diese Konjektur passt aufgrund des meteorologischen Kontextes besser als der Vorschlag, gemäß Th (περὶ ἀδικίας) ʿal-ʿawlāh „gegen Unrecht“ zu lesen (so BHS; Weiser). 60 4QHia bietet hier zusätzlich die Negation loʾ (vgl. V. 28e–f in LXX), hat in V. b keine Kopula und könnte den Vers anders gegliedert haben; als Äquivalent zu libbî ist nur l- erhalten; eine Entscheidung ist aufgrund des fragmentarischen Zustandes der Hs nicht möglich; zur Diskussion siehe Seow, Critical Notes, 196–199. 61 Da V. 1b kolometrisch sehr kurz ist, ist zu erwägen, libbî aus V. 1a in das zweite Kolon zu verlegen und in V. 1a qirbî „mein Inneres“ zu ergänzen (Weiser bleibt beim MT). 62 4QHia; Th und SyrHss bieten hier den Sg., was gelegentlich für ursprünglich gehalten wird (vgl. Hölscher), doch vgl. Hi 13,17; 21,2. 63 In 4QHia ist supralinear wohl die Präp. b nachgetragen, so dass die Konstruktion des Objekts V. a entspricht. 64 D.h.: das Grollen. Anders Pilger, Erziehung, 111, die in jšrhw kein Verb (šrh I) sieht, sondern ein Substantiv, sei es jāšār, sei es jošær, und mit „seine Rechtschaffenheit“ übersetzt (vgl. bereits Tg, sowie Gordis); doch vgl. ug. šrh in KTU 1.4 V,9, für das aber (gegen Hartley; Strauß; Clines) keine Sonderbedeutung im Sinn von „blitzen“ angenommen werden muss (vgl. Seow, Hapax Legomena, 171f). 65 Mit zwei Hss ist das Suffix zu ergänzen und qôlô zu lesen (ohne Änderung Weiser: „der Donner“). 66 Ergänze b erāqîm und lies j eʾaqqeb anstelle von j eʾaqqebem „er hält sie (das Licht und den Donner?) zurück“.
Hi 36–37 Die vierte Rede Elihus
5
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El67 lässt donnern mit seiner Stimme wunderbar68. Er erschafft Großartiges, ohne dass wir (es) wissen.
6 Ja, zum Schnee sagt er: „Falle zur Erde“, und zum Starkregen und zum Regenguss …69: „Seid kräftig“.70 7 In die Hand71 eines jeden Menschen siegelt er, um alle Männer seines Werks zu erkennen.72 8 Und das Getier kommt dann in einen Schlupfwinkel und lässt sich auf seinem Lager nieder. 9 Aus der Kammer kommt der Sturmwind und aus den Nordwinden die Kälte. 10 Aufgrund des Atems Els gibt es Frost und ist die Weite des Wassers wie dahingegossen73. 11
Ja, mit Feuchtigkeit belastet er das Gewölk,74 verstreut die Wolke75 seines Lichtes76.
67 4QHia liest ʿl. Da alle antiken Versionen wie der MT eine Gottesbezeichnung bieten, ist zu überlegen, ob ʿl hier gemäß ʾl eine Bezeichnung für Jhwh als den Höchsten darstellt (vgl. DCH s.v. ʿl III mit der Diskussion analoger Fälle in 2Sam 23,1; Ps 7,11; 18,42; 68,30.35; 141,3; Hos 11,7). 68 niplāʾôt ist hier adverbial gebraucht (G/K § 118p) und braucht nicht geändert oder in V. b verschoben zu werden (so aber Clines); zu diversen älteren Konjekturen siehe neben Clines auch Wahl, Schöpfer, 117, der selbst vorschlägt, gemäß Jes 29,6 beqôl gādôl zu lesen und niplāʾôt vor g edolôt in V. 5b einzusetzen („große Wundertaten“, vgl. Ps 136,4). 69 Bei w egæšæm miṭrôt handelt es sich, wie schon die Metrik zeigt, um eine Dittographie; anstelle von w egæšæm māṭār ist wohl w elaggæšæm ûmāṭār zu lesen. 70 Anstelle von ʿuzzô „seine(r) Stärke“ lies ʿozzû. 71 Anstelle von b ejad wird häufig in baʿad „hinter“ geändert und ḥātam im Sinn von „verschließen“ (vgl. Hi 9,7; 24,16) verstanden (vgl. Fohrer; Clines); siehe jedoch die Auslegung. 72 Anstelle von ʾanšê maʿ aśehû wird häufig nach der LXX (πᾶς ἄνθρωπος) und Vg (singuli) in ʾ anāšîm (oder: ʾ ænôš) maʿ aśehû „die Männer (oder: der Mensch) sein Werk“ geändert (vgl. Fohrer; Clines) und dementsprechend der Mensch als Subjekt der Erkenntnis verstanden. 73 Wörtl.: „als ein Gusswerk“ (nach mûṣāq I und mit der Annahme eines Beth essentiae [vgl. G/K § 119i]). Denkbar wäre auch eine Übersetzung nach mûṣāq II „Enge“ (vgl. Fohrer). 11QTgHi bietet wohl als Äquivalent zum gesamten zweiten Kolon nur ʿl ʾnpj mjn „auf der Oberfläche des Wassers“ (vgl. Gen 1,2; 7,18). 74 Das Kolon, das mit den Wörtern rî und ṭrḥ zwei hap. leg. bietet, wird von allen antiken Versionen unterschiedlich wiedergegeben, auch von 11QTgHi (bhwn jmrq ʿnn[jn] „mit ihnen wird er die Wolken reinigen“), fügt sich aber mit der obigen Übersetzung in den Kontext (vgl. Grabbe, Philology, 114–116; sowie zum besonderen Text von 11QTgHi Gold, Understanding, 119–121; 145f). 75 Th; Vg und Tg lesen mit jeweils unterschiedlichen Konstruktionen als st. abs. ʿānān. Strauß betrachtet ʿ anan als aram. Vokalisierung des st. abs. und die Wolke(n) als Subjekt. 11QTgHi: „aus einer Wolke“ (mn ʿnn). 76 11QTgHi: „sein[es] Feuer[s]“ (nwrh), vgl. die Anm. zu Hi 24,13; 41,10. Clines liest anstelle von ʾôrô ʾedô (vgl. Hi 36,27) und postuliert für pwṣ (II) die Bedeutung „überfließen“: „and makes them overflow with torrents“.
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
12 13
Und er77 selbst lässt es sich ringsum drehen78, es wendet sich durch seine Lenkung, zu seinem Werk79 geht alles, dem er befiehlt, über dem weiten Rund der Erde80, sei es zur Strafe81, sei es zum Wohlgefallen82 sei es zur Barmherzigkeit: treffen lässt er selbst83!
14 15 16
Bekomme doch dies zu Ohren, Hiob, stehe und84 achte genau auf die Wunder85 Els! Kannst du wissen,86 wenn Eloah über sie befiehlt und er das Licht seiner Wolke aufleuchten lässt? Kannst du etwas wissen über87 das Schweben88 des Gewölks?
77 Zumeist wird die „Wolke“ bzw. das „Licht“ aus V. 11 als Subjekt angenommen. Doch dürfte mit 11QTgHi und Tg (und wohl auch Syr) hûʾ auf Gott hinweisen, wobei 11QTgHi sich in V. 12 insgesamt stark vom MT unterscheidet: „Und er spricht, sie werden ihm gehorchen und sie gehen an ihr Werk. Über alles, was er geschaffen hat, nimmt er sie in die Pflicht auf der Oberfläche des Erdkreises“; siehe dazu ausführlich Gold, Understanding, 54–56; 146–148. 78 Vor mesibbôt (hier als Adverb gebraucht) ist wohl ein meseb oder ein ähnliches Wort ausgefallen; jedenfalls ist w ehûʾ mesibbôt als eigene poetische Einheit gegenüber mithappek b etaḥbûlātô (so nach dem Ketib) zu kurz. Andere ergänzen jithallek (vgl. Weiser). Hartley streicht dieses Wort als Glosse zu mithappek. 79 Gegen den MT ist lepåʿ ålām bereits zu V. b zu ziehen und der Atnach unter b etaḥbûlātô (so nach dem Ketib) zu setzen (vgl. BHK). Hartley tilgt das Wort ʾārṣāh als sekundäre Erklärung zu b etaḥbûlotāw. 80 Zur Form ʿār eṣāh siehe die Anm. zu Hi 34,13. Hartley streicht das Wort, das auch in 11QTgHi und in der LXX kein Äquivalent hat, als Glosse zu tebel. 81 Wörtl.: „Stock“. Th übersetzt abstrakter: „zur Erziehung/Zucht“, 11QTgHi konkreter: „zur Plage“ (mktš). 82 Anstelle von ʾarṣô „seine Erde“ (in 11QTgHi, wie in Syr, ohne Suffix), was wohl eine durch V. 12 bedingte Verschreibung ist, lies rāṣôn (ähnlich Hölscher j emalleʾ r eṣonô „seinen Willen zu tun“, bzw. Weiser ʾim loʾ rāṣû „wenn sie nicht zufrieden sind [mit Gott]“, vgl. Hi 34,9); siehe dazu auch Grabbe, Philology, 117f, und J. Gray, 84, die ʾrṣ/ʾarṣû als eine Nebenform von rṣh betrachten. 83 Anstelle von jamṣiʾehû „er lässt es treffen“ (vgl. Weiser) ist möglicherweise jamṣîʾ hûʾ zu lesen (zur Wortfolge vgl. Ex 4,14; 1Sam 23,22), so dass die Strophe wie die vorangehenden Schlussverse einer Strophe betont mit einer Gottesbezeichung endet. 11QTgHi unterscheidet sich stark vom MT, wobei sowohl die Lesung als auch die Übersetzung umstritten sind: hn lkpn wḥsrnh whn ptgm ḥwb (ṭb ?) lhwʾ ʿljh „sei es zu Hunger und Mangel oder sei es, dass ein Fall von Gesetzesbruch (Gutes?) auf ihm ist“ – zur Diskussion siehe DJD XXIII, 148; Sokoloff, Targum, 144; Shepherd, Targum, 37; 249f; Gold, Understanding, 75; 82–85. 84 4QHia liest (ohne substantiellen Bedeutungsunterschied) ohne Kopula; vgl. 11QTgHi; LXX. 85 11QTgHi: „Macht/Machttaten“ (gbwrt); vgl. LXX (δύναμιν) sowie Hi 12,13; 26,14. 86 LXX: „wir wissen“. 87 Die Konstruktion von jdʿ mit der Präp. ʿl ist einmalig in der hebr. Bibel, insofern ist die oben vorgeschlagene Übersetzung nicht ganz sicher. BHK nimmt eine Dittographie von ʿ aus htdʿ an, dementsprechend wäre jdʿ mit l- als Objektanzeiger konstruiert (vgl. Ps 69,6). Clines erwägt die Konjektur ʿælæm II („Geheimnis“), dieses Wort ist allerdings nur erschlossen (vgl. DCH). 88 Anstelle des hap. leg. miplāś, dessen Lesung nicht ganz gesichert ist (vgl. schon Budde, der wie in Hi 36,29 mipr eśê liest – zur Diskussion siehe Clines), bietet 11QTgHi lhlbšʾ „zu kleiden“, was scheinbar besser zu dem in V. 17a vorliegenden Bild passt. Gold, Understanding, 30–32; 101; 154, segmentiert die Lesung von 11QTgHi als lh lbšʾ und interpretiert das Possessivsuffix in ʿnnh als bewusste Hervorhebung des aram. Übersetzers, dass Gott sich mit seiner Wolke kleide.
Hi 36–37 Die vierte Rede Elihus
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Wunder89 eines mit vollkommenem Wissen90. 17 91Du, dessen Kleider heiß sind, wenn die Erde ruhig daliegt vom Süden her. 18 Kannst du mit ihm die Himmelsfeste92 ausbreiten93, die hart ist wie ein gegossener Spiegel? 19 Lass uns94 wissen, was wir ihm sagen sollen. Wir können nichts ausrichten95 angesichts der Finsternis. 20 Sollte ihm erzählt werden,96 dass ich reden wollte, oder sagt ein Mann, dass er verschlungen werden will97? 21 Doch jetzt, man sieht nicht das Licht, verborgen98 ist er99 in den Wolken100. 101 Aber ein Wind zieht vorüber und reinigt sie, 22 von Norden102 her kommt Goldglanz103.
89 Die Lesart miplāʾôt (nach pælæʾ mit komparativem min) ist nicht ganz sicher, möglicherweise ist einfach wie in V. 5 und V. 14 niplāʾôt zu lesen; unwahrscheinlich ist die Annahme eines hap. leg. miplāʾôt „Wunder“; 11QTgHi bietet gbwrt „Machttaten“. 90 D.h.: einer Person, die vollkommenes Wissen hat, gemeint ist Gott. 11QTgHi: „Denn er selbst kennt Wissen“ (ʾrw hwʾ jdʿ mdʿ[ʾ); siehe dazu Gold, Understanding, 154–158. 91 11QTgHi bietet V. 17a zwischen V. 16bα/bβ und weist kein Äquivalent zu V. 17b auf. In 4QHia sind nach der Analyse von Luther/Dershowitz, Fragments, 123, dem MT entsprechende kleine Reste von V. 17a.b erhalten. 92 Oder: „das Gewölk“ (vgl. Hi 35,5; 11QTgHi). 93 Wörtl.: „breit hämmern“; 11QTgHi: „aufblasen“ (npḥ). 94 Einige Hss; LXX und Syr lesen den Sg. („mich“). Die durchgehende Konstruktion des Verses in der 1. P. Pl. und die Rahmung mit Hi 37,2 sprechen für den Pl. 11QTgHi bietet anstelle des Imperativs jndʿ „er weiß“ (vgl. Anm. 90). 95 Elliptisch für „Worte vorlegen“, vgl. Hi 32,14; 33,5. 96 LXX: „Stehen mir ein Buch (βίβλος) oder ein Schreiber/Schriftgelehrter (γραμματεύς) zur Seite?“ – Offenbar übersetzt die LXX das nominal verstandene Wort spr zweimal (vgl. Dhont, Double Translation, 488f). 97 Aufgrund des Parallelismus wird oft nach einer zweiten Wurzel blʿ im Sinn von „mitteilen“ übersetzt (vgl. Spr 19,28; 2Sam 17,16; CTAT 50/5, 385;). Doch sprechen die Querbezüge zu Hi 2,3 und 10,8 für blʿ I. 98 Die Bedeutung von bāhîr ist umstritten. Die obige Wiedergabe orientiert sich an syr. bahur/ bahiroʾ „verdunkelt“ (vgl. BHK). Zu erwägen ist auch die Übersetzung mit „hell glänzend/das Glänzen“ (vgl. Fohrer; Hartley; Strauß). 99 Auch hier deutet das betonte hûʾ darauf hin, dass Gott und nicht das Licht (so Weiser u.v.a.) gemeint ist (vgl. Hi 37,12). 100 Oder: „Wolkenhimmel“ (siehe die Anm. zu Hi 35,5 sowie Houtman, Himmel, 22f; 159). 101 Gegen die masoret. Versgliederung bilden wohl V. 21b + 22a, V. 22b + 23aα und V. 23aβ + V. 23b je ein Bikolon. 102 Oder: „Himmel“ (vgl. Houtman, Himmel, 159; 213) 103 Anstelle von zāhāb „Gold“/„goldener Schein“ (vgl. Weiser; Hartley) ist möglicherweise zohar „Glanz“ zu lesen (vgl. Ez 8,2; Dan 12,3).
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
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Über Eloah liegt furchtbare Herrlichkeit, Schaddaj, ihn finden wir nicht. Gewaltig ist er an Kraft und Recht104, und die Fülle105 der Gerechtigkeit beugt106 er nicht. Deshalb fürchten107 ihn die Männer, nicht jeder, der weisen Herzens ist, vermag (das) zu sehen.108
Literatur Diewert, D.A.: Job XXXVI I5 and the Root mʾs II, VT 39 (1989) 71–77. – Newsom, C.A.: Elihu’s Sapiential Hymn (Job 36.24–37.13). Genre, Rhetoric and Moral Imagination, in: T.J. Sandoval/ C. Mandolfo (Hg.), Relating to the Text. Interdisciplinary and Form-Critical Insights on the Bible, JSOT.S 384, London 2003, 160–174.– Zuckerman, B.: Two Examples of Editorial Modification in 11QtgJob [Job 36,14; 34,31], in: G.A. Tuttle (Hg.), Biblical and Near Eastern Studies (FS W.S. LaSor), Grand Rapids 1978, 269–275.
Aufbau und Sprachformen
Die vierte und letzte Rede Elihus entspricht mit 56 Versen ungefähr der Länge der ersten Elihurede. Mittels ihrer an Hi 27,1 angelehnten besonderen Überschrift ist sie als Abschlussrede Elihus markiert. In zwei Hauptteilen bietet sie eine Zusammenfassung der in den vorangehenden Elihureden vorgebrachten Argumente und leitet zu den Gottesreden über. Als Rahmen dienen eine aus drei Bikola bestehende rhetorische Eröffnung mit einer direkten, wenn auch nicht namentlichen Anrede Hiobs, einer Betonung der Weisheit Elihus und der Benennung des zentralen Themas der Rede (A: 36,2–4) sowie ein ebenfalls drei Bikola umfassendes Bekenntnis zur absoluten Erhabenheit des unergründlichen, aber gerechten Gottes, der sich letztlich auch dem Blick der Weisen entzieht (D: 37,22b–24). Der erste, aus fünf Strophen zu je drei bzw. vier Bikola bestehende Hauptteil (B: 36,5–7|8–11|12–15|16–17|18–21) entfaltet das in der Einleitung genannte Thema der göttlichen Gerechtigkeit (ṣædæq, vgl. 36,3b). Nochmals bringt Elihu die aus seiner ersten Rede bekannte Deutung des Leidens des Gerechten als Mittel und Raum der göttlichen Erziehung ins Spiel (36,8–15, vgl. 33,15–22) und wendet diese Deutung dann sowohl trös104 ûmišpāṭ gehört entgegen der masoret. Segmentierung zu V. 23aβ (vgl. Fohrer, der den Rest von V. 23b aber als Glosse streicht; Hartley und die folgende Anm.). 105 Aufgrund des Parallelismus wird rob gelegentlich in rab „reich/groß an/ein Meister an ...“ geändert (vgl. Syr; BHK, zudem mit dem Vorschlag, rab-ṣ edāqāh vor ûmišpāṭ zu stellen); zur Beibehaltung des MT siehe die in der Auslegung genannten Parallelen. 106 So mit der Mehrzahl der Auslegungen nach ʿnh II. Habel folgt der LXX und Syr und liest jaʿ anæh „er antwortet nicht“ (vgl. Hi 35,12); ähnlich Lauber, Weisheit, 114f („ohne dass er antwortet“). 107 Die AK steht hier in faktischem Sinn, eine Änderung nach der LXX in jirāʾûhû (vgl. Clines) ist nicht geboten. 108 Oder: „keinen, der weisen Herzens ist, sieht er (d.h. Gott) (an)“ (so CTAT 50/5, 388; Fohrer, Strauß). Weiser versteht den Ausdruck wie Vg negativ „die, die sich für weise halten“ (so auch J. Gray). Hartley schlägt vor, lʾ als Asservativpartikel lûʾ/luʾ „ja!“ und jirʾh als jirʾehû/jirʾuhû „sie sehen ihn“ zu vokalisieren. In der LXX ist das Wortspiel zwischen jrʾ „fürchten“ und rʾh „sehen“ aufgelöst, insofern der griech. Übersetzer in beiden Kola φοβηθήσονται αὐτόν „sie werden ihn fürchten“ bietet, also offenbar zweimal jrʾwhw/jirāʾûhû (und ohne Negation in V. b) gelesen hat (so auch Syr; vgl. Tg1, allerdings mit Negation in V. b), was einige Auslegungen für ursprünglich halten (vgl. Gordis und Clines [jeweils mit dem Verständnis von lʾ als Afformativpartikel, s.o.]), doch wird damit die Komplexität der Argumentation Elihus nivelliert.
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tend als auch mahnend auf Hiob an (36,16–17|18–21). Der zweite, etwas längere Hauptteil (C: 36,22–37,22a) ist dem zweiten in der Einleitung mit dem Stichwort „mein Schöpfer“ (poʿ alî) genannten Gegenstand gewidmet (36,3b, vgl. 35,10). Er bietet eine ausführliche Beschreibung der Schöpfermacht Gottes, die vor allem an der göttlichen Gewalt über das Wetter aufgezeigt wird. Diese geht mittels der Bilder von Blitz und Donner in eine Darstellung der Erscheinung Gottes zum Gericht über. Auch hier besteht das Grundmuster der Strophen aus jeweils vier Bikola (36,22–25|26–29|30–33; 37,3–5|6–10*|11– 13|14–18*|19–22a),109 ein Doppelvers dient als innere Gliederung (37,1–2). Entsprechend der Anwendung der Ausführungen zur Gerechtigkeit Gottes auf Hiob im ersten Hauptteil erfolgt im zweiten eine direkte Verknüpfung mit der Person Hiobs (37,14–22a). Dieser wird abschließend nochmals namentlich von Elihu angesprochen (37,14, vgl. 33,1) und mit einer Kette rhetorischer Fragen (vgl. 35,6–7) zum Verhältnis zwischen göttlicher und menschlicher Schöpfermacht und Weisheit, wie sie dann typisch für die erste Gottesrede sind,110 zur Gottesfurcht und der Anerkennung der Grenze zwischen Gott und Mensch aufgefordert.111 Im Gegensatz zu den ersten drei Reden Elihus wird in der vierten Hiob nicht (ausdrücklich) zitiert. Dennoch findet auch in der vierten Rede eine direkte Auseinandersetzung mit Hiob (und seinen Freuden) statt. Insgesamt erweist sich diese Rede als breite Ausführung der beiden in der Exposition (36,2–4) genannten Themen der Gerechtigkeit des Schöpfergottes und des menschlichen Wissens. Thematisch, motivisch, traditionsgeschichtlich und argumentativ ist sie vielfältig mit allen drei vorangehenden Elihureden verbunden und in sich durch zahlreiche Leitwörter (ʾôr, koaḥ, ʿånî, qôl) und mehrfach gebrauchte Wurzeln (jdʿ, plʾ, pʿl, ṣdq) vernetzt. Der zweite Hauptteil, der sich zahlreicher hymnischer Elemente und Motive aus Theophanieschilderungen bedient,112 lässt sich selbst als ein schöpfungstheologischer Lehrhymnus bezeichnen. Dieser besitzt innerhalb des Hiobbuches seine nächste Parallele in der ersten Gottesrede (Hi 38–39), die redaktionsgeschichtlich den Elihureden vorangeht,113 und in den Hiob sekundär in den Mund gelegten hymnischen Passagen in 9,2–14; 12,7–13,2 sowie 26,5–14, die redaktionsgeschichtlich auf 109 Gelegentlich wird der Beginn des „Hymnus Elihus“ erst in Hi 36,24 (vgl. Newsom, Hymn, 160–174), in V. 26 (vgl. Weiser; J. Gray) oder in V. 27 (vgl. Fohrer) gesehen, doch signalisieren die Interjektion hen in V. 22, die in V. 26 und V. 30 anaphorisch aufgenommen wird, und die überschriftartige Kennzeichnung Gottes als einzigartigen Lehrer, dass der „Hymnus“ bereits in V. 22 einsetzt (so auch Lauber, Weisheit, 100). 110 Hi 37,15–18 vgl. 38,12.16–18.22.28.31–35.39; 39,1–2.5.9–12.19–20.26–27 sowie 11,7–8; 35,6–7; 40,8–9. 111 Zu einer ähnlichen Gliederung vgl. Wahl, Schöpfer, 101f: Hi 36,1; (a) 36,2–4; (b) 36,5–7|8– 11|12–15; (c) 36,16–21; (d) 36,22–25|26–33; 37,1–5|6–13; (e) 37,14–20; (f) 37,21–24. 112 Vgl. Ex 19,16.18; Dtn 4,11–12; Ps 18; 29; 77; 97,2–6; Hab 3; Jes 30,27–30; Mi 1,3–4; Nah 1,2–8. Siehe dazu grundsätzlich Jeremias, Theophanie; Scriba, Geschichte, sowie H. Pfeiffer, Jahwes Kommen von Süden. Jdc 5; Hab 3; Dtn 33 und Ps 68 in ihrem literatur- und theologiegeschichtlichen Umfeld, FRLANT 211, Göttingen 2005. 113 Zu den lexikalischen und syntaktischen Bezugnahmen auf Hi 38–39 siehe auch Pilger, Erziehung, 126–128; 164.
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
die Elihureden folgen. Außerhalb des Hiobbuches besteht eine besonders enge kompositionelle, tendenzielle und literargeschichtliche Verwandtschaft zu hymnischen Lehrreden Ben Siras in Sir 39,12–35 (G/HB) und 42,15–43,33.114 Zahlreiche Motivparallelen bestehen zudem zu den Schöpfungspsalmen 104; 147 und 148 sowie zu äg. Hymnen115, zum großen Šamaš-Hymnus, der u.a. aus der Bibliothek Assurbanipals (686–628 v.Chr.) bekannt ist116, aber auch zu kosmologischen Passagen im Zeus-Hymnus des Kleanthes (ca. 330–230 v.Chr.). Die Beschreibung des Donners (qôl, 37,2–5) findet ihr hymnisches Pendant im siebenfachen Lobpreis auf die Donnerstimme Jhwhs in Ps 29,3–9.117 Charakteristisch für den hymnischen Teil ist die Mischung aus beschreibender und mythologischer Poesie (vgl. 36,27–29a versus 36,29b-33).118 Text- und Der Text von Hi 36–37 weist überdurchschnittlich viele philologische Probleme Literar- auf, mit denen sich bereits die antiken Übersetzer konfrontiert sahen. Einige geschichte Passagen scheinen schon zu einem sehr frühen Überlieferungsstadium gelitten zu haben. Dies betrifft vor allem die Abschnitte 36,5–7; 36,16–20; 36,32–33; 37,6.12–13.16–17. 4QHia enthält Äquivalente zu 36,7–11.13–24.25–27.32–33; 37,1–5.13–15.17–18.(19?). Zwischen 36,7/8, 36,12/13, 36,19/20, 36,23/24 und 37,14a/14b weist die Qumran-Handschrift Leerräume auf. Dies könnte auf eine spezielle Gliederung der Rede hindeuten. Kleinere textliche Varianten zum MT finden sich in 36,7.11.23.24.27; 37,1.2.5.14.119 In 11QTgHi sind Fragmente zu 36,7–16.23–33 und 37,10–19 erhalten. In 37,16–17 erscheinen die masoret. Kola in der Folge V. 16a.17a.16b; ein Äquivalent zu V. 17b fehlt. Semantisch zeigen sich besonders viele Unterschiede gegenüber dem MT. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass sich hier die mutmaßliche Vorlage von der des MT stärker unterschied. In LXXZi sind die Verse 36,5b–9.10b–11.13.16.19b–20.21b–22a.24b– 25a.26.27b.28a.29–33; 37,1–5a.6b–7a.10a.11–12a.13.18.21b asterisiert. In 36,5– 17 und 28–33 scheint sich die Vorlage des OG (wie die von 11QTgHi) stärker als in anderen Bereichen von der des MT unterschieden zu haben oder korrupt gewesen zu sein. Die Problematik der Auffüllungen des OG aus Th wird in diesem Bereich besonders deutlich, insofern im Mischtext der ,kirchlichen‘ LXX nun einzelne Stücke doppelt übersetzt sind oder im OG in sich stimmige, wenn auch sich vom MT unterscheidende Gedanken sekundär aufgesprengt
114 Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden siehe auch Newsom, Hymn, 165–173; Pilger, Erziehung, 222f. 115 Vgl. z.B. die großen literarischen Amun-Re-Hymnen aus der Vor-Amarna-Zeit (ÄHG 87A–E). 116 TUAT.NF VII, 66–72. 117 Vgl. auch Ps 77,19; 104,7; Jes 33,3; Jer 10,13; 51,16a; Sir 43,16; Baʿal-Zyklus IV,vii,29–37 (TUAT.NF VIII, 222f: die Donnerstimme Baʿals), aber auch den äg. Hymnus an Amun und seine Stadt aus dem Pap. Leiden I 350 ÄHG 140, 11–14; dazu Scriba, Geschichte, 16; 81. 118 Zu dieser Differenzierung siehe Alonso Schökel, Manual, 14–18; 132f, und im Anschluss daran Wahl, Schöpfer, 152; 155. 119 Siehe die Anm. zur Übersetzung. Hinzu kommen orthographische Varianten.
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sind.120 Der Abschnitt 36,5–17 bestand im OG nur aus V. 5a.10a.12.14.15.17 und bot eine weniger komplexe Gegenüberstellung der göttlichen Bestrafung der Gottlosen (ἀσεβεῖς) und der Bewahrung des Untadeligen (ἄκακος) bzw. des/ der Gerechten (δίκαιος/δίκαιοι). Insgesamt weist die LXX in Hi 36–37 auffallend viele mikrotextliche, teilweise auch semantisch bedeutsame Unterschiede und andere Segmentierungen als der MT auf. Trotz ihrer besonderen Länge sowie der mehrfachen Beschreibung der Wolken und des Regens (36,27–29; 37,7–11.15–16) sowie des himmlischen Lichts bzw. der Blitze (37,4 [v.l.]; 37,11–13.15.21–22a) besteht kein Anlass zu einer literarischen Schichtung der Rede.121 Zudem finden sich keine harten inhaltlichen Widersprüche zu den bisherigen Reden Elihus, die eine Rückführung auf einen anderen Verfasser als den der Grundschicht von Kap. 32–37 nahelegen.122 Die inhaltlichen Unterschiede gegenüber einzelnen Passagen in den vorangegangenen Reden (v.a. in 33,23–25; 34,16–30; 35,9–14) lassen sich durchgehend als bewusste Modifikationen, als besondere Akzentuierungen und sachliche Vertiefungen verstehen. Lediglich in 36,7b.11b; 37,7.17 scheinen Randglossen in den Text geraten zu sein.123 Nach 36,16aα könnte ein Kolon ausgefallen sein. Aufgrund der vielen textlichen Probleme unterscheiden sich die Auslegungen der vierten Elihurede stärker als in anderen Bereichen des Hiobbuches voneinander. Keiner der modernen Kommentare kommt ohne Korrekturen des MT aus. Dies gilt auch für die hier gebotene Auslegung, die dementsprechend einen höheren Grad an Hypothetik aufweist als die der anderen Abschnitte des Buches. Die Verteidigung des gerechten Schöpfergottes
36,1–4
Die Überschrift, die sich von den Standardüberschriften in 34,1 und 35,1 unter- 36,1 scheidet, orientiert sich an der Überschrift der Abschlussrede Hiobs in 27,1, die ihrerseits in 29,1 durch die Hand imitiert wurde, die 27,11–12; 28,1–28* 120 So erscheint z.B. Hi 37,1 MT im ,kirchlichen Text‘ der LXX nun in 36,28 (aus OG – allerdings mit charakteristischen textlichen Differenzen, die sich mit 4QHia berühren; siehe die Anm. zur Übersetzung) und zusätzlich an der ,richtigen‘ Position in 37,1 (aus Th); 37,12aβMT hat in der ,kirchlichen‘ LXX ein Äquivalent in 37,10 (aus OG) und in 37,12 (aus Th); siehe dazu C.E. Cox, Origen’s Use of Theodotion in the Elihu Speeches, SecCen 3 (1983) 89–98; Konkel, Elihu Speeches, 153–156; Gorea, Job repensé, 182–195. 121 Anders z.B. Fohrer, 481, der Hi 36,27–37,13 für einen sekundär in die dritte (!) Elihurede eingefügten Hymnus hält; Kaiser, 126f, der Hi 36,26 und 37,1–5 auf den „Majestätsbearbeiter“, 36,13–15; 37,11–13.23bβ–24 auf den „Gerechtigkeitsbearbeiter“ und 36,7b.11b; 37,20 auf einen Glossator zurückführt. Zu den Schichtungsvorschlägen von Mende, Leiden; Pilger, Erziehung; und Vermeylen, Métamorphoses, s.o. S. 493f. 122 Eine Gegenposition hierzu vertritt Lauber, Weisheit, 167–182, 441f, der zudem literargeschichtlich zwischen Hi 36,1–21 einerseits und 36,22–37,24 andererseits unterscheidet, wobei er innerhalb des Komplexes 36,22–37,24 nochmals zwischen einer Grundschicht und verschiedenen redaktionellen Elementen unterscheidet; s.o. S. 494. 123 Die Annahme einer weitergehenden Glossierung (so z.B. Hölscher: Hi 36,1.5a*.b*26.29–30; 37,21aβ; Fohrer: 36,1.5a*.b*.19aβ; 37,21b.23b.24) ist unnötig. Clines betrachtet nur Hi 37,5aα (jrʿm ʾl bqwlw) und 37,22b als Glosse.
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eingefügt hat. Sie kennzeichnet die vierte Rede Elihus als Abschlussrede und lässt erwarten, dass sich Elihu in ihr vor allem mit den Ausführungen in Hiobs letzter Rede auseinandersetzen und eine Summe seiner Theologie präsentieren wird. Insofern Hi 36–37 abzüglich der genannten Glossen insgesamt als ein ursprünglicher Bestandteil der Komposition der Elihureden betrachtet werden kann, ist die Annahme, 36,1 sei sekundär,124 unnötig. 36,2–4 Die Exposition, in der Hiob nochmals zur Geduld aufgerufen wird, knüpft unmittelbar an den Abschluss der vorangehenden Rede Elihus (35,1–16) an. Die dort in Aussicht gestellte Untersuchung des Zornes Hiobs und des eigentlichen Vergehens (v.l. 35,15) wird nun in Angriff genommen. Den unwissenden Worten Hiobs (34,35; 35,16) stellt Elihu sein eigenes Wissen gegenüber (V. 4a, vgl. 32,6.10.17; 33,3; 34,16; 35,4). Den von ihm gesellschaftlich diagnostizierten Mangel, nach Gott dem Schöpfer zu fragen (35,10), kontrastiert der selbstbewusste Weise mit seiner Verteidigung des Schöpfers. Die Formulierung poʿ alî („mein Schöpfer“ V. 3) ist einmalig im AT, sie berührt sich aber sachlich mit den Bekenntnissen Elihus in 32,22; 33,4 und 35,5 und weist bereits auf den Schöpferhymnus in 36,22–37,22a voraus. Wie die Freunde Hiobs versteht sich Elihu als Anwalt der Gerechtigkeit Gottes (vgl. 13,7–8), mit dem er auf eigentümliche Weise interagiert. So liegt der Schwerpunkt des jeweils ersten Kolons auf der eigenen Person, des jeweils zweiten auf Gott. Der an „Wissen Vollkommene“ (V. 4b) ist nämlich nicht, wie zumeist angenommen, Elihu selbst, sondern Gott (vgl. 37,16),125 dessen Bei- und Mitsein (ʿimmāk) Elihu Hiob zusagt (vgl. Jes 41,10). So bietet diese kleine Exposition nochmals die Grundzüge der Reden Elihus: die Überzeugung, über besonderes Wissen zu verfügen, und die Vorstellung von Gott als gerechtem Schöpfer,126 aber auch die bei aller Kritik weiterhin bestehende Zuwendung zu Hiob (vgl. 33,1–7). 36,5–21 Die Kraft des richtenden und rettenden Gottes Der erste, selbst aus zwei Abschnitten bestehende Hauptteil der Abschlussrede Elihus kreist um das Verhältnis von göttlicher Gerechtigkeit und menschlichem Leid. Während Elihu in einer ersten Strophe die Gerechtigkeit aus Gottes Macht (koaḥ) ableitet und am unterschiedlichen Verhalten Gottes gegenüber Frevlern und Gerechten aufzeigt (36,5–7), konzentriert er in zwei folgenden, sprachlich und argumentativ eng miteinander verzahnten Strophen (36,8–11.12–15) die Frage nach dem menschlichen Leid (ʿånî) auf dessen Funktion und den Umgang mit diesem. Dabei rahmen die V. 5 und 15 diesen ersten Abschnitt des ersten Hauptteils. Sie bilden zugleich die theologischen Spitzensätze dieser Passage wie der gesamten Komposition der Elihureden. In einem zweiten Abschnitt folgt in zwei Strophen (36,16–17.18–21) die Anwendung auf Hiob, die jeweils Vgl. Fohrer; J. Gray; Pilger, Erziehung, 178–180; Lauber, Weisheit, 181. Zu einem ähnlichen additiven Epitheton vgl. Hi 34,17 (ṣaddîq kabbîr). 126 Vgl. Ps 9,8–9; 96,13; 98,9. 124 125
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mit dem Schlüsselwort sût beginnen (V. 16.18). Wie der erste Abschnitt endet auch dieser mit dem Begriff ʿånî (vgl. V. 15). Mit einem betonten „siehe“ (hen)127, einer expliziten Gottesbezeichnung 36,5–7 (ʾel) und in hymnischem Stil leitet Elihu seine erste argumentative Entfaltung ein. Der doppelte Gebrauch des in 34,17 als göttliches Epitheton gebrauchten Wortes kabbîr unterstreicht die Macht Gottes und die Stärke seines Verstands (leb, vgl. 9,4; Ps 33,5). Ganz bewusst ist das Verb māʾas („verachten/verwerfen“) wie in 34,33 ohne Objekt konstruiert, um die Absolutheit und die Unbedingtheit des göttlichen Handelns hervorzuheben.128 Wollte man dennoch ein ausdrückliches Objekt ergänzen, so läge es in der Fluchtlinie von 9,21 und 10,3 nahe, ein Wort für „Leben“ nachzutragen und dabei letztlich an Hiob selbst zu denken. Der Bezug zum Leben, und zwar zum Leben des Gerechten, das Gott nicht verwirft,129 ergibt sich auch durch die folgenden Sentenzen zum Handeln Gottes an den Frevlern einerseits und den Gerechten andererseits (V. 6–7, vgl. 34,10–12). Entzieht Gott – entgegen dem von Hiob erhobenen Vorwurf (21,7) und mit der Theorie der Freunde – dem Frevler (rāšāʿ) das Leben, so verschafft er den Demütigen, den Frommen (ʿanijjîm) letztendlich Recht und setzt sie als Könige ein (V. 7). Aufgrund des Parallelismus dürfte ʿānî hier nicht den allgemeinen Sinn von „arm/elend“ haben,130 sondern synonym zu ʿānāw „fromm“ sein131. Die Deutung ist aber angesichts des offenbar in V. 7aβ.b nicht unversehrt erhaltenen Textes nicht ganz sicher. In Aufnahme der königlichen Metaphorik des Gerechten, die Hiob selbst in seiner Abschlussrede verwendete (vgl. 29,7–8.25; 31,36–37), und der Vorstellung von der göttlichen Erhöhung der Erniedrigten (vgl. 34,18–20.24)132 könnte hier das Motiv der endzeitlichen Einsetzung der Gerechten zur Herrschaft anklingen.133 Eine eschatologische Perspektive spricht jedenfalls aus dem wohl nachgetragenen Kolon V. 7b.134
Zur gliedernden Funktion von hen als Interjektion vgl. Hi 8,20; 32,11; 33,29; 36,22.26.30. Gerade der Bezug von Hi 36,5 auf 34,33 spricht gegen den Vorschlag von Diewert, Job XXXVI 5, jmʾs wie in Hi 7,5.16 (und 42,6) von mʾs II (als Nebenform von mss „zerfließen“) abzuleiten und in der Wendung loʾ jimʾās ein direktes Pendant zu koaḥ leb zu sehen (vgl. Ps 22,15; Ez 21,12; Nah 2,11), so dass das Bikolon in beiden Vershälften ein Bekenntnis zu Gottes unvergleichlicher Stärke sei („Behold, God is migthy and he will not cower, / migthy in the strength of [his] heart“). Auch in Hi 42,6 ist mʾs I zugrundezulegen – gegen Diewert und gegen Eckstein, Semantik, 178–184, die daneben auch mʾs in 34,33 auf mʾs II zurückführt. 129 Vgl. Hi 8,20; 34,14.25–28; 37,23 sowie zum Bild in V. 7a: Ps 33,18; 34,16. 130 Vgl. Hi 24,4.9.14; 29,12; 34,28. 131 Vgl. als Selbstbezeichnung Betender (par. ʿānāw) Ps 9,13; 10,12; 34,7; 140,13; 147,6 u.a. 132 Vgl. 1Sam 2,7–8; Ps 113,5–9; 117,16 LXX; 147,6; 149,4 LXX; Jes 52,13; Dan 4,14; Sir 10,14–15; Tob 4,19 (G-I); 1QHa XIX,12(15); Lk 1,51–52. 133 Vgl. 1Hen 96,1–2; 108,12; SapSal 3,8; 5,16; SibOr 3,767–771; Mt 19,28; Lk 1,32 und überdies Ps 37,9.11.22.29a.34; 1Hen 10,16–11,1; 51,5; Jub 17,3; 22,14; 32,19 sowie rabbinisch mQid I,10; mSanh X(XI),1 (vgl. Jes 60,21); Mt 5,5. 134 Zum Nachtragscharakter von Hi 36,7b siehe auch Strauß. 127 128
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Hi 32–37 Die vier Monologe Elihus
36,8–11
In den zwei folgenden, chiastisch angeordneten Strophen 135 spezifiziert Elihu die grundsätzliche Überzeugung vom gerechten Handeln Gottes gegenüber den Frevlern und den Frommen (vgl. 34,11), indem er auf den Sonderfall des Leidens (ʿånî) zu sprechen kommt. Die Tatsache menschlichen Leidens, zumal das Phänomen, dass auch der Gerechte Leid erfährt, wird von Elihu nicht geleugnet: Es gibt den Fall, dass der Fromme in Not gerät. Dabei ist theologisch zweitrangig, ob es sich bei den „Stricken des Elends“, mit denen die Frommen gebunden (ʾāsar) sind (V. 8, vgl. V. 13; Ps 69,34; 107,10), um eine Metapher handelt oder ob hierbei an eine konkrete Gefangennahme gedacht ist (vgl. Jes 45,14). Entscheidend ist für Elihu, dass Gott auch im Leiden zum Menschen spricht, ihm gerade im Leiden einen Spiegel vorhält und so Wege eröffnet, aus dem Leiden herauszukommen. Damit klingt nochmals die von Elihu schon in seiner ersten Rede ausgeführte Vorstellung von der göttlichen Erziehung im Leiden und von der Verwandlung des Leidens an (vgl. 33,14–22). Das Leiden erscheint dabei nicht als Strafe, auch wenn es von Gott stammt (V. 13), sondern als ein Raum der Gottes- und der Selbsterkenntnis. Insofern der göttliche Umkehrruf auch an die leidenden Gerechten ergeht, zeigt sich, dass auch der Gerechte nicht frei von Vergehen (pæšaʿ) ist (V. 9) und der göttlichen Zurechtweisung bedarf (vgl. 33,15–18.29–30; 5,17; Ps 25,8–9). Hatte Elihu am Ende seiner dritten Rede beklagt, dass es niemanden gebe, der um das eigentliche Vergehen Hiobs wisse (35,15b [v.l.], vgl. 34,37), so identifiziert er es hier – zumindest indirekt – als Übermut (gābar Hitp., V. 9). Liest man die Verse vor dem Hintergrund von Hiobs ultimativer Herausforderung Gottes zum Rechtsstreit (31,35–37), so erscheinen Elihus Ausführungen erneut als ein Versuch, Hiobs Worte zu relativieren, und Hiob, wie schon in seiner unmittelbar vorangehenden Rede, zu einem Perspektivwechsel aufzufordern: An die Stelle des Hörens Gottes auf Hiob, das dieser gefordert hatte (31,35), soll das Hören Hiobs auf Gott treten (V. 11): Im Hören auf Gott erweist sich für Elihu der wahre Gottesdienst (ʿābad). Damit zielt Elihu auf die Umkehr Hiobs von der Klage zu und gegen Gott, wie sie Hiob im Verlauf des Dialogs mit den Freunden artikuliert, zu einem sich in den Willen Gottes einfügenden, demütigen Hören, wie es Hiob zu Beginn des Buches verkörpert (vgl. 1,21; 2,10). Pointiert blickt die Strophe in ihrem letzten Kolon auf die Vollendung der Lebenstage der im Leid auf Gott Hörenden und zu ihm Umkehrenden „im Guten (ṭôb)“, womit umfassend Qualität und Sinnhaftigkeit des Lebens gemeint sind (vgl. 21,13; Ps 16,11). Der Dichter der Elihureden, der den Epilog des Buches wohl schon kannte, lässt seinen Protagonisten hier als einen Propheten erscheinen (vgl. 42,17). 36,12–15 Seiner positiven Zukunftsschau stellt Elihu aber auch eine negative Aussicht gegenüber. Es gibt nur zwei Wege: Im Leid auf Gott zu hören, umzukehren, Gott erneut zu dienen und das Leid zu überwinden, oder Gottes Ruf zu überhören und im Unverstand zu sterben (V. 12, vgl. 4,21). Gehorsam 135
Vgl. V. 8 versus V. 15; V. 9 versus V. 14, V. 10 versus 13, V. 11 versus V. 12.
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gegenüber Gott entspricht Wissen und schenkt Leben, Ungehorsam ist demgemäß Unwissen und bringt den Tod (vgl. 21,14–17). Diese Argumentation klingt schematisch und ist sprachlich bis in den Mikrotext parallel aufgebaut, insofern sich die Bedingungssätze in V. 11aα und 12aα und die Folgesätze in V. 11aβ.(b) und V. 12aβ*.b kontrastiv entsprechen.136 Traditionsgeschichtlich steht die im AT vor allem aus dem Deuteronomismus bekannte Umkehr- oder Zwei-Wege-Theologie im Hintergrund,137 die aber auch typisch für weisheitliche Sentenzen und Mahnreden ist.138 Die Formulierungen sind allgemein gehalten, sie sind aber gerade mit dem Begriff des Dienens (ʿābad, V. 11) und der Wendung des fehlenden Wissens (b elî-daʿat, V. 12) auf Hiob hin transparent (vgl. 1,8; 2,3 bzw. 35,16). Dies gilt auch zumindest für Elihus Diagnose, dass „im Herzen Gottlose“ Zorn hervorrufen (V. 13a). Der Ausdruck śîm ʾap ist nicht eindeutig. Er könnte sich auf den göttlichen Zorn beziehen, den das Fehlverhalten im Leiden hervorruft.139 Vor dem Hintergrund von 35,15 und des zweiten Kolons in V. 13b ist es aber wahrscheinlicher, dass hier menschlicher Zorn gemeint ist, der das Gegenteil zum Gebet darstellt und der im Alten Orient, besonders in Ägypten, als Kennzeichen mangelnder Weisheit und Frömmigkeit gilt.140 So hatten auch die Freunde Hiobs Verhalten klassifiziert (vgl. 18,4)141. Hingegen trifft der Vorwurf des mangelnden Rufens (šāwaʿ ) zu Gott sicher nicht Hiob, zumal dieser sich insbesondere in seiner letzten Rede nochmals eindringlich an Gott gewandt hatte (vgl. 30,20). Ein Selbstwiderspruch Elihus zu seiner in der dritten Rede vertretenen Position liegt nicht vor, da es nun ausdrücklich um den Hilferuf und die Umkehr der Gerechten geht (vgl. 36,6–7).142 Während Elihu in 35,9–13 stärker den Inhalt des Hilferufs, näherhin die Hinwendung zum Schöpfer betont, stehen in 36,13 eher das Faktum des Hilferufs und die Haltung der Leidenden im Mittelpunkt. Das Leiden wird hier zum Mittel, um zwischen wahren und vermeintlichen Gerechten zu unterscheiden. Vollends außerhalb der Situation Hiobs bleibt die allgemeine Ankündigung, dass diejenigen, die im Leid nicht auf Gott hören und zu ihm beten, schon in der Jugend ihre Lebenskraft (næpæš) verlieren und unter Qedeschen sterben (V. 14). Dieses Motiv entspricht der auch von Hiobs Freunden geäußerten Überzeugung vom vor- oder unzeitigen Tod der Frevler (15,30– 33; 22,15–20). Unter Qedeschen sind wohl nicht den Tod bringende Strafen-
136 Zum sekundären Charakter von V. 11b und des Wortes bešælaḥ in V. 12a siehe die Anm. zur Übersetzung. Die Entsprechung der V. 11a und 12 zeigt sich auch auf phonetischer Ebene mittels der Assonanz der Verben ʿābad („dienen“) und ʿābar („dahingehen“). 137 Vgl. Dtn 11,26–28; 28,1.15; 30,15–20; Jer 21,8–9; Lev 26,3–4.14–16; 2Chr 33,12–13. 138 Vgl. Hi 8,5–7; 11,13–20; 22,23–26; Sir 15,14–17. 139 So Hartley und Lauber, Weisheit, 92. 140 Vgl. Ps 37,8; Spr 12,16; 14,17.19; 15,18; 19,11; Sir 8,16 Lehre d. Amenemope 4,16–19; 5,14– 17 (TUAT.NF VIII, 331f). 141 Zur Einschätzung von Hi 18,4aα als Glosse s.o. 142 Vgl. Ps 34,16–18; 107,6.13.19,28; Ez 33,13–16.
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gel zu verstehen (vgl. 33,22),143 sondern männliche Prostituierte, die als sozial Geächtete am Rande der altorientalischen Gesellschaft lebten (Dtn 23,18; 1Kön 15,12; 2Kön 23,7).144 36,15 Der durch ein vollkommen ausgeglichenes kolometrisches Verhältnis und lautmalerisch besonders hervorgehobene Abschlussvers dieser Strophe, der über das Leitwort ʿånî mit V. 8 korrespondiert, gehört zu den zentralen Sätzen der Theologie der Elihureden. Mit seiner Betonung, dass Gott den Elenden, d.h. den Demütigen (ʿānî), in und durch sein Elend (ʿånî) errettet (ḥālaṣ)145 und dass Gott sich im und durch Leiden (laḥaṣ) offenbart, wird die Überschrift des ersten Hauptteils dieser Rede, der zufolge Gott als der Mächtige und Gerechte nicht verwirft (V. 5), entfaltet und dem Leiden eine soteriologische Funktion zugewiesen (vgl. V. 11). Die ausführliche Beschreibung des göttlichen Erziehungs- und Offenbarungshandelns und des himmlischen Rechtfertigungsgeschehens in 33,14–30 erscheint hier verdichtet in einem Bikolon, das wie jene Passage eine Antwort auf Hiobs Elendsschilderung in Hi 30,16–19.27 bildet, nur dass jetzt explizit das Wort ʿånî auftaucht, das im Hiobbuch allein in Reden Hiobs und Elihus verwendet wird.146 36,16–17 Mit betontem weʾap (vgl. 37,1) erfolgt die Anwendung der Leidenstheologie auf Hiob. Allerdings werfen diese und die nächsten vier Verse besonders viele semantische und poetologische Fragen auf, so dass sie hinsichtlich ihrer Deutung heftig umstritten sind. In Weiterführung von V. 15 erscheint zunächst Gott als Subjekt, der Hiob mittels seines Sprechens im Leid aus der Not (ṣar, vgl. 7,11), die hier metaphorisch als Raubtier mit geöffnetem Rachen (pî) gezeichnet wird, herauslockt (sût, vgl. 2Chr 18,31). Die folgende Verheißung an Hiob bedient sich mit der Kontrastierung der Weite, die an die Stelle der notvollen Enge tritt, und des reich gedeckten Tisches traditioneller Heilsbilder, wie sie z.B. in einzelnen Vertrauens- und Dankpsalmen begegnen (vgl. Ps 18,20; 23,4–6; 31,8–9). Entsprechend der allgemein fomulierten Erhöhung der Gerechten in V. 7, gipfelt die Verheißung in der Ankündigung der Einsetzung Hiobs zum Richter über den Frevler (V. 17, vgl. 19,28–29 [sek.]). Der Vers, der durch den doppelten Gebrauch der Wurzel dîn hevorgehoben ist, bildet wohl weder eine
143 So wohl die LXX (ὑπὸ ἀγγέλλων „unter Engeln“) und 11QTgHi (bmmtjn „unter Todbringenden“), die anstelle von q edešîm offenbar q edošîm („Heilige/Engel“) vokalisieren bzw. unmittelbar auf 33,22 rekurrieren (vgl. Hi 40,11 LXX – Clines hält diese Lesart für ursprünglich). Zur Diskussion unterschiedlicher Vokalisierungen von 11QTgHi (memitîn, wie hier angenommen, oder memātîn „types of death“, Sokoloff, 271) siehe Zuckerman, Examples, 271. 144 Vgl. Vg und Tg sowie zum sozialgeschichtlichen Hintergrund H.-J. Stipp, Die Qedešen im Alten Testament, in: Ders., Alttestamentliche Studien. Arbeiten zu Priesterschrift, Deuteronomistischem Geschichtswerk und Prophetie, BZAW 442, Berlin/Boston 2013, 357–390 (besonders 382– 384). Aufgrund des Parallelimus in V. 14a (noʿar „Jugend“) wird dieser Ausdruck gelegentlich als Chiffre für „jugendliches Lebensalter“ verstanden (vgl. Fohrer; Gordis; Hartley). Andere halten diesen Text für unverständlich und schlagen vor, auf eine Übersetzung zu verzichten (Cornelius, 291). 145 Vgl. Ps 6,5; 18,20; 34,8; 50,15; 81,8; 91,15; 116,8; 119,153; 140,2; 1QS XI,13; 4Q525 frgm. 14 II,12. 146 Hi 10,15b (sek.); 30,16.27; 36,8.15.21.
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Warnung an Hiob, selbst dem Gericht zu unterliegen,147 noch die Feststellung, dass ihn bereits das Gericht Gottes getroffen hat,148 sondern einen Rekurs auf Hiobs Beschreibung seiner einst glücklichen Lebenstage (vgl. 29,2). Diese waren gekennzeichnet von seinem gerechten richterlichen Verhalten (vgl. 29,12–16), und diese werden gemäß der Ankündigung Elihus einst dann wiederkehren, wenn sich Hiob in seinem Elend von Gott selbst belehren lässt. Das von Hiob so eindringlich eingeforderte Recht (mišpāṭ) wird sich durchsetzen (tāmak). Erneut spielt der Verfasser der Elihureden auf den Epilog an, den er im Gegensatz zum Verfasser der Grundschicht der Dichtung schon kennt (vgl. 42,8–10). Eine Warnung an Hiob ergeht erst in der folgenden Strophe. Analog zur zweiseitigen Entfaltung des Handelns Gottes in 36,8–11.12–15 36,18–21 richtet Elihu an Hiob die Mahnung, sich nicht durch die Menge der göttlichen Gnade verführen zu lassen. Die Wiederaufnahme des Wortes sût mit „Gott“ als Subjekt und die Anspielung auf die Beschreibung der himmlischen Fürsprache, die Gott als „Lösegeld“ (kopær) annimmt (33,23–25), sprechen dafür, V. 18 nicht auf irdischen Reichtum oder ein irdisches Gerichtsverfahren zu beziehen, in dem sich Hiob durch Bestechungsgeld zu ungerechtem Richten verleiten lassen könnte,149 sondern auf das rechte Verhalten im Leid und die richtige Einschätzung des göttlichen Rettungshandelns. Beides ist die Voraussetzung dafür, dass Gott Hiobs Gebet erhört (V. 19). Dass Elihu hier erneut auf Hiobs Hilferuf (šû aʿ, V. 19) zu sprechen kommt, liegt genau in der Fluchtlinie seiner Argumentation in 33,26–28. Damit reagiert Elihu erneut auf Hiobs umfassendes Unschuldsbekenntnis, das in einem Schrei zu Gott gipfelte (31,35), und thematisiert wie 35,9–10 und 36,13 Bedingungen und Haltungen des Gebets. Treffend fasst Elihu Hiobs Ausführungen seiner gerechten Taten in dessen großer Abschlussrede in Kap. 29 und 31 mit der Wendung „alle Kraftanstrengungen“ (kål maʾ amaṣṣê-koaḥ) zusammen: Diese vermögen nach Elihu nichts, wenn nicht mit dem Handeln Gottes auch im Leid gerechnet wird. Das Gegenteil eines demütigen Hörens auf Gott, eines sich durch Gott im Leid Belehren-Lassens und eines Wissens um das Verhältnis zwischen göttlicher Führung und Verführung ist die Sehnsucht nach einem universalen Gerichtshandeln Gottes (V. 20). Der Ausdruck „die Nacht, da Völker auffahren (ʿālāh)150“ bezeichnet wohl nicht die von Hiob über sein Elend herabgerufene Chaosnacht (vgl. 3,3–9), sondern ist eine Chiffre für das vor allem in der späten Prophetie erwartete (endzeitliche) Heranrücken (ʿālāh) der Völker und das dann an ihnen von Gott vollzogene Gericht.151 Dieses Motiv dient ebenso wie die Passage in So z.B. Weiser; de Wilde; Pilger, Erziehung, 119f. Vgl. in diesem Sinn Fohrer; Hartley; Clines. 149 So aber z.B. Wahl, Schöpfer, 112, vgl. dementsprechend Hi 27,16–19; 31,24–25; Ps 49,7–9; 52,9; 62,11; Spr 11,28 bzw. Spr 13,18. 150 Zu ʿālāh in militärischem Sinn vgl. 1Kön 20,22; Jes 7,1; 21,2; Mi 2,13. Dagegen interpretiert CTAT 50/5, 364f, ʿālāh im Sinn von „aufgehoben werden/verschwinden“ (ähnlich auch Hartley), was auf das gleiche Ergebnis hinausläuft. 151 Vgl. z.B. Jer 50,3.9; Ez 38,16; Jo 4,14; Sir 10,16–17 und zum Motiv des Völkersturms und seiner Geschichte O. Kaiser, Gott, III, 133–151. 147 148
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34,16–30 zum Handeln an den Mächtigen und an den Völkern der Betonung von Gottes umwälzender Macht (koaḥ, vgl. 36,5.22; 37,23), wobei Elihu hier wie in den vorangehenden Versen eine gewisse Modifikation seiner zuvor vertretenen Ausführungen vornimmt: Die in seiner dritten Rede ausgesprochene Mahnung Hiobs, auf das Gericht Gottes zu warten (35,14), soll dieser nicht dahingehend missverstehen, nun vehement dieses herbeizusehnen. Klingt hier schon das Motiv der endzeitlichen Versuchung durch Gott an, welche auch – und gerade für die Gerechten – die Gefahr in sich birgt, endgültig von Gott abzufallen (vgl. Mt 6,13; Lk 11,4)? Jedenfalls soll Hiob sich nicht dem Bösen (ʾāwæn) zuwenden, das er womöglich dem Leiden vorziehen könnte (V. 21). Unter dem Bösen ist hier dann wohl die Abkehr von Gott gemeint, womit der Dichter der Elihureden erneut auf ein Thema des Prologs zurückgreift (vgl. 1,11; 2,5). Betont endet dieser erste Hauptteil der Abschlussrede Elihus, der sich in seiner Ambivalenz hinsichtlich der Richtung und Ziel des Handelns Gottes auf dem theologisch sehr schmalen Grat der Führung und Verführung durch Gott bewegt (vgl. Jer 20,7–18), mit dem Wort „Leid“ (ʿånî, vgl. 36,8.15). 36,22– Die Wunder des erschaffenden und bewahrenden Gottes 37,13 Der zweite Hauptteil setzt wie der erste mit einem ausdrücklichen Bekenntnis zu Gottes Macht (koaḥ) ein (36,22 par. 36,5, vgl. 37,23; Ps 147,5).152 Bildete diese im ersten Hauptteil den Ausgangspunkt für Elihus Ausführungen zu Gottes richtendem und rettendem Handeln im Leiden, so wird sie nun selbst in sieben Strophen im Blick auf die weise Lenkung der Natur durch den Schöpfer (vgl. 36,3) entfaltet. Auch der zweite Hauptteil besteht aus zwei Abschnitten (36,22–37,13 und 37,14–22a), die jeweils drei Strophen umfassen. Der erste Abschnitt selbst lässt sich nochmals in zwei stilistisch und motivisch jeweils enger zusammengehörige Unterabschnitte gliedern (36,22–33 und 37,3–13), die durch ein kurzes rhetorisches Zwischenstück voneinander abgesetzt sind (37,1–2). Charakteristisch für den ersten Unterabschnitt ist die anaphorische Eröffnung der einzelnen Strophen mit der Interjektion hen („siehe“, 36,22.26.30) und die Nennung der Gottesbezeichnung ʾel in der ersten Zeile der ersten und zweiten Strophe (36,22.26). Im zweiten Unterabschnitt erscheint diese jeweils in der letzten Zeile der ersten und zweiten Strophe (37,5.10). Beide Unterabschnitte enden mit einer Metapher zum Gerichtshandeln Gottes (36,33; 37,13). Die abschließende Anwendung der hymnisch-belehrenden Ausführungen (37,14– 22a) ist mit dem ersten Abschnitt des zweiten Hauptteils über das Motiv der Wolken (36,28; 37,15) und des Lichts (36,30; 37,3.11; 37,15.21) sowie über das Deutewort niplāʾôt (37,5; 37,14.16 [v.l.]) verknüpft. Sie besteht selbst aus zwei Unterabschnitten, wobei im ersten das (Un-)wissen Hiobs (37,14–18) und im zweiten das (Un-)wissen der Weisen (37,19–22a) im Mittelpunkt steht. 152
Vgl. sekundär in Hiobs Mund 9,4; 26,12.
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In Gestalt einer rhetorischen Frage legt Elihu ein Bekenntnis zu Gott als ein- 36,22–25 zigartigem Lehrer ab (V. 22).153 In der lautmalerisch gestalteten Formulierung mî kāmohû môræh klingen das monotheistische Grundbekenntnis der JhwhVerehrung, wie es sich in der Zeit des Zweiten Tempels immer deutlicher artikuliert,154 und die Vorstellung an, dass Gott selbst, nicht die Tradition (so Bildad in 8,10), den Menschen belehrt (vgl. 34,32; 35,11). Letztere ist das auf den Begriff gebrachte Bindeglied zu der im ersten Hauptteil entwickelten Theorie von der göttlichen Erziehung und Offenbarung im Leid (36,10.15). Hatte Hiob in seiner ersten Rede die Macht des Schöpfergottes in Frage gestellt (vgl. Kap. 3) und in seiner letzten Rede die eigene Treue zur Torah gegen deren Stifter selbst in Anschlag gebracht und damit auch deren Leistungsfähigkeit problematisiert (vgl. Kap. 31), so reagiert nun Elihu genau auf diese beiden Anklagen. Die unmittelbar folgende Ausführung zur Absolutheit der Macht Gottes ist ebenfalls als rhetorische Frage gestaltet. Sie unterstreicht mittels des stakkatohaften dreifachen „wer“ (mî) respektive „keiner“ die Einzigartigkeit Gottes155 und nimmt mit den Begriffen dæræk („Weg“ V. 23a, vgl. 26,14) und ʿawlāh („Unrecht“ V. 23b) die den Hiobdialog durchziehenden Fragen nach dem göttlichen Handeln als Schöpfer und als Richter auf (vgl. 34,10–15). Diese Fragen erinnern an einzelne Mahnungen der Freunde (vgl. 11,10) und berühren sich auch mit Hiobs (teilweise sekundären) Beschreibungen der Unverfügbarkeit Gottes (vgl. 9,4.12; 23,13). Sie dienen wie entsprechende Sentenzen Elihus in 33,12 und 35,5 der Hervorhebung des radikalen Unterschieds zwischen Gott und Mensch. Um diesen weiß auch Hiob (vgl. 9,32), doch ist Hiob in Elihus Augen durch die fortgesetzten Klagen und Anklagen Gottes sowie seine Erwartung, wie Gott handeln müsse, in der Gefahr, Gott einen bestimmten Weg vorschreiben zu wollen und Gott des Unrechts zu bezichtigen (vgl. 34,33). Dies zöge aber nach Elihus Theologie Hiobs endgültigen Untergang im Leiden nach sich – und davor will Elihu Hiob bewahren. So wechselt die Kette der rhetorischen Fragen in die unmittelbare Anrede (vgl. 34,31 [v.l.]. 32–33) und Ermahnung Hiobs zum Lobpreis (śāgāʾ Hif., V. 24) der Werke Gottes.156 Dies mag zynisch klingen, zumal der Elihudichter nicht nur die Klagen und Elendsmeditationen Hiobs in der Dichtung, sondern auch die Schilderung des über diesen hereinbrechenden Unglücks im Prolog kennt und die Szenerie des von Aussatz gezeichneten, im Staub sitzenden Hiob voraussetzt (2,7–8). Im Zusammenspiel mit Hiobs Reaktionen auf die ersten Schläge des Satans (1,21) und auf die Aufforderung seiner Frau, Gott abzusagen (2,9–10), erscheint die Mahnung aber nicht nur als theoretischer Grundsatz, sondern erneut als Versuch der Erinnerung (z ekor V. 24, vgl. 4,7; Koh 12,1) und der Rückführung Hiobs zu seinem früheren Verhalten im Leid. Damit liegt Elihu, wie auch mit seinem Traditions- und Erfahrungshinweis auf das Schöpferlob der vorangegangenen Siehe dazu Finsterbusch, JHWH als Lehrer, 16; 35. Vgl. Ex 15,11; Dtn 33,29; Jes 44,7; Jer 49,19; 50,44; Mi 7,18; Ps 35,10; 71,19; 89,8–9. 155 Vgl. Hi 34,13; Spr 30,4; Jes 40,13; Röm 11,34–35. 156 Vgl. Ps 77,13; 92,5–6; 103,22; 118,17; 143,5; Sir 39,14–15 (G); 42,15. 153 154
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Generationen (V. 24b–25), auf der Linie der Argumentation der ersten Rede des Eliphas, mit der das poetische Wechselgespräch zwischen Hiob und seinen Freunden begann (vgl. 4,2–6; 5,8–16). Doch Elihu gibt dieser Argumentation eine besondere schöpfungs- und leidenstheologische Tiefe: „Im Lobpreis sieht Elihu den Weg, auf dem der Mensch über sein Leiden hinausgehoben wird und Gott nahekommt.“157 Theologiegeschichtlich berührt sich dies mit den Lobliedern aus Qumran (1QHa) und dem Schlusshymnus der Gemeinschaftsregel (1QS XI). Dabei integriert Elihu mit dem dreifachen Hinweis auf den Lobpreis und die Wahrnehmung des göttlichen Werks durch alle Menschen (ʾ anāšîm – kål-ʾādām –ʾ ænôš), der mit dem dreifachen „niemand“ in der ersten Hälfte dieser Strophe korrespondiert, Hiob in den Strom eines universalen Schöpferlobs und versucht so, den in seinem Leid und seiner Klage Vereinsamten in die Menschheitsfamilie zurückzuholen. Mag das schöpferische, und das heißt (neu) ins Leben führende Werk Gottes im Moment nur von Ferne zu sehen sein (V. 25), so ahnt Elihu schon dessen unmittelbar bevorstehende Verwirklichung. 36,26–29 Die zweite Strophe, die sprachlich ganz ähnlich wie die erste einsetzt (V. 26a, vgl. 22a), fügt dem Bekenntnis zu Gottes Wesen als Lehrer ein Bekenntnis zu dessen Ewigkeit hinzu158 und entfaltet dann die göttliche Schöpfermacht am Beispiel des Wasserkreislaufes (V. 27–28).159 Formelhaft bezieht Elihu ein schweigend anwesend gedachtes Publikum in die Unmöglichkeit, Gott zu begreifen, ein (V. 26)160 und relativiert zugleich den zuvor ausgedrückten Gedanken der jedem Menschen gegebenen Möglichkeit, Gottes Werk zu sehen (V. 25). Gott in seiner Tiefe bleibt dem menschlichen Blick verborgen, auch wenn sich Grundzüge seines Wirkens mittels genauer Naturbeobachtung wahrnehmen lassen. Für diese ist die Beschreibung des Regens (V. 27–28) gerade in ihrer Differenziertheit ein einzigartiges Beispiel innerhalb des AT (vgl. 38,25–28; 2Hen 47,5).161 Dabei wird die Deutung aufgrund der umstrittenen Semantik des Wortes ʾed in V. 27 etwas erschwert.162 In jedem Fall handelt es sich um die Bezeichnung für ein (göttlich bedingtes) Wasserphänomen. Ein literarischer Bezug zur Eröffnung der nichtpriesterschriftlichen Schöpfungserzählung in Gen 2,(5– )6, dem einzigen Beleg für das Wort ʾed neben Hi 36,27, ist möglich, zumal in Hi 36,26–29 (wie in der gesamten vierten Rede Elihus) auch das Thema der menschlichen Erkenntnis (daʿat), das die Paradieserzählung durchzieht (Gen 2,9.17; 3,5.7.22), eine wesentliche Rolle spielt. Jedenfalls dient das Motiv des Weiser, 236. Vgl. Hi 10,5; Ps 90,4; 102,28. Vgl. Hi 28,25–26; 38,25–28; Ps 147,8.18. 160 Vgl. Hi 34,4.37; 37,5.23; siehe dazu auch in der Auslegung von Hi 5,9 genannten Parallelen. 161 Vgl. auch die mythologische Beschreibung der Wolken und des Regens nach dem siegreichen Kampf des Gottes Marduk über die das Chaos verkörpernde Tiamat im bab. Weltschöpfungsepos EnEl. V,47–54 (TUAT.NF VIII, 113f). 162 Vgl. dazu die Anm. zur Übersetzung sowie G.F. Hasel/M.G. Hasel, The Hebrew Term ʾed in Gen 2,6 and Its Connection in Ancient Near Eastern Literature, ZAW 112 (2000) 321–340, die nach ausführlicher philologischer und motivgeschichtlicher Sichtung die Bedeutung „Tau/Nebel/ Dunst“ wahrscheinlich machen. 157 158 159
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aufsteigenden ʾed in beiden Fällen analog zur Beschreibung der abregnenden Wolken (vgl. Spr 3,20) der Hervorhebung von Gottes belebender Macht (vgl. Jes 5,6). Der Ausblick auf die menschliche Unfähigkeit, den Lauf der Wolken vollends zu verstehen (bîn V. 29, vgl. 26,14; 37,16; 1Hen 18,5), leitet zum Thema der dritten und vierten Strophe über. Dabei spielt der Ausdruck der „Hütte“ (sukkāh, eigentlich „Laubdach“) auf den Thronbaldachin des über den Wolken thronenden Wettergottes an, von dem der Donner (t ešuʾôt) ausgeht (vgl. 2Sam 22,12 par. Ps 18,12).163 Licht (ʾôr, V. 30.32) und Donnerhall (re aʿ , V. 33) sind die Kennzeichen des 36,30–33 Himmelsgottes und die Begleitumstände seines Erscheinens. Seine universale Macht schlägt sich kosmisch im spielerischen Gebrauch des himmlischen Lichts und im Verhüllen der dunklen Tiefen des Meeres (V. 30, vgl. 38,16) sowie geschichtlich im Gericht und in der Versorgung der Menschen (V. 31, vgl. 38,25– 27; Ps 104,13–15.27)164 nieder. Die Motive der einzelnen Kola in V. 30–31 sind polar und komplementär und sollten nicht durch vermeintlich stimmigere Bilder ersetzt werden.165 Der nur scheinbar sperrige Gedanke des Richtens (dîn) über die Völker nimmt die Gerechtigkeitsthematik der Exposition (vgl. 36,3b; 37,13) und des ersten Hauptteils, insbesondere des Abschnitts 36,17.20 (vgl. 34,20–24.25) auf. Der Ausdruck bām („dadurch“, V. 31a) bezieht sich summarisch auf das vom Himmel bis zur Meerestiefe reichende Handeln Gottes. Das Licht selbst erscheint als Gottes Gewand (V. 32a, vgl. Ps 104,2) und in der Gestalt des Blitzes als sein Werkzeug (V. 32b, vgl. 37,12b; Ps 104,4; 148,8). Die Vorstellung des Blitze schleudernden Himmels- oder Wettergottes (Ps 18,15) durchzieht die religiöse Bildwelt des Alten Orients und der klassischen Antike. In einzelnen Darstellungen und Epitheta des syrischen Baʿal 166 und Hadad oder des griech. Zeus, des „Blitzeschleuderers“,167 hat sie beispielhaft Gestalt angenommen. In den Mythen um den germanischen Thor/Donar lebt sie bis in das europäische Mittelalter fort. Angesichts des Tempusgebrauchs in V. 32 ist nicht ausgeschlossen,168 dass der Dichter, wie der wohl etwas jüngere Verfasser von Hi 26,10 und 28,3–5, auch an die priesterschriftliche Beschreibung der Erschaffung des Lichts in Gen 1,3 denkt. Zugleich symbolisiert das Licht das richtende Handeln und die Gerechtigkeit Gottes. War dies in den Religionen des Alten Orients zunächst dem Bereich einer Sonnengottheit zugewiesen, 163 Vgl. zudem Ps 11,4; 103,19 und Jes 66,1. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund siehe Hartenstein, Angesicht, 168f. Houtman, Himmel, 265, 348, versteht unter der „Hütte“ die Wolken als den Aufenthaltsort Jhwhs während der Theophanie. 164 Vgl. zudem Ps 147,14; 1Hen 59,3 sowie aus der Umwelt des AT z.B. den großen Šamaš-Hymnus 23–26 (TUAT.NF VII, 67). 165 Siehe die Anm. zur Übersetzung. Auch eine Umstellung von V. 31 vor V. 28 (so J. Gray) oder vor V. 29 (so Clines) ist nicht geboten. 166 Vgl. z.B. im Baʿal-Zyklus IV,v,6–9 (TUAT.NF VIII, 217), zu entsprechenden Darstellungen aus der Bronzezeit und aus Eisenzeit siehe IPIAO III Nr. 467; 483 und IV Nr. 1311; 1319; 1608; 1615; 1625; 1694; 1848. 167 Kleanthes, Zeus-Hymnus 32 (Thom, 38; 146f); vgl. auch Homer, Il. 8, 133; Od. 12, 415–416; 14, 305; Hesiod, theog. 141; Pindar, N. 9.24; Aischylos, Prom. 667–668; Sophokles, Oid. T. 202. 168 Zu dieser Problematik siehe Bobzin, Tempora, 462f.
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die gleich der Sonne alles ans Licht bringt (s.o. zu Hi 34,21–24), so verfügt zur Zeit der Abfassung des Hiobbuches längst Jhwh auch über diese Kompetenz. Die Strophe und damit der erste Unterabschnitt des gesamten zweiten Hauptteils gipfelt in einer Überleitung von der Beschreibung des Handelns Gottes in der Schöpfung zur Darstellung seines Erscheinens im Wirbelsturm (v.l. V. 33).169 Vor diesem Hintergrund erklärt sich rückblickend neben der Bewunderung des meteorologischen Aspekts auch die ausführliche Illustration der Schöpfermacht am Beispiel des Regens (vgl. 5,9–10). Denn dieser gehört, wie das Gewitter und der Sturm, zum motivischen Repertoire der atl. Theophanieschilderung (vgl. Ri 5,4; Ps 18,16; 77,18). Der Donner selbst übernimmt die Funktion des Herolds des „von ferne“ (V. 25) nahenden Gottes. Der göttliche Zorneseifer ist, wie auch andernorts im AT, Chiffre für das Richten Gottes (vgl. Ex 32,10–14; Dtn 6,15; Ps 7,7; Ez 7,3.8).170 Dabei leuchtet in der (rekonstruierten)171 Formulierung meqanneʾ ʾap zugleich das Motiv vom ʾel qannāʾ, dem um seine Anerkennung und sein Recht eifernden Gott auf.172 37,1–2 Mitten in der Beschreibung der Gewittertheophanie hält Elihu inne, artikuliert mittels einer hyperbolischen Metapher sein eigenes Entsetzen173 und ruft die Schar der Weisen zum genauen Hören auf.174 Wie der Visionär Ezechiel erlebt Elihu das Nahen Gottes zuerst in sich175, nimmt zunächst die Erscheinung Gottes nur in sich wahr und muss daher Hiob, seine Freunde und das die Leser vertretende, schweigend anwesende Auditorium eindringlich zur Aufmerksamkeit ermahnen (šimʿû šāmô aʿ, vgl. 13,17; 21,2; Jes 55,2). Und ich sah, und siehe, es kam ein ungestümer Wind von Norden her, eine mächtige Wolke und loderndes Feuer, und Glanz war rings um sie her, und mitten im Feuer war es wie blinkendes Kupfer. (Ez 1,4 LB)
37,3–5 Elihus Wortwahl und die Metaphorik changieren eigentümlich zwischen der Beschreibung des Donners (qôl)176 und der Blitze (b erāqîm)177 als Naturphänomen, als Begleiter des epiphanen Gottes (vgl. Ex 19,16.18) und als Ausdruck der lehrhaften Unterweisung im Wort, das „aus dem Munde Gottes kommt“ (V. 2b, vgl. Dtn 8,3). Zum Ausdruck der Totalität und Universalität dieses Handelns Gottes, der in der Schlusszeile der Strophe ausdrücklich mit einer Gottesbezeichnung (ʾel) genannt wird (V. 5), stehen gemäß altorientalischer Vgl. Hi 38,1; 40,1,6; Jer 23,19; 30,23; Nah 1,3; Sir 43,17; Homer, Il. 16, 364–365. Siehe dazu Witte, Texte und Kontexte, 83–105; Jeremias, Zorn Gottes. 171 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 172 Vgl. Ex 20,5; 34,14; Dtn 4,24; 5,9; 6,15; Nah 1,2. 173 Vgl. Hi 4,13–14; Hab 3,2.16; zur Metaphorik siehe auch Watson, Poetry, 318. 174 Vgl. Hi 32,11–15; 34,2.4.10.34. 175 Vgl. Hi 32,18–20. 176 Vgl. Hi 40,9; Ps 29,3–9; 77,19; 104,7; Ex 9,8. 177 So gemäß der in der Übersetzung vorgenommenen Ergänzung (vgl. Hi 38,35; Jer 10,13/51,16; Ps 94,7; 135,7). 169 170
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Weltvorstellung die Wendungen „unter dem ganzen Himmel“ und „über/zu den (vier) Enden der Erde“178 und wird allein in V. 4–5 viermal der Begriff des Donners (qôl) gebraucht. Das ausbreitende Licht und das Gewitter erscheinen summarisch als göttliche Wunder (niplāʾôt)179, die den menschlichen Verstand übersteigen (V. 5, vgl. 36,26). Ein ähnliches Staunen ruft die göttliche Verfügung über den Schneefall 37,6–10 (šælæg V. 6, vgl. 38,22; Ps 147,16; Sir 43,17–18)180 und den Starkregen (gæšæm, māṭār, vgl. 38,37–38; Ps 135,7; Spr 25,23; Sach 10,1), der die wilden Tiere ihre Schlupfwinkel aufsuchen lässt (V. 8, vgl. 38,40), hervor. Auch wenn entsprechend der natürlichen Beobachtung die Kälte auf die Nordwinde (mezārîm, vgl. 1Hen 34; 76,10)181 zurückgeführt und die vom Frost zu Eis erstarrte Wasserfläche beschrieben werden (V. 9–10, vgl. 38,29–30; Ps 147,17; Sir 43,17.20), so erscheinen auch diese Naturphänomene, typisch für eine theozentrische Kosmologie, als Folge eines göttlichen Wirkens.182 Dabei verwendet der Dichter die Metaphern vom Wort Gottes (V. 6, vgl. Ps 147,15.17; Sir 43,16 [HM]; Jer 10,13) und vom göttlichen Atem (nešāmāh) Gottes (V. 10, vgl. 4,9; 32,8; 33,4)183 sowie die Personifikationen von Schnee und Regen (V. 6). Der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Beschreibung des Regengusses und des Sich-Versteckens der Tiere wird jetzt durch die textlich und motivisch unsichere Glosse in V. 7 unterbrochen. Folgt man dem MT ohne Änderung, dann erscheinen die Menschen als mittels eines Siegels gekennzeichnetes Eigentum, das Gott selbst so als sein Werk erkennt und anerkennt und über das er allein verfügt.184 Orientiert man sich hingegen an LXX, Vg und Tg, dann erkennen die Menschen aufgrund ihrer Signierung durch Gott dessen Werk (so Vg und Tg) bzw. ihre eigene Schwäche (so LXX).185 Offen bleibt in allen Lesarten, worin genau die in die Hand gedrückte Siegelung besteht. Ob an die individuellen Lebenslinien in der Hand gedacht ist? Zumeist wird dieser Vers jedoch im Sinne eines Versiegelns, d.h. Einschließens186 des Menschen angesichts der im winterlichen Syrien-Palästina ruhenden Landwirtschaft oder 178 Zum Ausdruck kanpôt hāʾāræṣ, der sich analog auch in akkad. Texten findet, vgl. Hi 38,13; Jes 11,12; 24,16; Ez 7,2 sowie das Synonym q eṣôt hāʾāræṣ in 28,24; Jes 40,28; 41,5.9; 43,6. 179 Vgl. Hi 5,9; 9,10; 37,14. 180 Vgl. die ausführliche Beschreibung des von Zeus gesandten Schnees bei Homer, Il. 12, 278–286. 181 So nach KAHAL; DCH s.v. mzrjm II; vgl. Hartley. Demgegenüber erwägt Ges18 für das hap. leg. die Bedeutung „die Zerstreuenden“ (d. h. die Wolken) als poetische Bezeichnung für Windströmungen oder ein Sternbild (vgl. mazzārôt, Hi 38,32). 182 Vgl. aus der Umwelt des AT z.B. den großen Šamaš-Hymnus 181 (TUAT.NF VII, 72) oder den äg. Hymnus an Amun-Re ÄHG 127A, 111–112 (vgl. den Hymnus an Ptah ÄHG 143, 101–102). 183 S.o. zu Hi 4,9 und zum Verständnis von nešāmāh als „Sprachgeist“ K. Koch, Spuren, 238–248. 184 In diesem Sinn ist dann auch der von Strauß, 319, zitierte Satz aus den äg. Gedichten auf Theben und seinen Gott (Hymnen an Amun und seine Stadt aus dem Pap. Leiden I 350) zu verstehen (ÄHG 132, 17–24). Vgl. zudem 2Kor 1,22; Eph 1,13; 4,30; 2Tim 2,19; Apk 7,3–4. 185 In der Gestalt der LXX hat der Vers (zusammen mit anderen Bibelzitaten) seinen Platz in der griech.-orthodoxen Liturgie bei einer Wiederverheiratung in einem Gebet nach dem Ringtausch (Constantelos, Holy Scriptures, 69). 186 Vgl. Hi 9,7; 14,17; 24,16; 33,16 MT und die Anm. zur Übersetzung.
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des Schützens vor dem Wetter verstanden.187 Der ursprüngliche traditions- und literaturgeschichtliche Ort dieser Randglosse ist schwer zu bestimmen.188 Im jetzigen Kontext bringt sie ausdrücklich das Handeln Gottes am Menschen ein, auf den im Rahmen dieser Kosmologie und Meteorologie sonst nicht unmittelbar eingegangen wird (vgl. 38,26). 37,11–13 Noch einmal kehrt Elihu zur Beschreibung der Wasser tragenden Wolken zurück,189 um sich dann dem Wesen und der Funktion des himmlischen Lichts zu widmen, das nach dem MT offenbar selbst als eine Art Lichtwolke verstanden wird (V. 11b).190 Auch hier lässt Elihu keinen Zweifel daran, dass es Gott selbst ist (hûʾ), der das Licht bewegt (V. 12a). Sollte die Lesart jamṣîʾ hûʾ in V. 13b zutreffen (vgl. mapgî aʿ in 36,32), stellt das auf Gott bezogene, betonte Personalpronomen hûʾ („er“)191 den wirkungsvollen Abschluss des gesamten Hymnus dar. Der Schwerpunkt der letzten Strophe dieses Abschnitts liegt ganz auf der Betonung der zielgerichteten Weltlenkung (taḥbulôt)192 Gottes, der die Natur, sei es den Regen, sei es die Sonne als Mittel seines Handelns gebraucht.193 So gipfelt der eigentliche Hymnus auf den Schöpfer, der sich hinsichtlich seiner Vorstellung von der providentia dei mit stoischen Gedanken trifft,194 in dem Dreiklang des Gebrauchs des Lichts zum „Stock“ (šebæt, vgl. 9,34; 21,9), d.h. zu Erziehung, zur Durchsetzung des Willens (v.l.),195 und zur Barmherzigkeit (ḥæsæd, V. 13). Mit dem letzten Begriff ist der Gegenpol zu Gottes Zorn (ʾap) als Chiffre für sein strafendes Handeln zum Abschluss des ersten Unterabschnitts des Schöpferhymnus eingeführt (36,33, vgl. Mi 7,18) und die folgende Anwendung der lehrhaften Ausführungen Gottes Gerechtigkeit und Schöpfertätigkeit auf Hiob vorbereitet.
187 Vgl. dazu mit unterschiedlichen Akzenten Wahl, Schöpfer, 122, und Strauß, 319. Lauber, Weisheit, 268 erwägt eine Deutung von „Schnee und Regen als „Gottes Siegelabdruck, sichtbares Zeichen seines Wirkens und seiner Autorität, durch das die Menschen sich als seine Schöpfung begreifen.“ Zur Problematik der Lesart in Hi 33,16b s.o. 188 Fd. Delitzsch, Hiob, 113, der zu den wenigen Auslegern zählt, die den sekundären Charakter von Hi 37,7 erkannt haben, mutmaßte für 37,7–8 (!) die Herkunft aus einer sonst nicht erhaltenen Schöpfungsmythe. 189 Vgl. 36,27–29; 37,16; 26,8; Sir 43,15. 190 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 191 Vgl. Hi 5,18; 9,22.24; 11,11; 23,13; 24,18; 28,3.24; 31,4; 34,29; 37,12.21 sowie zur Wortfolge „PK – Gottesbezeichnung“: Hi 5,17; 6,8; 31,6; 33,14. 192 Th transkribiert dieses Wort, während Aq; Sym und Vg den Bezug auf Gott erkannt haben. Sym bietet das passende Äquivalent κυβέρνησις („Steuerung/Steuerkunst“), vgl. Spr LXX 1,5; 11,14; 20,18 (24,6); SapSal 14,6. Im OG, in dem 37,11–12a fehlen, scheint das Wort in 37,10b (οἰακίζω) aufgenommen zu sein (vgl. Aq ἐν οἰακώσεσιν). 193 Vgl. 36,32; Ps 104,22–23; 1Hen 34,3; 59,1–3. 194 Vgl. Kleanthes, Zeus-Hymnus und Zenon (nach Diogenes Laertios 7, 147; SVF II.1021) sowie biblisch, wohl selbst unter stoischem Einfluss stehend, Sir 39,16–35; 42,22–25 (siehe dazu O. Kaiser, Die Rezeption der stoischen Providenz bei Ben Sira, in: Ders., Zwischen Athen und Jerusalem, 293–303). 195 Vgl. Ex 9,23; Dtn 11,17; 1Kön 8,35; Am 4,7–13.
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Abschließende Ermahnung und Belehrung Hiobs
37,14–22a
Erstmals in der Abschlussrede und letztmalig in der Gesamtkomposition der 37,14–18 Elihureden wird Hiob namentlich angeredet und zum genauen Hören aufgerufen (vgl. 33,1.31; 34,16). Die Aufforderung zum sorgfältigen Wahrnehmen ist durch den dreifachen Imperativ („Bekomme zu Ohren – steh auf – achte genau“) besonders eindringlich gestaltet (V. 14). Sie bezieht sich aber nicht nur auf die weisheitliche Belehrung durch Elihu (vgl. 33,1.31), sondern auch auf den von ihm proleptisch wahrgenommenen Donner, der Gottes Erscheinen zum Gericht ankündigt (vgl. 37,2). Mit dem Stichwort niplāʾôt („Wunder“) werden die zuvor beschriebenen kosmischen und metereologischen Phänomene zusammengefasst und als wunderbarer Hinweis auf Gottes Handeln gedeutet (vgl. 2Hen 54,1). Der Aufruf an Hiob, sich hinzustellen (ʿāmad), ist nicht nur ein rhetorisches Element der eindringlichen Anrede,196 sondern hat gerade vor dem Hintergrund des im Staub sitzenden Hiob (2,7–8) auch den Charakter einer Verheißung, nun stehend Gottes heilvolle Zuwendung (ḥæsæd, V. 13) zu empfangen. So nimmt Elihu auch hier den Wunsch Hiobs, vor Gott zu stehen und Gott zu nahen (30,20; 31,37), richtungsändernd auf und stilisiert sich selbst, wie schon in der Exposition, zum Hermeneuten des nahenden Gottes, wie es in der ntl. Überlieferung Jesus von Nazareth ist: 41 und er (d.h. Jesus) ergriff die Hand des Kindes und sagte zu ihm: Talita kum! – das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf! 42 Und sogleich stand das Mädchen auf und ging umher; es war aber zwölf Jahre alt. Und sie entsetzten sich sogleich sehr. (Mk 5,41–42).
Aus dem Stehen Hiobs kann dann mittels der Wahrnehmung der als Sinnzeichen gedeuteten Phänomene in der Natur ein echtes Verstehen und ein Lobpreis der Wunder Gottes folgen (vgl. LibAnt 51,6). Noch einmal bietet Elihu ein Stück Kosmologie und Meteorologie, doch nun nicht im Modus der hymnischen Beschreibung, sondern der eindringlichen, durch eine Anapher besonders betonten rhetorischen Frage an Hiob „weißt du?“ (V. 15–16), auf welche dieser nur mit „nein“ antworten kann (vgl. 38,33; 39,1). Die Art und Weise, wie Gott über die Wunder der Natur verfügt und das Licht seiner Wolke aufstrahlen lässt,197 wie er sich offenbart (V. 15), entzieht sich dem Wissen und der Erkenntnis des Menschen. Der begrenzten menschlichen Vernunft steht Gott als der mit vollkommenem Wissen (t emîm
Vgl. Hi 33,5; Dtn 5,31; 1Sam 9,27; Ez 2,1. In der LXX erscheint das Kolon in deutlicher Anlehnung an Gen 1,3 als ein Beleg für die Erschaffung des Lichts aus der Finsternis (s.o. zu Hi 28,3–5 sowie 2Kor 4,6; 1Petr 2,9). 196 197
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deʿîm) Ausgestattete, der Allwissende, gegenüber (V. 16, vgl. 36,4; 1Sam 2,3).198 So erscheint neben der Macht, Leben zu schaffen, und neben der Ewigkeit Gottes (36,26) die absolute Weisheit als weiteres Zeichen des kategorialen Unterschieds zwischen Gott und Mensch. Dies ist prinzipiell für Hiob nicht neu, zumal für den Hiob, der sich auf der literarischen Ebene, die redaktionsgeschichtlich nach der Einfügung der Elihureden anzusetzen ist, zu Gottes absoluter Weisheit bekennt (vgl. 9,4; 26,1–14; 21,22; 28,1–28). Aber Elihu will es Hiob nochmals einprägen, so dass dieser sich mit seinem Schicksal in dieses vollendete Wissen einfügen kann. Dass Elihu am Ende auf die Himmelsfeste (rāqî aʿ ) zu sprechen kommt und sich dabei des auch in Gen 1,6–8 verwendeten Bildes von Gott als einem Handwerker, der Metall zu einer dünnen Folie breit schlägt (rāqaʿ)199, bedient (V. 18), entspricht der Beschreibung des radikalen Unterschieds zwischen Gott und Mensch in seiner ersten und seiner dritten Rede (33,12; 35,5, vgl. 9,8, Jes 40,22). Zugleich kehrt Elihu mit dem Blick zum Himmel zum Ausgangspunkt der von ihm erwarteten Theophanie zurück (vgl. 36,29) und unterstreicht die Alleinverantwortlichkeit, damit aber auch die Fürsorge Gottes für alles Geschehen. Vermutlich hat erst ein Glossator in V. 17 den Gedanken des ungeheuren Abstandes zwischen Gott und Mensch noch verstärkt, indem er ausgehend vom Bild der schwebenden Wolken in V. 16 Hiob an die Hitze „aus dem Süden (mi-dārôm)“ erinnert. Damit könnte an einen heißen Südwind gedacht sein (vgl. Vg; Lk 12,55; 1Hen 76,7.13). Allerdings kommt in Israel/Palästina der gefährliche heiße Wüstenwind (qādîm, Scirocco, arab. el-ḫamsīn) aus dem Osten bzw. Südosten. Daher könnte auch einfach auf die Mittagshitze, wenn die Sonne am höchsten steht, angespielt sein (Sir 43,3–4). 37,19–22a Angesichts des umfassenden Wissens Gottes zerrinnt menschliche Weisheit. Aber auch angesichts der Freiheit Gottes, sich zu offenbaren und sich zu verhüllen, ist dem Menschen die Möglichkeit zur unmittelbaren Begegnung entzogen. So bestätigt Elihu die Erfahrung Hiobs, dass sein fortgesetztes Bemühen, Gott selbst seinen Fall vorzulegen (ʿārak, 13,18; 23,4), ins Leere läuft, weil Gott (hûʾ) sich verbirgt (V. 21, 23,8–9),200 und er widerspricht zugleich Hiobs kämpferischem Bekenntnis, auch angesichts göttlicher Finsternis nicht verstummen zu wollen (23,16–17). Für Elihu ist die einzige Form der angemessenen Kommunikation mit Gott weder das Bekenntnis eigener Unschuld noch das Streiten mit Gott (V. 20a, vgl. 9,35; 10,1; 13,3.22) noch die Klage (V. 20b, vgl. 10,8),
198 In einzelnen Schriften aus Qumran begegnet mehrfach die Anrede Gottes als „Gott des Wissens“ (ʾl hdʿwt), vgl. 1QHa IX,26(28); XX,10(12); 1QS III,15; 4Q418 frgm. 55,5. 199 Vgl. Ex 39,3; Num 17,4. Der Himmel wird dabei als eine undurchlässige Folie verstanden, die den kosmischen Ozean von der Erde trennt und in ihrer Festigkeit einem aus Bronze (?) gegossenen Spiegel gleicht; siehe dazu Houtman, Himmel, 227f, mit der Deutung von rāqî aʿ als „eine(r) feste(n) und starke(n) Plattform mit Tragkraft“, sowie C. Koch, Wohnstatt, 196–202. 200 Siehe die Anm. zur Übersetzung.
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sondern der Dank und das Gotteslob (33,26–27; 35,9–11; 36,19.24). Dabei schließt sich Elihu, wie sein Auditorium, in diese Begrenztheit menschlichen Redens zu Gott, wenn auch nicht über Gott, durchaus ein und sieht sich hinsichtlich des kategorialen Unterschieds von Gott und Mensch wie schon seiner ersten Rede grundsätzlich an der Seite Hiobs (vgl. 33,6). Hinsichtlich des Redens über Gott meint Elihu, zumal mit seiner letzten Rede, Hiob belehren zu können (36,2), hinsichtlich des Redens Gottes selbst sieht er sich – wie Hiob – von Finsternis umgeben (V. 19b, vgl. 23,13). Doch während sich zuletzt Hiob in seiner Verzweiflung auf den Weg zum Thron Gottes machen wollte – wenn das denn nur ginge – (23,3; 31,37), ahnt Elihu, dass Gott sich nun nahen wird. So schließt die hymnische Belehrung Hiobs und seiner Freunde mit dem tief in der altorientalischen und antiken Mythologie verankerten Bild des plötzlich aufreißenden Himmels und des sich vom Zaphon, dem syrisch-kanaanäischen Götterberg im Norden Israels,201 her ergießenden Goldglanzes (zāhāb), der die lichtvolle Ankunft Gottes markiert (V. 21–22a).202 Damit greift Elihu am Ende seiner langen, Hiob und die Freunde zurechtweisenden, mitunter selbstgefällig klingenden, theologisch aber tiefgründigen und fein nuancierten Ausführungen Hiobs Hoffnung auf eine Schau Gottes auf und verkündigt einen Advent (V. 22a, vgl. 35,14). Elihus letzte Worte Der hintere Rahmen der Rede (vgl. Sir 43,27–33) bietet in einer besonderen poetischen Verdichtung nochmals die Grundlinien der Theologie Elihus: Gott selbst in seiner furchtgebietenden Erhabenheit und Pracht (hôd)203 ist, wie es bereits Zophar angemerkt hatte (11,7), menschlicherseits nicht zu finden oder zu begreifen (māṣāʾ V. 23a versus 23,3). Gerade in seinem Erhabensein wahrt Gott wie auch in seiner Macht (koaḥ V. 23a, vgl. 36,5.22) das Recht (mišpāṭ) und die Gerechtigkeit (ṣ edāqāh V. 23b, vgl. Ps 111,2–4). Mit dem Wortpaar mišpāṭ und ṣ edāqāh unterstreicht Elihu eine wesentliche Position der Freundesreden (vgl. 8,3.6) und seiner eigenen Ausführungen (34,10–12; 36,3). Er bekennt sich zu einem Grundsatz altorientalischen Weltordnungsdenkens, dem zufolge der Schöpfergott in diese Welt Gerechtigkeit eingesenkt hat und die göttliche Herrschaft auf Recht und Gerechtigkeit basiert (vgl. Ps 89,15; 97,1–2).204 Er ver-
Siehe oben zu Hi 26,7 sowie Ez 1,4; Ps 48,3; Jes 14,13; siehe dazu Houtman, Himmel, 159; 217, der ṣāpôn hier (wie auch in Hi 26,7) als Himmel und zāhāb als das grelle Sonnenlicht bzw. „das Glänzen des sonnenüberfluteten Himmels“ deutet (a.a.O., 158), sowie Scriba, Geschichte, 39f. 202 Vgl. auch im Blick auf die Erscheinung Amuns den Hymnus an den Sonnengott ÄHG 99, 14–22. Eine Variante in TgHi sieht in dem „Licht“ in V. 21 wieder die Torah (vgl. Tg zu Hi 3,16– 17; 5,7; 22,22; 24,13; 30,4 [Tg2]; 36,33). 203 Vgl. Ps 8,2; 96,6; 104,1; 111,3; 145,5; 148,13; Hab 3,3; 4Q400 frgm. 2,3; 4Q510 frgm. 1,4. 204 Vgl. dazu die klassischen Darstellungen von H.H. Schmid, Gerechtigkeit, und Assmann, Gerechtigkeit, sowie den Überblick bei Witte, Gerechtigkeit, 37–67. 201
37,22b– 24
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weist Hiob in Auseinandersetzung mit dessen Abschlussbekenntnis in 27,2–6 nochmals darauf, dass Gott Hiob die ihm zukommende Gerechtigkeit letztlich schenken werde (33,23.26, vgl. Ps 37,5–7a). Gottes Machterweise in der Schöpfung und seine Gerechtigkeit sind für Elihu dann der Ausgangspunkt und die Basis, Gott zu fürchten (jārāʾ, V. 24a), auch wenn nicht alle Weisen in der Lage sind, wirklich zu sehen (rāʾāh, V. 24b).205 Dabei bleibt aufgrund des objektlosen Gebrauchs von rāʾāh in der Schwebe, ob sich die Sentenz, die an die Konklusio der Weisheitsrede Hiobs in 28,28 und an Pred 8,17 (12,13) erinnert und die daher gelegentlich als sekundär angesehen wird,206 auf ein Verstehen der Ausführungen Elihus zu Gottes Handeln bezieht oder ein wirkliches Sehen Gottes meint (vgl. 19,26–27; Ex 24,10; Ez 1,27–28). Im ersten Fall differenziert Elihu die „Gesamtheit der Weisen“ (kål-ḥakmê-leb, vgl. 34,2.10.34),207 vielleicht mit einem ironisch-negativen Unterton im Blick auf die, die sich selbst für weise halten (32,7–9; Jes 5,21; Jer 9,22–23),208 hinsichtlich der Gotteserkenntnis, im zweiten Fall hinsichtlich der Gottesschau. Gottes Werke mögen alle sehen (36,25), doch dies ist noch nicht alles. Bezogen auf Hiob, den exemplarisch Gottesfürchtigen (1,1.8; 2,3 vgl. Ps 111,10), beinhaltet Elihus Schlusssatz erstens die Erinnerung an die Grundlagen der Gottesfurcht (vgl. 4,6) und zweitens die Verheißung, als einzelner Weiser doch noch tiefere Einsicht zu erhalten, wenn Gott sich in seiner Freiheit offenbart (vgl. 34,29.32; 35,14b): Licht erstrahlt209 für den Gerechten und für die, die aufrichtigen Herzens sind, Freude. (Ps 97,11)
Damit hat Elihu argumentativ und doxologisch eine abschließende Stellungnahme Gottes selbst vorbereitet. Die Elihu in den Mund gelegte ausführliche Schilderung einer Theophanie erscheint als rhetorische Inszenierung der Rede Jhwhs aus dem Sturm (s eʿārāh, 38,1). Was der Verfasser der ursprünglichen Dichtung nur mit dem einen Wort s eʿārāh andeutete, führt der Elihudichter, ähnlich wie der Verfasser der himmlischen Vision Ezechiels (Ez 1,27–28) und alternativ zur szenischen Darstellung des deus ex machina auf der Bühne der klassischen Tragödie, dem Leser oder Hörer in einem langen Monolog vor Augen und Ohren. Je nach dem, wo man den Übergang von der Beschreibung des Handelns Gottes in der Schöpfung zur Darstellung der Theophanie ansetzt (in Hi 36,33; 37,1–2 oder in 37,3) und ob man die Glossen in 37,7 und 37,17 dazu zählt, schwankt der Umfang der Theophanieschilderung zwischen 25 und 20 Bikola. Nimmt man die (wieder) dem generellen Handeln Gottes in der Schöpfung gewidmeten Passagen in 37,6–18(20) von der eigentlichen TheoZur Auflösung des Wortspiels zwischen jrʾ und rʾh in der LXX siehe die Anm. zur Übersetzung So z.B. von Fohrer und Lauber, Weisheit, 178; 285. Zu diesem Ausdruck vgl. Ex 28,3; 31,6; 36,1.8; Spr 10,8; 11,29; 16,21. 208 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 209 Anstelle von zāruaʿ („ist gesät“) lies zāraḥ (vgl. HsR640 ; LXX; Syr; Tg; Vg). 205
206 207
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phanieschilderung aus, so beschränkt sich diese auf 9 bzw. 6 Bikola; allerdings sind die Schöpfungs- und Theophaniemotive so eng miteinander verschränkt, dass sich eine Abgrenzung zumindest auf 37,3–22a anbietet. Nach dieser Schilderung des Nahens Gottes ist klar, dass Gott selbst sprechen muss (vgl. Ex 24,16–25,1; Dtn 4,11–13). Diese Auslegung sollte gezeigt haben, dass die Elihureden gegenüber den Rückblick Reden der Freunde ein eigenes literarisches und theologisches Profil haben und einen substantiellen Beitrag zu den im Hiobbuch verhandelten Fragen nach der Gerechtigkeit Gottes und des Menschen leisten. Gleichwohl differiert die Interpretation der Figur Elihus und der von ihm gehaltenen Reden in der Forschung sehr stark. Das Urteil bewegt sich zwischen einer besonderen Wertschätzung Elihus als wahrhaft Weisem einerseits und einer Disqualifikation als aufgeblasenem Schwätzer andererseits.210 Diese sehr unterschiedliche Einschätzung findet sich schon in der ältesten Rezeptionsgeschichte. Im TestHiob (1./2. Jh. n. Chr.) erscheint Elihu als Werkzeug des Satans (vgl. TestHiob 41,5–6; 43,5– 13). Ausdrücklich spricht TestHiob 42,1–2 auch vom Zorn Gottes über Elihu: Als Elihu aufgehört hatte, sich so heftig zu äußern, erschien mir (d.h. Hiob) der Herr und sprach durch Sturm und Wolke. Und er zürnte dem Elihu. Mir (d.h. Hiob) zeigte er, dass kein Mensch in ihm sprach, sondern ein Tier.
Daher hat Elihu als der „allein Sündhafte ... kein Gedächtnis unter den Lebenden“ (TestHiob 43,5). In den verschiedenen kanonisch gewordenen Gestalten des Hiobbuches (MT; LXX; Syr; Vg) fehlt eine solche negative Stilisierung wie überhaupt eine Erwähnung Elihus nach Kap. 37. Demgegenüber geht beispielweise nach den mittelalterlichen jüdischen Gelehrten Ibn Esra (1140) und Maimonides (1138–1204) die eigentliche Lösung des Hiobproblems von Elihu aus. Auch im bab. Talmud erfährt Elihu eine Wertschätzung, wenn er zu den „Propheten der Völker/Heiden“ gezählt wird (bBB 15b). Eine inhaltliche Würdigung der Elihureden muss zwei Aspekte berücksichtigen: Zum einen die literarische und die redaktionsgeschichtliche Ebene des Hiobbuches. Der (literargeschichtlich den Elihureden vorausgehende) Epilog lässt den Zorn Gottes über Eliphas und seine zwei Freunde, womit nur Bildad und Zophar gemeint sein können, entbrennen, nicht aber über Elihu (Hi 42,7–8). Daraus lässt sich schließen, dass die für die ‚Endgestalt‘ des Buches verantwortlichen Redaktoren die Elihureden bzw. ihren Protagonisten nicht negativ deuteten. Diese Einschätzung gilt auch für diejenigen Redaktionen, die literargeschichtlich im Schatten der Elihureden und von diesen inspiriert Hiob die schöpfungs- und gerechtigkeitstheologischen Passagen in 9,2–14; 12,7–13,2; 26,1–14 und 27,11–12+28,1–28 in den Mund gelegt haben. Die Reden Elihus 210 Zu einer Palette von Deutungen siehe Wahl, Schöpfer, 1–35; Newsom, Hymn, 160–174; Clines, 708f; R. Andersen, Elihu, 75–77; zu den Unterschieden in der LXX s.o. S. 62f; 494f.
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wirken auf dieser redaktionsgeschichtlichen Stufe dann als Rückerinnerungen und Vertiefungen, wie sie umgekehrt im Blick auf die Gottesreden als Vorbereitung und als Vorschau, aber auch als eine leidenstheologische Ergänzung zu diesen erscheinen. Die Rolle Elihus entspricht in dieser Hinsicht der Mahnung aus Spr 9,9: Gib dem Weisen, und er wird noch weiser werden; schenke dem Gerechten Erkenntnis, und er wird Lehre vermehren.
Im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit der Torah, die das Hiobbuch in allen seinen literarischen Schichten spiegelt, konvergieren die Elihureden am stärksten mit Grundlinien der dtn.-dtr. Theologie. Die Kritik Elihus an der Selbstgerechtigkeit Hiobs (Hi 32,2) entspricht der spät-dtr. Vorstellung von Dtn 9,4–6, der zufolge Israel nicht aufgrund seiner eigenen Gerechtigkeit am Leben bleibt, sondern nur aufgrund der Gerechtigkeit Gottes. Auch die Vorstellung von Gott als Lehrer (Hi 36,22) ist in der Torah vorgeprägt (vgl. Dtn 6,1), ebenso der Gedanke der göttlichen Erziehung (Hi 33,16, vgl. Dtn 8,5; 11,2), der in jüdischen Schriften aus hellenistischer Zeit zu einer wichtigen theologische Deutungsfigur avanciert.211 Allerdings gehen auch die für die Elihureden zentralen Motive der besonderen Inspiration (Hi 32,8–10.18–22) und der über einen Fürspracheengel vermittelten Rechtfertigung des Menschen (33,23–25) über die Torah hinaus. In gewisser Weise erscheint Elihu, auch wenn er im Hiobbuch nicht den Titel eines Propheten trägt, als ein rechtmäßiger Nachfolger des Mose (Dtn 18,15–18). Zum anderen ist die hermeneutische Dimension der Elihureden zu bedenken: Hier stellt sich die Frage, wie die Vorstellung von der absoluten Gerechtigkeit Gottes212 mit der Komplexität der Gotteserfahrungen Hiobs zu vereinbaren ist. Gemäß den Reden Elihus ist Leiden kein gottleerer Raum und nicht sinnlos. Die Frage ist aber, ob sich diese Erkenntnis als gleichsam objektive Wahrheit, wenn auch unter Rückgriff auf eine doxologische Sprache, durch einen anderen Menschen vermitteln lässt, wie Elihu dies versucht, oder ob sich diese Erkenntnis nur subjektiv vom Leidenden selbst bekennen lässt.213
211 Vgl. 2Makk 7,33; Jdt 8,27; Sir 2,1–5; SapSal 3,5–6; PsSal 8,26; 10,2; 13,9–10; 14,1; siehe auch Seneca, prov. 4,7; 5,10; 6,1.6. 212 Hi 34,5–7; 37,23; 40,8; vgl. Dtn 32,4. 213 Zu dieser hermeneutischen Problematik der Elihureden siehe auch Newsom, Contest, 232f.
VI. Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden Keel, O.: Jahwes Entgegnung an Ijob. Eine Deutung von Ijob 38–41 vor dem Hintergrund der zeit- Literatur genössischen Bildkunst, FRLANT 121, Göttingen 1978. – Krüger, A.: Himmel – Erde – Unterwelt. Kosmologische Entwürfe in der poetischen Literatur Israels, in: B. Janowski/B. Ego (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altorientalischen Kontexte, FAT 32, Tübingen 2001 (Nachdr. 2004), 65–83. – Kang, C.-G.: Behemot und Leviathan. Studien zur Komposition und Theologie von Hiob 38,1–42,6, WMANT 149, Göttingen 2017. – Lévêque, J.: L’interprétation des discours de Yhwh (Job 38,1–42,6), in: W.A.M. Beuken (Hg.), The Book of Job, BEThL CXIV, Leuven 1994, 203–222. – Müller, H.-P.: Gottes Antwort an Ijob und das Recht religiöser Wahrheit, in: Ders., Mensch – Umwelt – Eigenwelt. Gesammelte Aufsätze zur Weisheit, Stuttgart 1992, 121–142. – Oeming, M.: Die Begegnung mit Gott, in: Ders./K. Schmid, Hiobs Weg. Stationen von Menschen im Leid, BThSt 45, Neukirchen-Vluyn 2001, 95–119. – Oorschot, J. van: Gott als Grenze. Eine literar- und redaktionsgeschichtliche Studie zu den Gottesreden des Hiobbuches, BZAW 170, Berlin/New York 1987. Spezielle Literatur zu einzelnen Abschnitten und Motiven der Gottesreden wird jeweils am entsprechenden Ort der Auslegung genannt.
Mit den Reden Gottes und den Abschlussworten Hiobs ist der dramaturgische und theologische Höhepunkt der Hiobdichtung erreicht. Hiobs Wunsch, Gott möge endlich zu ihm reden, wird erfüllt. Die von Elihu in seiner abschließenden Rede beschriebene Erscheinung Gottes wird in der knappen Wendung, Gott redete „aus dem Sturm“, auf den Punkt gebracht (38,1). Gott zeigt sich und erklärt Hiob, den Freunden und den stumm anwesenden Weisen die Welt. Fünf Überschriften gliedern den gesamten Komplex von 38,1–42,6 in zwei große Gottesreden (38,1–39,30 und 40,6–41,26), zwei Antworten Hiobs (40,3–5 und 42,1–6) sowie eine ganz kurze Gottesrede (40,1–2). Die beiden großen Gottesreden verfügen jeweils über eine kurze Exposition, in welcher der Mann (gæbær) Hiob, der sich als von Gott selbst eingezäunt erlebte (3,23), der auf die Rechtshilfe Gottes wartete (16,21) und der sich Gott wie ein Fürst nähern wollte (31,37), direkt angesprochen wird (38,2–3 und 40,7). Beide großen Gottesreden haben aber ihren je eigenen thematischen Schwerpunkt und ihre je eigene kompositionelle Struktur. So wird Hiob in der ersten Gottesrede in einem ersten Teil mittels einer langen Kette rhetorischer Fragen durch den gesamten Kosmos von der Erde über das Meer, die Tiefen unter dem Meer bis zum Himmel, durch Raum und Zeit geführt (38,4–40).1 In einem zweiten, ebenfalls stark durch rhetorische Fragen gegliederten Teil werden Hiob am Beispiel wilder Tiere zu Land und in der Luft die Grenzen menschlicher 1 Zu einer vergleichbaren Sequenz siehe die Fragen des Götterkönigs Marduks an den Gott Erra im bab. Epos Išum und Erra I, 149–164 (TUAT III, 788f), das in die Zeit zwischen dem 11. und 8. Jh. v.Chr. datiert wird. Weitere Beispiele aus der hebr. Bibel und der altorientalischen Literatur bietet Watson, Poetry, 338–343.
Aufbau und Sprachformen
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Möglichkeiten und die unendliche Kreativität Gottes vor Augen geführt, der in vielfältiger Weise belebt, begabt und versorgt (38,41–39,30). Beide Teile der ersten Gottesrede verbindet trotz ihrer unterschiedlichen Ausrichtung, 1) die Kosmologie einschließlich der Meteorologie und der mit dieser eng verbundenen Astronomie, 2) die Zoologie, 3) ein ähnliches Strophenmuster, bei dem überwiegend vier Bikola eine Strophe bilden, 4) die Sequenz von Fragen, die Hiob jeweils nur verneinen kann, und 5) das Thema „Zeit“. Beide Teile enden mit einem Ausblick auf Phänomene am Himmel, die Gott in Weisheit gestaltet (38,35–38 und 39,26–30). Insgesamt zielt die Beschreibung der Erschaffung und Einrichtung der belebten und unbelebten Welt samt ihrer Erhaltung durch Gott, der für alles die rechten Zeiten kennt, auf Hiobs Bestreitung von Gottes Schöpfermacht in dessen Eingangsklage. Dabei zeigen die Begriffe aus der Weisheit, die am Anfang, in der Mitte und am Ende sowie in einzelnen Fragen an Hiob verwendet werden, dass durch die erste Gottesrede, auch wenn sie die Frage nach dem Leiden Hiobs nicht ausdrücklich berührt und die Frage nach der Gerechtigkeit nur einmal kurz anklingen lässt (38,12–15), Hiob – und über ihn der Leser – zu einer spezifischen Erkenntnis geführt werden soll. Die nur ein Bikolon umfassende zweite Gottesrede (40,1–2) kann als Überleitung von der ersten großen Gottesrede zur zweiten großen Gottesrede verstanden werden. Sie knüpft begrifflich an Hiobs Herausforderung Gottes zum Rechtsstreit in 31,35–37 an, kennzeichnet Hiob ironisch als einen Kritiker Gottes und bereitet Hiobs erste Reaktion auf die Ausführungen Gottes vor: Angesichts der kosmischen Macht eines seit der Gründung der Erde über alle Zeiten des Lebens verfügenden Gottes bekennt Hiob seine Unfähigkeit, Gott eine Antwort geben zu können, und gelobt, künftig zu schweigen (40,3–5). Dennoch folgt eine weitere große Gottesrede. Nach einer Exposition, die mit der ersten Gottesrede fast identisch ist (40,7, vgl. 38,3), thematisiert sie zunächst, stark ironisch geprägt, die Frage göttlicher und menschlicher Macht zum Richten (40,8–14). Damit reagiert sie insbesondere auf Hiobs Klagen in Kap. 9–10; 13; 21 und 24,1–12. Sodann führt sie in zwei unterschiedlich langen Beschreibungen, zunächst des Behemot (40,15–24), sodann des Leviatan (40,25–41,26) Hiob erneut Gottes spielerisch leichte Schöpfermacht vor Augen. Bei der sprachlich besonders anspruchsvollen Beschreibung der beiden sehr großen und für den Menschen gefährlichen Tiere verschwimmen, stärker als bei den Tierminiaturen der ersten Gottesrede, zoologische, mythische und symbolische Aspekte. So sind der Behemot und der Leviatan einerseits sehr genau hinsichtlich einer natürlichen Lebensweise und eines natürlichen Lebensraumes im und am Wasser dargestellt, andererseits sind ihre Konnotationen als Verkörperung von (urzeitlichen) Chaoswesen deutlich, deren Bekämpfung im äg. Bereich Aufgabe einzelner Götter, zumeist des Horus, bzw. der Könige war. Aber auch hier finden sich – zumindest bis 41,6 – wie in der ersten Gottesrede rhetorische Fragen an Hiob, mitunter lässt sich auch eine ähnliche Strophik wie in Kap. 38–39 zeigen. Hingegen fehlt hier eine erkenntnisbezogene Begrifflichkeit. Wie die erste Gottesrede endet die zweite große Gottesrede unvermittelt mit der Beschreibung des Tieres, ohne Hiob
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direkt anzureden und ohne ausdrücklich vom Menschen und vom Leiden Hiobs gesprochen zu haben. Gleichwohl bekennt sich Hiob abschließend zur Allmacht Gottes und zur eigenen Geschöpflichkeit und bestätigt, nun Gott selbst gehört und sogar gesehen zu haben. An die Stelle des Schweigens (40,4–5) sind das Gotteslob (42,2–3), das Bekenntnis der wahren Gottesschau (42,5) und die Reue Hiobs (42,6)2 getreten. In jedem Fall haben die Gottesreden mit ihrer Mischung aus Kosmologie, Naturkunde, Mythologie, Theodizee und – im Fall der Beschreibung von Behemot und Leviatan – vielleicht auch Eschatologie Hiob zu einem vertieften Gottesverständnis sowie zu einer neuen Selbst- und Welterkenntnis geführt. Die das Buch durchziehenden Fragen nach dem Wesen und dem Ort Gottes und des Menschen in der Welt sind hier aufgenommen und einer vielfältigen Antwort zugeführt. Wie das gesamte Hiobbuch weisen die Gottesreden eine eigentümliche Mischung von Sprachformen, Motiven und Traditionen auf. Die Bestreitungen Hiobs, welche die Reden eröffnen, die rhetorischen Fragen und die auf Erkenntnis zielenden Begriffe stammen aus der Weisheit. Die in der 1. P. Sg. gehaltenen Beschreibungen der Erschaffung und Versorgung der Welt haben hymnischen Charakter. Juridische Begriffe und Motive spielen eine untergeordnete Rolle (vgl. 38,13.15; 40,2; 40,8.12–13), wenngleich sich der für altorientalische Weltvorstellungen konstitutive Zusammenhang von Schöpfung und Recht bzw. Gerechtigkeit durch den gesamten Komplex von Hi 38,1–42,6 zieht. Dass aus kompositionellen, theologischen und traditionsgeschichtlichen Grün- Text- und den zumindest eine Antwort Gottes ein wesentliches ursprüngliches Ele- Literarment der Hiobdichtung bildet, gehört zu einem weitgehenden Forschungs- geschichte konsens. Ältere Vorschläge, die Dichtung mit einem Unschuldsbekenntnis Hiobs (Hi 31*)3 oder nur einer kurzen Theophanienotiz4 enden zu lassen, haben sich nicht bewährt. Die gattungsgeschichtlichen, stilistischen und tendenziellen Unterschiede zwischen den im ,Endtext‘ als drei Gottesreden und zwei Hiobreden gestalteten Passagen deuten auf ein literarisches Wachstum von Hi 38,1–42,6 hin und sprechen gegen die vor allem im angelsächsischen Raum weit verbreitete Annahme der literarischen Einheitlichkeit.5 Matthias H. Stuhlmann (1804) und Georg Heinrich Bernstein (1813) hielten die ausführliche, sich von den zumeist auf eine Strophe beschränkten Tierbildern in Kap. 39 unterscheidende Beschreibung des Leviatan in 41,4–26 für sekundär, während Johann Gottfried Eichhorn (1824) und Heinrich Ewald (1828) die Ausführungen zum Behemot und Leviatan insgesamt (40,15–41,26) zu Zur Mehrdeutigkeit der in Hi 42,6 verwendeten Verben māʾas und niḥam s.u. die Auslegung. S.o. zu Hi 31,40. 4 Vgl. H. Schmidt, Hiob. Das Buch vom Sinn des Leidens, Tübingen 1927, 52; Kuhl, Literarkritik, 270f; Hesse, 11f; tendenziell auch noch Jeremias, Theophanie, 69. 5 Vgl. z.B. Gordis; Habel; Hartley; Clines, siehe aber auch Weiser; Terrien; Kubina, Gottesreden; Heckl, Hiob, 189–204; Kang, Behemot. 2
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einem Einschub erklärten.6 Die Reduktion auf eine ursprünglichen Gottesrede (38,1–40,14*) mit nur einer Antwort Hiobs (40,3–5; 42,2–6*) ist im Rahmen der literargeschichtlichen Untersuchungen seither am beliebtesten. Eine ausführliche Darstellung von literar- und redaktionsgeschichtlichen Modellen (bis zum Jahr 1986) bietet Jürgen van Oorschot.7 In den seither erschienenen Studien wird bezeichnenderweise zumeist die literarische Einheitlichkeit vertreten oder der Fokus nur auf den ,Endtext‘ gerichtet.8 Ausnahmen bilden: Mende (1990): ursprünglich nur eine Gottesrede, bestehend aus Hi 38,1.3–6.16–21.31–33.39–41*; 39,1.3–4.9.11–12.26–28 und einer Hiobantwort in 40,3–5, seitens der Elihuredaktion erweitert um 38,2.8–9.11–14.22–27.34–36; 39,5–8.13–24.29–30; 40,1–2; 42,3aβ.b–6, sodann fortgeschrieben um 40,6–8.12–15a.16–18.20–21.23–32; 41,1–3 sowie um 38,15.28–30.37–38; 39,10.25; 40,9– 11.19; 41,4–26 und glossiert in 38,7.10.41*; 39,2.40,15b.22; 42,3aα. Syring (2004): ursprünglich nur eine Gottesrede, bestehend aus Hi 38–39*, sekundär (seitens einer „anthropologischen Bearbeitung“) erweitert um 40,3–5 mit 42,2–6*, tertiär (seitens einer „theologischen Bearbeitung“) erweitert um 39,13–18; 40,1–2.6–41,26; 42,1. Wanke (2013): ursprünglich eine Gottesrede, bestehend aus Hi 38,2.39–41; 39,1–12.19–30; 40,2.7.8–14; sekundär erweitert um 38,1.2–38; 40,6.15–41,26; 40,3–5; 42,2; tertiär (seitens der „Elihu-Redaktion“) umgestaltet bzw. erweitert um 40,1.2.7–14 und 42,1.3–6. Vermeylen (2015): ursprünglich eine Gottesrede, bestehend aus Hi 38,(1).2–27.29–38 mit einer Hiobantwort, bestehend aus 40,(3).4–5, zunächst erweitert um 38,39–39,30, sodann fortgeschrieben um 40,1–2.6–42,6.
Der folgenden Auslegung liegt ein vierstufiges Entstehungsmodell zugrunde, dem zufolge nur die erste Gottesrede in 38,1–39,30 als ursprünglicher Schluss des Grundbestandes der Dichtung angesehen wird. Die Klage Hiobs, seine Frage nach dem Grund und Ziel des Leidens (vgl. 3,10.20 bzw. 21,7 und 24,1–12*) und die Klugheit seiner Freunde verstummten an der einen Rede Gottes, auf die es kein menschliches Erwidern gibt – nach dem Willen des ursprünglichen Dichters hat Gott das letzte Wort. Eine erste Fortschreibung bildet eine Hiobantwort, die ursprünglich aus 40,3–5, unmittelbar gefolgt von 42,2.3aβ.b.5–6, bestand und die sich aufgrund ihrer charakteristischen Kombination von hamartiologischen und anthropologischen Begriffen auf die Niedrigkeitsredaktion zurückführen lässt.9 Einer 6 Stuhlmann, Hiob, Teil 2, 129f; 135f; Bernstein, Alter, 135f; bzw. J.G. Eichhorn, Einleitung in das Alte Testament, Göttingen 41824, Bd. 5, 207–210 (mit gleichzeitiger Neuordnung des Textes: Hi 40,15–31; 41,4–26; 40,32–41,3; 42,1–6; 40,1–14) und H. Ewald, Bemerkungen 1) zu Hiob 40,15–41,26. und 2) über Ps. 14 in seinem Verhältnisse zu Ps. 53, ThStKr 2 (1829) 766– 775; ders., Ijob, 53–54; 311–343; vgl. dann auch – neben vielen anderen – Driver/Gray; Hölscher; Fohrer; Lévêque, Job, II, 499–508; van Oorschot, Gott, 83–91; 158–171; Dell, Job, 207 (40,6– 41,26); J. Gray (Behemot: 40,15–24.31–32; 41,2.1.3 [!]; Leviatan: 41,4–26. Hingegen sei die Beschreibung des Krokodils in 40,25–30 ein Teil der ursprünglichen Tierbilder in Kap. 39 und ursprünglich auf 39,30 gefolgt). 7 Van Oorschot, Gott, 231–259. 8 Exemplarisch dafür ist die Studie von Kang, Behemot. 9 Zur Kombination von Hi 40,3–5 mit 42,2–6* zu einer Hiobantwort siehe bereits Magnus (1851) sowie Duhm; Budde; Driver/Gray; Hölscher; Fohrer; de Wilde; Lévêque, Job, II, 505–508; van Oorschot, Gott, 174; J. Gray u.v.a.
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zweiten Fortschreibung, die möglicherweise auf die Elihuredaktion zurückgeht, ist die gesamte zweite große Gottesrede in 40,6–41,26 und damit verbunden die Aufteilung der einen Hiobantwort in zwei kurze Antworten (40,3–5) mit dann einem je eigenen Schwerpunkt zu verdanken (42,1.2–3aβ.b.5–6). Die dritte und jüngste Fortschreibung stellt die in der ursprünglichen griech. Übersetzung nicht vorhandene kurze Gottesrede in 40,1–2 dar. Von der dafür verantwortlichen Hand könnten auch die zitatähnlichen Stücke in 42,3aα.4 stammen. An der Nahtstelle von der ersten zur zweiten Gottesrede (40,1–6) zeigt sich die Redaktionsgeschichte der gesamten Hiobdichtung brennpunktartig. In der LXX weisen die Gottesreden neben punktuellen Differenzen in einzelnen Versen (vgl. 38,7.14.36; 39,3.13–18; 40,8.11.14; 40,19–20; 41,25) markante kompositionelle und theologische Unterschiede auf.10 Dadurch, dass im OG 40,1–2 fehlt, folgt die Reaktion Hiobs (40,3–5) unmittelbar auf die erste Gottesrede (38,1–39,30*) und besteht ein stärkeres strukturelles Gleichgewicht zwischen den beiden Gottesreden und den sich jeweils anschließenden Hiobreden. Gegenüber dem MT werden in der griech. Gestalt der Gottesreden die Alleinverantwortlichkeit Gottes für die Schöpfung noch stärker betont, zusätzliche anthropologische und kulttheologische Motive in die Kosmologie eingebettet und das Verhältnis zwischen Gott und Hiob deutlicher artikuliert. Der Vielfalt des grundsätzlichen literarischen und theologischen Verständnisses des Hiobbuches samt der in ihm verhandelten Fragen nach der Gerechtigkeit Gottes und der Pluralität der literar- und redaktionsgeschichtlichen Modelle zur Entstehung der Gottesreden entspricht die Diversität der Deutung von 38,1–41,26 bzw. von 38,1–42,6. Die Palette der Interpretation reicht von der Annahme, hier werde Naturkunde anstelle von Theologie geboten11 über die Deutung als einer ironischen oder skeptischen Absage an einen weltzugewandten persönlichen Gott12 bis hin zur These, hier werde in einer besonders tiefgründigen und theologisch weiterführenden Weise von Gott gesprochen.13 Die letztgenannte Position wird auch hier vertreten, und zwar für alle in Hi 38,1–42,6 ermittelten literarischen Schichten. Dabei ist in der ‚Endgestalt‘ des Buches das Bekenntnis Hiobs in 42,1–6 in die Deutung der Gottesreden einzubeziehen.
Siehe dazu Gorea, Job repensé, 195–217. So pointiert L. Steiger, Die Wirklichkeit Gottes in unserer Verkündigung, in: M. Honecker/ L. Steiger (Hg.), Festschrift H. Diehm, München 1965, 143–177, hier: 160. 12 Vgl. M. Tsevat, The Meaning of the Book of Job, HUCA 37 (1966) 73–106; Dell, Job, 215f; tendenziell auch Greenstein, 165f, wenn er die Gottesreden als Porträt eines gewalttätigen Gottes und einer unmoralischen Welt versteht. 13 Eine Kategorisierung von sechs bzw. acht verschiedenen Deutungen bietet Oeming, in: Ders./ Schmid, Hiobs Weg, 100–103, und in: Graupner/Oeming, Welt, 21–41, hier: 38–41. 10 11
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
Hi 38–39 Die erste große Rede Gottes HD 38,1 Und Jhwh antwortete Hiob aus1 dem Sturm2 und sagte: 2 Wer verfinstert da den Ratschluss mit Worten ohne Wissen? 3 Gürte doch deine Lenden wie ein Mann! Dann3 will ich dich fragen,4 und du lass (es) mich wissen5! 4 5 6 7
Wo warst du, als ich die Erde gründete? Verkünde es, wenn du wirklich Einsicht6 hast7. Wer legte ihre Maße fest? Du wirst es wohl wissen! Oder wer spannte über ihr die Messschnur aus? Worauf sind ihre Pfeiler gegründet, oder wer setzte ihren Eckstein, als die Morgensterne gemeinsam jubelten8 und alle Söhne Gottes9 jauchzten?
8 9
Wer10 umhegte das Meer mit Pforten, als es hervorquoll, aus dem Mutterleibe11 kam, als ich12 eine Wolke zu seinem Kleid bestimmte und das Wolkendunkel zu seinen Windeln
1 In sehr vielen Hss, u.a. im CodL und im CodA, wird min fälschlich mit einem Binnen-Nun geschrieben. Die Randmasora des CodL gibt als Qere richtig ein Schluss-Nun an. 2 LXX: „aus dem Sturm und den Wolken“. 3 Viele Hss; La; Vg; Syr lesen ohne Kopulas. BHK hält dies für ursprünglich. 4 Vgl. die Anm. zu Hi 13,13. 5 11QTgHi: „du gib mir eine Antwort“ (htjbnj ptgm, vgl. 11QTgHi zu 24,25 und zu 40,7); dabei sind in der Hs nach htjbnj ein Wort oder einige Buchstaben ausradiert (vgl. DJD XIII, 149). 6 11QTgHi: „Weisheit“ (ḥkmh). 7 Wörtl.: „weißt“ (vgl. Spr 4,1; 1Chr 12,33; 2Chr 2,11.12); jādaʿ „wissen“ ist ein Leitwort in Hi 38. 8 11QTgHi: „schienen“ (mzhr) – vgl. Dan 12,3; zu den Differenzen in der LXX („sie entstanden“) und Syr („er schuf“) siehe die Auslegung. 9 11QTgHi: „die Boten/Engel Gottes“ (mlʾkj ʾlhʾ, vgl. LXX; Syr; Tg). 10 Anstelle von wajjāsæk „und er umhegte“ lies mî sak (vgl. Vg). Die LXX bietet die 1. P. Sg. (vgl. V. 9), 11QTgHi die 2. P. Sg. (als rhetorische Frage und auf die Gegenwart bezogen, htswg „wirst/ kannst du einzäunen?“); beide antiken Übersetzungen weisen damit eine größere stilistisch-rhetorische Kohärenz auf als der MT (vgl. Hi 38,12.16–18.23.31–35.39; Gold, Understanding, 64). Fuchs, Mythos, 194 leitet jsk von nsk „ausgießen“ ab, versteht be wie im Ug. als „aus“ und übersetzt „Als das Meer aus den Toren (des Mutterleibes) “ (so auch Strauß). 11 11QTgHi liest rḥm thwmʾ „aus dem Leib der Urtiefe/Urflut“ (vgl. Sir 51,5 [HB]) und weist damit ein weniger mythisch geprägtes Bild als der MT auf. Gold, Understanding, 102–104 interpretiert den Zusatz von 11QTgHi genau umgekehrt. Tg (in der Mehrzahl der Hss) modifiziert zu einem reinen Vergleich. 12 11QTgHi bietet den Inf. cstr. ohne Personalsuffix (bšwjt), vgl. die Anm. zu V. 8 und zu V. 10–11.
Hi 38–39 Die erste große Rede Gottes
10 11
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und ich13 über ihm meine Grenze festlegte14 und ihm einen Riegel und Pforten setzte und ich sagte15: „Bis hierher sollst du kommen [und nicht weiter]16, und hier ende der Stolz17 deiner Wellen!“?
12 Befahlst du je in deinen Tagen dem Morgen, wiesest18 je der Morgenröte ihren Ort an, 13 damit sie die Enden der Erde ergreift und die Frevler19 von ihr abgeschüttelt werden, 14 sie sich verwandelt wie Siegelton und sich färbt20 wie ein Gewand 15 und entzogen wird den Frevlern21 ihr Licht und der hohe Arm zerbrochen wird? 16 17 18
Kamst du bis an die Quellen des Meeres, und durch die Tiefe der Tehom22 wandeltest du? Öffneten sich dir die Tore des Totenreichs, und die Tore des dunklen Schattens sahst23 du? Sahst du klar die Weiten der Erde24? Verkünde es, wenn du dies alles weißt!
13 11QTgHi: „wirst/kannst du setzen?“ (wtšwh); zu dem damit verbundenen inhaltlichen Unterschied vgl. Anm. 10 sowie Gold, Understanding, 64f. 14 Wörtl.: „ausbrach“, so nach šbr I. J. Gary und Clines vermuten nach arab. śabara ein šbr III „messen“ (vgl. DCH). Die häufig vorgenommene Änderung von ḥuqqî in ḥuqqô „seine Grenze“ (vgl. BHK), zumeist mit Berufung auf Spr 8,29, ist verfehlt (vgl. Vg [im Pl.]). Auch in Spr 8,29 bezieht sich das Suffix auf Gott, von dem hier in der 3. P. Sg. gesprochen wird (vgl. Spr 8,29b: pîw „seinen [d.h. Gottes] Befehl“). Die LXX und 11QTgHi (jeweils im Pl.) sowie Syr bieten kein entsprechendes Possessivpronomen bzw. Suffix. 15 11QTgHi: „und sagtest du?“ (wʾmrt). 16 Die Wendung w eloʾ tosîp schießt kolometrisch über und könnte sekundär sein, sofern man nicht das einleitende wāʾomar als Anakrusis betrachtet (Hartley). 17 Anstelle von jāšît bigʾôn „er/man widersteht dem Stolz“ lies jišbôt g eʾôn. Nach der LXX und Vg ist auch eine Änderung in jištabber „es werde zerbrochen“ zu erwägen (vgl. Lev 26,19; CTAT 50/5, 391f). 18 Wörtl.: „weißt“ (lies mit dem Qere jiddaʿtā haššaḥar), vgl. die Anm. zu V. 4. 19 Im MT ist der Buchstabe ʿAjin von den Masoreten ergänzt und als solcher hoch gestellt (,Ajinsuspensum‘). Im MT sind vier ‚aufgehängte Buchstaben‘ belegt (Hi 38,13.15; Ri 18,30; Ps 80,14; siehe dazu Tov, Text, 45f). Möglicherweise ist eine Form von rʿš „zittern/beben“ zu lesen. 20 Anstelle von jitjaṣṣebû „sie (die Frevler) stellen sich hin“ – dagegen rechnet CTAT 50/5, 393, mit einem Ausdruck wie „alles“ als implizitem Subjekt (so auch Weiser; Houtman, Himmel, 221) – lies tiṣṣābaʿ oder tiṣṣabbaʿ nach einer (allerdings erschlossenen) Wurzel ṣbʿ (vgl. Ges18; HAL; DCH). 21 Siehe die Anm. zu V. 13. 22 Siehe die Anm. zu Hi 28,14. 23 Zur Verwendung der PK (hier mit modalem Nebensinn) als Tempus der Vergangenheit vgl. Hi 33,8; 38,22 und dazu J/M § 113o; Bobzin, Tempora, 477. 24 ʾæræṣ könnte hier auch für die Unterwelt stehen (vgl. Hi 10,21; Sir 51,9 [HB]; Ps 22,30; 88,13; 107,18; Jes 38,10; Jon 2,7), vgl. Hartley; Clines.
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
19 20 21
Wo ist der Weg dorthin, wo das Licht wohnt,25 und die Finsternis – wo ist ihr Ort, dass du sie in ihr Gebiet holen könntest und dass du die Pfade zu ihrem Haus verstündest26? Du weißt es, denn damals wurdest du geboren, und gewaltig ist die Zahl deiner Tage!
22 23 24 25 26
Kamst du zu den Vorratskammern des Schnees, und die Vorratskammern des Hagels sahst27 du, die ich für die Zeit der Not aufspare, für den Tag des Krieges und der Schlacht? Wo ist der Weg dorthin, wo der Wind28 sich teilt, sich der Ostwind über die Erde ausbreitet29? Wer spaltete den Strömen30 eine Bahn31 und einen Weg den Gewitterwolken, um regnen zu lassen über dem Land, wo niemand ist,32 und über der Steppe, in der kein Mensch wohnt,
25 Zur Auflösung von V. 19aβ (und V. 24aβ) als Relativsatz siehe Brockelmann, Syntax § 148; Ges18 s.v. ʾê; anders Bobzin, Tempora, 478 („Auf welchem Weg pflegt das Licht zu wohnen?“). 26 Anstelle von tābîn wird häufig t ebîænnu/t ebîʾænnû „du könntest bringen“ gelesen (vgl. BHK; BHS). Der MT kann angesichts des Leitwortcharakters der Wurzel bjn beibehalten werden (vgl. LXX; Vg; [Syr]). 27 Siehe die Anm. zu V. 17. 28 Die masoret. Lesart ʾôr „Licht“ basiert wohl auf einer durch V. 19 bedingten Verschreibung. Der Parallelismus und der unmittelbare Kontext legen ein Wort wie rûaḥ „Wind“ nahe (vgl. LXX: „Frost/Reif“; Jes 40,7; Ps 103,16). Auch 11QTgHi, in dem V. 24a nur lückenhaft erhalten ist („Wie wird … herausgehen“), setzt gemäß der Fortsetzung in V. 24b offenbar ein Wort für „Wind“ voraus, vgl. die folgende Anm. Dass ʾôr hier (einmalig in der hebr. Bibel) die Bedeutung „Wind“ hat (so Gordis mit Hinweis auf griech. ἀήρ; vgl. auch Hartley), ist unwahrscheinlich, ebenso die Konjekturen ʾed „Nebel/Flut“ (vgl. Hi 36,27; Duhm) oder ʾûr „Feuer“ (J. Gray und Clines hier im Sinn von „Hitze“). 29 Vgl. die Anm. zu Hi 15,33. Anstelle von jāpeṣ könnte entweder jāpîṣ oder jāpûṣ gelesen werden (vgl. LXX; Syr). 11QTgHi bietet tšwb qdmwhj „wirst du/wird es wehen vor ihm“, wobei nšb als eine (freie) Übersetzung von pwṣ angesehen werden kann, während qdmwhj auf einer Verwechslung von hebr. qādîm mit der aram. Präp. qdm/qdmj basiert. DJD XXXIII, 153, bezieht qdmwhj auf Gott; vgl. dazu Gold, Understanding, 139. Die Wurzel pwṣ beinhaltet die Aspekte „ausstreuen/zerstreuen“ und „sich ergießen/überfließen“, so dass die Annahme von zwei Wurzeln, pwṣ I und pwṣ II, unnötig ist (DCH). Gleichwohl klingen hier beide Bedeutungen an (vgl. Noegel, Janus Parallelism, 124–126). 30 Gemeint sind Ströme des Regens; in diesem Sinn bieten 11QTgHi; LXX; Vg explizit „Regen“. Tg erweitert in einer Variante zu „Strömen der (Ur-)Tiefe“. 31 11QTgHi: „einen Zeitpunkt“ (zmn); im Hintergrund der Übersetzung von 11QTgHi könnten Stellen wie Hi 28,26; Dtn 11,14; 28,12 oder Jer 5,24 stehen (Gold, Understanding, 126–128). 32 Die Wendung lʾ-ʾjš hat in 11QTgHi kein Äquivalent und könnte, da sie kolometrisch überschießt, im MT sekundär sein.
Hi 38–39 Die erste große Rede Gottes
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um zu sättigen Wüsten33 und ödes Land und sprossen zu lassen das Aufgehen34 frischen Grüns?
28 29 30
Gibt es für den Regen einen Vater, oder wer zeugte die Tropfen35 des Taus? Aus wessen Schoß ging die Kälte hervor, und der Reif des Himmels – wer gebar ihn? Wie zu einem Stein verdichten36 sich dann die Wasser und zieht sich dann die Fläche der Tehom37 zusammen.
31 32 33 34
Kannst du die Bänder der Plejaden schnüren oder die Fesseln des Orion38 lösen? Kannst du die Gestirne herausführen und den Aldebaran39 samt seinen Kindern geleiten40? Kennst du die Gesetze des Himmels, oder kannst du seine Regeln41 auf der Erde einsetzen? Kannst du deine Stimme bis zum Gewölk erheben, so dass Wasserfluten sie42 bedecken?
35
Kannst du die Blitze senden, so dass sie fliegen und sie zu dir sagen: „Hier sind wir“?
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33 11QTgHi: „Dornen“ (šjtʾ); vgl. hebr. šajît (Jes 5,6; 7,23–25; 27,4); zum Hintergrund dieser interpretierenden Übersetzung siehe Gold, Understanding, 129–131. 34 Das Wort moṣāʾ wird häufig in miṣṣijjāh „aus trockenem (Land)“ oder in miṣṣameʾ „aus durstigem (Land)“ geändert (vgl. BHK), was aber angesichts der Wendung mṣʾ zrʿ/moṣāʾ zæraʿ „das Aufgehen der Saat“ in Sir 37,11 (HB/D) auch ursprünglich sein kann (vgl. 11QTgHi; Th; Sym; Vg; Tg; CTAT 50/5, 399). 35 Diese Bedeutung des im bibl. Hebr. (vgl. noch in 4Q286 frgm. 3,5) nur hier vorkommenden Wortes ʾegæl ist nicht ganz sicher. 11QTgHi bietet [ʿ]nnj „[W]olken“, die LXX βώλους „Klumpen“; möglicherweise sind auch Bassins oder Reservoirs gemeint (Houtman, Himmel, 256f; 291). 36 Wörtl.: „verstecken sich/halten sich versteckt“ (vgl. Grabbe, Philology, 118–120; Clines [mit der Diskussion unterschiedlicher philologischer Vorschläge, ohne Festlegung und der Übersetzung ad sensum]), d.h. das Wasser friert zu Eis. 11QTgHi: „sie wurden davon überzogen“ (htqrmw mnh). 37 Siehe die Anm. zu Hi 28,14. 38 11QTgHi: „Gigant/Riese“ (npjlʾ), vgl. Tg; Syr (gnbrʾ „Held“) als eine Bezeichnung für den Orion. 39 Vgl. Hi 9,9, dabei ist ʿajîš hier fem. konstruiert. 40 Das Suffix in tanḥem bezieht sich auf den „Aldebaran und seine Kinder“ und bleibt hier unübersetzt. Eine Änderung der Vokalisation in t enaḥem „kannst du sie trösten“ (vgl. BHK) ist nicht nötig, auch wenn 11QTgHi möglicherweise ein solches Verständnis nahelegt (tjʾš „kannst du aufgeben/kann sie aufgeben“). 41 Diese Bedeutung des hap. leg. mišṭār ist nicht gesichert, es könnte auch „Schrift“ bezeichnen (vgl. Fohrer; Hartley). Das Singularsuffix bezieht sich auf šāmājîm (vgl. G/K 145m; Clines); zu erwägen wäre, mit BHK mišṭ erê ʾāræṣ „Regeln der Erde“ oder mit J. Gray mišṭārîm bāʾāræṣ „Regeln auf der Erde“ zu lesen. 42 D.h.: die Erde (V. 33). Trotz der Parallele zu Hi 22,11 (vgl. CTAT 50/5, 400f) ist anstelle von t ekassækkā „sie (die Wasserfluten) dich bedecken“, wohl besser t ekassæhā bzw. t ekassænnā zu lesen (vgl. Hölscher bzw. J. Gray). Die LXX scheint taʿ anækkā „sie (die Wasserfluten) dir antworten“ vorauszusetzen, was BHK für ursprünglich hält (vgl. Clines).
600
Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
36 37 38
Wer legte in den Ibis43 Weisheit, oder wer gab dem Hahn44 Einsicht? Wer kann die Wolken in Weisheit zählen, und die Himmelskrüge – wer kann sie umlegen45, wenn sich der Staub zum Gusswerk ergießt46 und die Erdschollen dann aneinanderkleben?
39 40 41
Kannst du für die Löwin Beute jagen und die Gier der Junglöwen stillen, wenn sie sich auf den Lagern ducken, sich im Dickicht auf die Lauer legen? Wer kann dem Raben sein Fressen bereiten, wenn seine Jungen47 zu El um Hilfe rufen, wenn sie umherirren ohne Nahrung? 48
39,1 2
Kennst du die Zeit [des Gebärens]49 der Steinböcke, kannst du das Kreißen der Hirschkühe beobachten? Kannst du die50 Monde, die sie füllen, zählen, und weißt du die Zeit, da sie gebären?51
43 Die Deutung des nur hier und in Ps 51,8 vorkommenden Wortes ṭuḥôt ist umstritten. Weiser übersetzt mit „Wolken“ (abgeleitet von der Wurzel ṭwḥ „verputzen/überstreichen“: die Wolken als Größen, die den Himmel verputzen; vgl. Duhm: ṭiaḥ „Tünche“). Zur Wiedergabe mit „Ibis“ siehe ausführlich Keel, Entgegnung, 60, und Kang, Behemot, 96f. Seow, Hapax Legomena, 175–177, bestreitet diese Deutung, da Ḏḥwtj im Äg. stets den Gott Thot, nie aber den Ibis bezeichne, und hält mit Vg und Tg die Übersetzung „Eingeweide“ (ebenfalls nach der Wurzel ṭwḥ „Verborgenes“) als Sitz der Emotionen für am wahrscheinlichsten (vgl. DCH ṭuḥôt I). Halpern, Astronomies, 261, sieht in ṭuḥôt eine Bezeichnung für eine Gestirnskonstellation; zahlreiche weitere Vorschläge diskutiert Clines. 44 Die Bedeutung des hap. leg. śækwî „Hahn“ ist über das Mittelhebr. gesichert (vgl. Vg; Tg2; CTAT 50/5, 402f). Wegen des Kontextes übersetzt Weiser mit „Luftgebilde“ (vgl. DCH s.v. śækwî III), während Seow, Hapax Legomena, 175–177, auch hier einen Ausdruck für ein (inneres) Organ annimmt (vgl. Tg1 „Herz“) und Halpern, Astronomies, 261, an das Sternbild des Perseus denkt. 45 D.h.: die Krüge ausgießen. 46 D.h.: steinhart wird. 47 Das Qere, das gegenüber dem Ketib den Pl. bietet, wird von vielen Hss; LXX; Syr; Vg; Tg bestätigt. 48 Nach Watson, Poetry, 181, ist Hi 38,41 ein Beispiel für ein (ursprüngliches) Trikolon nach dem Muster A–B–B’. Aufgrund der Strophik ist es wahrscheinlicher, dass ein Kolon ausgefallen ist. 49 V. 1a ist kolometrisch zu lang. Entweder ist ʿt „Zeit“ als Dittographie aus hjdʿt zu streichen (vgl. BHS) oder ldt „des Gebärens“. Bei ersterem würde jaʿel „Steinbock“ hier einmalig auch das weibliche Tier bezeichnen, so dass es eher naheliegt, lædæt als sekundär anzusehen und ʿet als „Brunstzeit“ zu verstehen (vgl. BHK). 50 11QTgHi: „ihre“ (vgl. LXX). 51 Die Fragepartikel aus V. 1a (h ajādaʿtā) wirkt auch auf die Verben in V. 1b–2.
Hi 38–39 Die erste große Rede Gottes
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52 3 Sie knien nieder, bringen ihre Jungen zur Welt53, entledigen54 sich ihrer Wehen55. 4 Ihre Kinder gedeihen56, [wachsen heran]57 auf freiem Feld58. Sie ziehen aus und kehren nicht mehr zu ihnen zurück.59
5 6 7 8
Wer sandte den Wildesel in die Freiheit, und die Fesseln des Onagers – wer löste sie, für den ich die Steppe als sein Heim bestimmte und als sein Wohngebiet das Salzland? 60 Er verlacht das Lärmen61 der Stadt, den Schrei des Treibers62 hört er nicht. Er erkundet63 die Berge nach seinem Futter, und hinter jedem grünen Busch ist er her.
9
Wird der Wildstier freiwillig dein Diener sein, oder wird er an deinem Futtertrog nächtigen?
52 Die Imperfekte in V. 3–4a drücken Erfahrungstatsachen aus (vgl. G/K 107g). Bobzin, Tempora, 485f, löst V. 3–4 (unter Änderung der AK-Formen in V. 4b in PK-Formen) als von dem Wort ʿet „Zeit“ in V. 2b abhängige Relativsätze auf. 53 Wörtl.: „lassen (den Muttermund) durchbrechen“. 11QTgHi: „sie gebären ihre Jungen und geben sie frei“. 54 11QTgHi: „kannst/wirst du entlassen?“ (twšr); auch die LXX formuliert als Frage an Hiob. 55 Oder: „Föten“ (vgl. Clines; ähnlich J. Gray mit der Lesung ḥab elêhæn nach arab. ḥablu [vgl. BHK: ḥābāl]). Einige Hss bieten, anders als der CodL und der CodA, das grammatisch korrekte Suffix der 3. P. Pl. fem. ḥæblêhæn (vgl. G/K 135o). 56 11QTgHi: „lassen sie gedeihen“ (jqšn); auch Th versteht die Muttertiere als Subjekt (vgl. LXX.D gegen NETS). 57 jirbû (HsK76 bietet jelekû „sie gehen“, vgl. 11QTgHi, wie beim vorangehenden Verb mit den elterlichen Tieren als Subjekt: wjpq[]n „sie lassen ausziehen“) überfüllt den Vers kolometrisch und könnte sekundär sein. 58 Anstelle des hap. leg. bar lesen einige Hss das häufiger belegte Wort kar „Weide“ (vgl. Jes 30,23; Ps 65,14), gelegentlich ziehen es Ausleger zu V. 4b (vgl. Hölscher; Fohrer) oder lassen es ganz aus (vgl. 11QTgHi; Weiser; J. Gray). 59 Der Wechsel von PK in V. 3–4a zu AK ist auffällig (vgl. Bobzin, Tempora, 48); hiermit soll wohl die Gewissheit ausgedrückt werden. 60 Zum Gebrauch der Tempora vgl. V. 3–4a; die entsprechende Anm. 11QTgHi leitet den Vers mit Kopula ein („und/aber“) und verbindet beide Versteile mit einer Kopula. 61 Oder: „das Getümmel/die Menge“ (vgl. aber Hi 36,29). 11QTgHi (mhmʾ tqp qrjʾ) bietet wohl eine Doppelübersetzung von hāmôn, wenn tqp nicht mit qrjʾ zu binden ist („der Stärke einer Stadt/ der starken Stadt“; vgl. DJD XXIII, 157; Gold, Understanding, 86f). 62 11QTgHi: „des Herrschers“ (šljṭ); LXX: „Steuereintreiber“ (vgl. Anm. zu Hi 3,18). 63 Lies jātûr (von twr, vgl. 11QTgHi [wjbḥr]; Th; Vg) anstelle von j etûr, was auf ein nur hier im biblischen Hebr. belegtes Nomen im Sinn von „(Fels-)Vorsprung“ hindeuten würde (vgl. BHS; DCH s.v. jātûr).
602 10 11 12 MR
Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
Kannst du ihn64 in der Furche65 mit seinem Seil binden, oder wird er tiefe Täler pflügen hinter dir her? Kannst du auf ihn vertrauen, weil er große Kraft besitzt, und kannst du ihm deine Mühen überlassen? Kannst du ihm glauben, dass er zurückkehrt66 und deine Ernte auf67 deine Tenne sammelt? 13 14 15 16 17 18
Der Flügel der Straußin68 flattert fröhlich, ist es die Schwinge69 einer Störchin70 und (deren) Gefieder71? Wenn sie72 der Erde ihre Eier überlässt und (sie) auf dem Staube warm werden lässt, dann vergisst sie, dass sie ein Fuß zertreten kann und die Tiere des freien Feldes sie zermalmen können. Sie behandelt73 ihre Kinder hart, als wären sie nicht von ihr, als wäre ihre Mühe vergeblich, so unerschrocken. Denn Eloah ließ sie Weisheit vergessen und gab ihr keinen Anteil an Einsicht. Im Moment, da sie in die Höhe schnellt74, verlacht sie ein Pferd und seinen Reiter.
64 Der MT wiederholt aus V. 9 das Wort rêm „Wildstier“, nach Strauß, 340, bewusst, da „hier selbstverständlich vom Hausrind gedacht“ sei; besser ist es, das Verb mit einem Suffix zu versehen (h atiqš erænnû, vgl. LXX). Ob das Wort in 11QTgHi stand, ist angesichts der fragmentarischen Überlieferung des Verses nicht zu entscheiden (vgl. DJD XXIII, 155f; Shepherd, Targum, 162). 65 Die LXX und Syr bieten hier „Joch“. Dies würde auf die Lesart nîr führen, die – je nach Rekonstruktion –, durch 11QTgHi nrjh (so Sokoloff, Targum, 154; ATTM I, 295f; Shepherd, Targum, 45) oder ṣwrjh (DJD XXIII, 155f: „sein Seil“ [?]; Gold, Understanding, 159–162: „sein Hals“) bestätigt würde. J. Gray, 84f, hält dies für ursprünglich. Eine Fülle von Konjekturen diskutiert Clines. 66 Mit dem Ketib ist anstelle des Qere jāšîb „er bringt zurück“ (so aber Strauß) jāšûb zu lesen. Aus poetologischen Gründen ist der Atnach unter jāšûb zu setzen (vgl. BHK; BHS). 67 Anstelle von zarʿækā, w egårnekā „deine Saat, und deine Tenne“ lies w ezarʿ akā gårnekā (vgl. Fohrer; ähnlich BHK; BHS: gor enāh „auf die Tenne“). zæraʿ, eigentlich Saat, steht hier für den Ertrag der Saat. 68 Diese Deutung des von der Wurzel rnn „jubeln/gellen“ abgeleiteten hap. leg. r enānîm basiert auf La und Vg. 69 Wie r enānîm in V. 13 könnte ʾæbrāh eine Chiffre für einen Vogel sein. Möglicherweise ist aber einfach der st. cstr. zu lesen und mit dem folgenden Wort (ḥ asidāh) zu verbinden. 70 Oder: „Reiher“ (so nach Aq; La; Vg in neuerer Zeit Fohrer – dagegen Sym: „Schwan“). Hartley liest anstelle von ḥ asîdāh ḥ aserāh und bezieht das Kolon auf den Strauß („Do her pinions lack feathers?“). 71 Oder: „Falkin“ (so nach Aq und Vg in neuerer Zeit Strauß; J. Gray; Clines); Th transkribiert einfach νέσσα. 72 D.h.: die Straußin. 73 Subjekt ist weiterhin die Straußin, sei es, dass man wie die Mehrzahl der Hss hiqšî aḥ (als 3. P. Sg. m. oder als Inf. abs.) liest, sei es, dass man mit zwei Hss taqšî aḥ liest. Walker-Jones, Ostrich, 495, versteht qšh (Hif.) im Sinn von „hart machen“, siehe dazu die Auslegung. 74 So nach einer (allerdings nur hier) belegten Wurzel mrʾ II (vgl. Ges18; KAHAL; DCH), wenn nicht tārûm/tārîm „sie erhebt sich“ zu lesen ist (vgl. H.-P. Müller, Straußenperikope, 102; Strauß). Clines, der eine Reihe weiterer Konjekturen diskutiert, nimmt eine Wurzel mrʾ IV (vgl. DCH: „act the man“) an und paraphrasiert: „sie breitet die Flügel aus“. Walker-Jones, Ostrich, 496, vermutet im Anschluss an Habel eine Ableitung von mrh/mrj „rebellisch sein“ im Sinn von „aufsteigen“.
Hi 38–39 Die erste große Rede Gottes
19 20 21 22 23 24
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Kannst du dem Pferd Stärke geben, seinen Hals mit einer Mähne75 kleiden, Kannst du es springen lassen wie eine Heuschrecke?76 Die Hoheit seines Schnaubens (verbreitet) Schrecken.77 78 Es scharrt79 in der Ebene80 und jauchzt, mit Kraft81 zieht es dem Kampf entgegen. Es verlacht die Grube82 und erschrickt nicht und weicht nicht zurück vor dem Schwert. Um es herum klirrt83 der Köcher, die Speerspitze und das Krummschwert.84 Unter Dröhnen und Toben schluckt es den Boden und hält nicht still beim Klang des Horns.85
75 Diese Deutung des hap. leg. raʿmāh orientiert sich an dem arab. Wort riʿm (Ges18), ist aber nicht ganz sicher; zur Diskussion (auch der Abweichungen der Versionen) siehe CTAT 50/5, 414–416, sowie Noegel, Janus Parallelism, 128–130, der eine bewusste Doppeldeutigkeit in der Verwendung des Lexems raʿmāh („Donner/Schrecken“ [vgl. raʿam] und „Mähne“) annimmt. 76 11QTgHi: „kannst du es zittern lassen mit Stärke“ (htzjʿnh btqp). Auch die LXX unterscheidet sich in V. 20 stark vom MT: „Und hast du ihm die volle Rüstung umgelegt / und den Glanz seiner Brust mit Mut?“ 77 11QTgHi bietet die Variante „sein Fleisch (d.h. sein Körper, bsrwhj) verbreitet Angst und Schrecken“. Allerdings ist diese Auflösung des Wortes bsrwhj nicht sicher, da der Schreiber nach bs einen Buchstaben ausradiert hat. DJD XXIII, 159, erwägt als ursprüngliche Lesart bsḥrwhj (nach einer sonst nicht im Aram. belegten Wurzel sḥr „schnauben“, vgl. arab. šaḫara); ATTM I, 295f, korrigiert zu bnjrwhj „in seinen Nüstern“, was dem MT entspräche. Denkbar wäre auch eine Ableitung von bsr „ankündigen“ (Sokoloff, Targum, 155: „they announced to him“). 78 Zum Gebrauch der Tempora in V. 21–22 vgl. V. 3–4a und V. 7–8 sowie die entsprechende Anm. 79 Anstelle von jaḥp erû „sie scharren“ lies jaḥpôr (vgl. 11QTgHi; LXX; Syr; Vg). 80 Diese Wiedergabe von ʿemæq anstelle mit „Kraft“ (so unter der Annahme eines Wortes ʿemæq II; vgl. DCH; Noegel, Janus Parallelism, 126 [auch im Blick auf Hi 39,10] – zur kritischen Diskussion dieses Lexems siehe Grabbe, Philology, 124–126) wird auch durch die alten Übersetzungen (einschließlich 11QTgHi) nahegelegt. 11QTgHi bietet aber zusätzlich wjrwṭ „und es rennt“. 81 Gegen die masoret. Versteilung gehört b ekoaḥ kolometrisch in den zweiten Versteil (vgl. 11QTgHi; LXX; BHK; BHS). 82 Anstelle von paḥad „Furcht“ lies mit einigen Hss paḥat (vgl. Syr). 83 Die Ableitung von rnh als Nebenform von rnn ist unsicher; 11QTgHi bietet jtlh „hängt“. 84 11QTgHi: „eine Klinge und ein Speer und ein spitzes/scharfes Schwert“ (šnn wnzk wḥrp sjp). 85 Der Text von V. 24b ist problematisch. In 11QTgHi fehlt V. 24 vollständig. Der Abschluss mit kî qôl šôpār, wobei besser b eqôl oder leqôl zu lesen ist, erscheint als eine Dublette zum Beginn von V. 25 mit b edê šôpār. Passend, aber ohne Anhalt in der Textüberlieferung ist die tiefgreifende Konjektur von Duhm: w eloʾ jêmîn w eloʾ jaśmeʾîl „und es wendet sich nicht rechts und wendet sich nicht links“ (vgl. Gen 13,9; Jes 30,21).
HD
604 25
Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
So oft das Horn erschallt, sagt es „Ha!“, und von ferne wittert es die Schlacht, das Gebrüll der Vornehmen und Kriegsgeschrei,86 87
26 Wird sich nach deiner Einsicht der Falke aufschwingen, wird er seine Flügel zum Südwind88 hin ausbreiten? 27 Oder wird sich auf deinen Befehl der Geier in die Höhe heben und (ist es auf dein Geheiß), dass89 er sein Nest so hoch errichtet, 28 den Felsen bewohnt und nächtigt90, auf Felsenspitzen und einer Bergfeste91? 92 29 Von dort späht er nach Beute aus, in die Ferne blicken seine Augen, 30 und seine junge Brut93 schlürft94 Blut und bei Durchbohrten, da ist er95. Literatur Janowski, B. u.a. (Hg.): Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des alten Israel, Neukirchen-Vluyn 1993. – Ritter-Müller, P.: Kennst Du die Welt? – Gottes Antwort an Ijob. Eine sprachwissenschaftliche und exegetische Studie zur ersten Gottesrede Ijob 38 und 39, ATM 5, Münster 2000. – Schmitz-Kahmen, F.: Geschöpfe unter der Obhut des Menschen. Die Wertung der Tiere im Alten Testament, Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen 10, Neukirchen-Vluyn 1997. – Schneider, T.: Hiob 38 und die demotische Weisheit (Papyrus Insinger 24): ThZ 47 (1991), 108–124. – Witte, M.: Cosmos and Creation in Job 38 (Septuagint), in: M.W. Duggan u.a. (Hg.), Cosmos and Creation. Second Temple Perspectives, YDCL 2019, Berlin/Boston 2020, 55–76. Zu den einzelnen Tieren in Hi 38,41–39,30 sei insbesondere auf die einschlägigen Artikel von Peter Riede im wibilex verwiesen.
86 11QTgHi bietet zusätzlich jḥdh, was eine Doppelübersetzung von jʾmr (V. 25a) sein könnte: „und über das Klirren einer Waffe und den Schlachtruf freut es sich“ (wlnqšt zjn wzʿqt ʾštdwr jḥdh, zur Diskussion siehe DJD XXIII, 160; Sokoloff, Targum, 157). 87 Gemäß der Strophik wäre ein viertes Kolon zu erwarten. Dillmann vermutet eine Lücke zwischen V. 25aβ und 25b (so auch Kaiser), Hölscher zwischen V. 24b und 25a, Fohrer zwischen V. 25aα und V. 25aβ. Watson, Poetry, 183, führt diesen Vers als Beispiel für den Abschluss einer Strophe mit einem Trikolon an. 88 11QTgHi: „in die Winde“ (lrwḥjn), d.h. in alle Richtungen. 89 Die Lesart wekî ist grammatisch merkwürdig: Entweder ist ʿal-pîkā aus V. 27a mitzudenken oder kî als Fragepronomen aufzulösen. 11QTgHi (ʿwzʾ) und die LXX (γύψ) sehen in diesem Wort einen bisher im Hebr. nicht belegten Begriff für einen Geier (vgl. DCH s.v. kî II). In diesem Vers wären dann zwei Geierarten genannt (vgl. Grabbe, Philology, 126–128, und Keel, Entgegnung, 69, sowie P. Grelot, Note de Critique Textuelle sur Job XXXIX 27 VT 22 [1972] 487–489, und J. Gray [kîdôr „falcon“ nach syr. kudroʾ]). 90 Das Wort w ejitlonān könnte ursprünglich zu dem kolometrisch zu kurzen V. 27b gehört haben. 91 Das Wort meṣûdāh könnte ursprünglich zu V. 29 gehört haben, siehe die nächste Anm. 92 Da V. 29a kolometrisch zu kurz ist, ist zu erwägen, anstelle von miššām mimmeṣûdātô zu lesen. 93 Dem Sg. des Ketib steht der Pl. des Qere und vieler Hss (vgl. LXX; Vg; Syr; Tg) gegenüber. 94 Anstelle von j eʿalʿû (nach einer sonst nicht belegten Wurzel ʿlʿ) lies j elaʿleʿû (von lʿʿ II, vgl. Aq; Sym; Syr; Obadja 16). Dagegen stellt Grabbe, Philology, 128–130, ʿlʿ mit der Wurzel ʿll II „eintreten“ (vgl. Hi 16,15) im Sinn von „im Blut waten“ zusammen. 95 D.h.: der Geier.
Hi 38–39 Die erste große Rede Gottes
605
An eine aus zwei Bikola bestehende Eröffnung mit direkter Anrede Hiobs (38,2–3) schließt sich ein zweigliedriger Hauptteil (I: 38,4–38, II: 38,39–39,30) mit 18 Strophen, die jeweils drei oder vier Bikola umfassen (38,4–7|8–11|12– 15|16–18|19–21|22–24|25–27|28–30|31–34|35–38||39–41; 39,1–4|5–8|9–12|13– 18|19–22|23–25|26–30). In 39,13–18 bilden einmalig in der ersten Gottesrede sechs Bikola eine Strophe. Ein eigentlicher Schlussteil, in dem Hiob parallel zur Eröffnung nochmals angesprochen wird, fehlt - zumindest im heutigen Text. Die wichtigsten Sprachformen der ersten Gottesrede stammen aus dem Hymnus. Die hymnischen Elemente sind hier aber nicht mit einem Aufruf zum Gotteslob verbunden,96 sondern Teile einer doxologischen Selbstprädikation Gottes, wie sie innerhalb des AT häufig in deuterojesajanischen Texten begegnet.97 Allerdings fordern die in der 1. P. Sg. gefassten Doxologien indirekt zur Antwort im Modus des Lobpreises heraus, wie es die „Gottessöhne“ bei der Gründung der Erde prototypisch vorweggenommen haben (38,7) und wie es Hiob in seiner Schlussantwort realisiert (42,2). Daneben finden sich vor allem in der Exposition rhetorische Elemente, die in der weisheitlichen Bestreitung und Argumentation ihren Sitz im Leben haben. Ebenfalls aus weisheitlichem Hintergrund stammen die zahlreichen Begriffe aus dem Bereich der Erkenntnis sowie die ironischen und traditionellen Gattungen parodierenden Akzente, die sich in den teilweise mehrgliedrigen Ketten rhetorischer Fragen an Hiob zeigen.98 Insgesamt lässt sich die Rede daher als eine auf Überzeugung zielende weisheitliche Streitrede mit hymnischen Elementen bezeichnen. Hinsichtlich der Gegenüberstellung von begrenztem kosmologischem Wissen und der Berechtigung, mit Gott über die Weltordnung zu streiten, findet diese Form der weisheitlichen Argumentation eine Fortsetzung im Vierten Esrabuch (4Esr 4,5–11; 1. Jh. n.Chr.) und in der griech. Esra-Apokalypse (vgl. ApkEsr 2,32–4,4).99 Aufgrund ihres enzyklopädischen Charakters weist die erste Gottesrede eine gewisse formale Nähe zur vorderorientalischen ‚Listenweisheit‘ auf. In diesen Onomastika genannten Katalogen oder Listen, die vor allem für die sum., assyr., bab. und äg. Literatur,100 in kleinerem Maßstab aber auch für die aram. Literatur
Vgl. Ps 104; 136; 147; 148; Sir 42,15–43,33; DanLXX 3,52–90. Vgl. Jes 41,4; 42,8–9; 43,3.11–13; 44,6–8.24–28; 45,5–7; 48,12–16; 51,12–16; zum Fortleben dieser Sprachform in der frühchristlichen Literatur siehe z.B. SibOr 8,361–377. 98 Vgl. Hi 38,12.16–18.22.31–35.39; 39,1–2.9–12.19–20.26–27 (siehe dazu auch Watson, Poetry, 339). Auf die gattungsgeschichtliche Parallele zur Fragenkette in der äg. satirischen Streitschrift, die im Pap. Anastasi 1 (13. Jh. v.Chr., [Erman, Literatur, 270–294; ANET, 475–479]) erhalten ist, hat bereits G. von Rad aufmerksam gemacht (Hiob 38 und die altägyptische Weisheit [1955], in: Ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, ThB 8, München 1958, 262–271). 99 Die Herkunft und die Datierung der ApkEsr (JSHRZ V, 85–102; OTP I, 561–579) sind umstritten. Sie könnte auf jüdische Wurzeln zurückgehen, ist aber nur christlich tradiert. Die Datierungsvorschläge bewegen sich zwischen 150 und 850 n.Chr. 100 A. Cavigneaux, Art. „Lexikalische Listen“, RLA 6 (1984) 609–641; Fox, Onomastica, 302– 310 (mit gewissen Vorbehalten gegenüber einer Zusammenstellung von äg. Onomastica und biblischen Texten). 96 97
Aufbau und Sprachformen
606
Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
belegt sind,101 werden einzelne Erscheinungen aus dem Bereich der Fauna, der Flora, der Meteorologie oder der Geographie aneinandergereiht und aufgezählt (vgl. auch 4Esr 7,39–42). Mitunter sind solche Listen auch in andere literarische Werke eingearbeitet.102 Es bestehen aber auch deutliche Parallelen zur Zusammenstellung natürlicher und kosmologischer Phänomene in äg. Hymnen, vor allem in Hymnen an den Sonnengott, z.B. in den großen literarischen Amun-ReHymnen aus der Zeit vor Amarna (ÄHG 87) und im großen Hymnus des Echnaton (TUAT II, 848–853), in Hymnen an den Schöpfer- und Weltgott (ÄHG 129), aber auch im Schöpferlob des ptolemäerzeitlichen Pap. Insinger 31,23–24; 32,1–21 (TUAT III, 315f),103 im bab. Schöpfungsepos EnEl. (vor allem in den Tafeln IV, V und VII) und in dem bereits zu Hi 36,22–37,18(24) als Parallele genannten großen Šamaš-Hymnus,104 in der Theogonie und den Erga Hesiods (um 700 v.Chr.), bei griech. Logographen und den ionischen Naturphilosophen des 6./5. Jh. v.Chr.105 sowie in hellenistischen kosmologischen Lehrdichtungen. Hier sind besonders die Phainomena des Aratos von Soloi (ca. 310–245 v.Chr.) zu nennen, die eine ähnliche Gattungs-, Motiv- und Traditionsmischung wie die Hiobdichtung aufweisen. Dabei beschreibt Aratos ausführlich astronomische und meteorologische Konstellationen vor dem Hintergrund der stoisch interpretierten allumfassenden Weisheit und Fürsorge (πρόνοια) des Gottes Zeus. Wie der Dichter der ersten Gottesrede – und wie sein Zeitgenosse Kleanthes im Zeus-Hymnus – stellt Aratos einen engen Zusammenhang zwischen der Kosmologie und der Theodizee her,106 wenngleich bei ihm Zeus als Naturgesetz erscheint, während Jhwh in Hi 38–39 mehr als dieses ist. Hinsichtlich des Charakters der Selbstprädikation weisen die Gottesreden schließlich Überschneidungen mit dem Selbstlob des Prometheus in Aischylos’ gleichnamiger Tragödie (Prom. 442–469) und vor allem mit den aus hellenistischer Zeit stammenden Isis-Aretalogien und Isis-Hymnen auf.107 Im Unterschied zu den äg. Onomastika und den griech. kosmologischen Abhandlungen und Lehrdichtungen, aber auch zu den sehr differenzierten naturkundlichen und astrologischen Ausführungen im Ersten Henochbuch, die hinsichtlich ihres Wissens die am weitesten entwickelte frühjüdische Kosmologie bieten (vgl. besonders 1Hen 17–36; 72–82),108 ist die Rede über den Kosmos in Hi 38–39 keine selbstständige Größe, sondern steht ganz im 101 Vgl. z.B. die Liste von Vogelnamen in der Inschrift vom Tell Dēr ʿAllā KAI 312 I,8–9 (TUAT. NF VIII, 467f) und dazu Weigel, Achikar-Sprüche, 387–391. 102 Vgl. z.B. die kurzen Tierkataloge im Gilgm. VIII,i,16 und X,v,30 (TUAT III, 712, 726), die Reihung von Vogel, Gazelle und Wildesel im Hymnus an Ninurta als Helfer in der Not XI–XIII (21–26) (Mayer, Hymnus, 30) oder die Zusammenstellung ,kleiner Phänomene‘ in der Lehre des Pap. Insinger 24–25 (TUAT III, 307f); Spr 6,6–8LXX; 30,18–19.24–31. 103 Siehe dazu auch Stadler, Spätägyptische Hymnen, 149–159. 104 TUAT.NF VII, 66–72. 105 Vgl. dazu auch Fuchs, Mythos, 208; K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 145. 106 Vgl. den Exkurs zur Göttin Dike in Aratos, phain. 100–136; siehe aber auch Platon, Tim. 28c–29a. 107 TUAT.NF VII, 276–285. 108 Vgl. zudem 2Hen; syrBar; TestAbr; ApkAbr; ApkZeph; TestLevi 2–5.
Hi 38–39 Die erste große Rede Gottes
607
Dienst der Hiobdichtung. Im Gegensatz zu Hiob, der rhetorisch fragend an die Grenzen der Welterkenntnis geführt wird, wird Henoch von Engeln durch den Kosmos geleitet (vgl. besonders 1Hen 17–18). Hier zeigt sich der literarische Unterschied zwischen der Hiobdichtung und einer Apokalypse.109 Weisheit im Sinne eines kosmischen Wissens kennzeichnet beide. Die Auswahl der in Hi 38–39 genannten kosmischen und natürlichen Erscheinungen ist aber, auch wenn sie strukturell kosmologischen Vorstellungen und Weltbildern im Alten Orient und in der klassischen Antike entspricht, im Wesentlichen buchimmanent und theologisch bedingt. Charakteristisch für die hinter Hi 38–39 stehende Motiv- und Traditionsgeschichte ist die Kombination aus mythischen und naturkundlich-empirischen Motiven. In literaturgeschichtlicher Hinsicht stellt die erste Gottesrede eine Größe sui generis weisheitlicher Herkunft dar. Sie erfüllt innerhalb des Buches die Funktion, die im Dialog zwischen Hiob und seinen Freunden verhandelten Probleme der heilvollen Anwesenheit des Schöpfergottes, der Gerechtigkeit Gottes, des unschuldigen Leidens, des Verhältnisses von Macht und Ohnmacht Gottes und der unterschiedlichen Erfahrungen der Zeit zu lösen. Noch deutlicher als in anderen Buchteilen sind die Leser mittels der an Hiob gerichteten Fragen dazu herausgefordert, selbst Stellung zu beziehen und an einer solchen Lösung mitzuarbeiten. In 11QTgHi sind Äquivalente zu 38,3–13.23–33; 39,1–11.20–29 erhalten. Text- und Dabei scheint es 39,24 MT in 11QTgHi nie gegeben zu haben. Unterschiede Literargegenüber dem MT zeigen sich sowohl auf begrifflicher als auch auf stilistischer geschichte Ebene. Häufiger als im MT wird Hiob direkt in der 2. P. Sg. angesprochen und gefragt, ob er etwas getan habe oder gegenwärtig bzw. künftig tun könne, was nur Gott kann.110 In einzelnen Fällen geht 11QTgHi auch in der ersten Gottesrede mit der LXX gegen den MT.111 In LXXZi sind die Verse bzw. Versteile 38,26–27.32; 39,1a.3b–4.6b.8.13–18.28.29b asterisiert; sie stammen im ,kirchlichen Text‘ der LXX aus Th. Über den Zusatz „nachdem aber Elihu seine Rede (λέξις) beendet hatte“ ist die Gottesrede in LXX enger mit dem Kontext verbunden, als dies im MT der Fall ist (vgl. Hi 35,5; 37,21–22). Literargeschichtlich handelt es sich bei Hi 38–39 mit Ausnahme von 39,13– 18 um eine einheitliche Größe. Zwar werden gelegentlich auch die Verse 38,19– 20.28 als sekundär angesehen,112 doch fügen sich diese tendenziell und motivisch 109 Diesen Unterschied verwischt Johnson, Eye, 175; 178, wenn er das Hiobbuch gattungsmäßig als werdende Apokalypse bezeichnet; zu den grundsätzlichen Problemen dieser Studie s.o. S. 25. 110 Vgl. 11QTgHi zu Hi 38,8.10.11.24; 39,3. 111 Vgl. Hi 38,10; 39,3.21.27. 112 Vgl. van Oorschot, Gott, 175, 179. Mit einer umfassenderen Bearbeitung rechneten Hölscher (sekundär sind: Hi 38,13b.14b.15.19–20.28; 39,13–18), Fohrer (Hi 38,19–20.28; 39,15.17), und Kaiser (S. 127: Einschübe der Gerechtigkeitsbearbeitung: Hi 38,13b.14b.15.19–20.23.27–28; Einschub der Majestätsbearbeitung: Hi 39,13–18; Glossen: Hi 38,41b; 39,30; Buchredaktor: Hi 38,1) sowie Mende, Leiden; Wanke, Praesentia Dei, und Vermeylen, Métamorphoses; zu den drei zuletzt genannten s.o. S. 594.
608
Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
gut in den gesamten Duktus der ersten Gottesrede. Wiederholungen einzelner Wendungen (vgl. 38,19 versus 38,24) und eine Mischung von eher natürlicher und eher mythisch geprägter Beschreibung einzelner Phänomene (vgl. 38,25–27 versus 38,28) ist typisch für Hi 38–39.113 Die Fortführung eines Bikolons mit einem Relativsatz (38,23) muss kein Hinweis auf einen Zusatz sein (vgl. 39,5– 6). Dass hingegen die Strophe auf die ,Straußin‘ (39,13–18) vollständig sekundär ist, wird von weiten Teilen der älteren und neueren Forschung vertreten. 114 Die Besonderheit dieses Tierbildes, das in LXX fehlt, zeigt sich vor allem an drei Punkten: Erstens fällt 39,13–18 aus dem für die (erste) Gottesrede nachweisbaren Strophenmuster heraus. Zweitens fehlen die für die (erste) Gottesrede typischen direkten Anreden Hiobs bzw. Fragen an Hiob.115 Drittens führt sich nur hier in Kap. 38–39 Gott selbst mit der Bezeichnung ʾ ælô ah als Subjekt ein (39,17).116 In 38,41 und 40,9 begegnet die Gottesbezeichnung ʾel in präpositionalen Wendungen, in 40,2 finden sich die Bezeichnungen šaddaj und ʾ ælô ah als Genitive in einem sekundären Vers. Eine ähnliche Selbsteinführung Gottes erscheint aber innerhalb der ebenfalls sekundären Ausführungen Hiobs über die verborgene Weisheit in 28,28. Darüber hinaus weist die Passage 39,13– 18 eine überdurchschnittlich hohe Anzahl von Wörtern, die nur hier im Hiobbuch gebraucht werden, und von Stilmitteln (Alliterationen, Paronomasien, Homoioteleuta) auf. Eine Rückführung auf die Majestätsredaktion liegt nahe. Das unvermittelte Ende der Gottesrede mit den Ausführungen über den Falken und den Geier in 39,26–30 könnte eine Folge der (mehrstufigen) Fortschreibung in 40,1–41,26 sein. Umgekehrt scheint in der Schlussstrophe, die abweichend vom Grundschema der ersten Gottesrede fünf Bikola aufweist, eine Randglosse in den Text geraten zu sein oder die Abgrenzung der Verse nicht zu stimmen.117 Gleichwohl bildet die Strophe auf den Falken und Geier aufgrund der mit diesen beiden Vögeln verbundenen Symbolik sowie ihrer Thematisierung von Phänomenen am Himmel einen gelungenen Abschluss der Tierbilder in 38,39–39,30 wie der gesamten ersten Gottesrede.
Vgl. dazu auch Alonso Schökel, Manual, 14–18. Hingegen hält Fohrer nur V. 15 und V. 17 für Glossen, die zum Motiv der Schnelligkeit das der Dummheit nachtragen, während J. Gray vermutet, der originale V. 13 habe ursprünglich hinter V. 18 gestanden und sei sekundär um V. 14–17 erweitert worden. Zur Annahme, die Straußenperikope sei ursprünglich, siehe u.a. Weiser; Hartley; Clines. 115 Vgl. Hi 38,4; 38,8 (v.l.); 38,12; 38,16; 38,22; 38,31; 38,35; 38,39; 39,1; 39,5; 39,9; 39,19; 39,26. Selbst wenn man 39,13 als Doppelfrage versteht (H.-P. Müller, Straußenperikope, 100; Walker-Jones, Ostrich, 495), fehlt eine unmittelbare Applikation auf Hiob. 116 Keel, Entgegnung, 37f; 84, der die Straußenstrophe für ursprünglich hält, betrachtet daher V. 17 als Glosse (so auch Hartley und Schmidt-Kahmen, Geschöpfe Gottes, 56). 117 Siehe dazu unten die Auslegung. 113 114
Hi 38–39 Die erste große Rede Gottes
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Gott redet aus dem Sturm Erstmalig taucht in der Hiobdichtung – abgesehen von dem sekundären Vers 12,9 – der Eigenname des atl. Gottes auf. Allein schon mit der Verwendung des Tetragramms ist angedeutet, dass nun eine Lösung der in der Dichtung angelegten Probleme erfolgt. Im Gegensatz zu den Überschriften der Reden der Freunde wird die Antwort Jhwhs ausdrücklich als Antwort an Hiob gekennzeichnet (vgl. 32,1.5; 33,12). Mit der Wendung min hass eʿārāh („aus dem Sturm“) wird die Rede in eine Theophanie eingebettet (vgl. Jes 29,6; Ez 1,4; Homer, Il. 16, 364–365).118 Die LXX unterstreicht mit der „Doppelübersetzung“ („Sturm und Gewölk“) den Theophaniecharakter. Ebenso hält TestHiob 42,1 ausdrücklich fest, dass Gott Hiob erschien (ἀναφανείς μοι). In Umkehrung zur Entrückung Elias, den Jhwh im Sturmwind gen Himmel holt (vgl. 2Kön 2,1.11; Sir 48,9), entrückt sich Jhwh hier selbst und holt Hiob auf der Erde ein. Der Sturm kennzeichnet wie in Jer 23,18–20 (par. Jer 30,23, vgl. Sach 9,14) Jhwhs Erscheinen zum Gericht: 18 19 20
Denn wer hat im Rat (sôd, vgl. Hi 15,8; 29,4) Jhwhs gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte? Wer hat sein Wort vernommen und gehört? Siehe, es wird der Sturm (s eʿārāh)119 Jhwhs kommen voll Grimm und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen (r ešāʿîm, vgl. Hi 38,13.15) niedergehen. Jhwhs Zorn wird nicht nachlassen, bis er die Pläne (mezimmôt, vgl. Hi 42,2) seines Herzens getan und umgesetzt hat; in den letzten Tagen, da werdet ihr mit Einsicht (bînāh, vgl. Hi 38,4) einsichtig werden.
Zu der zitierten Stelle aus Jer 23,18–20 tritt der Prolog des Nahumbuches (Nah 1,3), der gleichfalls auf die besondere Funktion von Hi 38,1 verweist: Jhwh: Er ist geduldig (ʾæræk ʾappajim) und von großer Kraft, und niemanden erklärt er ganz für unschuldig (nāqāh Piel, vgl. Hi 9,28; 10,14). Jhwh: Im Wetter und im Sturm (ś eʿārāh, vgl. Hi 9,17) ist sein Weg, und Gewölk ist Staub unter seinen Füßen.
So gibt bereits die Überschrift der ersten Gottesrede den Interpretationsrahmen für alles Folgende an. Jhwh, den Hiob als einen Dämon erfährt, der im Sturm (ś eʿārāh) nach ihm schnappt und ihm grundlos (ḥinnām, vgl. 1,9; 2,3) Wunden schlägt (9,17), stellt sich im Sturm. Gott schweigt nicht (vgl. Ps 50,3), sondern redet tatsächlich (vgl. Hi 11,5–6) und antwortet Hiob (ʿānāh). Er bestätigt so dessen schöpfungsmäßigen Status als ein auf den Dialog mit Gott 118 Hierbei handelt es sich nicht um einen Zusatz, der die Gottesrede deutlicher an Kap. 37 anschließt (so Hölscher, 88), sondern um einen integralen Bestandteil der ursprünglichen Überschrift der Gottesrede. Zur Klassifikation von Hi 38,1 und 40,6 als Elemente einer Theophanieschilderung siehe auch Jeremias, Theophanie, 69; 162. 119 Vgl. Jes 28,2; Hos 10,15 (conj.).
38,1
610
Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
angelegtes und zur Reflexion befähigtes Wesen. Er sichert dem, der seine Existenz verfluchte, die auch durch das erfahrene Leid nicht aufgehobene Würde (kābôd, 19,9; 29,20) zu – damit verwirklichen sich die von Hiob in seinen Klagen ausgesprochene Hoffnung und die zuletzt von Elihu in Aussicht gestellte unmittelbare Gottesbegegnung.120 Die rabbinische Tradition bietet für diese Form der Theophanie die Erklärung: Rabba sagte: Hiob lästerte mit „Sturm“, und mit „Sturm“ erwiderte man ihm. (bBB 16a)
In der Offenbarung im Sturm stellt Gott sich selbst dar. Aber Hiob, der Gott zur Rede stellen wollte, erfährt sich seinerseits als der Gefragte und kann nur darauf hoffen, dass sich Gott entsprechend der im Prolog zum Nahumbuch in Teilen anklingenden Gnadenformel als „gnädig und barmherzig, geduldig und von großer Güte“ erweisen wird.121 Entgegen der zuweilen in der Forschung vertretenen Deutung der Gottesrede, dass es bei ihr nicht um den Inhalt, sondern um das Faktum gehe, dass also allein die Begegnung Hiobs mit Gott die Lösung bedeute,122 kommt es auch, und zwar ganz entscheidend, auf die Worte Gottes an. Wie im Sinaigeschehen (vgl. Ex 19–20; Dtn 4) das Auftreten Jhwhs und die Kundgabe des Dekalogs zusammengehören, so bilden auch hier die Offenbarung Jhwhs in Schau und Wort eine Einheit. Der Rückgriff Hiobs auf den Dekalog in seinem Unschuldsbekenntnis (Hi 31) lässt auch eine der Sinaioffenbarung entsprechende Mitteilung Gottes erwarten. In der LXX ist die Beziehung zwischen der Offenbarung Gottes vor Mose und vor Hiob noch deutlicher, insofern Gott hier „aus Sturm und Wolken“ redet, was sprachlich auf eine Doppelübersetzung von min hass eʿārāh zurückgeht, sachlich aber auf Ex 24,16 anspielt. So zeigt Hi 38,1 tatsächlich, wie die rabbinische Auslegung gemäß Anani Ben Lasson betont, „wie der unendliche Gott sich dem Menschen aus kleinstem Raume offenbart“.123 Im Hintergrund dieser Deutung dürfte die Zusammenstellung des Begriffs s eʿārāh mit dem Wort śaʿ arāh „Haar“ (Hi 4,15) stehen“ (vgl. bBB 16a; BerR IV zu Gen 1,6). Mit der Erscheinung im Sturm lässt Gott nun doch den Frommen seinen Gerichtstag sehen (Hi 24,1), er selbst wird Hiob lehren (vgl. 34,32). Aber welche Lehre, welche Torah, wird Jhwh Hiob geben? Und wird Hiob in diesem Gerichtssturm bestehen (vgl. Spr 10,25)? Vgl. 9,16; 23,3–17; 30,20; 31,35–37; 36,33; 37,21–24. Vgl. Ex 34,6–7; Num 14,18; Jo 2,13, Jon 4,2; Ps 86,15; 103,8; 145,8; Neh 9,17. Zu diesen expliziten Belegen für die „Gnadenformel“ kommen mehr als 20 Anspielungen, in denen einzelne Elemente aus ihr zitiert werden, sowie außerkanonische Belege hinzu (CD-A II,4; 1QHa VIII,24(34); 4Q511 frgm. 52, 54–55, 57–59,1 [Kol. III,1]); H. Spieckermann, „Barmherzig und gnädig ist der Herr ...“, ZAW 102 (1990) 1–18; M. Franz, Der barmherzige und gnädige Gott. Die Gnadenrede vom Sinai (Exodus 34,6–7) und ihre Parallelen im Alten Testament und seiner Umwelt, BWANT 160, Stuttgart u.a. 2003. 122 Vgl. Ruprecht, Nilpferd, 231; Hesse, 12. 123 Zitiert nach Wiernikowski, Hiob, 69. 120 121
Hi 38–39 Die erste große Rede Gottes
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Gottes Anrede und Verweis Hiobs
38,2–3
Gottes Rede beginnt mit einer Frage. Das eigentliche Objekt dieser Frage scheint 38,2 zunächst offen zu sein (Elihu, die Freunde, Hiob, die Leser). Dass sie sich primär an Hiob richtet, erhellt sich aus dem Kontext und dem Wortgebrauch.124 Der Mensch, der Gott unmittelbar begegnet, sieht sich in seiner Existenz von Gott in Frage gestellt (vgl. Gen 3,9; 4,9). Der Begriff ʿeṣāh („Rat“) gibt das Leitthema an. Wie Weisheit, Einsicht, Stärke und Klugheit ist ʿeṣāh ein grundlegendes Prädikat Gottes (vgl. Hi 12,13; Spr 19,21). Dieses Wort bezeichnet – vor allem in prophetischen Texten des AT – den geheimnisvollen Geschichtsplan Jhwhs (vgl. Jes 46,10).125 Ähnlich kann auch im äg. Gotteslob der Gott Ptah gepriesen werden als Der, der den Himmel schuf nach dem Plan seines Herzens und ihn hochhob mit Hilfe des Luftraums; der die Erde gründete mit seiner eigenen Schöpfung und sie umgibt als Urwasser und Großes Grün; der die Unterwelt schuf und die Leichname ruhen läßt …126
Der Plan Jhwhs schlägt sich sowohl im Lauf der Geschichte Israels als auch in der individuellen Biographie nieder (vgl. Ps 73,24; 1QS XI,18–22).127 Wenn aber hinter allem, was geschieht, Gottes Plan steht, dann hat alles auch einen von Gott gewirkten Sinn – auch der Lebensplan und das Leiden Hiobs. Wer dies bestreitet, der verfinstert (ḥāšak Hif.), wie der Dichter Jhwh in Rückgriff auf Hiobs Eingangsfluch (vgl. 3,4.9) sagen lässt, Gottes Plan und zeigt mangelndes Wissen (daʿat, vgl. Hi 34,35; 35,16). Letzteres ist auch stilistisch besonders durch die Paronomasie b emillîn belî hervorgehoben. Der Wunsch Hiobs nach Einsicht (23,5–6) wird transformiert. Das dem Menschen nach der aus weisheitlichem Milieu stammenden Paradieserzählung zugewiesene komplexe Wissen um „Gut und Böse“, um das, was dem Leben dient und was ihm schadet (Gen 3,22), wird hier auf die Probe gestellt. Die folgenden Verse konkretisieren dann durchgehend den Schöpfungs- und Geschichtsplan Gottes und weisen wahres Wissen und wahre Erkenntnis auf.
Dies wird auch in der Forschung fast einhellig so gesehen. Dagegen meint Johnson, Eye, 146–149, vor dem Hintergrund von TestHiob 42,1–2 und 43,5, wo Elihu als Gegenstand des Zorns Gottes und als der „allein Sündige“ bezeichnet wird, die ersten Worte der Gottesrede seien an Elihu gerichtet. 125 Vgl. zudem Jes 5,19; 19,17; 25,1; 28,29; 44,26; Jer 49,20; 50,45; Mi 4,12; Ps 33,11; 106,13; 107,11; 1QHa IX,7; 1QS I,13; XI,18; 4Q443 frgm. 2,5 (rekonstruiert). Zu ʿeṣāh im Sinn von Weltordnung siehe auch IPIAO III, 68. 126 Übersetzung von J. Assmann, ÄHG 199, 7–11. 127 Vgl. zudem 4Q511 frgm. 48, 49, 51 (Kol. II),1 und 1Q38 frgm. 8,1 (?). 124
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Im Gegensatz zum MT bietet die LXX eine Variation des Motivs von Gott, der in das Herz des Menschen sieht.128 Gott kennt demzufolge Hiob, so dass dieser nicht, wie er es im Verlauf des Dialogs mit seinen Freunden bis hin zu seinem großen Unschuldsbekenntnis in Kap. 31 immer eindringlicher artikulierte, seine Gerechtigkeit darlegen müsste (vgl. 23,10–12; 31,5–6). Die an diesen Auftakt anschließende Entfaltung der kosmischen Ordnung ist in der LXX – anders als im MT– weniger ein Nachweis der göttlichen Weltlenkung als eine kosmologische Begründung für Gottes Wissen um Hiob. Auf der Weltkenntnis Gottes basiert seine Menschenkenntnis. Der kosmologische Eigenwert von Hi 38 bleibt bei dieser anthropologischen Akzentverschiebung gegenüber dem MT aber gewahrt. 38,3 Bevor der Dichter Jhwh das Spektrum der Schöpfung beschreiben lässt, erfolgt noch ein zweiter ironischer Rückgriff Jhwhs auf Hiobs Gewissheit, Gott antworten zu können, in 13,22 und auf dessen Herausforderung Gottes zum Rechtsstreit in 31,35–37: Der, der Gott selbst wie ein Fürst (nāgîd) nahen wollte (31,37), soll sich jetzt wie ein Held (gæbær)129 zum Streit mit Gott rüsten (ʾāzar) und Gott belehren (jādaʿ Hif.). Bei aller Ironie, die dem kriegerisch geprägten Bild des umgürteten Helden anhaftet,130 ist zu beachten, dass Gott Hiob im Du anredet131 und er dem, der sein Leben verfluchte, wörtlich leicht gemacht hatte (qillel, 3,1), Gewicht, Würde (kābôd, vgl. 19,9) schenkt. Wie sich der Mensch in der Paradieserzählung (Gen 2,5–3,24) und in der mit dieser korrespondierenden Brudermorderzählung (Gen 4,1–16) unmittelbar von Gott angesprochen und damit aus seinem Versteck, so im Fall Adams (Gen 3,8–9), bzw. aus seiner schweigend vollzogenen Tat, so im Fall Kains (Gen 4,9), herausgerufen erlebt, so erfährt sich Hiob als unmittelbar angeredet und herausgefordert (vgl. Jer 1,17). Von ferne klingt in merkwürdiger Brechung der Jakobskampf am Jabbok an, in dem Jakob und Gott sich gegenseitig befragen und Jakob sich im Ringen mit Gott Segen erkämpft (Gen 32,25–32).132 Im TestHiob ist das Motiv des Sich-Gürtens dann breit entfaltet zur Vorstellung eines Wunder wirkenden Gürtels, dem Hiob seine Heilung verdankt und den er seinen Töchter vererbt. Kraft dieses Gürtels vermögen die Töchter in die himmlische Welt zu blicken (TestHiob 47–52).
128 Vgl. HiLXX 34,21.23–25; Ps 17[16],3; 26[25],2; Spr 24,12 LXX; Sir 39,19; 42,18; Jer 32(39),19; Hebr 4,13. 129 HsK147; Syr; TgHss verstärken die kriegerische Konnotation durch das eigentliche Wort für „Held“ gîbbôr; doch dürfte aufgrund der (indirekten) Bezeichnungen Hiobs als gæbær (vgl. 3,3.23; 16,21) das Wort gæbær ursprünglich sein. 130 Vgl. Ri 3,16; Ps 18,33.40; PsSal 17,22; LibAnt 31,1; (51,6) bzw. Ps 65,7; 93,1. Zum Gürtel als Teil königlicher Insignien vgl. Hi 12,18 sowie Fuchs, Mythos, 191. 131 Stilistisch hervorgehoben durch das mittels des Suffixes der 2. P. Sg. gebildete Homoioteleuton ḥ alāṣ kā w eʾæšʾālekā. 132 Zum Bild Hiobs, der mit dem Satan ringt, vgl. TestHiob 27. Zur nachbiblischen Tradition von Hiob als Athlet und Ringer siehe M. Poliakoff, Jacob, Job and Other Wrestlers, Journal of Sport History 11 (1984) 48–65.
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Die folgende Rede Gottes ist keine Rede über, sondern zu Hiob. Auch aus diesem Grund kommt Hiob in der Rede selbst nicht als Thema vor. Vor ihm wird vielmehr der gesamte Kosmos ausgebreitet mit dem Ziel, Gott als absoluten Herrn anzuerkennen und sich selbst in diesen einzufinden. Dementsprechend kann auch die Antwort auf die Fragen, wer im Kosmos schöpferisch und handelnd tätig ist, nur „Gott allein“ lauten.133 Die Argumentation folgt dem Modell des Schlusses a maiore ad minus, das auch das Motiv der kreatürlichen Unwürdigkeit des Menschen kennzeichnet (4,17–21; 15,14–16; 25,4–6). Aus Gottes kosmischer Macht soll Hiob – und über diesen der Leser – nicht nur den grundlegenden Unterschied zwischen Mensch und Gott erkennen, sondern auch schließen, dass das Leben des Menschen nicht ziellos, mithin sinnlos verläuft, sondern in der Hand eines für seine Schöpfung – und damit auch für Hiob – sorgenden Gottes geborgen ist (Ps 136,25). In dieser Hinsicht berührt sich Hi 38–39 eng mit dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht in Gen 1,1–2,3 (vgl. Jub 2,1–17), mit der apologetisch und paränetisch ausgerichteten Schöpfungstheologie Deuterojesajas, mit einzelnen Psalmen,134 mit den umfangreichen Schöpferhymnen in Sir 39,12–35 (G/HB) und 42,15–43,33 und mit der Gegenüberstellung von göttlicher Macht und menschlicher Ohnmacht in weisheitlichen Reflexionen (Sir 17,27–18,14 [G]).135 Die entscheidenden sachlichen Unterschiede zwischen diesen Texten und der ersten Gottesrede bestehen in der Verbindung des Schöpferlobs mit den Anfragen Hiobs (vgl. Spr 30,1–9). Wie bereits die Häufung von Begriffen aus dem Bereich der sinnlichen und intellektuellen Wahrnehmung zeigen (vgl. daʿat „Erkenntnis/Wissen“ in V. 2, jādaʿ „erkennen/vertraut sein mit etwas/wissen“ in V. 3–5, bînāh „Einsicht/ Verstehen/Klugheit“ in V. 4), zielt die Gottesrede auf Erkenntnis, auf Selbsterkenntnis mittels Welt- und Gotteserkenntnis und auf die Anerkennung Gottes. Gottes Fragen an Hiob zu Himmel und Erde Die Konkretion des Wirkens von Gottes geheimnisvollem Weltplan umfasst den gesamten Kosmos – mit der entscheidenden Ausnahme des Menschen und einer Aufnahme der zuletzt von Hiob in seinem großen Unschuldsbekenntnis ins Spiel gebrachten Torah. In einer sich über acht Strophen erstreckenden Fragenkette an Hiob entfaltet Jhwh sein Wirken erstens bei der Erschaffung der Erde (38,4–7) und der urzeitlichen Eindämmung des irdischen und himmlischen Ozeans (38,8–11) und zweitens bei der Erhaltung der Schöpfungsordnung. Letzteres verdeutlicht der Dichter am Phänomen der zeitlichen und räumlichen Vgl. Hi 38,5–6.8(v.l.).25.36–37.41; 39,5; Jes 40,12; Spr 30,4. In Hi 38,28–29 liegt der Fall etwas anders: Hier lautet die Antwort „niemand“, s.u. Zu dieser Diskussion siehe auch Houtman, Himmel, 305f. 134 Ps 104; 136; 147; 148; 4Q381 frgm. 1; 15. 135 Zu entsprechenden Parallelen aus der Umwelt des AT s.o. die Einleitung zu den Gottesreden (S. 605f). 133
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Grenzen des Komsos, d.h. am Beispiel der Morgenröte (38,12–15), der Enden des dreistöckig vorgestellten Weltgebäudes (38,16–21), der meteorologischen Erscheinungen wie Schnee, Blitz und Regen (38,22–30), der Gestirne (38,31– 34) und besonderer Wetterzeiten (38,35–38). So werden die kosmologischen Ausführungen von der Erwähnung der wesentlichen kosmischen Eckpunkte, der Erde (V. 4–6) und des Himmels (V. 37–38), gerahmt. Die Reihenfolge „Erde – Himmel“ entspricht der Sequenz im redaktionellen Übergang vom priesterschriftlichen zum sogenannten jahwistischen Schöpfungsbericht in Gen 2,4b136 und den auf seine irdische Existenz bezogenen Fragen Hiobs ab Kap. 3. Vom Menschen ist im gesamten ersten Teil der Gottesrede namentlich nur in zwei appositionellen Negationen in 38,26 die Rede: Gott lässt es auch über Gebiete regnen, in denen sich kein Mensch aufhält. Damit widerspricht der erste Abschnitt der Gottesrede einer anthropozentrischen Weltsicht, wie sie sich in den beiden Schöpfungsberichten in Gen 1–3 oder in Ps 8 niedergeschlagen hat. Die Welt ist größer als der Mensch und komplexer, als er es zu erfassen vermag, dieser gehört aber fest zu ihr. 38,4–7 In der Frage nach der Anwesenheit Hiobs bei der Gründung der Erde durch Gott klingt die Frage „Wo bist du Adam“ aus Gen 3,9 an.137 Mit diesen beiden Worten ʾêpoh hājîtā („wo warst du?“) ist Hiob – und dem Leser – die Aufgabe gestellt, den eigenen Standort in der Welt zu bestimmen: Kosmologie zielt auf Orientierung in Raum und Zeit (vgl. 28,12.20.23). So muss Hiob sein Schicksal selbst einzeichnen in sein Bild von Gott, von der Welt und vom Menschen. Die Frage „Wo warst du“ ist das Gegenüber zum Namen Hiobs „Wo ist der (göttliche) Vater“, sie ist zugleich die Frage „Wo bist du“ und „Wo wirst du sein“. Gottes Frage zielt auf den Ort der Existenz, auf die Stellung des Geschöpfs vor ihm. Weder die Erfahrung der Freunde noch die von ihnen beschworene Tradition noch die von Hiob letztlich in Anschlag gebrachte Torah konnten bisher eine Antwort geben. Diese muss sich Hiob – und mit diesem der Leser – selbst geben. Der Gottesrede kommt dabei, wie der kosmologischen Fragenkette in Jes 40,12–14, eine mäeutische Funktion zu. Die in V. 4 gestellte Frage spielt gleich zu Beginn der kosmologischen Ausführungen das Phänomen der Zeit ein. Damit korreliert am Ende das „Zählen der Wolken“ als ein kosmologischmetaphorischer Ausdruck für die göttliche Macht über die meteorologischen Zeiten (V. 37). Eine solche Thematisierung der Zeit entspricht altorientalischen und antiken Schöpfungsvorstellungen, denen zufolge die Einrichtung der Zeit und ihre Gliederung in Tage, Monate, Jahre und besondere astrale Zeiten ein wesentliches Merkmal der Schöpfung und der Tätigkeit des Schöpfergottes darstellt.138 Sie rekurriert aber auch auf Hiobs Klagen über sein Leiden in der Zeit
Vgl. Gen 14,19.22; Ps 50,4; 57,12 (Houtman, Himmel, 49–58; A. Krüger, Himmel, 66). Vgl. dazu auch die Auslegung von Hi 1,7. Vgl. Gen 1,1–2,3; Sir 33,7–9; 42,18–19; aus der Umwelt vgl. z.B. EnEl. V,1–46 (TUAT.NF VIII, 112f); Platon, Tim. 37d–40c, oder den Schöpfungsmythos am Tempel von Esna aus der äg. Spätzeit VII (206,3) (TUAT III, 1080). 136 137 138
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und auf dessen vergeblichen Wunsch der Umkehrung der Zeiten, mit dem die Dichtung eröffnet wird (Hi 3). Die Erschaffung der Erde selbst wird in Bildern aus dem Bauwesen beschrieben. Gott erscheint als weiser Bauherr und Architekt (vgl. Ps 24,2; 102,26; 104,5.8; Spr 3,19).139 Er selbst hat den Grundriss der als großes Haus vorgestellten Erde ausgemessen140 und ihren Eckstein als den besonders wichtigen Ausgangspunkt141 eines Bauwerkes, z.B. eines Tempels, gelegt. Wie aus Ps 24,1 und 89,12 deutlich wird, beinhaltet die Gründung das Eigentumsrecht. Jhwh allein hat die Erde gegründet und ist dementsprechend Besitzer all dessen, was sie füllt und auf ihr lebt. Mit der Anspielung auf das Schöpferlob durch die Morgensterne und die b enê ʾ ælohîm, die „Söhne Gottes“ (V. 7, vgl. Jub 2,2–3; Ps 29,1–2; 89,6)142 greift die Gottesrede auf den Eingangsfluch Hiobs zurück, der gerade die Verfinsterung dieser Sterne über seinen Geburtstag herbeigewünscht hatte (3,9). Die Stellung Hiobs im Rahmen des Kosmos wird relativiert, insofern er auf seine absolute Nachzeitigkeit gegenüber den Söhnen Gottes, den Engeln (so ausdrücklich in LXX, in 11QTgHi und in TgHi),143 hingewiesen und auf das Gotteslob als angemessenen Modus des Redens zu Gott verwiesen wird (vgl. 35,10–11; 36,24–25; Sir 39,14–15 [G/HB]). Zugleich erschließt sich von V. 7 die Funktion der Söhne Gottes in den Himmelsszenen des Prologs (1,6; 2,1): Ihre Aufgabe ist es, von Urzeiten an, Gott zu loben (Jub 2,3).144 Zur Kosmologie gehört hier die Angelologie. In den himmlischen Liturgien der aus Qumran bekannten Sabbatopferlieder (4Q400–407) ist dieses mythische Motiv breit entfaltet und vom urzeitlichen Schöpferlob in das fortwährende Gotteslob überführt.145 Im Gotteslob der um den 520/515 v.Chr. neu gegründeten Vgl. zudem Jes 48,13; 51,13; 54,11–12; Am 9,6; Sach 12,1; Ps 89,12. Vgl. 2Kön 21,13; Sach 1,16. Zur Ausmessung als Schöpfungsakt vgl. auch Marduks Vermessung des Apsû, des urzeitlichen Wassers, im EnEl. IV,143 (TUAT.NF VIII, 112) oder das Schöpfungshandeln Amun-Res im Hymnus ÄHG 129, 23–25.59–61.70–72. 141 Vgl. Jes 28,16; Jer 51,25–26; Ps 117(118),22; 2Q23 frgm. 1,6; 1Hen 18,2; Mt 21,42. 11QTgHi übersetzt dementsprechend mit „Gründungsstein“ (ʾbn ḥzjtʾ) (vgl. Gold, Understanding, 33–37; 121–123; 213f: ein Stein zur Erinnerung oder zum Zeugnis für die Schöpfung). Zur Sache siehe F. Hartenstein, Tempelgründung als „fremdes Werk“. Beobachtungen zum „Ecksteinwort“ Jesaja 28,16–17, in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (FS O. Kaiser), BZAW 345/I, Berlin/ New York 2004, 491–516. Dagegen versteht Houtman, Himmel, 237, den ʾæbæn pinnātāh als letzten Stein des Hausbaus und bezieht Hi 38,6b auf die „Erschaffung des Himmels als das Setzen des Schlußsteines an einem Gewölbe“. 142 Dieses Motiv begegnet häufig in polytheistischen Hymnen, vgl. z.B. die Freude der Götter bei der Schöpfung im EnEl. IV,133–134; V,77–89 (TUAT.NF VIII, 111; 116f) oder den Lobpreis des Sonnengottes durch die von ihm geschaffenen Götter in einem äg. Sonnenhymnus (ÄHG 27, 16–17; vgl. ÄHG 87C, 80; 120, 8; ÄHG Anhang Nr. 1, Strophe 5, 4–5). 143 Während nach dem MT die Existenz der Gottessöhne vorausgesetzt ist, betonen die LXX und Syr ihre Erschaffung (vgl. Jub 2,2). Zur Anwesenheit der Engel bei der Schöpfung vgl. auch TgHi 28,27. 144 Vgl. Ps 103,20–21; 148,1–3; Dan 3,58LXX; 11QPsa XXVI,11–13; 3Hen 38,3 (mit Zitation von Hi 38,7) und weiterhin Jes 44,23–24. Zu altorientalischen Parallelen zur Vorstellung von der himmlischen Götterversammlung s.o. zu Hi 1,6. Zu den Engeln siehe den Exkurs zu Hi 4,18 (S. 146–148). 145 Vgl. z.B. 4Q405 frgm. 14–15; frgm. 19; siehe aber auch Jes 6,3; 1QHa XI,21(22)–23(24) und Apk 7,11–12. 139
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Jerusalemer Tempel versammelten Gemeinde findet es sein irdisches Gegenüber (Esr 3,10–11). 38,8–11 Im Hintergrund der Beschreibung des urzeitlichen Hervorsprudelns (gîḥ) des Meeres aus dem Schoß der Erde und seiner Eindämmung leuchten verschiedene mythologische Motive auf, besonders von der Geburt des Meeres (jām), wie es sich in der Theogonie des Hesiod findet (vgl. theog. 131–132) und vom Kampf zwischen Baʿal und Jammu im ug. Baʿal-Zyklus (II,i–iv)146 bzw. zwischen Marduk und Tiamat im bab. EnEl. (IV,135–140).147 Der Hiobdichter hat sie in eigenständiger und sich von Gen 1,9–10, wo das Meer als Schöpfungswerk Gottes erscheint, unterscheidender Weise miteinander verbunden. Wie in den mythischen Bildern in Hi 3,8 (v.l.); 7,12; 9,13 und 26,12 wird das Meer personifiziert. Trotz seiner Selbstständigkeit untersteht es allein der Macht des einen Gottes Jhwh (vgl. Spr 8,29; 2Makk 9,8), der es „wickelt“ (V. 9), womit sowohl seine Bindung als auch seine rechtliche Anerkennung ausgedrückt wird,148 und der es mit seinem Wort zu bändigen vermag (vgl. Hi 26,12; Ps 104,6–9; Jer 5,22; OrMan 3).149 Damit ist der Göttlichkeit des Meeres ebenso eine Absage erteilt, wie Hiobs Anrufung magischer Mächte (3,8). Die Passage unterstreicht Gottes Herrschaft über das Chaos – auch über das über Hiob hereingebrochene, der eingangs darüber klagt, dass Gott nicht die Pforten des Leibes seiner Mutter verschloss und ihn so zur Welt kommen ließ (3,10–11). Mit der gleichsam gesetzmäßigen Begrenzung (ḥoq V. 10, vgl. 26,10; 28,26; Ps 148,6; 2Hen 28,4) des „Stolzes der Wellen“ (vgl. Ps 65,8; 89,10; Jes 48,18) wird am Ende der Strophe zugleich die alleinige Verfügungsmacht Gottes über jegliche Form kosmischer oder menschlicher Hoheit und Hybris betont (V. 11, vgl. 35,12).150 38,12–15 Die dritte Strophe des ersten Hauptteils entfaltet am Beispiel der Morgenröte (šaḥar), die wie in 3,9 poetisch personifiziert (vgl. Ps 57,9; 108,3) aber nicht als Gott bzw. Göttin erscheint,151 ausdrücklich das Thema Zeit. Auch hier fließen Vorstellungen über die Begründung der Zeit in der Schöpfung (vgl. Gen 1,3– 5; Jub 2,2; Jes 45,7; Jer 31,35) und über die alltägliche Aufrechterhaltung der TUAT.NF VIII, 195–202. TUAT.NF VIII, 111; vgl. auch Ps 89,10–11; Jes 51,9 und dazu Fuchs, Mythos, 194–197; Scriba, Geschichte, 64f. In 11QTgHi ist aufgrund des Wechsels der Tempora in V. 8–10 (siehe die Anm. zur Übersetzung) der Schwerpunkt vom urzeitlichen auf das gegenwärtige und fortlaufende Handeln verschoben. 148 Vgl. Ez 16,4 und zur Sache Fuchs, Mythos, 197–199. 149 Siehe dazu auch das in den ConstAp VII,34,1–8 überlieferte hellenistische Synagogengebet Nr. 3,9(3)–11, in dem wohl Hi 38,3–11 aufgenommen ist (OTP II, 678–680; van der Horst/ Newman, Early Jewish Prayers, 55), vgl. auch ConstAp VIII,12,6–27, Gebet Nr. 12,27 (OTP II, 690–694) sowie 1Clem 20,6–7 und die Epistula Apostolorum 3 (14) (Markschies/Schröter, Apokryphen I/1, 1066). 150 Siehe zudem Ps 59,13; Jes 14,11; Ez 33,28; Sach 9,6; 10,11; 11,3. Gegen die Annahme von Strauß, 337, bei Hi 38,11b handele es sich um einen „interpretierenden Zusatz“, spricht schon die Poetologie. 151 Als eigenständige Göttin begegnet Šaḥar neben Šalim z.B. in der spätbronzezeitlichen ug. Götterliste KTU 1.123, 11. Ob in Ps 110,3 und in Jes 8,19–20 eine mythologische Konnotation vorliegt, ist umstritten (vgl. S.B. Parker, Art. „Shahar“, DDD [21999] 754f; Fuchs, Mythos, 201f). 146
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zeitlichen Ordnung ineinander (vgl. Ps 104,19–20; 136,8; Am 4,13). Erneut könnte Hiob die Frage, ob er über die Zeit verfüge, nur verneinen. Natürlich hat er weder den ersten Schöpfungstag noch jemals einen Tag ins Leben gerufen – Hiob leidet ja gerade darunter, dass er die Zeiten nicht ändern kann (3,3–9; 7,17–19; 14,13; 29,2). Das Bild der sich über die gesamte Erde152 ausbreitenden und diese in ein Licht, das an die Farbe des Siegeltons erinnert,153 tauchenden Morgenröte (V. 12.13a.14) ist, möglicherweise sekundär,154 um das Motiv der Vernichtung der Frevler (r ešāʿîm) erweitert (V. 13b.15). Ursprünglich könnte sich hinter diesen eine mythische Größe (roʿ ašîm, „die Zitternden“?) verbergen, vergleichbar den Rephaim (Hi 26,5, vgl. 3,17; Jes 24,21–22), die als Repräsentanten des Chaos und als Gegner des Schöpfergottes agieren und deshalb von der Erde wie Staub oder welkes Laub abgeschüttelt werden (nāʿar Nif., vgl. Jes 52,2 bzw. Jes 33,9).155 Den Ausgangspunkt für die Identifikation der mutmaßlichen roʿ ašîm mit den r ešāʿîm bilden wohl der Begriff des Morgens (V. 12) und die Abschlusszeilen der zweiten Strophe (V. 10–11). Der Morgen gilt im AT als Folge der Übertragung von solaren Motiven auf Jhwh, als Ausgangspunkt des rettenden und richtenden Eingreifens Gottes: Die aufgehende Sonne bringt alles ans Licht, so auch die Frevler, deren Licht verlöschen und deren Hybris wie der Stolz des Meeres (V. 10–11) von Gott gebrochen (šābar) wird (vgl. Ps 10,5; 37,17; 101,8). O. Keel versteht die r ešāʿîm als Repräsentanten der gottfeindlichen Mächte und verbindet sie motivisch mit der äg. Vorstellung von der Besiegung der Dämonen durch den Sonnengott.156 Entsprechende Darstellungen des Sonnengottes, der seine Feinde erschlägt, finden sich im mesopotamischen, äg. und syrisch-palästinischen Raum.157 Motivisch könnte dann auch auf die Bindung (feindlicher) Götter durch Marduk nach seinem Kampf gegen Tiamat (EnEl. IV,123 [TUAT.NF VIII, 111]) oder auf die Fesselung der Titanen verwiesen werden (Hesiod, theog. 719–721; Homer, Il. 5, 898). Demgegenüber identifiziert Clines die r ešāʿîm mit einer Konstellation im Sternbild des Hundes (canis maior und canis minor), verweist auf die Verbindung des Sirius mit Pest, Feuer und Fieber bei Homer, Il. 22, 29–30, und übersetzt mit „Hundssternen“; ebenso sieht er in dem Ausdruck z erô aʿ rāmāh („[den] hohen Arm“) in V. 15 eine astronomische Chiffre: „the Navigator’s Line joining Sirius to Procyon to Castor and Pollux.“158
Zumindest in der ‚Endgestalt‘ reagieren diese Verse auch auf Hiobs Vorwürfe an Gott, er habe die Erde in die Hand eines bzw. des rāšāʿ gegeben (9,24) und Zu den „Enden der Erde“ (kanpôt hāʾāræṣ) siehe oben zu Hi 37,3. Vgl. die „rosenfingrige Eos“ in der griech. Literatur (Homer, Il. 1, 477; 6, 175; 9, 707; 23, 109; 24, 788; Od. 2, 1; 4, 431; Hesiod, erg. 610; Mimnermos, frgm. 12, 3). Demgegenüber bezieht Cornelius den Vergleich mit dem Siegelton darauf, dass bildloser Ton durch das Siegeln, z.B. mit einem Rollsiegel, zu einem Bildträger wird, die vom Licht durchflutete Erde mithin Gestalt annimmt (Cornelius, Sun Epiphany, 25f). 154 Vgl. Hölscher und Kaiser, 95, die auch V. 14b als sekundär ansehen, dort allerdings l ebûš „Gewand“ in lābôš „zur Schande“ ändern (s.o. Anm. 20). 155 TgHi konzentriert die universale Aussage, wie schon in Hi 5,10, in haggadischer Weise auf das Land Israel, aus dem die Frevler verbannt werden (vgl. TgHi 18,17). 156 Keel, Entgegnung, 56; ders., Bildsymbolik, 45f (mit Abb. 53). 157 Cornelius, Sun Epiphany, 25–43. 158 Clines, 1105 (im Anschluss an einen Vorschlag von G.R. Driver). 152 153
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in der Welt gingen die Frevler straflos aus (21,7–34; 24,1–12). Sie bestätigen im Grundsatz eine zentrale These der Freunde und Elihus,159 zu der sich auf der Stufe der Gerechtigkeitsredaktion schließlich auch Hiob bekennt (24,13–25; 27,7–10.13–23), und deuten schon das Thema der zweiten großen Gottesrede an (40,12): Auf der von Gott geschaffenen Erde hat das Böse letztlich keinen Platz. Die für altorientalische Vorstellungen enge Beziehung zwischen Schöpfung und Recht, zwischen theologischer Kosmologie und Theodizee wird an dieser Stelle der Gottesrede besonders deutlich. Die LXX weist in V. 14 einen bedeutenden Unterschied gegenüber dem MT auf. So bietet sie die rhetorische Frage an Hiob, ob er aus Lehm ein Lebewesen geformt (πλάσσω) und ein sprachfähiges Wesen auf die Erde gesetzt habe. Der Vers erwähnt damit im Gegensatz zum MT an prominenter Stelle die Menschenschöpfung. Sein Wortlaut könnte auf eine hebr. Vorlage zurückgeführt werden, deren Konsonantentext sich nicht wesentlich von der des MT unterschied.160 Motivisch basiert diese Variante auf dem breit im Alten Orient und in der klassischen Antike belegten Mythologem der Formung des Menschen aus Erde, womit letztlich dessen Zerbrechlichkeit und Sterblichkeit umschrieben wird.161 Mit dem hap. leg. λαλητός („sprechendes Wesen“) wird möglicherweise auf Gen 2,19 und die Begabung des Urmenschen mit der Sprache angespielt und somit ein Bezug zwischen den Kosmologien der Torah und der ersten Gottesrede hergestellt. Die Betonung der geschöpflichen Sprachbegabung fügt sich in den in paganen und jüdischen Texten der hellenistischrömischen Zeit greifbaren Diskurs zur Verleihung der Sprache durch eine Gottheit und zur Sprache als spezifisch menschliche Fähigkeit gegenüber dem Tier.162 Mikrotextlich ist durch das Motiv der Menschenschöpfung der Gedanke des Gerichts an den „Frevlern“ (ἀσεβεῖς, V. 13.15) stärker verankert. So hängen diese nicht in der Luft wie im MT, sondern erscheinen als Geschöpfe Gottes, die gleichsam dem Gericht unterliegen. Makrotextlich wird Hiob an die Macht des einen Schöpfergottes, aber auch an seine bleibende dialogische Bezogenheit auf diesen Gott erinnert (vgl. 10,8–12; 30,19; 33,6). So zeigt Gott hier Hiob zwar weitergehend im Stil der polemischen Bestreitung Grenzen auf, was sich mit der „Bestreitungsrede“ in Jes 40,12–31 berührt. Er führt ihm aber zugleich vor Augen, dass er ein Gott des Lebens ist (vgl. Ez 18,23–32; Jon 4,10–11; SapSal 11,26), der dem Menschen die Sprache und damit die Fähigkeit zur Artikulation geschenkt hat. Der Vers ist im Gewand der rhetorischen Frage das urgeschichtliche Pendant zu dem die Gottesrede eröffnenden Aufruf, Hiob möge Gott antworten (V. 3). Gegenüber der weitgehenden Ausblendung des Menschen in der masoret. Gestalt der ersten Gottesrede (vgl. V. 26), die als eine bewusste Korrektur an der Anthropozentrik der priesterschriftlichen Kosmologie in Gen 1 und in Ps 8 verstanden werden kann, gehört für die griech. Version von Hi 38 der Mensch fest zum kosmischen Gefüge (vgl. Ps 104). Daher muss seine Erschaffung auch in der so stark auf die Beschreibung von Erde, Meer, Himmel, Sternen und Wetter konzentrierten Darstellung ausdrücklich erwähnt werden (vgl. Hi 34,15LXX). Vgl. Hi 8,22; 11,20; 15,20; 18,5.9; 20,5.29; 36,6; vgl. auch Spr 13,9. Vgl. Beer, Text, 238, mit der Rückführung von ζῶον auf ḥjtm anstelle auf ḥwtm („Siegel“) wie im MT. 161 Vgl. Gen 2,7–8.15; Hi 10,8–9; 34,15LXX; Ps 119(118),73; 139(138),5; 2Makk 7,23; SibOr 3,24; 8,260; Philon, opif. 134; Röm 9,20. Aus der Fülle der altorientalischen Literatur: Enki und Ninmach 58–59 (TUAT III, 393); Gilgm. I,ii,33–35 (TUAT III, 675), BT 276–278 (TUAT III, 156); Lud. IV,110–111 (TUAT III, 135); Lehre d. Amenemope 24,13–14 (TUAT.NF III, 344f); siehe dazu Pettinato, Menschenbild, 39–42. Zur klassischen Antike siehe z.B. Aesop, fab. 102; 110; 228; 229; Aristophanes, Av. 686; Kallimachos, frgm. 152 (Asper, 215); 376 (Asper, 355); Cornutus, Götterlehre nr. 18 (Busch/Zangenberg, 102–105). 162 Vgl. mit unterschiedlichen Akzenten Platon, Krat. 388e–389a; Aristoteles, pol. 1253a; hist. an. 536a33–b3; Kleanthes, Zeus-Hymnus, 4f (Thom, 34f; 54–67); Isis-Hymnus von Kyme, 31 (TUAT.NF VII, 276); Manilius, astron. 4, 896–910 (Fels, 344f); Philon, LA II, 14–15; opif. 148, aber auch TO, TPsJ und TNeof zu Gen 2,7 sowie 1QHa IX,27–31(29–33) und zur Sache K. Koch, Spuren, 238–248. 159 160
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Von den Zeiten auf der Erde führt Jhwh Hiob auf seinem imaginären Weg 38,16–18 durch den Kosmos zu den gemäß altorientalischer Weltvorstellung tief unter der Erde gelegenen Quellen des Meeres (vgl. 28,11; Spr 8,24 [v.l.]),163 zur Urtiefe (t ehôm, vgl. Gen 1,2; 7,11; 8,2; Spr 8,24; 1QHa XI,14[15]–17[18]) und zu den „Weiten der Erde164“ (vgl. 28,24; 37,3). Natürlich ist Hiob auch in diese Dimensionen nicht vorgedrungen, ebenso wenig zu den noch darunter verorteten „Toren des Totenreichs“ (V. 17).165 Das Totenreich und der Todesschatten markieren die größtmögliche Tiefe (Hi 28,14). Diese Räume sind – wie der Himmel (22,14) – allein Jhwh zugänglich, vor dem die Scheol offen daliegt und der bis zu den Enden der Erde166 blickt (vgl. 26,5–6 bzw. 28,24; Ps 139,7–12).167 Dies war in der Geschichte der Jhwh-Religion nicht immer so. Erst im Laufe der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends v.Chr. ist Jhwh im Zuge der fortschreitenden Monotheisierung der Jhwh-Verehrung auch die Macht über die einstigen Herrscher der Unterwelt, den Gott Mot, zugewachsen (vgl. Jes 25,8; 26,19).168 Zur Zeit des Hiobdichters sind die alten Götter der Unterwelt längst entmachtet (vgl. Ps 139,8; SapSal 16,13). Allein Jhwh verfügt über die Tiefen (Ps 135,6; Spr 8,28) und über die Scheol, so dass Hiob, selbst wenn er sich in seinem Leid am Rand des Todes sieht (Hi 7,21; 10,20–22; 19,17–20),169 Gott nicht über sie belehren kann (vgl. 11,7–9; 15,7–8). Erneut wird Hiob die Begrenzheit seiner Weltkenntnis und seines Zugriffs auf die Welt vor Augen geführt und zugleich sein Wunsch pervertiert, er könne sich in der Unterwelt vor Gottes Zugriff verbergen (3,19; 14,13, vgl. Ps 139,8; Am 9,2): Hiob weiß demzufolge nicht, wovon er spricht. Die hier angedeutete Unterweltstopographie, nach der das Totenreich ein unterirdischer Palast oder eine unterirdische Stadt mit Toren darstellt (vgl. Hi 17,13–16; Jes 38,10), ist allgemein altorientalisch und findet sich in ausführlicher Beschreibung in der akkad. Dichtung vom Abstieg der Göttin Ištar in die Unterwelt: 1
Zum Kurnugia, dem Land [ohne Wiederkehr], wandte Ischtar, die Tochter des Sin, ihren Sinn. Es wandte die Tochter des Sin ihren Sinn nach dem finsteren Haus, der Wohnstatt von Erkalla,
Vgl. auch Hesiod, theog. 282; 736–741 (Fuchs, Mythos, 205f). Siehe die Anm. zur Übersetzung. 165 Vgl. Jes 38,10; Ps 9,14; 1QHa XI,17–18(18–19); Mt 16,18. Der Vers (Hi 38,17) spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der altkirchlichen Bekenntnisbildung und des Topos von der Höllenfahrt Christi. 166 Nach TgHi bis zum Garten Eden (vgl. TgHi zu 28,6). 167 Vgl. auch Ps 135,6; 139,8–12; SapSal 16,13; Am 9,2 und aus der Umwelt des AT z.B. den großen Šamaš-Hymnus 31–38 (TUAT.NF VII, 67f), Hymnus auf Ninurta als Helfer in der Not IX (17) (Mayer, Hymnus, 29); den äg. Hymnus an den Sonnengott ÄHG 104, 15, oder den Hymnus an Ptah ÄHG 140, 223–224; vgl. auch ÄHG 195; 221–222; 240–241. 168 In ähnlicher Weise besingt der große Šamaš-Hymnus 31–38 die Macht des mesopotamischen Sonnengottes über die Unterwelt, die Geister der Toten und die Urtiefe (TUAT.NF VII, 67f). 169 Vgl. Jes 38,10; Ps 9,14; 107,18; Sir 51,9; 3Makk 5,51; PsSal 16,2; 1QHa XIV,24(27). 163 164
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden zum Haus, das, wer es betritt, nicht mehr verläßt, auf den Weg, dessen Beschreiten ohne Rückkehr ist, zum Haus, worin, wer es betritt, des Lichtes entbehrt, wo Staub ihr Hunger, ihre Speise Lehm ist, das Licht sie nicht sehen, sie in der Finsternis sitzen. Und sie tragen wie ein Vogel ein Flügelkleid. Auf Tür und Riegel lagert sich Staub. Als sie das Tor des Kurnugia erreicht, sagt sie zum Pförtner des Tores: „He, Pförtner, öffne mir dein Tor! Öffne mir dein Tor, denn ich will eintreten! Wenn du mir das Tor nicht öffnest, ich nicht eintreten kann, werde ich die Tür einschlagen, den Riegel zerbrechen, die Türleibungen zerschlagen und die Türen aushängen! Ich werde die Toten herauflassen, sie werden die Lebenden fressen, zahlreicher als die Lebenden werden die Toten sein!“ Der Pförtner tat seinen Mund auf zu sprechen, er sagte zur großen Ischtar: „Warte, meine Herrin, du sollst sie nicht umwerfen! Ich will gehen und deine Rede der Königin Ereschkigal vortragen“.
Es folgt die Schilderung der Entblößung Ischtars an den sieben Toren der Unterwelt, des Zorns der Unterweltsgöttin Ereschkigal über Ischtar, der Bericht über fehlende Fruchtbarkeit auf der Oberwelt und der Erschaffung des Lustknabens Asuschunamir durch Ea als Ersatz für Ischtar. 93
„Geh, Asuschunamir, wende dich dem Tor des Kurnugia zu, die sieben Tore des Kurnugia sollen geöffnet werden vor dir, Ereschkigal soll dich sehen und sich freuen über deine Anwesenheit!“ 170
Für das Weltbild von Hi 38 ist wesentlich, dass die Unterwelt hier als ein eigener Raum ausdrücklich angesprochen wird, was sowohl kosmisch-topographisch als auch buchimmanent schlüssig ist. Im Horizont der biblischen Literatur wird es dann erst der Gottessohn sein, der in die Unterwelt absteigt, aus ihr zurückkehrt und schließlich über diese verfügt (Apk 1,18). 38,19–21 Die Fragen an Hiob zum Aufenthaltsort (māqôm, vgl. 28,12–13.20.23.) und zu den Verbreitungswegen von Licht und Finsternis nehmen noch einmal das Thema der vorangegangenen Strophe auf (vgl. V. 12–13 und die dort genannten Parallelen).171 Sie stellen Hiobs Verfügungsgewalt über die Phänomene des Lichts in Frage und werden mit einem ironischen Hinweis auf Hiobs urgeschichtliches Alter beschlossen (V. 21). Der Hinweis basiert motivgeschichtlich erneut auf der Vorstellung von der besonderen Weisheit des Urmenschen (vgl. V. 4).172 In einer Kultur, in der Erkenntnis wesentlich erfahrungsbezogen ist, steigt mit zunehmendem Alter der Grad an Weisheit (vgl. 8,8–10; 15,9–10; 32,4.6). Doch abgesehen davon, dass sich Erkenntnis auch immer wieder abbaut (vgl. Pred 1,11.16–17; 2,16), reicht kein Menschheitswissen an die Anfänge 170 Übersetzung von G.G.W. Müller, in: TUAT III, 761f, 764. Zu Parallelen in der klassischen Antike vgl. Hesiod, theog. 767; Homer, Il. 5, 646; 9, 312; 23, 71; Od. 11, 571; 24, 203; Theognis, eleg. 1, 427; Aischylos, Ag. 1291; Euripides, Alc. 126. Siehe dazu auch den Exkurs auf S. 124–126. 171 Wegen dieser Wiederaufnahme werden V. 19–20 gelegentlich als sekundär betrachtet (Kaiser, 95). 172 Vgl. Gen 3,22; Ez 28,11–17 sowie die Ausführungen zu Hi 15,7–8.
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zurück. Diese sind allein Gott als dem Herrn von Zeit und Ewigkeit bekannt (vgl. Ps 90,2 versus Ps 90,10; Sir 18,8–10 [G]) – das weiß an sich auch Hiob, doch wird es ihm hier nochmals vor Augen geführt. Er muss offenbar (wieder) lernen, so schwer das in seiner Situation auch ist, seine Zeit ins Verhältnis zur Zeit Gottes zu stellen (vgl. Ps 90,12; Hi 1,21), damit er am Ende sagen kann: „meine Zeit steht in deinen Händen“ (Ps 31,16). Drei Kurzstrophen (V. 22–24.25–27.28–30) sind meteorologischen 38,22–30 Erscheinungen, insbesondere dem Regen, gewidmet. Die erste hebt wie die vierte Strophe (V. 16–18) mit einer rhetorischen Frage an Hiob an und bestreitet zunächst dessen Kenntnisse über Schnee und Hagel. Diese werden in großen Vorratskammern (ʾoṣ erôt) aufbewahrt gedacht, die Gott jeweils zu bestimmten Zeiten ausleert (V. 22).173 Dabei erscheinen Schnee (šælæg) und Hagel (bārād) nicht nur als natürliche Größen,174 sondern hinsichtlich ihrer zerstörerischen Kraft auch als Mittel des richtenden und kriegerischen Gottes (V. 23).175 Von ferne klingt hier, wie in Hi 36,26–37,5, die Motivik des syrisch-palästinischen Wettergottes an, dessen Erscheinen von Hagel begleitet sein kann. Zugleich wird mit dem „Tag der Schlacht“ (V. 23) die urgeschichtliche und kosmologische Beschreibung um einen Aspekt der Geschichte erweitert.176 Unmittelbar mit dem Phänomen von Schnee und Hagel sind die Erscheinungen schwerer Stürme verbunden.177 Daher besteht kein Grund, V. 24 trotz seines mit V. 19 identischen Anfangs als sekundär zu betrachten, zumal wenn anstelle von ʾôr („Licht“, vgl. V. 19) rûaḥ („Wind“) gelesen wird.178 Dass die Fragen zu den Wegen des Windes neben der meteorologisch-kosmologischen Dimension auch einen gerichtstheologischen Aspekt haben, zeigt sich im Rückblick auf die Ausführungen zum Schicksal eines Frevlers (vgl. 15,30; und sekundär im Munde Hiobs in 27,20–23) und – auf der redaktionsgeschichtlichen Ebene der mit der Hiobnovelle verbundenen Dichtung – auf die Notiz vom Tod der Kinder Hiobs (1,19): Hiob weiß tatsächlich nicht, wo und wie der Wind weht. Den Gegensatz zum Trockenheit bringenden Ostwind (qādîm, V. 24)179 bilden Regen, Gewitter und schwere Regengüsse sowie Frost und Kälte, für die gleichfalls kein anderer als Jhwh verantwortlich ist (V. 25–30, vgl. Ps 104,13; 173 Vgl. Dtn 28,12; Ps 33,7; 135,7; Sir 39,30 [HM/B]; 43,14 [HM/B]; 1QHa IX,14(15)–15(16); 2Hen 5,1–2; 40,10; 3Hen 22B,4. 174 Vgl. Hi 37,6; Ps 147,16–17; Sir 43,17–18; Jub 2,2; Homer, Il. 12, 278–286. 175 Vgl. Ex 9,13–35; Jos 10,11; 1Makk 13,22; Ps 18,13–14; Sir 39,28–31; 43,13–17; SapSal 5,22; 16,16; Jes 28,17; 30,30; Ez 13,13; Hag 2,17. Tg1 zu Hi 38,23 identifiziert diesen Tag der Schlacht midraschartig mit dem Krieg des Pharao und der Ägypter (vgl. Ex 9,13–35 sowie Tg zu Hi 5,12– 13), Tg2 denkt an den Krieg der Kanaanäer und des Hauses Meron (v.l. Midian?) (vgl. Jos 11,5–7). 176 Vgl. Hos 10,14; Am 1,14; Zeph 1,15; Ps 78,9, aber auch inschriftlich bezogen auf Baʿal und El in den Inschriften von Kuntillet ʿAǧrūd (KAgr(9):7 [HAE I, 59]). Zu einem eschatologischen Gebrauch dieser Wendungen und Motive siehe Sach 14,3; Dan 12,1; SapSal 5,21–23 bzw. 1QM I,11– 12; VII,6; XIII,14; XV,12. 177 Vgl. Hi 37,6–10; Ps 147,18; 148,8; Sir 43,16–20; siehe auch den äg. Hymnus an den Schöpfer- und Weltgott Amun-Re ÄHG 129, 144–147, oder den Hymnus an Ptah ÄHG 140, 101–102. 178 S.o. die Anm. zur Übersetzung. 179 Vgl. Gen 41,6; Ez 17,10; 19,12; Hos 13,15; Jona 4,8.
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147,8.16–17; Jub 2,2). Dabei verbindet der Dichter hier spielerisch Motive aus der Wettergottmythologie (V. 25, vgl. 28,26; Ps 29,3–9)180 mit einer rationalisierenden Tendenz (V. 28–30, vgl. 36,27–28): Letztlich haben weder Regen (māṭār) und Tau (ṭal) einen Vater (ʾāb, V. 28) noch hat Kälte einen Mutterschoß (bæṭæn, V. 29). Im Hintergrund mag noch die altorientalische Vorstellung von der Bewässerung der Erde als „Besamung/Befruchtung“ stehen.181 In der ug. Mythologie ist eine der drei Töchter Baʿals Tallaj „Tau(regen)“.182 Ebenso mythopoetisch lässt der große Šamaš-Hymnus Šamaš die „Zitzen des Himmels öffnen“ (Z. 17, TUAT.NF VII, 67), während das EnEl. V, 49–52 (TUAT.NF VIII, 113) die Entstehung des Regens auf Marduk zurückführt und Homer Zeus als Spender des Regens besingt (Il. 12, 25; 14, 345–351, vgl. Herodot, hist. 2 13,3). Hier ist es der eine Gott Jhwh, der mittels Regen und Tau umfassende Fruchtbarkeit schenkt, Wüsten belebt und große Eisflächen schafft (V. 30, vgl. 37,10; Sir 43,20; Sach 8,12). Die zweifach gebrauchte Wurzel mṭr („regnen/Regen“, V. 26.28) und die anaphorisch gestalteten Verse 26–27 unterstreichen, wie die Thematisierung des Regens in einer Doppelstrophe, die elementare Bedeutung, die dieser bis heute für das Leben in Syrien-Palästina hat (vgl. Am 4,7–8; Sach 10,1; PsSal 5,9–10). Dabei wird die Macht des Schöpfergottes noch dadurch betont, dass er es in verschwenderischer Weise über Wüsten und menschenleere Regionen regnen lässt (V. 26–27, vgl. Gen 2,5; Jer 2,6). Zugleich ist dies die einzige Passage im ersten Hauptteil der ersten Gottesrede, in der abgesehen von den Anreden Hiobs vom Menschen die Rede ist (vgl. dagegen Gen 2,5– 7; Ps 104,13–15). Indirekt mag Hiob dieser Beschreibung auch die künftige Verwandlung seiner Wüste entnehmen,183 denn „lieblich ist sein Erbarmen zur Zeit der Not (vgl. V. 23!) wie Regenwolken in der Zeit der Dürre“ (Sir 35,26). 38,31–34 In meteorologisch nachvollziehbarer Weise schließt der Dichter an die Darstellung der Niederschläge und des Frosts eine Strophe zur Welt der Gestirne an.184 Eindeutig zu identifizieren sind die in V. 31 genannten Sterne, die Plejaden (kîmāh) und der Orion (kesîl).185 Bei den in V. 32 genannten mazzārôt (vgl. 2Kön 23,5LXX) handelt es sich um ‚Standortgestirne’, d.h. um „eine bestimmte Gruppe von Sternen (...), die mit ihren heliakischen Aufgängen eine Art Jahresuhr für die Landwirtschaft und das irdische Leben darstellten und die zwölf 180 Zur irdischen Anlage eines Kanals (t eʿālāh, V. 25a) vgl. 2Kön 18,17; 20,20; Jes 7,3; 36,2; Ez 31,4. Nach Houtman, Himmel, 262–264, sollen mit den Wörtern plg und teʿālāh „Assoziationen an Rinnen und Gräben hervorgerufen werden“, mittels derer „das aus dem Himmel durch den Luftraum niederströmende Wasser auf eine Ebene mit dem Wasser, das durch Bewässerungsrinnen strömt“, gestellt werde (a.a.O., 263). 181 Siehe dazu Keel, Entgegnung, 58. 182 KTU 1.3 I,22–25 (TUAT.NF VIII, 203). 183 Vgl. Jes 35,6; 41,18–19; 43,19–20; Ps 65,10–11; Sir 43,21–22. 184 Siehe dazu ausführlich Albani, Sternbilder, 181–226; ders., Siebengestirn, 149f; H.-P. Müller, Mond, 213–216. 185 Vgl. dazu die Ausführungen zu Hi 9,9 mit den dort genannten Parallelen aus dem Alten Orient und der klassischen Antike.
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Monate des Jahres astral kennzeichneten.“186 Mit ʿajiš (vgl. 9,9) ist wohl der Aldebaran bezeichnet, der von kleineren Sternen, den Hyaden begleitet wird.187 Diese Sternbilder wurden bereits im Alten Orient und in der Antike in einem engen kausalen Zusammenhang mit dem Wetter betrachtet. So galten die Plejaden und der Orion als Eckpunkte des jahreszeitlichen Wechsels.188 Hier ist es allein Jhwh, der den Wechsel der Zeiten (ʿet, V. 32) bestimmt (vgl. Jes 13,10; 40,26; Ps 147,4). Ob hinter der Formulierung des Bindens und Freilassens der Plejaden und des Orion die Mythe von einem göttlichen Kampf, die Vorstellung von Jhwh als Hirten der Sterne oder einfach ein Bild für den Lauf der Sterne, die von Gott wie mit einem Seil am Himmel entlang gezogen werden, steht, ist umstritten.189 Jedenfalls spiegelt der Lauf der Sterne festgelegte „Gesetze des Himmels“ (V. 33, vgl. V. 10).190 Diese kann der Mensch allenfalls als Hinweise für die Landwirtschaft, als Zeichen bei der Navigation auf hoher See oder für Festzyklen nutzen, mitunter durch astronomische Beobachtungen auch klassifizieren,191 aber letztlich nicht verstehen und schon gar nicht selbst erlassen (vgl. Achikar XII,6)192. Die Strophe schließt mit dem aus 36,26–29.33; 37,2–5 und 38,25 bekannten Motiv, dass nur Jhwhs Donnerstimme (qôl) Regenströme auf die Erde zu bringen vermag (V. 34, vgl. Ps 68,10; 147,8). Dementsprechend thematisiert auch die folgende Fragenreihe noch ein- 38,35–38 mal Wetterphänomene. Die hier dichterisch personifizierten Blitze (V. 35, vgl. 37,2–4; Sir 43,13; Bar 3,33–35) sind sowohl natürliche Erscheinungen als auch Begleiter der Theophanie (vgl. Ex 19,16; Hab 3,11; Ps 97,4) und Äußerungen des Wettergottes (vgl. Ps 77,19; 135,7). Auch sie entziehen sich selbstverständlich dem Zugriff Hiobs. Die weise Weltgestaltung Gottes und der auf bestimmte Zeiten hinweisende Charakter seiner Geschöpfe spiegelt sich in den scheinbar unvermittelt genannten Ibis (tuḥôṭ) und Hahn (śækwî, V. 36). Der Ibis, der mit seinem langen Schnabel Insekten aus feuchten Böden aufnimmt, gilt in Ägypten als Künder der Nilschwemme. 186 Albani, Sternbilder, 199; Halpern, Astronomies, 260, denkt an den canis maior und den canis minor. 187 Albani, Sternbilder, 204, vgl. auch Halpern, Astronomies, 260 (Sternbild des Löwen; siehe dazu die Auslegung von Hi 9,9). Im OG fehlt V. 32, Th transkribiert mazzārôt einfach und setzt ʿajiš mit dem Abendstern/der Venus gleich (vgl. Hi 9,9LXX). 188 Vgl. besonders Hesiod, erg. 382–386; 563–568; 571–572; 608–616; und Aratos, phain. 255– 267, aber auch Homer, Il. 18, 483–489; Apollonios Rhodios, Argonautica 2, 1098–1099; 3, 226; Kallimachos, frgm. 481,11 (Asper, 502–503) sowie bBer 59a, wo die Sintflut mit den Plejaden in Zusammenhang gebracht wird (H.-P. Müller, Mond, 214). 189 Zum mythischen Motiv der Fesselung ungehorsamer Sterne vgl. 1Hen 21,1–10 (Fuchs, Mythos, 132; 209; Albani, Der eine Gott, 54f, 85), zu Marduk als dem Hirten der Sterne vgl. EnEl. VII,130–131 (TUAT.NF VIII, 130; Albani, Sternbilder, 213). 190 Vgl. zudem Gen 1,14–19; Ps 148,6; Jer 31,35–36; 33,25–26; PsSal 18,10–12; 1Hen 82,9. Zur Rückführung des Begriffs mišṭār auf die akkad. Wendung šeṭer šamē/burūni („Himmelsschrift“), „die sich auf die regelmäßigen Auf- und Untergänge der Sterne zu ihren festgesetzten Zeiten bezieht“, siehe Albani, Sternbilder, 207. 191 Vgl. Hesiod, erg. 382–383; 571–572; 608–610 bzw. Homer, Od. 5, 270–277; Apollonios Rhodios, Argonautica 3, 745–746. 192 TUAT III, 338; TAD C1 1.164; Weigl, Achikar-Sprüche, 406–408.
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
Die Ibisse sehen folgendermaßen aus: Sie sind ganz schwarz, haben die Beine des Kranichs, einen stark gebogenen Schnabel und sind so groß wie der Vogel Krex. Das ist der schwarze Ibis [...]; die andere Art, die sich scharenweise unter den Menschen bewegt – es gibt nämlich zwei Ibisarten – ist weiß, außer dem Kopf, dem Nacken, den Flügelspitzen und dem Steiß. Die genannten Teile sind vielmehr tiefschwarz. Beine und Schnabel sind ebenso wie bei der anderen Art. (Herodot, hist. 2, 76)193
In Ägypten ist der (weiße) Ibis ein Symboltier des Thot (äg. Ḏḥwtj), des Gerichtsschreibers beim Totengericht und des Gottes der Zeit.194 Der Hiobdichter, dessen Kenntnis äg. Natur, Kultur und Mythologie auch an anderen Stellen aufleuchtet, hat den Ibis seiner Göttlichkeit entkleidet: Er erscheint einfach als ein von Jhwh mit Weisheit (ḥåkmāh) begabtes Wetterzeichen.195 Aufgrund der Verbindung des Ibis zur Zeit und zu Wetterphänomenen fügt sich dieses Verständnis von ṭuḥôṭ sehr gut in den Zusammenhang. Dasselbe gilt für das Motiv des Hahns. Als Ankündiger des Morgens196 und der aufgehenden Sonne197 sagt der vom Schöpfergott mit Unterscheidungsfähigkeit (bînāh) ausgestattete Hahn dem Menschen die Zeit an. Eine Verbindung des Hahns zu meteorologischen Phänomenen, speziell zur Ankündigung des Regens, ist auch ikonographisch im Alten Orient belegt.198 In der griech.-röm. Welt steht der Hahn zudem in Zusammenhang mit apotropäischen Riten und mit Omina. Von der Furcht des Löwen (! vgl. Hi 38,39) vor dem Hahn erzählen zwei bei Aesop überlieferte Fabeln.199 Die LXX hat die im hebr. Text vorliegenden seltenen und in ihrer Bedeutung umstrittenen Wörter ṭuḥôṭ und śækwî offenbar nicht verstanden.200 In Anlehnung an den priesterschriftlichen Bericht über die Ausstattung der Stiftshütte in Ex 35,25–26 lässt sie Gott Hiob fragen, wer den Frauen „Weisheit zum Weben“ (ὑφάσματος σοφία) und „Wissen zum Sticken“ (ποικιλτικὴ ἐπιστήμη) gegeben 193 Übersetzung aus: A. Horneffer/H.W. Haussig, Herodot, 131f. Zur Beschreibung der Lebensweise des Ibis vgl. auch den Physiologus Nr. 40 (Treu, Physiologus, 77f). 194 Zu entsprechenden Darstellungen siehe IPIAO IV Nr. 1744–1746. 195 Zur Gabe von Weisheit durch Jhwh vgl. Ex 31,6; 1Kön 5,26; Spr 2,6; Pred 2,26. Eine andere Form der „Entmythologisierung“ des Ibis bietet der jüdisch-hellenistische Historiker Artapanos (um 100 v.Chr.), der die Einsetzung des Ibis in Hermupolis zu einem heiligen Tier auf „Leute um Mose“ zurückführt (frgm. 3,9 [JSHRZ I/2, 130f]). 196 Vgl. Theognis, eleg. 1, 863–864; Plinius, nat. 10, 46 (Eichholz, 320f); Lukrez, nat. 4, 711; 3Makk 5,23; grBar 7,1; Mk 14,30 par. 197 Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die Stellung des Hahnes als Symboltier des assyr., bab. und sumer. Gottes des Feuers und des Lichts, auch des Nachtlichtes, Nusku (siehe zu diesem M.P. Streck, Art. „Nusku“, RLA 9 [2001] 629–633). 198 Vgl. dazu Keel, Beiträge, 220–225; Hartley. Zur Darstellung eines Hahns auf einem Siegel aus Tell en-Naṣbeh/Mizpah (um 600 v.Chr.) siehe ANEP Nr. 277 sowie P. Riede, Art. „Hahn (AT)“, wibilex 2009 (Zugriffsdatum: 6.11.2020) (https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/20317/). Epigraphisch ist škwj mehrfach als Personenname belegt, u.a. auf einem Siegel aus Makmīš (Tell Mīkāl, 4. Jh. v.Chr., HAE II/2, Nr. 8.43), wobei hier die Deutung als „Hahn“ umstritten ist (vgl. Weippert, HTAT, 395). 199 Aesop, fab. 84; 292; vgl. auch Lukrez, nat. 4, 712–717; siehe dazu C. Hünemörder, Art. „Huhn (Hahn)“, DNP 5 (2003/2012) 750f. 200 An den Stellen, an denen die LXX explizit den Ibis (ἶβις) erwähnt, spricht die hebr. Bibel von janšûp, womit wohl eine Eulenart gemeint ist (Lev 11,17; Dtn 14,16; Jes 34,11). Von der LXX ist der Physiologus Nr. 40 (s.o. Anm. 193) abhängig.
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habe (V. 36). Damit trägt die LXX ein tempeltheologisch-kultisches Moment in die Gottesrede ein.201 Dem zu Beginn der Gottesrede genannten himmlischen Lobpreis der Engel (V. 7) wird damit am Ende der Prototyp des irdischen Heiligtums zur Seite gestellt. Dass mit dieser Eintragung das nichtisraelitische Milieu, in dem die LXX eindeutig Hiob verortet,202 aufgebrochen wird, nimmt der Übersetzer in Kauf – die Fragen an Hiob zu Himmel und Erde sind ja letztlich Fragen an das zeitgenössische Lesepublikum des Buches.
Die kosmische Macht Gottes zeigt sich schließlich einmal mehr darin, dass er vermag, „in Weisheit“ (b eḥåkmāh, vgl. Ps 104,24; Spr 3,19; Jer 10,12) die Wolken zu zählen, was sich sowohl numerisch als auch qualitativ im Sinn der Steuerung des Wasserkreislaufes verstehen lässt, und die als große Behälter des Regens gedachten himmlischen Krüge von Zeit zu Zeit auf die Erde auszuschütten (V. 37–38).203 Mit der Nennung von zwei Vögeln und der Verwendung der Begriffe „Weisheit“ (ḥåkmāh, V. 36–37) und „Einsicht/Klugheit“ (bînāh, V. 36) leitet diese letzte Strophe des ersten, kosmologisch geprägten Hauptteils zum zweiten Hauptteil über, der nun Jhwhs planvolles und weises Handeln in der belebten Welt entfaltet. Von der Beschreibung des geordneten Aufbaus und der sinnvollen Ausstattung des kosmischen Raums richtet sich damit der Blick auf die Versorgung im Raum. Gottes Fragen an Hiob zur Welt der Tiere Exemplarisch für Jhwhs Macht über die belebte Welt erscheinen zehn bzw. unter Berücksichtigung der sekundären Strophe auf die ‚Straußin‘ elf Tierbilder. Auch hier wird nicht ausdrücklich vom Menschen gesprochen. Der Mensch kommt jedoch indirekt vor, insofern die Mehrzahl der aufgezählten Tiere sich seinem unmittelbaren Zugriff entzieht oder in für ihn unbewohnbaren Gebieten lebt (vgl. 38,26; Jer 17,6). Eine Ausnahme bildet das Streitross. Die untereinander mittels Stichwörtern, Paronomasien und inhaltlicher Gemeinsamkeiten verkettete Zusammenstellung von Löwe und Rabe (38,39–41), Steinbock/Felsenziege und Hirschkuh (39,1–4), Wildesel und Onager (39,5–8), Wildstier (39,9– 12), ‚Straußin‘ (39,13–18), Streitpferd (39,19–25), Falke und Geier (39,26–30) scheint nur auf den ersten Blick zufällig. So hat Othmar Keel unter Hinweis auf vorderorientalische Bildmotive nachgewiesen, dass hinter der Auswahl dieser Tierbilder eine doppelte Motivation liegt: Erstens stehen die in 38,39–39,30 genannten Tiere überwiegend in einer Beziehung zu vom Menschen nicht bewohnten Zonen (Wüste, Steppe, Bergwelt). Die meisten von ihnen (Löwe, 201 Philologisch könnte der griech. Übersetzer ṭuḥôt mit ṭāwah („spinnen“) in Verbindung bringen (so Beer, Text, 240); allerdings wird ṭāwah in Ex 35,25–26 mit νήθω übersetzt. 202 Vgl. Hi 1,1 LXX und den Appendix der LXX in 42,17b, demzufolge Hiob in der Ausitis an den Grenzen von Idumäa und Arabien lebte. 203 Demgegenüber sieht Houtman, Himmel, 259–261, in V. 37–38 – unter der Voraussetzung, dass 1) š eḥāqîm für den Himmel stehe, 2) spr hier parallel zu špr „klären/erhellen“ (vgl. 26,13) gebraucht sei und 3) škb Hif. „ruhen lassen“ meine – die Beschreibung einer Dürre!
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Steinbock, Hirsch, Wildstier, Wildesel, Strauß und Raubvögel) waren „bevorzugte Jagdtiere der ägyptischen und vorderasiatischen Könige“, deren Jagd als irdische Repräsentation der Bekämpfung des kosmischen Chaos verstanden wurde.204 Zweitens erscheint Jhwh hier in der Rolle des ,Herrn der Tiere‘, wie er auf zahlreichen Siegeldarstellungen des gesamten alten Vorderen Orients vom 3. Jahrtausend v.Chr. bis in die hellenistische Zeit nachweisbar ist.205 Nach Keel zeichnen die Tierbilder in 38,39–39,30 eine ,Gegenwelt‘ zur Welt des Menschen und unterstreichen Jhwhs Herrschaft auch über das Chaotische und Dämonische.206 Zu einer solchen ,Gegenwelt‘ gehören im Alten Orient für den Menschen unwirtliche Gegenden wie Berge, Wüsten, Steppen, Sumpflandschaften oder das Meer. Spezifisch an den Tierreihen der Gottesrede ist allerdings, dass hier nicht die Unterwerfung der wilden Tiere als vielmehr deren Ausstattung mit besonderen Fähigkeiten und deren Versorgung durch den ,Herrn der Tiere‘ betont wird.207 Zum Handeln des ,Herrn der Tiere‘ kann auch gehören, dass er einzelnen Wildtieren die Freiheit geschenkt hat.208 So stellt der Hiobdichter hier insgesamt heraus, dass in dem von Jhwh geschaffenen und geordneten, vielfältigen Lebensraum auch das scheinbar Lebensfeindliche, Unbändige und Chaotische seinen von Gott zugewiesenen Platz und seine Lebensmöglichkeiten hat. Zu den zwei genannten Motiven, die hinter der Auswahl stehen, kommt ein drittes, buchinternes Motiv. So berühren sich alle in 38,39–39,30 genannten Tiere in einer ausdrücklichen oder impliziten Symbolik mit einzelnen Reden Hiobs und der Freunde. Das Gebrüll des Löwen (38,41) erscheint in 4,10 als Metapher für das unbesonnene Klagen Hiobs, und der Löwe an sich figuriert in 4,11 als Repräsentant des von Jhwh vernichteten Frevlers (vgl. Ps 22,14). Der Wildesel (39,5) dient in 11,12 als Chiffre für einen unbedachten Menschen. Zugleich steht die Ungebundenheit des Wildesels als Bild der Freiheit im Leben (39,7) im Gegensatz zur Gebundenheit Hiobs, der in seinen Klagen nur Freiheit im Tod erblickte (3,18–19, vgl. Ex 3,7; Jes 9,3) und um Befreiung vom Leiden bittet (7,1–2; 14,14). Umgekehrt verwendet Hiob das Bild des nach Futter schreienden Wildesels (39,8) als Symbol für sein Recht zur Klage (6,5). Bei einzelnen Tierbildern besteht zudem eine Beziehung zu den Hiobreden über das Thema der Zeit. Dies zeigt sich bei der Strophe über die Hirschkühe und den Wildstier ausdrücklich, wenn dort Jhwhs Wissen um die Zeit der Geburt bzw. die Erntezeit beschrieben wird (vgl. 39,1 bzw. 39,12), und beim Raben (38,41), der in der Antike, wie die in 38,36 genannten Ibis und Hahn,
204 Keel, Entgegnung, 71; vgl. entsprechende Abbildungen in ANEP Nr. 182–184; 186; 190; 706; IPIAO IV Nr. 1015; 1023; 1330; 1957; 1958; 1972 u.v.a. 205 Keel, Entgegnung, 86–125; Cornelius, 296 (Abb. 89); IPIAO IV Nr. 1326; 1932; u.v.a. 206 Vgl. Jes 13,19–22; 32,12–14; 34,11; Jer 50,39; Zeph 2,13–15 (Keel, Entgegnung, 63–81). 207 Oeming, in: Oeming/Schmid, Hiobs Weg, 103–114. 208 Hierauf hat in besonderer Weise W.R. Mayer am Beispiel des Hymnus an Ninurta als Helfer in der Not XI–XIII (21–26) aufmerksam gemacht (Mayer, Hymnus, 30; 36).
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als Wetterprophet bekannt war (vgl. Gen 8,7)209 und der – wie der Hirsch – als Beispiel für eine besonders lange Lebenszeit galt, die nur noch vom Phönix übertroffen werde.210 Aber auch bei den Strophen über die Straußin und das Streitross kommen bestimmte Zeiten in den Blick (39,15.25). So handelt es sich wie im ersten Teil der Gottesrede um eine charakteristische Mischung aus teilweise sehr genauer Naturkunde, altorientalischer und antiker Symbolik, Bezügen auf einzelne dem Hiobdichter vorliegende israelitisch-jüdische Schriften sowie aus buchimmanenten Querverbindungen. Dabei ist eine exakte zoologische Bestimmung der genannten Tiere häufig nicht möglich, da die einzelnen hebr. Begriffe unterschiedliche Angehörige einer Gattung oder Familie bezeichnen können. Der Reigen der von Jhwh versorgten Tiere wird mit dem besonders majestä- 38,39–41 tischen und auch für den Menschen gefährlichen Löwen eröffnet, hier konzentriert auf die Löwin (lābîʾ) und die männlichen Junglöwen (kepîrîm V. 39–40, vgl. Jes 5,29).211 Das AT kennt Löwen als Bewohner des ehemals dichten Buschwaldes am Jordan (arab. ez-zōr, vgl. Jer 49,19; 50,44) sowie von Steppen und Wäldern (vgl. Jes 30,6; Jer 5,6; 12,8; Am 3,4) und beschreibt diese als Raubtiere, die den Menschen, anderes Wild und vom Menschen gehaltene Herden bedrohen.212 Zahlreiche vorderorientalische Darstellungen auf Siegeln und als Statuen weisen Löwen als königliche Tiere aus, häufig auch als Attribute einer Gottheit.213 Aufgrund seines ungeheuren Fleischbedarfs – ein ausgewachsener Löwe frisst täglich sieben bis zehn Kilogramm Fleisch – stellt seine Versorgung ein besonderes Wunder dar (vgl. Ps 104,20–22). Die Fortführung mit dem Raben (ʿoreb) erklärt sich vor dem Hintergrund, dass dieser auch als Aasfresser bekannt ist (V. 41).214 Über den lautlichen Anklang mit dem Wort ʿāræb/ʿæræb („Lauer“ V. 40, vgl. Ps 10,9; 17,12) ist dieses Bild eng mit dem vorangehenden verbunden.215 Am Beispiel des im alten Israel als unrein216 geltenden Raben verdeutlicht der Dichter, dass Jhwh sich um alle Geschöpfe kümmert, zumal, wenn diese ihn zu Hilfe rufen (šāwaʿ, vgl. Ps 147,9; Lk 12,24). Im naturkundlichen Hintergrund könnte auch die bei Aristoteles 209 Vgl. Aristoteles, frgm. 241,7; Vergil, georg. 1, 382; Horaz, carm. 3, 27,9–12; Lukrez, nat. 5, 1084–1087; siehe hierzu ausführlich C. Hünemörder, Art. „Rabe“, DNP 10 [2003/2012] 743f; Fuchs, Mythos, 213; A. Grimm, Aelians Krähe des Königs Mares. Berichte antiker Autoren über den Raben im Lichte altägyptischer Quellen, in: R. Schulz/M. Görg (Hg.), Lingua Restituta Orientalis (FS J. Assfalg), ÄAT 20, Wiesbaden 1990, 135–154. 210 Vgl. Hesiod, frgm. 304. 211 Vgl. Strawn, Lion, 64; 371. 212 Vgl. 2Kön 17,25; Jes 35,9; Jer 4,7; Mi 5,7; Sir 13,19; Achikar IX,9–10 (TUAT III, 334; TAD C1 1.182–183; Weigl, Achikar-Sprüche, 479–489); IPIAO IV Nr. 1010; 1011; 1376. 213 Siehe dazu Cornelius, Lion, 53–85, sowie zahlreiche weitere Beispiele für unterschiedliche Phasen der altorientalischen Kunstgeschichte IPIAO I–IV, vgl. allein für die Eisenzeit IPIAO IV, 376–384; 438–450; 550–555; 612–624. Vgl. auch die Auslegung von Hi 10,16–17. 214 Eine eindrückliche Darstellung, wie sich Löwen und Raben sowie Geier (vgl. Hi 39,30) über Tote hermachen, findet sich schon auf einer äg. Schieferpalette aus der Zeit vor 3150 v.Chr. (IPIAO I Nr. 128). 215 Dazu kommt die Wiederaufnahme der Wurzel ṣwd aus V. 39 in V. 41. 216 Vgl. Lev 11,13–19; Dtn 14,12–18; vgl. dazu auch Goodfellow, Pflanzen und Tiere, 128–131.
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belegte Vorstellung stehen, dass der Rabe seine Jungen aus dem Nest wirft (hist. an. 563a32–b3). Damit zielt das Bild indirekt auch auf eine Ermahnung Hiobs, selbst auf eine Erhörung seiner Person und anderer Bedürftiger zu vertrauen (vgl. Hi 19,7; 30,20.28 bzw. 24,12).217 In einem in V. 41 mutmaßlich ausgefallenen vierten Kolon wurde möglicherweise noch eine weitere Eigenschaft des Raben erwähnt. In der vorliegenden Form erinnert es an den von Noah ausgesandten Raben, der über den sich zurückziehenden Wassern der Sintflut (nach Nahrung suchend) umherfliegt (Gen 8,6–7). 39,1–4 Nach der Versorgung einzelner Tiere und ihrer Jungen (j elādîm) im Leben werden nun die Anfänge des Lebens und die Geburt (lædæt) der Nachkommen in den Blick genommen. Bezieht sich V. 1a ursprünglich auf die Brunstzeit der Steinböcke (jāʿel, vgl. Ps 104,18),218 so steht im Mittelpunkt des jetzigen Textes die Zeit, da die Steinböcke und die Hirschkühe (ʾ ajjālāh) ihre Jungen zur Welt bringen (vgl. Ps 29,9). Die Kenntnis dieser Zeiten meint auch hier nicht einfach ein numerisches Wissen über die grundsätzliche Dauer der Trächtigkeit,219 sondern ein Verfügen über diese Zeiten – dieses ist dem Menschen ebenso entzogen wie das Wissen über einen genauen Geburtszeitpunkt oder die Möglichkeit, dabei zu sein, wenn die als besonders scheu geltenden Hirschkühe niederkommen (vgl. Jer 14,5). In ähnlicher Weise kann der äg. Gott Chnum als Schöpfer dafür gepriesen werden, dass er „das ‚Küken‘ ernährt im Mutterleib bis zu seiner Frist / und seine (…) Mutter es ausstoßen lassen (hat) zur rechten Zeit.“220 Ist die Strophe über die Steinböcke und die Hirschkühe mit der vorangehenden ikonographisch über den Bildzusammenhang von Löwen und Capriden221 sowie sprachlich über die Wurzel jālad und die Paronomasie von jaʿ alê-sālaʿ und ʾ ajjālôt (39,1) mit ʾæl-ʾel (38,41) verknüpft, so leitet das Motiv der in die Freiheit entlassenen Nachkommen (39,3–4) zum nächsten Tierbild über. 39,5–8 Wesentliche Merkmale des (afrikanischen) Wildesels (pæræʾ) und des Onager (ʿārôd)222, der zur Population des asiatischen Wildesels gehört, sind Leben in Freiheit, Wildheit, Schnelligkeit und Ausdauer (vgl. Gen 16,12): Der an der Peripherie (lebende) Wildesel, den man eingekreist hat und dem der Fluchtweg versperrt ist: o Herrscher seiner Erzeuger; ihm schaffst du weiten Raum, so daß er davon laufen und (seinen) Weg einschlagen kann.223
Siehe dazu auch Schmidt-Kahmen, Geschöpfe Gottes, 59f. Siehe die Anm. zur Übersetzung. Aristoteles, hist. an. 578b113–114, spricht von acht Monaten. 220 Übersetzung von J. Assmann, ÄHG 145B, 14–15. 221 Vgl. IPIAO IV Nr. 1002; 1004–1007. 222 Dieses Wort begegnet in der hebr. Bibel nur in Hi 39,5, dürfte aber auch in Jes 32,14 (anstelle von ʿedær „Herde“) und in Jer 48,6 (anstelle von ʿ arôʿer „Wacholder“) zu lesen sein (vgl. BHS). Es handelt sich um einen lexikalischen Aramaismus (Wagner, Aramaismen, Nr. 224, vgl. aram. ʿ arād, akkad. ḫarādu(m) II). 223 Hymnus an Ninurta als Helfer in der Not XIII (25–26) (Übersetzung von W.R. Mayer, Hymnus, 30); vgl. auch Aesop, fab. 194. 217 218 219
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Ihr von Gott geschenkter Lebensraum sind die für menschliche Zivilisation ungeeigneten Steppen und Salzwüsten (vgl. Hi 24,5; Ps 107,34; Sir 39,23; Jer 14,6).224 Wie Löwen erscheinen sie im Alten Orient als bevorzugte Jagdtiere von Königen. Die Unmöglichkeit, sie im Gegensatz zum Hausesel zähmen zu können (V. 7),225 verbindet sie mit dem Wildstier in der nächsten Strophe, dessen Bezeichnung rêm (V. 9–10) lautlich an die Berge (hārîm) anklingt, welche die wilden Esel nach Nahrung durchstreifen (V. 8, vgl. Ps 104,10–11; Jer 14,6). Der frühchristliche Physiologus Nr. 9 zitiert Hi 39,5, wobei das abwehrende Verhalten der Leithengste gegenüber jüngeren Hengsten in der Herde allegorisch als Beispiel für freiwillige sexuelle Enthaltung gedeutet wird.226 Der Wildstier (r eʾem/r eʾêm/rêm) verkörpert einerseits aufgrund seines Gehörns 39,9–12 und seines Körperbaus besondere Stärke (vgl. Dtn 33,17; Ps 22,22; 92,11), andererseits Ungebundenheit. Wie der Löwe erscheint er im Alten Orient daher häufig als Symboltier eines Gottes.227 In freier Wildbahn lebend, ist er im Alten Orient ein königliches Jagdtier, das sich nicht wie das Hausrind (ʾælæp) oder der Hausochse (šôr) an einem Führungsseil zum Pflügen oder zum Lastentransport einsetzen lässt. Im Selbstlob des Prometheus des Aischylos, das strukturell in gewisser Hinsicht mit den Gottesreden vergleichbar ist, hat Prometheus den Menschen das Wissen vermittelt, einem Rind ein Joch aufzulegen und es zum Pflügen einzusetzen (Prom. 462–464). In poetischer Kürze bietet die Strophe eine Beschreibung der Haltung von Nutztieren (V. 9, vgl. Jes 1,3; Spr 14,4) und landwirtschaftlicher Tätigkeit von der Bearbeitung des Ackers (vgl. V. 10, vgl. Hi 1,14; Ps 65,11; Jes 28,24) bis zum Einholen der Ernte auf dem Dreschplatz (vgl. V. 12, vgl. Jo 2,24; Mi 4,12). In der LXX wird hier, wie auch sonst, das Wort r eʾem mit μονόκερως „Einhorn“ wiedergegeben.228 Im Hintergrund steht dabei wohl das indische Nashorn, das auch in paganen hellenistischen Beschreibungen im Kontext von Wildesel (V. 5) und Pferd (V. 19) genannt werden kann.229 Rezeptionsgeschichtlich hat sich diese Übersetzung der LXX dann in den (früh-)christlichen Legenden vom Einhorn niedergeschlagen.230
224 Vgl. die BT 59–60 (TUAT III, 149f); Gilgm. VIII,i,5–6 (TUAT III, 712). In diesem Sinn kann auch in altorientalischen Flüchen der Wunsch ausgesprochen werden, wie Wildesel in der Steppe umherzulaufen (vgl. VTE § 39 [TUAT I, 170]). 225 Vgl. Achikar XV,13–14 (TUAT III, 341; TAD C1 1.293–204; Weigl, Achikar-Sprüche, 520–525). 226 Vgl. Treu, Physiologus, 21f. 227 Vgl. IPIAO IV Nr. 103–108; 138; 1319 u.ö. 228 Vgl. Num 23,22; 24,8; Dtn 33,17; Ps 21(22),22; 28(29),6; 91(92),11. 229 Erstmals wohl bei Ktesias von Knidos (5/4. Jh. v. Chr.), Indika frgm. 45,45 (FrGrH 3c, 688, F 45); vgl. auch Aristoteles, hist. an. 499b; part. an. 663a; Strabo, geogr. 15, 1,56. 230 Vgl. Physiologus Nr. 22 (vgl. Treu, Physiologus, 42–45).
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39,13–18 Die Straußenperikope Literatur Müller, H.-P.: Die sog. Straußenperikope in den Gottesreden des Hiobbuches, ZAW 100 (1988) 90–105. – Walker-Jones, A.: The So-called Ostrich in the God Speeches of the Book of Job (Job 39,13–18), Bib. 86 (2005) 494–510.
Die Interpretation der Strophe auf die im AT als unrein geltende ,Straußin‘ wird aufgrund eines sehr seltenen Wortgebrauchs, besonders im ersten Bikolon, erschwert. Die antiken Übersetzungen unterscheiden sich zwar untereinander, legen aber wie der Kontext zumindest teilweise Vogelnamen nahe. Die traditionelle Deutung des nur hier in der hebr. Bibel vorkommenden Pluralwortes r enānîm, das mit der Wurzel rnn („laut rufen/gellen“) zusammenhängt und auf die Lautäußerung dieses Vogels Bezug nimmt, als Strauß/Straußin (gewöhnlich jāʿen/jaʿ anāh) basiert auf der lat. Übersetzung strutio (La; Vg) und der Beschreibung des Umgangs mit dem Gelege.231 Der Vergleich in V. 13b zielt wohl darauf, dass die ,Straußin‘ trotz ihrer gewaltigen Flügel im Gegensatz zur Störchin nicht fliegen kann (vgl. Sach 5,9) und ihr Gefieder nicht zum Schutz ihres Nestes und ihrer Jungen verwendet (vgl. Dtn 32,11; Ps 91,4). Allerdings ist auch die Übersetzung der Wörter ḥ asîdāh (wörtl. „die Fromme“, dann wohl Storch) und noṣāh („Gefieder“) umstritten. Insofern der Storch in der Antike als besonders fürsorglich gepriesen wird,232 passt seine Erwähnung gut als Kontrast zur folgenden Beschreibung der hartherzig erscheinenden Ablage der Straußeneier im Wüstensand (V. 14–16, vgl. Klgl 4,3; Jes 10,14).233 Tatsächlich dient der warme Wüstensand dem Brutvorgang der sich in der Steppe und in der Wüste aufhaltenden Strauße.234 Dieses Tier (d.h. der Strauß) ist nämlich sehr nachlässig. Es kratzt die Erde auf und legt die Eier hinein und deckt sie mit Sand zu, und aus Faulheit kümmert es sich nicht weiter um die Eier. Deswegen legt er sie im Hochsommer, damit das, was die Straußin selbst tun sollte, nämlich ausbrüten, der pralle Sonnenschein tut, der die Küchlein ausschlüpfen läßt. (Physiologus Nr. 54)235
Für die Wiedergabe von noṣāh könnte auch „Falkin“ erwogen werden, allerdings ist vom Falken noch in einer eigenen Strophe die Rede (V. 26). Dem scheinbaren Fehlen von „Weisheit“ und „Einsicht“ steht die von Gott geschenkte Schnelligkeit
Zur Philologie siehe ausführlich H.-P. Müller, Straußenperikope, 90–105, sowie die Diskussion zahlreicher Konjekturen bei J. Gray, der selbst anstelle von r enānîm mit Duhm, Budde u.a. j eʿenîm liest. 232 Aristoteles, hist. an. 615b,23–31; Plinius, nat. 10, 63 (Rackham, III, 332f); vgl. auch Physiologus Nr. 27; 53 (Treu, Physiologus, 51f; 100f). 233 In Jer 8,7 wird der Storch neben anderen Zugvögeln als Vorbild für den Gehorsam gegenüber einer von Gott gesetzten Ordnung (mišpāṭ) erwähnt. 234 Vgl. Jes 13,21; 34,13; 43,20; Jer 50,39. 235 Übersetzung von U. Treu, Physiologus, 101. 231
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der ,Straußin‘ gegenüber, mittels derer sie selbst ein Pferd übertrifft (V. 18)236. Auch die Furchtlosigkeit (V. 16) kann als eine Gabe Gottes verstanden werden. Vermutlich hat die Redaktion, die für die Einfügung von Kap. 26 und Kap. 28 zuständig ist und die unter den redaktionellen Bearbeitungen der Dichtung der ursprünglichen Schöpfungstheologie von Kap. 38–39 am nächsten steht, das Lied auf die ,Straußin‘ dem Vers über die zwei mit Weisheit und Einsicht begabten Vögel (Ibis und Hahn) in 38,36 zur Seite gestellt und aufgrund der Stichwortassoziation mit „Pferd“ (sûs 39,18.19) zwischen die Schilderung des Wildstiers (39,9–12) und des Streitpferds (sûs 39,19) eingefügt. Dass sich die ,Straußen‘ -Strophe gut zum Bild des ,Herrn der Tiere‘ fügt237 und über einzelne Stichwörter und Motive mit anderen Tierbildern in Kap. 39 verbunden ist,238 spricht nicht gegen die Annahme, diese Passage sei sekundär. Wesentlich ist, dass auch der ‚Strauß‘, dessen Feder in der äg. Mythologie die Göttin Ma’at, die Wahrheit, Gerechtigkeit und kosmische Ordnung, symbolisiert, hier rein als ein Geschöpf Jhwhs erscheint. Auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches kann diese Strophe Hiob indirekt vor Augen führen, dass er auch als „Gefährte der Strauße“, d.h. in seiner Einsamkeit und seiner krankheitsbedingten Unreinheit, letztlich nicht aus der Fürsorge Gottes herausfällt (vgl. 30,29, Mi 1,8). Auch der Hinweis auf die Unerschrockenheit (b elî-paḥad) der ‚Straußin‘ (V. 16) kann – zumindest indirekt – als ein Hoffnungsbild für den vom Schrecken (paḥad) geplagten Hiob erscheinen (vgl. 3,25; 22,10). Gegenüber der traditionellen Deutung von Hi 39,13–18 auf die ‚Straußin‘ vertritt A. Walker-Jones die These, in den Versen würde ein Flughuhn (sand grouse) beschrieben. So fügten sich insbesondere die Darstellung des Gefieders (V. 13), der Ablage zerbrechlicher Eier im Sand (V. 14), des schnellen Auffahrens in die Höhe, womit das Aufsteigen (mārāʾ)239 in den Himmel gemeint sei (V. 18), und der Namen gebende gellende Schrei (V. 13.18) sehr viel besser zu einem Flughuhn als zu einem Strauß. Der Vorschlag Walker-Jones’ beseitigt zwar einige Probleme der Perikope, basiert aber teilweise auf eigenwilligen philologischen Deutungen, so wenn V. 16 im Sinn der Befähigung der Küken bei drohender Gefahr auch ohne die Mutter fliehen zu können, verstanden wird,240 und berücksichtigt zu wenig die ikonographische und symbolische Dimension dieses Abschnitts.
Die Ausführungen zum Pferd (sûs) unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht 39,19–25 von den vorangehenden Tierbildern: Erstens umfassen sie zwei Strophen, wobei in der Schlusszeile der zweiten Strophe ein Kolon ausgefallen zu sein scheint (V. 25). Zweitens finden sich nur in den ersten drei Kola Fragen an Hiob 236 Wörtl.: „verlacht“ (vgl. V. 7.22; 41,21); zur Schnelligkeit des Straußen vgl. auch Xenophon, an. I, 5. 237 Siehe Keel, Entgegnung, 102–108, mit entsprechenden Siegeldarstellungen; vgl. auch ANEP Nr. 706; IPIAO IV Nr. 1270; 1271; 1936. 238 Neben den genannten Beziehungen zu den Strophen über das Pferd bestehen natürlicherweise vor allem Stichwort- und Motivparallelen zur Strophe auf den Falken und den Geier (V. 26– 30), über das Motiv der Jungen aber auch zu den Rabenversen (38,41) und zur Strophe auf die Hirschkühe (39,3–4). 239 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 240 Siehe die Anm. zur Übersetzung.
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(V. 19–20a), während die weiteren zwölf bzw. dreizehn Kola der Beschreibung des Verhaltens des Pferdes in der Schlacht gewidmet sind (V. 20–25#). Drittens handelt es sich beim Pferd um ein zwar besonders starkes, aber vom Menschen doch gezähmtes Tier. In Palästina sind domestizierte Pferde aufgrund entsprechender Knochenfunde spätestens für das 4./3. Jt. v.Chr. nachweisbar. Während es in den Hochkulturen in Kleinasien, Mesopotamien und Ägypten und in von diesen beherrschten Gebieten bereits im 2. Jt. v.Chr. eine wichtige Rolle als Zugtier, vor allem von Streitwagen, spielte, erhielt es in Israel erst im Verlauf der frühen Königszeit eine höhere Bedeutung. Wesentliche Einfuhrgebiete waren Kleinasien, Syrien und Ägypten. Wie in den Nachbarkulturen wurde das Pferd zunächst vor allem als Zugtier genutzt. Zwar sind einzelne Reiterdarstellungen aus dem Irak aus dem frühen 2. Jt. v.Chr. und aus Ägypten aus dem 15. Jh. v.Chr. bekannt, doch erscheinen erst unter Assurbanipal (669–631/627 v.Chr.) im assyrischen Heer bewaffnete Reiter, die von berittenen Schildträgern begleitet werden. In persischer Zeit stieg die Nutzung von Pferden als Reittier im Krieg und bei der Jagd. Bei den Achämeniden (6.–4. Jh. v.Chr.) und den ihnen in der Oberherrschaft über Mesopotamien und Syrien folgenden Seleukiden gehörten Reitertruppen dann fest zum Heer dazu.241
Wie bei den vorangegangenen Bildern greift der Dichter bestimmte charakteristische Merkmale des beschriebenen Tieres heraus, anhand derer Hiob – und damit dem Leser – von Gott die eingeschränkte Verfügung über die Schöpfung vor Augen geführt wird. Zwar kann der Mensch das Pferd im Krieg nutzen – im AT kann das Pferd geradezu als ein Symbol für militärische Gewalt stehen und ist daher überwiegend negativ konnotiert.242 Doch es ist allein Jhwh, der ihm die körperlichen Voraussetzungen, d.h. Sprungkraft, verdeutlicht durch den Vergleich mit der Heuschrecke (vgl. Jo 2,4), sowie Stärke, Schnelligkeit und Mut geschenkt hat und der es, sofern die Deutung des hap. leg. raʿmāh als Mähne stimmt,243 auch besonders geschmückt hat. Dabei besitzt das Pferd durchaus etwas Numinoses, wenn es, Schrecken (ʾêmāh, vgl. Hi 13,21; 33,7) verbreitend, im vollen Galopp in einer Ebene (ʿemæq) über die Erde donnert (vgl. Jer 8,16; 47,3; Nah 3,2), was an die Begleiterscheinungen einer Theophanie erinnert.244 Während die Strophe über den Wildstier, mit dem das Pferd die göttliche Begabung mit besonderer Kraft teilt, einen kleinen Einblick in die antike Landwirtschaft liefert,245 bietet die Doppelstrophe über das Pferd auch eine Miniatur zu militärischer Praxis im Alten Orient (V. 21–25). Mit dem aus einem Widderhorn gefertigten Schopharhorn wurden wichtige Signale bei und insbesondere zu Beginn der in der Regel im Tal geführten Schlacht gegeben (V. 21 bzw. V. 25).246 Köcher (ʾašpāh), in denen Bogenschützen ihre Pfeile 241 Zum gesamten Abschnitt siehe H. Weippert, Art. „Pferd und Streitwagen“, BRL2 (1977) 250–255, und D.W. Anthony, Art. „Horses, ancient Near East and Pharaonic Egypt“, Encyclopedia of Ancient History (2013) 3311–3314, sowie zu vorderorientalischen Reiterdarstellungen Keel, Bildsymbolik, 216–218; IPIAO IV Nr. 1343–1345; 1946–1952. 242 Vgl. Ps 33,17; 147,10; Spr 21,31; Jes 31,1–3. 243 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 244 Vgl. Hi 37,4; Ri 5,4; Nah 1,5; Hab 3,8; Ps 68,9. 245 Auch im Fall des Pferdes nimmt Prometheus für sich in Anspruch, den Menschen entsprechend unterwiesen zu haben (Aischylos, Prom. 465–466), s.o. zu Hi 39,9. 246 Vgl. Jos 6,5.16; Ri 3,27; 6;34; Jer 4,19; 42,14.
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aufbewahrten, hingen entweder an den Seiten der Streitwagen oder wurden von berittenen Soldaten auf dem Rücken getragen (vgl. Jes 22,6). Das beidseitig geschärfte Schwert (ḥæræb) und der Speer (ḥanît) bildeten die wichtigsten Waffen (vgl. Nah 3,3). Hier kommt, wie bei der Beschreibung der Rüstung Goliaths (vgl. 1Sam 17,45), das Krumm- oder Kurzschwert (kîdôn) hinzu, wobei die genaue Identifikation umstritten ist. Möglicherweise bezeichnet das Wort zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Waffen.247 Trotz aller tierkundlichen und militärischen Details hat auch die stilistisch sehr kunstvoll gearbeitete Doppelstrophe über das Streitpferd eine Beziehung zu Hiobs Geschick und Fragen.248 So kann Hiob hier erneut lernen, Gottes unverfügbare und sich letzter menschlicher Rationalität entziehende Schöpfermacht anzuerkennen, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten – so wie das Schlachtross den Schall des Schophar –, und, selbst wenn ihn tödliche Pfeile und Fallgruben (paḥat v.l., V. 22) umgeben,249 furchtlos zu sein. Bezieht man in die Deutung der Verse noch die biblische Exodustradition ein, unterstreicht die Doppelstrophe die geschichtliche Macht Jhwhs, der Rosse und Streitwagen ins Meer wirft (Ex 15,21), Kriege beendet (Ps 46,10; Sach 12,4; Jdt 16,2) und sich nicht an der Stärke des Kriegspferdes, sondern an menschlicher Gottesfurcht erfreut (Ps 147,10). Unterstellt man dem Dichter eine Kenntnis dieses Traditionsstrangs, so enthält die Passage über das Pferd auch einen versteckten Hinweis an den gottesfürchtigen Hiob, die Hoffnung nicht aufzugeben (vgl. Ps 33,17–18; Spr 21,30–31). Hiob muss diesen Hinweis nur entdecken: Die Gottesrede zielt bei aller Bestreitung menschlichen Wissens über den Kosmos gerade auch auf ein vertieftes Sehen und auf die Fähigkeit, unterschiedliche Erfahrungen und Phänomene aufeinander zu beziehen. Die Schlussstrophe knüpft mit dem Begriff bînāh („Einsicht“) an den Auf- 39,26–30 takt der ersten Gottesrede an (V. 26, vgl. 38,4). Sie unterstreicht nochmals die kategoriale Differenz, die zwischen göttlichem und menschlichem Wissen hinsichtlich der Schöpfung und ihrer Gestaltung besteht. Die Strophe ist wohl nicht in der ursprünglichen Form erhalten. Dies zeigen die Kürze von V. 27b, die Dubletten in V. 28 und die Durchbrechung des strophischen Musters von Kap. 38–39, insofern hier nicht drei bzw. vier, sondern fünf Bikola eine Strophe bilden.250 Die genaue Klassifikation der beiden Vögel ist umstritten. Die 247 Vgl. Jos 8,18; 1Sam 17,6; Jer 6,23; Sir 46,2 [HB]; 1QM V,6–14. Zu den einzelnen Waffen siehe auch H. Weippert, Art. „Dolch und Schwert“, BRL2 (1977) 57–62, sowie H. Bonnet, Die Waffen der Völker des alten Orients, Leipzig 1926 (Nachdr. 2011) und die oben zu Hi 20,25 genannten Abbildungen. 248 Zahlreiche Paronomasien in den V. 22–25, darunter auch das Wortspiel zwischen śûś („Pferd“, V. 19) und śîś [„jauchzen“, V. 21), lassen das Hufgetrappel, das Wiehern, unterstrichen durch eine Zitationsformel sowie durch den Ausruf hæʾāḥ (V. 25, vgl. Ps 35,21; 40,16), und den Schlachtlärm (t erûʿāh, vgl. Jos 6,5; Zeph 1,16) förmlich hören (vgl. dazu auch Watson, Poetry, 283). Zu V. 21 vgl. auch die Beschreibung bei Xenophon, equ. 10,16. 249 Vgl. Hi 6,4; 16,7–16; 19,6–9; 30,10–14. 250 Gegenüber Duhm, der in V. 27 die Wortfolge jagbî ah nāšær w ekî und den Beginn von V. 28 (sælaʿ jiškon) als eine aus Jer 49,16 eingedrungene Glosse betrachtete und so alle Bezüge auf den næšær strich (so auch Hölscher; Fohrer), dürfte V. 28 (mit Ausnahme von w ejitlonān, das zu V. 27b
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Verse entsprechen der Tendenz der anderen Tierbilder und sind mit diesen über Stichworte verknüpft. Am Beispiel charakteristischer Eigenschaften und Lebensformen von Raubvögeln wird Hiob die Vielfalt göttlichen Handelns und die Beschränktheit menschlicher Möglichkeiten vor Augen geführt. Dass am Ende der Gottesrede Tiere erscheinen, die sich in himmlische Höhen erheben, korrespondiert mit der die Gottesrede eröffnenden Beschreibung der Erde und der himmlischen Welt (38,4–7). Eine enge motivische Verbindung zur unmittelbar vorangehenden Beschreibung des Schlachtrosses bildet die Nennung von im Krieg durchbohrten Menschen (39,30).251 Mit der Eingangsstrophe des Tierkatalogs in 38,39–41 korrespondiert die Schlussstrophe über die Motive der blutigen Beute (39,30 par. 38,39) und dem Motiv der Versorgung der Jungtiere (39,30 par. 38,41). Mit dem seine Flügel zum Südwind (têmān, vgl. Ps 78,26; Sir 43,16; Hhld 4,16)252 hin ausbreitenden neṣ ist vermutlich der (Wander-)Falke, weniger wahrscheinlich ein Habicht oder Sperber gemeint (V. 26).253 Im AT gilt der Falke als unrein (vgl. Lev 11,16; Dtn 14,15), während er in Ägypten kultisch verehrt wurde, vor allem, aber nicht nur, als Verkörperung des Gottes Horus. Zudem spielt der Falke seit dem Alten Reich im äg. Totenkult eine besondere Rolle, er symbolisiert den Aufenthaltsort der Verstorbenen und begegnet daher auf zahlreichen Amuletten.254 In Hi 39 ist er, wie der ebenfalls in der äg. Mythologie verankerte Ibis (38,36), ein Geschöpf Jhwhs. Dies schließt nicht aus, dass Hiob bzw. ein mit äg. Mythologie vertrauter Leser nicht auch die mit dem Falken verbundene Symbolik zum Verstehen des göttlichen Plans (ʿeṣāh, 38,2) heranziehen kann. Der Abschluss der ersten Gottesrede mit einer Beschreibung des næšær (V. 27–30), womit sowohl ein Adler als auch ein Geier bezeichnet werden kann – Letzteres dürfte hier zutreffen (V. 27, vgl. Mi 1,16; Inschrift vom Tell Dēr ʿAllā I,8 nšrt)255 –, erklärt sich erneut erstens vor dem Hintergrund der konkreten Anschauung eines solchen Vogels, der den größten in Syrien-Palästina bekannten Raubvogel darstellt, zweitens im Kontext der damit verbundenen, im gesamten Alten Orient verbreiteten Symbolik und drittens im Zusammenhang der bibligezogen werden kann, und von meṣûdāh, das als mimmeṣûdātô gelesen ursprünglich V. 29 eröffnet haben könnte) eine Glosse sein. 251 Keel, Entgegnung, 85, mit Hinweisen auf die Zusammenstellung von Pferden und Geiern auf syr. und assyrischen Kampfbildern, sowie die zu Hi 38,41 genannte Abbildung in IPIAO I, Nr. 128. 252 Vgl. dazu den gleichlautenden Herkunftsort des Eliphas (siehe zu Hi 2,11; 4,1; 15,1; 22,1). 253 Siehe dazu auch Goodfellow, Pflanzen und Tiere, 137f. 254 C. Hermann, Ägyptische Amulette aus Palästina. Mit einem Ausblick auf ihre Rezeption durch das Alte Testament, OBO 138, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1994, 587–596; ders., Made in Egypt. Zur Verbreitung ägyptischer Amulett-Typen in Palästina/Israel und zur Frage ihrer Herkunft, in: J. Kamlah u.a. (Hg.), Zauber und Magie im antiken Palästina und in seiner Umwelt, ADPV 46, Wiesbaden 2017, 125–140, Tf. 1 Nr. 2; 3; Tf. 12 Nr. 2.12–14; Tf. 18 Nr. 3.46–50; Tf. 29f Nr. 4.99–102. 255 KAI 312 I,8 (TUAT.NF VIII, 467); vgl. auch die in der Anm. zur Übersetzung von V. 27 diskutierte Konjektur kîdôr („Geier“?). Identifiziert man den næšær in Hi 39,27 mit dem Adler (so Weiser), ergeben sich andere mythische und symbolische Bezüge (vgl. Fuchs, Mythos, 218), ohne dass das grundsätzliche Ziel der Strophe anders zu bestimmen wäre.
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schen Belege. Als Aasfresser (vgl. V. 30; Spr 30,17; Mt 24,28; Lk 17,37) gilt der Geier in der hebr. Bibel als unrein (vgl. Lev 11,13; Dtn 14,12). Dennoch werden seine Größe (vgl. Ez 17,3.7), seine Schnelligkeit (vgl. 2Sam 1,23; Jer 4,13; Klgl 4,19), sein hoher Flug (vgl. Spr 23,5; 30,19; Jer 48,40; 49,22), sein plötzliches Herabstoßen auf Beute (vgl. Hi 9,26; Hab 1,8) und seine hoch in den Felsen liegenden Nester (vgl. Hi 39,27; Jer 49,16; Obadja 3–4)256 bestaunt und zu Vergleichen herangezogen.257 Wie der Falke wurde der Geier in Ägypten kultisch verehrt, u.a. als Symboltier der Göttinnen Nechbet und Mut.258 Daneben wurde ihm wohl, wie Siegel aus Syrien-Palästina zeigen, auf denen ein Geier und ein Skarabäus, das aus Ägypten stammende Symbol der Unsterblichkeit, nebeneinander zu sehen sind, eine besondere Regenerationskraft zugesprochen.259 Bezogen auf Hiob könnte dann aus dem Geierbild, so naturkundlich es sich auf der Textoberfläche gibt, die Hoffnung gezogen werden, dass Gott Hiob einst wieder mit Gutem sättigen und erneuern werde (Ps 103,5, vgl. Jes 40,31). Damit würde sich Hiobs Wunsch nach einer grundlegenden Wiederherstellung erfüllen (vgl. 19,25–26; sowie in gegenüber 39,26–30 jüngeren Textschichten 29,20; 42,10). Auf der Ebene einer innerbiblischen Auslegung kann noch ein zweites Bildwort zum Verständnis von 39,27 im Kontext der ‚Endgestalt‘ der hebr. Bibel herangezogen werden. So wird in Ex 19,4–5 und Dtn 32,10–11 die Bewahrung Israels durch Jhwh selbst mit dem schützenden Verhalten des Geiers gegenüber seinen Jungen verglichen. Vor diesem Hintergrund könnte Hiob aus der Gottesrede lernen, dass er – wie die ganze Erde und wie Israel – Jhwhs Eigentum ist. Wenn Hiob darüber klagt, dass Gott nicht auf den Hilfeschrei der Ermordeten (ḥalālîm) achte (24,12), dann zeigt das abschließende Bild des von Jhwh an die Stätte der Ermordeten geschickten Geiers (39,30, vgl. 15,23 [conj.; LXX]; 1Kön 14,11), dass auch dieser Ort nicht außerhalb des Planes Gottes steht. Ein alle einzelnen Bilder der ersten Gottesrede verbindendes Element ist das Rückblick Thema Zeit. Jhwh ist der Herr der Schöpfungszeit und der Tageszeiten, der Wetterzeiten und der Geburtszeiten der Tiere. Wie der äg. Amun-Re erscheint Jhwh als Herr der Zeit.260 Damit ist die erste Gottesrede eine ausdrückliche Antwort auf Hiobs Bestreitung der Herrschaft Jhwhs über die Zeiten (vgl. Kap. 3). Jhwh verfügt über die Zeit – sei es über die kosmische Zeit, sei es über die individuelle Lebenszeit. Er versorgt in dem von ihm gebauten Kosmos alles „zu Dies notiert auch ausdrücklich der Physiologus Nr. 19 (Treu, Physiologus, 39f). Siehe dazu ausführlich P. Riede, Art. „Geier“, wibilex 2010 (Zugriffsdatum: 6.11.2020) (https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/19160/). 258 Vgl. IPIAO Nr. 1039; 1776. 259 Siehe dazu S. Schroer, „Im Schatten deiner Flügel“. Religionsgeschichtliche und feministische Blicke auf die Metaphorik der Flügel Gottes in den Psalmen, in Ex 19,4; Dtn 32,1 und in Mal 3,20, in: R. Kessler/K. Ulrich (Hg.), „Ihr Völker alle, klatscht in die Hände!“ (FS E. Gerstenberger), Exegese in unserer Zeit 3, Münster 1997, 296–316. Zum „Geierflügel“ als Symbol der von Amun ersehnten und erbetenen Rettung vgl. das Gebet ÄHG 179, 10. 260 Vgl. den Amun-Re-Hymnus aus der Vor-Amarna-Zeit ÄHG 87B, 42. 256
257
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seiner Zeit“ (38,32).261 Jhwh ist aber auch der Herr über Leben und Tod. Dies soll Hiob, der in der ersten Gottesrede durch die Höhen, Tiefen und Weiten der Erde einschließlich der Unterwelt geführt, der mit Gottes Macht konfrontiert und dessen Stellung einschließlich seiner sich auf die Torah beziehenden Gerechtigkeit vor Gott relativiert wird, anerkennen. Die erste Gottesrede zeigt, dass auch der Fromme, der seine Treue gegenüber der Torah für seine Gerechtigkeit hält (vgl. Hi 27,6 versus Dtn 6,25), der unmittelbaren göttlichen Unterweisung bedarf. In den von Gott räumlich und zeitlich strukturierten Kosmos soll der von Gott im Du angeredete und somit ernstgenommene Hiob sich und sein Leid einfügen. Eine ausdrückliche Antwort auf die Frage Hiobs nach dem Grund seines Leidens gibt diese Gottesrede nicht. Leiden erscheint vor diesem Hintergrund als ein Geheimnis, das sich einer letzten Erklärung entzieht. Es hat aber seinen Ort in der von Gott gestalteten und umfassend versorgten Welt und hebt die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch nicht auf. Dabei zielen gerade die Tierbilder im zweiten Teil der Gottesrede – neben der Verdeutlichung der vielgestaltigen und sich menschlichem Verstehen und Verfügen entziehenden Schöpfung und ihrer wunderbaren Leitung durch Gott – auch auf eine Vermittlung von Hoffnung und Vertrauen auf Gott, der jederzeit Leben schenken, bewahren und erneuern kann – auch Hiobs Leben. Im Kontext des kritischen Torahdiskurses im Hiobbuch relativiert die erste Gottesrede die Torah und ihr Offenbarungsverständnis. Die Rede Jhwhs aus dem Sturm an Hiob reformuliert die alte, genuin weisheitliche kosmologische Begründung einer Gemeinschaft von Gott und Mensch gegenüber einer (vor allem dtn.-dtr. geprägten) historischen Anbindung der Offenbarung an den Sinai. Nach der ersten Gottesrede vermag eine mythische Kosmologie die Ambivalenzen der Wirklichkeit besser zu deuten als eine auf Kategorien des Rechts aufbauende Theologie.262 Hiob wird dem am Ende zustimmen: zunächst schweigend; dann, aufgrund der Fortschreibungen durch die Niedrigkeitsredaktion, sich angesichts der ihm ermöglichten Gottesschau demütig unterwerfend (40,3–5; 42,1–6*); schließlich, auf der Ebene der ihm von der Majestäts- und Gerechtigkeitsredaktion in den Mund gelegten hymnischen Stücke,263 sich an eigenes Wissen rückerinnernd. Der letzte Einblick in die kosmischen Zusammenhänge bleibt auch nach dem Gang durch die Welt, den Hi 38–39 bietet, dem Menschen verborgen.264 Die dem Menschen gemäße Form der Weisheit ist die Gottesfurcht und die Anerkennung von Gottes alleiniger Verfügungsmacht über Himmel und Erde und alles, was diese bewohnt.265
Vgl. Hi 5,26; Ps 104,27; 145,15; Pred 3,11; 4Q285 frgm. 1(8),6/11Q14 frgm. 1 II,9. Vgl. dazu auch K. Schmid, Gott als Angeklagter, 131. 263 Vgl. Hi 9,2–14; 12,7–13,2; 26,5–14 bzw. Hi 12,4–6; 24,5–8.(9).13–25; 27,7–10.13–23; 30,1aγ–8; 31,1–3.11–12. 23.28.38–40a; 40,1–2; 42,3aα.4. 264 Vgl. Hi 26,14; 28,12–14.20–22. 265 Vgl. Hi 28,28, vgl. 37,23–24; Spr 30,4–6. 261 262
Hi 40,1–5 Ein Zwischengespräch zwischen Gott und Hiob
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Hi 40,1–5 Ein Zwischengespräch zwischen Gott und Hiob 40,1 Und Jhwh antwortete Hiob und sagte: 2
GR
Wird der, der mit Schaddaj streitet1, weichen2? Wird der, der Eloah zurechtweist3, darauf4 antworten?5
3
Und Hiob antwortete Jhwh und sagte:
4 5
Siehe, ich bin (zu) gering, was kann ich dir erwidern? Meine Hand lege ich auf meinen Mund. Einmal habe ich geredet, und ich antworte nicht mehr, und ein zweites Mal, aber ich fahre nicht fort.
NR
Dailey, T.F.: The Wisdom of Divine Disputation? On Job 40.2–5, JSOT 63 (1994) 105–119. – Gla- Literatur zov, G.Y.: The Significance of the ‘Hand on the Mouth’ Gesture in Job XL 4, VT 52 (2002) 30–41.
Im vorliegenden Text bilden die V. 1–5 eine Kleinkomposition, deren roter Faden das Motiv einer Antwort Hiobs auf die vorangehende Rede Gottes ist. So zieht sich durch alle fünf Verse, einschließlich der Überschriften in V. 1 und V. 3, ein Begriff des Antwortens (viermal ʿānāh, einmal šûb Hif.). Darin spiegelt sich die grundsätzliche dialogische Struktur der Begegnung Gottes mit Hiob, auch wenn diese, wie bereits der Umfang der Redeanteile in 38,1–42,6 zeigt, natürlich asymmetrisch ist. Im Gegensatz zu den rhetorischen Fragen in 38,1– 39,30 handelt es sich bei der nur ein Bikolon umfassenden Kurzrede Gottes in 40,2 um eine echte Frage, die mittels des ausdrücklichen Verzichts Hiobs auf eine weitere Replik ‚beantwortet‘ wird. Dabei verwendet der Dichter neben einem Niedrigkeitsbekenntnis (V. 4a) einen kurzen gestaffelten Zahlenspruch (V. 5, vgl. Ps 62,12 und siehe zu Hi 5,19–21; 33,13–14.29–30).
1 Aufgrund des Parallelismus ist wohl anstelle des Inf. abs. rob (als Ersatz für das finite Verb, vgl. G/K § 113ee; Brockelmann, Syntax § 46a; Waltke/O’Connor § 35.5.2a n. 55) das Partizip rāb zu lesen, wenn rob nicht als eine (ältere) Vokalisierung des Partizips betrachtet wird (vgl. Gordis; Hartley; Clines). 2 Anstelle von jissôr („der Tadler“, Weiser – ähnlich Clines als Qal von jsr [„er tadelt“]) lies jāsûr. Während dieses Wort nur einmal im MT begegnet, ist es in der Bedeutung „Unterweisung/Vorschrift“ mehrfach in Schriften aus Qumran belegt (vgl. 1QS III,1) und in der Bedeutung „Bestrafung“ wohl einmal in Sir 40,29 (HM). Strauß versteht jissôr als Attribut zu Schaddaj als dem Erzieher. 3 Auch hier betrachtet Strauß môkî aḥ als Attribut zu Gott als dem Schiedsrichter. 4 Das Suffix in jaʿ anænnāh bezieht sich wohl nicht nur auf die Frage in V. 2a, sondern auf alle Hiob vorher gestellten Fragen. 5 Zumeist wird das Kolon als eine Aufforderung an Hiob zur Antwort verstanden. Die parallele Konstruktion dieses Verses spricht dafür, V. 2b noch unter die Rektion der Fragepartikel aus V. 2a zu stellen (vgl. Dhorme).
Aufbau und Sprachformen
638
Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
Text- und In 11QTgHi ist nur ein Äquivalent zu 40,5 erhalten. Dabei begegnet der masoLiterar- ret. Vers 40,5 doppelt: einmal an der Position, an der ihn auch der MT bietet geschichte (Kol. XXXIV,1), und einmal mit einer leichten Modifikation zwischen den masoret. Versen 42,2 und 42,4 anstelle des masoret. Verses 42,3 (Kol. XXXVII,5).6 In Kol. XXXIV,1 weist 11QTgHi nach ‚V. 5‘ einen kleinen Leerraum auf, womit der Schreiber wohl den Abschluss einer Sinneinheit andeutet. In LXXZi sind die Verse bzw. Versteile 40,1–2 asterisiert. Im ‚kirchlichen Text‘ der LXX stammen sie aus Th. Der OG bzw. dessen Vorlage verfügte also nur über zwei Gottesreden. 40,4 LXX erscheint als Pendant zu V. 2 MT, allerdings im Munde Hiobs. Wie in der Einleitung zu den Gottesreden vermerkt,7 dürfte es sich bei 40,1–2 um einen der jüngsten Zusätze im Hiobbuch handeln.8 Gegen die Annahme, 40,2 gehöre noch in die ursprüngliche Gottesrede,9 sprechen die Verwendung der Gottesbezeichnungen šaddaj und ʾ ælô ah und die Rede Gottes in der 3. P. Sg., während Gott zuvor von sich in der 1. P. Sg. spricht und Hiob direkt im Du anredet (vgl. 39,26–27). Stilistisch und tendenziell könnte 40,1–2 vom Verfasser der Elihuredaktion eingefügt sein (vgl. 32,12)10 oder, was aufgrund der literargeschichtlichen Abfolge der Fortschreibungen im Bereich von 40,1–41,26 wahrscheinlicher ist, von der Gerechtigkeitsredaktion.11 Die sich anschließende, nur aus zwei Versen bestehende Kurzrede Hiobs (40,3–5) bildete ursprünglich zusammen mit 42,2.3aβ.b.5–6 eine Antwort.12 In 42,3a.4 liegen literargeschichtlich jüngere zitatähnliche Anspielungen auf 38,2 bzw. 7,11 und 13,22–23 vor.13 Auf ihrer literargeschichtlich ältesten, gegenüber der ursprünglichen Dichtung gleichwohl sekundären Stufe stellt die eine Schlussantwort Hiobs eine kleine Ringkomposition aus sechs Bikola dar. In dieser korrespondieren 40,4 (A) und 42,6 (A’) über die Motive der kreatürlichen Unwürdigkeit und des menschlichen Verstummens vor Gott sowie 40,5 (B) und 42,5 (B’) über das antithetische Wortpaar dibber („reden“) und šāmaʿ („hören“). Im Zentrum stehen 42,2 (C) und 42,3aβ (C’), verbunden über das Leitwort jādaʿ („wissen“) und den vergleichenden Lobpreis der göttlichen mezîmmāh („Plan“) und niplāʾôt („Wunder“):
6 11QTgHi: „Eins (d.h. ein Wort) habe ich gesagt, und ich werde nicht antworten, / und zwei und ich werde diesen nicht(s) hinzufügen.“ 7 S.o. S. 594f. 8 Auch in HsK431 fehlt zumindest Hi 40,1. Hölscher und Fohrer halten dies für ursprünglich, sehen dann aber 40,2 (zusammen mit 40,8–14) als ursprünglichen Abschluss der ersten (und einzigen) Gottesrede an; ebenso J. Gray, der aber noch V. 7 bewahrt. 9 So z.B. Hölscher; Fohrer; van Oorschot, Gott, 151–158. 10 Vgl. Mende, Leiden, 394f. 11 Vgl. Hi 9,2–14; 12,4–6; 24,5–8.(9).13–25; 27,7–10.13–23; 31,1–3.11–12.23.28.38–40a. Vgl. dazu auch Vermeylen, Métamorphoses, 349, der allerdings 40,1–2; 40,6–41,26 und 42,1–6 auf eine „vierte (und letzte) Buchredaktion“ zurückführt. 12 S.o. S. 594 (mit Anm. 9). 13 Vgl. zudem Hi 10,2; 14,15; 21,2–3; 23,5; 33,31; 35,16; 37,19.
Hi 40,1–5 Ein Zwischengespräch zwischen Gott und Hiob
40,3
639
Und Hiob antwortete Jhwh und sagte:
A 40,4 Siehe, ich bin (zu) gering, was kann ich dir erwidern? Meine Hand lege ich auf meinen Mund. B 40,5 Einmal habe ich geredet, und ich antworte nicht mehr, und ein zweites Mal, aber ich fahre nicht fort. C 42,2 Ich weiß, dass du alles vermagst und dir kein Plan zu schwer ist. 42,3 Wer verdunkelt da den Ratschluss ohne Wissen? C’ Wohlan, ich verkündete, und ich verstand nicht, für mich war es zu wunderbar, und ich wusste nicht. 42,4 Höre doch, dann will ich gewiss reden, ich will dich fragen, und du lass (es) mich wissen. B’ 42,5 Mit den eigenen Ohren habe ich dich gehört, und jetzt hat mein Auge dich gesehen. A’ 42,6 Darum verachte ich und bereue, weil ich (ja doch) Staub und Asche bin.14
Der chiastische Aufbau, der argumentative Stil, das Bekenntnis zur geschöpflichen Unwürdigkeit sowie das Motiv der besonderen Gottesschau verweisen auf die Niedrigkeitsredaktion (vgl. 4,12–21; 15,11–16; 25,1–6),15 die so am Ende der Dichtung nun Hiob selbst noch einmal ausdrücklich zu Wort kommen lässt. Damit schließt die Dichtung auf dieser redaktionellen Stufe, wie sie begonnen hat: mit einer Rede Hiobs (vgl. Kap. 3). Dass die von der Niedrigkeitsredaktion verfasste eine Schlussreaktion im masoret. Hiobbuch in zwei voneinander getrennten Antworten vorliegt (I: 40,3–5; II: 42,1–6), steht im Zusammenhang mit der Einlage der zweiten großen Gottesrede in 40,6–41,26 seitens der Elihuredaktion, die auch für die Überschrift in 42,1 verantwortlich ist. Der noch später erfolgte Vorbau von 40,1–2 bereitet schließlich ausdrücklich die (nun erste) Antwort (ʿānāh) Hiobs in 40,3–5 vor. Gott redet erneut Im Gegensatz zu den Überschriften der Gottesreden in 38,1 und 40,6 ‚fehlt‘ hier die Angabe, dass Jhwh „aus dem Sturm“ redete. Der Autor dieser Überschrift vermerkt aber wie in 38,1 und 40,6 – und im Gegensatz zu den Überschriften im Dialog Hiobs mit den Freunden –, dass sich die Worte Gottes an Hiob richten. Th bietet hier – zumindest nach dem Hauptstrom der Textzeugen – einmalig anstelle des Tetragramms die Doppelbezeichnung κύριος ὁ θεός („der Herrgott“), die im Bereich der Paradieserzählung (Gen 2,4–3,24) als Übersetzung für jhwh ʾ ælohîm („Jhwh Gott“) verwendet wird, ansonsten
14 15
Zur Übersetzung von Hi 42,5–6 s.u. die Auslegung. Vgl. auch Hi 40,4 mit 15,12–13; 42,5a mit 4,12b; 42,5b mit 4,16aβ sowie 42,6b mit 4,19aβ.
40,1
640
Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
aber auch als Äquivalent für ein einfaches jhwh steht (vgl. Gen 4,6). Ob Th damit eine besondere inhaltliche Absicht verbindet, ist schwer zu sagen, da seine Übersetzung der anderen Überschriften der Gottesreden nicht erhalten ist. In 12,9 gibt er jhwh, wie es in LXX in der Regel der Fall ist, nur mit κύριος wieder. 40,2–5 Hiobs schweigende Antwort 40,2 Das ganz parallel gebaute Bikolon16 kennzeichnet Hiobs Reden mittels der juridischen bzw. weisheitlichen Begriffe rîb und jākaḥ als einen gegen Gott geführten Rechtsstreit und eine gegen Gott ergriffene Erziehungsmaßnahme. Die Rollen zwischen Gott und Hiob scheinen vertauscht, was noch deutlicher wird, wenn die masoret. Lesart jissôr („Tadler“) zugrunde gelegt wird (vgl. 5,17; 33,19; 36,10).17 Doch auch bei der hier bevorzugten Lesart jāsûr klingt zumindest auf lautlicher Ebene das Motiv der göttlichen Erziehung (mûsār, vgl. 36,10) an. In jedem Fall nimmt die kurze Gottesrede Hiobs Wunsch nach einer gerichtlichen Auseinandersetzung auf (vgl. 13,3; 23,6– 7; 31,35–37), weist diese aber, wie Elihu (vgl. 33,13; 34,31–32) und der unbekannte Verfasser von Jes 45,9, entschieden ab: „der Ankläger (ist) zum Angeklagten geworden“.18 Dass der Vers gezielt auf Hi 31,35 reagiert, zeigt sich auch an der Verwendung der Gottesbezeichnung šaddaj, der letzten von Hiob gebrauchten Gottesbezeichnung. Hier erscheint sie – ebenso wie die Gottesbezeichnung ʾ ælôah – letztmalig im gesamten Hiobbuch. Die in V. 2 von Gott gestellte Frage entspricht formal und tendenziell der wohl von derselben Redaktion Hiob in den Mund gelegten Einsicht, dass der Mensch, der mit Gott streitet, „nicht eins auf tausend“ antworten könne (9,3, vgl. 9,14). In ihrer indirekten Formulierung erweist sie sich auch als eine Frage an die Leser.19 Sie ist durchaus offen: Wird Hiob angesichts der göttlichen Ausführungen über die Schöpfung und ihre Leitung zurückweichen (sûr gegenüber qārab in 31,37) – so wie er gemäß seiner Stilisierung im Prolog das Böse meidet (sûr) –, oder wird er nochmals zu einer Rede vor Gott anheben (ʿānāh), was er eigentlich nicht kann (9,32) und was er sich doch wünscht (13,22; 14,15)? So spiegelt sich in diesem redaktionsgeschichtlich sehr jungen Bikolon nochmals konzentriert die gesamte Dramatik, die Hiobs Ringen um eine Begegnung mit Gott kennzeichnet (vgl. Kap. 9–10; 13,13–27; 23,2–17). Sie erreicht hier ihren Gipfel, insofern Gott selbst spricht.
Bleibt man hingegen bei der masoret. Vokalisierung, liegt ein Chiasmus vor. Siehe die Anm. zur Übersetzung und die oben (S. 638) vermerkte Differenz zwischen dem MT und der LXX. 18 Weiser, 250. 19 Vgl. van Oorschot, Gott, 152. 16
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Hi 40,1–5 Ein Zwischengespräch zwischen Gott und Hiob
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Hiob antwortet, wobei auch hier, anders als in den Überschriften des Dia- 40,3–5 logs mit den Freunden, ausdrücklich der Adressat der Antwort, Jhwh, genannt wird (V. 3). Doch Hiobs Antwort besteht nur noch aus dem Bekenntnis zu seiner geschöpflichen Niedrigkeit und einem selbst auferlegten Schweigegebot. Die Geste, die Hand schließend auf den Mund bzw. in Richtung des Mundes zu legen (vgl. 21,5; 29,9), bekundet Respekt20 und bedeutet den Verzicht auf jegliche Aktivität. Die Entfaltung der kosmischen Ordnung und ihrer Aufrechterhaltung haben Hiob die eigene Begrenztheit und die Unvergleichlichkeit von Gott und Mensch (wieder) ins Bewusstsein gebracht (vgl. 9,32; 1QH a XX,27[30]–35[38]). Der Geringschätzung (qillel) des eigenen Lebens vor sich selbst, mit dem die Dichtung begann (3,1–3), und der Hochschätzung der eigenen Gerechtigkeit, mit dem der Dialog auf menschlicher Ebene vor dem Einschub der Elihureden endete (29,1–25*; 31,1–37*), steht nun die Geringschätzung (qālal) des Lebens vor Gott gegenüber (vgl. Gen 18,27–32)21. Mit der in die Form eines Zahlenspruchs gefassten Erklärung Hiobs, nach seinen bisherigen Reden22 nicht nochmals zu sprechen, könnte die Dichtung schließen.
20 Siehe dazu eine entsprechende Darstellung eines Höflings vor dem Perserkönig Dareios I. (550–487 v.Chr.) in ANEP Nr. 463. 21 Siehe zudem Gen 32,11; Ex 3,11; Jes 6,5; Jer 1,6. 22 Steinman, Numerical Sayings, 295–297, interpretiert das erstmalige Reden Hiobs aus V. 5a als Rückblick auf seine erste Herausforderung Gottes in Kap. 3, auf welche die Freunde geantwortet hätten, und das zweitmalige Reden aus V. 5b auf Hiobs zweite Herausforderung in Kap. 29–31, auf die Elihu geantwortet habe. Anstelle einer dritten Herausforderung stehe in Reaktion auf die Gottesreden das Bekenntnis in Hi 42,1–6.
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
Hi 40,6–41,26 Die zweite große Rede Gottes ER
40,6 Und Jhwh1 antwortete Hiob aus dem Sturm2 und sagte: 7 Gürte doch deine Lenden wie ein Mann! Ich will dich fragen3, und du lass (es) mich wissen4. 8 Willst du etwa mein5 Recht zerbrechen, mich zu einem Frevler erklären, auf dass du Recht behältst? 9 Oder hast du einen (so starken) Arm wie El und kannst es mit einer Stimme wie er donnern lassen? 10 Schmücke6 dich doch mit Hoheit und Macht, und mit Herrlichkeit und Pracht7 kleide dich8. 11 Lass deine Zornesströme überfließen9, und betrachte alles Hohe, und erniedrige es! 12 Betrachte10 alles Hohe11, beuge es nieder, und zermalme12 die Frevler an ihrem Platz. 13 Verstecke sie im Staub allesamt, und binde13 sie14 im Versteck.15
11QTgHi: „Gott“ (ʾlhʾ). 11QTgHi: „aus dem S[turm] und aus der Wolke“ (mn r[wḥʾ] wʿnnʾ, vgl. Hi 38,1 LXX), wobei die Wörter mn r[wḥʾ] über der Zeile nachgetragen sind (DJD XXIII, 160f; Shepherd, Targum, 185). Am Ende der Zeile vermerkt 11QTgHi ausdrücklich, dass Gott zu ihm (d.h. zu Hiob) redete. 3 Vgl. die Anm. zu Hi 13,13. 4 11QTgHi: „du gib mir eine Antwort“ (htjbnj ptgm, vgl. 11QTgHi zu 24,25 und zu 38,3). 5 11QTgHi liest djnh, was entweder als „das Recht“ (DJD XXIII, 161f; ATTM I, 297; vgl. auch HsK30: mišpāṭ) oder „sein Recht“ (Sokoloff, Targum, 85; 158) aufzulösen ist. Im ersten Fall würde 11QTgHi den Vorwurf an Hiob generalisieren, im zweiten Fall würde 11QTgHi Gott, wie im folgenden Vers, von sich in der 3. P. Sg. reden lassen. 6 So nach ʿdh II. 11QTgHi (hʿdj) hingegen übersetzt nach ʿdj I (Hif., „ablegen“, vgl. Spr 25,20), so dass der Vers als Aufruf an Hiob erscheint, Stolz und Übermut (rm rwḥ) zu beseitigen, und infolgedessen sich mit Herrlichkeit zu bekleiden. 7 11QTgHi bietet noch ein drittes Objekt jqr „Ehre/Würde“. 8 Zur Fortführung eines Imperativs mit Impf. in imperativischem Sinn siehe J/M § 113m; Diehl, Imperativ, 313. 9 11QTgHi gebraucht nach V. 8 und V. 10 zum dritten Mal die Wurzel ʿdj „lege ab“. 10 11QTgHi und die LXX haben kein Äquivalent zu r eʾeh (vgl. V. 11b), so dass an Hiob direkt der Aufruf ergeht, alles Hohe zu zerbrechen (ttbr bzw. σβέσον), dabei dürfte ttbr nicht als 3. P. Sg. fem. Impf. Itpeel (so gegen DJD XXIII, 161), sondern als 2. P. Sg. m. Impf. Peal aufzulösen sein (so auch Sokoloff, Targum, 159f). 11 11QTgHi erläutert wie in V. 10: „Hohe des Geistes“ (rmt rwḥ). 12 dwk ist eine Nebenform zu dkʾ/dkh/dkk. 11QTgHi könnte mit hṭpj „lösche aus“ auf eine Form von dʿk hindeuten (vgl. DJD XXIII, 162, mit Hinweis auf die Lesart der LXX σβέσον, was dort allerdings im ersten Kolon, erscheint; Sokoloff, Targum, 160). 13 11QTgHi: „bedecke mit Asche“ (bqṭm tksh). 14 Wörtl.: „ihre Angesichter“, d.h. ihre Personen. 15 Zur Kette der Imperative in V. 11–13 siehe Diehl, Imperativ, 96f. 1 2
Hi 40,6–41,26 Die zweite große Rede Gottes
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Und dann will auch ich dich preisen, dass dir deine Rechte helfen kann.
15 16 17 18 19
Siehe doch, der Behemot, [den ich mit dir erschuf],16 er frisst Gras so wie das Rind. Siehe doch, seine Kraft in seinen Hüften und seine Stärke in den Muskeln seines Bauchs. Er versteift17 seinen Schwanz wie eine Zeder, die Sehnen seiner Schenkel sind verflochten. Seine Knochen sind Röhren aus Erz, sein Gebein ist wie eine Stange aus Eisen. Er selbst ist der Erstling der Wege Els, der, der ihn erschuf,18 brachte ihm sein Schwert19.
20 21 22
Ja, Tribut20 bringen ihm die Berge21, und alle Tiere des Feldes zertrampelt22 er. Unter Lotusdorn legt er sich nieder, in einem Versteck von Schilf und Sumpf. Lotusdorn umhegt ihn als sein Schatten,23 Bachpappeln umgeben ihn ringsum.
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Der Relativsatz, der kolometrisch überschießt, ist sekundär; siehe die Auslegung. Oder: „lässt hängen“, in jedem Fall nach einer Wurzel ḥpṣ II (vgl. Clines); nicht nach ḥpṣ I „wollen“, wie Strauß vermutet; zum Problem siehe die Auslegung. 18 Zur Determination eines Partizips mit Akkusativsuffix vgl. Vg sowie G/K 116g; 127i; J/M 121k; CTAT 50/5, 422f. Das Impf. steht hier zum „Ausdruck begonnener und andauernder (Schöpfungs)-Sachverhalte“ (Strauß, 344). Die beliebte Konjektur h æʿāśûj nogeš ḥ aberâw „geschaffen zum Herrscher seiner Gefährten“ (so in Anlehnung an Hi 41,25 und die LXX BHK; Weiser; Fohrer; J. Gray) ist unnötig. 19 Gemeint sind die Zähne des Behemot, nicht das Schwert, mit dem sich Gott dem Behemot nähern könnte (so aber Hartley; Cornelius; Clines). 20 Die Übersetzung des hap. leg. bûl I/III orientiert sich an der akkad. Wendung biltam našû (Ges18), bûl könnte aber auch einfach eine Nebenform zu j ebûl „Ertrag“ sein (so Hartley; Clines). Aufgrund des Parallelismus wäre auch eine Zusammenstellung mit dem akkad. Wort būlu „Getier/ Vieh“ denkbar (vgl. KAHAL s.v. bûl III; DCH s.v. bûl I), so dass in V. 20a von den „Tieren der Berge“ die Rede wäre, die ihre Stimme im Blick auf den Behemot erheben; zum elliptischen Gebrauch von nāśāʾ vgl. Num 14,1; Jes 3,7; 42,11. Versteht man hingegen bûl hārîm als Constructus-Verbindung (vgl. j ebûl hārîm in Sir 43,21 [HB]), muss man jiśeʾû in jiśśāʾ ändern und lô reflexiv verstehen („Den Ertrag der Berge trägt er für sich weg“, vgl. BHK). 21 Gegen die aus naturkundlichen Erwägungen vorgeschlagene Änderung von hārîm in nehārîm „Flüsse“ (vgl. Clines) spricht die Symbolik des Bildes; siehe die Auslegung. 22 Anstelle von j eśaḥ aqû šām „sie spielen dort“ (vgl. Weiser) lies jišḥaq (vgl. Ex 30,36; 2Sam 22,43; Sir 6,36 [HA]) und ziehe šām zu V. 21. 23 Aufgrund der Wiederholung des Wortes ṣæʾ ælîm aus V. 21 folgen viele Ausleger Duhm und lesen w esok naʿ aṣûṣîm „und das Dickicht der Dornen (ist sein Schatten)“ (vgl. Jer 25,38 bzw. Jes 7,19; 55,13). 16 17
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
23 Wenn24 der Strom anschwillt25, läuft26 er nicht ängstlich fort, er fühlt sich sicher, wenn er [der Jordan]27 in sein Maul sprudelt28. 24 Wer29 kann ihn an seinen Augen packen, mit Pflöcken30 seine Nase durchbohren31? 25 26 27 28
Kannst du den Leviatan mit einem Haken ziehen und mit einem Strick seine Zunge niederdrücken?32 Kannst du ein Binsenseil33 in seine Nase legen und mit einem Haken34 seine Kinnlade durchbohren? Wird er viele Bitten an dich richten oder zu dir mit sanften Worten reden?35 Wird er mit dir einen Bund schließen, kannst du ihn zum Diener nehmen dauerhaft?
Zur Einleitung eines Konditionalsatzes mit hen siehe die Anm. zu Hi 4,18. Wörtl.: „stark wird“ (nach ʿšq); eine Änderung in jišpaʿ (nach špʿ „überfließen“, vgl. BHK; Hi 22,11; 38,24), in jipšaʿ (nach pšʿ, wohl im Sinn von „aufbegehren“) oder in jāšôq (nach šwq „überlaufen“, vgl. Duhm; Hartley) ist unnötig. Zahlreiche weitere Konjekturen diskutiert Clines, der selbst ein sonst nicht belegtes ʿšq II in mit Bedeutung „hervorsprudeln“ annimmt. 26 Viele Hss mit zusätzlicher Kopula we „und/so“ (vgl. Vg; Tg). 27 Bei jarden handelt es sich wohl um eine Glosse. 11QTgHi setzt diese bereits voraus, bietet das Wort aber (wie die LXX/Th) determiniert und wohl schon in der ersten Vershälfte in der Verbindung jrdnʾ gʾph „... der Jordan seine Bank/sein Ufer“. 28 11QTgHi liest jqblnh „er nimmt ihn auf“, was auf eine Lesart jqḥ anstelle des vom MT gebotenen jgjḥ zurückgehen könnte. DJD XXIII, 162–164, rekonstruiert aus den schwer lesbaren Buchstabenresten als Subjekt das Wort ʾgwgʾ/ʾāgôgāʾ „Graben“ (ATTM I, 296f, liest ʾlhʾ „Gott“). 29 V. 24 könnte eine Frage ohne eigentliches Fragepronomen sein (vgl. Watson, Poetry, 342; Clines). Da V. 24a aber kolometrisch zu kurz ist, liegt es nahe, (nach pîhû in V. 23b) den Ausfall eines mî (hûʾ) anzunehmen. 11QTgHi scheint diesen Vers direkt auf ein Handeln Gottes zu beziehen (vgl. Sokoloff, Targum, 161: „Wenn er seine Augen aufhebt [so nach nṭl], überwindet er [d.h. Gott] ihn“; ähnlich ATTM I, 297, anders DJD XXIII, 163f: „Kann man ihn überwinden, indem man seine Augen bedeckt [so nach ṭll]?“, mit dem Hinweis auf Herodot, hist. 2, 70, demzufolge man in Ägypten Krokodilen, die man mit Angeln an Land gezogen hatte, die Augen verklebte, um sie dann leichter zu erlegen). Dagegen mutmaßen Gordis und Hartley, dass hier ʿajîn die (sonst nicht in der hebr. Bibel belegte) Bedeutung von „Ring/Falle“ habe, was dann parallel zu môq ešîm in V. 24b wäre, während Clines aus ähnlichen Überlegungen in bešinnîm „mit Zähnen“ (im Sinn einer Gabel, nach 1Sam 2,13) ändert. 30 Zur Diskussion der Bedeutung von môqeš siehe die Auslegung. 31 11QTgHi: „triefen/bluten lassen“ (jṣjb). 32 Gemäß dem Kontext (vgl. V. 26–29) handelt es sich auch in V. 25 um eine Frage. HsK157; 11QTgHi; TgHs lesen explizit mit dem Fragepronomen, was BHK für ursprünglich hält (vgl. G/K § 150a N1). 33 11QTgHi: „einen Ring“ (zmm, vgl. LXX: κρίκος); J. Gray hält dies für die ursprüngliche Lesart des hebr. Texts. 34 Wörtl.: „Dornen“; 11QTgHi: „mit deinem Stichel“ (bḥrtk). 35 11QTgHi bietet die beiden Kola in umgekehrter Anordnung. 24
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Hi 40,6–41,26 Die zweite große Rede Gottes
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Kannst du mit ihm spielen wie mit einem Vogel und ihn36 binden für deine jungen Mädchen? Können die Händler um ihn feilschen37 und ihn unter38 Kanaanäern39 aufteilen?40 Kannst du seine Haut mit spitzen Waffen füllen und mit Fischharpunen seinen Kopf? Lege auf ihn deine Hände! Denke an die Schlacht – tue es nicht wieder!
41,1 Siehe, eines jeden41 Hoffnung erweist sich als trügerisch, schon42 bei seinem Anblick wird man niedergestreckt. 2 Ich will nicht in Erinnerung bringen43, dass man ihn reizt44, aber wer ist er, dass er sich vor meinem45 Angesicht aufstellen könnte? 3 Wer hat mir etwas zuvor gebracht, so dass ich vergelten müsste?46 Unter dem ganzen Himmel: Er gehört mir.
36 11QTgHi bietet zusätzlich bḥwṭʾ „mit einem Faden“. Auch die LXX ist ausführlicher: „wie einen Spatz“, was möglicherweise eine Doppelübersetzung von naʿ arāh ist (vgl. DJD XXIII, 164; DCH s.v. naʿ arāh II; Clines). 37 So nach krh II (im Gegensatz zu krh III „ein Festmahl geben“). 38 11QTgHi: „im Land“ (bʾrʿ). 39 Hier im Sinn von „Kaufleute“ (vgl. Jes 23,8; Sach 14,21; Spr 31,24). Die LXX übersetzt treffend mit „Phönizier“, die in der Antike die exemplarischen Händler (und Seefahrer) waren, Aq bleibt mit „Kanaanäer“ wörtlich. 40 Auch hier liegt wohl eine Frage ohne Fragepronomen vor (vgl. V. 24; Bobzin, Tempora, 505). 41 Wörtl.: „seine Hoffnung“; nämlich eines solchen Menschen, der es wagt, seine Hand an den Leviatan zu legen (vgl. CTAT 50/5, 432 – anders Weiser und Hartley, die das Suffix als Ersatz für das Objekt, den Leviatan, verstehen). Die Lesart toḥaltô ist aber bereits in der handschriftlichen Überlieferung umstritten. Einige Hss bieten das Suffix der 1. P. Sg. toḥaltî „meine Hoffnung“, was dann auf Gott zu beziehen wäre. HsK380 liest wohl das Suffix der 2. P. Sg. toḥalt ekā „deine (d.h. Hiobs) Hoffnung“; zu dieser Lesart und der damit verbundenen Änderung von juṭāl in V. 1b in tuṭāl „du wirst hingestreckt“ vgl. BHK. 42 Anstelle von h agam lies gam; die Fragepartikel h a ist Folge einer Dittographie. 43 Anstelle des syntaktisch und poetologisch problematischen ʾakzār „verwegen/kühn“, das dann entweder auf einen verwegenen Menschen (so Weiser), auf einen schrecklichen Gott (so Fuchs, Mythos, 232; 253) oder auf den Leviatan (so Rowold, מי הוא, 104–109, der zudem V. 2a als Frage versteht) bezogen werden müsste, lies ʾazkîr; zur Konstruktion vgl. V. 4; zu zākar vgl. Hi 40,32 sowie Ps 87,4. 44 Zu erwägen wäre auch, mit einigen Hss anstelle von j eʿûrænnû das Polel j eʿor erænnû „ihn aufzustören“ (vgl. Hi 3,8) oder das Hif. j eʿîrænnû „ihn zu wecken“ zu lesen (vgl. BHK; BHS). 45 Eine Änderung in lepānâw „vor seinem Angesicht/vor ihm“ (d.h. dem Leviatan; vgl. viele Hss) ist angesichts der folgenden Verse, in denen der Dichter Gott in der 1. P. Sg. reden lässt, nicht geraten (so auch CTAT 50/5, 434); siehe die Auslegung. 46 Zu diesem und dem folgenden Vers existieren zahlreiche Änderungsvorschläge, da sie den Duktus der Beschreibung des Leviatan unterbrechen (vgl. Hölscher; Fohrer; J. Gray; Clines; Fuchs, Mythos, 232f). Abgesehen von V. 4b, wo der Text nicht unversehrt erhalten zu sein scheint, braucht der MT aber nicht geändert zu werden (vgl. CTAT 50/5, 434–436). a
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
4 5 6
Ich will nicht schweigen von seinen Gliedern47, …48 der großen Stärke und der Fülle49 seiner Ausrüstung. Wer entblößte je den Kragen seines Kleides? In sein doppeltes Gebiss50 – wer vermag einzudringen? Die Pforten seines Angesichts – wer öffnete sie jemals? Der Umkreis seiner Zähne bietet Schrecken.
7 8 9
Sein Rücken51 ist ein gerillter Schuppenpanzer52, verschlossen mit einem Siegel, eng. 53 Eine (Schuppe) hängt an der anderen, und kein Hauch54 kommt zwischen sie. Eine jede klebt an ihrem Bruder, sie sind verklammert und trennen sich nicht.
10 Sein Niesen55 lässt Licht56 erstrahlen, und57 seine Augen sind wie die Wimpern58 der Morgenröte. 11 Aus seinem Maul kommen Fackeln, Feurige Funken59 sprühen hervor.
47 baddâw kann von bad II (Ges18; DCH)/bad I (KAHAL) abgeleitet werden (vgl. Hi 18,13) und braucht nicht auf b edê im Sinn von „vor ihm“ zurückgeführt zu werden (so BHS). Eine Ableitung von bad IV „Geschwätz“ (vgl. Ges18) setzt das Qere lô (anstelle des Ketib loʾ) und die (mögliche) Übersetzung ḥāraš (Hif.) im Sinn von „zum Schweigen bringen“ voraus (vgl. Hi 11,3; Weiser; Fohrer [mit zusätzlicher Änderung von baddâw in jādô „seine Hand/Gewalt“]; Fuchs, Mythos, 231). Die Existenz eines bad VI „Stärke“ (DCH) ist unsicher. 48 ûdebar „und das Wort/die Rede“ überfüllt das Kolon und könnte aus einer Verschreibung von bdjw hervorgegangen sein (vgl. die Anm. zu V. 4a); gelegentlich wird in die 1. P. Sg. geändert wāʾ adabber „und ich will reden“ (vgl. BHK). 49 Die Bedeutung und Ursprünglichkeit von ḥîn sind ungeklärt, möglicherweise ist ḥêl zu lesen; Dhorme erwägt ʾên und versteht ʿeræk im Sinn von Wert „ohnegleichen“ (vgl. Hölscher; J. Gray; ähnlich Clines: ʾên ʿarok). CTAT 50/5, 439 hält ḥîn für eine alternative Schreibweise von ḥen im Sinn von Anmut bzw. Schönheit (vgl. Weiser; Hartley); Fohrer ändert zu ḥajiin „Leben“. 50 Da sich V. 5a und V. 6 eindeutig auf den Kopf des Leviatan beziehen, empfiehlt es sich, beim MT zu bleiben und nicht nach der LXX in sirjônô „sein Panzer“ (vgl. Jer 46,4; 51,3) zu ändern (so aber BHK; BHS; CTAT 50/5, 440; Weiser). Vom Panzer des Leviatan wird dann in V. 7–9 gesprochen. 51 Anstelle von gaʾ awāh „Hoheit/Stolz“ lies gewôh. Auch die LXX; Aq und Vg denken an einen Körperteil (die Eingeweide) bzw. den ganzen Körper. 52 Wörtl.: „Röhren von Schilden“. 53 Die Imperfekte in V. 8–25 drücken durchgehend allgemeine, wenngleich hyperbolisch beschriebene „Erfahrungstatsachen“ aus. 54 rûaḥ ist hier, wie in Hi 1,19 und 4,15, mask. konstruiert. 55 Wegen des singularischen Prädikats wird gelegentlich in den Sg. ʿaṭîšātô geändert (vgl. BHK), allerdings können fem. Plurale von Dingen oder Tieren als Kollektivum verstanden und singularisch konstruiert werden. 56 11QTgHi: „Feuer“ (nwrʾ, vgl. die Anm. zu Hi 24,13 und 37,11). 57 11QTgHi: „zwischen“ (bjn). 58 11QTgHi scheint hier weniger bildhaft, wobei die Deutung der Lesart kmmḥ prʾ „wie das Scheinen (conj. mṣmḥ) der Morgenröte“ umstritten ist (vgl. DJD XXIII, 167; Sokoloff, Targum, 164). 59 11QTgHi: „mit/wie Feuerzungen“ (blšnj ʾšh, vgl. Jes 5,24).
Hi 40,6–41,26 Die zweite große Rede Gottes
12 13
Aus seinen Nüstern geht Rauch hervor, (wie) ein angefachter Ofen60 und Binsen61. Sein Atem entzündet62 glühende Kohlen, und eine Flamme63 geht aus seinem Maul hervor.
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Auf seinem Nacken ruht Stärke, und vor seinem Angesicht tanzt64 Entsetzen65. Die Wampen66 seines Fleisches kleben aneinander, sind ihm fest angegossen, ohne sich zu bewegen67. Sein Herz ist fest gegossen, so wie ein Stein, und fest gegossen, wie der Unterstein der Mühle.
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Vor seinem Erheben fürchten sich selbst Götter68, vor dem totalen Zusammenbruch69 weichen sie zurück. Vor seinem Auffahren70 kann kein Schwert bestehen, (kein) Speer, …71 und Pfeil72.
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60 Anstelle von kedûd „wie (aus) einem Topf“ (vgl. Jer 1,13), das unter dem Einfluss von kîdôdê in V. 11 entstanden sein könnte, lies kûr (oder kekûr), vgl. LXX; Sir 43,4 [HM/B]; Ez 22,20; Fohrer). 11QTgHi bietet das Wort lkwš (ohne Vergleichspartikel!), das entweder „Topf“ (so DJD XXIII, 166f; ATTM I, 298) oder „Flamme“ (so Sokoloff, Targum, 165) bedeuten könnte; zur Diskussion siehe Shepherd, Targum, 53f. 61 Anstelle von ʾagmon „Binsen“ (vgl. Hi 40,26; vielleicht im Sinn von „mit/auf Binsen[feuer]“, vgl. G/K § 154 aN) wird oft ʾogem im Sinn von „siedend“ gelesen (BHK; BHS). Ein Verb ʾāgam (nach arab. ʾaǧama „glühen“; vgl. Clines; CDCH) ist bisher nicht im Althebr. belegt. 11QTgHi bietet eine zweite Vergleichsgröße: „(wie von) einem Weihrauchbrenner“ (mgmr); CTAT 50/5, 444, schließt diese Bedeutung für das masoret. Wort ʾagmon nicht aus, erwägt aber auch, dieses als substantiviertes Adjektiv von ʾāgam zu interpretieren. 62 11QTgHi: „spuckt“ (tgsʾ). 63 11QTgHi: „Funken/Blitze“ (zjqjn). 64 11QTgHi: „läuft“ (trwṭ). Diese Variante bieten auch einige Hss, die anstelle von tādûṣ tārûṣ lesen, sowie die LXX und Vg. 65 Die Ursprünglichkeit des hap. leg. deʾābāh (vgl. dāʾab „schmachten“, Ps 88,10) ist nicht gesichert. Möglicherweise ist debāʾāh „Stärke“ zu lesen (vgl. 11QTgHi: ʿljmw „Jugendkraft“; Sokoloff, Targum, 166; LXX: ἀπωλεία „Verderben“; Hartley). 66 11QTgHi: „Falten/Streifen“ (qplj). 67 11QTgHi: „wie Eisen“ (kprzlʾ, vgl. Hi 40,18). 68 Oder: „Starke/Helden“ (ʾêlîm, vgl. Aq; Sym; Tg; Syr). Die häufig vorgenommene Änderung von ʾelîm in gallîm „Wellen“ (vgl. BHK) hängt mit der Konjektur in V. 17b zusammen und versucht, ein stimmiges Bild zu erreichen. 69 šæbær erscheint hier einmalig in der hebr. Bibel im Pl., der wohl als Intensiv-Pl. zu deuten ist. Zumeist wird anstelle von mišš ebārîm entweder mišbārîm „Wellen“ (vgl. Jon 2,4) oder mišb erê jām „Wellen des Meeres“ (vgl. Ps 93,4) gelesen (vgl. Weiser; Fohrer); eine Fülle älterer und neuerer Konjekturen verzeichnet Clines. 70 Die Lesart maśśîgehû „erreicht man es/ihn“ ist syntaktisch problematisch. Mit HsK180 könnte in taśśîgehû (mit dem Schwert als Subjekt) geändert werden (vgl. LXX; [Tg]; Vg). Bobzin, Tempora, 512, liest (im Anschluss an Budde) mimmāginnâw „vor seinen Schilden“, ähnlich Kaiser: miššinnâw „vor seinen Zähnen“. In Analogie zu V. 17 bietet sich die Konjektur miśśîʾô an (Duhm; vgl. Hi 20,6). 71 Die Bedeutung von massāʿ ist unsicher. Nach dem Kontext handelt es sich um eine Waffe (vgl. Clines). 72 Oder nach den antiken Übersetzungen širjôn „Panzer“ (vgl. 1Sam 17,5.38; Sir 43,20 [HB]). Zur Reihung von drei Synonymen als Pendant zu einem Wort innerhalb eines Parallelismus vgl. Spr 26,18; Ps 98,4 (Watson, Poetry, 174).
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
19 20 21 22
Er hält Eisen für Stroh, Erz für morsches Holz. Ihn kann kein Schütze73 in die Flucht jagen, zu Stoppeln wandeln sich ihm Schleudersteine. Wie Stoppeln gilt ihm74 eine Keule, und er lacht über das Sausen des Krummschwerts. Unter ihm sind ganz spitze Scherben, er breitet einen Dreschschlitten aus auf dem Schlamm.
23 Er lässt brodeln wie einen Topf die Tiefe, das Meer behandelt er wie eine Salbenschale. 24 Hinter sich lässt er einen Pfad aufleuchten,75 er76 hält die Tehom77 für Greisenhaar. 25 Auf dem Staub gibt es nicht seinesgleichen78, das geschaffen79 ist ohne Schrecken80. 26 Alles81 Hohe sieht er an82, er, der König aller stolzen Tiere83. Literatur Mathis, C.: „Sieh doch den Behemot!“ Die zweite Gottesrede Ijob 40,6–41,26, BN 112 (2002) 74–85.
Wörtl.: „Sohn des Bogens“, daher zumeist „Pfeil“ (vgl. Weiser). Anstelle von næḥš ebû „sie werden gehalten“ lies næḥšab lô. 75 Oder: „Hinter ihm leuchtet ein Pfad auf“; ʾwr (Hif.) kann sowohl transitiv als auch intransitiv gebraucht sein. 76 Zumeist wird die 3. P. Sg. hier unpersönlich verstanden (vgl. Weiser). Die Parallele zu V. 19 und V. 21 (v.l.) und der Parallelismus sprechen aber für die obige Übersetzung (vgl. Fuchs, Mythos, 233, die allerdings nach Th nātîb aus V. 24a und leśêbāh aus V. 24b umstellt); siehe zudem die Auslegung. 77 Siehe die Anm. zu Hi 28,14. 78 So nach mošæl/môšæl I „Gleiches“ (vgl. LXX; Vg; Sir 50,27 [HB]: „Spruchdichtung“). Zur Ableitung von mošæl II „Herrschaft“ im Sinn von „es gibt nichts, was ihn beherrschen könnte“ vgl. Tg; Sym; Sach 9,10. J. Gray, vermutet, der Dichter habe das Wort bewusst doppeldeutig verwendet; zur Diskussion siehe auch Clines. 79 Zwischen ʿāśû und der von einigen Hss gebotenen Form ʿāśûj besteht inhaltlich kein Unterschied (vgl. G/K §24b; 75v; J/M § 79v). 80 Mit weitreichenden Folgen für die Deutung ändert Fuchs, Mythos, 233, liblî-ḥāt nach BHK in lebaʿal ḥajjot „zum Herrn der Tiere“. 81 Dass hier ausdrücklich die nota accusativi ʾet erscheint, die in der Poesie an sich vermieden wird, könnte stilistische Gründe haben (vgl. den Beginn von V. 24–25 jeweils mit dem Buchstaben Aleph). Zudem wird hierdurch sichergestellt, dass der Leviatan Subjekt des Satzes ist. 82 Die Änderung von jirʾæh, hûʾ in jirāʾehû „fürchtet ihn“ (vgl. Gordis; ähnlich BHK unter Änderung von ʾet in ʾotô) ist verlockend, da man auf diese Weise einen kolometrisch ausgeglichenen Parallelismus erhält. Doch spricht der Leitwortcharakter von rāʾāh und der Rückbezug auf Hi 40,11 für die Behaltung des MT, der durch die antiken Übersetzungen gedeckt wird. Die kolometrische Überlänge des zweiten Kolons könnte stilistisch zur besonderen Betonung des Schlussverses bedingt sein. 83 11QTgHi: „Kriechtiere/Reptilien“ (rḥš); dies weist auf eine Lesart šæræṣ hin (vgl. LXX; Syr; [Tg]); zu den Varianten von Tg siehe die Auslegung. 73 74
Hi 40,6–41,26 Die zweite große Rede Gottes
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Die zweite große Gottesrede besteht aus einer zu Hi 38,1 parallelen Überschrift (40,6), einer gegenüber der Eröffnung in 38,2–3 erweiterten Exposition (40,7–14) und einem zweigliedrigen Hauptteil (40,15–24; 40,25–41,26). In der Exposition fordert Jhwh Hiob erneut heraus, ihm Rede und Antwort zu stehen, und kontrastiert dann in einem Wechsel von Fragen und Imperativen seine göttliche Macht als Richter mit Hiobs Ohnmacht. Jeweils zwei Bikola gehören sprachlich und motivisch enger zusammen (V. 8–9|10–11|12–13), wobei V. 11 und V. 12 auch als ein versübergreifender Chiasmus beschrieben werden können, insofern die Kola 11a und 12b sowie 11b und 12a miteinander korrespondieren. V. 7 und 14 dienen als Rahmen. Wie die Einleitung der ersten Gottesrede ist der Abschnitt stark ironisch gefärbt. Dabei sind Elemente aus dem Gotteslob und aus der Rechtssprache zu einer eigentümlichen Kritik an Hiob verknüpft. Im Gegensatz zu den kurzen Tierstrophen der ersten Gottesrede bietet der Hauptteil der zweiten großen Gottesrede eine ausführliche Beschreibung des Behemot (40,15–24) und des Leviatan (40,25–41,26). Die Grenze zwischen naturkundlichen und mythischen Aspekten ist dabei fließend. Die beiden mitunter sehr realistisch beschriebenen Wesen symbolisieren bestimmte Aspekte des Verhältnisses zwischen Gott als Schöpfer und den von ihm geschaffenen Größen, es handelt sich aber weder um literarische Fantasietiere noch um Allegorien oder Metaphern. Die zweigeteilte Passage über den Behemot (40,15– 24) beschreibt zunächst schwerpunktmäßig dessen besonderen Körperbau (V. 15–19), sodann seinen Lebensraum (V. 20–24). Dabei gehören jeweils zwei Bikola enger zusammen (V. 15–16|17–18 bzw. V. 20–21|22–23), während jeweils ein abschließendes Bikolon das Handeln Gottes an diesem Wesen nennt (V. 19 bzw. V. 24 [conj.]). Die Ausführungen über den Leviatan (40,25–41,26) thematisieren zunächst, rhetorisch fragend, dessen Verhältnis zu Hiob (40,25– 28.29–32*), bestimmen dann die Beziehung zwischen Gott und dem Leviatan (41,1–4.5–6) und gehen schließlich zu einer detaillierten Beschreibung des Körpers des Leviatans über (41,7–16), die in einer Schilderung seiner Lebensweise und seiner Stellung im Kosmos mündet (41,17–26). Eine gleichmäßige Strophik besitzt der dreiteilige Abschnitt über den Leviatan nicht, so schwankt der Umfang einzelner Strophen zwischen drei und sechs Bikola (I: 40,25–28|29–32; II: 41,1–6; III: 41,7–9|10–13|14–16|17–22|23–26); mehrfach beginnen aufeinander folgende Verse mit demselben, dem im Alphabet jeweils folgenden oder benachbarten Buchstaben,84 so dass in Ansätzen ein alphabetisches Akrostichon vorliegt. Fast genau in der Mitte der Darstellung des Behemot und des Leviatan steht die in der 1. P. Sg. gehaltene Rede Gottes in 41,1–6.85 Die Auslegung wird diese auch als ihr inhaltliches Zentrum und als sachliches Gegenüber zur Exposition in 7–14 erweisen.
84 Vgl. Hi 40,25(conj.)–30 + 41,1(h); 41,(8–9[ʾ]).11–12(m).17–18(j).24–26(ʾ) bzw. 41,2–5(l-m-l-m); 41,12–13(m-n); 41,15–16(l-m); 41,20–21(l-k). 85 So gehen dieser Passage auf der Ebene des ‚Endtexts‘ 18 Bikola voraus, 20 folgen hier.
ufbau A und Sprachformen
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
Text- und In 11QTgHi sind Äquivalente zu 40,6–14(15?).23–31 und 41,7–17.25–26 Literar- erhalten. In Kol. XXXIV,1 ist als Ergänzung zu 40,6 die Wortfolge mn r[wḥʾ] geschichte („aus dem St[urm]“)86 wohl sekundär nachgetragen, so dass die Überschrift der zweiten Gottesrede der Langform der Überschrift, wie sie LXX in 38,1 als Überschrift der ersten Gottesrede hat,87 entspricht. In LXXZi sind 40,23b–24.26a.31b und 41,4.8a.9.15b.18b.21a.24b asterisiert.88 Im ,kirchlichen Text‘ der LXX stammen sie aus Th; 41,12 wird teilweise auch auf Aq zurückgeführt,89 41,24 im OG entspricht V. 24b im MT, und das aus Th nachgetragene Kolon bietet eine Mischung aus V. 24a und V. 24b. Hi 40,7–14 (oder Teile von 40,7–17) bilden nicht den ursprünglichen Abschluss der ersten Gottesrede,90 sondern den Auftakt zu einer die erste Gottesrede modifizierenden und erweiternden Belehrung und Bestreitung Hiobs. In der ursprünglichen Dichtung verstummt Hiob angesichts der ihm von Gott vor Augen gestellten Ordnung und Lenkung der Schöpfung und Natur (Kap. 38–39*), in die er seine Fragen nach dem Grund und Ziel seines Leidens sowie der vergeltenden Gerechtigkeit Gottes eingebunden sehen kann. Der Abschnitt 40,7– 14 mit seiner gewalttätigen Kritik an Hiob sowie seiner Einteilung der Menschen in Gerechte und Frevler kehrt in gewisser Weise zur Argumentation der Freunde und Elihus zurück. Darüber hinaus erscheinen in 40,7–14 viele wörtliche Wiederholungen aus vorangegangenen Reden, die in dieser Häufung für die ursprüngliche Dichtung untypisch sind (vgl. 40,7 mit 38,3; 40,8a mit 15,4; 23,4–7; 40,11 mit 22,29).91 Als ein wesentlicher Intertext erscheint Jes 51,9– 16. Die Verdopplung der Gottesrede und die Schlusserwiderung Hiobs entspricht vor allem der Tendenz der Elihureden, daneben auch der der gerechtigkeitstheologischen Redaktion in 24,13–25; 27,7–10.13–23 und 31,1–3.38–40: Hiob wird durch einen zweifachen Widerruf, der nun eine Entwicklung vom Schweigen zum Gotteslob erkennen lässt, verstärkt als ein treuer Bekenner von Gottes Gerechtigkeit, die sich innerweltlich in der Bestrafung der Frevler und der Belohnung der Frommen erweist, charakterisiert. Darauf zielt auch die zitatähnliche redaktionelle Auffüllung von 42,3aα.4: Hiob unterwirft sich aus-
So nach der Rekonstruktion von DJD XXIII, 160. Dagegen entspricht die Übersetzung der LXX in 40,6 der masoret. Wendung min s eʿārāh. Allerdings bindet die LXX die zweite Gottesrede deutlicher als der MT an die vorangegangene Rede an („Da entgegnete der Herr nochmals und sagte zu Iob aus dem Gewölk“). 88 Siehe dazu ausführlich Gorea, Job repensé, 211–217. 89 Siehe dazu Meade, Edition, 411. 90 So aber Würthwein, Gott, 284; vgl. auch Hölscher; Fohrer; van Oorschot, Gott, 154–158; 256, die zudem Hi 40,7 streichen. Hiermit verbunden ist in jedem Fall eine Tilgung von 40,6 und eine Verlegung von 40,3–5 an das Ende der Gottesrede. Zu den Vorschlägen von Wanke, Praesentia Dei, 430, 40,2.7.8–14, und Vermeylen, Métamorphoses, 181, 40,4–5 als ursprünglich zu betrachten s.o. S. 594. 91 Vgl. zudem die begrifflichen Überschneidungen zwischen Hi 40,10 und 38,11 (gāʾôn) bzw. 39,20 (hôd), zwischen 40,11 und 18,11; 38,24 (pwṣ) bzw. 21,30 (ʿæbrāh) sowie zwischen 40,13 und 3,16; 18,10; 20,16 (ṭmn). 86 87
Hi 40,6–41,26 Die zweite große Rede Gottes
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drücklich Gottes gerechter Schöpfermacht. Eindeutige Indizien für eine weitergehende literarkritische Schichtung von 40,7–14 finden sich nicht.92 Bereits in der Forschung des 19. Jh. wurden die Beschreibungen des Behemot und des Leviatan in 40,15–41,26 aufgrund ihres besonderen Stils, ihres ausgeprägten äg. Kolorits und ihrer Fokussierung auf die Größe und Gewalt der beiden Tiere im Gegensatz zur argumentativen Darstellung ihrer Versorgung durch Gott in Kap. 39 als sekundär erkannt.93 Demgegenüber versuchten annähernd zeitgleich O. Keel (1978) und Veronika Kubina (1979) die Ursprünglichkeit mit dem Rekurs des Dichters auf die vorderorientalische Mythologie zu verteidigen.94 Während Kubina die bewusste Kombination unterschiedlicher äg., mesopotamischer und nordwestsemitischer mythologischer Motive insbesondere aus der Chaoskampftradition annahm,95 stellte Keel die besondere Bedeutung des Nilpferdes und des Krokodils in der äg. Mythologie und Ikonographie als Verkörperungen des Gottes Seth sowie als Repräsentanten des Chaos und des Bösen in den Mittelpunkt seiner Deutung. So erscheine Jhwh in 40,7–41,26 in der Rolle des äg. Königs-, Himmels- und Lichtgottes Horus, der mit „starkem Arm“ (vgl. 40,9) „gegen das Böse in der Gestalt von Nilpferd und Krokodil“ kämpfe.96 Auch Amun-Re kann hymnisch als „Retter vor dem Krokodil“ bezeichnet werden.97 Damit werde in 40,15–41,26 genau wie in den Tierkatalogen in 38,39–39,30 die Kontrolle Jhwhs über chaotische Wesen dargestellt und Jhwh in der Rolle des ‚Herrn der Tiere‘ beschrieben.98 Die einflussreiche Interpretation Keels99 stellt – wie die Interpretation Kubinas – eine grundlegende ikonographische Modifikation der allegorischen bzw. symbolischen Deutung des Behemot und des Leviatan dar, die sich bereits in der rabbinischen und in der altkirchlichen Auslegung findet und die durch die Auslegungsgeschichte hindurch bis heute immer wieder als eine Alternative zu einem natürlich-realen Verständnis100 begegnet.
92 Dagegen hält Keel, Entgegnung, 38 (und 126f), Hi 40,9 aus formalen und motivgeschichtlichen Gründen für sekundär. 93 S.o. S. 593f. 94 Die Studie von Keel ging auf einen im August 1977 in Göttingen gehaltenen Vortrag zurück; die Arbeit von Kubina wurde im November 1977 in Freiburg i. Br. als Dissertation angenommen. 95 Vgl. dazu bereits Cheyne, Job and Solomon, 56; H. Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung über Gen 1 und Ap Joh 12, Göttingen 1895 (Nachdr. 1921), 57–61 (die aus dem bab. Schöpfungsepos EnEl. bekannten Tiamat und Apsû seien die Vorbilder für Behemot und Leviatan); Pope (vor dem Hintergrund ug. mythologischer Texte wird der Behemot als eine Art Himmelsstier verstanden, vergleichbar dem von Gilgameš und Enkidu erlegten Wesen, vgl. Gilgm. VI,94–184 [TUAT III, 702–704]); Weiser sowie in neuerer Zeit B.F. Batto, Art. „Behemot“, DDD (21999) 165–169; Cornelius, 298. 96 Keel, Entgegnung, 127; 132 („das als Einzelgänger lebende, männliche, rote Nilpferd als Symbol des Bösen“ – im Gegensatz zum weiblichen, weißen Nilpferd). Zu Darstellungen des Horus als Herr der Krokodile bzw. Bezwinger der Krokodile vgl. z.B. IPIAO IV Nr. 1084–1087; 1394; 1731. 97 Vgl. J. Assmann, Aus den Amunshymnen des Mai-Sachme (13. Jh. v.Chr.) (TUAT II, 886– 896, hier: 887, 3). 98 Keel, Entgegnung, 126–141; 144. Hierbei betrachtete Keel Hi 40,19–20 als eine (proto)apokalyptische Glosse, die das Motiv der endzeitlichen Tötung und Verspeisung des Behemot und des Leviatan einspiele (vgl. 4Esr 6,52; 1Hen 60,24; syrBar 29,4), vgl. auch Ruprecht, Nilpferd, 219f, sowie mit weitreichenden Folgerungen für die Bestimmung der Gattung des Hiobbuches Johnson, Eye, 150f. 99 Zu ihrer (gelegentlich modifizierten) Aufnahme siehe zuletzt Ebach, Streiten II, 146f; C. Uehlinger, Art. „Leviathan“, DDD (21999) 511–515; Cornelius, 299; Heckl, Hiob, 201; Kang, Behemot, 166. 100 Z.B. Fz. Delitzsch; Budde; Hölscher; Fohrer; Gordis; de Wilde; Clines.
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
Die These von Gisela Fuchs (1993), der zufolge Behemot und Leviatan ein einziges androgynes mythologisches Chaoswesen darstellten, das in zwei unterschiedlichen Erscheinungsformen, einerseits als „Erdmutter in Tiergestalt“ (Behemot), andererseits als das männliche Chaoswesen schlechthin (Leviatan) auftrete und das im Gegensatz zu den in der ersten Gottesrede beschriebenen längst gezähmten Chaostieren immer wieder neu zu befrieden und in die Schöpfung zu integrieren sei, hat sich in der Forschung nicht durchgesetzt, auch wenn einzelne von ihr herausgearbeitete mythologische Elemente durchaus im Hintergrund der Zeichnung des Behemot und des Leviatan stehen.
Die Mischung von natürlichen Beschreibungen und mythologischen Anspielungen sprechen dafür, naturkundliche und symbolische Deutungen nicht alternativ zu sehen.101 Das Ineinanderfließen realer und mythischer Aspekte ist ein bewusstes dichterisches Mittel,102 um die unterschiedlichen Dimensionen des Handelns Gottes, die Hiob in seinen Reden problematisiert hat, vor Augen zu führen. Dabei soll Hiob sowohl mittels der Beschreibung des unmittelbar in der Schöpfung Vorfindlichen und Erfahrbaren als auch mittels des Rekurses auf mythische Elemente zu der Erkenntnis geführt werden, die er dann in 42,1–6* ausdrückt. Beide Beschreibungen könnten zumindest in ihrem Grundbestand selbstständige Kompositionen sein, die aus einer Weisheitsschule oder der Vorform eines Lehrhauses des 3./2. Jh. v.Chr. stammen (vgl. Sir 51,23), wo mit traditionellen Schultexten gearbeitet wurde. Redaktionelle Anpassungen dieser ehemals eigenständigen Gedichte an die Hiobdichtung zeigen sich in 40,15a*.19, in der Gestaltung von 40,24(conj.).25–29.31 als rhetorische Fragen sowie in 40,32–41,6. Vers 40,30, der nicht ausdrücklich als rhetorische Frage gestaltet ist103 und den Zusammenhang der direkt an Hiob im Du gerichteten Fragen unterbricht, könnte eine in den Text geratene Randglosse sein. Vers 41,9, der im OG nicht enthalten war, wirkt wie eine Variante zu 41,8.104 In 41,16 ist der zweifache Gebrauch des bereits in V. 15 genannten Wortes jāṣûq auffällig, so dass auch hier möglicherweise eine Glosse vorliegt.105 Allerdings finden sich im Gedicht auf den Leviatan mehrfach Wortwiederholungen und Wortspiele in unmittelbar aufeinander folgenden Versen. 40,6–14 Anrede und Bestreitung Hiobs 40,6 Mit der Wiederholung der Überschrift aus 38,1 ist auch die zweite große Gottesrede in ein Theophaniegeschehen eingebettet. Makrokompositionell erscheint sie damit als ein Gegenüber zu der zweiten Himmelsszene im Prolog (2,1–6). 40,7 Die Exposition zitiert zunächst die Herausforderung Hiobs in 38,4 und fordert Hiob erneut zu einer Stellungnahme auf. Die in 40,3–5 erfolgte (Teil-) 101 Vgl. prinzipiell auch Fuchs, Mythos, 227–229; Ebach, Streiten II, 147 („mythisch-real“, ebenso Kang, Behemot, 41; 167), die dann aber doch der mythologischen bzw. symbolischen Dimension den Vorrang geben, sowie Greenstein. 102 Habel vermutete daher, dass der Behemot eine rein literarische Schöpfung des Dichters sei. 103 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 104 Dieser Vers fehlt auch in HsK34. Hölscher und Fohrer streichen ihn daher als Glosse. 105 So Hölscher; Fohrer.
Hi 40,6–41,26 Die zweite große Rede Gottes
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Antwort erscheint damit als eine Begründung für eine zweite Gottesrede. Die LXX unterstreicht dies, indem sie über den MT hinausgehend die Gottesrede mit einem entschiedenen „Nein“ (μή) zum Rückzug Hiobs beginnen lässt. Der Schwerpunkt der Fragen an Hiob verschiebt sich jetzt vom Bereich der 40,8–9 Macht Gottes als Schöpfer hin zum Bereich der Macht Gottes als Richter. Den kosmologischen Begriffen der ersten Gottesrede steht eine juridische Terminologie zur Seite. Die Eingangsfrage, ob Hiob Gottes Recht (mišpāṭ) zerbrechen (pārar Hif.) und Gott schuldig sprechen (rāšaʿ Hif.) wolle, auf dass er, Hiob, Recht behalte (ṣādaq), rekurriert erstens auf Hiobs scharfe Anklagen (vor allem 9,17.22–24), zweitens auf einen zentralen Vorwurf Elihus gegen Hiob (vgl. 34,5–6.17.29) und drittens auf Hiobs Bekenntnisse seiner Unschuld. 106 Mit eben dem Wort „zerbrechen“ hatte Eliphas Hiob vorgeworfen, er zerstöre durch seine Reden die Gottesfurcht (15,4): So steht Hiob nun als mutmaßlicher Zerstörer der Religion und des Rechts da. Nach dem Bekenntnis Hiobs zu seiner Niedrigkeit und seinem Schweigegelübde kommt aber die Frage Jhwhs in V. 4 – wie auch die folgende Frage, welche die im Hymnus beheimateten Motive vom starken Arm und der Donnerstimme Jhwhs verfremdet,107 – eigentlich zu spät. Für den Verfasser dieser Verse müssen offenbar der grundsätzliche Unterschied zwischen Gott und Mensch sowie die Unangemessenheit, das Verhältnis zu Gott in Kategorien des Rechts zu fassen, noch deutlicher artikuliert werden, als es in der ersten Gottesrede der Fall ist. Dies entspricht der Theologie der Elihureden, in denen eindringlich die absolute Gerechtigkeit des Schöpfergottes verteidigt wird.108 Auch in V. 8–9 unterscheidet sich die LXX markant vom MT, insofern sie Hiob zur Annahme des Urteils Gottes aufrufen und Gott selbst sein Handeln an Hiob als ein Rechtfertigungsgeschehen beschreiben lässt (vgl. 13,18): Gott hat allein so an Hiob gehandelt, wie er gehandelt hat, damit dieser gemäß seiner Qualifikation in 1,1 LXX als gerecht erscheint (vgl. auch 32,1 LXX). Dies liegt auf der Linie der Elihuredaktion in 33,23–25 und zeigt, wie die Hiob-LXX selbst in die Redaktionsgeschichte des Hiobbuches gehört. Die Aufforderungen an Hiob, er möge sich mit Herrlichkeit kleiden (V. 10–11) 40,10–13 und die Frevler vernichten (V. 12–13), kehren in scharfer Ironie Wendungen aus dem Gotteslob um: Denn eigentlich ist es der als König vorgestellte Gott, der im Gebet dazu aufgerufen wird, sich prächtig zu schmücken (vgl. Ps 93,1), oder dessen himmlische Herrlichkeit und Richtertätigkeit im Hymnus gepriesen werden (vgl. Ps 96,6; 104,1; 111,3; 145,5–7). Ebenso ist es eigentlich der göttliche Zorn, dessen Erguss über fremde Völker oder über Frevler prophetisch erwartet und betend erhofft wird (vgl. Jes 13,9.11; Ps 7,7; Sir 36,8 [HB]). Wie in entsprechenden prophetischen Ankündigungen oder Bitt- und Klagegebeten Vgl. Hi 9,20–21; 13,18; 16,17; 23,4.7; 27,5–6. Vgl. Jes 30,30; 51,9; Ps 89,14 (vgl. 4Q381 frgm. 15,5–6) bzw. Hi 26,14; 36,33–37,5; Ps 29,3; 89,10 (4Q381 frgm. 15,4); 1Sam 2,10. 108 Vgl. Hi 32,3 (vgl. Tiq soph); 34,10–30; 35,14; 36,3; 37,23. 106 107
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unterstreicht die Metapher vom Ausströmen des Zorns dessen Gewalt.109 Wie in diesen Texten steht der Zorn selbst für ein Richten und Strafen. An sich weiß Hiob nur zu gut, dass er selbst die Frevler nicht bestrafen kann – mehrfach hatte er ja darüber geklagt, dass Hybris und Unterdrückung in der Welt nicht gerichtet würden (9,22.24; 21,7–34; 24,1–12). Der in diesen Klagen gegen Gott erhobene Vorwurf, er komme seinem Richteramt und damit der von ihm zu erwartenden Gerechtigkeit nicht nach, wird hier nun im Gewand der Ironie abgewiesen: Denn Hiob kann keiner der an ihn gestellten Aufforderungen nachkommen, wohl aber Gott, der – wie es zuletzt Elihu immer wieder betont hatte – die Überheblichen und Mächtigen erniedrigt (V. 10–11, vgl. 34,18–20.24–26; 36,6–7)110 und der die r ešāʿîm einkerkert (V. 12–13, vgl. 36,5–7). Das Bild der in den Staub (ʿāpār), d.h. ins Grab bzw. in die Unterwelt,111 geworfenen r ešāʿîm nimmt die Notiz über deren Vernichtung aus der ersten Gottesrede auf (38,13.15). Wie in dieser dürften auch hier, trotz der an den Chaoskampfmythos anklingenden Motive vom „starken Arm“ und der „Donnerstimme“, nicht (nur) urzeitliche Gegner des Schöpfergottes gemeint sein,112 sondern zu allen Zeiten anzutreffende Böse, seien es wirtschaftliche Ausbeuter, politische Unterdrücker oder religiöse Gegner der Frommen. 40,14 Die die Exposition beschließende Ankündigung Gottes, er selbst würde Hiob loben, wenn er all das, wozu er ihn aufgefordert habe, vollbrächte, pervertiert die zentrale Formel der Dank- und Lobpsalmen (ʾôdekā [ʾôdækā] „ich will dir danken/dich loben“, vgl. Ps 71,22).113 Sie verwendet mit den Worten jāšaʿ (Hif. „helfen“) und jāmîn („die Rechte“) erneut Gottesprädikate114 und ruft damit implizit Hiob zur Anerkennung der göttlichen Gerechtigkeit und zum Gotteslob auf (vgl. 36,24; Jes 59,15–16). Der scharfe Kontrast zwischen Recht und Macht Gottes einerseits und Hiobs Unrecht und Ohnmacht andererseits wird durch die Gegenüberstellung des betonten Pers.-Pron. der 1. P. Sg. und der dreifachen auf Hiob bezogenen Suffixe (-kā „dich“), die zudem einen Endreim bilden, auch stilistisch besonders hervorgehoben. Der Anspruch Hiobs, sich aufgrund seiner eigenen Gerechtigkeit Gott wie ein 109 Vgl. Ps 78,49; 85,4; 90,11; Sir 36,8 (HB). In der LXX sind die „Ströme des Zorns“ zu „Boten (d.h. Engeln) im Zorn“ personifiziert, was auf der Linie einer gegenüber dem MT veränderten Angelologie liegt (vgl. HiLXX 1,6; 2,1; 4,18; 5,1; 20,15; 33,23; 36,14; 41,25). Dagegen wird in 11QTgHi Hiob dazu aufgerufen, von der Glut seines Zorns abzulassen (vgl. Hi 18,4; 35,15), siehe die Anm. zur Übersetzung. 110 Vgl. Hi 22,12 LXX; 1Sam 2,7–8; Ps 94,2–4; 113,5–9; 117,16LXX; 147,6; 149,4 LXX; Jes 2,11; 52,13; Dan 4,14; Sir 10,14–15; Tob 4,19 (G-I); Lk 1,51–53; äg. Amunshymnus ÄHG 120, 4. 111 Vgl. Hi 10,9; 34,14–15; Ps 104,29; Pred 12,7; Sir 40,11. Vor diesem Hintergrund könnte auch das Wort ṭāmûn („Versteck/Verlies“) hier für die Unterwelt gebraucht sein (vgl. Clines). 112 Fuchs, Mythos, 222–224, erwägt (wie auch in Hi 14,13; 18,10; 22,15) eine Anspielung auf „die aus dem Mythos bekannte Fesselung des/der Frevler(s) in der Unterwelt“ (vgl. 1Hen 10,4–5; 18,13–16). 113 Vgl. zudem Ps 18,50; 30,13; 35,18; 43,4; 52,11; 57,10; 86,12; 118,21.28; 119,7; 138,1; 139,14; Jes 12,1. 114 Vgl. Ps 18,36; 20,6; 60,5; 86,16 (vgl. 4Q381 frgm. 15,2); 98,1; 108,7; 109,31; 138,7 sowie Ex 15,6; Jes 41,10; Ps 44,4; 77,11; Ps 89,14 (vgl. 4Q381 frgm. 15,6); Sir 36,1.7(6) [HB].
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König nahen zu können (29,12–16; 31,35–37), wird hierbei massiv abgewiesen. Damit fügt sich auch diese Fortschreibung zur Torahkritik der Grundschicht des Buches. Aber so klar in diesen Versen die Macht und das Recht Gottes betont werden, so fraglich ist doch, ob und wie damit Hiob, der schon bekannt hat, dass er viel zu gering ist, um Gott eine Antwort zu geben (40,4), noch getroffen wird. Ob Hiob durch diese Verse tatsächlich zur „Erkenntnis seiner Schuld und zur Buße geführt“ wird,115 muss sich am Ende zeigen. Der Gott, der hier spricht, ähnelt zunächst mehr dem Zeus des Aischylos, dessen Willkürmacht Prometheus beklagt,116 als dem Jhwh der ersten Gottesrede, der, trotz ähnlicher Rhetorik und Relativierung menschlicher Möglichkeiten, Hiob lehrend durch Raum und Zeit geführt und so zur Einsicht in die Weisheit des Schöpfers und zur Annahme seines Schicksals gebracht hat (40,4–5; 42,2–3aβ.b.5–6). Vor dem redaktionsgeschichtlichen Hintergrund der Hiob sekundär in den Mund gelegten Bekenntnisse zur Macht Gottes117 erscheint 40,7–14 insgesamt als eine Erinnerung, die ihr besonderes Gewicht dadurch erhält, dass sie als Gottesrede gestaltet ist. Fragen an Hiob zum Behemot und zum Leviatan
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Behrmann, A.: Das Nilpferd in der Vorstellungswelt der Alten Ägypter. Teil II, Textband EHS 38/62, Literatur Frankfurt/M. u.a. 1996. – Brüning, C.: „Lobet den Herrn ihr Seeungeheuer und all ihr Tiefen“. Seeungeheuer in der Bibel, ZAW 110 (1998) 250–255. – Fox, M.V.: Behemoth and Leviathan, Bib. 93 (2012) 261–267. – Horwitz, L.K./Tchernov, E.: Cultural and Environmental Implications of Hippopotamus Bone Remains in Archaeological Contexts in the Levant, BASOR 280 (1990) 67–76. – Ruprecht, E.: Das Nilpferd im Hiobbuch, VT 21 (1971) 209–231. – H. Rowold, ? לי הוא! מי הואLeviathan and Job in Job 41:2–3, JBL 105 (1986) 104–109. 4
Der Behemot und der Leviatan dienen einerseits als Beispiele für die Macht Jhwhs über die von ihm geschaffene, gegenwärtig erfahrbare Welt (vgl. Ps 104,26). Aufgrund ihrer mythologischen Konnotationen118 sind sie andererseits zugleich Symbole für Jhwhs Herrschaft über die Urzeit (vgl. Ps 74,13–14) und die Endzeit (vgl. Jes 27,1). So fügen sich auf der Ebene des ‚Endtextes‘ die Bilder vom Behemot und vom Leviatan sachgemäß in den Duktus und die Zielrichtung der ersten Gottesrede als Antwort auf Hiobs Eingangsklage in Kap. 3: Der Behemot ist der „Erstling“ (reʾšît) der Schöpfung Gottes (40,19). Den Leviatan kann sich nicht Hiob, wohl aber Gott dauerhaft (ʿôlām) zum Sklaven machen (40,28, vgl. 39,9). Hiob ist nicht der Meeresdrachen (7,12); dieser ist unvergleichlich auf der Erde (vgl. 41,25) – selbst wenn Hiobs Leiden übergroß und er unter Menschen analogielos ist (vgl. 1,8; 2,3). Im Schlussvers der Ausführungen 115 So Weiser, 243, der das Ziel der zweiten Gottesrede insgesamt in dem Versuch sieht, die „Grundverkehrtheit der Einstellung“ Hiobs richtigzustellen und Hiobs Hybris abzuwehren (a.a.O., 262). 116 Vgl. Aischylos, Prom. 402–405; 907–943; 1089–1093. 117 Hi 9,2–14; 12,7–13,2; 26,1–14; 27,11–12; 28,1–28*. 118 Vgl. Hi 3,8; 7,12; 9,13; 26,12.
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über den Leviatan und damit zum Abschluss der Gottesreden insgesamt wird gleichnishaft Hiobs Stellung in der Zeit und vor Gott neu bestimmt: Dem, der sich in Zeiten seines Lebensglücks wie ein König unter seinen Truppen fühlte (29,25), dem, der sich angesichts seiner moralischen und religiösen Integrität Gott wie ein Fürst nahen wollte (31,37), und dem, der sich von Gott selbst (ironisch) als Held angesprochen erfuhr (38,3; 40,7), wird der Leviatan als wahrer König aller stolzen Wesen vor Augen gestellt (41,26), die allein Gott als ihr Schöpfer lenken und erniedrigen kann (40,11–12; 41,2–3). Der von O. Keel einseitig in den Mittelpunkt der Deutung gestellte Aspekt der Verkörperung des Bösen durch den Behemot und durch den Leviatan ist den Aspekten der Demonstration der Macht und Kreativität Gottes, der Ambivalenz der von Gott geschaffenen Welt, zu der auch Gefährliches und Bedrohliches gehört, das aber in die Schöpfung eingebettet ist, sowie seiner Verfügung über die Zeit untergeordnet. So fehlt in beiden Abschnitten eine eindeutig auf das Böse verweisende Begrifflichkeit. Hingegen spricht aus den Fragen, wer den Behemot und den Leviatan fangen könne, auf die es nur die Antwort „niemand“ bzw. „Jhwh“ geben kann, und aus ihrer Kennzeichnung als Geschöpfe (40,15.19; 41,25) auch eine doppelte apologetische Tendenz: So ist es allein Jhwh – nicht Amun oder Horus –, der diese beiden Weisen bezwingen kann, und: Behemot und Leviatan sind weder Götter noch göttliche Inkarnationen, sondern Geschöpfe des einen Gottes Israels. 40,15–24 Der Behemot 40,15 Diese Passage wird mit doppeltem betonten hinneh-nāʾ („siehe doch“) eingeführt und erscheint so als eine Entfaltung der in 40,9–10 angesprochenen Macht Gottes. Die philologische Herleitung des Wortes b ehemôt ist unsicher. Nach der masoret. Vokalisation liegt ein Intensiv-Pl. des Wortes b ehemāh („Vieh“) im Sinn von „Riesenvieh/Monsterwesen“ vor.119 Wie die Umschreibung des Straußes mit dem Wort r enānîm in 39,13 erscheint dieses Wort als eine Chiffre, wobei anzunehmen ist, dass es im Althebräischen auch ein eigenes Wort für das Flusspferd gab, das aber in der hebr. Bibel nicht belegt ist. Die auch noch von Ges18 erwogene Ableitung von einem äg. Wort p3–jḥ-mw („Wasserrind“)120 ist angesichts mangelnder Belege im Ägyptischen höchst umstritten. In den gelegentlich für den Behemot angeführten Stellen Dtn 32,24; Jes 30,6; Ps 73,22 und Hi 12,7 dürfte es sich durchgehend um einen echten oder unspezifischen Pl. handeln.121 Die Identifikation mit dem Flusspferd (hippopotamus 119 Vgl. die singularischen Prädikate und Suffixe in V. 15b–24 sowie das Wort tannînîm („Drache“) in Ps 74,13–14 (J/M § 136f; Waltke/O’Connor § 7.4.3). Die LXX (θηρία „wilde Tiere/Untiere“); Laβ (bestiae – dagegen Laμ bestia); Aq und Th (κτήνη „Tiere“) sowie Tg (in der Mehrzahl der Hss) übersetzen als Plural und bieten im folgenden singularische Possessivpronomen und singularische Prädikate. Syr und Vg transkribieren als Eigenname bhmwt bzw. behemot. 120 Befürwortend Hölscher; Fohrer; ablehnend Keel, Entgegnung, 128f. 121 Zur Diskussion dieser Belege siehe Butto, Behemot, 165–169.
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amphibius) gehört seit Samuel Bochart (1663)122 zu einem weitgehenden Konsens der Forschung. Der Vorschlag von G.R. Driver, die V. 15–24 auf den liwjātān bzw. das Krokodil zu beziehen, da die Aussage in V. 17a nicht zu einem Flusspferd passten,123 hat sich ebenso wenig durchsetzen können, wie E. Ruprechts Deutung der V. 25–31 auf die Jagd des Nilpferdes, dem hier der Beiname liwjātān gegeben werde.124 Eine Gleichsetzung des Behemot mit dem Elefanten, die sich noch in älteren Kommentaren findet,125 wird zu Recht auch nicht mehr vertreten. In der Antike waren Flusspferde vor allem, aber nicht nur, in Ägypten bekannt. In Palästina lebten sie in der Küstenebene und am See Genezareth und sind dort über entsprechende Knochenfunde bis in die Eisenzeit hinein belegt.126 Die relativisch angeschlossene Notiz, dass der Behemot mit bzw. wie (ʿim) Hiob von Gott erschaffen sei (V. 15aβ, vgl. Ps 104,26b), überfüllt den Vers metrisch und spricht einmalig in diesem Abschnitt von Gott in der 1. P. Sg. Sie belegt, dass das Gedicht auf den Behemot ein sekundär in die Hiobdichtung eingelegtes, ursprünglich selbstständiges Stück darstellt. Die schöpfungsmäßige Korrelation mit Hiob lässt den Behemot zu einem Gleichnis für Hiob werden. So sind einzelne Beschreibungen des Behemot – bei aller Nähe zu seinem realen Aussehen und Lebensraum127 und trotz der mythisch-symboli122 S. Borchart, Hierozoicon sive bipartitum opus de animalibus Sacrae Scripturae, London 1663, Teil II, lib. II, cap. XV // Col. 754–769; vgl. B. Couroyer, Qui est Béhémot? Job XL,15–24, RB 82 (1975) 418–443, hier: 423–427. 123 G.R. Driver, Mythical Monsters in the Old Testament, in: Studi orientalistici in Onore di Giorgio Levi della Vida, I, Rom 1956, 234–249. Problematisch am Vorschlag Drivers ist nicht zuletzt die Änderung von ῾immāk (Hi 40,15) in das im bibl. Hebr. nicht belegte, aus dem Äg. hergeleitete Wort ʿmšk / ʿæmšāk mit der Bedeutung Krokodil (vgl. DCH und Anm. 154 auf S. 662). Tg könnte eine Gleichsetzung mit dem Leviatan nahelegen, da es V. 16a über den MT hinausgehend bereits den Leviatan nennt („Siehe doch, der Leviatan ...“), vgl. TgHi 7,12 (var.); 26,13; 40,25; TgPs 8,9; 104,26; TgHhld 8,2; TgEst 3,7. Auch LXX könnte so verstanden werden, dass in 40,15(16)–41,26* nur ein Wesen, nämlich der „Leviatan“ bzw. der „Drache“ (δράκων) beschrieben wird (vgl. Gerleman, Studies, 43, und künftig M. Häberlein). 124 So Ruprecht, Nilpferd, 221f; 227–230, der im Behemot-Leviatan ein einziges Wesen, bestehend aus natürlichen, mythischen und geschichtlich-politischen Aspekten als einen exemplarischen Gegner Gottes sah und 41,4–26 als einen von der Nennung des liwjātān inspirierten mythologisch geprägten Zusatz (S. 223f). In eine ähnliche Richtung geht der Vorschlag von J. Gray, Hi 40,31–32; 41,1.2.3 (sic!) als ursprüngliche Fortsetzung des (gleichwohl sekundären) Gedichts auf das Flusspferd zu betrachten, in das erst später redaktionell die ursprünglich auf das Krokodil bezogene Passage 40,25–30 eingelegt worden sei. 125 Vgl. A. Calmet, Commentaire litteral sur tous les livres de l’Ancien et Nouveau Testament, Job, Paris 1712, 381. Eine Reihe weiterer älterer Vertreter von Thomas von Aquin (1225–1274) bis zu Franciscus Vavossor/François Vavasseur (1605–1681) nennt Knabenbauer, 448. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass unter b ehemôt in 1QpHab III,9–10 (in der Auslegung von Hab 1,8–9) auch Elefanten subsumiert werden (vgl. HAWTTM I s.v. bhmh III). 126 Horwitz/Tchernov, Implications, 70f; I. Thomsen, Flusspferde am See Gennesaret, WUB 1/2012, 60. Zur Verbreitung in Syrien-Palästina sowie in Ägypten (bis in das 19. Jh.) siehe auch Behrmann, Nilpferd, 13 mit Anm. 6; 14–18. 127 Diese Darstellung ist wirklichkeitsnäher als Herodots Beschreibung (hist. 2, 71), der selbst vermutlich nie ein Flusspferd gesehen hat; vgl. dagegen Plinius, nat. 8, 95 (Rackham, III, 68f), und Diodor Siculus 1, 35.
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schen Dimension – auch anwendbar auf Hiobs Darstellungen seiner eigenen Situation vor Gott, so dass Hiob daraus für sich Schlüsse auf Gottes Handeln ziehen kann. Diese Funktionsbestimmung der Passage wird nicht grundsätzlich durch die Tatsache beeinträchtigt, dass der lexikalisch schwierige Abschnitt textlich nicht unversehrt erhalten ist,128 was in der Forschung unterschiedliche Konjekturen nach sich gezogen und im Detail zu stark divergierenden Interpretationen geführt hat. 40,16–18 Erscheint das Flusspferd, das bis zu 5 Meter lang, 1,6 Meter hoch und 3 Tonnen schwer werden kann,129 aufgrund seiner Ernährung mit Gras, eigentlich mit Wasserpflanzen, noch mit einem Rind vergleichbar (V. 15b, vgl. Jes 65,25), so weist sein Körperbau es als unvergleichlich stark aus. Der Schwerpunkt der hyperbolisch beschriebenen und lautmalerisch hervorgehobenen Kraft (koḥô ʾonô … biṭnô, V. 16) liegt auf der Vitalität und Sexualität – in der äg. Mythologie und Magie findet sich eine Vielzahl von Nilpferdgöttinnen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Entbindung – sowie auf der Widerstandsfähigkeit seines Körpers. Unbeschadet der genauen Bedeutung des Verbs ḥāpaṣ II („versteifen“ oder „hängen lassen“) unterstreicht der auf den ersten Blick ungewöhnliche Vergleich des im Verhältnis zur Körpergröße kleinen Schwanzes (zānāb)130 des Flusspferdes mit einer Zeder die besondere Lebenskraft, die dieses Tier verkörpert (V. 17, vgl. Hhld 5,15). Die Zeder (cedrus libani Loud., V. 17), die bis zu 30 Meter hoch und zwei- bis dreitausend Jahre alt werden kann, galt im Alten Orient als Königin der Bäume (vgl. Ri 9,15; 2Kön 14,9; Am 2,9); sie fand besondere Verwendung als Bauholz, das aus dem Hauptverbreitungsgebiet, den Bergen im Libanon, nach Ägypten, Mesopotamien und Syrien-Palästina gebracht wurde (vgl. 2Sam 5,11; 7,2; 1Kön 5,20; Jer 22,14–15), und ist mythisch stark aufgeladen (vgl. Ez 31,1– 18; Gilgm. V [TUAT III, 694–699])131. Den Aspekt der Widerstandskraft betont auch das Bild der eisenharten Knochen (V. 18, vgl. 41,7).132 Es bildet einen scharfen Kontrast zur Zerbrechlichkeit menschlicher Gebeine, zumal Hiobs, dessen Fleisch nicht aus Erz ist (6,12, vgl. 1QHa XVI, 33[34]). 40,19 Das den ersten Teil des Behemot-Gedichtes beschließende Bikolon kehrt mit seinem direkten Bezug auf Gott (ʾel), wenn nun auch in der 3. P. Sg., und seinem Schöpfungsbegriff (ʿāśāh) zur Einleitung zurück (V. 15). Die PräSiehe die Anm. zur Übersetzung. Behrmann, Nilpferd, 18. 130 Strauß versteht zānāb als Ausdruck für den Penis, was allerdings erst für das nachbiblische Hebräisch belegt ist (vgl. Hartley), und leitet jaḥpoṣ von ḥpṣ („begehren“) ab. Eindeutig in sexuellem Sinn haben Tg und Vg diesen Vers aufgefasst, die paḥ adāw/paḥ adâw nicht mit „seine Schenkel“, sondern mit „seine Hoden“ übersetzen. Zur philologischen und sachlichen Anwendung dieser Deutung auf den MT siehe auch J. Gray, der selbst den Vergleichspunkt in der besonderen Starrheit des Stammes und der Äste einer Zeder sieht, sowie ausführlich Clines, 1150f; 1187. 131 Zohary, Pflanzen, 104f; Häusl, Garten, 122–125. Eine sehr viel weitergehende Deutung vertritt Fuchs, Mythos, 235, mit der Annahme, der Baum sei ein „archetypisches Symbol für die Erdmutter schlechthin“ und ein „Beispiel für weiblich-männliche Doppelsymbolik“ des frevelhaften Chaoswesens Behemot. 132 Zu den metallenen Knochen des nilpferdgestaltigen Gottes Seth siehe Behrmann, Nilpferd, 75f; Cornelius, 298. 128 129
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dikation des Behemot als „Erstling der Wege Gottes“ klingt an die Bezeichnung der Weisheit als „Erstling der Schöpfung“ an (vgl. Spr 8,22). Sie verleiht dem Behemot eine in die Urzeit zurückreichende mythische Dimension. Nach der priesterschriftlichen Darstellung der Schöpfung erschuf Gott als erste Tiere die großen im Wasser lebenden Tiere (tannînîm, κήτη; Gen 1,21). Die Urzeit kennzeichnet eine besondere Nähe zum Schöpfer und eine besondere Lebenskraft. Zugleich markiert die Bezeichnung „Erstling“ die gegenwärtig vorfindliche Sonderstellung des Flusspferdes unter allen von Gott geschaffenen Tieren (vgl. Hi 41,26). Als ein solches Schöpfungswerk (dæræk, LXX: πλάσμα „Schöpfung“) entzieht sich der Behemot jedoch jeglichem menschlichen Verstehen (vgl. 26,14). Auch im zweiten Versteil sind mythische und gegenwärtige Aspekte verschränkt. Zwar ist das Flusspferd ein Pflanzenfresser; dennoch können seine Zähne (wörtl. „sein Schwert“),133 die im Alten Orient auch bei der Elfenbeinschnitzerei verwendet wurden, schwere Verletzungen hervorrufen – die unteren Eckzähne werden 60 bis 70 cm lang und wiegen 3 kg.134 Die Größe und Widerstandsfähigkeit des Flusspferdes erlauben es nur einem Gott, sich ihm gefahrlos zu nähern, so wie z.B. nach der Kultlegende des ptolemäerzeitlichen Tempels von Edfu der Gott Seth in der Gestalt des Flusspferdes von dem Gott Horus besiegt wird.135 In die Gegenwart reicht das Bild, indem es, wie in 40,9, Hiob indirekt vor Augen führt, dass er nicht in der Lage ist, den Behemot zu bezwingen – wie schon in 40,9 erscheint Jes 51,9–15* als ein wesentlicher Intertext. Zwar zeigen äg. Darstellungen vom Alten Reich bis in die römische Zeit, wie Nilpferde mit Spießen und Harpunen gejagt wurden, doch zielt dieses Bild auf eine unmittelbare Gegenüberstellung der Macht des einen Schöpfergottes Jhwh und der Ohnmacht des von ihm zusammen mit dem Behemot geschaffenen Hiob, indirekt auch der Ohnmacht der Nilpferdbezwinger in der äg. Mythologie. Schließlich schwingt in dem Vers, der wie V. 15aβ im Zusammenhang der Einfügung des ursprünglich selbstständigen Gedichts stehen könnte,136 auch der Aspekt des richterlichen Handelns Gottes mit.137 Denn von den „Wegen/Werken Gottes“ gilt, dass sie grundsätzlich gerecht (mišpāṭ) sind (vgl. 40,8; Dtn 32,4). So spiegelt dieser Vers in Gestalt der naturkundlich-mythischen Beschreibung die zuvor als eine den Hymnus parodierende Aufforderung an Hiob formulierte Überzeugung, dass allein Gott in seiner königlichen Pracht alles Hohe niederzuringen vermag (40,10–12) – was Siehe die Anm. zur Übersetzung. Horwitz/Tchernov, Implications, 67f; Behrmann, Nilpferd, 18f; 52–54. Vgl. die Bilderfolge am Tempel von Edfu (Roeder, Ägyptische Mythen, 90–154 [mit deutscher Übersetzung des in Hieroglyphen abgefassten Rituals der Nilpferdtötung durch Horus]; Keel, Entgegnung, 136–141 [Abb. 77–82]) und die Beschreibung eines Bildes im Tempel von Hermopolis durch Plutarch, Is. 50. Seth ist nicht die einzige äg. Gottheit, die in Nilpferdgestalt dargestellt bzw. durch ein Nilpferd repräsentiert werden kann, aber eine prominente (vor allem im Neuen Reich und in der Spätzeit; siehe dazu Behrmann, Nilpferd, 59–93; zu Seth: 71–78). 136 Vgl. Keel, Entgegnung, 38, und Bobzin, Tempora, 502f, die V. 19–20 literarkritisch für sekundär halten. 137 Vgl. dazu auch Weiser, der in diesem Aspekt die eigentliche Bedeutung der Perikope sieht. 133 134 135
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Hiob an sich weiß (vgl. 9,13–14), aber nach seiner Herausforderung, die selbst königlich-mythisch erhöhte Züge angenommen hatte (29,14.24–25; 31,35–37), hier neu und abschließend wahrnehmen soll. Die LXX, die sich in V. 19b(–20) stark vom MT unterscheidet, bemerkt, dass das hier beschriebene Wesen (nur) geschaffen sei, um von den Engeln verspottet zu werden (vgl. Hi 41,25LXX).138 40,20 Die den zweiten Teil des Gedichtes auf den Behemot bestimmende Beschreibung seines Lebensraums markiert mit der Nennung der Berge (hārîm), des freien Feldes bzw. der Steppe (śādæh) und der Flüsse (nāḥal, nāhār, jarden) wesentliche Bereiche tierischen Lebens. Das Bild der Berge, die wie unterworfene Völker dem Behemot Tribut zahlen (vgl. Ps 72,3), unterstreicht erneut dessen einzigartigen königlichen Rang unter den Tieren. Neben seiner Verankerung in der politischen Welt hat auch dieses Bild mythische Züge. Die Entstehung der Berge reicht an die Anfänge der Schöpfung (vgl. Ps 90,2; 104,6–8; Spr 8,25). Die Berge symbolisieren in besonderer Weise die Stabilität und Ordnung (vgl. Hi 9,5–6; Ps 46,4; 65,7), aber auch die horizontale und vertikale Ausdehnung des Kosmos (vgl. Ps 95,4). So kennzeichnen Berge gemäß einem weit verbreiteten altorientalischen (und antiken) Weltbild die Enden der Erde, die Verbindung von Himmel und Erde (‚Weltberg‘) oder Wohnorte der Götter (,Götterberge‘). Die Notiz, dass der Behemot die Tiere des Feldes zermalmt (v.l.), hat einen natürlichen Ausgangspunkt bei seinem ungeheuren Körpergewicht und ist doch hyperbolisch, insofern von allen Tieren des Feldes gesprochen wird und damit nicht nur Kriechtiere gemeint sind, sondern in einem umfassenden Sinn wilde Tiere außerhalb des Lebensraumes des Menschen.139 Die unbelebte und die belebte Schöpfung erscheinen damit im Dienst dieses von Gott geschaffenen königlichen Lebenwesens (vgl. Jer 28,14). Auch hier unterscheidet sich die LXX erheblich vom MT, wenn sie den „Behemot“ (oder den Leviatan/Drachen)140 auf einen steilen Berg, gemeint ist wohl der Unterweltsberg (vgl. 1Hen 22,1–4), steigen und die „Vierfüßler“ im Tartaros, dem nach griech. Mythologie noch unter dem Hades liegenden Gefängnis der Titanen,141 Freude bereiten lässt. In der Alten Kirche konnte dies christologisch auf den Aufstieg Jesu nach Golgatha und die Freude der „Dämonen, Juden und Griechen“ über den Kreuzestod bezogen werden.142 40,21–23 Eigentlicher Lebensraum des Behemot sind Flüsse samt der sie umgebenden Sümpfe (biṣṣāh, vgl. 8,11; Ez 47,11) und Uferpflanzen, die ihm als SchattenZur Problematik der Identifikation des von LXX beschriebenen Wesens s.o. Anm. 123. Vgl. Hi 5,23; 39,15; Ex 23,29; Lev 26,22; 2Kön 14,9; Jes 43,20; Hos 13,8. 140 S.o. Anm. 123. 141 Vgl. Homer, Il. 14, 279; Hesiod, theog. 719–721. In der LXX wird das Wort τάρταρος nur in Hi 40,20; 41,24 und Spr 30,16 verwendet, im frühjüdischen Schrifttum weiterhin in grHen 20,2; SibOr 1,10.119; 2,290–292.302; 8,362; grApkEsr 3,15; 4,5; 5,27; TestSal (A) 6,3; Philon, praem. 152; legat. 49; 103; QE II,40; Josephus, c. Ap. 2, 240 (34). 142 So z.B. Olympiodor, Kommentar, zu Hi 40,20 (Hagedorn, 364); vgl. ikonographisch in byzantinischen Hiob-Handschriften Huber, Hiob, 236f. Zu einem möglichen hinter Hi 40,20 LXX stehenden hebr. Text siehe Dhont, Style, 152; 276–278. 138 139
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spender, aber auch als Versteck dienen, aus dem er plötzlich hervorbrechen kann. Eindeutig zu identifizieren ist das Schilfrohr (qānæh V. 21, vgl. Ps 68,31; Jes 19,6; 35,7). Bei den in der hebr. Bibel nur in Hi 40,21–22 genannten ṣæʾ ælîm handelt es sich entweder um den Lotusdorn (Zizyphus Lotus), der etwa 1,5 Meter hoch wird und seine Blätter im Winter verliert, oder um den bis zu 10 Meter hohen, fast ganzjährig blühenden Christdorn (Zizyphus spina Christi).143 Mit ʿarbê-naḥal (V. 22) können entweder Bachweiden (Salix alba L.) oder Bachpappeln/Euphratpappeln (Populus euphraitica Oliv.) gemeint sein, die wegen der Ähnlichkeit eines Teils ihrer Blätter leicht miteinander verwechselt werden.144 Die Beschreibung bleibt im Bereich des sowohl an den Ufern des Nils als auch des Jordans natürlich Vorfindlichen, verweist aber wie das in V. 15 genannte Gras und die in V. 17 erwähnte Zeder auch auf die Vielfalt und Fülle der Vegetation in der von Gott geschaffenen Welt, der aus Wüsten Gärten machen kann (38,27). Aufgrund ihrer Schwimm- und Tauchfähigkeiten flößen auch ansteigende Wasserstände oder verstärkte Strömungen, wie sie sich z.B. bei der Nilschwemme oder bei starken Regenfällen bemerkbar macht, dem Behemot keine Furcht ein. Im Gegenteil: Er fühlt sich angesichts des aufsprudelnden Wassers sicher, was stilistisch noch durch das chiastisch angelegte Bikolon, in dessen Zentrum die Wortfolge loʾ jaḥpôz jibṭaḥ steht, hervorgehoben wird. Erneut schwingen in der Darstellung der anschwellenden Wassermassen mythische Töne mit (vgl. 38,8). Und auch hier könnte Hiob aus der Beschreibung der Sorglosigkeit des mit ihm erschaffenen Behemot einen Kontrast zu seiner eigenen Situation wahrnehmen, wenn er sich in seinem Leid von Wasserfluten umgeben sieht (22,11, vgl. Ps 69,2–3.15). Am Übergang von V. 23 zu V. 24 scheint der Text nicht in seiner ursprüng- 40,24 lichen Form erhalten zu sein, was sich schon in der frühen Textgeschichte spiegelt, insofern in der ältesten griech. Übersetzung V. 23b–24 fehlen und sich 11QTgHi stark vom MT unterscheidet.145 Während in dem kolometrisch zu langen V. 23b die Nennung des Jordans eine sekundäre Anpassung an einen palästinischen Lebensraum sein könnte,146 obgleich zur Zeit der Abfassung des Hiobbuches im Jordantal wohl keine Flusspferde mehr lebten, so dass es sinnvoller erscheint, den Begriff jarden hier einfach im Sinn von (großem) Fluss zu verstehen,147 ist V. 24a kolometrisch zu kurz. Die Deutungen der Schlusszeile des Gedichts auf den Behemot unterscheiden sich daher in der Forschung sehr stark. In Analogie zur Schlusszeile der ersten Strophe des Behemot-Gedichts in V. 19b wird wohl abschließend noch einmal in Gestalt einer Frage (mî [hûʾ])148 Zohary, Pflanzen, 154f.; Häusl, Garten, 156–159. Vgl. Lev 23,40; Jes 44,4; Ps 137,2; Sir 50,12 [HB] und dazu Zohary, Pflanzen, 130f. 145 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 146 Ruprecht, Nilpferd, 220. 147 Vgl. J. Gray; Clines. 148 Vgl. Hi 38,2.5.25.28–29.36–37.41; 39,5; 41,2.3.5.6 und die Anm. zur Übersetzung. Die Gestaltung von V. 24 als Frage könnte auf den Redaktor zurückgehen, der das Gedicht auf den Behemot eingefügt hat (vgl. van Oorschot, Gott, 84, der den gesamten V. 24 für redaktionell hält). Zum Verständnis von V. 24 als Aussagesatz, dem gemäß der Mensch den Behemot zumindest mit besonderer Kraftanstrengung fangen könne, siehe Fox, Behemoth, 263. 143 144
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vermerkt, dass allein Gott – und nicht Hiob – den Behemot an den Augen (ʿênâw)149 packen und seine Nase durchbohren kann. môqeš, eigentlich ein Gerät zum Vogelfang, sei es das Stellholz an der Vogelfalle oder ein Wurfholz (vgl. Am 3,5),150 im übertragenen Sinn ein Fallstrick (vgl. Ps 140,6), bedeutet hier offenbar einen Pflock.151 Dieses Bild entspricht äg. Darstellungen der königlichen oder göttlichen Nilpferdjagd, wie sie sich vom Alten Reich bis in die römische Zeit finden.152 40,25– Der Leviatan 41,26 40,25–32 Hiob und der Leviatan Die Ausführungen zum Leviatan, der in 11QTgHi, LXX und Syr unspezifisch als „Drache“ erscheint,153 beginnen, wie diejenigen über den Behemot endeten: mit einem Bild zu seiner möglichen Gefangennahme, das wesentliche Organe der Lebensäußerung (Augen, Nase und Mund) nennt (V. 25–26, vgl. V. 24).154 So wird in einer sich über sechs Verse erstreckenden Kette von elf rhetorischen Fragen Hiob deutlich vor Augen geführt, dass er in keiner Weise in der Lage sei, den Leviatan zu fangen oder gar zu zähmen. Primärer Bildspender der folgenden Ausführungen ist das Krokodil, das in der Antike nicht nur in Ägypten bekannt war, sondern auch in Palästina nachweisbar ist.155 Auf das antike Vorkommen von Krokodilen bei Caesarea verweisen der Ortsname Crocodilon/ Krokodilsstadt bei Strabo (geogr. 16, 2,27) und bei Plinius (nat. 5, 75) sowie die Bezeichnung des nahr ez-zarqa/naḥal tannînîm als Crocodilon/Krokodilsfluss bei Plinius (nat. 5, 75).156 Der assyrische König Tiglatpileser I. (1114–1076 Siehe die Anm. zur Übersetzung. Keel, Entgegnung, 131, zieht auch die kontextuell passende Wiedergabe mit „Harpune“ in Erwägung. 151 Auf diese Bedeutung führt auch Th, wenn das unsichere Wort ἐνσκολιευόμενος in ἐν σκώλοις geändert wird (vgl. Ziegler, Iob, 401). Sym bietet περόνη „Spitze/Stachel“. Eine Änderung des MT in qimmôśîm („Haken“, so Clines) setzt als Grundbedeutung für qimmôś „Disteln“ voraus, was nicht gesichert ist. Zu den unterschiedlichen bei der Nilpferdjagd verwendeten Waffen (Harpune, Beil, Schlinge, Lanze, Fangnetz, Fallen) siehe Behrmann, Nilpferd, 42–48. 152 Vgl. Ruprecht, Nilpferd, 211–217; Keel, Entgegnung, 133–141 (mit Abb. 71–80); Behrmann, Nilpferd, 24–50 mit ausführlichen Text- und Bildbeispielen zur Nilpferdjagd in Ägypten. 153 Aq und Sym bieten wie in Hi 3,8 Λευιαθάν (so auch Syr in 3,8). 154 In der Eröffnung des Verses mit dem Wort (h a)timšok könnte eine „geistreiche Anspielung auf den Namen des Krokodils“ vorliegen, das arab. timsāḥ und äg. msḥ heißt (Hölscher, 95; ähnlich Keel, Entgegnung, 142; siehe dazu oben S. 657 Anm. 123). Ebenso wird lautmalerisch mit dem Namen liwjātān gespielt, wenn in V. 26b von dessen leḥî („Kinnlade“) gesprochen wird. 155 Dagegen identifiziert Fox, Behemoth, 264–266, den Leviathan hier (wie auch in Ps 104,26) in Wiederaufnahme einer alten, u.a. von Thomas v. Aquin und in neuerer Zeit von G.R. Driver (nur für 40,25–30) vertretenen These mit einem Wal, da insbesondere die Beschreibungen in 41,10.12.23–24 nicht zu einem Krokodil passten. 156 Plinius, nat. 5, 75 (Rakham, II, 278f); Keel, Entgegnung, 156. 149 150
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v.Chr.) vermerkt in einem Feldzugsbericht ausdrücklich, ein Krokodil (und eine Äffin) als Tribut von den phön. Städten bekommen zu haben.157 Der Dichter von Hi 40,25–41,26 verbindet zunächst Elemente aus der realen Jagd von Krokodilen und großen Fischen (V. 25–26.31)158 mit politischen Motiven (vgl. 40,20), wenn er den hypothetisch unterworfenen Leviatan als einen sich mittels einer Selbstverpflichtung (b erît) an Hiob bindenden Vasallen zeichnet (V. 27–28).159 Dazu fügt sich auch die zunächst merkwürdig erscheinende Vorstellung vom Niederdrücken der Zunge des Krokodils (V. 25b), da dieses keine Zunge hat (vgl. auch Herodot, hist. 2, 68) – und dementsprechend in äg. Sprichwörtern auch als eine Metapher für den (weisen) Schweiger erscheinen kann.160 Insofern beinhaltet V. 25b auch die Frage, ob Hiob in der Lage sei, den Leviatan zum Schweigen zu bringen.
Vignette aus dem ägyptischen Totenbuch zu Spruch 31 aus: E. Hornung, Das Totenbuch der Ägypter, Düsseldorf/Zürich 1997, Abbildung Nr. 17.161
Natürlich wird der Leviatan nicht Hiob um Gnade bitten, wie dieser selbst oder ein Beter zu Gott fleht (V. 27, vgl. 9,15).162 Dieses Motiv weist eine verblüffende Nähe zum Aufruf der Isis an ihren Sohn Horus am Tempel von Edfu auf:
TUAT I, 356–357 (Tontafel C, Zeile 27–28). Vgl. Jes 19,8; Ez 29,3–4; Hab 1,15; Am 4,2; Herodot, hist. 2, 70, sowie entsprechende Abbildungen bei Keel, Entgegnung, 151–154 (Abb. 90–93). 159 Vgl. Jos 9,6; 1Sam 11,1; 1Kön 20,34 bzw. Ex 21,6; Dtn 15,17. Zur Führung unterworfener Vasallen an einem Seil, das an einem durch die Nase gezogenen Ring befestigt ist, vgl. auch 2Kön 19,28 sowie ikonographisch z.B. ANEP Nr. 447. 160 Vgl. Lehre d. Amenemope 22,9 (TUAT.NF VIII, 343). 161 Dieser Spruch selbst zielt auf eine Abwehr des Krokodils. Siehe dazu auch Keel, Beiträge, 223–225. 162 Vgl. Ps 28,2; 86,6; 140,7; 143,1; Dan 9,3; Sir 51,11 (HB). 157 158
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[Stelle dich fest, Horus!] Weiche nicht zurück vor den Krokodilen im Wasser, und fürchte dich nicht vor den Bewohnern der Flut! Höre nicht auf ihn [d.h. der von Horus in Gestalt des Nilpferdes bekämpfte Seth], wenn er zu dir um Gnade fleht. Möge er nicht von deinem Schlag entkommen, o mein Sohn Horus!163
Im Gegensatz zu der Hiob eingangs von Eliphas vor Augen gestellten heilvollen Metapher einer b erît mit den Steinen des Feldes und eines umfassenden Friedens mit den wilden Tieren (5,23) bleibt die Unterwerfung des Leviatan allein Gott vorbehalten, der mit diesem wie mit einem Vogel spielen kann (V. 29, vgl. Ps 104,26).164 Das Bild von (gebundenen) Vögeln als Spielzeug für Kinder begegnet auch sonst im Alten Orient und in der Antike.165 Muss aber die Frage in V. 29b, sofern die Lesart des MT stimmt und man in den naʿ arôtæ̂kā („deine Mädchen“) keine Mägde sieht (vgl. Ex 2,5; Spr 27,27),166 für Hiob nicht zynisch wirken – hat er doch gemäß dem Prolog (vgl. 1,18–19), den der Verfasser von Hi 40,7–41,26 schon kannte, den Tod seiner Kinder (neʿārîm) zu beklagen? Was Hiob hier verwehrt und auch in der nachbiblischen jüdischen Tradition allein Gott vorbehalten bleibt,167 kann in frühchristlicher Typologie dem Wunder wirkenden Jesuskind zugestanden werden, das Drachen zähmt und dazu bringt, es anzubeten (vgl. Pseudo-Mt 18 in Aufnahme von Ps 148,7 und Mk 1,13).168 Wie die Schilderung des Behemot ist die natürliche Beschreibung des Leviatan, die zahlreiche Details mit der Darstellung des Krokodils bei Herodot (hist. 2, 68–70) teilt, mit hyperbolischen und mythischen Akzenten versehen. So kann der Versuch, den Leviatan mit bloßer Hand zu packen, nur in einem Desaster enden, auch wenn Krokodile im alten Ägypten gefangen, mitunter als heilige Tiere, etwa des (Krokodil-)Gottes Sobek/Suchos,169 gehalten oder ihr Fleisch verzehrt wurde, worauf wohl auch V. 30 (als Glosse?) anspielt170. Daher folgt die an 38,11a und 40,5b anklingende Mahnung an Hiob, er solle dies nicht wieder tun (V. 32: ʾal-tôsap). Die Beziehung zu den eigentlichen Fragen Hiobs an Gott zeigt sich in der erneuten Demonstration der Schöpfermacht Gottes und seiner Beherrschung des Chaos, wie es durch den gleichermaßen mythischen wie gegenwärtig sichtbaren und erfahrbaren Leviatan repräsentiert wird.
Roeder, Mythen und Legenden, 133. Auf diese Parallele hat Keel, Entgegnung, 154 hingewiesen. Zum Gedanken, dass die Menschen ein Spielzeug der Götter sein könnten, siehe Platon, leg. 644d; 803c. 165 Vgl. U. Hübner, Spiele und Spielzeug im antiken Palästina, OBO 121, Freiburg (Schweiz)/ Göttingen 1992, 28–32 (mit zahlreichen Belegen aus der antiken Literatur, u.a. Ovid, met. 10, 260–261; Catull, carm. 2, 1–4; Plautus, capt. 1002, und entsprechenden Abbildungen); Goodfellow, Pflanzen und Tiere, 155. 166 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 167 Vgl. bAS 3b: Im ersten Viertel des Tages beschäftigt sich Gott mit der Torah, im zweiten Viertel richtet er, im dritten ernährt er die Welt und im letzten Viertel spielt er mit dem Leviatan. 168 Markschies/Schröter, Apokryphen, I/2, 999. 169 Zu einem Lobpreis des Gottes Sobek/Suchos siehe z.B. ÄHG 203. 170 Vgl. Herodot, hist. 2, 69. 163
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Gott und der Leviatan
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Der zweite Teil der Leviatan-Passage, in dem Jhwh letztmalig innerhalb dieser Rede von sich in der 1. P. Sg. spricht, greift unmittelbar zurück auf Hiobs Anrede der Magier, die in der Lage seien, den Leviatan – und damit das urzeitliche Chaos – zu reizen (ʿûr 41,2, vgl. 3,8; 9,13–14; 26,12–13). Die Interpretation dieses auch rezeptionsgeschichtlich wichtigen Abschnitts (s.u.), der erstens durch das einleitende (hen, „siehe“ V. 1), zweitens durch das in V. 2–3.5–6 auftauchende mî („wer“) sowie drittens durch die parallele Konstruktion von V. 2a (Negation mit Verb in 1. P.Sg.)171 als eine Einheit ausgewiesen wird, ist allerdings wegen der teilweise starken Differenzen der Textzeugen und der Mehrdeutigkeit einzelner Wörter höchst umstritten. Die hier vertretene Deutung wahrt weitgehend den vom CodA und vom CodL gebotenen Text – ohne minimale Konjekturen kommt hier praktisch kein Kommentar aus –,172 sie orientiert sich an der formalen und rhetorischen Struktur der Passage und versucht, die Jhwh in den Mund gelegte Argumentation sowohl im Nahkontext wie im Zusammenhang des gesamten auf dieser Redaktionsstufe vorliegenden Hiobbuches nachzuzeichnen. Jegliche Hoffnung (tôḥælæt) auf den Leviatan, sei es darauf, ihn zu fangen, 41,1–3 sei es, ihn als Verbündeten zu gewinnen, scheitert zum einen an diesem selbst (V. 1b, vgl. V. 17)173, zum anderen an Gott, vor dem niemand – auch nicht der Leviatan – bestehen kann (V. 2b, vgl. 9,4), da Gott als Schöpfer allem zuvorgekommen ist und ihm als Herrscher alles auf der Erde gehört (V. 3, vgl. Ps 24,1–2; 103,19; Dan 4,32; Ex 13,2).174 Für Hiob, wie für alle an dem Dialog mit ihm Beteiligten – auch die Lesenden! – heißt dies, dass er Gott nichts geben kann, obwohl er selbst zu Gott gehört (vgl. 1,21), der allein Adressat der Hoffnung des Frommen ist (vgl. Ps 39,8). Insofern die für 40,6–41,26 verantwortliche Redaktion bereits auf die Himmelsszenen im Prolog zurückblickt, ist damit auch der Erwartung des Satans, Hiob könne sich von Gott lossagen, eine Absage erteilt. Unter der Hand werden hier auch die vor allem aus Ägypten bekannten Zaubersprüche und Amulette, mit denen sich Menschen in Flussnähe oder auch im Jenseits vor Krokodilen zu schützen versuchten, als wertlos eingestuft.
Zu V. 2 siehe die Anm. zur Übersetzung. Zu einem Versuch, den MT unverändert beizubehalten, siehe Rowold, הוא מי, 104–109. 173 Vgl. im Blick auf die bab. Tiamat EnEl. II,56 (TUAT.NF VIII, 97). 174 Tg unterstreicht diesen Gedanken, indem es über den MT hinausgehend ausdrücklich darauf verweist, dass niemand Gott „in seinen Werken bei der Schöpfung (brʾšjt)“ vorgegriffen habe (der Zusatz brʾšjt fehlt in der TgHs )נ. Zur in Hi 41,3 verwendeten „Zugehörigkeitsformel“ lî-hûʾ vgl. auch Ex 19,5; Jes 43,1 und Ez 29,3 und dazu Rowold, מי הוא, 104–109. 171
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Komm doch zu mir, he, Herr der Götter! Du sollst mir Löwen vom Wüstenrand fernhalten, Krokodile auf dem Fluss, alle beißenden (Schlangen-)Mäuler in ihren Löchern! Weiche zurück, Maga175, Sohn des Seth! Nicht kannst du rudern mit deinem Schwanz. Nicht kannst du zupacken mit deinen Armen. Nicht kannst du dein Maul öffnen. Das Wasser verwandelt sich zur Feuersglut vor dir. Der Finger der 77 Götter steckt in deinem Auge, indem du gebunden bist an den Marterpfahl des Osiris, indem du gebunden bist an die vier Stützen aus Chrysopras (?), die am Bug der Barje des Re sind. Bleib du ja stehen, Maga, Sohn des Seth! Siehe ich bin Amun, Stier seiner Mutter. Rezitation einer Figur des Amun (mit) vier Gesichtern auf einem Nacken; werde gemalt auf den Erdboden (mit) einem Krokodil unter seinen Füßen, eine Achtheit (von den Göttern des vorangehenden Hymnus) rechts von ihm (und) links von ihm spendet ihm Lobpreis.176
Die hier nochmals aufleuchtende Vorstellung von der absoluten Freiheit des Schöpfergottes, die im Rahmen der Hiobdichtung vor allem die Elihureden und die sich an diese anschließende Gerechtigkeitsredaktion prägt,177 steht der Erwartung, dass Gott nach bestimmten Maßstäben vergelten müsste, radikal entgegen. Als solche wird sie auch von Paulus geteilt, der die besondere theologische Bedeutung von Hi 41,3 richtig erkannt hat, wenn er den Vers in Verbindung mit Jes 40,13 (vgl. Hi 15,8; Jer 23,18) in einem Hymnus am Ende seiner Ausführungen zum geheimnisvollen Handeln Gottes an Israel (Röm 9–11) in Röm 11,33–36 zitiert.178 So schreibt Paulus in Röm 11,33–36 den Heilsweg Gottes mit Israel und den Heiden in einen kosmischen Heilsplan ein, der sich menschlicher Einsicht entzieht, der aber von Gottes Barmherzigkeit umgeben ist (vgl. Röm 11,32: ἐλεήσῃ; 12,1: διὰ τῶν οἰκτιρμῶν τοῦ θεοῦ). Hiobs Weg ist aus dieser Perspektive eine Figuration des Weges Israels und zugleich eine Figuration des Wegs der Christen. Beide Wege münden entsprechend dem Pendant zum Schlusshymnus der Israelperikope in Röm 8 in der untrennbaren Gemeinschaft mit Gott, die sich in der Teilhabe am Sterben und Auferstehen Christi artikuliert und realisiert (Röm 8,37–39). 41,4–6 Mit der Ankündigung Gottes, er wolle die Gliedmaßen (bad II) des Leviatan nicht verschweigen,179 wird bereits zum dritten Teil des Leviatangedichts übergeleitet. Der Dichter lässt Gott hier – im Gegensatz zu den Ausführungen über die Einrichtung des Kosmos, das Wetter, die wilden Tiere in der Luft und auf dem Land (38,4–39,30) und über den Behemot (40,15–24) – ausdrücklich in der Rolle des Lehrers auftreten, der selbst über seine Wunder spricht (vgl. Sir 42,15; Ps 40,6; Hi 15,17). Die drei rhetorischen Fragen in V. 5–6 175 Maga, der Sohn des Seth, ist das göttliche Inkarnat der Krokodile. Ähnlich können in äg. Mythologie Krokodile als innerweltlich sicht- und erlebbare Manifestationen des Gottes Sobek/ Suchos verstanden werden (vgl. das Buch von der Himmelskuh/Mythos von der Vernichtung des Menschengeschlechts, 86 [TUAT III, 1035]). 176 Aus dem sog. magischen Pap. Harris BM EA 10042 (13./12. Jh. v. Chr.), Übersetzung von H.-W. Fischer-Elfert, Altägyptische Zaubersprüche, 65f; vgl. Spruch 31 im äg. Totenbuch (s.o. S. 663). 177 Vgl. Hi 34,10–15; 35,5–9; 36,22–25 bzw. 9,2–4.12–13; 12,14–15. 178 Zur Textform dieses Zitates, das auf eine griech. Übersetzung zurückgeht, sich aber markant von der in der LXX überlieferten Version von Hi 41,3 (vgl. HiLXX 9,19; Jdt 16,14; EstLXX 4,17c) unterscheidet, siehe Schaller, Textcharakter, 21–26; zur Sache siehe Herzer, Jakobus, 346–349. 179 Siehe die Anm. zur Übersetzung.
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unterstreichen die Schöpfermacht und Verfügungsgewalt Gottes, der allein das Innere der von ihm geschaffenen Wesen kennt und aufzudecken vermag (vgl. 12,22; Sir 42,18–19). Das Beispiel des hinsichtlich seiner Stärke unvergleichlichen Krokodils zielt sowohl auf Staunen über als auch auf Ehrfurcht vor der Schöpfung und dem Schöpfer. So liegt der Schwerpunkt der Beschreibung des eigentlich unangreifbaren Gebisses und der Schrecken (ʾêmāh) verbreitenden Zähne,180 wie auch bei der folgenden ausführlichen Beschreibung des Körpers, bei aller Treue zum zoologischen Detail auf dem dreifachen mî („wer“), auf das es nur die Antwort „niemand“ – außer Gott – geben kann. Für Hiob heißt das dann, dass Gott jegliche Macht – auch den Schrecken (ʾêmāh), der Hiob getroffen hat (vgl. 9,34; 13,21), – kennt und bannen kann. Die Passage 41,1–6 ist der hermeneutische Schlüssel für die Ausführungen zum Behemot und zum Leviatan, die damit als ein naturkundlich-mythisches Pendant zu den Beschreibungen des Gerichts an den Frevlern in den Freundesreden und als Entfaltung der Exposition der zweiten Gottesrede in 40,7–14 erscheinen. Der Körper des Leviatan und seine Stellung im Kosmos
41,7–26
Die minutiöse Beschreibung des Körpers des Leviatans, die sich an die Thematisierung des Kopfes als Exponenten seiner Gefährlichkeit anschließt, wird nicht mehr durch rhetorische Fragen, Anreden Hiobs oder Stellungnahmen Gottes in der 1. P. Sg. unterbrochen. Bei aller Naturnähe nimmt die Darstellung immer stärker mythische Züge an, ohne dass das beschriebene Wesen vollends zu einer mythologischen Figur im Schatten der Chaoskampftradition würde.181 Sie gipfelt in einer Bestimmung des Standortes und der Rolle des Leviatan im Kosmos. Die Beschreibung des geschuppten Rückens des Leviatans, der eng miteinander 41,7–16 verbundenen Schilden bzw. einem Brustpanzer mit undurchdringlichen Gliedern gleicht (V. 7–9), bleibt noch im Bereich des real Vorfindlichen, näherhin der altorientalischen und antiken Ausrüstung eines Kriegers.182 Die Darstellung seiner wie das Morgenrot glühenden Augen183 und seines Atmens nimmt dann aber numinose Züge an (V. 10–13). Aus dem Krokodil wird ein Feuer speiender Drache,184 dessen elementare Lebensäußerungen an den Ausbruch eines Vul180 Dementsprechend kann in äg. Texten der Krokodilsgott Sobek/Suchos als „Weißzahn“ angeredet werden (äg. Totenbuch, Spruch 125, 71, bei Hornung, Totenbuch, 237; vgl. TUAT II, 513,12); vgl. auch das Epitheton „Läufer mit scharfen Zähnen“ (ÄHG 203B, 49). 181 So aber Fuchs, Mythos, 247–264. 182 Vgl. 1Sam 17,5–7; 2Kön 19,32; Jes 22,6; Ez 39,9; s. dazu H. Bonnet, Die Waffen der Völker des alten Orients, Leipzig 1926 (Nachdr. 2011), 181–201 (Schild); 209–216 (Panzer); H. Weippert, Art. „Schild“, BRL2 (1977) 279f; dies., Art. „Panzer“, BRL2 (1977) 248. 183 Zur Wendung ʿapʿappê-šāḥar („Wimpern der Morgenröte“) s.o. die Übersetzung und Auslegung von Hi 3,9. 184 Vgl. auch die Beschreibung des Gottes Marduk im EnEl. I,96 (TUAT.NF VIII, 93) und des Ungeheuers Chuwawa/Chumbaba im Gilgm. II,v,3–4. (TUAT III, 684), ikonographisch die Darstellung eines neuassyr. Rollsiegels bei Keel, Bildsymbolik, 42 (Abb. 45), sowie in Aufnahme von
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kans erinnern. Dieses Szenario entspricht den Begleitumständen einer Theophanie,185 es begegnet dementsprechend auch in apokalyptischen Schilderungen (vgl. Apk 9,17), steht aber gemäß dem Zwischenstück in Hi 41,1–6 ganz unter dem Vorbehalt, dass auch dieses Wesen ein Geschöpf ist und ganz allein Jhwh gehört (41,3). Diesem Gedanken ist auch das Bild des eng versiegelten Rückens (V. 7b) verpflichtet, insofern ein Siegel nicht nur Zeichen des dichten Verschlusses ist (14,17; 24,16; Hhld 4,12), sondern auch des Eigentümers (37,7; Hhld 8,6). Steht in der atl. Körpersymbolik schon der Nacken an sich für Stärke und Stolz (V. 14, vgl. Hhld 4,4), so wird diese Vorstellung hier noch durch das Bild der auf dem Nacken des Leviatan gleichsam als personale Größe ruhenden Kraft unterstrichen. Es wird von dem Bild der vor dem Leviatan her springenden oder wie ein Herold vor ihm her laufenden Angst (deʾābāh) begleitet (V. 14), so dass der Leviatan wie der Behemot (40,19–20) als ein vor Kraft strotzender Kriegsheld (vgl. 15,25–27; 1Sam 17,4–11), ja fast als ein kriegerischer Gott erscheint.186 Dem nicht umzustürzenden Leib (bāśār) steht das eisenharte Innere (leb) zur Seite (V. 15–16). Auch wenn die genaue Bedeutung des Wortes mappāl (V. 15a) nicht sicher ist, vermutlich sind die Falten des massigen Körpers gemeint, so ist angesichts des dreifach gebrauchten Wortes jāṣaq, das häufig im Zusammenhang des Metallgusses verwendet wird,187 und des Vergleichs mit dem unteren Stein einer Mühle188 klar, dass den Leviatan ein unverwüstlicher Körper auszeichnet. 41,17–26 Die beschriebene Gefährlichkeit und Unverwüstlichkeit lässt sogar, sofern der Text hier richtig überliefert ist, Götter (ʾelîm) erschauern (V. 17, vgl. V. 1b). Dieses Motiv begegnet auch in einzelnen Ausprägungen des Chaoskampfmythos.189 Wie in 1,6; 2,1 und 38,7 sind mit den ʾelîm zumindest auf der Stufe des Hiobbuches Engel gemeint.190 Die Aq, Sym, Syr und Tg folgende Lesart „Starke/ Helden“ (ʾêlîm) vermindert ebenso wie die beliebte Konjektur „Wellen“ (gallîm) die mythische Dimension dieses Bildes.191 Nach der Kontrastierung des Leviatan mit Hiob und der Bestimmung seines Verhältnisses zu Gott schließt sich ein Blick in die himmlische Welt sinnvoll an. Dabei dient auch die Aussicht, Hi 41,10–12 die Beschreibung des Drachens in den spätantiken apokryphen Fragen des Bartholomäus (13) (Markschies/Schröter, Apokryphen I/1, 759). 185 Vgl. Ex 19,18; Ps 18,9; 144,5; Hab 3,4.11. 186 Vgl. z.B. die Begleitung des Gottes Ares durch Furcht und Schrecken (δεῖμος καὶ φόβος, Homer, Il. 15, 119), den Schreckensglanz des Gottes Assur (sprichwörtlich in zahlreichen Inschriften der neuassyrischen Könige, z.B. die Große Prunkinschrift Sargons II. 111 [TUAT I, 384]) oder auch die vor Jhwh einhergehende Pest (Hab 3,5a). 187 Vgl. Hi 28,2; Ex 25,12; 26,37; 36,36; 37,3.13; 38,5.27; 1Kön 7,46. 188 Bei dem Unterstein (pælaḥ taḥtît) handelt es sich um einen flachen, muldenförmigen Stein, auf dem die Körner mit dem Oberstein zerstoßen oder zerrieben wurden. 189 So erschrecken im ug. Baʿal-Zyklus II,i, 22–29 [TUAT.NF VIII, 197]) die Götter angesichts der Boten des Meeresgottes Jammu. 190 Vgl. Vg; Hi 33,22–23 sowie die LXX zu 40,19 und 41,25. 191 Dies gilt auch für die LXX, die hier die „Vierfüßler“ (θηρία τετράποδα) nennt (vgl. 40,20), was auf ein theriomorphes Verständnis von ʾajîl/ʾêlîm zurückgehen könnte (vgl. Gen 22,13; 31,38; Dtn 32,14).
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dass selbst Engel vor dem Leviatan zurückweichen müssen (wörtl. „fehlgehen“ [ḥāṭāʾ Nif.]), letztlich der Betonung der einzigartigen Schöpfermacht Gottes (vgl. 4,17–18; 15,15). Gegenüber den natürlichen Aspekten der Beschreibung des Krododils dominieren hier die mythisch-symbolischen Aspekte, so dass der Leviatan als eine überzeitliche Verkörperung des Bedrohlichen erscheint. Als solchem kann ihm auch keine menschliche Waffe etwas anhaben (V. 18–21). Die Liste der zehn hier aufgeführten Waffen (sicher zu identifizieren sind Schwert, Speer, Pfeil, Schleuder, Keule und Krummschwert sowie metonymisch Eisen und Erz) spiegelt die Vielfalt altorientalischer und antiker Jagd- und Kriegsgeräte wider192: Sie sind nichts im Vergleich zu den spitzen Zacken an der Unterseite des Leviatan (der Bauch des Krokodils ist eigentlich glatt). Diese prägt sich wie ein mit Flintsteinen oder Eisenmessern versehenes Dreschbrett, das zum Trennen des Korns vom Halm über die Tenne gezogen wurde,193 in den Uferschlamm eines Flusses ein (V. 22). Erneut verschwimmt die natürliche Beschreibung eines sich im Wasser aufbäumenden, plötzlich auftauchenden194 und am Ufer fortbewegenden Krokodils (vgl. Ez 32,2b) mit einer hyperbolisch-symbolischen Zeichnung. Diese bestimmt dann V. 23–26, in denen sich Traditionselemente des Leviatan als urzeitliche Chaosmacht am deutlichsten zeigen. In kanaanäischen und altorientalischen Mythen, wie sie sich z.B. im ug. Baʿal-Epos und im bab. Schöpfungsepos EnEl. niedergeschlagen haben und in einzelnen Psalmen Israels fortleben (vgl. Ps 74*; 93), erscheinen das Meer (ug. Jammu) und der Meeresdrache (bab. Tiamat) als eigenständige Wesen, die der Königsgott (so der ug. Baʿal) bzw. der Schöpfergott (so der bab. Marduk) niederringen. Hier hingegen sind der Schlamm (ṭîṭ), die Tiefe (meṣûlāh) des Wassers, das Meer (jām)195 und die Tehom (vgl. Gen 1,2) ein natürlicher Lebensraum des Leviatan. Die Bildworte in V. 23–24 haben ein doppeltes Ziel: Zum einen verdeutlichen sie, wie die Fluten durch den sich in ihnen tummelnden Leviatan in Bewegung geraten (wie in einem Topf zum Kochen gebrachte Flüssigkeit), wie sie aufschäumen (wie Salbe beim Aufkochen oder beim Mischen)196 und wie sie ihre Farbe verändern. Zum anderen werden die Größe und die Macht des Meeres stark relativiert, wenn es für den Leviatan wie Gebrauchsgeschirr erscheint (vgl. 38,8–11). Dies zeigt sich besonders deutlich in V. 24b: Wenn die Tehom 192 Vgl. Hi 20,24–25; 39,22–25; 1Sam 17,5–7.37–38.49–50; Sach 9,13–15.; H. Bonnet, Die Waffen der Völker des alten Orients, Leipzig 1926 (Nachdr. 2011), 1–16 (Keule); 71–96 (Schwert und Krummschwert); 96–108 (Speer); 114–117 (Schleuder); 118–173 (Bogen und Pfeil); H. Weippert, Art. „Bogen“, BRL2 (1977) 49f; dies., Art. „Dolch und Schwert“, BRL2 (1977) 57–62; dies., Art. „Keule“, BRL2 (1977) 185; dies., Art. „Pfeil“, BRL2 (1977) 249f; K. Galling/H. Weippert, Art. „Schleuder“, BRL2 (1977) 282; zu entsprechenden Abbildungen s.o. zu Hi 20,25. 193 Vgl. Jes 41,5; Am 1,3; zu einer Abbildung eines Dreschschlittens siehe H. Weippert, Art. „Dreschen und Worfeln“, BRL2 (1977) 63f. 194 Sprichwörtlich in der äg. Lehre d. Ptahhotep 262: „aber so (plötzlich) wie das Krokodil auftaucht, entsteht Streit.“ (G. Burkhard, in: TUAT III, 206). 195 Gegen eine Interpretation als „Nil“ (vgl. Jes 18,2; 19,5; Ez 32,2; Nah 3,8) spricht die Zusammenstellung mit der Tehom in V. 24 (gegen Fohrer). 196 Vgl. Ex 30,25; 1Chr 9,30; Sir 38,8. Zu diversen Salbgefäßen siehe P. Welten, Art. „Salbe und Salbgefäße“, BRL2 (1977) 260–264.
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für Greisenhaar gehalten wird, dann kann dies auf die grau-silberne Farbe des vom Leviatan durchpflügten Wassers, auf die Gischt anspielen (vgl. V. 24a).197 Dieses Bild kann aber auch für die in den Augen des Leviatan altersbedingte Schwäche der Tehom stehen.198 In jedem Fall hat die Tehom für den Leviatan – und damit für Jhwh – jeglichen Schrecken verloren. Dementsprechend ist der Leviatan zu Wasser und zu Land (ʿal-ʿāpār) unvergleichlich (V. 25): Diese sich auch in absoluter Furchtlosigkeit199 widerspiegelnde Einzigartigkeit lässt den Leviatan ebenso wie die erneute Betonung, dass er geschaffen ist (vgl. 40,15), nochmals als ein mehrfaches Gleichnis für den unvergleichlichen Gottesknecht Hiob (1,8) erscheinen. Gottes Schöpfung zeichnet sich durch die Einzigartigkeit seiner Geschöpfe aus, die im Gegensatz zur priesterschriftlichen Doktrin aber nicht alle von einem vom Menschen ausgehenden Schrecken (ḥat) gepackt werden (Gen 9,2) – im Gegenteil – und die auch in ihrer Gefährlichkeit in der Weite des Kosmos ein vom Schöpfer gewährtes Daseinsrecht haben. Und doch untersteht auch der Leviatan, der im Gegensatz zu Hiob (vgl. 40,11–12) alles Hohe furchtlos anzusehen vermag (jirʾæh)200 und über „alle stolzen Wesen“201 herrscht (vgl. 40,19; Spr 30,30), der Gewalt des einen Gottes (41,2–3) – um wie viel mehr gilt dies dann für Hiob. Der Leviatan, der – auch in seiner Bedrohlichkeit und Gefährlichkeit – ein Geschöpf Gottes ist, dient so als ein weiteres Beispiel für Hiob, dass es seine Aufgabe ist, Gott auch angesichts höchst ambivalenter, mitunter bedrohlicher oder gar tödlicher Erfahrungen bedingungslos anzuerkennen und zu loben (40,14). Theologisch entspricht diese Passage über den Leviatan ebenso wie die Passage über den Behemot daher den Reden Elihus (vgl. 35,10), die gleichfalls pointiert mit einem Begriff des Sehens enden (vgl. 37,24 versus 41,26). Damit hat der Verfasser von 40,6–41,26, ähnlich wie mittels seiner Vorschaltung von Hi 36–37 vor Kap. 38 Hiobs Schlussantwort in 42,1–2.3aβ.5–6 noch deutlicher vorbereitet, als dies auf einer älteren redaktionsgeschichtlichen Stufe des Buches durch die einfache Anfügung von 40,3–5; 42,2.3aβ.5–6 der Fall war. Aus der Perspektive der Hiob später seitens der Majestätsredaktion und der Gerechtigkeitsredaktion in den Mund gelegten Hymnen und Bekenntnisse zur
Vgl. Catull, carm. 64, 12–18; Manilius, astron. 1, 708–710 (Fels, 74f). Zu diesem Aspekt des Wortes śêbāh vgl. Spr 20,29; Ps 92,14, aber auch Gen 25,8 und Ruth 4,15. So versteht auch die LXX den Text, die mit αἰχμάλωτον („einen Kriegsgefangenen“) allerdings wohl šîbāh („Kriegsgefangenschaft“) las. 199 Die LXX wiederholt hier Hi 40,19b, so dass der Leviatan letztlich nur zum Spott der Engel geschaffen sei. 200 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 201 Unter den benê-šāḥaṣ sind sicher mehr als nur wilde Tiere (vgl. Hi 28,8) gemeint. Die Lesart der antiken Versionen („Reptilien“, siehe die Anm. zur Übersetzung) passt zwar zoologisch gut, harmoniert aber nicht mit V. 26a und nivelliert die besondere Bedeutung, die V. 26 als Schlussvers der gesamten zweiten (dritten) Gottesrede hat; dementsprechend bietet das Tg neben einer Vielzahl von Varianten auch die Variante mrj ḥṭpʾ („Herren der Gewalt“). 197 198
Hi 40,6–41,26 Die zweite große Rede Gottes
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vergeltenden Gerechtigkeit Gottes202 erscheinen die Ausführungen in 40,6– 41,26 als kosmotheologische Vertiefungen.
Der Behemot und der Leviatan im nachbiblischen Judentum
Exkurs
Adelman, R.: Art. Leviathan II. Judaism, EBR 16 (2018), 295f. – Whitney, K.W.: Two Strange Literatur Beasts. Leviathan and Behemoth in Second Temple and Early Rabbinic Judaism, HSM 63, Winona Lake 2006. Während der Behemot und der Leviatan als Paar in der hebr. Bibel nur in Hi 40,15–41,26 begegnen,203 tauchen sie vereinzelt in jüdischen apokalyptisch geprägten Texten der hellenistisch-römischen Zeit auf. So versteht 1Hen 60,7–9 (2. Jh. v.Chr.?) den Leviatan als ein weibliches Meeresungeheuer, vergleichbar der bab. Tiamat, und den Behemot als ein männliches Monster, das in der Wüste Dedain östlich des Paradieses lebt. Nach der Henoch zuteil gewordenen Offenbarung existieren diese ursprünglich ungetrennten Ungeheuer nur, um verspeist zu werden (1Hen 60,24). Nach syrBar 29,4 (2. Jh. n.Chr.) werden der Behemot und der Leviatan, die am fünften Tag der Schöpfung erschaffen wurden (vgl. 3Hen 48D,8), im messianischen Zeitalter von denen verzehrt, die das Weltgericht überlebt haben. Ähnliches erfährt nach 4Esr 6,49–52 (1. Jh. n.Chr.) Esra vom Behemot und Leviatan in seiner dritten Vision. Neben dieser „combat-banquet-tradition“ identifiziert K.W. Whitney eine „axis-mundi-tradition“, wenn der Leviatan (und nur dieser) in der Apokalypse Abrahams (1./2. Jh. n.Chr.) und der Leiter Jakobs (1. Jh. n.Chr.) als im Meer lebender Drache erscheint, von dem schwere Zerstörungen auf der Erde ausgehen (vgl. ApkAbr 10,10; 21,4; Leiter Jakobs 6,13). Möglicherweise stehen die Formelverse der LXX in 40,19 und 41,25 (vgl. PsLXX 103,26) bereits unter dem Einfluss der apokalyptischen Bilder vom Behemot und Leviatan. Im rabbinischen Schrifttum leben diese Traditionen fort (vgl. z.B. bBB 74b–75a).204
Vgl. Hi 9,2–14; 12,4–13,2; 26,5–14 bzw. Hi 24,5–8.13–25; 27,7–10.13–23; 30,1b–8; 31,1– 3.11–12.23.28.33–34.38–40. 203 Zum paarweisen Vorkommen von Nilpferd und Krokodil in äg. Texten und Bildern vgl. z.B. TUAT II, 375, 40 (Anrufung des Sonnengottes zur Beschwörung von Wassertieren); Lehre d. Amen emope 7,3 (TUAT.NF VIII, 333); siehe aber auch Plutarch, Is. 50. Im Mischwesen der Allesfresserin, die den im Totengericht Verurteilten verschlingt, wird dies augenfällig, wenn diese einen Krokodilskopf und einen Nilpferdleib (sowie Löwenfüße) besitzt (vgl. z.B. Abb. Nr. 63 bei Hornung, Totenbuch, Spruch Nr. 125, 233, oder die Abb. Nr. 5–16; 20–26; 29–30 bei Seeber, Untersuchungen). 204 Ginzberg, Legends, V, 41–49. 202
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
42,1–6 Die Schlussworte Hiobs ER NR
42,1 Und Hiob antwortete Jhwh und sagte1: 2 Ich weiß2, dass du alles vermagst und dir kein Plan3 zu schwer ist. 3 Wer verdunkelt4 da den Ratschluss5 ohne Wissen? Wohlan6, ich verkündete, und ich verstand nicht, für mich war es zu wunderbar, und ich wusste nicht.7 4 Höre doch, dann will ich gewiss reden, ich will dich fragen, und du lass (es) mich wissen8. 5 Mit den eigenen Ohren9 habe ich dich gehört, und10 jetzt hat mein Auge dich gesehen.
1 11QTgHi: „Hiob hob an und sagte vor Gott“ (ʿnh ʾjwb wʾmr qdm ʾlhʾ); vgl. 11QTgHi zu 23,4 sowie Dtn 26,5.13. 2 So nach dem Qere und den Versionen; zur Schreibung der 1. P. Sg. Pf. ohne Schluss-waw vgl. Ps 140,13; 1Kön 8,48; Ez 16,59 und dazu G/K § 44i sowie die überwiegende Mehrheit der Auslegungen. Das Ketib legt die Lesart jādaʿtā „du weißt“ nahe, s.u. die Auslegung. 3 11QTgHi: „Stärke und Weisheit“ (tqp wḥkmh, vgl. Hi 12,13). 4 Nach ʿlm II „dunkel sein“ (HAL; DCH), vgl. Hi 6,16 und die Parallele in 38,2 (ḥšk Hif.); möglich wäre auch die Übersetzung „verhüllt“ (nach ʿlm I); Ges18 und KAHAL nehmen nur eine Wurzel ʿlm an. 5 Nach HsK100 (vgl. auch Miletto Nr. 1139) und Syr (vgl. auch LXX) wird gelegentlich b emillîm „mit Worten“ ergänzt (vgl. BHK); doch dürfte es sich hierbei um eine sekundäre Angleichung an Hi 38,2 handeln (vgl. CTAT 50/5, 446–448). 6 lāken wird hier zumeist kausal bzw. konklusiv verstanden („deshalb/infolgedessen“); doch passt eine affirmative Übersetzung („ja!“; vgl. Gen 4,15; 30,15; 1Sam 28,2; Jer 2,33) besser (vgl. Gordis; Hartley). In der LXX erscheint dieser Satz wie V. 3a als Frage, wer Hiob etwas verkünden würde, was dieser nicht schon wisse. 7 11QTgHi bietet anstelle von V. 3MT 40,5MT, siehe dazu die Auslegung. 8 11QTgHi: „du antworte mir“ (htjbnj, vgl. 11QTgHi zu 38,3; 40,7). 9 Wörtl.: „vom Hören des Ohres“; nicht, wie zumeist, „vom Hörensagen“. 10 In der Regel wird die Kopula adversativ verstanden; doch siehe dazu auch Clines und die Auslegung.
42,1–6 Die Schlussworte Hiobs
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6 Darum verachte ich11 und bereue12, weil13 ich (ja doch) Staub und Asche bin. Dailey, T.F.: And Yet He Repents. On Job 42,6, ZAW 105 (1993) 205–209. – Krüger, T.: Did Job Literatur Repent?, in: Ders. u.a. (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, AThANT 88, Zürich 2007, 217–229. – Stordalen, T.: The Canonical Taming of Job (Job 42.1–6), in: J. Jarick (Hg.), Perspectives on Israelite Wisdom. Proceedings of the Oxford Old Testament Seminar, London u.a. 2016, 187–207. – Willi-Plein, I.: Ein untadeliger Mensch. Zum Menschenbild der Hiobdichtung, in: M. Bauks u.a. (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). Aspekte einer theologischen Anthropologie (FS B. Janowski), Neukirchen-Vluyn 2008, 553–564. – Willi-Plein, I.: Hiobs immer aktuelle Frage, in: Dies., Sprache als Schlüssel zum Alten Testament. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 2002, 146–158. – Dies.: Hiobs Widerruf? Eine Untersuchung der Wurzel נחםund ihrer erzähltechnischen Funktion im Hiobbuch, in: Dies., Sprache, 130–145. – Wolters, A.: „A Child of Dust and Ashes“ (Job 42,6b), ZAW 102 (1990) 116–119.
Nach der Aufteilung der einen Antwort Hiobs (40,3–5; 42,2–6*) als Reaktion auf die eine Rede Gottes (38,1–39,30*), der Einlage der zweiten großen Gottesrede (40,6–41,26) und der Einfügung der kurzen Anrede Hiobs in 40,1–2 hat 42,1–6 als eine eigene zweite kleine Rede Hiobs einen neuen kompositionellen und dramaturgischen Charakter erhalten. So bildet 42,1–6 jetzt ein in sich geschlossenes Bekenntnis Hiobs zur alles umfassenden Macht Gottes (V. 2a) und zur eigenen Vergänglichkeit (V. 6b). Die Kleinkomposition aus fünf Bikola (mit einem prosaischen Vorsatz in V. 3aα) besteht aus hymnischen Elementen, aus Zitaten sowie aus Versatzstücken aus Offenbarungsschilderungen, Schuldbekenntnissen und Niedrigkeitsaussagen. Formal und inhaltlich lässt sich 11 So nach mʾs I (vgl. eindeutig HsK601, die zusätzlich als Objekt ḥajjāj „mein Leben“ bietet [vgl. Hi 9,21]; Vg [reprehendo me]; Sym [κατέγνων ἐμαυτοῦ]; Tg [mit dem zusätzlichen Objekt „meinen Reichtum“]; tendenziell auch Syr [„ich werde schweigen/aufhören“]; Hi 36,5; CTAT 50/5, 450f). Denkbar wäre auch eine Ableitung von mʾs II als Nebenform zu mss „zerfließen/vergehen“ (vgl. 11QTgHi; Hi 7,5.16); in diesem Sinn schlägt BHK die Lesart ʾæmmās vor. Die LXX bietet wohl eine Doppelübersetzung, einmal nach mʾs I und einmal nach mʾs II („Deshalb verachte ich mich selbst und zerfließe“), was J. Gray, 86f, grundsätzlich für ursprünglich hält („Wherefore I demean myself [ʾæmmāʾes] and yield [ʾæmmas]“) – doch siehe dazu Dhont, Double Translation, 486, und die folgende Anm. 12 So als nichtreflexives Nif. von nḥm (vgl. Vg; CTAT 50/5, 451); philologisch möglich ist jedoch auch die Auflösung als Reflexivum im Sinn von „sich trösten lassen/getröstet werden (über etwas)“ (vgl. Tg [mit dem zusätzlichen Objekt „über meine Söhne“]). 11QTgHi bietet ʾtmhʾ „ich werde aufgelöst sein/mich auflösen“, wobei der Buchstabe h nachgetragen ist; im Hintergrund könnte eine Ableitung von ḥmm „heiß werden“ anstelle von nḥm stehen (vgl. DJD XXIII, 170; Sokoloff, Targum, 167); hingegen hält J. Gray, 86f, die Lesart von 11QTgHi für ursprünglich und vermutet für den hebr. Text einen Aramaismus nimheʾtî (nach der im biblischen Hebr. nicht belegten Wurzel mhʾ). In der LXX fehlt wohl ein Äquivalent – es sei denn, man nimmt für LXX keine Doppelübersetzung an (s. die vorangehende Anm.), sondern führt ἐτάκην wie die Lesart von 11QTgHi auf ḥmm zurück (Hinweis von M. Häberlein). Syr setzt mit ʾtnḥm die Lesart nḥmtj voraus, allerdings bedeutet nḥm im Syrischen „auf(er)stehen“, so dass Hiob demnach ein Bekenntnis zur Auferstehung ablegt (vgl. Syr zu 19,25; 30,23; HiLXX 19,25–26 [?]; 42,17a; Shepherd, Targum, 232). 13 Zur kausalen Wiedergabe von ʿal vgl. Hi 16,17 und Ps 119,136 sowie sachlich Gen 18,27 (siehe auch König; Buttenwieser und tendenziell Strauß). In 11QTgHi (wʾhwʾ l „und ich werde zu“) und in der LXX (ἥγημαι δὲ ἐμαυτόν „ich aber halte mich für“, vgl. Hi 30,19) ist V. 6b als Nominalsatz aufgefasst, während Syr und Vg mit „über“ bzw. „auf“ übersetzen.
Aufbau und Sprachformen
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
diese Kleinkomposition in zwei annähernd gleich lange Abschnitte gliedern. In einem ersten Teil (V. 2–3) bekennt sich Hiob zur Allmacht Gottes (V. 2) und gesteht seine eigene Unwissenheit bezüglich des göttlichen Weltplanes und der göttlichen Wunder ein (V. 3). Dieser Teil wird durch den zweifachen Gebrauch der Wurzel jādaʿ („wissen/erkennen“) als erstes und letztes Wort gerahmt.14 Fast genau in der Mitte steht der zentrale Begriff des göttlichen Plans (ʿeṣāh). In einem zweiten Teil (V. 4–6) bekennt Hiob im Rückgriff auf die Einleitung der Gottesreden (38,2–3), dass er der göttlichen Aufforderung, selbst zu hören, sich befragen zu lassen und gegebenenfalls Gott etwas wissen (jādaʿ Hif. !) zu lassen, gefolgt ist (V. 4), dass er Gott gehört und gesehen hat (V. 5) und dass er nunmehr aufgibt (V. 6). Diese Antwort Hiobs ist von Begriffen der Erkenntnis und der sinnlichen Wahrnehmung geprägt. Die im gesamten Hiobbuch diskutierte Frage nach dem Grund, der Art und Weise sowie dem Ziel der Erfahrung und Erkenntnis Gottes wird hier nochmals verdichtet aufgenommen und mehrdeutig beantwortet. Dabei spiegelt sich in den Zitaten aus vorangegangenen Reden, die den gleichmäßigen Aufbau aus zweimal zwei Bikola (V. 2.3aβ.b und V. 5–6) durchbrechen, auf engstem Raum die dialogische Struktur der Hiobdichtung. Als letzte Worte Hiobs erfüllt diese Passage eine wesentliche literarische und theologische Funktion für das gesamte Buch. Text- und Wie bereits unter den Hinweisen zur Text- und Literargeschichte von Hi 40,1–5 Literar- vermerkt,15 bietet 11QTgHi ein fast vollständiges Äquivalent zu 42,1–6, wobei geschichte anstelle des masoret. V. 3 ein Pendant zu 40,5MT wiederholt wird. Die Frage, ob 11QTgHi in seiner Vorlage eine Lücke vorfand, die der Übersetzer mittels Hi 40,5 ausfüllte, ob er selbstständig 42,3 durch 40,5 ersetzte oder ob in seiner Vorlage bereits 40,5 an der Stelle von 42,3 stand, lässt sich gegenwärtig nicht beantworten.16 Die Besonderheit der Antwort Hiobs wird dadurch unterstrichen, dass vor 42,1 und nach 42,6 kleine Leerräume gelassen sind (vgl. die masoret. Parascheneinteilung). Die Grundschicht von 42,2–6 geht, wie oben dargestellt, auf die Niedrigkeitsredaktion zurück. Die Abtrennung von 40,3–5 und Gestaltung als eine eigene Rede mittels der Überschrift in 42,1 erfolgte seitens der Elihuredaktion. Die zitatähnlichen Stücke in V. 3aα.4 sind noch jüngeren Ursprungs, sie stammen wie 40,1–2 möglicherweise von der Gerechtigkeitsredaktion.17 In der LXX ist der Zitatcharakter (bewusst?) aufgrund eines variierenden Wortgebrauchs weniger deutlich als im MT. Die kolometrische Unregelmäßigkeit von V. 6 spiegelt sich neben der semantischen Ambivalenz bereits in den alten
Hinzu kommt die Verwendung annähernd in der Mitte dieses Teils (V. 3aβ). S.o. S. 638 16 Siehe dazu DJD XXIII, 169, und Shepherd, Targum, 135f. 17 S.o. S. 594f. 14 15
42,1–6 Die Schlussworte Hiobs
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Versionen, bei denen teilweise w eniḥamtî gegen die masoret. Versteilung zu V. 6b gezogen wird (vgl. Vg; Tg).18 Hiobs wunderbare Gottes- und Selbsterkenntnis
42,1–6
Die Überschrift ist 40,3 nachgebildet und hält fest, dass Hiob nicht nur zu 42,1 einer Rede anhebt, sondern unmittelbar auf die Rede Jhwhs reagiert. Die Gottesreden haben ihr Ziel erreicht. Die Präsentation der Erschaffung der 42,2–3 Welt und ihrer Leitung (38,2–39,30), die Betonung des absoluten göttlichen Rechts (40,7–14; 41,1–6) und die Illustration der göttlichen Verfügungsgewalt über die mythisch-realen Chaoswesen Behemot und Leviatan (40,15–24; 40,25–41,26) finden ihren beabsichtigten Widerhall in Hiobs Geständnis seines begrenzten Wissens. Mit dem betonten Ausruf „ich habe erkannt“, d.h. „ich weiß jetzt“ (jādaʿti, vgl. 9,2),19 und mit dem lautlich besonders hervorgehobenen Bekenntnis zu Gottes Allmacht (kî kol tûkāl) wird hervorgehoben, dass Hiob zu einer vertieften Wahrnehmung Gottes vorgedrungen ist.20 Sein Ruf nach Erkenntnis (vgl. 10,2; 23,5) ist, wenn auch viel umfassender und anders als von ihm zunächst beabsichtigt, erhört worden. Dieser Satz findet sein gattungsgeschichtliches Gegenüber in Rettungsbekenntnissen einzelner Beter (vgl. Ps 20,7; 56,10). 1 Und ich erhob meine Hände in Gerechtigkeit und pries den Heiligen und Großen … 3 Denn du hast geschaffen und herrschst über alles; und kein Tun – überhaupt nichts – ist dir zu schwer; die Weisheit entgeht dir nicht und wendet sich nicht weg von dem deines Thrones und nicht von deinem Angesicht; und du weißt und siehst und hörst alles, und es gibt nichts, was vor dir verborgen wäre, denn du siehst alles. (1Hen 84,1.3)21
Die Qualifikation der Ausführungen Gottes als „Wunder“ (niplāʾôt, vgl. 5,9; 37,5)22 kennzeichnet die Haltung des Frommen, der die Belehrung Gottes demütig annimmt und die Grenzen der Erkenntnis eingesteht, ohne an diesen 18 Möglicherweise auch in der LXX (vgl. Beer, Text, 255), doch siehe die Anm. zur Übersetzung. Zieht man w eniḥamtî zu V. 6b, dann ist V. 6a zu kurz. BHK schlägt die Ergänzung von himmes als Verstärkung von ʾæmmās (conj.) vor („ich fließe ganz dahin [d.h. in Tränen]); weitere ältere Vorschläge zu „Auffüllungen“ von V. 6a verzeichnen Beer, Text, 255f, und Hölscher (ʾānokî „ich“). 19 Die defektive Schreibweise sollte nicht dazu verführen, hier die 2. P. Sg. zu lesen und V. 2 als eine resignativ-misstrauische Antwort Hiobs zu deuten, der zufolge Gott selbst wisse, dass er alles könne (vgl. Merx, 193; Strauß, 347f; Stordalen, Canonical Taming, 190–197). 20 Die LXX unterstreicht in ihrer sich vom MT unterscheidenden Fassung mit derselben Formulierung wie in Hi 10,13, dass Gott nichts unmöglich ist (vgl. GenLXX 18,14; Mk 10,27; Homer, Od. 10, 306; Xenophon, symp. 4,48; Epicharmos, frgm. 23,4 [DK]). 21 Übersetzung von S. Uhlig, Henochbuch, 677f; vgl. SibOr frgm. 3,15–16 (Gauger, 62f). 22 Vgl. Gen 18,14; Jer 32,17.27; 1QHa IX,30(32).33(35)–34(36); XI,23(24); XVII,7; 4Q381 frgm. 1,1. Einmalig im griech. Hiobbuch wird hier der Begriff θαυμαστός verwendet, der in der religiösen Sprache der LXX und ihrer Umwelt weit verbreitet ist (vgl. Ex 15,11 LXX; Dtn 28,58LXX; PsLXX 8,2.10; 97,1; 117,23; Sir 11,4; 43,2; Tob 12,22; Jdt 16,13; Mt 21,42; Mk 12,11; Apk 15,1.3; 1Petr 2,9; Euripides, Iph. A. 1538; Iph. T. 900; Hel. 601).
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
zu verzweifeln.23 Mittels der später eingefügten rhetorischen Frage in V. 3aα, die den Auftakt der ersten Gottesrede 38,2 leicht modifizierend wiederholt,24 gibt sich Hiob selbst als der von Gott gefragte Mensch zu erkennen, der den göttlichen Weltplan (ʿeṣāh, βουλή) mangels einschlägiger Erkenntnis „verdunkelte“ (ʿlm II Hif.). Damit widerruft Hiob in besonderer Weise seinen Fluchwunsch, Dunkelheit möge sich auf den Tag seiner Geburt legen, mit dem der Redewechsel zwischen Hiob und seinen Freunden begann und der als eine Bestreitung der Macht des Schöpfers verstanden werden konnte (Kap. 3). Hiob bestätigt die Macht und Weisheit Gottes und kehrt damit auf der Ebene der ‚Endgestalt‘ des Buches zu den (durch die Majestätsredaktion eingelegten) Bekenntnissen in 12,13; 26,14 und 28,28 zurück, die durch die gleichsam redaktionell eingefügten Elihureden vorbereitet wurden (35,10–11; 36,22–25). Das Bekenntnis Hiobs zur Unbegreiflichkeit Gottes hat zahlreiche Parallelen in altorientalischen Hymnen und Weisheitstexten,25 berührt sich aber auch mit Aratos’ Proömium zum zweiten Teil seines Lehrgedichts: Denn noch wissen wir Menschen nicht alles von Zeus, sondern vieles ist uns noch verborgen, wovon uns Zeus, wenn er will, auch fürderhin geben wird; der ja dem Menschengeschlecht sichtbarlich hilft, von überall gesehen, überall seine Zeichen zeigend. (Aratos, phain. 768–770)26
Im großen Schöpferhymnus Ben Siras (Sir 42,15–43,33), der wie die erste Gottesrede rein kosmologisch ausgerichtet ist und vom Menschen nur indirekt und als zum Gotteslob aufgeforderten Wesen spricht, findet Hiobs Bekenntnis in 42,2–3 sein literargeschichtlich nur wenig jüngeres Pendant: 20 Ihm mangelt es an keiner Einsicht und ihm entgeht kein Wort. 21 Er hat die Kraft seiner Weisheit bestimmt derselbe ist er seit Ewigkeit. Nichts hinzugefügt und nichts weggenommen! Er bedarf keinerlei Ratgeber. (Sir 42,20–21 [HB/M]27, vgl. Pap. Insinger 33,5 [TUAT III, 317])
42,4–6 Die Interpretation der letzten drei Bikola im gesamten Hiobbuch ist aufgrund der Doppeldeutigkeit einzelner Wörter und der syntaktischen Strukturen höchst umstritten. Die textliche Schwierigkeit schlägt sich bereits in den alten ÜberVgl. Hi 26,14; Ps 73,22; 131,1; 139,6; Sir 3,21–22; Pred 7,24; 1QS XI,15–22. Zur Verdeutlichung des Zitatcharakters von V. 3aα ergänzt Clines „fragst du (Gott)“. 25 Vgl. die auf S. 216 in Anm. 39 genannten Texte und von diesen insbesondere Hi 5,9; 9,10; 26,14; Sir 43,27–33; 1QHa XVII,16–17; 1QS XI,19–20; BT 256–257.264 (TUAT III, 155f); Lud. II,36–38 (TUAT III, 122f); Ištar-2 39 (TUAT.NF VII, 88); Lehre d. Amenemope 22,5–6 (TUAT. NF VIII, 343); Pap. Insinger 31,1 (TUAT III, 314). 26 Übersetzung von M. Erren, Aratos, 47. 27 Übersetzung von O. Kaiser, Die Rezeption der stoischen Providenz bei Ben Sira, in: Ders., Zwischen Athen und Jerusalem, 300. 23 24
42,1–6 Die Schlussworte Hiobs
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setzungen nieder.28 Der literargeschichtlich jüngste Teil bietet ein eigentümliches Mischzitat aus Hiobreden (so in V. 4a, vgl. 13,22; 21,2–3) und, wie in V. 3aα, aus den Gottesreden (so in V. 4b, vgl. 38,3b; 40,7b).29 Er kontrastiert den Wunsch Hiobs, Gott möge auf ihn hören, damit er, Hiob, reden könne (9,16; 31,35), mit der Aufforderung Gottes an Hiob, dieser möge ihn belehren. Beides hat sich nun unter umgekehrten Vorzeichen erfüllt: Hiob musste Gott zuhören und wurde nun durch Gott selbst belehrt (vgl. Spr 21,11; 30,3LXX). Entsprechend kann auch Pseudo-Salomo bekennen, allein durch Gott selbst, durch seine Weisheit und durch seinen heiligen Geist den göttlichen Ratschluss erkannt zu haben (SapSal 9,13–18, vgl. auch SapSal 7,15–22a). Die Eindringlichkeit des durch die Gottesreden erfolgten Hörerlebnisses wird durch den dreifachen Gebrauch der Wurzel šāmaʿ („hören“) unterstrichen. Dabei ist Hiobs Bekenntnis (V. 5), nicht antithetisch zu verstehen, in dem Sinn, dass Hiob Gott bisher nur vom Hörensagen kannte,30 sei es aus der kultisch-liturgischen Tradition, sei es aus der weisheitlich-katechetischen Lehre, jetzt aber gesehen habe, sondern parallel bzw. steigernd: Hiob hat Gott aus dem Sturm reden gehört (vgl. 37,2–5) und hat in und durch diese Reden Gott sogar gesehen (vgl. 1QS XI,3.6).31 Ohr und Auge stehen für Hiobs ganzheitliche Wahrnehmung Gottes (vgl. Hi 13,1; 29,11; Spr 20,12; Sir 16,5).32 Die Betonung liegt auf dem eigenen Hören und Sehen (vgl. Hi 34,32; Sir 43,31–32; Lk 2,30), auf der Erfahrung einer umfassenden Offenbarung, die letztlich Heil und Rettung bringt (vgl. Lk 2,30). Hiob hat durch sein Schicksal und durch die Gottesreden tatsächlich Gott neu und tiefgründiger gesehen, als ihm die eigene Erfahrung und die Tradition, auch die Torah (vgl. Dtn 30,11–12), vorgegeben haben. Hiob hat Gott gesehen – und das ist mehr als die Welt. So erscheint Hiob hier als Exponent eines Diskurses über Wahrnehmungen Gottes, über das Verhältnis von Tradition und Empirie, von Theologie und Theophanie. Charakteristisch sind die Folgen der von Hiob erlebten Gottesschau (V. 6). Leitet man das Wort ʾæmʾas von der Wurzel māʾas I ab, dann verachtet und verwirft Hiob angesichts der besonderen Zuwendung Gottes, die er in und durch die Gottesreden erlebt hat, seine Bestreitung des göttlichen Weltplans33 – nicht
Siehe die Anm. zur Übersetzung. Darüber hinaus klingen Wendungen aus den Elihureden an (vgl. Hi 33,1.31; 34,32–33). In V. 4a bietet die LXX zusätzlich die Anrede κύριε („Herr“) und passt so weiter an den Kontext an. 30 So wird das Wort šemaʿ tendenziell in Hi 28,22 gebraucht (vgl. Homer, Il. 2, 486), und so wird Hi 42,5 auch zumeist ausgelegt (vgl. bereits die LXX, die, über den MT hinausgehend, das frühere Hören vom jetzigen Sehen absetzt und adversativ konstruiert: μὲν ... δέ; vgl. Vg autem). 31 Demgegenüber stellt der unbekannte Dichter von SibOr 3,17–19 die Frage: „Wer von den Sterblichen kann diesen Gott mit den Augen erblicken / oder wer sollte auch nur den Namen des himmlischen, großen / Gottes vernehmen im Ohr, der allein beherrschet das Weltall?“ (Übersetzung von J.-D. Gauger, Sibyllinische Weissagungen, 67). 32 Vgl. auch Sophokles, Phil. 1412, sowie zu einer ähnlichen Deutung Clines. 33 Habel und Magdalene, Scales, 258, schränken den Widerruf auf den von Hiob gegen Gott vorgebrachten Rechtsfall ein. 28 29
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
sein Leben oder sich selbst (so aber in 9,21).34 Legt man hingegen die Wurzel māʾas II/māsas zugrunde,35 dann drückt Hiob die Erwartung aus, angesichts seiner Schau Gottes zu vergehen. In diesem Sinn hat offenbar 11QTgHi den Text verstanden: Wer Gott sieht, müsse sterben (vgl. Ex 33,20; Ri 6,22–23).36 Ebenso ambivalent ist die Verwendung von niḥam im Nifal.37 Nichtreflexiv verstanden, bereut Hiob seine bisherigen Worte. Ein solches Bekenntnis liegt auf der Linie der (nun) ersten Antwort Hiobs auf die Gottesrede in 40,3–5.38 Reflexiv verstanden, würde Hiob erklären, getröstet zu sein.39 Dementsprechend hätte Hiob jetzt von Gott das erfahren, was er seitens der Freunde vermisste.40 Schließlich lässt sich ʿal lokal, konzessiv oder kausal verstehen: Je nach Interpretation von māʾas und niḥam spiegelt V. 6b dann entweder einen auf Staub und Asche bereuenden Hiob (vgl. Vg und 2,8), einen über bzw. angesichts von Staub und Asche getrösteten Hiob (vgl. Tg; V. 11; 2Sam 13,39), einen trotz Staub und Asche getrösteten Hiob (vgl. ʿal Hi 10,7)41 oder aber einen wegen Staubs und Asche bereuenden Hiob (vgl. ʿal in Hi 16,17)42. Ein solches kausales Verständnis dürfte der Auflösung von V. 6b in LXX und in 11QTgHi zugrundeliegen, wobei LXX und 11QTgHi eindeutig keine Reue Hiobs belegen.43 Mit den genannten Deutungsmöglichkeiten, die sich noch weiter ausdifferenzieren ließen, sind ganz unterschiedliche Gesamtinterpretationen des Hiobbuches verbunden. Exemplarisch zeigt sich dies bei Edward L. Greenstein, der niḥamtî ʿal ʿāpār wāʾepær mit „I take pity on ,dust and ashes‘“ übersetzt und dementsprechend Hiob seine Geringschätzung eines Gottes, der sich nicht richtig um die Welt kümmere, und sein eigenes Mitleid mit der Menschheit, das er, Hiob, 34 Vgl. dagegen Willi-Plein, Sprache, 144f, die vor dem Hintergrund, dass mʾs I ein Oppositionsbegriff zu bḥr sei, als Grundbedeutung „kein Interesse (mehr) haben“ konstatiert und daher Hi 42,6 (im Gegenüber zu Hi 7,16) als „mir liegt nicht mehr daran [am Leben]“ paraphrasiert; siehe dazu auch LXX; Vg; Sym; Tg und die Anm. zur Übersetzung. 35 Siehe dazu ausführlich in jüngster Zeit Eckstein, Semantik, 178–184; 216f; 225. 36 Zu den textlichen Differenzen von 11QTgHi siehe die Anm. zur Übersetzung von Hi 42,6. Auch einzelne Hss des Tg könnten in dieser Richtung gedeutet werden, insofern sie in V. 5b wʿth („und jetzt/sogar“) auslassen und betonen, dass Hiobs Auge Gott nicht gesehen habe; vgl. dazu Shepherd, Targum, 113f; Mangan, Targum, 90f. Wenn die Hss des Tg, die eine Negation haben, vorzeitig in dem Sinn verstanden werden, dass Hiobs Auge bisher Gott nicht gesehen hatte, dann entspricht dies dem MT (so T. Krüger, Job, 222). 37 Siehe dazu auch Willi-Plein, Sprache, 139, die die Wurzel nḥm als Ausdruck für einen Stimmungsumschwung versteht und das Nifal von nḥm so deutet, „dass am Subjekt ein Prozess des Umdenkens über/in bezug auf ( )עלeine Sache von aussen (sic!) her ausgelöst wird.“ Ob dann eher ein (Be)reuen oder Getröstetsein gemeint sei, ergebe sich kontextuell (vgl. auch dies., Sprache, 151; Mensch, 557f). 38 Vgl. Gen 6,6–7; Ex 13,17; 32,12.14; Jer 8,6; 18,8; Jo 2,13. 39 Vgl. Aq und Tg, wobei Tg erläuternd als Gegenstand, über (ʿal) den Hiob getröstet ist, die Kinder nennt, die nach ihrem in 1,19 mitgeteilten Tod Staub und Asche sind. Zu diesem Gebrauch von niḥam vgl. auch Jer 31,15; Ez 14,22; 32,31; 1QHa XIV,7(10) sowie zu einer entsprechenden Deutung exemplarisch T. Krüger, Job, 223–226, und Clines. 40 Vgl. Hi 2,11; 7,13; 16,2; 21,34. 41 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 42 Siehe die Anm. zur Übersetzung. 43 Siehe die Anm. zur Übersetzung.
42,1–6 Die Schlussworte Hiobs
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empfinde, ausdrücken lässt.44 Aus rezeptionsästhetischer Perspektive könnte die skizzierte Mehrdeutigkeit als ein Teil der Textstrategie des Autors interpretiert werden, der auf diese Weise eine mehrdimensionale Wahrnehmung herausfordert und die Lesenden zu besonderer Mitarbeit bei der Auslegung anregt.45 Ein ähnliches Spiel mit der Wurzel nḥm findet sich bereits in 1QHa XVII,13:46 Und in meinen Nöten hast du mich getröstet (nḥmtnj), und über deine Vergebungen freue ich mich, und ich bereue (ʾnḥmh) mein früheres Vergehen.
Unter Berücksichtigung der in diesem Kommentar entfalteten redaktions- und theologiegeschichtlichen Entwicklungen des Hiobbuches legt sich eine Interpretation auf der Basis von māʾas I („verachten/verwerfen“, vgl. Ps 89,39), von niḥam als nicht-reflexives Nifal („Reue empfinden/bereuen“, vgl. Jer 31,19) und von ʿal im kausalen Sinn („wegen/weil“, vgl. Hi 16,17) nahe. Die beiden Schlüsselwörter māʾas I und niḥam sind in diesem Fall als ein Ausdruck der Reue gebraucht.47 Hiobs Bekenntnis zu seiner geschöpflichen Niedrigkeit dient hier aber nicht als Aufruf an die Barmherzigkeit Gottes, wie in der ursprünglichen Dichtung (10,8–12, vgl. auch 30,19), sondern ist Ausdruck seines Wissens, als Mensch (ʿāpār wāʾepær) ein Sünder zu sein, dem gleichwohl eine besondere Gottesoffenbarung zuteil geworden ist. In 42,6 findet sich dann auch weniger ein Bild eines auf Staub und Asche büßenden Hiob. Denn in den Beschreibungen eines Bußritus erscheint der Begriff „Staub“ (ʾepær) stets alleine,48 während das Begriffspaar „Staub und Asche“ (ʿāpār wāʾepær) seinen Ort in Bekenntnissen zur eigenen Geschöpflichkeit hat (vgl. Gen 18,27; 1QHa XVIII,5[7]; Sir 10,9).49 Die Besonderheit von Hi 42,5–6 besteht gerade darin, Begriffe und Motive aus den Bereichen „Sünde“, „Geschöpflichkeit“ und „Gottesschau“ miteinander zu verbinden und so Aussagen zur Kreatürlichkeit hamartiologisch und offenbarungstheologisch zuzuspitzen (vgl. 1QHa XVIII,11[3]–12[14]; XX,24[27]– 35[38]).50 Die von Gott geforderte Unterweisung (V. 4b), die Hiob Gott geben Greenstein, XX–XXI; 185. Vgl. Köhlmoos, Auge, 343; Newsom, Contest, 29; 235, sowie zu einer entsprechenden Übersetzung von niḥamtî als „ich bin (tröstlich) umgestimmt“ Willi-Plein, Sprache, 144f (s.o. Anm. 34 und 37) und „(ich) bereue getröstet“ Gerhards, Gott, 161. 46 S.o. zu Hi 15,14–16. 47 Vgl. Num 11,20; 1Sam 8,7; 10,19; 15,23.26; 2Kön 17,15; Jes 5,24; Ez 20,24; Am 2,4; Jer 8,6. Daneben findet sich niḥam im Kontext eines Bußgeschehens zumeist mit Gott als Subjekt, den etwas reut, wenn er die Buße des Menschen sieht, vgl. Jer 26,3.13.19; (31,9); Jes 57,6; Jo 2,13; Am 7,3; Jon 3,10; 4,2. 48 Vgl. Jes 58,5; Jer 6,26; Jon 3,6; Est 4,1.3; Dan 9,3; etwas anders liegt der Fall in Ez 27,30. 49 Vgl. zudem 1QHa XXVIbottom,10 (XXVI,35/4Q427 frgm. 7 II,16); 4Q267 frgm. 1,5; 4Q511 frgm. 126,2. In diesem Sinn versteht auch Greenstein, XX; 185, den Ausdruck ʿāpār wāʾepær zutreffend als Ausdruck für den Menschen in seiner Niedrigkeit, wenngleich er Hi 42,6 ingesamt, anders als hier vorgeschlagen, als eine ironische Nachahmung Gottes und als bleibenden Widerspruch Hiobs gegen Gott interpretiert („That is why I am fed up; / I take pity on ‚dust and ashes!‘“). 50 Zu einer synthetischen, die Aspekte von Geschöpflichkeit und Buße einschließenden Interpretation vgl. auch König; Hartley; Dailey, And Yet He Repents, 205–209; Wolters, „Child“, 116– 119 (dieser allerdings mit der nicht überzeugenden Änderung von ʿal in ʿul „Kind“, vgl. Hi 24,9). 44 45
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Hi 38,1–42,6 Die Gottesreden
soll, besteht infolge der Hiob zuteil gewordenen Audition und Vision (V. 5) erstens aus der Verwerfung seiner bisherigen Ausführungen, zweitens aus seiner Reue und drittens aus dem Bekenntnis zur eigenen Geschöpflichkeit (V. 6). Die von Hiob erlebte Offenbarung trägt in dieser Hinsicht einen besonderen Charakter, den sie mit der zu Beginn des Dialogs von Eliphas beschriebenen Offenbarung gemeinsam hat (vgl. 4,12–21): In beiden Fällen fordert die Schau Gottes eine Unterwerfung des Menschen. Dieser Aspekt wird in der Fassung von V. 6 gemäß 11QTgHi und LXX besonders betont. Die Andeutung Hiobs, Gott mit dem eigenen Auge wahrgenommen zu haben (V. 5), nimmt das Offenbarungserlebnis des Eliphas auf. Sie setzt sich (auf der Ebene der ,Endgestalt‘ des Buches) auch mit den Beschreibungen einer Offenbarung durch Elihu auseinander (33,15–18; 34,32; 37,14.24) und reagiert auf Hiobs eigene Erwartung, am Ende Gott als seinen ihn ins Recht setzenden Erlöser (goʾel) zu sehen (19,26–27, vgl. 16,20–21). Bevor dieser Akt der Rechtfertigung geschieht (42,7–10), den Elihu auf die Fürsprache eines Engels zurückführt (33,23–30), erblickt Hiob Gott als absolute Macht, vor der er sein bisheriges Unwissens eingesteht, zum Widerruf bewegt wird und seine Niedrigkeit annimmt. Von diesem Gott ist der Mensch in jeder Hinsicht unterschieden, aber nicht geschieden. Dabei steht es in der Freiheit Gottes, sich dem Menschen zuzuwenden, wo und wann und wie er will (vgl. Jer 23,23–24). Hiob, der mit Gott und sich selbst um sein Gottesbild ringt, findet zu einer vertieften Gottesgemeinschaft und bleibt am Leben – gerade weil ihm dieses zerbricht und er sich und sein Gottesbild aufgibt: Hiob sieht Gott, tiefer als jemals zuvor – und lebt, reicher als jemals zuvor. Rückblick Blickt man vom Bekenntnis Hiobs nochmals auf eine mögliche Gesamtdeutung der Gottesreden im Kontext der ‚Endgestalt‘ des Buches zurück, dann bieten diese eine Bestimmung des Wesens und Handelns Gottes, das Raum und Zeit umfasst. Im Verbund mit den Antworten Hiobs in 40,3–5 und 42,1–6 illustrieren sie, auf welche Weise der Mensch, auch wenn er aufgrund seines Menschseins radikal von Gott unterschieden ist, zur Erkenntnis Gottes, der Welt und seiner selbst kommt. Sie leiten zur Einfügung des Menschen in die von Gott geheimnisvoll gestaltete und gelenkte Welt an und umreißen eine Beziehung von Gott und Mensch, die Erfahrungen des Leidens, des Chaos und der Fragmentarität integriert und transzendiert. Mit Hiob soll der Leser, auch wenn er selbst nicht das Schicksal Hiobs durchlebt und nicht so wie dieser an der Fremdheit und Freiheit Gottes leidet, lernen, dass die Welt in den Händen eines Gottes ruht, dessen Friede höher ist als alle Vernunft (Phil 4,7). Zusammen mit den ersten Worten Hiobs in 1,21 bildet die kleine Schlussrede Hiobs jetzt einen (inneren) Rahmen des gesamten Buches. Dieser bestimmt das Gotteslob und die Anerkennung der eigenen Geschöpflichkeit und der eigenen Grenzen als die grundlegenden Formen der Kommunikation von Gott und Mensch.
VII. Hi 42,7–17 Der Epilog 42,7 Nun geschah es, nachdem Jhwh diese Worte zu Hiob geredet hatte, BR dass Jhwh zu Eliphas dem Temaniter sagte: Mein Zorn ist entbrannt über dich und über deine zwei Freunde, denn ihr habt in Bezug auf mich nicht recht1 geredet wie2 mein Diener Hiob. 8 Nehmt euch also jetzt sieben junge Stiere und sieben Widder und geht zu meinem Diener Hiob, und dann sollt ihr ein Brandopfer für euch darbringen; und Hiob, mein Diener, soll für euch Fürbitte halten. Denn nur 3 sein Angesicht werde ich erheben, so dass ich an euch keine Vernichtung4 übe, denn ihr habt in Bezug auf mich nicht recht5 geredet wie6 mein Diener Hiob. 9 Und Eliphas der Temaniter und Bildad der Schuachiter und7 Zophar der Naamatiter gingen hin und taten, wie Jhwh8 zu ihnen geredet hatte; und Jhwh erhob das Angesicht Hiobs.9 10 Jhwh10 aber wendete das Geschick11 Hiobs, als er für seine(n) Freund(e)12 Fürbitte hielt,13 und Jhwh verdoppelte alles, was Hiob14 gehörte.
1 e n kônāh dürfte hier adverbial gebraucht sein (vgl. Sir 5,11 [HC]; 4Q525 frgm. 14 II,25). Zur Diskussion der Wiedergabe in den antiken Übersetzungen siehe die Auslegung. 2 Viele Hss lesen b eʿabdî „über/gegen meinen Diener“. 3 ʾim unterstreicht die Begründung und braucht nicht in ʾæt geändert zu werden (so aber BHK; BHS). 4 Zu dieser Übersetzung von nebālāh siehe die Auslegung. 5 e n kônāh, wie in V. 7. Strauß löst diese enge Beziehung durch unterschiedliche Wiedergaben (einmal „Zuverlässiges“, dann „Zutreffendes“) auf. 6 Viele Hss lesen b eʿabdî „über/gegen meinen Diener“ (vgl. LXX). 7 Die Kopula ist mit vielen Hss zu ergänzen (vgl. LXX; Syr; Vg; Tg). 8 11QTgHi: „Gott“ (ʾlhʾ). 9 Zu den Unterschieden in 11QTgHi und in der LXX in V. 9b(–11) gegenüber dem MT, siehe die Auslegung. 10 11QTgHi: „Gott“ (ʾlhʾ ). 11 e š bît (so nach dem Ketib) und š ebût (so nach dem Qere) sind wohl Varianten (Ges18; KAHAL). Zu den Abweichungen in der LXX und 11QTgHi siehe die Auslegung. 12 Der MT bietet den Sg., doch ist der Pl. (reʿâw) zu lesen (vgl. LXX; Syr; Vg; Tg). 13 Der Nebensatz hat in 11QTgHi kein Äquivalent. 14 11QTgHi: „ihm“.
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Hi 42,7–17 Der Epilog
HN 11 Und alle seine Brüder und alle seine Schwestern15 und alle seine früheren16 Bekannten kamen zu ihm17 und aßen mit ihm Brot18 in seinem Haus19 und bezeugten ihm (ihre) Anteilnahme und trösteten ihn20, BR wegen all des Bösen, das Jhwh über ihn gebracht hatte; HN und sie gaben ihm jeder eine Kesita und jeder einen goldenen Ring. 12 Jhwh aber segnete die Zukunft21 Hiobs mehr als seine Vergangenheit. Und er hatte vierzehntausend Schafe und Ziegen und sechstausend Kamele und tausend Gespann Ochsen und tausend Eselinnen. 13 Und er hatte sieben22 Söhne und drei Töchter. 14 Der ersten gab er den Namen Jemimah und der zweiten den Namen Keziah und der dritten den Namen Keren-Happuch. 15 Und es wurden23 keine so schönen Frauen auf der ganzen Erde gefunden wie die Töchter Hiobs, und ihr24 Vater gab ihnen25 Erbland mitten unter ihren26 Brüdern. 16 Und Hiob lebte nach diesen Ereignissen 140 Jahre; und er sah27 seine Söhne und die Söhne seiner Söhne, vier Generationen lang. 17 Dann starb Hiob: alt und satt an Tagen. Literatur Cimosa, M.: L’intercessione di Giobbe in LXX Gb 42,7–10, Salesianum 49 (1986) 513–538. – Cox, C.: A Surprise at the End of the Road: Intertextual Connections between the Epilogue and the Prologue Introduced by the Translator, in: R.X. Gauthier u.a. (Hg.), Septuagint, Sages, and Scripture (FS J. Cook), VT.S 172, Leiden 2016, 180–189. – Janowski, B.: Sündenvergebung „um Hiobs willen“. Fürbitte und Vergebung in 11QtgJob 38,2f. und Hi 42,9f.LXX, ZNW 73 (1982) 251–280. – Ebach, J.: Hiobs Töchter. Zur Lektüre von Hiob 42,13–15, in: Ders., Hiobs Post. Gesammelte Aufsätze zum Hiobbuch, Neukirchen-Vluyn 1995, 67–72. – Kottsieper, I.: „Thema verfehlt!“ Zur Kritik Gottes an den drei Freunden in Hi 42,7–9, in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (FS O. Kaiser), BZAW 345/II, Berlin/New York 2004, 775–785. – Krüger, T.: Job Spoke the Truth about God (Job 42:7–8), in: S.C. Jones/C. Roy Yoder, „When the Morning Stars Sang“ (FS C.L. Seow), BZAW 500, Berlin/Boston 2018, 71–80. – Lux, R.: Der leidende Gerechte als Opfer 15 11QTgHi: „seine Freunde“ (rḥmwhj); dies könnte auf ein ʾhbjw zurückgehen (Sokoloff, Targum, 169). 16 Das Wort lpnjm hat in 11QTgHi kein Pendant und könnte aus stilistischen Gründen ausgelassen sein. 17 11QTgHi: „Hiob“. 18 HsK96 und die LXX bieten zusätzlich „und sie tranken“ (vgl. 1,4b), was aber sekundär sein dürfte. 19 e b bêtô fehlt in zwei Hss. 20 In 11QTgHi ist der Doppelausdruck des Tröstens stilistisch bedingt (?) komprimiert zu nḥmwhj „sie trösteten ihn“; zur Differenz in der LXX siehe die Auslegung. 21 In 11QTgHi erscheint Hiob als direktes Objekt des Segens und die Zukunft als Zeitangabe: „Und Gott segnete Hiob am Ende (bʾḥ[rj])“. 22 Die Schreibweise šibʿānāh ist entweder eine archaische Form oder ein Fehler für šibʿāh (vgl. einige Hss sowie G/K § 97c). 23 Sg.; zwei Hss lesen den Pl. (nimṣ eʾû; vgl. LXX; Syr; Vg). 24 Einige Hss bieten das genuskongruente Possessivsuffix -hæn (vgl. Hi 1,14; 39,3 und dazu G/K § 135o). 25 Vgl. Anm. 24. 26 Vgl. Anm. 24. 27 wajjirʾæ ist eine Mischform aus Langimperfekt (wajjirʾæh, so das Qere) und Kurzimperfekt (wajjarʾ, so das Ketib), vgl. G/K § 75t.
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und Opferherr in der Hiobnovelle (2004), in: Ders., Ein Baum des Lebens. Studien zur Weisheit und Theologie im Alten Testament, ORA 23, Tübingen 2017, 20–30. – Nam, D.W.: Talking about God: Job 42:7–9 and the Nature of God in the Book of Job, Studies in Biblical Literature 49, New York 2003. – Ngwa, K.N.: The Hermeneutics of the “Happy” Ending in Job 42,7–17, BZAW 354, Berlin/New York 2005. – Oeming, M.: Das Ziel, in: Ders./K. Schmid: Hiobs Weg. Stationen von Menschen im Leid, BThS 45, Neukirchen-Vluyn 2001, 121–142. – Wagner, S.: Theologischer Versuch über Ijob 42,7–9(10a), in: J. Hausmann u.a. (Hg.), Alttestamentlicher Glaube und Biblische Theologie (FS H.D. Preuss), Stuttgart 1992, 216–224. – Willi-Plein, I.: Hiobs immer aktuelle Frage, in: Dies., Sprache als Schlüssel zum Alten Testament. Gesammelte Aufsätze zum Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 2002, 146–158. – Dies.: Hiobs Widerruf? – Eine Untersuchung der Wurzel נחםund ihrer erzähltechnischen Funktion im Hiobbuch, in: Dies., Sprache, 130–145. – Dies.: ŠWB ŠBWT – eine Wiedererwägung (1991), in: Dies., Sprache, 189–208.
Drei Szenen, die sich spiegelbildlich zu einzelnen Szenen des Prologs verhalten, beschließen das Buch. Die erste Szene schildert die Reaktion Jhwhs auf die Reden der drei Freunde Eliphas, Bildad und Zophar (42,7–10). Sie korrespondiert mit dem Bericht über ihre Ankunft bei dem ins Unglück gestürzten Hiob (2,11– 13). Die zweite Szene erzählt vom Trauer- und Trostbesuch der Familie Hiobs (42,11). Sie korrespondiert mit den Berichten über die Feste der Kinder Hiobs (1,4–5.13). Die dritte Szene beschreibt summarisch das gesegnete Ende Hiobs (42,12–17). Sie bildet das Pendant zur Vorstellung Hiobs zu Beginn des Buches (1,1–3). Am Ende des Buches steht wie zu seinem Anfang sein Held: Hiob. Charakteristisch ist, welche Szenen des Prologs, aber auch der Dichtung im Epilog kein narratives Gegenstück haben. So ‚fehlen‘ erstens ein Wort über den Satan (1,6–12; 2,1–7), zweitens eine Erwähnung der Frau Hiobs (2,9– 10) und drittens eine Reaktion auf die Reden Elihus (Kap. 32–37). An dieser dreifachen Lücke wird deutlich, dass die genannten Figuren innerhalb des Buches letztlich eine bestimmte und zugleich beschränkte Funktion im Blick auf die im Buch verhandelten Fragen erfüllen. In der späteren Rezeption werden diese Leerstellen teilweise gefüllt.28 Ebenso ist der Überschuss des Epilogs gegenüber dem Prolog zu deuten: Die namentliche Nennung der drei neuen Töchter nach der Restitution Hiobs, die der anonymen Kinderschar Hiobs vor dem Einbruch des Unglücks gegenübersteht, die Betonung ihrer Schönheit und die Beteiligung der Töchter am Landerbe dienen der Herausstellung von Hiobs besonderer Segnung nach seinem Leiden.
Aufbau und Sprachformen
In 11QTgHi sind Äquivalente zu 42,9–11(12?) erhalten. Diese weisen teilweise Text- und markante inhaltliche Unterschiede gegenüber dem MT bei gleichzeitiger Nähe Literarzum OG auf. Daher liegt die Annahme nahe, dass 11QTgHi (und der OG) hier geschichte eine hebr. Vorlage hatten, die sich von der des MT unterschied.29 In LXXZi sind die Versteile bzw. Verse 42,8bα1.16b.17 asterisiert. Sie stammen im ‚kirchlichen 28 Vgl. TestHiob 40 (Tod der Sitidos, der [ersten] Frau Hiobs); 41–42 (Zorn Gottes über Elihu); und Koran, Sure 38,43(44) (Bestrafung der Frau Hiobs). 29 Sokoloff, Targum, 168, bietet mittels einer Rückübersetzung von 11QTgHi Kol. XXXVIII, 2–5 eine Rekonstruktion dieser hebr. Vorlage. Denkbar wäre auch eine gemeinsame Übersetzungstradition von 11QTgHi und LXX; zur Diskussion siehe Shepherd, Targum, 69–71.
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Text‘ der LXX aus Th. Dabei dürfte 42,8bα1 in einer verkürzten Form im OG enthalten sein, so dass jetzt eine Doppelübersetzung vorliegt. Im Anschluss an den masoret. V. 17 enthält die LXX einen eigentümlichen Zusatz (s.u.). Literargeschichtlich ist der Epilog mindestens zweischichtig. Aus der neueren Forschung seien, wie schon im Blick auf den Prolog, die Arbeiten von Wolf-Dieter Syring, Roger Marcel Wanke und Jacques Vermeylen genannt:30 Syring (2004): Grundschicht: Hi 42,11aα.b.12b–13?; Erweiterungsschicht: 42,10aα.11aβ.γ.12a.14–17; „eine eventuell davon abzusetzende Redaktionsschicht“: 42,7–9.10aβ. Wanke (2013): Grundschicht: Hi 42,11aα.b.12b–17; redaktionell: 42,7–10.11aβ.γ.12a. Vermeylen (2015): Grundschicht: Hi 42,10aα.11–13.16b–17; Zusätze seitens einer zweiten, Hiob idealisierten und die Freunde verurteilenden Redaktion: 42,7–9.10aβ.b.
Die ältere Schicht dürfte in 42,11aα.b.12–13.(14–15).16–17 vorliegen und ursprünglich ein Bestandteil der selbstständigen Novelle gewesen sein (1,1– 5*.13–21). Hi 42,11 lässt sich nahtlos an 1,21 anschließen. D.h. in einer dem heutigen Buch vorausgehenden Erzählung kamen die Verwandten Hiobs unmittelbar nach den Schlägen zu einem Trauer- und Trostbesuch. Auf dieser literarischen Vorstufe des Buches wurde der Leidende, der sich im Leid bewährt und Gott gepriesen hatte (1,21: m eborāk), direkt im Anschluss an seinen Trauer- und Segensritus erneut von Jhwh gesegnet (42,12: berak). Den inhaltlichen und theologischen Höhepunkt dieser Erzählung bildete das poetisch gestaltete Bekenntnis Hiobs zu Jhwh mit der dreimaligen Nennung des Gottesnamens und der Verwendung der Wurzel brk „segnen“ in betonter Schlussstellung (1,21). Einer jüngeren Schicht gehört die Abrechnung Jhwhs mit den Freunden an (42,7–9.10).31 Insofern diese Schicht auf die Einführung der Freunde in 2,11–13 und die damit verbundene Dialogdichtung zurückschaut sowie Hiob viermal (!) als Knecht/Diener (ʿæbæd) Jhwhs bezeichnet (42,7–8; vgl. 1,8; 2,3), dürfte sie der Hand angehören, welche die Novelle mit dem Grundbestand der bereits um die Passagen der Niedrigkeitsredaktion erweiterten Dichtung verbunden hat, also der Buchredaktion. Auf diese Schicht geht dementsprechend auch die Erweiterung in V. 11aβ.γ zurück (vgl. 2,11). Wie im Prolog kennzeichnet die Buchredaktion eine Aufnahme und kritische Weiterführung zentraler Motive dtn.-dtr. Tradition. Sie leistet ihren Beitrag zum kritischen Torahdiskurs im Hiobbuch und gibt in Analogie zur hermeneutischen Funktion der „Himmelsszenen“ eine bewusste theologische Deutung. Zur Buchredaktion oder einer noch jüngeren Schicht könnte auch die Notiz über die Benennung und Schönheit der Töchter Hiobs in V. 14–15 gehören, die in gewisser Weise ein Gegenüber zur Szene von Hiob und seiner Frau in 30 Syring, Hiob, 104–127; 168; Wanke, Praesentia Dei, 120–149; 430; Vermeylen, Métamorphoses, 183–189; vgl. dazu auch die Auslegung von Hi 1–2. 31 V. 10, der aufgrund des invertierten Verbalsatzes hervorsticht, könnte auch auf eine spätere Fortschreibung zurückgehen, die V. 7–9 (und V. 11–17) voraussetzt (Leuenberger, Segen, 435).
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2,9–10 darstellt und die in ihrer midraschähnlichen Ausmalung von V. 13 die Abfolge der auf Hiob fokussierten V. 13+16–17 unterbricht.32 Dass der Verfasser von Hi 32–37 und die ihm nachfolgenden Redaktionen, die Majestäts- und die Gerechtigkeitsredaktion, Elihu nicht mehr im Epilog erwähnen, deutet auch darauf hin, dass sie seine Theologie teilen und indirekt durch Gott bestätigt sehen. Gottes Zorn über Hiobs Freunde
42,7–10
Auffälligerweise setzt die erste Szene mit einem Rückblick auf die Reden Jhwhs 42,7 an Hiob, nicht aber mit einem direkten Rekurs auf den Lobpreis und die Unterwerfung Hiobs ein (V. 7a). Dieser Einsatz ist allerdings kein Hinweis darauf, dass die Antwort Hiobs in 42,1–6 literargeschichtlich jünger als die Eröffnung des Epilogs ist. Der Verfasser von 42,7 dürfte das Bekenntnis Hiobs als einen Bestandteil der Theophanie betrachtet haben. Entsprechend seiner Rolle in der Hiobdichtung als Wortführer der Freunde wird allein Eliphas namentlich in der Anrede Jhwhs genannt, während von Bildad und Zophar anonym als den zwei Freunden des Eliphas gesprochen wird. Während sich Hiob im Verlauf des Dialogs als vom Zorn Gottes getroffen erlebte (14,13; 16,9; 19,11), sind es nun die Freunde, über die der Zorn Gottes entbrennt (V. 7bα, vgl. Ps 106,40). Wie auch sonst im AT steht die Metapher des entbrennenden Zorns Jhwhs für ein göttliches Gerichtshandeln, in dem sich die leidenschaftliche Anteilnahme am Handeln des Menschen und der unbedingte Wille Gottes zur Gerechtigkeit zeigen.33 In LXX ist das Motiv des Zornes durch die Formulierung ersetzt, dass Eliphas und seine Freunde gesündigt haben (ἥμαρτες σὺ καὶ οἱ δύο φίλοι σου). Dies entspricht der im alexandrinischen Judentum erkennbaren Tendenz, in Analogie zur paganen philosophischen Vorstellung von der Affektlosigkeit der Götter34 die Rede vom „Zorn Gottes“ zu vermindern oder ganz zu vermeiden.35 Heftig umstritten ist in der Forschung, wie die Begründung des Urteils Jhwhs zu verstehen ist (V. 7bβ). Dabei kreist die Diskussion vor allem um die Wörter nekônāh und ʾelaj. Wird nekônāh substantivisch im Sinn von Zuverlässiges, die Wahrheit oder das, was richtig ist, und grammatisch als Objekt aufgefasst,36 dann 32 Vgl. Fabry, „Satan“, 282 (Einschub unbekannter Herkunft); Kaiser, 98; 127, der auch noch V. 16–17 zur „Buchredaktion“ rechnet, sowie J. Gray, der Hi 42,12–17 insgesamt für eine midrasch artige Ausmalung hält, die ihre strukturelle Fortsetzung im Appendix der LXX (42,17a–e) finde. 11QTgHi kann für diese These gegen Gray aber nur bedingt in Anschlag gebracht werden, da dort zumindest noch ein Teil von V. 12 erhalten ist (vgl. DJD XXIII, 170f). 33 Vgl. Ex 22,24; 32,10–12; Num 11,1; 12,9; Num 32,13; Dtn 13,18; 31,17; Jes 5,25 u.ö. 34 Vgl. z.B. Cicero, off. 3, 102; nat. deor. 1, 42. 35 Vgl. Aristeas § 254; Philon, Deus 52; 71; Jes 57,17LXX. Die jüngeren griech. Übersetzungen (Th; Sym) von Hi entsprechen dagegen dem MT. 36 Vgl. die antiken Versionen (LXX: ἀληθές; La: verum „Wahres“; Vg: rectum „Richtiges“; Syr: kʾnwtʾ „Gerechtigkeit“; Th: εὐθύτητα „Gerechtes“ – TgHi ist ebenso ambivalent wie der MT und bietet zudem eine Reihe von Varianten) sowie mit unterschiedlichen Akzenten z.B. Hölscher; Foh-
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ergeht der Zorn Gottes über den Inhalt der Freundesreden, während er sachlich Hiobs Reden oder zumindest Teilen davon (z.B. 40,4–5; 42,2–6),37 zustimmt (vgl. Ps 5,10; Dtn 13,15). Eine inhaltsbezogene Übersetzung von nekônāh könnte auch Hiobs Beschreibungen Gottes als Dämon (Hi 9,22–24), Hiobs Berufung auf die eigene Gerechtigkeit (27,5–6; 31,1–40*) und die Leugnung von Gottes gerechter Weltordnung und seiner vergeltenden Gerechtigkeit implizieren (vgl. besonders Hi 3; 9; 16). Gott würde demzufolge Hiobs Darstellung einer gottlosen Welt sanktionieren und sich selbst von seiner Verantwortung für die Welt suspendieren: Gott und Welt seien dann eben so, wie sie Hiob z.B. in Kap. 21 und 24 beschrieben hat;38 Gott handele ambivalent (vgl. Hi 2,10; Jes 45,6–7; Am 3,6), er sei nicht fair, zumindest nicht immer.39 Gegen eine solche Deutung sprechen aber sowohl der Gedankengang der redaktionsgeschichtlich älteren ersten Gottesrede (38,1–39,30) als auch der Duktus der redaktionsgeschichtlich jüngeren zweiten und dritten Gottesrede (40,1–41,26). Insofern ließe sich ein inhaltsbezogenes Verständnis sinnvoll nur auf Gottes Zustimmung zu Hiobs Bestreitung des Prinzips vergeltender Gerechtigkeit bzw. eines direkten TunErgehen-Zusammenhangs beziehen: Demzufolge würde Gott zustimmen, dass es unschuldiges Leiden gibt.40 Demgegenüber könnte erwogen werden, ʾelaj hier nicht, wie zumeist, mit „über mich“ zu übersetzen, sondern im Sinn der Sprachrichtung des Redens zu Gott mit „zu mir“. D.h. Gott würde an den Freunden nicht tadeln, was sie über ihn gesagt haben, sondern dass sie über ihn, anstatt zu ihm gesprochen hätten.41 Tatsächlich besteht eine wesentliche Differenz zwischen den Reden Hiobs und den Reden der Freunde darin, dass diese über Gott reden, während Hiob in seinen Reden immer wieder zur DuAnrede Gottes, also zum Gebet übergeht. Wichtiger als die (richtige) Rede über Gott ist nach dieser Deutung die (richtige) Rede zu Gott. Für eine solche, sich an der Sprechrichtung orientierende Interpretation kann die starke Betonung der Fürbitte (pālal Hitp.), die Hiob für seine Freunde leisten soll (V. 8.10), damit Jhwh diese nicht bestraft, geltend gemacht werden. Allerdings raten die Freunde selbst mehrfach, Hiob möge sich im Gebet an Gott wenrer; Hartley; Strauß; Clines; T. Krüger, Truth, 71–80. Zur Wiedergabe von nākôn in der LXX mit ἀληθής/ἀληθές (vgl. Gen 41,32; Ps 5,10) siehe Loiseau, L’influence, 83, die eine Beeinflussung der griech. Übersetzer durch aram. Sprachgebrauch vermutet, da in den aram. Bibelübersetzungen als Äquivalent zur Wurzel kwn die Wurzel qšṭ erscheine, von der das aram. Wort qušṭāʾ/q ešôṭ („Wahrheit“) abgeleitet ist. 37 In diesem Sinn z.B. Fohrer. 38 So grundsätzlich Greenstein, 166; 184, wobei dieser allerdings nekônāh adverbial („in honesty“) versteht. 39 T. Krüger, Truth, 78–80, der bei einem solchen Verständnis eine Analogie zu den bab. Theodizeedichtungen Lud. und BT sieht (s.o. S. 35–37) und dafür die Beschreibung des ambivalenten Handelns Marduks in Lud. I,4–6 (TUAT III, 115) und die Feststellung, dass die Götter für die Ungerechtigkeit unter den Menschen verantwortlich seien, in BT 276–280 (TUAT III, 156f) anführt. 40 Vgl. Clines; T. Krüger, Job, 228f, mit Hinweis auf eine analoge Einsicht in Gen 4,4–5 und Pred 8,10–13. 41 Vgl. Willi-Plein, Sprache, 145; dies., Mensch, 563; S. Wagner, Versuch, 220; Oeming, Ziel, in: Ders./Schmid, Hiobs Weg, 135–139; Lux, Baum des Lebens, 30; Heckl, Hiob, 375; Gerhards, Gott, 210–213.
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den (vgl. 5,8; 8,5; 22,27). Außerdem bleibt bei einer auf die Sprechrichtung bezogenen Deutung unklar, weshalb ein solches Nichtreden überhaupt mittels des Wortes ʾelaj spezifiziert werden muss. Ingo Kottsieper punktiert daher ʾlj gegen den MT als ʾ ælê, einer in Hi 3,22; 5,26; 15,22 und 29,19 belegten Nebenform zu ʾæl, und versteht den Ausdruck im Sinn von „hinsichtlich dessen, was dasteht/hinsichtlich dessen, was Sache ist“ (vgl. 1Sam 23,23; 26,4); mit anderen Worten: die Freunde hätten das „Thema verfehlt“, indem sie verkannten, dass Hiob unschuldig leidet. Auch wenn diese Deutung inhaltlich zutreffend ist, so spricht doch die masoret. Punktation als Präp. mit dem Suffix der 1. P. Sg., die zumindest für V. 7 von der LXX sowie für V. 7 und V. 8 von Tg, Vg und Syr bestätigt wird, für die Übersetzung mit „über mich“. Zu erwägen ist daher, nekônāh nicht als Objekt, sondern als nähere Beschreibung des Modus dieses Redens und der inneren Einstellung Hiobs im Sinn von „recht/aufrichtig“ zu verstehen.42 In diesem Fall kann ʾelaj dann synthetisch sowohl als „über mich“ als auch als „zu mir“ verstanden werden.43 D.h. Hiob hat im Gegensatz zu seinen Freunden in doppelter Hinsicht „recht“ gesprochen: erstens, weil er die Komplexität der Welt und des Handelns Gottes besser erfasst hat, und zweitens, weil er authentisch zu Gott geredet hat: Gott herrscht nicht nur über das Chaos, auch wenn sich die Regeln dieser Herrschaft menschlichem Verstehen entziehen, sondern ist auch im Chaos präsent. Hiob ist dem innergöttlichen Disput zwischen Jhwh und dem Satan, wie er in dem von der Buchredaktion erweiterten Prolog dargestellt wird, deutlicher auf die Spur gekommen als die Freunde, er hatte mehr Recht als die Freunde, wenn auch nicht vollkommen.44 Denn auch der Gottesknecht bedarf der steten Erweiterung seiner Erkenntnis und Korrektur (vgl. Ps 119,75) – dies musste auch Mose erfahren (Num 20,12; Dtn 31,2), der im Hintergrund der Profilierung Hiobs durch die Buchredaktion steht und den Hiob in allen Schichten des Buches theologisch übertrifft.45 Die Freunde haben bei allen richtigen Aussagen über und zu Gott wider besseres Wissen geredet, weil sie die Situation Hiobs, seine Deutung des Leidens und seine Erfahrungen mit Gott nicht ernstgenommen haben. In diesem Sinn bestätigt dann die kurze (vierte) Rede Jhwhs, dass sich die Freunde, wie von Hiob mittels des Begriffs maʿal („Untreue“) zutreffend festgestellt (21,34), vor
42 Vgl. Sym (ὀρθῶς „recht/richtig“) und die Tg-Hs בzu Hi 42,8 (kjwwnʾ „zuverlässig/redlich“) sowie Nam, Talking about God, 22–24, der nekônāh im Sinn von „constructively“ versteht: Hiob habe theologisch weiterführend gesprochen und zeige im Gegensatz zu den Freunden eine schöpferische Entwicklung des Gottesverständnisses, das dann abschließend durch Gott selbst neu bestimmt werde. 43 Eine Änderung in ʿālaj (so J. Gray) ist daher nicht nötig. Zu einem synthetischen Verständnis von ʾelaj vgl. auch Ngwa, Hermeneutics, 11f, und Nam, Talking about God, 14f. 44 Vgl. T. Krüger, Job, 227: „[…] and in 42:7 God in turn obviously does not approve every thing Job has said about him.“ 45 Demgegenüber schreibt die im frühen 2. Jh. n.Chr. entstandene syrische Baruchapokalypse dem Mose von Gott geschenkte umfassende Einsichten in Raum und Zeit und in die Quellen der Weisheit zu (syrBar 59,4–11).
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Gott und den Menschen disqualifiziert haben (vgl. 13,4; 32,3; Spr 17,15aβ).46 Im Kontrast dazu ist Hiob vor Gott und den Menschen ins Recht gesetzt (vgl. 16,21). Insofern er auch in seinen schärfsten Anklagen gegen Gott an Gott festhält, ist auch die Frage des Satans, ob Hiob Gott grundlos fürchte (1,9), beantwortet: Hiob fürchtet Gott nicht ohne Grund – aber dieser Grund ist nicht, wie der Satan mutmaßt, die umfassende Segnung Hiobs (1,10), sondern Gott selbst. Der Grund der Gottesfurcht ist allein Gott – und sei er noch so fremd (vgl. Gen 22,1–2; Mk 14,36). 42,8–9 Zur Abwendung des göttlichen Zorns sind ein Brandopfer (ʿôlāh, vgl. Hi 1,5) von sieben Jungstieren und sieben Widdern, das die Freunde für sich selbst darbringen müssen (vgl. Lev 4–5; Num 29,12–34), und ein Fürbittgebet Hiobs nötig. Die Zahl Sieben kennzeichnet das Maß der notwendigen Sühne (vgl. 2Chr 29,21). Dies entspricht den sieben Tagen, welche die Freunde zunächst mit Hiob geschwiegen haben (Hi 2,13, vgl. Ez 45,23). Mit der Rolle Hiobs als Fürbitter (pālal Hitp.), die traditionsgeschichtlich wohl auf einen prophetischen Hintergrund verweist,47 erfüllt Hiob beispielhaft eine wesentliche Funktion eines Knechtes Gottes. Im Blick auf das gesamte AT steht Hiob hier erneut neben Mose (Num 11,2; 21,7; Dtn 9,20)48 sowie neben Abraham (Gen 20,7.17), Samuel (1Sam 12,19), Hiskia (2Chr 30,18) und Jeremia (Jer 37,3), von denen jeweils erzählt wird, dass sie durch stellvertretende Fürbitte den Zorn Jhwhs abgewendet haben (zum Motiv vgl. auch Ex 8,4–5; Am 7,1–8).49 In der Stilisierung Jesu als Fürbitter für seine Jünger und für alle, die an ihn glauben, erfährt dieses Motiv im NT eine relecture (Joh 17,9–26). Eine Unterlassung des Opfers und der Fürbitte könnte zur Folge haben, dass Gott an den Freunden eine nebālāh begeht (V. 8b). Der Begriff nebālāh steht im AT für etwas Schimpfliches, für eine Schandtat, häufig im sexuellen Sinn,50 aber auch für ein Sakrileg (Jos 7,15) oder für eine unbedachte Rede (Jes 9,16; 32,6, vgl. Hi 2,10). Dementsprechend wird die Selbstbeschränkung Gottes dann zumeist dahingehend gedeutet, dass die Freunde gegebenenfalls in Schande gebracht51 oder wie die Frau Hiobs als Toren (nebālîm) erwiesen würden52 oder dass Gott aus Zorn maßlos oder ungnädig handeln könne53. Die LXX 46 In diese Richtung weist auch die textgeschichtlich jüngere Lesart einiger Hss, die in V. 7bβ und in V. 8aβ anstelle von „wie (ke) mein Diener Hiob“ „über/gegen (be) meinen Knecht Hiob“ lesen (vgl. die Anm. zur Übersetzung sowie Hi 19,18; Num 12,1.8). 47 Vgl. 1Kön 13,6; Jer 42,2–4; zur Verweigerung der Fürbitte siehe auch Jer 7,16; 11,14; 14,11. 48 S.o. zu Hi 1,8. 49 Zur Bezeichnung Hiobs als Propheten vgl. Sir 49,9 (HB); Jak 5,10–11; Koran, Sure 6,84–89 und dazu Witte, Texte und Kontexte, 23–37. 50 Vgl. Gen 34,7; Dtn 22,21; Ri 19,23–24; 20,6.10; 2Sam 13,12; Jer 29,23. 51 So die Mehrzahl der Kommentare; vgl. bereits Syr und Tg. 52 So Gordis; vgl. in diesem Sinn schon Vg („damit euch eure Torheit nicht angerechnet werde“); ähnlich auch Hartley, der aber nebālāh nicht als Objekt, sondern als adverbiale Bestimmung des Handelns Gottes im Sinn von „gemäß der Torheit der Freunde“ versteht; in diesem Sinn auch J. Gray mit zusätzlicher Änderung des MT in ʿim nebālekæm. 53 Vgl. Clines, 1226f („not to treat you outrageousley“); Ngwa, Hermeneutics, 16f; Nam, Talking about God, 14f.
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mit der Übersetzung ἀπώλεσα ἂν ὑμᾶς („ich würde euch vernichten“) deutet allerdings darauf hin, dass nebālāh hier im Sinn von „Vernichtung/Zerstörung“ gebraucht ist, wie dies für das Mittel- und Neuhebräische belegt ist.54 Zu einer solchen Vernichtung kommt es aber nicht, da die Freunde der Aufforderung Gottes folgen (V. 9a) und Gott Hiobs Antlitz erhebt, d.h. Hiob gnädig ansieht (V. 9b, vgl. Gen 19,21; 2Kön 3,14; Mal 1,8–9). An Hiob bestätigt sich so die weisheitliche Sentenz, der zufolge ein Weiser Zorn abwenden kann (Spr 29,8). In LXX und in 11QTgHi zeigt sich eine charakteristische Modifikation von Hi 42,9: So heißt es in der entsprechenden Wiedergabe V. 9b, dass Gott Hiob erhörte (11QTgHi) und den Freunden die Sünde vergab um Hiobs willen (11QTgHi; LXX, vgl. HiLXX 42,7.10).55 In der LXX bringt zudem Hiob die Opfer für seine Freunde dar (V. 8, vgl. 1,5).56 11QTgHi und die LXX belegen, dass spätestens im ausgehenden 2. Jh. v.Chr. im antiken Judentum „die Vorstellung des stellvertretenden, für andere Vergebung der Sünden erwirkenden Eintretens des Gerechten vorhanden ist“57. Ein Vorläufer dieser Vorstellung ist das Motiv von der stellvertretenden Sündenvergebung mittels des Ertragens der Strafe durch den wie Hiob als ʿæbæd bezeichneten leidenden Gerechten in Jes 52,13–53,12. In der Anwendung auf das Schicksal Jesu hat sie eine christologische Zuspitzung erfahren (vgl. 1Joh 2,12). In diesem traditionsgeschichtlichen Sinn kann Hiob als ein Prototyp Jesu Christi bezeichnet werden.58 Mit dem Summarium, dass Jhwh das Geschick Hiobs wendete und ihm sei- 42,10 nen früheren Besitz verdoppelte, schließt die erste Szene des Epilogs. In diesem Summarium kann, auch wenn dies nicht ausdrücklich vermerkt ist, die Heilung Hiobs eingeschlossen sein.59 Die Buchredaktion unterstreicht mit dieser Notiz innerhalb des kritischen Torahdiskurses des Hiobbuches die Gültigkeit des Theologumenons von der Gerechtigkeit und der Freiheit Gottes. Die Formel šûb š ebût („das Geschick wenden“), in der mit Ausnahme ihres Gebrauchs in Klgl 2,14 stets Gott das Subjekt ist, hat ihren eigentlichen Ort in der Prophetie der exilisch-nachexilischen Zeit, die dem unter einer fortwährenden Exilserfahrung leidenden Israel die Wende seines Schicksal durch Jhwh ankündigt.60 Vgl. BerR XXXVIII zu Gen 11,7. Zur Wendung der Vergebung der Sünden (šbq ḥṭʾ) vgl. auch das in Qumran gefundene Gebet Nabonids (4Q242 frgm. 1–3,4). 56 Siehe dazu Cox, Old Greek Job 42, 185. 57 Janowski, Sündenvergebung, 251–280; Cimosa, L’intercessione, 513–538; vgl. TestHiob 42,6.8.17; syrBar 85,2; Jub 5,19; ParJer 2,3; MemarMarqah IV,101,6; TgJ zu Jes 52,13–53,12 und TgJ zu Am 7,2. 58 Vgl. dazu auch Vischer, Hiob, und Weiser, 269, sowie L. Wilson, Job, 316–320. 59 Auch diese Leerstelle wird in der Rezeptionsgeschichte ausgefüllt. So notieren das Testament Hiobs und der Koran ausdrücklich die Heilung Hiobs (vgl. TestHiob 47,5–8; Koran, Sure 38,41[42]); s.o. zu Hi 38,3 und S. 68f; 74 (mit Anm. 305). 60 Vgl. Dtn 30,3; Jer 30,3.18; 31,23; 33,7; Ez 29,14; Hos 6,11; Am 9,14; Zeph 3,20; Ps 14,7; 53,7; 85,2; 126,4; Klgl 2,14. Zur unterschiedlichen masoret. Vokalisierung von š ebût (Qere) und š ebît (Ketib) siehe die Anm. zur Übersetzung sowie Willi-Plein, Sprache, 189–208, die für Hi 42,10 die wörtliche Übersetzung vorschlägt: „Und JHWH aber kam zurück / war zurückgekommen in einem Zurückkommen auf Ijob“, und zwar im Sinn von „JHWH kommt auf Ijobs Angelegenheiten zurück …, indem er sozusagen alles bisher Eingetretene zurückdreht.“ (a.a.O., 201) – vgl. dazu auch die Wiedergabe in 11QTgHi, s.u. S. 690. 54 55
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Hier wird sie einmalig auf eine einzelne Figur angewendet. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Hiob in der neueren Forschung gelegentlich als „Repräsentanzfigur für Israel“ verstanden61 und das Buch Hiob als eine gegenüber Deuterojesaja und Ps 137 genuin weisheitliche Auseinandersetzung Israels/ Judas mit dem Babylonischen Exil interpretiert wird.62 11QTgHi umschreibt den Ausdruck šûb š ebût mit der Wendung der Rückkehr Gottes zu Hiob in Barmherzigkeit (vgl. Sach 1,6), während die LXX vermerkt, dass Gott Hiob vermehrte (αὐξάνω), und nochmals unterstreicht, dass Gott den Freunden die Sünde vergab (vgl. HiLXX 42,7.9). Die Notiz, dass Hiobs Besitz nach seinem Leid verdoppelt wurde (mišnæh), bestätigt Ben Siras weisheitliche Sentenz von der doppelten positiven Vergeltung (Sir 20,10 [G]). Sie entspricht dem rechtlichen Grundsatz der doppelten Ersetzung eines Diebstahls oder einer Unterschlagung (Ex 22,3.8). Die inhaltliche Erklärung bietet Jes 61,7–9: 7 Dafür, dass ihr doppelte Schmach trugt, und für die Schande sollen sie über ihren Anteil fröhlich sein. Denn sie sollen das Doppelte besitzen in ihrem Lande. Sie sollen ewige Freude haben. 8 Denn ich bin der Herr, der das Recht liebt und Raub und Unrecht hasst; ich will ihnen den Lohn in Treue geben und einen ewigen Bund mit ihnen schließen. 9 Und man soll ihr Geschlecht kennen unter den Völkern und ihre Nachkommen unter den Nationen, dass, wer sie sehen wird, erkennen soll, dass sie ein Geschlecht sind, gesegnet vom Herrn. (Jes 61,7–9 LB)
Wie das restituierte Israel wird Hiob letztlich zu einem Zeichen des Segens und der Gottesliebe (vgl. Dtn 7,13; 28,1–14). 42,11 Der Besuch der Familie Nachdem mit 42,10 sachlich bereits ein Schlusspunkt erreicht ist, wirkt die Notiz überflüssig, dass Hiobs Geschwister und frühere Bekannte zu ihm kommen, um ihm ihr Mitleid zu bezeugen (nûd) und ihn zu trösten (niḥam).63 Ein solcher Besuch wäre zudem eher im direkten Anschluss an die Schläge zu erwarten (vgl. 2,11). Die Spannung zwischen 42,10 und 42,11, aber auch zwischen 42,11 und der Klage Hiobs über die Entfremdung von seiner Umwelt Heckl, Hiob, 476f. Vgl. dazu bereits den Vergleich zwischen Hiob und dem unter dem Babylonischen Exil leidenden Israel in PesK XVI,6 (Wünsche, Pesikta, 174; Ngwa, Hermeneutics, 46f; s.o. zu Hi 3,19) sowie in jüngerer Zeit Perdue, Wisdom Literature, 82–85; vgl. auch Johnson, Eye, 168; Heckl, Hiob, 440; K. Schmid, Hiob 42 (im Blick auf die Parallelen zwischen Hi 16,12 und Ps 137,7–8. Vor allem in jüdischen Deutungen des 20. Jh., zumal nach der Shoa, spielt das kollektive Verständnis des Buches Hiob eine wichtige Rolle, siehe dazu exemplarisch M. Susman, Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes (1946). Mit einem Vorwort von H.L. Goldschmidt, Frankfurt/M. 1996, sowie zur Auslegungsgeschichte Oberhänsli-Widmer, Hiob, 227–284. 63 Vgl. Ps 69,21; Jes 51,19; Jer 15,5; 22,10; Nah 3,7 und dazu Pham, Mourning, 26; 45; 138; 157; 185; Gruber, Aspects, 406f. 61 62
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in 19,13–14 erklärt sich literargeschichtlich. Die Szene des Trauerbesuchs (vgl. Jer 16,7; Ez 24,17; Hos 9,4) hatte ihren ursprünglichen Ort hinter 1,21 – auf diese Position weist auch, dass die Passage nichts von einer Krankheit Hiobs weiß, sondern lediglich den Verlust seines Besitzes voraussetzt. Dieser Vers ist jetzt mittels der Wendung „wegen all des Bösen64, das Jhwh über ihn gebracht hatte“ (V. 11aβ, vgl. 2,11) in den Kontext eingebunden. Im kanonisch gewordenen Erzählzusammenhang erfüllt die kleine Szene die kompositionelle Funktion der narrativen Verdopplung: So gibt es (jetzt) zwei Himmelsszenen, zwei Heimsuchungen, zwei Bewährungen, zwei große und zwei kleine Gottesreden. Inhaltlich hat V. 11 in der ‚Endgestalt‘ des Buches allerdings auch einen ironischen Akzent: Die Tröster kommen, als der zu Tröstende bereits über den Berg ist. Die ursprünglich als Trostgabe verstandene Kesita, eine als Münze dienende Gewichtseinheit unbekannter Größe,65 und der goldene Ring66 erscheinen jetzt als (verfehlte) Mittel, an dem neuen Glück des von Gott Gesegneten teilzuhaben, zumal sich dieser aufgrund seiner erfolgreichen Fürbitte für seine Freunde als wahrer Gottesknecht gezeigt hat, der in der Lage ist, Gottes drohenden Zorn abzuwenden. Das gesegnete Ende Hiobs
42,12–17
Aus den Trauergästen werden Zeugen des gesegneten Endes (ʾaḥ arît) Hiobs. 42,12–13 Hiob erhält den doppelten Besitz an Vieh (vgl. 1,3.10; Jes 40,2; 61,7; Sach 9,12) und dieselbe Anzahl von Kindern wie ehedem (vgl. 1,2).67 Auf der Ebene der ,Endgestalt‘ des Buches haben sich damit die Vorankündigungen des künftigen Glücks Hiobs erfüllt.68 Dementsprechend könnte jetzt für Hiob der im Sirachbuch überlieferte Makarismus gelten: „Glücklich ist derjenige, der sich an seinem Ende (ʾḥrjtw) freut“ (Sir 25,7 [HC]). Die Wunden, die der Verlust
64 In der LXX fehlt dieses Wort, wohl aus theologischen Gründen; der Doppelausdruck „sie bezeugten ihm ihre Anteilnahme und trösteten ihn“ erscheint in der Gestalt „sie trösteten ihn und staunten (ἐθαύμασαν)“. Das restituierende Handeln Gottes an Hiob wird damit ausdrücklich zu einem Wunder. 65 Vgl. Gen 33,19; Jos 24,32. 11QTgHi; LXX; Syr und Vg sprechen von einem „Lamm/Schaf“, was auch als Wiedergabe von q eśîṭāh möglich ist und vielleicht sogar besser in das an die Patriarchenerzählungen erinnernde Milieu der Hiobnovelle passt. Sym nennt eine Münze (νόμισμα ἕν, vgl. Esr 8,36 LXX; 1Makk 15,6); Tg bietet die Varianten „Geldstück“, „Perle“ und „Lamm“ (siehe dazu Mangan, Targum, 91). Münzgeld kommt in Kleinasien zunächst im 7. Jh. v.Chr. und anschließend in Persien auf und verbreitet sich in persischer und hellenistischer Zeit auch in Syrien-Palästina. 66 Vgl. Gen 24,22.47; Ex 32,2; Jes 3,18–20 sowie metaphorisch in Spr 25,12. Die LXX spricht von einer ungeprägten, goldenen Tetradrachme (vgl. Platon, Ax. 366c; Philon, det. 162,3; Plutarch, Sulla 25,2; IG2 280, 91), Sym, dem MT entsprechend, von einem „Nasenring“. 67 Tg verdoppelt auch die Anzahl der Söhne auf 14. Ähnlich schildert der Dichter des ug. Kirta-Epos II,ii,21–?; II,iii,5–25 die Gabe einer neuen Familie an König Kirta und den neuen Segen der Götter (TUAT.NF VIII, 253f). 68 Vgl. Hi 5,24–26; 8,7; 11,16–17; 22,22–28; Ps 37,37; Jak 5,11. In der LXX ist die Beziehung zwischen Hi 42,12 (und 42,10) und 8,7 noch deutlicher.
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der ersten Kinder Hiob zufügte, bleiben unerwähnt. Der erneute Segen Gottes überdeckt die Narben Hiobs. 42,14–15 Im Gegensatz zum Prolog werden die Töchter – und nur diese – namentlich genannt: Jemimah („Täubchen“)69, Keziah („Zimtblüte“)70 und KerenHappuch („Augenschminkhorn/Schminkdöschen“, vgl. Vg)71. Der von der LXX (vgl. La) für die dritte Tochter gebrauchte Name Amaltheias Keras/ „Füllhorn“ gründet in der mythischen Tradition von der Ernährung des neugeborenen Zeus durch die Ziege Amaltheia, deren abgebrochenes Horn Zeus später aus Dankbarkeit zum Füllhorn gemacht hat; der griech. Name ist dementsprechend ein Symbol des Überflusses.72 Ps-Philo (1. Jh. n.Chr.) bietet dann auch Namen der Söhne (LibAnt 8,8). Die Namen der Töchter „evozieren Schönheit, Reichtum, Exklusivität, Luxus o.ä.“73 Sie sind ebenso wie die Notiz, dass sie die drei schönsten Frauen im Land (oder gar auf der Erde?) waren, 74 eines der zahlreichen Märchenmotive, das die im heutigen Buch zur Rahmenerzählung umgestaltete Hiobnovelle kennzeichnet. Die rabbinische Auslegung hat aus dieser Notiz geschlossen, dass Hiob zur Zeit des persischen Königs Ahasveros lebte, da es in Est 2,2–3 heißt, dieser habe sich die schönsten Jungfrauen seines Reiches kommen lassen.75 Sozialgeschichtlich ist die Bemerkung aufschlussreich, dass Hiob seinen Töchtern Erbland (naḥ alāh) mitten unter ihren Brüdern gab. Nach der im Pentateuch festgelegten Rechtspraxis hatten Töchter nur dann Erbrecht, wenn keine Söhne vorhanden waren (Num 27,1–11; 36,1–9).76 Hi 42,15 geht damit über die Torah hinaus und bestätigt 69 Vgl. Hhld 2,14; 5,2; 6,9. Die LXX sowie Vg und La übersetzen nach hebr. jôm mit Hemera/ Dies/„Tag“ (vgl. Hesiod, theog. 124); in diesem Sinn erklärt auch eine Tg-Variante den Namen „denn sie war schön wie der Tag“ (vgl. bBB 16b); Syr; Aq und Sym transkribieren diesen Namen. 70 Vgl. Ps 45,9; Ex 30,24 (qiddāh). Die antiken Übersetzungen transkribieren Kasia. Tg-Varianten erläutern, dass diese Tochter „wertvoll wie Zimt war“ (vgl. bBB 16b). Zimt bzw. Zimtöl wurde als Weihrauch, Duftstoff und Arznei verwendet und erfreute sich als exotischer Stoff auch in der griech.-röm. Welt besonderer Wertschätzung (siehe dazu Zohary, Pflanzen, 203; Häusl, Garten, 64–67; J.P. Brown, Israel, I, 70–72). 71 Vgl. 2Kön 9,30; Jer 4,30; Ez 23,40. Tg-Varianten führen den Namen darauf zurück, dass ihr Antlitz einen Glanz wie ein Smaragd hatte (vgl. bBB 16b, wo der Name aber mit dem Horn des Einhorns zusammengestellt wird, was eine entsprechende rabbinische Diskussion auslöst). Syr; Aq und Sym transkribieren den Namen. 72 Vgl. Kallimachos, In Iovem 49; Plutarch, proverbia 2,27; Olympiodor, Kommentar zu Hi 42,14 (Hagedorn, 393). Als solches kann das Füllhorn (cornucopia) im Hellenismus auch zur Ausstattung verschiedener Gottheiten (Isis, Eirene, Ploutos, Tyche) gehören und als Symbol auf Münzen erscheinen (A. Lichtenberger, Anker, Füllhorn, Palmzweig. Motivbeziehungen zwischen ‚jüdischen‘ und ,paganen‘ Münzen, in: A. Lykke [Hg.], Macht des Geldes – Macht der Bilder, ADPV 42, Wiesbaden 2013, 69–91). 73 Mathys, in: Kaiser/Mathys, Hob, 131; Mathys hält diese Namen für künstlich gebildet, wobei er auch eine Anspielung des Namens Jemima auf Hiobs lange Lebenstage (jāmîm, 42,17) für möglich hält (a.a.O., 132). 74 Nach bBB 16b wurde zwar nicht die Zahl der Töchter verdoppelt, aber ihre Schönheit. 75 Vgl. Josua b. Karcha, zitiert bei Wiernikowski, Hiob, 9. 76 Siehe dazu sowie zu möglichen Parallelen in altorientalischen Rechtstexten R. Westbrook, Property and Family in Biblical Law, JSOT.S 113, Sheffield 1991 (Nachdr. 2009), 161f; Z. Ben-Barak, Inheritance by Daughters in Israel and the Ancient Near East. A Social, Legal and Ideological Revolution, Jaffa 2006, 87–92.
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noch einmal die vor allem aus der Dichtung, besonders aus Hi 31, gewonnene Interpretation des Hiobbuches als einer kritischen Auseinandersetzung mit der Torah. Möglicherweise wird mit der Notiz vom Erbe der Töchter Hiobs auch eine für die persisch-hellenistische Zeit belegte Rechtspraxis bezeugt, in der im Judentum die Stellung der Frau aufgewertet ist (vgl. Spr 31,10–31; Rut 4).77 Auf der narrativen Ebene verdeutlicht die Notiz, dass Hiobs Familie reich gesegnet und glücklich zusammenlebte (vgl. Ps 133,1). Zu den märchenhaften Zügen der Rahmenerzählung gehören schließlich die 42,16 Angaben von Hiobs künftigem Lebensalter mit der verdoppelten Vollzahl eines zu erwartenden Gesamtlebensalters von 70 Jahren (vgl. Ps 90,10; Jub 23,12) und von Hiobs Ausblick auf vier nachfolgende Generationen. Ganz ähnlich lautet der Lebensrückblick der Hadad-ḥappe (gest. 547 v.Chr.), der Mutter des bab. Königs Nabonid: Meine Kindes-Kindes-Kindes-Kinder, bis zur (von) mir (abstammenden) vierten Generation, sah ich gesund und munter und sättigte mich am Alter. Sîn, König der Götter, zum Wohle (35) hast Du mich angeschaut und meine Tage lang gemacht, … (Aus der Adad-guppi-Stele 1 I,33–35)78
Damit übertrifft Hiob altersmäßig Mose, der nach Dtn 34,7 die in Gen 6,3 festgesetzte Höchstgrenze von 120 Jahren erreichte, Joseph, der nach Gen 50,22– 23 110 Jahre alt wurde und drei Generationen erlebte (Gen 50,22–23.26), und Josua, dem gleichsam eine Lebenszeit von 110 Jahren zugeschrieben wird (Jos 24,29; Ri 2,8),79 aber implizit wohl auch Abraham, der nach Gen 25,7 175 Jahre lebte.80 17,21 Das Leben, das sich dem Zenit nähert, ist zu zwei Dritteln (schon) verloren. 22 Denn man verbringt 10 (Jahre) der Kindheit, ohne den Tod und das Leben erkannt zu haben. 23 Man verbringt weitere 10 (Jahre) damit, an der Ausbildung zu arbeiten, von der man leben kann. 18,1 Man verbringt weitere 10 Jahre, indem man spart und sich den Besitz verschafft, von dem man lebt.
77 Vgl. auch einzelne jüdische Papyri, die auf der Nilinsel Elephantine gefunden wurden, unter ihnen besonders den Papyrus TDA B2 3, der ausführlich die Regelungen des Erbes, die Machsejah für seine Tochter Mibtachjah trifft und die dieser eine umfassende Verfügungsgewalt über das Erbe erlauben (vgl. auch TDA B2 4 und TDA B2 10); siehe dazu auch J. Verburg, Womens’s Property Rights in Egypt and the Law of Levirate Marriage in the LXX, ZAW 131 (2019) 592–606. 78 Übersetzung von H. Schaudig, Inschriften, 512; zum Motiv der vier Generationen vgl. auch KAI 226,4–6. 79 Nach R.M. Janssen/J.J. Janssen, Growing up and Getting old in Ancient Egypt, London 2007, 201–203, entsprechen 110 Jahre einem äg. Ideal; vgl. z.B. den Brief des Wermai aus der 21./ 20. Dynastie (?) 1,7 (TUAT III, 925). 80 Nach der LXX, in der ursprünglich V. 16b–17MT nicht enthalten waren, lebte Hiob „nach der Plage“ (πληγή) (MT: „danach“; vgl. aber Hi 2,13LXX) noch 170 Jahre und erreichte ein Lebensalter von insgesamt 248 Jahren (nach einigen Hss von 240 Jahren), was möglicherweise eine Paraphrase von V. 16b ist. Demnach geriet Hiob im Alter von 70 (bzw. 78) Jahren ins Leid. Zu weiteren Zahlenspielereien mit der Zahl 140 (z.B. als Summe der Quadratwurzeln der Zahlen 1–7) siehe Hartley.
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2 Man verbringt weitere 10 Jahre bis zur Erreichung des Alters, während man noch keine Ratschläge erteilt. 3 Es verbleiben 60 Jahre innerhalb der gesamten Lebenszeit, die Thot dem gottesfürchtigen Menschen aufgeschrieben hat. 4 (Aber nur) einer von einer Million, den Gott segnet, ist es, der sie erlebt, wenn das Schicksal zustimmt. (Pap. Insinger 17,21–18,4)81
Vier Generationen sind aber auch nach Ex 34,6–7 das Höchstmaß für die göttliche Strafverfolgung, hier stehen sie für die Fülle des Segens, den Hiob erlebt (vgl. Ps 128,6). 42,17 Am Ende stirbt Hiob: alt und satt an Tagen. So schließt das Buch mit dem Bild eines umfassend gesegneten Gottesknechts, der das Leiden als einen wesentlichen Bestandteil seines Lebens mit und für Gott verstehen und die geheimnisvolle, letztlich nicht durchschaubare Lenkung der Welt durch Gott anerkennen lernte. Die im AT positive Formel „satt an Lebenstagen“82 steht aber nicht nur für Hiobs hohes Lebensalter als Zeichen seines Segens (vgl. 5,26). Sie bettet auch sein Sattsein am Leid (vgl. 7,4; 9,18; 10,15; 14,1) und seine Sättigung an der Erkenntnis Gottes (42,2) in seine Lebenszeit ein. Hiob stirbt als eine mit sich selbst identische Person, als Beispiel eines integren und aufrichtigen, religiös gebundenen und ethisch verantwortlichen Menschen (1,1), als einer, der „gesättigt mit einem langen Leben“ die Rettung Gottes sah (Ps 91,16). 42,17LXX Die Nachschrift der Septuaginta Literatur Ausloos, H., “A Man Shall not Rise Again ...” Job 14:12 in Hebrew and Greek, in: R.X. Gauthier u.a. (Hg.), Septuagint, Sages, and Scripture (FS J. Cook), VT.S 172, Leiden 2016, 159–171. – Cook, J.: The Septuagint of Job, in: Ders./A. van der Kooij, A.: Law, Prophets, and Wisdom. On the Provenance of Translators and their Books in the Septuagint Version, CBET 68, Leuven u.a. 2012, 205–219. – Gard, D.H.: The Concept of the Future Life According to the Greek Translator of the Book of Job, JBL 73 (1954) 137–143. – Karrer, M.: Job, der Gerechte: Beobachtungen zum Hiobbuch der Septuaginta, in: M. Meiser u.a. (Hg.), Die Septuaginta – Geschichte, Wirkung, Relevanz, WUNT 405, Tübingen 2018, 66–89. – Kutz, K.: The Old Greek of Job: A Study in Early Biblical Exegesis. Ph.D. Diss. University of Wisconsin 1997, 12–23: – Orlinsky, H.M.: Studies in the Septuagint of the Book of Job, HUCA 32 (1961), 239–268. – Reed, A.Y.: Job as Jobab. The interpretation of Job in LXX Job 42:17b–e, JBL 120 (2001) 31–55. – Schnocks, J.: Rettung und Neuschöpfung. Studien zur alttestamentlichen Grundlegung einer gesamtbiblischen Theologie der Auferstehung, BBB 158, Göttingen 2009. – Tremblay, H.: Job 19,25–27 dans la Septante et chez les Pères grecs. Unanimité d’une tradition, EtB NS 47, Paris 2002.
Übersetzung von H.J. Thissen, in: TUAT III, 280–319, hier: 300; siehe dazu auch Janssen/ Janssen, Growing up, 197, sowie zur realen Lebenserwartung und zur Wertung der Lebensphasen im AT bzw. in mesopotamischen Texten Wolff, Anthropologie, 178–189, und Janowski, Anthropologie, 46f; 81 (Q 12); 598 (Q70); 677 (Q 191), bzw. Scurlock/Andersen, Diagnoses, 24. 82 Vgl. Gen 25,8 (Abraham); 35,29 (Isaak); 1Chr 29,28 (David) und 2Chr 24,15 (Jojada) sowie aus dem äg. Bereich ÄHG 172, 25–28. 81
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Die griech. Hss 248 und 252 vermerken ausdrücklich, dass mit 42,17 der hebr. Text endet. Dementsprechend fehlt die Passage 42,17a–e auch in den jüngeren griech. Übersetzungen bei Aq und bei Sym, während ihn Th mit charakteristischen Unterschieden bietet. In dieser Nachschrift werden drei zusätzliche Informationen geboten. 42,17aα Eine erste Notiz blickt auf das postmortale Geschick Hiobs: Es steht aber geschrieben, dass er wieder auferstehen wird mit denen, die der Herr auferstehen lässt.83
Dieser Hinweis ist als Schriftzitat gestaltet (γέγραπται) und bezieht sich binnentextlich auf HiLXX 19,25–26 sowie intertextuell auf DanLXX 12,2.13; 2Makk 7,9.14 und 12,43. Da das griech. Hiobbuch sonst keine (sicheren) Spuren einer Auferstehungsvorstellung aufweist,84 dürfte es sich in 42,17aα um einen vorhexaplarischen Zusatz handeln, der sowohl jüdischer als auch christlicher Herkunft sein kann. Eine eindeutige auferstehungstheologische Deutung von Hi 19,25–26 findet sich in der Spätantike aber nur bei christlichen Schriftstellern.85 Vor dem Hintergrund des eschatologischen Kontextes, in dem Jak 5,11 Hiob als Beispiel menschlicher Geduld und göttlicher Barmherzigkeit anführt, ist nicht ausgeschlossen, dass Jakobus mit dem Ausdruck „Ende des Herrn“ nicht nur auf die Wiederherstellung Hiobs in diesem Leben anspielt (42,12), sondern auch auf seine Auferstehung.86 42,17bα1 Ein zweites Nachwort gibt als Quelle ein „Syrisches Buch“ an: Dieses/dieser (οὗτος) ist übersetzt (ἑρμηνεύεται)87 aus dem syrischen Buch.
Umstritten ist, worauf sich dieser Hinweis bezieht: auf das gesamte Buch (d.h. „Hiob“ als Chiffre für das Buch wie in der inscriptio des Cod. Vaticanus und anderer Codices),88 auf die Auferstehungsnotiz in 42,17aα89 oder auf die folgende geographische und genealogische Verortung Hiobs.90 Im ersten Fall 83 Th: „… mit uns, denn Gott wird auf(er)stehen lassen/auferwecken.“ Siehe dazu Meade, Edition, 442. 84 Vgl. HiLXX 3,21–22; 7,9–10; 14,12; so mit Orlinsky, Studies (HUCA 32), 241–24, und Cook, Septuagint, 217, 220. Anders Gard, Life, 137–143; Tremblay, Job, 206–219; Schnocks, Rettung, 48; Kutz, Old Greek, 126–156; Ausloos, Man, 166–169; Gerhards, Gott, 245–260. 85 Vgl. erstmals bei 1Clem 26,3 (s.o. S. 314); zur altkirchlichen Auslegung siehe ausführlich Tremblay, Job. 86 Zur Diskussion der Bedeutung und des syntaktischen Anschlusses der Wendung τὸ τέλος κυρίου siehe M. Dibelius/H. Greeven, Der Brief des Jakobus, KWK 15, Göttingen 91957; 227f; H. Balz/W. Schrage, Die Briefe des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas, NTD 10, Göttingen 1985, 54f; D.C. Allison, A Critical and Exegetical Commentary on the Epistel of James, ICC, London/ New York 2013, 717–721. 87 Zu dieser Formel vgl. 2Makk 1,36; Joh 1,42; 9,7; und häufig bei Philon, z.B. LA I, 90. 88 Peters; Fohrer. 89 N. Walter, Fragmente jüdisch-hellenistischer Exegeten: Aristobulos, Demetrius, Aristeas, JSHRZ III, 293–296. 90 Reed, Job, 32; Cook, Septuagint, 210. Dabei beziehen Reed und Cook οὗτος auf den Mann Hiob, der in einem syrischen, d.h. aram. Buch als im Land Ausitis wohnend beschrieben werde.
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würde das griech. Hiobbuch entweder auf einer aram. Grundlage basieren, was sich aber nicht nachweisen lässt,91 oder der Übersetzer hätte den Begriff Συριακός geographisch verstanden.92 Im dritten Fall wäre das Demonstrativum οὗτος vorverweisend gebraucht (vgl. V. 17dα). Dieser Hinweis könnte dann eine Herkunftsangabe sein, mittels derer der Epilog als ein Exzerpt aus einem aram. Hiobmidrasch markiert würde, wobei umstritten ist, ob diese Herkunftsangabe real93 oder fiktiv94 ist. 42,17bα2 – Ein dritter Abschnitt verortet Hiob alias Jobab geographisch und genealogisch: e 17bα2 Er wohnte in dem Land Ausitis (vgl. Hi 1,1LXX) an den Grenzen Idumäas und Arabiens, früher aber hatte er den Namen Jobab (vgl. Gen 10,29; 36,33–34). 17c Nachdem er aber eine arabische Frau genommen hatte, zeugte er einen Sohn, mit Namen Ennon, er selbst aber hatte als Vater den Zare (vgl. Serach Gen 36,13.17)95, einen Sohn der Söhne Esaus, und als Mutter Bosorra96, so dass er der fünfte von Abraham an war. 17d Und dies sind die Könige, die in Edom herrschten, über welches Land er selbst herrschte: als erster Balak, der (Sohn) des Beor, und der Name seiner Stadt war Dennaba (vgl. Gen 36,32)97, und nach Balak Jobab, genannt Job (vgl. Gen 36,33): und nach diesem Asom, der erste Herrscher aus dem thaimanitischen Land (vgl. Gen 36,34). Und nach diesem Adad, Sohn des Barad, der Madiam98 vernichtete in dem Gefilde Moabs, und der Name seiner Stadt war Gethaim99 (vgl. Gen 36,35). 17e Die Freunde aber, die zum ihm kamen, waren: Eliphas von den Söhnen Esaus100, König der Thaimaner, Baldad,101 der Herrscher der Sauchäer, Sophar, der König der Minäer102 (vgl. Hi 2,11 LXX).
Die Herkunft dieses Abschnitts ist ungeklärt, auch wenn ein Zusammenhang mit der „Esau-Edomiter-Genealaogie“ in Gen 36 offensichtlich ist. Die Gleichsetzung von Hiob (Ιωβ) mit Jobab (Ιωβαβ, Gen 36,33–34; TestHiob 1,1; 2,1) wird zumeist als ein Indiz für einen griech. Ursprung gewertet, da sich Ιωβ leichter von Ιωβαβ ableiten ließe als hebr. oder aram. ʾijjôb von jôbāb. Dies
91 Der Versuch von TurSinai, das hebr. Hiobbuch als Übersetzung eines aram. Werks wahrscheinlich zu machen, überzeugt aus philologischen Gründen nicht. Möglich ist allerdings die Bezeichnung Συριακός für eine Sprache, die in Quadratschrift geschrieben wurde (vgl. F. Siegert, Zwischen Hebräischer Bibel und Altem Testament. Eine Einführung in die Septuaginta, MJSt 9, Münster u.a. 2001, 36). Zur Frage, ob die Juden in Palästina in hellenistisch-römischer Zeit Syrisch sprachen, vgl. bereits den Aristeasbrief 11,6 sowie zum Verhältnis von Syrisch und Hebräisch im Blick auf Hi 42,17 Origenes, In beatum Iobum 390,34–391,6 (Pitra) und Julian, Hiobkommentar, zu Hi 42,17 (Hagedorn, 311). 92 Vgl. Strabo, geogr. 2, 1,31,21; 11, 6,2,17; 12, 2,2,6; 15, 1,3,5; 16, 1,26,1; 16, 2,1,8; 17, 1,11,21. 93 Dhorme, xv; de Wilde, 408; Gentry, Materials, 536. 94 Reed, Job, 36–40. 95 LXX-Variante: „Zara“, vgl. GenLXX 36,33. 96 Aus der Ortsangabe in Gen 36,33 („ἐκ/aus [der Stadt] Bozra/Bosorra“) ist hier eine biologische Abstammungsangabe geworden („aus [der Frau] Bosorra“, vgl. den entsprechenden Gebrauch von ἐκ τῆς NN in 1Chr 8,9LXX; Mt 1,5). 97 Vgl. 1ChrLXX 1,43–44. 98 D.h.: Midian. 99 Die Stadt Gethaim/Gethem (in Gen 36,35MT Awit) ist nicht identifiziert, vgl. Euseb, On. 62,7. Nach der Unterschrift der griech. Minuskel 637 stammte Hiob aus Gethem. 100 Th: „der Sohn Josaphats“. 101 Th zusätzlich: „der Sohn des Ammon, des Chobor“. 102 Th: „Jeminäer“.
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muss jedoch nicht notwendigerweise zutreffen.103 Der Name des Sohnes Hiobs, Ennon (Εννων), geht eindeutig auf den hebr. bzw. aram. Namen ḥānān („er hat sich erbarmt“) oder ḥānûn („barmherzig“) zurück.104 Dies spricht gegen die Annahme, diese Passage sei ein genuin griech. Midrasch105 oder ein Exzerpt aus der griech. Hiobparaphrase des jüdisch-hellenistischen Exegeten Aristeas.106 Wie im Fall des LXX-Zusatzes in Hi 2,9 und der Stilisierung der Freunde als Könige in 2,11 ist auch hier zu überlegen, ob 42,17b–e neben Gen 36 nicht (punktuell) auch auf einer mündlichen Tradition basiert, die auch Aristeas benutzt hat.107 Im Rahmen der innerbiblischen Chronologie erscheint Hiob über 42,17b–e auf derselben Generationenstufe nach Abraham wie Amram, der Vater des Mose.108 Mit dieser Verortung im Umfeld des Mose, die in der rabbinischen Annahme mosaischer Verfasserschaft (bbB 14a) und der Positionierung des Hiobbuches im Anschluss an den Pentateuch in der Peschitta gipfelt,109 schließt sich der Kreis der Redaktionsgeschichte des Hiobbuches, das sich nach der in diesem Kommentar vertretenen Auslegung von seinen Anfängen in der Hiobdichtung und der Hiobnovelle bis zu seinen jüngsten Fortschreibungen auch als eine kritische Auseinandersetzung mit der Torah des Mose lesen lässt.
103 Dies zeigt die von I. Kalimi mitgeteilte Kritik des mittelalterlichen jüdischen Gelehrten Ibn Esra (1089–1167) an Jitzchak Ibn Jaschusch (982–1057), dass dieser Jobab mit Hiob gleichsetze (I. Kalimi, Fighting Over the Bible. Jewish Interpretation, Sectarianism and Polemic from Temple to Talmud and Beyond, BRLJ 54, Leiden/Boston 2017, 94). Bei einer Zusammenstellung von Hiob und Jobab vor einem hebräischsprachigen Hintergrund könnte auch an die im Mittelhebr. belegte Verbalwurzel jbb „rufen, klagen, jammern“ (biblisch nur in Ri 5,28) gedacht werden. 104 Siehe dazu ausführlich Witte, Hiobs viele Gesichter, 165–170. 105 Reed, Job, 31–55. 106 So aber Gerleman, Studies, 74; Fohrer, 542; N. Walter, Fragmente jüdisch-hellenistischer Exegeten: Aristobulos, Demetrius, Aristeas, JSHRZ III, 293. Eher ist zu erwägen, dass der Exeget Aristeas von dem LXX-Zusatz abhängig ist, vgl. Schaller, Septuaginta, 402; Reed, Job, 38f. 107 Doran, Aristeas, in: OTP II, 856f. 108 Vgl. die Linien Abraham → Isaak → Jakob → Levi → Kehat → Amram (Ex 6,18.20) und Abraham → Isaak → Esau → Reguel → Serach → Jobab/Job (Gen 36,10.13.33). 109 S.o. S. 72.
Bildnachweis Bild Nr. 01: Teilrelief auf dem Sarkophag des röm Stadtpräfekten Junius Bassus�������������������������������������������������������������������������������������������������� S. 104 Sarkophag des Junius Bassus, © akg-images/André Held, www.akg-images.de Bild Nr. 02: Zug der Deportierten auf den Lachisch-Reliefs aus Ninive/Kujunjik (Ausschnitt) �������������������������������������������������������������������� S. 232 aus: T.C. Mitchell, The Bible in the British Museum. Interpreting the Evidence, The British Museum Press, London 1988 (repr. 2002), 61. © The Trustees of the British Museum Bild Nr. 03: Vignette aus dem äg. Totenbuch zu Spruch 125 �������������� S. 453 aus: S. Schroer, Die Ikonographie Palästinas/Israels und der Alte Orient. Eine Religionsgeschichte in Bildern. Band 4: Die Eisenzeit bis zum Beginn der achämenidischen Herrschaft, Basel 2018, Abbildung Nr. 1144, Zeich nerin: U. Zurkinden-Kolberg. Bild Nr. 04: Benu-Vogel ����������������������������������������������������������������������������� S. 462 aus: H. Gressmann, Altorientalische Bilder zum Alten Testament. Gesammelt und beschrieben, zweite, völlig neugestaltete und stark vermehrte Auflage, W. de Gruyter, Berlin/Leipzig 1927, Abbildung Nr. 545. Bild Nr. 05: Vignette aus dem äg. Totenbuch zu Spruch 31 ���������������� S. 663 aus: E. Hornung, Das Totenbuch der Ägypter. Eingeleitet, übersetzt und erläutert, Artemis & Winckler, Düsseldorf/Zürich 1997, Abbildung Nr. 17.