Das Trauerspiel-Buch: Der Souverän - das Trauerspiel - Konstellationen - Ruinen [1. Aufl.] 9783839406342

Dieses Buch behandelt Walter Benjamins »Ursprung des deutschen Trauerspiels« (1928) und zeigt, dass mit ihm gearbeitet w

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German Pages 284 Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Einleitung
I. Trauerspiel und Tragödie
Der tragische Tod
Todverfallenheit im Trauerspiel, Gespenster
Die »allegorische Betrachtung« des Trauerspiels
Geschichts- und Schicksalsdrama, Trauer-Spiel
II. Souverän, Märtyrer, Intrigant
Der Souverän
Tyrann und Märtyrer
Souveräne Macht und »bloßes Leben«
Die Dramaturgie der Intrige
III. Trauer und Melancholie
Der »Grübler über Zeichen«
Melancholische Treue – und Verrat
Theatrale ›Reflexion‹ der Melancholie: Hamlet
IV. Allegorie
Leiche als Emblem (der Allegorie)
Im »Widerspiel zwischen Laut und Bedeutung«. Sprachgebärden
Einspruch gegen ästhetische Integration
»Mortifikation der Werke«: Kritik
Überspannung der Transzendenz
Enden, ... im Spiel, ... im Ernst
Literatur
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Das Trauerspiel-Buch: Der Souverän - das Trauerspiel - Konstellationen - Ruinen [1. Aufl.]
 9783839406342

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Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch

T h e a t e r | Band 5

Bettine Menke (Prof. Dr. phil.) lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur- und Texttheorie, Rhetorik, Dekonstruktion, Gedächtnis-Konzepte, Poetische und Sakrale Zeichenordnungen, Gender Studies, Schrift, Bild und Stimme sowie der Witz, das Theater.

Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch. Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Kupfer zu 1. Abh., Prolog von Andreae Gryphii: Catharina von Georgien oder Bewehrete Beständigkeit. Trauer=Spiel, aus: Feste Theatrali Tragiche per la Catharina di Giorgia del Sig. Andrea Gryphi; Dedicate A Lodovica Ducheßa di Ligniz, Brieg e Wohlaw, Principeßa d’Anhalt, Contessa d’Ascania, Signora de Zerbst e Bernburg; Rappresentate da Vigilio Castore Budorgese, Inventore/Fatte coll acqua forte da Giovan Using Pittore MDCLV Lektorat & Satz: Thomas Glaser, Tobias Wiedemann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-634-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Einleitung 7

I. Trauerspiel und Tragödie 27

Der tragische Tod 39

Todverfallenheit im Trauerspiel, Gespenster 45

Die »allegorische Betrachtung« des Trauerspiels 53

Geschichts- und Schicksalsdrama, Trauer-Spiel 58

II. Souverän, Märtyrer, Intrigant 69

Der Souverän 70

Tyrann und Märtyrer 94

Souveräne Macht und »bloßes Leben« 102

Die Dramaturgie der Intrige 105

III. Trauer und Melancholie 123

Der »Grübler über Zeichen« 132

Melancholische Treue – und Verrat 150

Theatrale ›Reflexion‹ der Melancholie: Hamlet 159

IV. Allegorie 169

Leiche als Emblem (der Allegorie) 176

Im »Widerspiel zwischen Laut und Bedeutung«. Sprachgebärden 195 Einspruch gegen ästhetische Integration 201

»Mortifikation der Werke«: Kritik 207

Überspannung der Transzendenz 212

Enden, ... im Spiel, ... im Ernst 231

Literatur 253

EINLEITUNG Unter vier Überschriften, die Lektürehinsichten für Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels1 vorschlagen, möchte ich auf den folgenden Seiten mit diesem wichtigen Buch umgehen und mich einerseits mit seinem Gegenstand, dem barocken Trauerspiel befassen, um andererseits zugleich dieGrundzüge seiner Argumentation auszuprägen. Es sind dies: 1. Trauerspiel und Tragödie, 2. Souverän und Märtyrer, 3. die Melancholie und 4. die Allegorie. In diesen vier Themenfeldern vermute ich die entscheidenden Beiträge des Trauerspielbuches, deren Tragweite nicht zuletzt dadurch abzuschätzen ist, dass Benjamins Buch in Relation zu aktuellen Diskussionen mit Kontinuitäten und Brüchen zu konkurrierenden und verwandten Ansätzen tritt. Themen, in denen sich die konstellative Interaktion der vier genannten Felder abzeichnet, sind etwa: Schauspiel und theatrale Exposition; Souveränität, Politik und Repräsentation; die Bühne der Geschichte; ›politischer Körper‹ und Politik des ›bloßen Lebens‹; Trauer und Komik; die Problematik von Spiel und Reflexion usw. Angezeigt sei damit, dass ich das Trauerspielbuch zum einen als wichtiges Werk der Barockforschung auszeichnen und zur Nutzung empfehlen möchte. Zugleich tritt es zum andern in den genannten Feldern jenseits der germanistischen Barockliteratur ins Spiel jüngster Diskussionslagen, die mit den Namen Foucault, Marin, Derrida, Agamben u.a. gekennzeichnet seien, für die es seinerseits Konsequenzen zeitigen kann. Derart ist zugleich die Reichweite seiner theoretischen Zugriffe und Begriffe (je wieder) zu ermessen. Das Buch Ursprung des deutschen Trauerspiels, an dem Benjamin 1916-1925 (in verschiedenen Fassungen) schrieb, erschien nach einem Teilabdruck in Neue Deutsche Beiträge (1927) das erste Mal 1

Walter Benjamin: »Ursprung des deutschen Trauerspiels« (1928), in: ders., Gesammelte Schriften, Band I.1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1974, S. 203-430. Das Buch wird im Folgenden mit Angabe der Seitenzahl im Haupttext, diese Ausgabe unter Angabe der römischen Bd.- und der arabischen Seitenzahl nachgewiesen. 7

TRAUERSPIEL-BUCH

19282 (dann erneut 1963). Benjamin hatte das Trauerspielbuch als Habilitationsschrift geplant und mit der Absicht verfasst, an der Frankfurter Universität die venia legendi für (neuere) Germanistik zu erlangen, um damit seiner ›umdüsterten‹ finanziellen Situation aufzuhelfen.3 Das Scheitern dieses Versuchs (1925 zieht Benjamin seine Schrift zurück), ein Scheitern auch und nicht zuletzt am Antisemitismus der deutschen Universität, wie bereits in den 70er Jahren dokumentiert werden konnte,4 hat teil an der Erzählung von Benjamin als ›tragischem‹ Heros, die die Rezeptionsgeschichte Walter Benjamins bestimmte. Als retroaktive Erzählung bedürfte sie, so plausibel sie und so einleuchtend die Rückwirkung auch sei, ihrerseits einer erneuten und neuen Lektüre. Diese Relektüre müsste dem Erzählmodell des ›Tragischen‹ selbst gelten und dem Stellenwert des rückwirkenden Endes, das dieses bestimmt.5

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Neue deutsche Beiträge 2. Folge 3 (1927), S. 89-110; 1928 im Ernst Rowohlt Verlag, vgl. I, 955f. Nachdem eine Manuskriptfassung des Textes in Scholems Archiv in Jerusalem gefunden wurde (jetzt: Walter Benjamin Archive der Jewish National & University Library Jerusalem Arc.4° 1598/109), gab es zu dessen Stellenwert (I, 920-922) wie damit, wie in einer Fülle ähnlicher Fälle, zur Anlage der Edition der GS überhaupt heftige Debatten, vgl. Klaus Garber: Zum Bilde Walter Benjamins, München 1992, S. 143-148; Walter Boehlich: »Ungeschätzte Schätze. Eine Erwiderung auf Klaus Garbers Kritik an der Benjamin-Ausgabe«, in: Frankfurter Rundschau 29.6.1992, S. 7; Konkret 8 (1992); Konkret 12 (1992) usw.; die schwerwiegenden Einwände gegen die Edition GS werden sich erst durch die Historisch-Kritische Ausgabe beheben lassen. Das Ausmaß der »Umdüsterung« der finanziellen Lage wie der dadurch bestimmte Zweck der Arbeit ist absehbar in Benjamins Briefen Ende 1923 und Anfang 1924, vgl. Dokumentation, I, 874f.; Gesammelte Briefe (= GB), hg. von C. Gödde/H. Lonitz, 6 Bde., Frankfurt/M. 1995-2000, Bd. II, S. 361, 406f., 433. Vgl. I, 868ff., 895ff.; die Dokumentation von Burkhard Lindner: »Habilitationsakte Benjamin. Über ein ›akademisches Trauerspiel‹ und über ein Vorkapitel der ›Frankfurter Schule‹ (Horkheimer, Adorno)«, in: LiLi 14 (1984), S. 147-165; zu den Ironien gehört, dass an diesem Scheitern 1925 nicht nur der Neukantianer Hans Cornelius, Doktorvater von Theodor Wiesengrund Adorno, sondern (wohl?) auch sein Assistent Max Horkheimer beteiligt waren (zu den Vorbehalten und zur akademischen Landschaft vgl. B. Lindner: »Habilitationsakte Benjamin«, S. 332; Monad Rrenban: Wild, Unforgetable Philosophy in Early Works of Walter Benjamin, Lanham, Md. 2005, S. 110113, 326-328). Zur Modellierung ›Walter Hero‹ und für den Einspruch dagegen Benjamins eigener »rigorous delimitation« der Tragödie folgend, vgl. Peter Fenves: »Tragedy and Prophecy in Benjamin’s ›Origin of the German Mourning Play‹«, in: ders., Arresting Language. From Leibniz to Benjamin, Stanford 2001, S. 227-248, hier S. 228f. 8

EINLEITUNG

Lässt sich die zeitgenössische Wirkungsgeschichte zunächst weitgehend als Missverstands- und Verfehlungsgeschichte erzählen,6 so ist diese Erzählung, an deren Ausbildung Benjamin auch selbst Anteil hatte,7 in Teilen auch revidiert worden und die Wertschätzung des Buches im jeweiligen Falle signifikant genug.8 Theodor Wiesengrund Adorno, der Benjamins Allegoriebegriff weitgehend in seine Kierkegaard-Monografie, mit der er seinerseits 1931 in Frankfurt bei P. Tillich habilitieren konnte,9 übernahm, machte das Trauerspielbuch zum Gegenstand eines seiner ersten Seminare in Frankfurt.10 Derart erfuhr dieses eine erste Wirksamkeit, die dokumentiert und nicht ohne Ironie ist.

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Exemplarisch für die Verkennungen, Verfehlungen wird die Warburgschule genannt; besonders auf Panofsky hatte Benjamin gehofft (vgl. I, 909-911, vgl. Momme Brodersen: »›Wenn Ihnen die Arbeit des Interesses wert erscheint …‹. Walter Benjamin und das Warburg-Institut: einige Dokumente«, in: H. Bredekamp u.a. (Hg.), Aby Warburg, Weinheim 1991, S. 87-94; Klaus Garber: »Nachspiele zum Trauerspielbuch«, in: ders.: Walter Benjamin als Briefschreiber und Kritiker, München 2005, S. 183-236, hier S. 188f.; Sigrid Weigel: »Versäumte Wahlverwandtschaft. Walter Benjamin und der Kreis um Aby Warburg – ›Zu gescheit‹: Das Schicksal des Trauerspielbuchs«, in: SZ 2. Juli 2004, Nr. 150, S. 16); Max Pensky: Melancholy Dialectics. Walter Benjamin and the Play of Mourning, Amherst (Mass.) 22001, S. 264f.. 7 Vgl. GB IV, S. 18. 8 Zu den Rezensionen I, 908-911, vgl. K. Garber: »Nachspiele zum Trauerspielbuch«, Anm. 1; Uwe Steiner: »Allegorie und Allergie. Bemerkungen zur Diskussion um Benjamins Trauerspielbuch in der Barockforschung«, in: Daphnis 18 (1989), S. 641-701, hier S. 647-652; Klaus Garber: Rezeption und Rettung. 3 Studien zu Walter Benjamin, Tübingen 1987, S. 61-66; die unverhoffte Unterstützung Hofmannsthals, die F.C. Rang vermittelte (I, 895, der ›Adressat‹ von Benjamins Überlegungen zur Tragödie, I, 887-895; 883; 979), ermöglichte die Publikation (I, 903ff., 911f., GB III, S. 47); Benjamin rez. Hofmannsthals Trauerspiel »Der Turm« 1926 u. 1928 (III, 29-33, 98101); zu biografischen wie inhaltlichen Berührungen vgl. Marcus Twellmann: Das Drama der Souveränität. Hugo von Hofmannsthal und Carl Schmitt, München 2004, S. 26f. (mit weit. Lit.), S. 25-29, S. 49. 9 Allerdings erst nachdem er eine erste, 1927 gleichfalls bei H. Cornelius eingereichte Habilitationsschrift im Januar 1928 zurückziehen musste. 10 Vgl. Frankfurter Adorno Blätter IV (1995), S. 52-77; Momme Brodersen: »›Ein Idealist mit Einschränkung‹. Ein Seminar zu Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels (mit zwei Protokollen)«, in: taz 4. März 1986, S. 12-13; B. Lindner: »Habilitationsakte Benjamin«, S. 153f.; u.a. W. Emrich gedenkt des Seminars von Theodor Wiesengrund Adorno (Vorwort zu Wilhelm Emrich: Deutsche Literatur der Barockzeit, Königstein/Ts. 1981). Rainer Nägele markiert am Anschluss Adornos die Differenz (»Body politics: Benjamin’s dialectical materialism between Brecht and the Frankfurt School«, in: D. S. Ferris (Hg.), The Cambridge Companion to Walter Benjamin, Cambridge 2004, S. 152-176, hier S. 156, 163f., 175. 9

TRAUERSPIEL-BUCH

Das Trauerspielbuch, dessen Rezeption, gewiss auch wegen seiner, wie es immer wieder heißt, entlegenen Gegenstände, hinter anderen Schriften Benjamins zurücksteht, kann mit Recht als dessen frühes chef d’oeuvre11 oder »Summe«, in die »alle vorhergegangenen Texte Benjamins« als »Verweis oder [auch] verborgenes Selbstzitat eingegangen« sind, charakterisiert werden.12 Tatsächlich setzt das Trauerspielbuch sich in zitationellen Bezug auf »Trauerspiel und Tragödie« (1916), die sprachphilosophischen Texte »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie« (1916), »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« (1916), »Die Aufgabe des Übersetzers« (1921), auf »Schicksal und Charakter« (1921) und »Zur Kritik der Gewalt« (1921), sowie auf die Monografien, die Dissertation »Der Begriff der Kunstkritik« (1919) und »Goethes Wahlverwandtschaften« (1922) u.a.. Mitgelesen werden müssen nicht nur diese anderen Texte, sondern zugleich die Selbstzitation selbst, und zwar als Ausprägung der Technik von Darstellung, die Benjamins Zitation überhaupt ist. Sie bezeichnet die spezifische Leseoperation, als die Benjamin die Darstellung, die Konstellation (zur Idee) sei, ausweist, und die sein Text selbst vollzieht.13 Das Trauerspielbuch wäre demnach auch als eine Durchgangsstelle für philosophische Fragen und Figuren aufzufassen, die bis in den Umkreis von Benjamins Passagenarbeit reichen. Aber nicht (so sehr) als noch fehleingeschätztes, neu zu wertendes ›Meisterwerk‹ Benjamins lohnt es sich, das Trauerspielbuch zu lesen, sondern vielmehr als Beitrag (oder deren Mehrzahl) zu auch zuletzt wieder diskutierten Fragen sowie als Intervention (oder deren Mehrzahl) in gegenwärtige theoretische Lagen.

11 K. Garber: Rezeption und Rettung, S. 59. 12 Burkhard Lindner: »Allegorie«, in: M. Opitz/E. Wizisla (Hg.), Benjamins Begriffe, Frankfurt/M. 2000, Bd. 1, S. 50-94, hier S. 54; vgl. I, 884f., 979ff.; Benjamin spricht auch von der »relative[n] Isoliertheit von frühern Studien von mir« (I, 875ff.). Er zitiert seine veröffentlichten Schriften, (vgl. das »Alphabetische Verzeichnis« I, 965) wie auch die genannten, zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten. 13 Vgl. Samuel Weber: »Genealogy of Modernity: History, Myth and Allegory in Benjamin’s ›Origin of the German Mourning Play‹«, in: MLN 106 (1991), S. 465-500, hier S. 476; Bernd Witte: »Allegorien des Schreibens. Eine Lektüre von Walter Benjamins Trauerspielbuch«, in: Merkur 46 (1992), S. 125136, hier S. 130 u.a.; zur Selbstzitation: Laurence A. Rickels: »Suicitation: Benjamin and Freud«, in: G. Richter (Hg.), Benjamin’s Ghosts. Interventions in Contemporary Literary and Cultural Theory, Stanford 2002, S. 142153, hier S. 143f. 10

EINLEITUNG

Benjamins Abhandlung setzt sich, wie er selbst für jene Fassung der Schrift, mit der er sich in der Germanistik zu habilitieren vorhatte, zur Hilfestellung für seine Gutachter explizierte, aus zwei, »Trauerspiel und Tragödie« und »Allegorie und Trauerspiel«, betitelten Teilen zusammen.14 In der Buch-Fassung steht dem eine »Erkenntniskritische Vorrede« voran, die in ihrem »theoretischen Teil« in der ersten als Habilitationsschrift eingereichten Version fehlte.15 Nur diese drei Überschriften gliedern das Buch; was im Inhaltsverzeichnis wie Zwischenüberschriften erscheint, tritt nicht gliedernd als Absatz-Überschriften, sondern als begleitende Seitenüberschriften zu abgesetzten Teilen auf.16 Nicht zum wenigsten der Form der Konstellation galt wohl die Ungeduld der akademischen Institution. In der Rezeptionsgeschichte des Trauerspielbuchs hat die »Erkenntniskritische Vorrede« lange einen ganz dominierenden Stellenwert gehabt, demgegenüber alle, zunächst ›material‹ zu nennenden, Gesichtspunkte fast völlig zurücktreten mussten. Daher stelle ich hier die »Vorrede« zurück und keine eigene Lektüre der »Erkenntniskritische[n] Vorrede«, die in der Rezeption so vorrangig behandelt wurde, an.17 Ihr Vorrang war wohl dadurch motiviert, dass man meinte, in der »Vorrede« Benjamins Erkenntnistheorie ›in direkter Rede‹ zu haben – allerdings, wie es immer wieder heißt, in deren ›wohl esoterischster‹ Fassung. Dem Zugriff, der im Interesse vor allem an Benjamins ›Philosophie‹ vorrangig auf die »Vorrede« (allenfalls noch die Allegorie-Abschnitte) sich richtete, korrespondierte die umgekehrte germanistisch-philologische Abwehr des Benja14 Zum Aufbau der Habilitationsschrift vgl. Exposé, I, 950-952; Dispositionen und Aufrisse I, 875, 881f.; zu dem des Trauerspielbuches S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 476f. 481f., 493. 15 Vgl. I, 924; die Vorredenfassung des sog. »Trauerspielbuch-Ms.« I, 925948. 16 Zur grafischen Anordnung der Handschrift vgl. Malte Kleinwort: »Zur Rettung der Ideen in Benjamins Trauerspielbuch«, in: M. Bergengruen/D. Giuriato/S. Zanetti (Hg.), Gestirn und Literatur im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2006, S. 120-132, hier S. 128f.; zu den Mss. Benjamins und Konsequenzen für eine künftige Edition vgl. Davide Giurato: »Folded Manuscripts: Walter Benjamin’s Marginal Writing«, in: D. van Hulle/W. van Mierlo (Hg.), Reading Notes, Amsterdam, New York 2004, S. 195-206, hier S. 197-203; ders.: Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens, München 2006. 17 Es gibt, versteht sich, sehr gute Lektüren der Vorrede, z.B. Winfried Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt/M. 1980; S. Weber: »Genealogy of Modernity«; Rainer Nägele: Theater, Theory, Speculation. Walter Benjamin and the Scenes of Modernity, Baltimore 1991; ders.: »Das Beben des Barock in der Moderne. Walter Benjamins Monadologie«, in: MLN 106/3 (1991), S. 501-527. 11

TRAUERSPIEL-BUCH

min’schen Trauerspielbuches als barock-philologisch unbrauchbares. Wenn Garber das Trauerspielbuch 1987 als das »bedeutendste Werk, das die internationale Barockforschung bis heute hervorgebracht hat«, kennzeichnet,18 so enthält das noch immer ein erhebliches Provokationspotenzial. In »Sachen der Rezeption des Trauerspielbuches« war ein »nur allzu offensichtlich zutage liegendes Dilemma« zu diagnostizieren, das »zu überwinden« bleibt. Denn war einerseits in »der Benjamin-Forschung ein bisweilen eklatanter Mangel an Kenntnis der Literatur des 17. Jahrhunderts und der Barockforschung zu beklagen, so steht dem anderseits ein nicht weniger beklagenswertes Desinteresse an Benjamin und der seinem Werk geltenden Forschung dort entgegen, wo sich die Barockforschung ihrerseits auf das Trauerspielbuch einläßt«.19 Felder der – solchermaßen verfehlten – Auseinandersetzung boten vor allem Themen wie die Funktion des Fürsten, Geschichtstheologie oder Säkularisation und Allegorie oder Emblem.20 Zwar kann »diese Zustandsbeschreibung« inzwischen ›revidiert‹ werden, so U. Steiner 1989 zu Recht,21 die Stelle des, so K. Garber, »überfälligen Brückenschlags zwischen Barockphilologie und Benjamin«22 hat aber Schings noch einmal als die einer Kluft demarkiert, an »der auch die wohlmeinendsten Anstrengungen, Benjamin in die Barockforschung zu integrieren, ihre Grenze finden« müsse.23 Dieses Verdikt mit Vorschriftscharakter ist einerseits der Eingewöhntheit der Missverständnisse geschuldet,24 andererseits scheint an dieser Stelle ein beschränkter Begriff von (Barock-)Philologie und von Literatur-Geschichte befestigt werden zu sollen. 18 K. Garber: Rezeption und Rettung, S. 59. 19 U. Steiner: »Allegorie und Allergie«, S. 648-663, hier S. 652; vgl. K. Garber: Rezeption und Rettung, S. 67-81. 20 Genannt werden dafür u.a. H. Heckmann (1959), A. Henkel (1967), G. Kaiser (1968 u.ö.), W. Kayser (1932), H.J. Schings (1971), A. Schöne (1958; 1964/8; 1968), G. Spellerberg (1970), H. Steinhagen (1977), E.M. Szarota (1967), W. Vosskamp (1967). 21 Mit Verweis auf Garber, U. Steiner: »Allegorie und Allergie«, S. 652ff.. 22 K. Garber: Rezeption und Rettung, S. 1. 23 Hans-Jürgen Schings: »Walter Benjamin, das barocke Trauerspiel und die Barockforschung«, in: N. Honsza/H.-G. Roloff (Hg.), Daß eine Nation die andere verstehen möge, Amsterdam 1988, S. 662-676, hier S. 666f., 676. 24 Als Beleg für die perennierenden Missverständnisse, vgl. Peter-André Alt: »Benjamin und die Germanistik«, in: N. Oellers (Hg.), Das Selbstverständnis der Germanistik, Tübingen 1988, S. 133-146, etwa das vermeintliche »Ästhetischwerden« der Theorie Benjamins S. 143ff. 12

EINLEITUNG

Benjamins Abhandlung gehört in den Zusammenhang der in die zwanziger Jahre datierenden Konjunktur der deutschen Barockforschung. Deren ›heroische Phase‹ dokumentiert R. Alewyns Band Deutsche Barockforschung (1965), der als Dokumentation einer Epoche nicht die des Barock meint, sondern vielmehr die seiner Erforschung (bis 1933, nur ausnahmsweise bis 1936), die diesen nicht sowohl ›entdeckte‹ (239) als vielmehr konstituierte oder begründete.25 Die Situierung des Trauerspielbuchs in der zeitgenössischen Barockforschung wird durch Rezensionen, die ihm gewidmet waren,26 ebenso belegt, wie sie der von Benjamin zitierten Literatur27

25 Vgl. Richard Alewyn: »Vorwort«, in: ders. (Hg.), Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, Köln 1965, S. 9-12; Marcel Lepper: »Typologie, Stilpsychologie, Kunstwollen. Zur Erfindung des ›Barock‹ (1900–1933)«, in: Arcadia 42/1 (2006), S. 14-28, hier S. 15f.; Wilhelm Vosskamp: »Deutsche Barockforschung in den zwanziger und dreißiger Jahren«, in: K. Garber (Hg.), Europäische Barock-Rezeption, Wiesbaden 1991, Bd. 1, S. 683-703 (grundlegende Lit. S. 684, zum Bd. von R. Alewyn S. 686f., 698); vgl. W. Emrich: »Einleitung. Zur Geschichte der Barockforschung: Wandlungen der Wertungen«, in: ders., Deutsche Literatur der Barockzeit, S. 9-18. Die ›Gründung‹ erfolgt in Antithese zum dominanten Klassikparadigma (vgl. W. Vosskamp: »Deutsche Barockforschung in den zwanziger und dreißiger Jahren«, S. 690f.). Benjamins Trauerspielbuch nimmt Bezug auf Heinrich Wölfflin: Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien, München 1888, und Fritz Strich: »Der lyrische Stil des siebzehnten Jahrhunderts«, in: Abhandlungen zur deutschen Literaturgeschichte, hg. von E. Berend u.a., München 1916, S. 21-53; letzterer steht für die Übertragung aufs ›WortBarock‹, vgl. Wilfried Barner: »Einleitung« zu ders. (Hg.): Der literarische Barockbegriff, Darmstadt 1975, S. 4-7, S. 12; sowie in Europäische BarockRezeption (hg. von K. Garber): R. Rosenberg: »Über den Erfolg des Barockbegriffs in der Literaturgeschichte: Oskar Walzel und Fritz Strich«, S. 113127; H.-H. Müller: »Die Übertragung des Barockbegriffs von der Kunstwissenschaft auf die Literaturwissenschaft und ihre Konsequenzen bei Fritz Strich und Oskar Walzel«, S. 95-112; sowie die Beiträge von J. Fohrmann, M. Nutz, u.a.. 26 Vgl. Willy Haas: »Zwei Zeitdokumente wider Willen«, in: Die Literarische Welt 16/4 (1928), S. 1-2; Günther Müller: »Neue Arbeiten zur deutschen Barockliteratur«, in: Zeitschrift für Deutsche Bildung 6 (1930), S. 325-333; zu weiteren Rez. von zeitgenössischen Barockforschern vgl. U. Steiner: »Allegorie und Allergie«, S. 647-652; K. Garber: »Nachspiele zum Trauerspielbuch«, S. 185. 27 Vgl. »Alphabetisches Verzeichnis« I, 964-978, ergänzende »Nachweise der Herausgeber« I, 978-981; zu den Gewährsleuten Benjamins vgl. K. Garber »Nachspiele zum Trauerspielbuch«, S. 187-190; dazu gehörte insb. Herbert Cysarz (u.a. Deutsche Barockdichtung. Renaissance, Barock, Rokoko, Leipzig 1924, vgl. I, 304, 363, 877f., 903; vgl. Anselm Haverkamp: »Latenz des Barock – der Riß im Bild der Geschichte«, in: V. Beyer/J. Voorhoeve/A. 13

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und den von ihm verfassten Rezensionen abzulesen ist.28 Benjamins Barockbuch steht derart im Kontext eines ›problematischen‹ Stücks Germanistikgeschichte und ist auf die Geschichte der Germanistik zu beziehen.29 Der genannte Band R. Alewyns, der selbst hochsignifikant noch für die deutsche Nachkriegs-Germanistik ist,30 lässt

Haverkamp (Hg.), Das Bild ist der König. Repräsentation nach Louis Marin, München 2006, S. 205-214, hier S. 208). 28 Rez. von »Paul Hankamer: Die Sprache, ihr Begriff und ihre Deutung im 16. und 17. Jahrhundert, Bonn 1927«, III, 59-64; »Porträt eines Barockpoeten« [Rez. von Friedrich Gundolf: Andreas Gryphius, Heidelberg 1927], III, 8688; »Hans Heckel: Geschichte der deutschen Literatur in Schlesien. Bd. 1, Breslau 1929«, III, 191-193; »Günther Voigt: Die humoristische Figur bei Jean Paul, Halle/Saale 1934«, III, 421-423; vgl. K. Garber: »Nachspiele zum Trauerspielbuch«. Ebenfalls in den Kontext der ›Barock‹-Rezeption gehört H. v. Hofmannsthals Der Turm, den Benjamin rezensierte (III, 29-33, 98101); vgl. M. Twellmann: Das Drama der Souveränität, S. 25-33. 29 Von einem »widersprüchlichen und beunruhigenden« »›Erbe‹« insb. der 30er und 40er Jahre spricht W. Vosskamp (»Deutsche Barockforschung«, S. 703, 697, mit Lit.hinweisen S. 698f.). Die Typologien (nach Wölfflin durch Worringer, Strich, Walzel, die Benjamin gelesen hat oder zitiert) des Barocken, der Gotik, u.ä. in Antithese zur Klassik werden nicht zuletzt ausgebildet im Namen des ›germanischen Geistes‹, des ›gotischen Typus des Deutschen‹ (vgl. ebd., S. 692), so Gundolf, Cysarz, G. Müller, Flemming, Nadler (ebd., S. 694, 701f.; M. Lepper: »Typologie, Stilpsychologie, Kunstwollen«, S. 18-24, 20f.); d.i. die Substanzialisierung von Wölfflins ›formalistischem‹ Barock-Begriff, vgl. R. Rosenberg: »Über den Erfolg des Barockbegriffs«, S. 119-125). 30 – Zumal wegen der für diese untypischen Biografie von R. Alewyn, der 1933 aufgrund der nationalsozialistischen Rassegesetze entlassen wurde, über viele Stationen ins Exil ging, bis er 1939 in den USA eine Professur an einem College erhielt, 1948 zunächst als Gast nach Deutschland, ab 1949 an die Univ. Köln (seit 1959 Univ. Bonn) zurückkehrte (vgl. Klaus Garber: »Richard Alewyn (1902-1979)«, in: C. König/H.-H. Müller/W. Röcke (Hg.), Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, Berlin u.a. 2000, S. 211-220; Regine Weber: »Alewyn als Briefschreiber. Eine Lesung ausgewählter Stücke«, in: K. Garber/U. Széll (Hg.): Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext, München 2005, S. 265-284.). Im von Alewyn hgg. Bd. Deutsche Barockforschung steht u.a. Nadler neben Viëtor, Benjamin und Alewyn, in keinem Fall gibt es biografische Informationen. Alewyns eigenes Buch über das barocke Fest, Teile einer vor dem Exil begonnenen Kulturgeschichte des Barock, erschien als Zusammenstellung von überarbeiteten Einzelveröffentlichungen erst 1959 als Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste (2. erw. posthume Aufl. München 1985, Nachdr. 1989); zum Einschnitt der Emigration vgl. K. Garber: Zum Bilde Richard Alewyns, München 2005, S. 19-35, insb. S. 37ff., 81-85). 14

EINLEITUNG

Benjamins Abhandlung in Teilen in diesem Zusammenhang auftreten.31 Wesentliche Koordinaten des Trauerspielbuchs stellen dessen Auseinandersetzung mit der Tragödientheorie Nietzsches und den ihm zeitgenössischen Tragödien-Konzepten von Georg (von) Lukács (1911) und Franz Rosenzweig (1921),32 seine Anschlüsse an Carl Schmitts Souveränitätskonzept,33 an die moderne Kunstwissenschaft (A. Riegl, H. Wölfflin), sowie in Sache und Begriff des Fortlebens und (damit) der Melancholie auch an die Warburg-Schule.34 Es handelt sich um Bezugnahmen jeweils unterschiedlicher Tragweite, die bereits bemerkt und behandelt worden sind. Es ist geläufig, dass an Benjamins »neuer Tragödientheorie«, die er mit seiner neuen Profilierung des Wortes »Trauerspiel« ankündigte, vor allem Überlegungen von Florens Christian Rang entscheidenden Anteil hatten,35 die die Tragödie in den Kontext neuer kulturanthropologischer Konzepte stellen. Bemerkenswert ist, dass Benjamins Trauerspielbuch gleichzeitig mit seiner Einbahnstrasse (gleichfalls bei E. 31 Aufgenommen sind (S. 395-413) Abschnitte aus Benjamins Trauerspielbuch zu »Allegorie und Emblem« (EA 1928: S. 189-200, 215-222, 233-236); zu Benjamin – Alewyn vgl. I, 953; K. Garber: »Nachspiele zum Trauerspielbuch«, S. 188ff., 228f.; U. Steiner: »Allegorie und Allergie«, S. 648-651. 32 Vgl. Dokumente, I, 883; Marc Sagnol: Tragique et tristesse. Walter Benjamin, archéologue de la modernité, Paris 2003; Jürgen Thaler: Dramatische Seelen. Tragödientheorien im frühen zwanzigsten Jahrhundert, Bielefeld 2003. 33 Vgl. die brieflichen Bezugnahmen, die Dedikation an C. Schmitt (I, 886f.; Brief Dez. 1930, GB III, S. 558); Samuel Weber: »Taking Exception to Decision – Walter Benjamin and Carl Schmitt«, in: diacritics 22 (1992), S. 518, hier S. 5f.. Benjamins »Lebenslauf III« (1928) macht Schmitts Bedeutung fürs Trauerspielbuch explizit (VI, 217). Giorgio Agamben nimmt eine Umkehrung vor, liest »Schmitts Theorie der Souveränität als Antwort auf Benjamins Kritik der Gewalt« (Ausnahmezustand. (Homo sacer II.1), Frankfurt/M. 2004, S. 64-67, S. 69; vgl. unten in II.). 34 Vgl. Beatrice Hanssen: »Portrait of Melancholy (Benjamin, Warburg, Panofsky)«, in: G. Richter (Hg.), Benjamin’s Ghosts, S. 169-188, hier S. 176185, 172f.; Howard Caygill: »Walter Benjamin’s concept of cultural history«, in: D. S. Ferris (Hg.): The Cambridge Companion to Walter Benjamin, S. 73-96. 35 I, 883, 916; vgl. Dokumente, I, 887-895; 979; zuständig war Rang Benjamin auch in Sachen Protestantismus, vgl. U. Steiner: »Allegorie und Allergie«, S. 694f., 697; ders.: »Traurige Spiele – Spiel vor Traurigen. Zu Walter Benjamins Theorie des barocken Trauerspiels«, in: W. van Reijen (Hg.), Allegorie und Melancholie, Frankfurt/M. 1992, S. 32-63, hier S. 33, 45-47, 55; Norbert Bolz: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989; Samuel Weber: Theatricality as Medium, New York 2004, S. 163-175. 15

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Rowohlt) erschien36 und in die Periode der Arbeit am Trauerspielbuch der Beginn seiner Beschäftigung mit dem Marxismus datiert.37 Entgegen den germanistischen Gepflogenheiten prägt Benjamins Trauerspielbuch die Signatur der Zeit, des Barock, als eines in sich widerstreitenden Zeitalters aus. Gerade indem die »gesammelte Kraft der Epoche« sich »auf eine gänzliche Umwälzung des Lebensgehaltes unter orthodoxer Wahrung der kirchlichen Formen« verlegte, gewinne, so Benjamin, eine »der im tiefsten zerrissenen und zwiespältigen Zeiten« Ausdruck (258); denn es »verloren […] nirgends die religiösen Anliegen ihr Gewicht: nur die religiöse Lösung war es, die das Jahrhundert ihnen versagte, um an deren Stelle eine weltliche ihnen abzufordern oder aufzuzwingen« (258).38 Im Horizont von Benjamins Darstellung des deutschen Trauerspiels, die sich nicht der Beschränktheit der germanistischen Perspektive fügt, stehen bestimmend Shakespeare und Calderón. Wenn am Rande des Trauerspielbuchs Leibniz und Pascal auftreten, so macht es das Barock als nach-cartesianisch in dem Sinne kenntlich, dass die Irritationen der Descartes’schen Skepsis vorausgesetzt sind.39 Die ›modernen Tragödien‹, als die die Shakespeares aufzufassen sind, sind S. Cavell zufolge überhaupt solche des Skeptizismus, wie dieser umgekehrt durch die Analogie zum Theater-Zuschauer aufzufassen ist.40 Wenn Benjamin nebenbei, aber für die 36 Auf der Rückseite des Schutzumschlages (der EA) von Ursprung des deutschen Trauerspiels wurde sie als »Sammlung philosophischer Vexierbilder aus dem Straßenleben der Großstadt« avisiert; S. Kracauer legte in Frankfurter Zeitung am 15. Juli 1928 die Doppelrezension vor: »Zu den Schriften Walter Benjamins« (ders., Schriften, hg. von I. Mülder-Bach, Bd. 5.2, S. 119-124). 37 Vgl. R. Nägele: »Body politics«, S. 154f., u.v.a.. 38 Vgl. I, 254f., 258-260; d.i. das »geschichtlich Neue« (K. Garber: Rezeption und Rettung, S. 104f.). 39 Hinsichtlich Descartes’ für das Barock vgl. u.a. Sebastian Neumeister: »Der Beitrag der Romanistik zur Barockdiskussion«, in: K. Garber (Hg.), Europäische Barock-Rezeption, Bd. 1, S. 841-856, hier S. 851; vgl. H. Cysarz, Deutsche Barockdichtung, S. 32 (sowie ders. »Vom Geist des deutschen Literaturbarocks«, in: R. Alewyn (Hg.), Deutsche Barockforschung, S.17-39, hier S. 31, 33). 40 Stanley Cavell: Disowning Knowledge. In Seven Plays of Shakespeare, Cambridge 2003, mit Descartes-Bezug S. 35f. 94, 187; für die Akzentuierung des theatralen Zuschauens vgl. Christoph Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt/M. 2005, S. 161-188; ders.: »Tragödie und Skeptizismus. Zu ›Hamlet‹«, in: DVjs 75 (2001), S. 561-586; die der Bühne vgl. Anselm Haverkamp: »Die allegorische Bühne der Skepsis. Ein Kommentar zu Stanley Cavells Theater der Philosophie«, in: Theaterschrift 11 (1997), S. 166-170. 16

EINLEITUNG

»im Schauplatz säkularisiert[e]« Geschichte, die das Trauerspiel ist, auch Leibniz’ »Infinitesimalmethode« die Analogie bietet,41 so rückt ins Bezugsfeld von Benjamins ›Barock‹-Buch das Deleuze’sche, das seinen nicht nur epochalen ›Barock‹-Begriff anhand von Leibniz42 und im Modell der Verviel-Fältigung entwickelt. Das Falten-Bilden macht demnach nicht nur, im Sinne Wölfflins (1888), die Unmäßigkeit des Barock-Stils, seiner haltlos überquellenden Bildungen aus,43 sondern ist, so Deleuze, vielmehr die »operative Funktion« des Barock, der die Faltungen »ins Unendliche« treibe.44 An Pascal wiederum hält sich Benjamin im Detail seiner Ausprägung des Herrschers als des melancholischen Betrachters.45 Dem Pascal-Bezug könnte zwar auch hinsichtlich Lucien Goldmanns Le Dieu caché (1959) nachgegangen werden, der in einer Konfigurati41 »Infinitesimalmethode« kann sich auf Descartes und Leibniz oder Newton beziehen: Wenn es darauf ankommt, dass »der zeitliche Bewegungsvorgang in einem Raumbild eingefangen und analysiert« wurde (I, 271), so suchte allerdings Descartes das Infinitesimalkalkül zur Lösung von geometrischen Problemen mit arithmetischen Operationen, woran Leibniz anschloß, während die Betrachtung der Kurve als Bewegungsfigur eher von seiten des konkurrierenden Newton käme. 42 Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt/M. 1995 (Orig. Le pli: Leibniz et le Baroque, 1988); »Leibniz mit der Monadologie« figuriert in Benjamins »Erkenntniskritischen Vorrede« (I, 212); vgl. den Anschluss von Erich Kleinschmidt: »Faltungen. Monadische Konstruktivität und barocke Ausdruckskultur«, in: Arcadia 41/1 (2006), S. 1-13. 43 Er »vervielfacht die Glieder« (H. Wölfflin: Renaissance und Barock, S. 64f., vgl., S. 40-43); er ist maßlos im »nicht endende[n] Verschieben des Umrisses« durch die »autonomen, immer vervielfältigbaren Falten« (G. Deleuze: Die Falte, S. 61, 197, 66f.). Die Gewandfigur, die »in der brüchigen Draperie« besser die »optische Auffassung« befriedigt, macht Alois Riegl für die spätrömische ›unklassische‹ Kunst signifikant (Spätrömische Kunstindustrie (1901), Wien 21927, S. 126ff.); auf Riegl bezieht Benjamin sich I, 277, sowie in methodischer Hinsicht: »Vorrede«, I, 235; »Lebenslauf III« (1928), VI, 219; Dokumentation, I, 975; »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (Dritte Fassung), I, 478. 44 G. Deleuze: Die Falte, S. 11 (Hvhg. BM); das »formale Element der Falte« »kann nur mit dem Unendlichen erscheinen, im Unmeßbaren und der Maßlosigkeit« »der barocken Falte«: sie ist »operative Tat« (ebd., S. 67S. 54; vgl. S. 60f.); im »operativen Verhältnis zum Barock« sei der »Begriff des Manierismus« einzuführen (ebd., S. 65). Mit Falten und Entfalten geben sich Benjamins Texte als Texturen oder Fächer ein operatives Modell (vgl. z.B. »Berliner Chronik«, VI, 467f., »Franz Kafka«, II, 420); vgl. Nikolaus Müller-Schöll: Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller, Basel, Frankfurt/M. 2002, S. 77ff.; zur Poetologie des Schreibens vgl. D. Giurato: Mikrographien (insb. Teil II). 45 Vgl. I, 321f. u. in »Der Erzähler«, II, 454. 17

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on der Theaterstücke Racines und der Schriften Pascals einen Begriff des ›Tragischen‹ als la vision tragique, ›tragische Auffassung‹ in Vorschlag bringt,46 der aber wäre genau zu unterscheiden von Benjamins streng der antiken Tragödie vorbehaltenen Begriff. Im Folgenden wird vor allem Pascals Konzept der Verborgenheit im Zeichen berücksichtigt, wie Louis Marin es in seiner mit der Foucaults konkurrierenden Lesart der jansenistischen Logique von Port Royal, dem Paradigma für die Episteme des ›klassischen‹ Zeichens, ausgeprägt hat.47 Denn der heterogene Umbruch, als der die vermeintliche Epoche des Barock bei Benjamin kenntlich wird, wird ausgetragen durch die Allegorie; das ist die starke These des Trauerspielbuches.48 Dem Umbruch und der inneren Spannung, die Benjamin als die ›Zerrissenheit‹ und ›Zwiespältigkeit‹ ›des Barock‹ mit der allegorischen Verfasstheit des barocken Trauerspiels ausprägt, wird in der älteren Germanistik meist nur als je schon oder noch theologisch integrierter Rechnung getragen (oder aber sie kommt umgekehrt als Perspektive der ›Moderne‹ in den Blick). Mit der Allegorie wird von Repräsentation und Entzweiung gehandelt, ist die Verschiedenheit 46 Lucien Goldmanns ›tragische Weltauffassung‹ des Jansenismus (Der verborgene Gott, Neuwied u.a. 1973) bedürfte der separaten Untersuchung, zumal ein älteres Vorhaben Benjamins der franz. tragédie classique galt; vgl. M. Sagnol: Tragique et tristesse, S. 177-180. 47 Louis Marin: La critique du discours. Sur la ›Logique de Port-Royal‹ et les ›Pensées‹ de Pascal, Paris 1975; Rüdiger Campe kennzeichnet als Übersetzer von Paul de Mans »Pascal’s Allegory of Persuasion« (dtsch. »Pascals Allegorie der Überzeugung«, in: A. Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher, Frankfurt/M. 1998, S. 76-104) dessen Vorbehalt: »Was hier in Ermangelung eines besseren Ausdrucks Riß oder Disjunktion genannt wird, sollte man nicht als eine wie immer tragische Negation denken« (ebd., S. 90), als Vorbehalt gegen Goldmanns Begriff. Marins Lektüre zeigt, dass die Pensées »die Begründungsakte des logischen-linguistischen ›Diskurses‹« der ›jansenistischen‹ Logique de Port-Royal ausstellen (A.d. Ü., ebd., S. 90f.). Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1974 (Orig. Les mots et les choses, Paris 1966); zu dessen Relevanz fürs Barock, vgl. S. Neumeister: »Der Beitrag der Romanistik zur Barockdiskussion«, S. 851ff., u.a. (vgl. weiter unten in IV. Allegorie). 48 Dafür würde im Englischen Milton den Beleg abgeben, vgl. Anselm Haverkamp: »Milton’s Counterplot. Dekonstruktion und Trauerarbeit 1637: ›Lycidas‹«, in: DVjs 63 (1989), S. 608-627; ders.: »All Passion spent: The End. Samson Agonistes oder: das Ende der Gerechtigkeit«, in: K. Stierle/R. Warning (Hg.), Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996, S. 267-282; vgl. Catherine Gimelli Martin: The Ruins of Allegory. Paradise Lost and the Metamorphosis of Epic Convention, Durham NC 1998, S. 21, (mit Bezug auf Benjamin) S. 2ff., 13f., 325, zur Skepsis, in Parallele zu Pascal, S. 3-6, 14ff., 21, 24-29, 36, 83ff. 94f., 106-112, 323-326. 18

EINLEITUNG

der Dinge von sich selbst markiert und vorgetragen, wird die Äußerlichkeit der ›Repräsentation‹ festgehalten und selbst zur Schau gestellt. Das ist zum einen eine These übers Barock – so banal das zu sein scheint: diese Feststellung würde fast die gesamte germanistische Barock-Sekundärliteratur entschieden bestreiten, darin liegt offenbar ein insistentes Potenzial zur Herausforderung der germanistischen Barock-›Philologie‹, wie die Reaktion(en) fortdauernd zeigen. Zum anderen ist die Allegorie eine Figur des Lesens, eine Selbstthematisierung der Sprache und der Darstellung. Ist das Trauerspielbuch als materiale Untersuchung des barocken Trauerspiels zu lesen, so nicht nur um ›Benjamins Barockforschung‹ (Garber) in den Blick zu bekommen, sondern umgekehrt auch die ›Moderne‹, die im Barock sich abzeichnet und die im Trauerspiel sich abzeichnet.49 Die nachträgliche Perspektive, die Benjamins Darstellung für die Lektüre ausweist, zeichnet das barocke Trauerspiel als allegorische Schaustellung aus; es wird derart als vorgreifende Kritik an der deutschen Klassik lesbar, behauptet sich neben der Romantik und gibt in seiner Exteriorität die theatrale Exposition ihrer Verfasstheit und deren Medium zu erkennen. Derart tritt das barocke Trauerspiel in Kontakt mit Formen oder Vorschlägen des jüngsten Theaters, in denen es sich theatral – post-dramatisch, wie man zu sagen sich angewöhnt hat – zu seiner Theatralität verhält. In ihrer Perspektive der Nachträglichkeit kommt die Lektüre des Trauerspielbuchs dem der »Vorrede« abzugewinnenden Konzept der Geschichte nach, die nicht in linearer Entwicklung vorgefunden, sondern in den, in ihren »Extremen« abzuschreitenden (226f.), Konstellationen der »Vor- und Nachgeschichte« abzulesen ist.50 Zu die49 Vgl. S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 476; R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 1; ders.: »Das Beben des Barock in der Moderne«; zuvor bereits: Christine Buci-Glucksmann: Walter Benjamin und die Utopie des Weiblichen, Hamburg 1984, S. 66 (d.i. die umgestellte dtsche Fass. von dies.: La Raison baroque, 1984). 50 Die Darstellung ›entspricht‹ ihrem ›Gegenstand‹, indem sie ihn zur »Konstellation« seiner in Begriffen zerlegten »Phänomene« ausprägt (»Vorrede« I, 227, 214-228). In der Passagen-Arbeit akzentuiert Benjamin: »Die Vorund Nachgeschichte eines historischen Tatbestandes erscheinen kraft seiner dialektischen Darstellung an ihm selbst. Mehr: jeder dialektisch dargestellte historische Sachverhalt polarisiert sich und wird zu einem Kraftfeld, in dem die Auseinandersetzung zwischen seiner Vorgeschichte und Nachgeschichte sich abspielt. Er wird es, indem die Aktualität in ihn hineinwirkt.« (V, 587; vgl. V, 594); bzw.: Die »Werke integrieren […] eine Nachgeschichte, kraft deren auch ihre Vorgeschichte als im ständigen Wandel begriffen erkennbar 19

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ser Konstellation seiner »Vor- und Nachgeschichte«, in der das barocke Trauerspiel dargestellt wird, treten zusammen: das mittelalterliche Passions- und Mysterienspiel, das ›romantische‹ Schicksalsdrama, Shakespeares und Calderóns Schauspiele, auch das »apokryphe Nachleben des Trauerspiels«, das »in den klassizistischen Versuchen des historischen Dramas« sich verrate (301f.),51 sowie das Brechtsche Theater, das Benjamin explizit in diese ›Vor- und Nachgeschichte‹ des theatralen Verhaltens zum Theater einstellen wird.52 Das Trauerspiel, das zu zeigen unternimmt Benjamin bis zum Ende seines Buches, ist als »Form«, deren »Idee« zu denken, Benjamin sich vorgenommen hat (237, 409), nicht in sich abgeschlossen; sie schließt sich nicht in sich, mit sich selbst zusammen, sondern stellt sich vielmehr allein in einer Konstellation der Extreme, von denen her allein sie aufzufassen ist, dar. Die vier Themenstellungen, 1. Trauerspiel und Tragödie, 2. Souverän: Tyrann und Märtyrer, 3. Melancholie und 4. Allegorie, schlagen verschiedene Ein- oder Zugänge53 zum Trauerspielbuch vor und gehen diesen jeweils ein Stück weit nach. Mit ihnen soll und kann der konstellativen Verfasstheit des Trauerspielbuchs als nicht hierarchisierter Anordnung aus Teilstücken selbst entsprochen werden, die in dessen EA bereits auf seinem Schutzumschlag in der Zusammenstellung »Aus dem Inhalt« kenntlich54 und auf seinen Seiten typografisch organisiert und ausgewiesen ist.55 So ist etwa der Souverän, der die paradigmatische politisch-theologische Figur des Zeitalters und seiner Zwiespältigkeit stellt, unablösbar vom Theatralen. Er repräsentiert die Repräsentation der Geschichte.

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wird« (»Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker«, II, 465-505, hier 467). Vgl. I, 255f., 262, 299-307, Dokumentation I, 916; Bettine Menke: »Wozu Schiller den Chor gebraucht …«, in: dies./C. Menke (Hg.), Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, Berlin 2007, S. 72-100; dies.: »Reflexion des TrauerSpiels. Pedro Calderón de la Barcas El mayor mónstruo, los celos nach Walter Benjamin«, in: E. Horn/dies./C. Menke (Hg.): Literatur als Philosophie. Philosophie als Literatur, München 2005, S. 253–280. »Was ist das epische Theater« (1 u. 2), II, S. 523f., 533f. Diese Redeweise partizipiert an dem vielfach von Benjamin verwendeten Modell des Labyrinths und seiner Eingänge (»Berliner Chronik«, VI, 491f.; vgl. VI, 804f.). Vgl. Abb. 1 (s.u. S. 25), mit freundlicher Genehmigung der AdK, Berlin, Walter Benjamin Archiv, WBA 237. © Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur /Suhrkamp Verlag . Das im Trauerspielbuch geübte Absetzen gibt die unzureichende englische Übersetzung The Origin of German Tragic Drama verloren, vgl. M. Rrenban: Wild, Unforgettable Philosophy, S. 113f. 20

EINLEITUNG

Zugleich erschließt er sich in seinen polaren Ausprägungen Märtyrer und Tyrann als das Gegenstück zum/statt des tragischen Helden, dessen Tod die Tragödie bestimmte. Dem melancholischen Blick entspricht jene ›Welt‹, die im Trauerspiel nicht bloß re-präsentiert, als vielmehr in ihm exponiert, ja vorgefunden wird. Die Theatralität des Trauerspiels wie der Politik gehört als »Ostentation« der Melancholie selbst an. Und ostentativ ist auch die »Faktur« der Allegorie. Melancholisch zeigt sich die barocke Allegorie mit der Vergeblichkeit ihres Bedeutens, während sie umgekehrt das Schema der melancholischen Vertiefung stellt. Das Trauerspiel stellt Benjamin nicht nur als allegorisch verfasst dar, sondern es ist selbst die allegorische Lektüre der Tragödie. Es habe seine »Gesetze« an der »Trauer«, deren »Theorie« zu entwickeln sei, die in der Allegorie »Sprachform« gewinnt (318).56 Die Darstellung des Trauerspiels nimmt jeweilige Rahmungen vor; indem das Trauerspiel in diesen Rahmen zur Ausstellung gebracht wird, verhält die Darstellung sich zugleich zu sich selbst. Die so lange vorrangig behandelte »Erkenntniskritische Vorrede« stelle ich zurück, nicht bloß weil es mir wenig attraktiv erscheint, erneut mit der »Vorrede« in Verhandlungen um die Namenstheorie der Sprache, die frühe Sprachphilosophie überhaupt, deren ›eigentlich‹ mystische Grundierung und/oder ihre philosophisch platonische Verkleidung o.ä. zu treten.57 – Und nicht nur, weil Darstellung und Konstellation sich angemessen nur im Querbezug durch Benjamins Schriften hindurch in Konstellationen ausprägen lassen, denen neben den frühen sprachphilosophischen vor allem die späte Passagenarbeit in ihren erkenntnistheoretischen Ausführungen angehört.58 Wenn die Zurückstellung der »Vorrede« vor allem eine durch die genannten vier Gesichtspunkte vorgeschlagene und angeleitete ›Arbeit mit dem Trauerspielbuch‹ ermöglichen 56 Vgl. Dokumente, I, 873; »Portrait eines Barockpoeten«, III, 87. 57 Dafür wären eine Vielzahl von Belegen anzuführen (vgl. Bettine Menke: Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Walter Benjamin, München 1991, S. 27ff.); einige neuere Beiträge argumentieren historisch, mit Bezug auf Florens Christian Rang oder die Neukantianer, v.a. Hermann Cohen, vgl. M. Kleinwort: »Zur Rettung der Ideen in Benjamins Trauerspielbuch«, S. 121f., 125f.; Uwe Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geist der Kunst. Untersuchungen zum Begriff der Kritik in den frühen Schriften Walter Benjamins, Würzburg 1989, S. 310-320. 58 Für die Konzepte Darstellung, Textur und Konstellation im Anschluss an die »Vorrede« vgl. B. Menke: Sprachfiguren, S. 239-281, hier S. 245ff., 262ff., 266ff., 270-274. 21

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soll, so will diese Umakzentuierung gegenüber der traditionellen Literatur in den hier vorliegenden Lektüren doch keineswegs auf die Abwendung von Theorie hinaus. Vielmehr will die Darstellung hier dem (u.a. in der »Vorrede« entworfenen) Konzept der Darstellung, die (sich von sich) absetzt59 und die Konstellationen erzeugt, entsprechen, und dieser mit der lese-praktischen Einsicht nachkommen, dass ein Text als seine nicht-lineare ›Geschichte‹ unauflösbar widerstreitender Lektüren in deren Konfiguration aufzufassen ist. So zu lesen, schließt – unter Verzicht auf die erneute Vorstellung der »Erkenntniskritischen Vorrede« selbst – Konzepte der »Vorrede« in »erkenntniskritischer« Hinsicht ein.60 Meine Zurücksetzung der »Erkenntniskritischen Vorrede« will daher vor allem der gängigen Aufteilung sich nicht fügen, derzufolge der Zugriff, der im Interesse an Benjamin-Philologie oder der Philosophie Benjamins vorrangig auf die »Vorrede« ging, der umgekehrten germanistischen Abwehr von Benjamins Trauerspielbuch als barock-philologisch unbrauchbares Buch entsprach. Die Eingewöhntheit der Missverständnisse wie der Grenzziehungen hat nicht zuletzt mit der erstaunlich selbstverständlichen nationalen Beschränkung der deutschen Barockforschung und deren institutionellen Befestigungen zu tun. Das Trauerspielbuch in seiner Relevanz für die Philologie der barocken Dichtungen wahrzunehmen, heißt, seine Herausforderung an die Philologie anzunehmen. Konsequenzen aus seinen Einsichten ins barocke Trauerspiel betreffen den linearen Geschichtsbegriff, der literaturgeschichtliche Arbeiten zu bestimmen pflegt, wie sie aus Benjamins Begriff der »Kritik« als »Mortifikation der Werke« (357) gezogen werden müssen, den die Germanistik (zuweilen) als Zumutung bemerkt, aber nicht zu verstehen vorgezogen hat. Die im Untertitel zum vorliegenden Buch zusammengestellten Begriffe beziehen die beiden miteinander zusammenhängenden Dimensionen, die Themen und die Konzepte der Darstellung mit ein. ›Meta‹-theoretische Konsequenzen entbindet das Trauerspielbuch aus der Exposition seines Gegenstandes selbst, und zwar vor allem insofern die ›barocken Werke‹ durch ihre allegorische Verfasstheit auf ihre »Kritik« bereits ›von Beginn an‹ angelegt seien (357f.). Mit den Exemplaren des barocken deutschen Trauerspiels als ›entlege59 Die Abhandlung steht mit jeder ihrer »Wendungen« stets erneut »vor der Frage der Darstellung« (I, 207). 60 Dies haben Lektüren der »Vorrede«, versteht sich, mitbedacht, z.B. S. Weber: »Genealogy of Modernity«; R. Nägele: Theater, Theory, Speculation. 22

EINLEITUNG

nen‹ Gegenständen macht Benjamin die Historizität der Gegenstände selbst – hier: nach deren ins 18. Jahrhundert datierenden Verwerfungen – zum Gegenstand. »Mehr und mehr wird für den späteren Kritiker die Deutung des Auffallenden und Befremdenden, des Sachgehalts, […] zur Vorbedingung«,61 denn ›im Verlauf der Dauer der Werke‹ stehen »die Realien dem Betrachter eines Werkes desto deutlicher vor Augen, je mehr sie in der Welt absterben«, treten diese also »mit der Dauer« aus dem Form-und-Sinn-Zusammenhang, der im »Werk« gegeben sein soll, heraus und zerfällen diesen. Kritik setzt das Fort-leben des Werks als dessen Auseinandertreten nach Form und Gehalt, damit dessen Abgestorbensein, voraus wie sie selbst dessen »Mortifikation« vollzieht (357). Der Benjamin’sche Begriff der »Kritik« bezeichnet die Nachträglichkeit, in der der Gegenstand der Darstellung erst gegeben ist. Insofern verhandelt das Trauerspielbuch die entscheidende Frage der »Vorrede« nach dem theoretischen, d.i. darstellenden Bezug auf die ›Phänomene‹, der nicht fetischistisch der vermeintlichen Gegebenheit der Gegenstände aufsitzt. »Ursprung«, der Begriff, den die Abhandlung als Themenstellung im Titel trägt, ist kein historischer, meint keineswegs »jedes frühe ›Faktum‹« (226), sondern zeigt als Sprung des Entdeckens (226f.) eher sich »im Singulärsten und Verschrobensten der Phänomene, in dem ohnmächtigsten und unbeholfensten Versuch sowohl wie in den überreifen Erscheinungen« (227). Der Begriff bindet Darstellung an eine ihrem ›Gegenstand‹ konstitutive Diskontinuität,62 so wie dieser nachträglich im ›Jetzt‹ (der Erkennbarkeit) einer (jeweiligen) Konstellation seiner »Vorund Nachgeschichte« (227), der »Konstellation« der begrifflich in ihren »Extremen« auseinandergetretenen ›Phänomene‹ (213ff.) gegeben sein wird. Wenn Darstellung die Gegebenheitsweise ihrer Gegenstände, die von ihr selbst unablösbar ist, im Medium ihrer selbst reflektieren muss, dann hat das Konsequenzen für ›literaturhistorische‹ und ›kulturwissenschaftliche‹ Untersuchungen, denen

61 Hier und das Folgende »Goethes Wahlverwandtschaften«, I, 125. 62 Zum »Ursprung«-Begriff, vgl. S. Weber »Genealogy of Modernity« und neuerdings dessen Benjamins -barkeiten; er entspricht als »kritisches Moment« dem explosiven der »Aktualität« (vgl. V, 587 u.ö.), interveniert ins Verhältnis von Faktizität und Theorie (vgl. Uwe Steiner: »›Zarte Empirie‹. Überlegungen zum Verhältnis von Urphänomen und Ursprung im Früh- und Spätwerk Walter Benjamins«, in: N. Bolz/R. Faber (Hg.), Antike und Moderne. Zu Walter Benjamins ›Passagen‹, Würzburg 1986, S. 20-40, hier S. 22-38). 23

TRAUERSPIEL-BUCH

die einen wie die anderen (so reaktionär die einen und so innovativ die anderen sich geben mögen) auszuweichen vorziehen. Benjamin nennt dies philosophische Erkenntnis; das ist nicht nur ein möglicher Vorhalt theoretischer ›Naivität‹ an die Kulturwissenschaft,63 sondern wäre als Reflexion auf einen Bezug auf die »Phänomene« eine Vorhaltung auch an die Philosophie. Der Einsatz des Trauerspielbuchs weist diesem die Ausrichtung »aufs Extreme« an, die Benjamin zufolge »in philosophischen Untersuchungen die Norm der Begriffsbildung gibt« (238f. Hvhg. BM)64 und »für eine Darstellung vom Ursprung des deutschen Barocktrauerspiels [...] [noch Spezifischeres] zu besagen« habe: »Die notwendige Richtung aufs Extreme […] weist […] die Forschung an, unbefangen die Breite des Stoffes ins Auge zu fassen. […] überall [wird sie] von der Annahme sich leiten lassen, was diffus und disparat erscheint in den adäquaten Begriffen als Elemente einer Synthesis gebunden zu finden. Sie wird in diesem Sinn die Zeugnisse geringerer Dichter, in deren Werken das Absonderlichste häufig ist, nicht leichter schätzen als die der größeren.« (238)

Wenn das »Leben« der »Form selbst«, so Benjamin, »nicht identisch [ist] mit dem von ihr bestimmter Werke«, vielmehr ihre »Ausprägung bisweilen umgekehrt proportional zu der Vollendung einer Dichtung« stehe (238), so wird das, was mit der Metapher der Verkörperung »unvergleichlich markant« »am schmächtigen Leib der dürftigen Dichtung, als ihr Skelett gewissermaßen« sich auspräge (238), in architekturaler Metaphorik an des Trauerspielbuchs Ende noch als »Bauplan« wie schon (anfangs) »in Trümmern« gedacht: als die Lesbarkeit des »Bauplans« in den Trümmern (der Form) und als die eines Plans, der ›von Anfang an‹ den Trümmern galt.

63 Insb. sucht Benjamin vermeintlich Stoffliches als »Gehalt« aufzufassen (vgl. z.B. I, 381); das geschieht »unterm allegorischen Aspekt« (I, 390). 64 Vgl. I, 213. Erkennbarkeit ist im Extrem gegeben (I, 212-218) – gegen das »Anliegen« der »Literaturgeschichte« geschichtlicher Einordnung und Normalisierung (I, 238; vgl. S. Weber: »Taking Exception to Decision«, S. 6f.; R. Nägele: »Body politics«, S. 152). Zu Gattungen und zum ›Exemplarischen‹, das in keinem Mittleren, sondern in Extremen, in »befangener Gestalt« (I, 227f.) aufzufinden sei, vgl. »Vorrede« I, 224, 214, (mit Bezug auf Benedetto Croce) 223, 227. 24

EINLEITUNG

Schutzumschlag der Erstauflage. AdK, Berlin, Walter Benjamin Archiv, WBA 237.

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I. T R A U E R S P I E L

UND

T R AG Ö D I E

War »Trauerspiel« ursprünglich das Wort, mit dem Opitz »Tragödie« doch nur übersetzt haben sollte, und meinte es, als es »in den 40er Jahren [des 17. Jahrhunderts] üblich« wurde, gar die »Nichtunterscheidung vom Begriff der antiken Tragödie«,1 so wird doch durch diese Wortprägung der Raum eröffnet, in dem erstmals die Dramentheorie der Romantiker dazu ansetzen wird, die ›Tragödie der Moderne‹ als ›romantisches Trauerspiel‹ begrifflich gegenüber der antiken Tragödie abzugrenzen. Gehört diese Differenzierung zuerst »den Autoren kurz vor 1800« zu, so habe aber, so stellt der einschlägige Lexikonartikel fest, erst Benjamin die begriffliche Profilierung von Trauerspiel gegenüber Tragödie geleistet.2 Benjamin kennzeichnet das Trauerspiel mit einer so beiläufigen wie bemerkenswerten Wendung aufs Wort:3 Die »neuere Tragödie«, »deren Deduktion aus der antiken […] versucht« wurde, »heißt, wie kaum bemerkt zu werden braucht, mit dem nichts weniger als bedeutungslosen Namen Trauerspiel« (292). Er liest den Namen und buchstabiert ihn in seinen wörtlichen Bestandteilen aus. Wenn Benjamin an diesen »traurigen Spielen« vor allem betont, dass sie »Spiele« »vor Traurigen« sind (298), so unterstreicht er damit das Grundmotiv auch der romantischen Unterscheidung. Denn dieses ist weniger die geschichtsphilosophische Entgegensetzung – von Antike und Moderne –, auch nicht im Sinne der typologischen Differenzierung von Theaterformen – wie etwa von solchen dem Mythos oder der Geschichte verpflichteten, denn vielmehr die reflexive Entbindung der Potenziale des theatralen Schauspiels, so dass dieses 1 2 3

Horst Günther: »Trauerspiel«, in: Reallexikon der Deutschen Literaturgeschichte, Berlin, New York 1984, Bd. IV, S. 546-562, hier S. 546. H. Günther: »Trauerspiel«, S. 546. Gemäß seiner Einsicht in jene »Einsicht«, die »jeweils ganz bestimmten Worten zustehe« (»Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, II, 140f.). Demgegenüber wird das Wort Trauerspiel wie die Relation zur Tragödie traditionell unterschätzt; vgl. etwa Wilfried Barner: »Gryphius und die Macht der Rede«, in: DVjs 42 (1968), S. 321-358, weitere Sekundärliteratur S. 356f. 27

TRAUERSPIEL-BUCH

aus seiner Subsumption unter die dramatische Handlung gelöst wird.4 Denn diesen »Spiel[en] vor Traurigen« eigne, so Benjamin, »eine gewisse Ostentation. Ihre Bilder sind gestellt, um gesehen zu werden, angeordnet, wie sie gesehen werden wollen« (298f.).5 Trauerspiele sind vor allem »Schaustellungen« (301), und dies, und damit das Spiel, das die theatrale Vorstellung ist, bestimmt des Trauerspiels Struktur. Es muss, so Benjamin, der es darin von der Tragödie unterscheidet, vom »Beschauer« (299) her gedacht werden. Daher ist die Einsicht ins Trauerspiel, Benjamin zufolge, der von seinem »Gesetz« spricht, an die »Theorie der Trauer« »als Pendant zu der der Tragödie« (318) gebunden. Mit seinem Zug zur »Ostentation« entspricht das theatrale Spiel, das Spiel in seiner Theatralität, seinen traurigen Zuschauern genau. Denn der Melancholische selbst ist als Betrachter bestimmt, unter dessen Blick die entwertete ›Welt‹ eine ›maskenhafte Neubelebung‹ erfahre, so dass sie als ein MaskenAufzug vor diesem sich abspiele (318f.). Benjamin führt das Trauerspiel in eine Auseinandersetzung mit der Tragödie, deren Theorie er in »durchgängige[r] Antithese zu seiner Bestimmung« des Trauerspiels mitschreibt.6 Aber es will im Trauerspielbuch, so unwiderruflich es das Nach der Tragödie akzentuiert, nicht auf beider historische Abfolge mit typologisierender Funktion hinaus. Vielmehr ist das Trauerspiel selbst eine Auffassung der Tragödie ›nach der Tragödie‹, und zwar nicht nur im Sinne des Selbst-Missverständises des barocken Trauerspiels, das seine Selbstkonzeption als Tragödie war, sondern als die Allegorie der Tragödie, die das Trauerspiel stellt. Das Trauerspiel ist demnach – so barock es ist – nicht nur eine historische Form des Theaters, sondern auch ein spezifisches Verhalten zum Theater, und zwar als theatrales Verhalten zur Theatralität des Schauspiels.7 Als ein solches wird es nachträglich, durch die Verwerfungen des barocken Trauerspiels im 18. Jahrhundert, kenntlich. Denn die nicht linear zu erzählende Geschichte des europäischen Theaters nimmt sich vielmehr 4

5 6 7

Für diese Perspektive vgl. B. Menke/C. Menke: »Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Drei Weisen des Theatralen«, Einleitung in dies.: (Hg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, S. 6-15. Vgl. Dokumentation, I, 879, 939. U. Steiner: »Allegorie und Allergie«, S. 658. Für diese Perspektive (auch im Folgenden), vgl. B. Menke/C. Menke »Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Drei Weisen des Theatralen«; das macht die Asymmetrie des Unterschiedes von Tragödie und Trauerspiel aus; vgl. N. Müller-Schöll: Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, S. 110f., M. Twellmann: Das Drama der Souveränität, S. 42. 28

TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE

aus als die in Konstellationen sich beobachtbar ausprägende unauflösbare Spannung von Drama und Theater. Die Infragestellung der aristotelischen Privilegierung des Dramas vor dem Theater, der Mimesis der Handlung, die die Tragödie sei, vor dem In-Szene-Setzen, der Inszenierung, dem Spiel der Schauspieler, die die Einheit der Handlung stören und bedrohen, und die deshalb ihrerseits begrenzt und kontrolliert werden müssen, kann in der deutschen Geschichte der Ästhetik darauf datiert werden, dass das barocke neue Trauerspiel ausdrücklich bezeichnet und der Tragödie entgegengesetzt wird. Das Trauerspiel, das sich theatral zu seiner Theatralität verhält, widerstreitet derart dem (Konzept des) Drama(s), das um dramatische Personen und deren Dialoge organisiert ist8 und das sich daher strukturell beschränkt gegenüber dem Theater, dessen Form es ist. Dem 18. Jahrhundert zeigte sich dieser Widerstreit dringlich am – jüngst vergangenen – barocken Theater,9 in dessen vehementer abwertender Abwehr das ›bürgerliche‹ Drama begründet wurde. Paradigmatisch für diese Abwehr und die radikalen Verkürzungen und Blindheiten, die sie ermöglichen und andauern lassen, kann die »Diskussion der Märtyrertragödie« seit Lessing einstehen (253).10 Die barocken Trauerspiele sind Schauspiele, die die theatrale Sichtbarkeit und deren Ausstellung nicht in dramatische Handlung oder durch deren personale Träger integrierten, sondern zum Strukturgesetz des Vorgeführten selbst machten, Schauspiele, die ihren dramatischen Gehalt, den dagegen Goethe selbst anlässlich der Werke 8

Vgl. I, 254; Peter Szondi: »Theorie des modernen Dramas (1880-1950)«, in: ders., Schriften I, Frankfurt/M. 1978, S. 11-148, hier S. 16-20; ders.: »Versuch über das Tragische«, in: Schriften I, S. 151-260. 9 Das Barock taugte etwa Gundolf, der wie der George-Kreis überhaupt die ›Theatermache‹ abwertet, »über die Erbfeindschaft zwischen Theater und Drama […] historische Belege« zu liefern (Maximilian Nutz: »Messianische Ortsbestimmung und normative Menschenkunde. Gundolf und die Barockliteratur«, in: K. Garber (Hg.), Europäische Barock-Rezeption, Bd. 1, S. 653673, hier S. 659). »Was sich bis heute oder gestern Theater genannt hat«, sei »noch ein Kind des Barock« (H. Cysarz: Deutsches Barock in der Lyrik, S. 98, 97-101). 10 »Alle Bedenken, die aus dem Aristoteles, aus der verpönten Scheußlichkeit der Fabel und nicht zuletzt aus sprachlichen Motiven gegen die Trauerspiele des Jahrhunderts gang und gäbe waren, verblassen vor der Süffisanz mit der seit hundertfünfzig Jahren die Autoren in dem Begriff der Märtyrertragödie sie verwerfen. […] Bedenkt man die Beharrlichkeit, mit der Literaturgeschichten seit jeher die kritische Erörterung der Werke an längst verflossene Kontroversen binden, so kann die Geltung Lessings nicht verwundern. Und eine psychologische Betrachtungsweise […] konnte da keine Korrektur vollziehen« (I, 253f.). 29

TRAUERSPIEL-BUCH

Shakespeares als poetischen, der inneren Einbildung vorbehalten wollte,11 daraus ziehen, dass das Theaterspielen und -sehen ihnen nicht nur äußerliches Gegenüber ist, sondern sie das theatrale Sehen selbst auf die Bühne bringen.12 Weil die barocken Trauerspiele sich zum Dispositiv des Theaters als der Anordnung, als Relation und Trennung von Zuschauer und Bühne als Schauplatz, auf dem das dramatische Geschehen sich als Spiel entfaltet, ins Verhältnis setzen, indem sie ihre Akte als Bestandstücke eines Spektakels exponieren,13 müssen diese, mit L. Abels Begriff, als »works of metatheatre« ausgezeichnet werden.14 Um Fälle von »Metatheatre« auszuweisen, zog Abel zuerst die Komödie in Betracht, und zwar weil »events in comedy are not irrevocable, as in tragedy.«15 Darin, in der Nicht-Unwiderruflichkeit ihrer Geschehnisse, ist die Komödie dem Trauerspiel, wie es Benjamin von der Endgültigkeit des Geschehens der Tragödie unterscheidet und auf diese bezieht, nahe. Benjamin zufolge vermögen die Shakespeare’schen Schauspiele mit ihren ›dämonischen Spaßmachern‹, die »Komik« ›ins Innere‹ der Trauerspiele einzuspielen (303f.). Und genau dadurch geben sie, so Benjamin, das Maß für die Form des Trauerspiels: »Das Trauerspiel erreicht ja seine Höhe nicht in den regelrechten Exemplaren [den Opitzschen Regularien 11 Goethe fasst die Fremdheit der Theatralität des Theaters aus der Perspektive des Dramas im zeitgemäßen Gegensatz von Poesie und Theater als Gegensatz von ›innerer Vorstellung‹, die durch die Einbildungskraft und »mit geschloßnen Augen« die Lektüre der Poesie bestimmt, und theatraler, äußerer Vorstellung, die der Logik des poetischen Werks als Kontingenz, Heteronomie, »Begrenzung« entgegentrete (J.W. von Goethe: »Shakespeare und kein Ende«, in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von E. Trunz u.a., München 1953, Bd. 12, S. 287-298, hier S. 289, 297). Wenn Goethe gerade an Shakespeare derart »poetisches« Drama und die Äußerlichkeiten des Theaters entgegensetzt, so tut er dies, um Shakespeare vor dem Theater für die Poesie zu retten (ebd., S. 296). 12 Vgl. nach Stanley Cavell: »Avoidance of Love« (in: ders., Disowning Knowledge, S. 39-125, hier S. 97) C. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 182. 13 Als die »bloße Schaustellung« (I, 301), als die es sich zeigt, bezieht es sich theatral auf »das Theater, dessen Namen bedeutet: in Sicht gebracht, spectaculum, Schau-Spiel*«. (Jean-Luc Nancy: »Theaterereignis«, in: Ereignis. Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld 2003, S. 323330, hier S. 325) 14 Lionel Abel: Metatheatre. A New View of Dramatic Form, New York 1963. Abel bezieht sich auf »Shakespeare and Calderón«, ebd. S. 59-72. 15 Ebd., S. 59. Abel zufolge ist metatheatre inkompatibel mit der Tragödie, fällt aber auch mit der Komödie nicht zusammen, sondern es vermag zuweilen »to […] instill a grave silence – a speculative sadness« (ebd., S. 59). 30

TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE

entsprechend], sondern dort, wo mit spielhaften Übergängen es das Lustspiel in sich anklingen macht« (306). Dieser ›innere‹ formbestimmende Be-Zug des Trauerspiels stellt sich an den Schauspielen Shakespeares und Calderóns dar. Das macht beider Stellenwert für Benjamins Trauerspielbuch aus. Die Rolle, die Shakespeare und Calderón fürs barocke Trauerspiel und die Anlage des Trauerspielbuchs spielen,16 verweist zurück auf die romantische Vorgeschichte der Unterscheidung von Tragödie und Trauerspiel.17 Um 1800 stellte die Relation von Tragödie und Trauerspiel das »Paradigma« für die »Selbstreflexion der Moderne im Spiegel der Antike«; für die moderne Form, die »aus eignen Ursprüngen, d.h. den mittelalterlichen Mysterienspielen« entstanden »in den Händen ihrer größten Meister, Shakespeare und Calderon« entwickelt wurde, wird der »Begriff der Tragödie« vermieden und durch »›romantisches Trauerspiel‹« ersetzt.18 Die für die romantischen Überlegungen und Formen paradigmatischen Figuren Calderón und Shakespeare übernimmt Benjamin in einer marginalen und dennoch gerade als solche modellierenden Funktion. Denn beider Schauspiele bezeichnen das Maß für das Trauerspiel bzw. dieses auf seiner »Höhe« (306), damit die »Grenznatur« (263) des Trauerspiels wie auch die Grenzen des deutschen Trauerspiels.19 Neben den Schauspielen Shakespeares sind es die Calderóns, die wie den Romantikern so auch dem Trauerspielbuch das Paradigma 16 Sie ist unverrechenbar auf »Historische Einflüsse«, vgl. I, 916; zu Shakespeare vgl. I, 334f., 306ff., 401f., zu. Calderón vgl. I, 260-263, 310f., 300, 368, 408; für den Aufriss des »deutschen Trauerspiels« I, 912, 915; vgl. U. Steiner: »Traurige Spiele – Spiel vor Traurigen«, S. 33-37; ders.: »Allegorie und Allergie«, S. 683-687. 17 Explizit I, 263; vgl. Benjamins Aufsatz von 1923 »›El mayor monstruo, los celos‹ von Calderon und ›Herodes und Mariamne‹ von Hebbel. Bemerkungen zum Problem des historischen Dramas« (posthum veröffentlicht), II, 246-276, hier 268, 261f. 18 Ernst Behler: »Die Theorie der Tragödie in der deutschen Frühromantik«, in: ders., Studien zur Romantik und idealistischen Philosophie, Paderborn u.a. 1988, Bd. 1, S. 196-207, hier S. 202; vgl. Gerhart Hoffmeister: »A. W. Schlegels Rezeption des europäischen Barockdramas«, in: K. Garber (Hg.), Europäische Barock-Rezeption, Bd. 1, S. 437-454; zu Calderón vgl. August Wilhelm Schlegel: »Über das spanische Theater«, in: Schauspiele von Pedro Calderon de la Barca, übers. von A.W. Schlegel, Bd.1, Leipzig 1845, S. VII-XXIV, insb. S. XVI ff., XXIII; zu Shakespeare ders.: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1809-1811), in: Kritische Schriften und Briefe, hg. von E. Lohner, Stuttgart u.a. 1962-74, Bd. VI, 25.-31. Vorlesung, S. 107-210; vgl. B. Menke: »Reflexion des Trauer-Spiels«, S. 254-256. 19 Vgl. I, 390; sowie 306f., 368, 408f., 238. 31

TRAUERSPIEL-BUCH

fürs Trauerspiel stellen,20 weil in ihnen Trauer und Spiel »aufeinander sich stimmen« (260),21 wie es den deutschen nicht möglich war. Das Spiel, das die barocken Trauerspiele als »berechnendes« und »zufälliges« als Teil und Grundzug der dramatischen Handlung vorstellen, ist mise en abyme des Spiels, das das Trauerspiel selbst ist. Es ist geläufig, dass an der Ausbildung des Tragödienkonzepts W. Benjamins F.C. Rang entscheidenden Anteil hatte.22 Rangs Historische Psychologie des Karnevals, dessen außerhalb der kalendarischen Ordnungen stehende Zeit auch die der Tragödie ist, eröffnet kulturtheoretische Perspektiven, in die George Bataille wie auch das Collège de Sociologie einrücken könnten; auch zu diesen sind die biografischen Bezüge Benjamins in den prekären Pariser Exiljahren 1933-1940 bekannt.23 Mit Bezug auf Bataille wäre, wie mit Antonin 20 Zur Bedeutung Calderóns für die Romantiker, vgl. II, 268, I, 263 (im Sinne der Reflexion), zu der Shakespeares auch II, 610f. (bez. der Unendlichen). Benjamin vermerkt, der »virtuelle Gegenstand der Abhandlung sei [überhaupt] Calderon« (I, 881). 21 Vgl. I, 260-263. 22 Dokumentiert ist der Austausch, die Benjamin zugedachten oder mit diesem gemeinsam verfassten Texte »Theater und Agon« und »Agon und Theater« in I, 883, 890-895, 956, 979; vgl. in Florens Christian Rang: Historische Psychologie des Karnevals (1909), Berlin 1983; zu Rang und dessen Bezugstexten: Nietzsche wie Frazer, vgl. Lorenz Jäger: »Über Florens Christian Rang«. Nachwort ebd., S. 59-68, hier S. 59f., 64-67. 23 Der Kontakt zu Georges Bataille ist örtlich, durch die Bibliothèque Nationale bestimmt, wo dieser als Bibliothekar tätig war und Benjamin an den Passagen arbeitete. Verbunden ist damit die Geschichte des Verbleibs der von Benjamin zum Zeitpunkt der Invasion der Nazitruppen in Frankreich vor seiner weiteren Flucht 1940 an Bataille übergebenen, in der Bibliothèque Nationale versteckten Manuskripte (vgl. in V, 1068; editorische Berichte zum Passagen-Werk V.2); die nach in Teilen nicht genau geklärter Überlieferung (1945–1986) wiederaufgefunden Materialien (zuletzt 1981 u. 1986 durch Giorgio Agamben) wurden in den Gesammelten Schriften, aber nur z.T., in Nachträgen und Nachtragsbänden nachgeliefert (vgl. die Auflistung der aufgefundenen Materialien VII, 526; VI, 631f. u. VI, 638; VII, 871f., 782); zu den Konsequenzen für die Edition vgl. Giorgio Agamben: »Un importante ritrovamento di manoscritti di Walter Benjamin«, in: Aut. Aut. 189/190 (1982), S. 4-6; M. Espagne/M. Werner: »Vom Passagen-Projekt zum ›Baudelaire‹. Neue Handschriften zum Spätwerk Walter Benjamins«, in: DVjS 58/4 (1984), S. 593-657; dies.: »Les manuscrits parisiens de Walter Benjamin et le Passagen-Werk«, in: H. Wismann (Hg.), Walter Benjamin et Paris, Paris 1986, S. 849-882). Benjamin nahm in Paris an Collège de Sociologie genannten Treffen teil (gegründet 1937 von G. Bataille, vgl. D. Hollier (Hg.): Le Collège de Sociologie 1937-1939, Paris 1995 (1979), S. 17-28; vgl. Pierre Missac: Walter Benjamins Passage, Frankfurt/M. 1991, S. 165); beteiligt waren u.a. Michel Leiris, Pierre Klossowski, der Benjamins »Reproduktionsaufsatz« ins Fran32

TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE

Artaud,24 ein a-dramatisches Theater als Vollzug in der Aufführung und Entäußerung zu denken, das die Darstellung auf ihre medialen Rahmenbedingungen als von dieser nicht-einschließbares Heterogenes verweist und das im ›Raume‹ des theatralen Geschehens die geschlossene Gestalt des Werks wie die des in psychologischer Begründung abgeschlossenen Leibes zerlegt – wie das Benjamin (nicht nur) in seinem Surrealismus-Essay für den Bild- als Leibraum ins Auge fasst. Ist das Theater ›nach‹ dem bürgerlichen Drama, das als Geschichte einer psychologisch zu erfassenden, innerlich sich entfaltenden Subjektivität sich seinerseits durch Verwerfung des barocken Trauerspiels begründete, zutreffend als »postdramatisches« zu bestimmen,25 so ist umgekehrt gerade auch die antike Tragödie nicht nach dem Modell des Dramas zu verstehen.26 So erscheint vielmehr das Drama als eine historisch spezifische, vor allem und zuvor aber als eine strukturell beschränkte Option des Theaters: Es ist durch einen anti-theatralen Zug bestimmt,27 und es beschränkt sich im Verhältnis zu seinem Medium, dem Theater. Das Trauerspiel zeich-

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26 27

zösische übersetzte, R. Caillois, dessen Arbeit zum ›Fest‹ Benjamin en passant nennt (vgl. Roger Caillois: »Théorie de la Fête (I) u. (II)«, in: NRF 53/2 (1939), S. 863-882, und NRF 54/1 (1940), S. 49-59; dass. in D. Hollier (Hg.): Le Collège de Sociologie, S. 640ff.). Auf Caillois’ Konzept des Festes kann F.C. Rangs »Karneval« bezogen werden (vgl. L. Jäger: »Über Florens Christian Rang«, S. 64f.; R. Caillois »Die Übertretung als Heiliges: Theorie des Festes«, in: ders., Der Mensch und das Heilige, München, Wien 1988, S. 125-166; dass. im Anhang zu Rang: Historische Psychologie des Karnevals, S. 71-73). Caillois’ »L’aridité« bespricht Benjamin aber sehr kritisch; dies ist Teil einer Auseinandersetzung 1938 in Zeitschrift für Sozialforschung (Th. W. Adorno: Rez. »La Mante Religieuse«, in: ZfS 7 (1938), S. 410f.; W. Benjamin: Rez. »L’aridité«, in: ZfS 7 (1938), S. 463f. (= III, 549); Raymond Aron: Rez. »Le mythe et l’homme«, in: ZfS 7 (1938), S. 412ff.); vgl. aber in Passagen-Werk, V, 850 (Z 2a,1). Vgl. R. Nägele: Theater, Theory, Speculation; ders. »Body politics«, S. 156173; S. Weber: Theatricality as Medium, S. 39, 179, 277-294: 292; HansThies Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 2-5. Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 1999; Einsatz ist das Theater B. Brechts, das gerade auch Benjamin Einsichten zum Theater ermöglichte, insofern es selbst dessen Parameter exploriert: die Unterbrechung im Auftritt, die Geste, die stillstellend herausgestellt wird, der Raum, der als begrenzter des theatralen Geschehens vorgestellt wird (»Was ist das epische Theater« (1 u. 2), II, 519-539, hier 521, 529). Vgl. H.-T. Lehmann: Theater und Mythos, S. 2f., 50ff. Vgl. Christopher J. Wild: Theater der Keuschheit. Keuschheit des Theaters: Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist, Freiburg/B. 2003. 33

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nete sich demgegenüber aus durch die »Äußerlichkeit« seiner Zeichen (315), durch seine Ausstellung als Spektakel, den Auftritt als Gestus des Zu-sehen-Gebens und die Exposition seines Schau-Platzes. Auf diesem Schauplatz ist das theatrale »acting« von »action« im Sinne der Handlung,28 d.i. von »any kind of psychological interiority«, gelöst.29 Dies trägt das von Benjamin namhaft gemachte Personal des Trauerspiels vor: der Souverän, sei er nun Tyrann oder Märtyrer, als Repräsentant der Geschichte, wie der Intrigant als »plotter« und Organisator des Agierens.30 »[D]as Trauerspiel [kennt] keinen Helden sondern nur Konstellationen« (310f.); sein Geschehen ist als Konfiguration, wie eine Choreographie, gebunden an den Schau-Platz. Das Drama dagegen untersteht mit seinem Konzept verkörpernder Darstellung, die, gemäß des Konzepts des psychologisch bestimmten Leibes, die Ausdrucksbeziehung einzuschließen vermöchte, der Ästhetik des Symbols, der Benjamin in ihrer so klassischen wie verfehlten Ausprägung als »plastisches Symbol« die Allegorie konfrontierte. »No transfigured interiority expresses itself«31 – das hat das Theater (überhaupt) gemeinsam mit der Allegorie,32 die nicht als darstellende Verkörperung ihre Bedeutung (im Innern) einschließt (um deren Ausdruck zu sein). »[E]igentliche Schaustellungen«, von denen Benjamin als denen der im Trauerspiel angefallenen Leichen spricht, stehen überhaupt im Zusammenhang »mit Allegorie« (368). Denn »Ostentation der Faktur« macht die Allegorie selbst aus (355): »It stages it, immerses itself«.33 Die »Ostentation« des Auftritts ist zugleich die Ausstellung der Geste, die das Ausstellen selbst ist.34 28 Vgl. Samuel Weber: »The Incontinent Plot (Hamlet)«, in: E. Horn/B. Menke/C. Menke (Hg.), Literatur als Philosophie. Philosophie als Literatur, S. 232-255, hier S. 239. 29 R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 1-17, hier S. 17. 30 Vgl. S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 477, 497f.; ders.: Theatricality as Medium, S. 178f. Intrigue hat diesen Doppelsinn noch für A.W. Schlegel (»Über das spanische Theater«, S. VIII, XX). 31 R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 27. 32 Vgl. S. Weber: Theatricality as Medium (chap. 6: »Allegory and Theatricality in Benjamin’s ›Origin of German Mourning-Play‹«, S. 160-180), 162f., 172-174; die »Deduktion der Trauerspielform« werde aus der »Theorie der Allegorie gewonnen[]«, so Benjamin im Brief (I, 873; GB II, S. 355). 33 R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 27. 34 Die Brechtsche Bestimmung: »›Der Schauspieler muß eine Sache zeigen und er muß sich zeigen. Er zeigt die Sache natürlich, indem er sich zeigt. [...]‹«; der »›Gegensatz [...] zwischen diesen beiden Aufgaben verschwindet‹« nicht, zit. Benjamin (II, 529); er spricht vom »Verhalten der aufgeführten Handlung zu derjenigen, die im Aufführen überhaupt gegeben ist« (ebd). 34

TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE

Es mag dieser Perspektive, die eine nachträgliche heißen kann, eine literaturgeschichtlichere entgegengesetzt werden, aber auch in einer solchen, derzufolge die barocken Poetiken das Trauerspiel als ›consolatorische Tragödie‹ entwickeln, zeigen sich diese Poetiken des Trauerspiels als Rezeption des aristotelischen Katharsis-Konzepts in ihren bloßen »Versatzstücken«.35 Benjamin erkennt darin die Allegorie der Tragödie, die diese nicht bloß stofflich auffasst,36 sondern die vielmehr die Spezifik des Trauerspiels ausmacht. Rücksicht auf Geschichte folgt nicht Linien einander ablösender Formationen, sondern organisiert darstellend die Konstellationen von nicht auflösbarer Spannung; »[t]he opposite of theater and drama is such a constellation«.37 In diesem Sinne stellt Benjamins Buch das barocke Trauerspiel in der oder als Konstellation seiner Vor- und Nachgeschichte dar, die durch die mittelalterlichen Passionsspiele (254ff.), das Drama des Sturm und Drang, das Historiendrama Schillers und das ›romantische‹ Schicksalsdrama ebenso ausgesteckt ist,38 wie im Nachtrag auch Hebbels historische Dramen neben Nestroys »possenhafter ›Tragikomödie‹«, und Brechts Theater ihr angehören.39 In dieser Konstellation der (so N. Müller-Schöll) »von Benjamin erfundenen ›Sippe des barocken Trauerspiels‹«,40 wird das barocke Trauerspiel kenntlich als eine spezifische Exposition des Theaters, die die Parameter des Dramas, Handlung und Person, durchquert, aussetzt und in ihre theatrale Rahmung (vorgreifend) rückstellt.

35 Hans-Jürgen Schings: »Consolatio Tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels«, in: R. Grimm (Hg.), Deutsche Dramentheorien, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 1-43, hier S. 34. 36 I, 241; vgl. dgg. Richard Alewyn: Vorbarocker Klassizismus und Griechische Tragödie (1926), Nachdr. Darmstadt, 1962, S. 8f. (u.ö.). 37 R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 3; scheint zwar »[t]he conflictual relation between the two« zunächst als Bewegung erzählbar: »from theatricality and carnevalesque corporeality of earlier plays toward an increasing interiorization«, so kennzeichnet das Theater der Avantgarde, dass es das Theater selbst »in the name of the body on the stage [aufführt]. The body becomes visible as an obstacle« (ebd., S. 3, 13ff.; vgl. ders. »Das Beben des Barock in der Moderne«, S. 519-523, u.ö.; H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 41-93). 38 Vgl. I, 262, 292, 299-307; die Übersicht I, 916; K. Garber: Rezeption und Rettung, S. 108ff., 67-81; U. Steiner: »Allegorie und Allergie«, S. 658. 39 Vgl. I, 953, »Was ist das epische Theater« (1 u. 2), II, 523, 534f., »[Rez.] Hans Heckel: Geschichte der deutschen Literatur in Schlesien«, III, 193. 40 N. Müller-Schöll: Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, (mit I, 307) S. 110f.. 35

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Was sich in Benjamins Trauerspielbuch als Auseinandersetzung von Trauerspiel und Tragödie ausnimmt, ist zu einem Teil, aber nicht zuletzt, eine Abwehr der Wiedergängerei des Begriffs des Tragischen im ersten Drittel des 20sten Jahrhunderts. Die Theoriebildungen »der dichtenden und philosophierenden Epigonen der zweiten Hälfte des XIX Jahrhunderts«41 (das trifft noch die des beginnenden 20sten) wies Benjamin als »ganz vergeblich[es]« Bemühen ab, »das Tragische als allgemein-menschlichen Gehalt zu vergegenwärtigen« (279f.). Ein solcher Begriff des Tragischen mit seiner neuen deutschen Konjunktur zu Beginn des 20. Jahrhunderts42 zeigt zumal in dessen Berufung eines zeitenthobenen gar »allgemeinmenschlichen« »tragische[n] Schicksal[s]«43 eine so ungenügende Auffassung der Tragödie, wie ihm die ›neueren Tragödien‹ entgegenstehen (297f.): die Trauerspiele, die Benjamin als der Trauer genügende Spiele aufzufassen vorschlägt, deren »Gesetze«, Benjamin zufolge, durch die »Theorie der Trauer, wie sie als Pendant zu der von der Tragödie absehbar sich zeigt[]«, erschlossen werden (318). Denn was die Tragödie Benjamin zufolge ausmacht, ist, so akzentuiert P. Fenves: »it is a onetime, epoch-making dramatic form, never to be repeated, least of all revived in whatever describes itself in the terms of ›the tragic‹«.44 Die Tragödie schließt als solche, als der ›entscheidende einmalige Vollzug‹, als den Benjamin sie bestimmt (298f.), die Wiederkehr aus, die vielmehr das ›Gesetz‹ der Trauer ist (und sei diese die um den Verlust der Tragödie).45 Daher kann jedes wiederholte, vermeintlich wieder-›belebte‹ Tragische nur den Tod der Tragödie, das ›Totsein‹46 der Tragödie bezeugen, der 41 Benjamins Auseinandersetzung mit den vorliegenden Tragödientheorien ist umfassend (vgl. I, 279-285), die mit Ansätzen des frühen 20. Jahrhunderts, wie Lukács und Rosenzweig spezifisch; vgl. J. Thaler: Dramatische Seelen (mit einem Schwerpunkt bei G. v. Lukács); M. Sagnol: Tragique et tristesse, S. 64-106, 107-118. 42 Vgl. P. Szondi: »Versuch über das Tragische«, S. 152; P. Fenves »Tragedy and Prophecy«, S. 229ff. 43 J. Thaler: Dramatische Seelen, S. 47-54, 51f. 44 P. Fenves: »Tragedy and Prophecy«, S. 229. 45 Die verschiedene Zeitlichkeit von Tragödie und die ›uneigentliche‹ der Wiederholung, die die des Trauerspiels ist, verhandelt Benjamin vor allem schon in »Trauerspiel und Tragödie« (II, 136f., vgl. I, 918; Peter Fenves: »Marx, Mourning, Messianity«, in: H. de Vries/S. Weber (Hg.), Violence, Identity and Self-Determination, Stanford 1997, S. 253-270, hier S. 262; ders.: »Tragedy and Prophecy«, S. 234. 46 Das ist eine Kategorie des Allegorischen, des Zitats, das »stets ein brennendes Interesse an dessen Verflossensein, an seinem Aufgehörthaben und gründlich Totsein« nehme (Passagen-Werk, V, J 76a, 4). 36

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allenfalls noch betrauert werden kann. Dies ist die Sache des Trauerspiels, das im Zeichen der Wiederholung steht. Auf die Bestimmtheit der Tragödie durch den einmaligen Vollzug, der sie ist, kommt es Benjamin wie Nietzsche an. Sie wird im einen wie im anderen Falle begründet durch ihren Bezug auf den Mythos oder – Nietzsche folgend – die »Sage« (280), der die »Umformung« (285) und »Befragung« des Mythos ist.47 Wie Benjamin der vermeintlich bloß stofflichen Bestimmtheit der ›barocken Tragödie‹ die diese unterscheidende Spezifität abgewinnt, dass »[d]as geschichtliche Leben wie es jene Epoche sich darstellt« des Trauerspiels »Gehalt« (242) sei, so ist der Mythos aufzufassen als der Gegenstand der Tragödie. In »›El mayor monstruo, los celos‹ von Calderon und ›Herodes und Mariamne‹ von Hebbel. Bemerkungen zum Problem des historischen Dramas«, Benjamins dem Trauerspielbuch vorgreifenden Aufsatz von 1923, setzt er an dem die Tragödientheorie des Aristoteles tragenden Begriff der mimesis (einer Handlung) an, die jedoch als solche bereits »wesentliche Stellungnahme jener neuen Dichtung zum Sagenstoff«, »viel weniger eine beredte Sanktion der in der Sage bekundeten Schicksalsordnung als ihr oft noch unmündiges In-Frage-Stellen sei«.48 Damit setzt Benjamin seine eigene Konzeption auch von der Nietzsches, mit der sie die Bestimmtheit der Tragödie als ›einmalige‹ und nicht wieder-holbare teilt, ab, und zwar insofern als dieser die Tragödie, so Benjamin, »als rein ästhetisches Gebilde« nehme: »das Widerspiel von apollinischer und dionysischer Kraft bleibt ebensowohl, als Schein und Auflösung des Scheines, in die Bereiche des Ästhetischen gebannt« (281).49 Zureichend werde aber Benjamin zufolge die Tragödie erst gedacht, wenn sie als Überwindung dämonischer »Zweideutigkeit« (288) und als Bruch mit dem Schuldzusammenhang absehbar werde, mit jenem Zusammenhang der Schuld, der – so Benjamin – das »Schicksal« sei, den jede (vermeintliche) Sühne nur, stets erneut verschuldend, perpetuiere. Nietzsche dagegen konnte, weil sein setting von »Schein und Auflösung des Scheines« ein innerästhetisches bleibe, die »Lehre von tragischer Schuld und tragischer Sühne«, Benjamin zufolge das Kernstück der »epigonalen Tragödientheorie«, nicht angreifen. Denn ihm bleibe »der Zugang zu den 47 H.-T. Lehmann: Theater und Mythos, S. 9-24, insb. S. 13; vgl. I, 280, 284f.. 48 II, 248ff., vgl. I, 286, 284ff.. 49 Benjamin vermerkt: »Mangelndes Verständnis für die Sprache der Tragödie bei Nietzsche/Der Prozeßcharakter übersehen« (I, 916). 37

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geschichts- oder religionsphilosophischen Begriffen, in denen zuletzt die Entscheidung über das Wesen der Tragödie sich ausprägt, verschlossen« (283); er »verlor« an den »Abgrund des Ästhetizismus« »zuletzt alle Begriffe […], so daß Götter und Heroen, Trotz und Leid, die Pfeiler des tragischen Baus, in nichts sich verflüchtigen« (281). Wenn Benjamin die inner-ästhetische Perspektive Nietzsches zurückweist, zielt er damit auf einen ›Zwischenraum‹, der eröffnet werden muss, in dem ethische Fragen erst zuständig wären,50 aber doch zugleich gegen die Tragödientheorie des deutschen Idealismus, in der »moralische Verweise« sich vordrängen. Denn der »moralische Gehalt tragischer Poesie« ist – so Benjamin – keineswegs als der »erdichtete[r] Personen« aufzufassen, die vielmehr dem Gewebe des Textes unablösbar »verwoben« sind (283f.), und auch »nicht als ihr [der »tragische[n] Poesie«] letztes Wort, sondern als Moment ihres integralen Wahrheitsgehaltes zu fassen: nämlich geschichtsphilosophisch« (283). Was Benjamin »geschichtsphilosophisch« heißt, ist ein negativer Bezug, wie der »jeder Kunstgestaltung«, auf das »Leben«. Denn »dieses Leben, welches uns moralisch, das heißt in unserer Einzigkeit, betrifft«, d.i. »dort«, »wo es im Tode als Stätte der Gefahr schlechtweg sich inne hat«, »erscheint vom Standpunkt jeder Kunstgestaltung aus als negativ oder sollte doch so erscheinen« (284). Derart verhandelt das Trauerspielbuch mit der Tragödie die Ästhetik, indem es deren Anspruch und ›Bereich‹ begrenzt.51 Die Beschränkung der Ästhetik trägt das barocke Trauerspiel vor, insofern es den ›Bereich‹ seiner ›Lösung‹ nicht inner-ästhetisch, nicht (mehr) in der Geschlossenheit von Werken habe. Seine »allegorische Grenzform« löse sich vielmehr von woanders, vom »theologischen« »Bereiche« her (390) oder in »neuesten dramatischen Versuchen« auf, von denen diese so »dringend«, wie »wohl vergeblich« »Rettung« sich erhoffe.

50 Mit dem ›un-mündigen‹ ›tragischen Helden‹ zitiert Benjamin den ›metaethischen Menschen‹ (I, 286f.) von Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, (1921) Frankfurt/M. 1988, S. 83-89, 83f.; zur ›Metaethik‹, deren Ort nicht die Kunst ist, vgl. P. Fenves: »Tragedy and Prophecy«, S. 242, 227; ders.: »Marx, Mourning, Messianity«, S. 253-270, 262. 51 Vgl. R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 113-116. 38

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Der tragische Tod Die »geschichtsphilosophische Signatur« der Tragödie (288) ist gegeben durch die »tendenziöse Umformung der Tradition«, die »Umbildung der Sage« (285), die sie als »[d]ie griechische, die entscheidende Auseinandersetzung mit der dämonischen Weltordnung« vollzieht (288f.). Dies geschieht entscheidend im »tragischen Tod« des Helden, in dem dieser stumm bleibe. Wenn die Tragödie auch, so Benjamin, »auf der Opferidee [ruht]«, so ist aber das tragische Opfer doch, so Benjamin, »in seinem Gegenstande – dem Helden – unterschieden von jedem anderen« (285). Ganz anders als nach Girard, der im Opfer überhistorisch endlos die Kultur begründet,52 ist das tragische Opfer für Benjamin unterscheidend bestimmt »in seinem Gegenstande – dem Helden – « als »ein erstes und letztes zugleich. Ein letztes im Sinne des Sühneopfers, das Göttern, die ein altes Recht behüten, fällt; ein erstes im Sinn der stellvertretenden Handlung, in welcher neue Inhalte des Volkslebens sich ankündigen« (285). Benjamin kann an dieser Stelle Bezug nehmen auf F.C. Rangs Darstellung des theatralen agon. Das dramatische Geschehen ist, nach F.C. Rang, das »Herumlaufen um den Altar« und dies »die Ablösung der Schlachtung des Menschen am Altare durch Entlaufen vor dem Messer des Opferers«, »wobei der Altar zum Asyl, der zornige Gott zum gnädigen, der zu Tötende zum Gottes-Gefangenen und -Diener wird« (286).53 Dies Entkommen ist allerdings nicht mit dem tragischen Tod des Helden schlicht gegeben, der ›Vollzug‹, der die Tragödie ist, nicht in sich geschlossen. Benjamin spricht von »tragischer Prophetie«. »Der tragische Tod hat die Doppelbedeutung, das alte Recht der Olympischen zu entkräften« (286) und auf eine neue Gründung nur ankündigend vorzugreifen, nur vorzugreifen und nur sprachlos vorzugreifen. 52 René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt/M. 1992, S. 452 (Orig. La violence et le sacré, Paris 1972); dgg. H.-T. Lehmann: Theater und Mythos, S. 11, S. 173ff. (S. 167-176); der Tragödie Auszug aus dem Kult akzentuiert (mit B. Brecht) Jean-Luc Nancy: Nach der Tragödie. In memoriam Philippe Lacoue-Labarthe. Stuttgart 2008, S. 30-33, 37; zur Anknüpfung an Girard und der Tragödie ans Opferritual vgl. Bernhard Teuber: »Die Frühneuzeitliche Tragödie als Opfer auf dem Theater?«, in: G. Neumann, S. Weigel (Hg.), Literaturwissenschaften zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, S. 79-99, S. 80, 82-86 (mit Lit.Hinweisen). 53 Zum Bezug auf F.C. Rang vgl. Patrick Primavesi: Kommentar, Übersetzung, Theater in Walter Benjamins frühen Schriften, Basel, Frankfurt/M. 1998, S. 259-268. 39

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Der ›tragische Tod‹ stellt im eminenten Sinne sich am Helden dar, den, mit dem Wort F. Rosenzweigs, seine »Unmündigkeit« ausmache: »›Der tragische Held hat nur eine Sprache, die ihm vollkommen entspricht: eben das Schweigen‹« (286).54 Allerdings kommt es, so Benjamin Rosenzweig umakzentuierend, darauf an, dass die »Schroffheit des heroischen Selbst«, die im Schweigen sich vorstellt, nicht als »Charakterzug, sondern [als] geschichtsphilosophische Signatur des Helden« zu lesen sei (289). Während Rosenzweig die ›Geburt des Selbst‹ in der »eisige[n] Einsamkeit des Selbst« situiert,55 gehört Benjamin zufolge doch gerade mit des Helden Stumm-Bleiben der »Gehalt der Heroenwerke« »der Gemeinschaft wie die Sprache« (287). »Da die Volksgemeinschaft ihn [»den Gehalt der Heroenwerke«] verleugnet, so bleibt er sprachlos im Helden. Und der muß jedes Tun und jedes Wissen je größer, je weiter hinaus wirkendes es wäre desto gewaltsamer in die Grenzen seines physischen Selbst förmlich einschließen. Nur seiner Physis, nicht der Sprache dankt er es, wenn er zu seiner Sache halten kann und daher muß er es im Tode tun.« (287)56

Schweigend ist der Held, isoliert, in seinem Tode ›in seine Physis eingeschlossen‹. Das, was ihm geschieht, kann er zu »seiner Sache« allein im Tode und im Tode nur mit seiner/als bloße Physis machen (287). Sein Auftritt als Einzelner vollzieht sich als ein Sich-Aussetzen des Körpers: »Die körperliche Präsenz des Akteurs« in der griechischen Tragödie, die durch den Vortritt des Einzelnen aus dem Chor gegeben ist,57 »rückt«, so H.-T. Lehmann, »sein Tun in den Machtbereich unaufhellbarer Kräftefelder«; der Körper wird in der griechischen Tragödie »gesehen und verstanden als Dunkelstelle«.58 Als »Zeugnis sprachlosen Leidens« wandelt sich »die Tragödie, die da gewidmet schien dem Gerichte über den Helden, […] zur Verhandlung über die Olympischen, bei der jener den Zeugen ab54 So zitiert Benjamin F. Rosenzweig aus Stern der Erlösung (1921), S. 98f./(1988) S. 83f.; das Schweigen und der Sinn des Untergangs des Helden ist, im Widerstreit mit der dramatischen Fabel stehend, angewiesen auf die Kunstform des Dramas (ebd., S. 83, 85f). 55 Ebd. (1921), S. 99; (1988) S. 83f. 56 Mit Georg von Lukács: »Metaphysik der Tragödie: Paul Ernst«, in: ders., Die Seele und die Formen: Essays, Berlin 1911, S. 336/Neuwied 1971, S. 218-250, hier S. 224. 57 Vgl. H.-T. Lehmann: Theater und Mythos, S. 50-62: S. 58. 58 Ebd., S. 102. 40

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gibt« (288). Ihr »Zug nach Gerechtigkeit«, das ist die »widerolympische Prophetie aller tragischen Dichtung« (288), zeichnet die Tragödie aber aus (noch) gegenüber dem Recht, an dessen Denken und dessen Rationalität die Tragödie Anteil hat,59 das gemäß einer klassischen Auffassung der attischen Tragödie ihr telos wäre.60 Denn das Recht kann, indem es straft, aus und von dem »Schicksal«, das als »Schuldzusammenhang des Lebendigen« verhängt ist, nicht lösen, muss es vielmehr, indem es urteilt und straft, bestätigen und als »Schuldzusammenhang« bekräftigen: Die Strafe und damit das Recht hat teil an der »heidnisch unabsehbare[n] Verkettung von Schuld und Sühne« (288). Dies führt Benjamin im ausführlichen Zitat seines Textes »Schicksal und Charakter« (1921) an,61 in dem er gerade die Bindung des Schicksals an die Zeichen und als die Gebundenheit durch diese, die Gewiss-, bzw. Ungewissheiten ihrer Deutungen, die Verschlossenheit des Zusammenhangs von Zeichen und Bezeichnetem, herausstellt.62 Durch das Geschehen, das die Tragödie ist, werde dagegen, das ist ihr »Zug nach Gerechtigkeit«, »das dämonische Schicksal durchbrochen«. Aber auch wenn im Tode des tragischen Helden die »dämonische Weltordnung« (288) der Schuld »durchbrochen« werde, so sei 59 Zur Ambivalenz der Tragödie hinsichtlich des Rechts, vgl. I, 294, 286ff.; zum Verhältnis von Tragödie und sich entfaltendem Rechtsdenken, vgl. H.T. Lehmann: Theater und Mythos, S. 157-166. Wenn die Tragödie mit der »Form der Verhandlung« die der »juristischen Ratio« annimmt, so werde diese zugleich »aufs Spiel« gesetzt (ebd., S. 165f.) 60 Vgl. I, 294f., 298f.. Als Anhaltspunkt für die Lösung des alten Schicksals im Recht wird gerne das Ende von Aischylos' Orestie, d.i. Hegels Paradigma der Tragödie, genommen (vgl. I, 286). 61 »Schicksal und Charakter« (zuerst in Die Argonauten 1921), II, 171-179, hier 174f.; vgl. »Zur Kritik der Gewalt«, II, 199; zum weiteren Benjamin’schen Zusammenhang vgl. Werner Hamacher: »Schuldgeschichte. Benjamins Skizze ›Kapitalismus als Religion‹«, in: D. Baecker (Hg.), Kapitalismus als Religion, Berlin 2003, S. 77-119, hier S. 80-86, 101f. 62 Vgl. II, 171f., 175. Benjamin liest Calderóns »Schicksalsdrama« El mayor monstruo: los celos unterscheidend ab (II, 261-265): »Blitzartig zeigt es [das Orakel] sich Ödipus, im Gespräch mit dem Hirten, als ein längst schon erfülltes. Im Gegensatz dazu bleibt das Geschehen bei Calderon magnetisch an die Prophezeiung gebannt, in keinem Stadium kann es sich von ihr ablösen. Diese Bindung des Geschehens an das Orakel vollzieht sich durch das Requisit«. (II, 264f., vgl. II, 262f.). Das Schicksal schickt sich »nur uneigentlich in mißverständlichen Vorzeichen und rätselhaften Weissagungen«; es haust daher auch »in der Rede seiner Interpreten« (Michael Niehaus: »Die Ironie des Schicksals. Mordeltern«, in: R. Campe/M. Niehaus (Hg.), Gesetz. Ironie, Fs. für Manfred Schneider, Heidelberg 2004, S. 123-140, hier S. 124, vgl. S. 126). 41

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doch durch die Tragödie – so der Vorbehalt Benjamins – nicht (schon) »die heidnisch unabsehbare Verkettung durch die Reinheit des entsühnten und mit dem reinen Gott versöhnten Menschen abgelöst« (288), vielmehr gehört der Tragödie doch mit diesem stummen Tod selbst die »Erfahrung« der »Zweideutigkeit« (288) zu, mit der sie sich ›aus-einandersetzt‹.63 »Je weiter das tragische Wort hinter der Situation zurückbleibt[,] […] desto mehr ist der Held den alten Satzungen entronnen, denen er, wo sie am Ende ihn ereilen, nur den stummen Schatten seines Wesens, jenes Selbst als Opfer hinwirft, während die Seele ins Wort einer fernen Gemeinschaft hinübergerettet ist.« (287f.)

Der tragische Tod ist derart doppelt bestimmt: durch die Gebundenheit, die im opaken Körper sich manifestiert, und durchs angekündigte, in der entzogenen Ferne eingelöste Entronnensein. Das Schweigen des tragischen Heros ist an die Sprache verwiesen, die es allerdings erst im Wort einer zukünftigen Gemeinschaft findet, deren paradoxe: stumme »Prophetie« es sei (294).64 In der stumm ›prophezeiten‹ – stets ausstehenden, »fernen« – Entronnenheit, die die »tragische Darstellung der Sage« ausmachte, gewinnt die Tragödie ihre »Aktualität«, die sie als einmaliger »entscheidender Vollzug« doch ausmacht. Es ist dies die »Aktualität« der fernen Gemeinschaft, die »[i]m Angesicht des leidenden Helden« den »Dank für das Wort, mit dem dessen Tod sie begabte«, lerne (288). Und es ist diese, die »ferne« als zuschauende gedachte Gemeinschaft »im Theater«,65 in deren ausstehender Rede die Einsicht in den stummen Tod erst sprachlich gegeben wäre. Gerade im Moment ihrer »Aktualität« also, die vorgreifend in einem rückwirkenden »Echo« seiner (des tragischen Helden) »Leere« (293), in einer uneinsehbaren Zeit-

63 Vgl. I, 286-88; H.-T. Lehmann: Theater und Mythos, S. 125; es gehört ihr als die »stumme Beklemmung« des Helden an (I, 286; vgl. 286-289), der »vor der Gewalt des Todes zurückschauert« (I, 293). 64 Vgl. P. Fenves: »Tragedy and Prophecy«; »tragisch ist das Wort und ist das Schweigen der Vorzeit, in denen die prophetische Stimme sich versucht, Leiden und Tod, wo sie diese Stimme erlösen« (I, 297). Daher sei die Tragödie anders als das Trauerspiel »pantomimisch« nicht »denkbar«, denn das Schweigen des stummen Helden spielt »nur im Sprachlichen« (ebd.). 65 Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt/M. 1996, S. 106. 42

TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE

Verschiebung gegeben ist,66 ist die Tragödie selbst ›von sich selbst verschieden‹.67 Die Tragödie kennzeichnet »unterscheide[nd]«, so Benjamin, als die »agonale Prophetie«, die sie ist, »ihre Beschränkung auf den Umkreis des Todes, ihre unbedingte Angewiesenheit auf die Gemeinde und vor allem die nichts weniger als garantierte Endgültigkeit ihrer Lösung und Erlösung von aller episch-didaktischen« (286). In diesen so entschiedenen wie endgültigen Bestimmungen »unterscheidet« sich die Tragödie (286), damit scheint auch das Endgültige zur Scheidung von Tragödie und Trauerspiel gesagt: »Es ist […] ein entscheidender Vollzug im Kosmos, was in ihr sich abspielt. Um dieses Vollzuges willen und als sein Richter ist die Gemeinde geladen. Während der Zuschauer der Tragödie eben durch diese erfordert und gerechtfertigt wird, ist das Trauerspiel vom Beschauer aus zu verstehen. Er erfährt, wie auf der Bühne, einem zum Kosmos ganz beziehungslosen Innenraume des Gefühls, Situationen ihm eindringlich vorgestellt werden.« (298f.)

Entscheidend über die Tragödie ist der einmalige Sinn des tragischen Todes. Denn zu dessen »individuelle[m] Sinn«, der insistiert, weil das tragische Leben, wie Benjamin G. Lukács zitiert, »›das am ausschließlichsten diesseitige aller Leben‹« sei,68 »tritt« »doch der historische [Sinn] vom Ende des Mythos« (314). Der Tragödie, die eine »einmalige«, nicht-»wiederholbare« Neu-»Auslegung« der Sage vollziehe (299), eignet ihr ›gültiges‹ Ende, das dem Geschehen rückwirkend den Sinn einer zukünftigen ausstehenden Neubegrün66 Vgl. in »Aufgabe des Übersetzers« (IV, 16) das Echo als Figur eines Bezuges aus der Ferne auf die Sprache als allenfalls nachträglich gegebenen Ursprung; dazu R. Nägele: »Echolalie«, in: ders., Echos: Übersetzen. Lesen zwischen Texten, Basel 2002, S. 55-86, insb. 70f.; vgl. Benjamins »Über den Begriff der Geschichte« I, 693f.. 67 Vgl. P. Fenves: »Tragedy and Prophecy«, S. 229, 237-248. 68 Der »individuelle Sinn« des Todes »ist mit den Worten gekennzeichnet, das tragische Leben sei ›das am ausschließlichsten diesseitige aller Leben. Darum verschmilzt seine Lebensgrenze immer mit dem Tode. Für die Tragödie ist der Tod – die Grenze an sich – eine immer immanente Wirklichkeit, der mit jedem ihrer Geschehnisse unlösbar verbunden ist‹« (I, 314 mit G. v. Lukács’ »Metaphysik der Tragödie«, in Die Seele und die Formen (1911), S. 345/(1971) S. 230f.). Der tragische Held schauert »vor der Gewalt des Todes zurück«, und zwar »als vor der ihm vertrauten, eigenen und eingebannten. Sein Leben rollt ja aus dem Tode ab, der nicht sein Ende, sondern seine Form ist« (I, 293). 43

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dung verleiht. Demgegenüber bleibt das Trauerspiel als trauerndes Spiel »›[o]hne richtiges Ende‹«, ist doch mit dessen »Abschluß […] keine Epoche gesetzt, wie diese, im historischen und individuellen Sinne, im Tode des tragischen Helden so nachdrücklich gegeben ist« (314). Denkt Benjamin das Ende der Tragödie (genetivus objectivus) und damit des einmaligen und endgültigen Vollzuges (der sie ist) als ein endgültiges, die Tragödie als unwiederholbar, so ist aber dieses Ende der Tragödie (genetivus objectivus) selbst kein ›tragisches Ende‹, kein end-gültiges, das dem Geschehen Sinn verliehen haben wird; es scheint vielmehr ein trauriges Enden zu sein. Denn »[i]hr Ende gefunden hat mit der Tragödie« – so akzentuiert E. Geulen – »auch die dialektische Verfassung des Endes, wie sie im Tod des tragischen Helden am Schluß von Tragödien sinnfällig wird«.69 Das Ende der Tragödie (im Sinne des genetivus objectivus) ist das Ende des tragischen Endes (der Tragödie im Sinne des genetivus subjektivus) und daher selbst kein tragisches – um so weniger könnte eine der vermeintlichen Wiederholungen des Tragischen irgend tragisch im Sinne des entscheidenden Vollzugs und des tragischen Endes der Tragödie sein. Das Trauerspiel lege an seinem Ende den »Prozeß«, der auf die »Klage« der Kreatur »gegen den Tod – oder gegen wen sonst sie ergehen mag –«, hin erfolgte,70 »halb nur bearbeitet zu den Akten« (316). Das Trauerspiel vollendet (und löst) nicht und vollendet sich nicht. »Die Wiederaufnahme ist [vielmehr] im Trauerspiel angelegt und bisweilen aus ihrer Latenz getreten« (316); es ist auf Wiederholung angelegt und strukturell von der Wiederkehr bestimmt. In seinem vorbereitenden kleinen Text »Trauerspiel und Tragödie« (ca. 1916) gab Benjamin explizit »das Gesetz des Trauerspiels« an: »Die Wiederholung ist es, auf der das Gesetz des Trauerspiels beruht. Seine Geschehnisse sind gleichnishafte Schemen, sinnbildliche Spiegelbilder eines andern Spiels. In dieses Spiel entrückt der Tod. [...] [S]eine Fortsetzung ist nicht minder schemenhaft als es selbst. Die Toten werden Gespenster.«71 69 Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt/M. 2001, S. 94. 70 Der Rechtsakt der »Klage gegen –« lässt zugleich die Klage (über –) mithören (vgl. I, 316, 920, Benjamin-Archiv (M6 Ms 1960)) und die »›Trauerklage‹« (I, 300). 71 »Trauerspiel und Tragödie«, II, 136; vgl. I, 315. 44

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Als wiederholendes ist das Trauerspiel auf ein Anderswo bezogen, ein nicht-mit-sich-identischer Vorgang, in sich geteilt, als Geschehen, das die Gespenster heimsuchen und das deren »Gesetz« der Wiederkehr untersteht. Das deutsche Trauerspiel widersteht darüber hinaus auch noch der Vollendung, die die vermeintlich ›innere‹ ihrer Form selbst wäre,72 denn ›aus der Latenz‹ tritt die ›Wiederaufnahme‹, auf die es angelegt sei – »so, wie sie sich wiederholen können, ja müssen« –, »freilich wieder nur in seiner reichern spanischen Entfaltung« (316), die die Wiederholung, in deren Zeichen das Spiel steht, spielerisch auszuspielen vermag. So wäre die »vollendete Kunstform« vor allem anderswo zu finden; »[n]irgends anders als bei Calderon«, sagt Benjamin, und zwar in der »Genauigkeit, mit der ›Trauer‹ und ›Spiel‹ aufeinander sich stimmen« (260); und das tun diese im Zeichen der Wiederholung.

Todverfallenheit im Trauerspiel, Gespenster Benjamin gibt sich auf, die »Kluft […] zwischen Tragödie und Trauerspiel« »bis in ihre Tiefe« zu ermessen (314), und sieht sie, paradoxal, »erhellt« im Blick auf ›die nächtliche Welt‹ des Trauerspiels. In der nächtlichen »Stunde«, die sich als »Luke der Zeit« in die »Geisterwelt« (314) öffnet, in die das Trauerspiel sein gemordetes Personal entstellte, untersteht es der uneigentlichen Zeitlichkeit der Wiederholung.73 Denn in diese »Luke« einrückend, »in deren Rahmen je und je das gleiche Geisterbild erscheint«, suchen als Gespenster die »Manifestationen« des »Schicksals«, der »wahre[n] Ordnung der ewigen Wiederkunft, [die] nur uneigentlich, nämlich parasitär, zeitlich zu nennen ist«,74 »den Zeit-Raum« des Trauerspiels auf und heim (313f.). Wiederkehrend manifestieren Gespenster die uneigentliche Zeitlichkeit des Schicksals, die die »ewige Wiederkunft« ist, unterstellen dieser als der Wiederholung das Trauerspiel, das sie heimsuchen, wie umgekehrt die Wiederkehr, wieder und wieder, die melancholische Trauer kennzeichnet. Denn der traurige »Grübler«, dem die Trauerspiele ein rätselhaftes Genü72 Benjamin bestimmt »das deutsche Trauerspiel [als] eine Form die ihrer Vollendung widersteht« (E. Geulen: Ende der Kunst, S. 94). 73 Vgl. »Trauerspiel und Tragödie«, II, 134-137; »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«, II, 139; »Schicksal und Charakter«, II, 176. 74 I, 313; »Trauerspiel und Tragödie«, II, 137; »Schicksal und Charakter«, II, 176; in Fragmente von 1918/9, IV, 91, dgg. zur Zeit der Vergebung, IV, 98. 45

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ge tun, zieht die Gespenster – zu einem geisterhaften Nach-Leben – an (370). Auch wenn Benjamin hier vom deutschen barocken Trauerspiel spricht (313f.), so ist doch offensichtlich Hamlet mitzulesen. Das durch die Auftritte des Ghost, und von diesem auch explizit, aufgegebene Remember me ist als das Gesetz der Wiederholung dem Geschehen auferlegt, dadurch dass Hamlet diesem, als Merksatz Remember thee wiederholtes, memoriertes und übernommes, sein Leben unterstellt.75 Wiederholung ist das »Gesetz des Trauerspiels« wie des Theater-Geschehens überhaupt (315). Explizit macht Benjamin den »Tod des Hamlet […] in seiner vehementen Äußerlichkeit« charakteristisch fürs Trauerspiel: »Er will am Zufall sterben und wie die schicksalhaften Requisiten sich um ihn als um ihren Herrn und ihren Kundigen scharen, blitzt in dem Abschluß dieses Trauerspiels das Schicksalsdrama, als in ihm einbeschlossenes, freilich überwundenes, auf.« (315) Denn »der Charakter des Todes im Schicksaldrama [ist es, der] ganz verschieden von dem sieghaften Tode des tragischen Helden« das Trauerspiel ausmacht, so Benjamin, und zwar zuerst dem Trauerspielbuch vorgreifend, 1923 im (zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichten) Aufsatz »›El mayor monstruo, los celos‹ von Calderon und ›Herodes und Mariamne‹ von Hebbel [...]«,76 »eine der Keimzellen, aus denen das Trauerspielbuch […] hervorging«, wie es heißt.77 »Schicksal« bestimme, so Benjamin, den »Tod«, auf den es zulaufe, als »Ausdruck der Verfallenheit des verschuldeten Lebens an das Gesetz des natürlichen« (310), als Tod im Leben.78 In diesem genauen Sinne ist »Schicksal« der für das Trauerspiel eigentlich zuständige Begriff, wie dagegen das Geschehen der Tragödie, so Benjamin, nicht der 75 Die Aufgabe des »Ghost«, vgl. Hamlet I.5, v. 91, die Wiederholung Hamlets ist schriftlich: den Gedächtnis-Tafeln habe er die Worte eingetragen (I.5, vs. 95, 98-111; William Shakespeare, Hamlet (englisch/deutsch), Stuttgart 1984, S. 102-04; vgl. S. Weber: Theatricality as Medium, S. 189, 196, 182. 76 II, 246-276, hier 267. 77 So die editorischen Anmerkungen, II, 999; zur Entstehung II, 998f. (Benjamin-Archiv, Ms 30-40); da »[d]ie gedanklichen Motive nicht nur, auch die Sätze und Abschnitte, welche Benjamin aus der frühen Arbeit in die spätere – sei es wörtlich, sei es modifiziert – übernommen hat, […] so zahlreich« seien, wurde in den Gesammelten Schriften »auf ihren Nachweis im einzelnen verzichtet«, das wird hier vereinzelt erfolgen (vgl. B. Menke: »Reflexion des Trauer-Spiels«; M. Sagnol: Tragique et tristesse, S. 155-166). 78 Hier ließe ein Bezug auf Foucaults Biopolitik sich herstellen. In »Schicksal und Charakter« akzentuiert Benjamin: »Der Mensch wird niemals hiervon [vom Schicksal] betroffen, wohl aber das bloße Leben, in ihm, das an natürlicher Schuld und dem Unglück Anteil kraft des Scheines hat.« (II, 176) 46

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»Schuld«, »um die man oft die Theorie des Tragischen gruppierte«, unterstehe, vielmehr werde der Zusammenhang der Verschuldung, der »Schicksal« ist, im tragischen Tode ›gebrochen‹. Im »tragischen Geschehen« »entwächst« der Held der »dämonischen Botmäßigkeit« der (oder an die) »Schuld, die nach den alten Satzungen von außen durch das Unglück den Menschen zuwachsen sollte«, »[i]ndem er im Selbstbewußtsein sie reflektiert« (310).79 Daher muss zum einen deren »Erfahrung«, d.i. die »der Ungewißheit und Zweideutigkeit dessen, was ihm zugesprochen wird«, der Tragödie selbst angehören.80 Zum anderen könnte das Wort »Selbstbewußtsein« in Benjamins Formulierung irreführen, denn der Held der Tragödie, der die Schuld »auf sich und in sein Inneres« nehme (310), vermochte ›sein Tun und Wissen‹ doch nur stumm-bleibend und nur im Tode, nur »in die Grenzen seines physischen Selbst« »ein[zu]schließen« (287). Sein Schweigen ist ein ›Aspekt‹ dessen, dass »[d]er Körper erscheint«, so akzentuiert H.-T. Lehmann für die antike Tragödie: »gesehen und verstanden als Dunkelstelle«.81 Es ist des Helden stumme opake Physis, die im Tode für das einstehen muss, was der Tragödie Lösung wäre, und ihr als paradoxaler stummer Prophetie im Vorgriff ›aktuell‹, im »Echo« seiner »Leere«, zugekommen sein wird. Im Selbstzitat aus »Schicksal und Charakter« sagt Benjamin: »›Das Subjekt des Schicksals ist unbestimmbar.‹ Daher kennt das Trauerspiel keinen Helden sondern nur Konstellationen« (310f.);82 es sind Konstellationen der Personen und Dinge. Des Trauerspiels Geschehen ist äußerlich bestimmt wie der Tod des Hamlet durch den Zufall, der sich in der Macht des Requisits (als die des Schicksals) manifestiert. »Vorbote des Todes« im Leben (311), wie es auf dem Schauplatz des Trauerspiels sich entfaltet, ist die »Gewalt, welche die leblosen Dinge im Umkreis des schuldigen Menschen […] gewinnen« (312ff.). Sie manifestieren die Macht des Todes ›im Leben‹ vielfältig gestreut – auf dem Schauplatz/in den Schauplatz eingezogen.83 Die »Gewalt« des Leblosen über das Leben ist die des 79 Vgl. I., 259f., 308, 347; II, 264f.; vgl. W. Hamacher: »Schuldgeschichte«, S. 80-83. 80 H.-T. Lehmann: Theater und Mythos, S. 124. 81 Ebd., S. 102-107. 82 Zit. ist »Schicksal und Charakter« (II, 175); vgl. die Gegenüberstellung von Tragödie und Trauerspiel in einem »Exposé«, I, 951. 83 Vom »Schicksal« sagt Benjamin, es sei »[a]usgeteilt« »nicht allein unter die Personen«, sondern wirkend »gleichermaßen in den Dingen« (I, 310f.) 47

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Schicksals, sie ist Ausdruck der »Verfallenheit des verschuldeten Lebens an die Natur«, die »in der Hemmungslosigkeit seiner [des Menschen] Leidenschaften sich kundgibt«, so Benjamin anlässlich Calderóns Herodes-Schauspiel.84 Mit seinem »bloßen Leben«, das an »natürlicher Schuld« Anteil habe, ist der Mensch der Macht der Dinge, dem Leblosen, verfallen. »Ist […] die Tragödie von der Dingwelt gänzlich abgelöst, so ragt sie übern Horizont des Trauerspiels beklemmend« (312). Beklemmend ist sie dem Geschehen auf dem Schauplatz (wie die Dingwelt allegorisch beigezogen schwer auf der Sprache der Trauerspiele lastet) als Bekundung der Macht des Leblosen über das Leben, die als Schicksal sich in den Dingen im Geschehen auf dem Schauplatz so äußerlich wie zufällig wirksam zeigt. Das »Schicksal« zieht mit den »Dingen« als seinen Requisiten in den Schauplatz ein: in ihnen ›angelegt‹ und das »Gelegentliche« steigernd. »Durch solch ein isoliertes Kraftfeld ist es ausgezeichnet, in welchem alles Angelegte und Gelegentliche so sich steigert, daß die Verwicklungen [...] durch ihre paradoxe Heftigkeit verraten: ein Schicksal hat dies Spiel galvanisiert.« (308)

Indem es der ›Gewalt der scheinbar toten Dinge‹, d.i. einer äußerlich, wie durch Zufall wirkenden, Raum gibt, die diese »über das Menschenleben, ist es einmal in den Verband des bloß kreatürlichen gesunken«, gewinnen (311), ist »im Trauerspiel«, Benjamin zufolge, die »Schicksalstragödie« »angelegt« (312ff.), für die (als Gattung) Zacharias Werners Der neunundzwanzigste Februar (1808) ein schlagendes Beispiel gibt: »Nichts als die Einführung des Requisits liegt zwischen ihr und dem deutschen Barockdrama.« (312).85 Als fatales Requisit fungiert das im Falle von Z. Werners Schicksalstragödie im Titel bereits allem Geschehen vorgeschriebene Da84 II, 267; vgl. I, 310f.; »wo Schicksal ist, da ist ein Stück Geschichte Natur geworden« (II, 250, I, 310). 85 Das muss in Hinsicht auf die Funktion des Requisits, die Benjamin für das Trauerspiel entfaltet (etwa I, 303, 333, 311f., 347), verwundern, zumal das barocke Trauerspiel dem Schicksalsdrama »so nah verwandt [sei], daß es als seine Spielart muß begriffen werden« (zu Calderón I, 307); »in dem Abschluß dieses Trauerspiels [Hamlet, blitze mit der Funktion des Requisits] das Schicksalsdrama, als in ihm einbeschlossenes, freilich überwundenes, auf.« (I, 315); wegen der »große[n] Armut nicht-christlicher Vorstellungen«, dem Mangel an »heidnisch-katholischer Konvention« im deutschen Trauerspiel »konnte es zum Schicksalsdrama nicht kommen« (I, 309). 48

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tum, der neunundzwanzigste Februar,86 ebenso wie jenes Messer, das das ganze Geschehen über an der Wand anwesend zufallend als Auslöser der Tat fungieren wird. Der »Schicksalsgedanke«, »daß Schuld als welche in diesem Zusammenhang stets kreatürliche Schuld [...] ist, durch eine wie auch immer flüchtige Manifestation Kausalität als Instrument der unaufhaltsam sich entrollenden Fatalitäten auslöst« (308), kennzeichne das barocke Trauerspiel. In einem seiner Schemata notierte Benjamin zum »Schicksalsdrama«: »Der Fluch oder das Orakel/ […] {Die Geisterscheinung} {Säkularisierung des Todes}/ {Das Gesetz des Requisit} Herrschaft der Dinge im geschlossenen Zeitraum«,87 und damit jene Züge des Trauerspiels, in denen es das ›Schicksal‹ denkt, d.i. den »Schicksalsgedanken« theatral ausprägt. Partizipiert das Trauerspiel zur ›nächtlichen Stunde‹ durch die wiederholend wiederkehrenden, es heimsuchenden Gespenster an der ›uneigentlichen‹ Zeitlichkeit der Wiederholung, in die das Trauerspiel seine Toten versetzt und der die Gespenster entstammen, so unterstellen die Requisiten das Geschehen, das sich in den begrenzten Raum der Bühne als seinen Schauplatz verzogen hat, dem »Schuldgesetze des Lebendigen« (333). Regieren derart »über das Menschenleben, ist es einmal in den Verband des bloß kreatürlichen gesunken« (311), die ›schein-bar toten Dinge‹ mit unheimlich bannender Macht, so erscheint das ›uneigentliche Leben‹ (das das kreatürliche Leben ist) auf und in des Trauerspiels Zeit und Raum im Zwielicht der Halblebendigkeit. So tief nun Benjamin die »Kluft« zwischen tragischem Tod und naturgeschichtlicher Todverfallenheit, zwischen Endgültigkeit und unbeendbarer Wiederholung auch ausprägte und als solche markierte, so wird doch im Trauerspielbuch deren »starrer Antagonismus« und damit der von Tragödie und Trauerspiel auch irritiert.88 Gerade dort, wo Benjamin die tragische Dichtung mit der vermeintlich klaren Unter-Scheidung nicht anders denn als »einmaligen« Vollzug und »nichts weniger als ›endgültig‹« bestimmt, fügt er hinzu: »Aber

86 »[N]icht Dinge allein nehmen den Charakter des Requisits an« (II, 264f.). »Schicksalsmäßig kann dieses Lebendige [»das bloße Leben [...], das an natürlicher Schuld [...] Anteil kraft des Scheins hat«] so den Karten wie den Planeten verkuppelt werden«, akzentuierte Benjamin in »Schicksal und Charakter« (II, 175); dem entsprechen zufallende Bilder und der Dolch in Calderóns El mayor monstruo, wie Benjamin es analysierte (II, 254, 264f.; vgl. B. Menke: »Reflexion des Trauerspiels«, S. 270-277). 87 Dokumentation I, 916. 88 Vgl. E. Geulen: Das Ende der Kunst, S. 95. 49

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es klingt im Schluß der Tragödie ein non liquet stets mit« (296). Diese Formel aus römischen Gerichtsverfahren, die aufschiebt und vertagt,89 gehört seinem Tragödienkonzept bereits in dessen Anfängen im Austausch mit dem, fürs Trauerspielbuch in Fragen des »griechischen Theaters« zuständigen, F.C. Rang zu.90 Die »Lösung« der Tragödie soll »zwar jeweils auch Erlösung« gewesen sein, »doch nur jeweilige, problematische, eingeschränkte« (296), so dass die »Wiederaufnahme des Verfahrens«, die die Tragödie (selbst) dem Mythos war,91 an einen anderen Tag weiter-verwiesen ist und auf einen anderen Vollzug ›nach der Tragödie‹ verweist, etwa aufs »Satyrspiel wie es vorangeht oder folgt« (296).92 Der über die Tragödie entscheidende Auftritt des Heros selbst macht deren »grundlegende Ambiguität« zwischen mythischem Bann und dessen Durchbrechung aus.93 Denn in den die Tragödie 89 Die Formel non liquet besagt noch in heutigen Verfahren »es ist nicht klar« mit je nach Verfahrensart und Rechtsordnung unterschiedlichen Folgen, im Englischen: »A condition of uncertainty [...]; in Law, a verdict given by a jury in cases of doubt, deferring the matter to another day of trial« (Oxford English Dictionary, Vol. VII, Oxford 1933, S. 197); an die Einheit »des Gerichtstages« sieht Benjamin die Tragödie gebunden (I, 296). 90 Brieflich brachte Benjamin 1924 an F.C. Rang dessen Auffassung auf die Formel, »daß auch da [am Schluss der Tragödie] eine Art von non-liquet als Unterton bleibt«, was Rang seinerseits in seiner Antwort zitiert, um anzuschließen: »Die jeweils gefundene tragische Lösung ist zwar Erlösung, aber problematische, […] nicht so realisierte, daß nicht sie auch wieder einen Zustand setzt, der neuer Lösung = Erlösung bedürfte« (zit. I, 892f.; vgl. P. Primavesi: Kommentar, Übersetzung, Theater, S. 256-277, hier S. 261; S. Weber: Theatricality as Medium, S. 165ff.). 91 »Ist aber der Mythos im Sinn des Dichters die Verhandlung, so ist seine Dichtung Abbildung und Revision des Verfahrens zugleich. Und dieser ganze Prozeß ist gewachsen um die Dimension des Amphitheaters. Die Gemeinde wohnt dieser Wiederaufnahme des Verfahrens bei als kontrollierende Instanz, ja als richtende. Ihrerseits sucht sie über den Vergleich zu befinden, in dessen Auslegung der Dichter das Gedächtnis der Heroenwerke erneuert. Aber es klingt im Schluß der Tragödie ein non liquet stets mit.« (I, 296). 92 Die Komödie wird entgegen der griechischen Praxis an des Satyrspiels Stelle situiert, wenn in ihr die Reflexion der Tragödie vollzogen (Hegel) oder deren Verfall besiegelt (Nietzsche) worden sein soll. Die Komödie erfülle der Tragödie »agonale Prophetie«, insofern sie dem Selbstbewusstsein die »negative Kraft« vorstellt, die das Selbst ist, durch die die Götter »verschwinden«, so G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Frankfurt/M. 1986, S. 544; zum Verfall der Tragödie in die Komödie, vgl. F. Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie« (1886), in: Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli/M. Montinari, München 1999, KSA 1, S. 9-156, hier S. 76ff.. 93 H.-T. Lehmann: Theater und Mythos, S. 19, vgl. S. 19-21, 99-105. 50

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bestimmenden »Paradoxien« des Opfers, des Todes und Endes, die »die Zweideutigkeit« reformulieren und wiedergebend lösen, blieb – so Benjamin – »die Zweideutigkeit, das Stigma der Dämonen«, »im Absterben« (288). Im »Absterben« oder im »Übergang«94 ist der Abschluss dieses ›Prozesses‹ oder ›Verfahrens‹ der Tragödie unaufhörlich aufgehalten. Zeigt sich derart das entscheidende »einmalige, dialektische Ende in der Tragödie« selbst »undurchdringlich«, Benjamin spricht gar vom »Schauer des undurchdringlichen Endes« (296), so ist – in der »systematische[n] Unbestimmtheit und Unentscheidbarkeit«, die die Tragödie am (richtenden) Verfahren hervortreibt (296), – »die strenge Unterscheidung« von Trauerspiel und Tragödie gelockert, die »symmetrische[] Opposition von Trauerspiel und Tragödie« mit dem »Gegensatz zwischen Ende des tragischen Endes und endlosem Spiel, gebundener und noch offener Form« zersetzt.95 Der ›Tod der Tragödie‹ ist nicht nur – nach dem Ende des tragischen Endes (der Tragödie, im genetivus subjektivus) – kein tragischer, sondern er gehört als die Rationalisierung, die etwa durchs Recht bezeichnet ist, der antiken Tragödie bereits an, die zugleich die »Ratio« »des Verfahrens« »aufs Spiel« setzt;96 das Nach der Tragödie, ist kein Einschnitt, der ein Vorher und Nachher scheidet und als Abfolge geregelt aufeinander bezieht, sondern bestimmte vielmehr bereits die Tragödie als solche.97 Dass das Ende des nachträglich begründenden und insofern inkludierenden Endes der Tragödie (genitivus subjektivus) selbst kein tragisches, end-gültiges ist, prägt sich in der asymmetrischen Relation von Tragödie und Trauerspiel aus. Das Unentscheidbare der Tragödie trägt dasTrauerspiel aus. Es ist der »Nachtrag zur Tragödie«, der diese »nachträglich« ›lesbar‹ macht, und den diese als der einmalige »entscheidende Vollzug«, der sie sei, umgekehrt ausschließt.98 Das Trauerspiel hat dagegen an der ›Wiederholung‹ sein ›Gesetz‹ (315), das es als Theater-Spiel ausweist und das (als deren Gesetz) seine Trauer ausmacht.

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C. Menke: Tragödie im Sittlichen, S. 106. E. Geulen: Das Ende der Kunst, S. 95ff. Vgl. H.-T. Lehmann: Theater und Mythos, S. 165f. Vgl. J.-L. Nancy: Nach der Tragödie, S. 18, 21-26, 30ff.: »der ›Ausgang‹ aus dem Kult« ruft »die Tragödie – oder das Theater – in ihrer Besonderheit ins Leben« (ders.: »Theaterereignis«, S. 323, 323-328). 98 M. Twellmann, Das Drama der Souveränität, S. 43; »von Trauer als der Resonanz des Tragischen schweigt« »die Aristotelische Poetik« (I, 297). 51

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Die »Vergangenheit« des Trauerspiels ›führt weit zurück‹ (292), weil sie, so Benjamin mit größter Nähe zu Nietzsches Geburt der Tragödie,99 im »Tode des Sokrates« im Platonischen Dialog zu situieren sei, der eine »Parodie« (292) auf den tragischen als dem »Sühneopfer im Geist einer kommenden Gerechtigkeit« abgibt. Der »sterbende Sokrates« setze das »Agonale echter Tragik«, das vom physischen Tode bzw. der »ausschließlichsten« Diesseitigkeit des Lebens bestimmt ist, im Dialog aus, in dem »selbst sein philosophisches Ringen markierendes Training« sei. Derart habe »mit einem Schlage«, sagt Benjamin, »der Tod des Heros sich in das Sterben eines Märtyrers verwandelt«, der in »Unsterblichkeit« sich »wiederzufinden erwartet«, der es also auf eine Wiederholung anlegt (292f.),100 und sei im Platonischen Dialog als »Parodie« des tragischen Todes das Märtyrerdrama »entsprungen« (292). Dabei erkennt Benjamin im Dialog (als solchem), Nietzsches These vom Verfall der Tragödie in die Komödie umakzentuierend, jenen »Grat«, »von wo die beiden Formen der Sprache und Erkenntnis [...] Tragödie und Komödie[] abstürzen«.101 Ist derart die »Vergangenheit« des Trauerspiels in der parodierenden Wiederkehr der Tragödie, die »deren Ende an[zeigt]« (292), gegeben,102 so hat umgekehrt die Tragödie am Trauerspiel ihre traurige Wiederkehr und findet in der Wiederholung ihr ›Ende‹ ›ohne richtiges Ende‹.103 Wiederholend trauert das Trauerspiel um den Tod der Tragödie, d.i. aber genauer, so akzentuiert S. Weber, um »the significance of death for the tragedy, as well as the demise of tragedy itself«.104 Der Tod der tragischen Endgültigkeit des Todes 99 Vgl. E. Geulen: Das Ende der Kunst, S. 95; S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 485; P. Fenves: »Tragedy and Prophecy«, S. 243f.. 100 Zum tragischen Tod und dem des Märtyrers vgl. I, 314f., 290-92. 101 So Benjamin zu Molière – II, 612. In impliziter Umakzentuierung gegenüber Nietzsche entscheiden, Benjamin zufolge, Platons Dialoge den »Kampf« »gegen die Tragödie« »nicht in dem rationalen Geist des Sokrates, vielmehr im Geist des Dialoges selbst«; dieser sei die »reine dramatische Sprache diesseits von Tragik und von Komik« »des neuen Dramas zumal die des Trauerspiels« (I, 297; vgl. P. Primavesi: Kommentar, Übersetzung, Theater, S. 278f.; N. Müller-Schöll: Das Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, S. 110f.), so widerspricht er Nietzsches »Die Geburt der Tragödie« (vgl. KSA 1, S. 545f.), derzufolge die Komödie Besiegelung des Verfalls der Tragödie an die Dialoge ist (ebd., KSA 1, S. 76ff.). 102 Die »Gespräche des Sokrates« seien der »Epilog der Tragödie« (I, 296f.). 103 Der Tod der Tragödie ist offenbar selbst ein sich in der Geschichte seiner Philosophie wiederholender, er wird dem Monotheismus, dem Christentum, der Säkularisierung, der prosaischen Welt usw. zugeschrieben. 104 S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 494. 52

TRAUERSPIEL UND TRAGÖDIE

ist nicht nur Gegenstand der Trauer, sondern vielmehr trauernd vollzogen: als die Nicht-Vollendung eines nicht in sich sich (ab)schließenden, sondern wiederholenden und auf Wiederholung angelegten Geschehens, das das Trauerspiel ist. Die Trauer selbst folgt dem Gesetz der Wiederholung und untersteht der Wiederkehr. Benjamins Theorie des Trauerspiels zufolge, die als sein ›Gesetz‹ das der Trauer kenntlich macht (315, 318),105 ist dieses, so P. Fenves, »nothing but the ostentatious display of returnness. The gods return, antiquity returns, spirits return«.106 Jede ›Wiederkehr der Tragödie‹ ist als eine Wiederaufführung, so traurig diese, in der Trauer um den Tod der Tragödie, auch sei, nicht-tragisch; als deren nachträgliche Lektüre ist sie die Sache des Trauerspiels.

Die »allegorische Betrachtung« des Trauerspiels Die Relation von Tragödie und Trauerspiel denkt Benjamin also nicht als historische im Sinne einer erzählbaren Geschichte der Entwicklung oder Ablösung, vielmehr stellt das Trauerspiel der Tragödie Ende als Wiederholung vor, als die Lektüre oder »Allegorie der Tragödie«, die es selbst stellt,107 indem es seine Verfasstheit ausstellt. Hatte die barocke Poetik das Trauerspiel selbst als Tragödie aufgefasst, reguliert und missverstanden, so ist diese barocke »Selbstverkennung« (278) umgekehrt die Fehl-Lektüre und Allegorie, die Wiederkehr der toten Tragödie. Die barocke ›Durchdringung‹ der Antike, die es darauf anlegte, »[d]ie Macht der Gegenwart« im »Medium [der Antike] zu erschauen« (278),108 vollzieht sich allegorisch: »Daher verstand es seine eigenen Formen als ›naturgemäß‹ und nicht sowohl als Gegensatz denn als die Überwindung und Erhöhung der Rivalin« (278). Das Trauerspielbuch gibt dem einen entsprechenden Auftritt nach Art der allegorischen 105 Vgl. I, 239ff., 313; I, 918; »Trauerspiel und Tragödie«, II, 136f. 106 P. Fenves: »Tragedy and Prophecy«, S. 233f. 107 Vgl. E. Geulen: Das Ende der Kunst, S. 99. Der Begriff der Allegorie spezifiziert das Trauerspiel als Wiederholung wie die »Parodie«(I, 292) und die Lektüre (I, 364). 108 Diese »Nachahmung der Antike« kennzeichnet Cysarz (wie viele andere) als Verfehlung oder »Pseudorenaissance« (»Vom Geist des deutschen Literaturbarock«, S. 21f., 29f.); Paul Hankamer spricht vom »produktiven Mißverständnis« (Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock, Stuttgart (1935), Neuaufl. 1947, S. 276, u.ö.); R. Alewyn identifiziert (in Vorbarocker Klassizismus) einen vorrangig stofflichen Bezug (eben dem widerspricht Benjamin I, 241f.). 53

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Schaustellungen: »Auf dem Triumphwagen des barocken Trauerspiels ist die antike Tragödie die gefesselte Sklavin« (278). So ist die barocke Auffassung des Trauerspiels als barocke »Theorie der ›Tragödie‹« deren »allegorische Zerbröckelung und Zertrümmerung« (364).109 Sie nahm »die Gesetze der antiken als leblose Bestandteile einzeln auf und häuft sie um eine allegorische Figur der tragischen Muse« (364). Derart folgt diese Tragödien-Lektüre dem von Benjamin an den barocken Personen beobachteten »Primat des Dinghaften vor Personalem« (361ff.). »In solcher allegorischen Zerbröckelung und Zertrümmerung erschien das Bild der griechischen Tragödie als einzig mögliches, als natürliches Wahrzeichen ›tragischer‹ Dichtung überhaupt. Ihre Regeln werden bedeutungsschwere Hinweise aufs Trauerspiel, ihre Texte gelesen wie als Trauerspieltexte.« (364)110

Das gibt Auskunft übers barocke Trauerspiel so gut wie zur Allegorie, als die dessen Lektüre der antiken Tragödie: als deren Wiederkehr und Überwindung als »Zerbröckelung« sich ausprägte. Allegorisch zerlegt, mortifiziert, erhält die Tragödie und erhält die Antike in Trümmern ein gleichsam ›natur-geschichtliches‹ ›Nachleben‹, wie die antiken Götter in den Allegorien sowohl in ihrer gefährli109 »[D]ie ›Regeln‹ der antiken Tragödie [werden] zu den amorphen, obligaten und emblematischen [...], mit denen die neue Form sich heranbildete« (I, 364); das zeigt auch die Literaturhistorie der Aristoteles-Rezeption, vgl. H.J. Schings: »Consolatio Tragoediae«, S. 28-37; zum ›barocken Aristotelismus‹, I, 278, 242; vgl. Armin Schäfer: »Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel«, in: M. Bergengruen/R. Borgards (Hg.), Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte, Göttingen 2009, S. 387-430, hier S. 393f.; für die christlich-antike ›Neu-Auslegung‹ der aristotelischen Tragödienpoetik, vgl. Schings, ebd., S. 33-37, 25ff., 18ff.; zur Bedeutung Senecas (Benjamin bezieht sich auf Paul Stachel: Seneca und das deutsche Renaissancedrama, Berlin 1907) vgl. I, 242, 392; H.-J. Schings: »Seneca-Rezeption und Theorie der Tragödie. Martin Opitz’ Vorrede zu den Trojanerinnen«, in: W. Müller-Seidel (Hg.), Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft, München 1974, S. 521-537, hier S. 522525, 534f.; W. Barner: »Gryphius und die Macht der Rede«, S. 357; Gerhard Kaiser: Die Dramen des Andreas Gryphius, Stuttgart 1968, S. 3f. 110 Wenn Benjamin anschließt: »Wieweit das möglich war und blieb, davon geben die Hölderlin’schen Sophoklesübersetzungen aus der von Hellingrath nicht umsonst ›barock‹ genannten Spätzeit des Dichters den rechten Begriff« (I, 365; vgl. I, 403), dann gibt er der allegorischen Lektüre große Reichweite mit dem Fall von Übersetzung, der Benjamin »die Forderung der Wörtlichkeit [der Übersetzung als] unableitbar aus dem Interesse der Erhaltung des Sinnes« erweist (»Die Aufgabe des Übersetzers«, IV, 17f.). 54

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chen Leiblichkeit bewältigt, als auch in »ihrer erstorbenen Dinghaftigkeit« (400) gerettet wurden. Das allegorische »Bild der griechischen Tragödie«, das das Trauerspiel als nachträgliche Lektüre, Wiederholung und Zerfällung der Tragödie stellte und zur Schau stellte, gibt dem Barock nicht nur das »einzig mögliche«, sondern in Ruinen das »natürliche« »Wahrzeichen ›tragischer‹ Dichtung« (364). Allegorien verschränken »Natur und Geschichte« im Zeichen der Todverfallenheit ineinander (344). Sie sind der Modus des mortifizierten ›Fortlebens‹ der Tragödie (d.i. zugleich der Trauer um sie, die abgestorbene), wie umgekehrt Ruinen, mit denen Geschichte in die Natur als ihren Schauplatz einzog (353), die »Denkmäler« der Geschichte stellte, die der »saturnische Blick« allein in der »als ewiges Vergängnis« aufgefassten Natur erkannte (355).111 Natur, der »›Geschichte‹« in der »Zeichenschrift der Vergängnis« letteral eingetragen ist (353), zeigt die »allegorische Physiognomie der NaturGeschichte«,112 die als Schrift, mit den Trauerspielen vorliegt (353). Mit der ›allegorischen Betrachtung des barocken Trauerspiels‹ ist demnach, im zweifachen Sinne des Genitivs, ein Doppeltes angesprochen. Zum einen fasst Benjamin das Trauerspiel auf als die allegorische Lektüre der Tragödie, die als solche so sehr zerstückt wieder-aufgeführt, wie sie derart mortifiziert trauernd bewahrt ist. Zum zweiten prägen die Trauerspiele die »allegorische Betrachtung« aus, derzufolge Geschichte in der »als ewige Vergängnis« aufgefassten Natur erkannt wurde (355) und die Natur sich »geschichtlich geprägt«: so todverfallen wie bedeutend (342), zeigt. Die Allegorie sei, wie Benjamin in einem der Paratexte zum Trauerspielbuch notiert, das »Schema des Barock-Trauerspiels«.113 Wie »das Innenleben der Personen im Kreaturzustand« suche der Barock das »historische Geschehen« in Natur zurückzunehmen, 111 In diesen »hausen […] die Saturntiere« (355), ›Wappen‹-Tiere der melancholisch grundlos sich vertiefenden Trauer, wie es sich: Fledermaus oder Vampir, auf Dürers Melencolia I zeigt, dem Blatt, das – nicht nur dem Trauerspielbuch (I, 319f., u.ö.) – die Melancholie lesbar macht (s.u. in III.). 112 Damit sind die beiden Hinsichten der »Natur-Geschichte« (I, 353) angegeben, durch deren Ausprägung Benjamin das barocke Trauerspiel als allegorisch verfasstes bestimmt (vgl. I, 242f., 353, 270, 299). Theodor W. Adorno Adorno nimmt sie als »Die Idee der Naturgeschichte« begrifflich (Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1973, Bd. 1, S. 345-365, hier S. 359f., 354f.); vgl. Burkhard Lindner: »Natur-Geschichte – Geschichtsphilosophie und Welterfahrung«, in: Text und Kritik: Walter Benjamin 31/32, München 1979, S. 41-58 (insb. S. 43); B. Menke: Sprachfiguren, S. 179. 113 »Exposé«, I, 951. Daher wird erst mit der und als die Allegorie die Struktur des Trauerspiels erläutert. 55

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»einzufrieden« (270) oder, spezifischer, zu simultaneisieren: »Die Geschichte wandert in den Schauplatz hinein« (271), und »ein für allemal« soll sie »verschlossen bleiben in dem Requisit« (347). »›Geschichte‹« trägt sich letteral als Inschrift ein,114 in der »Zeichenschrift der Vergängnis«, mit der die Natur ihre »allegorische Physiognomie« (353) erhält: »das starre Antlitz der bedeutenden Natur« (347). Oder: »Wenn mit dem Trauerspiel die Geschichte in den Schauplatz hinein wandert, so tut sie es als Schrift.« (353)115 Als die »Zusammenlegung alles Gedächtniswürdigen« wird Geschichte »panoramatisch« aufgefasst (271),116 bzw. »im Schauplatz säkularisiert« (271): »[F]ürs Vergegenwärtigen der Zeit im Raume [ist] Simultaneisierung des Geschehens das gründlichste Verfahren« (370), das ist, Benjamin zufolge, die barocke »restlose Säkularisierung des Historischen«, das einmal als die Stationen der Heilsgeschichte aufzufassen war (260), im Raume,117 genauer »im Schauplatz« (270f.).118 Der Schauplatz ist als solcher durch den Bezug auf den Zuschauer bestimmt.119 Unterscheidend akzentuiert Benjamin, das Trauerspiel sei vom »Beschauer« (299) her,120 und dessen Rela114 Vgl. I, 349. Auch wenn Verse von Schäfern an Bäume geheftet werden (I, 271), sind die Beschriftungen, die Nomenklaturen mit den Gegenständen, auf denen sie auftreten, verknüpfen wollen, Doppelungen, die einen Riss zwischen beiden nur akzentuieren können (vgl. auf der Kreuzinsel in der Continuatio von Grimmelshausens Simplicissimus, vgl. Waltraud Wiethölter: »›Baltanderst Lehr und Kunst‹. Zur Allegorie des Allegorischen«, in: DVjs 68 (1994), S. 45-65, hier S. 51). 115 Die »allegorische Physiognomie der Natur-Geschichte« wird »auf der Bühne durch das Trauerspiel gestellt«, als Schrift (I, 353) 116 So zitiert Benjamin H. Cysarz (Deutsche Barockdichtung, S. 27); das weist voraus auf die Passagen-Arbeit. 117 Dies, nicht aber »die Antithese von Geschichte und Natur« (I, 270; vgl. Willhelm Vosskamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, Bonn 1967, S. 164-170, u.ö.), sei das Entscheidende (noch der barocken »Weltflucht«, I, 271). 118 Vgl. für viele andere Fälle: Georg Philipp Harsdörffer: Der große Schau= Platz jämmerlicher Mordgeschichte. Bestehend in CC. Traurigen Begebenheiten. Mit vielen merkwürdigen Erzehlungen/ neu üblichen Gedichten/ Lehrreichen Sprüchen/ scharfsinnigen/ artigen/ Scherzfragen und Antworten/ ec. Verdolmetscht und mit einem Bericht von den Sinnbildern wie auch hundert Exempeln derselben als einer neuen Zugabe/ aus den berühmtesten Autoribus, Hamburg 1656. 119 Vgl. S. Weber: Theatricality as Medium, S. 173, 176f.. Luther übersetzte theatrum durch Schauplatz (vgl. Burkhardt Wolf: Die Sorge des Souveräns. Eine Diskursgeschichte des Opfers, Zürich, Berlin 2004, S. 71). 120 »Er erfährt, wie auf der Bühne, einem zum Kosmos ganz beziehungslosen Innenraume des Gefühls, Situationen ihm eindringlich vorgestellt werden.« (I, 299). »Beschawung« zit. R. Alewyn aus Opitz’ Vorrede zu seiner Troja56

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tion zur Bühne als dem konstitutiv begrenzten Schauplatz, d.i. seine Getrenntheit von ihm wie seine Bezugnahme auf diesen, also vorrangig theatral, zu denken. »Das Weltbild verfällt dem Theater«, befand etwa Cysarz, auf den Benjamin sich bezog, und sprach vom Spectaculum in bezug auf die Bühne als »festumhegten Raum, der die Dinge aus dem Zeitstrom reißt«.121 Das Trauerspiel stellt «auf der Bühne, einem zum Kosmos ganz beziehungslosen Innenraume des Gefühls« (299), so akzentuiert Benjamin, als »Spiel vor Traurigen« ›die Bilder, wie sie gesehen werden sollen‹.122 Es ist eine allegorische »bloße Schaustellung« von Leben und Leibern in deren Teilen (297f.), die der »auf Bilder und Gesten« gerichteten Schaulust genügen.123 Seine Akte fügen sich nicht dramatischer Handlung, sondern zeigen sich gerahmt von den Reyen als ihren »ornamentalen Randleisten« als Bestandstücke bloßer Schaustellung (300f., 366371).124 Jede Schau-Stellung bezieht als Zeigen das Sehen auf den »umhegten Raum« (Cysarz), den »streng begrenzten Raum« (Benjamin),125 die Bühne als den Schau-Platz, der das Geschehen ermöglicht. Umgekehrt wurde das »Bild des Schauplatzes, genau: des Hofes, […] Schlüssel des historischen Verstehns«; in ihm »erblickt das Trauerspiel den ewigen natürlichen Dekor des Geschichtsverlaufs« nerinnen-Übersetzung (Vorbarocker Klassizismus, S. 7; vgl. A. Schäfer: »Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel«, S. 399). Bezeichnend ist die Differenz zu Lukács: »Ein Spiel ist das Drama; ein Spiel vom Menschen und vom Schicksal: ein Spiel, wo Gott der Zuschauer ist« (Die Seele und die Formen, (1971) S. 218; vgl. I, 261). 121 H. Cysarz zur Malerei (Deutsches Barock in der Lyrik, S. 113) und zur barocken Bühne: »Speculum wird zum Spectaculum, der offene Spiegel zu Schau und Spiel; er wird damit nicht nur zum Guckkasten der Täuschung, sondern auch zum festumhegten Raum, der die Dinge aus dem Zeitstrom reißt.« (ebd., S. 98; vgl. S. 102; vgl. P. Hankamer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock, S. 312). »Der Schauplatz wird nicht nur vom Zuschauer getrennt und emporgehoben, dies ein Fortschritt schon der Renaissance, sondern [im Barock] reich gegliedert und mannigfach verbeweglicht.« (Cysarz, ebd., S. 98, vgl. S. 100; zu den Einrichtungen des Schauplatzes vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, hg. von I. Böttcher, (Neudr.) Tübingen 1969, VI. Teil, S. 164-192). 122 Vgl. I, 320ff.; daher finde sich in der Theorie der melancholischen Veranlagung der »geradere Kommentar des Trauerspiels« (vgl. unten in III.). 123 P. Primavesi: Kommentar, Übersetzung, Theater, S. 281. 124 In dieser Ausprägung der Reyen erfuhr der Chor der antiken Tragödie die »barocke Umdeutung seines Wesens« (I, 300f.; vgl. unten in IV.). 125 Vgl. II, 272. »Mit tausend Griffen künstelnden Witzes werden [in Gemälden] die Körper bühnenmäßig zur Schau gestellt, in den umhegten Raum geordnet« (H. Cysarz: Deutsches Barock in der Lyrik, S. 113, vgl. 98). 57

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(271), des »geschichtlichen Leben[s] wie es jene Epoche sich darstellte« (242): im Untergang des Fürsten, der, weil sein Grund »der Stand des kreatürlichen Menschen selber« ist, »so verschieden ist von dem außerordentlichen des tragischen Helden« (268), im Agieren der Intriganten als plotter der »Verwicklungen« auf dem Schauplatz (274). Das Trauerspiel kennt keinen tragischen ›Helden‹, so dumpf, schattenhaft, stumm dieser in der Tragödie auch blieb,126 »sondern nur Konstellationen« (310f.) des in Requisiten verschlossenen Geschehens127 – und »Heldendarsteller«:128 Die ›Personen‹ des Trauerspiels, der Souverän, der Tyrann oder Märtyrer, und der Intrigant, repräsentieren das »geschichtliche Leben[,] wie es jene Epoche sich darstellte« (242f.), gerade weil sie »mit dem Tode nur die benannte Individualität und nicht die Lebenskraft der Rolle ein[büßen]. Ungemindert lebt sie in der Geisterwelt auf« (314f.)129 – und sucht aus dieser wiederkehrend nach Gespensterart die Trauerspiele heim. Derart ist, wie durch die ›Macht‹ der Requisiten die »Verfallenheit des verschuldeten Lebens an die Natur«, die Schicksal heißt, manifestiert ist,130 das ›Leben‹ auf dem Schauplatz des Trauerspiels als ein gespenstisch wiederkehrend halblebendiges bestimmt.

Geschichts- und Schicksalsdrama, Trauer-Spiel Ein erstes Kapitel seiner Abhandlung zum deutschen Trauerspiel sollte, so äußerte sich Benjamin früh, »über die Historie im Spiegel des Trauerspiels« gehen.131 Das Trauerspiel ist, so heißt es im Trauerspielbuch, das »geschichtliche Leben[,] wie es jene Epoche sich darstellte« (242f.), das in der Revue seiner Protagonisten aufzieht. Geschichte sei derart aber nicht der Stoff, sondern »Gehalt des 126 Vgl. I, 279-298; vgl. »Schicksal und Charakter«, II, 175. 127 Für die Säkularisierung der Geschichte führt Benjamin (zitierend) an: die auf dem Schauplatz vorfindlichen »Denksäulen der Helden«, »Tempel des Nachruhms« (I, 271). 128 Ein solcher ist der »moderne Held«. »Die heroische Moderne erweist sich als Trauerspiel, in dem die Heldenrolle verfügbar ist« (»Zentralpark«, I, 600, vgl. Susanne Kaufmann: Mit Walter Benjamin im Théâtre Moderne, oder: Die unheimliche Moderne, Würzburg 2002, S. 13-68). 129 Das Ausspielen der Persona als Maske kennzeichnet, Hegel zufolge, die Komödie als Selbstreflexion des Schau-Spielers, vgl. W. Hamacher: »(Das Ende der Kunst mit der Maske)«, in: K. H. Bohrer (Hg.), Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes, Frankfurt/M. 2000, S. 121-155, hier S. 134f. 130 II, 267; vgl. I, 311f. 131 Dokumentation I, 875. 58

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Trauerspiels« (243), sie wäre das ›Subjekt‹ des ›Auf und Ab der Dramenhandlung‹,132 wenn sie nicht vielmehr als Konfiguration auf dem Schauplatz aufzufassen wäre. In seinem dem Trauerspielbuch vorarbeitenden Aufsatz »›El mayor monstruo, los celos‹ von Calderon und ›Herodes und Mariamne‹ von Hebbel«, bezieht Benjamin zufolge seines Untertitels das Trauerspiel auf das »Problem des historischen Dramas».133 Im Trauerspielbuch steht das Historien-Drama unter dem Namen Schiller für ein »apokryphes Nachleben des Trauerspiels« in der deutschen Klassik (301f.) und tritt derart ein in jene Konstellation von »Vorund Nachgeschichte«, die das barocke Trauerspiel darstelle, neben dem mittelalterlichen Passionsspiel, dem ›romantischen‹ Schicksalsdrama u.a.. Gehören derart Schillers historische Dramen, die mit ihrem Bezug auf die Geschichte das Problem der ›modernen Tragödie‹ anzeigen,134 der Konstellation des Trauerspiels an, so rücken sie umgekehrt das barocke Trauerspiel als Schauspiel der Geschichte in den Blick; paradigmatisch sind dafür Shakespeares Historien.135 In fast gleichlautenden Formulierungen bezog Benjamin Schillers Geschichtsdramen bereits in den genannten Aufsatz »zum Problem des historischen Dramas« ein.136 Das »romantische Schicksalsdrama«

132 Vgl. Heinrich Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama, Tübingen 1977, S. 43ff.; I, 312, 308f.. 133 II, 249; vgl. J. Thaler: Dramatische Seelen, S. 155-161. 134 »Der unwiederholbaren Voraussetzung, die der Tragödie im Mythos gegeben war, glaubte er [Schiller] in Gestalt der Geschichte erneuert sich zu versichern.« (I, 301). Benjamin zufolge gewann Schiller »dem Klassizismus ab, im Rahmen des Historischen das Schicksal als Gegenpol der individuellen Freiheit reflexiv zu spiegeln. Aber je weiter er diesen Versuch trieb, desto unausweichlicher näherte er mit dem romantischen Schicksalsdrama, wie die ›Braut von Messina‹ es variiert, sich dem Trauerspieltypus« (ebd.). 135 Im 18. Jahrhundert wird Shakespeare zum Paradigma der modernen Tragödien (dann auch der Komödien), mit Shakespeares Historien wusste erst Schiller etwas anzufangen (vgl. A. Haverkamp: »Perpetuum Mobile: Shakespeares fortwährende Renaissance«, in: Theaterschrift 11 (1997), S. 34-48, hier S. 36, S. 38f., 42, 44; ders.: »Die Unruhen in Norwegen. Melancholie und Anamorphose in Goethes ›Hamlet‹«, in: W. Menninghaus/K. Scherpe (Hg.), Literaturwissenschaft und politische Kultur, Stuttgart 1999, S. 47-54, hier S. 54). Sie wurden in England erst mit der englischen Übersetzung von A.W. Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Litteratur rezipiert (vgl. Ina Schabert: »Shakespeares Geschichtsvision in romantischen Brechungen. Die Rezeption der Historien in England 1800-1825«, in: R. Bauer (Hg.): Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik, Bern u.a. 1988, S. 60-76). 136 Vgl. II, 260ff.; B. Menke: »Wozu Schiller den Chor gebraucht …«, S. 72f. 59

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Calderóns, auf das er Schillers Dramen bezieht,137 zeichnet Benjamin dadurch aus, dass es die »ästhetischen Aporien des historischen Dramas« (302) bezeichne138 (was er im Bereiche der deutschen Trauerspiele den travestischen Haupt- und Staatsaktionen, d.i. der Posse zutraut).139 Denn zum einen sei das »historische Drama«, weil es der Determiniertheit vergangener Geschichte einen Sinn unterstellen müsse, die Geschichte aber überhaupt nicht »sinnvoll an sich« ist, allein durch den »Schicksalsgedanken« möglich: »Urbild […] der Kunst ist daher nie die Geschichte; sie kann es auch im historischen Drama nicht sein. Vielmehr ließe sich die Bedeutung gerade dieser Form […] aussprechen als die Darstellung der alle Wechselfälle des Historischen durchdringenden und zuletzt in ihnen triumphierenden Natur. Natur des Menschen, nein, Natur der Dinge ist das Fazit, gerade des historischen Dramas.«140

Mit dieser Bestimmtheit durch die »Natur der Dinge«, die »vollendete Faktizität historischer Dinge«, die »sie als Schicksal vor[stelle]«,141 ist das »historische Drama« »Darstellung« des Schicksals 137 Zur Auffassung von Calderóns Schauspiel als Schicksalsdrama, vgl. II, 264; Benjamin bezieht sich auf Peter Berens, »Calderons Schicksalstragödien«, in: Romanische Forschungen 39, Erlangen 1926 [repr. 1967], S. 1-66. 138 »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 270272; vgl. B. Menke: »Reflexion des Trauer-Spiels«, 256ff.. 139 Die »ästhetischen Aporien des historischen Dramas« müssen in des deutschen Trauerspiels »radikalste[r] und eben daher kunstloseste[r] Ausgestaltung, der Haupt- und Staatsaktion, am deutlichsten zutage treten« (I, 302; vgl. II, 253), also in einer Form, die wie die J.A. Stranitzkys (von denen auch Benjamin ein Exemplar anführte) Staatsaktionen (oft in Übers. von Vorlagen als Travestie) mit grob-komischen Zwischenspielen versahen, Inbegriff dessen, was J.C. Gottsched endlich von der Bühne des 18. Jahrhunderts verbannt wissen wollte. 140 »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 249. 141 »Wo Schicksal ist, da ist ein Stück Geschichte Natur geworden«: »Die vollendete Faktizität historischer Dinge stellt sie als Schicksal vor« (II, 249f.). Anlässlich Schillers betont Benjamin: Der Geschichte »eignet von Haus aus[] weder ein tragisches Moment im antiken, noch ein Schicksalsmoment im romantischen Sinne, es sei denn sie zernichteten und nivellierten einander im Begriff des Kausalnotwendigen« (I, 302). Denn »nicht der unentrinnbare Kausalzusammenhang an sich ist schicksalhaft. […] Die Anschauung des Determinismus kann keine Kunstform bestimmen. Anders der echte Schicksalsgedanke, dessen entscheidendes Motiv in einem ewigen Sinn solcher Determiniertheit zu suchen wäre […]. Schicksal ist kein rein natürliches Geschehn – sowenig als ein rein historisches. Schicksal, wie immer sonst es heidnisch, mythologisch sich verkleiden mag, ist sinnerfüllt nur als naturgeschichtliche Kategorie. […]. Es ist die elementare Naturgewalt im 60

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(während in der antiken Tragödie sich die »Auseinandersetzung« mit diesem vollzieht).142 Dessen Requisiten, in denen Geschichte allegorisch ›verschlossen‹ bleiben sollte (347), bestimmen das Geschehen auf dem »Schauplatz« so zufällig, wie sie es beklemmend in ihrer Macht halten.143 Zum anderen aber bedarf das Schicksalsdrama daher der ›Reflexion‹ des Spiels, als das das Schicksal in dem »streng begrenzten Raum«, der die Bühne ist, entfaltet werde;144 das macht es zum romantischen. Die Selbst-Thematisierung des dramatischen Geschehens als theatrales Spiel, das das dramatisch entfaltete Schicksal ist,145 verhindert, dass dieses als der Geschichte unterstellte Kausalität realistisch missverstanden werde. Benjamin kennzeichnet die Schauspiele Calderóns dadurch, »wie er den großen Stoff […] in einen streng begrenzten Raum hineinstellt, um dort das Schicksal spielhaft zu entfalten«.146 Dieser »Raum« ist die durch ihre Begrenzung und Rahmung konstituierte Bühne, die den Schauplatz des »Schicksals« oder der »in sich geschlossene[n]« »sublunarische[n] Welt« des Trauerspiels (261) stellt.147 Durch seine konstitutive Grenze ist der Schauplatz in sich selbst gespalten und auf den Zuschauer vor ihm bezogen, der umgehistorischen Geschehen, das selber nicht durchaus Natur ist, weil noch der Schöpfungsstand die Gnadensonne widerstrahlt. Gespiegelt aber in dem Pfuhl der adamitischen Verschuldung« (I, 308). 142 »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 250. 143 So im Schicksalsdrama (I, 312ff.), im raffinierteren Fall von Calderóns El mayor monstro, los celos und dessen Requisiten Dolch und Gemälde (II, 264), wie im kruderen von Zacharias Werners Der vierundzwanzigste Februar (I, 263). 144 Vgl. II, 272. »Die Dramatik des Spiels sieht, wo sie historischen Stoffen gegenübersteht, sich genötigt, Schicksal als Spiel zu entfalten« (II, 260). 145 Zu den Ambiguitäten des barocken »Spiels«, vgl. A. Schäfer: »Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel«, S. 425; (zum Schlesischen Drama) P. Hankamer: »Sinne und Seele werden in den Spielkreis gebannt, um dann wieder das Illusionäre der Handlung, das Theater auf dem Theater erklärt zu erhalten.« (Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock, S. 312f.; R. Alewyn: »Der Geist des Barocktheaters«, in: W. Musch/E. Staiger (Hg.), Weltliteratur. Festschrift für Fritz Strich, Bern 1952, S. 15-38). Hankamer spricht von Ironie, Benjamin zwar von Reflexion, vor allem aber von allegorischer Ostentation der Faktur. 146 »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 272. 147 Die »Welt des Schicksals«, die »geschlossene«, »sublunarische« (II, 267f.), ist – so korrigiert das Trauerspielbuch den früheren Text – »die Welt der Schicksalsdramen« (I, 261). »Es war die sublunarische Welt im strengen Sinne, eine Welt der elenden oder prangenden Kreatur, an der ad maiorem dei gloriam und zur Augenweide der Beschauer die Regel des Schicksals planvonn und überraschend sich bestätigen sollte.« (I, 262f.) 61

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kehrt sich zur Bühne durch die Trennung von ihr und den Bezug auf sie verhält. Calderóns Schauspielen schreibt Benjamin zu, dass ihre Protagonisten, die dem Tod doch nicht entgehen, vor der »unheilvollen und unwiderstehlichen Manifestation des Schicksals, dem das Geschöpf unterliegt«, »[e]inzig in nimmermüden […] Reflexionen […] sich zu salvieren« vermögen.148 Sie haben, heißt das, eine »beispiellose Virtuosität der Reflexion« »jederzeit bei der Hand«, um das Schicksal »wie einen Ball in den Händen« »zu wenden« (263). »Spielerisch wird das Geschehen durch Reflexion verkleinert«,149 und derart der theatrale Rahmen, in dem der Schicksalszusammenhang entfaltet ist, ins dramatische Geschehen selbst im ›begrenzten Raum‹, in dem dieses Spiel des Schicksals möglich ist, eingespielt.150 Es handelt sich um die mise en abyme (durch spielerische Verkleinerung) des gerahmten, für das Geschehen konstitutiven ›begrenzten Raums‹ in dessen ›Innern‹; unabschließbar zeichnet sie die barocke Figur der Volute (262). Den fürs barocke Trauerspiel Ausschlag gebenden »Schicksalsgedanken«, »daß Schuld, als welche in diesem Zusammenhang stets kreatürliche Schuld […] ist, durch eine wie auch immer flüchtige Manifestierung Kausalität als Instrument der unaufhaltsam sich entrollenden Fatalitäten auslöst« (308),151 wendet Benjamin, als deren

148 II, 269. So ist Calderóns »ganze[s] Herodesdrama […] von den skurrilsten Debatten über Schicksalsmacht und Menschenwillen durchzogen« (II, 268); es zeigt, dass nicht nur »sich das Schicksal nur uneigentlich in mißverständlichen Vorzeichen und rätselhaften Weissagungen« »schickt«, es manifestiert sich auch »in der Rede seiner Interpreten« (M. Niehaus: »Die Ironie des Schicksals«, S. 124). 149 »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 268. 150 Dagegen spricht Benjamin von der »›Gewalt des Rahmens‹« als »ein Wesentliches«, das »die antike Lebensgesinnung von der modernen« trenne; das »Orakel der Tragödie […] ist die nach außen verlegte Gewißheit, tragisches Leben sei nicht, es verliefe denn in seinem Rahmen« (I, 294; zit. ist ohne dessen Nennung Erich Unger, von dem ein Aufsatz unter dem Titel »›Gewalt des Rahmens‹« hätte im Angelus Novus erscheinen sollen, vgl. J. Thaler: Dramatische Seelen, S. 197-200). Wenn die »Notwendigkeit, wie sie im Rahmen festgelegt erscheint, […] nicht kausale noch auch magische [,] sondern vielmehr] […] die sprachlose des Trotzes [ist], in welchem das Selbst seine Äußerungen zutage fördert« (I, 294), so wäre die nach Benjamin »moderne« ›Trennung‹ von dieser »Gewalt« als die Reflexion der Konstitutions-Bedingung des ›Spiels‹ aufzufassen. 151 Das ist auf Calderón bezogen, I, 308; vgl. II, 267. Im »isolierten Kraftfeld« »in welchem alles Angelegte und Gelegentliche [...] sich steigert«, verraten die »Verwicklungen, der Ehre etwa, durch ihre paradoxe Heftigkeit [...]: ein Schicksal hat dies Spiel galvanisiert« (I, 308); mit dem Stichwort der Ehre 62

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Bindung an den Zufall, gegen die gängige Auffassung vom ›tragischen Schicksal‹, wie folgt: »Wenn einer meinen würde: ›Wo uns unwahrscheinliche Zufälle, ausgeklügelte Lagen, allzu verzwickte Intrigen … entgegentreten, dort ist es mit dem Eindruck des Schicksalsmäßigen … vorbei‹, so wäre das grundfalsch. Denn gerade die entlegenen Kombinationen, die da nichts weniger als natürlich sind, entsprechen den verschiedenen Schicksalen in den verschiedenen Feldern des Geschehens.« (309)152

»Schicksal« als Verfallenheit an »kreatürliche Schuld« manifestiert sich vielmehr noch und gerade im »Zufall« von Auslösungen, der darin als »hämischer« sich zeige (308). Die Zufälligkeiten des »Schicksalsmäßigen« tragen die Äußerlichkeit der Bestimmtheit des dramatischen Geschehens im Trauerspiel vor. Aus der Perspektive des Dramas ist es undramatisch, denn das Drama müsse, so akzentuiert P. Szondi dessen Programm, den Zufall durch die Einheit der dramatischen Handlung, deren lückenlose Motivierung (vermeintlich) von innen, ausschalten. »Zufall als Zersetzung des Geschehens in dinghaft abgesteckte Elemente entspricht durchaus dem Sinn des Requisits« (312). In diesem Sinne ist der »Tod des Hamlet [...] in seiner vehementen Äußerlichkeit fürs Trauerspiel charakteristisch. Er will am Zufall sterben [...]«; dem entspricht, »wie die schicksalhaften Requisiten sich um ihn [...] scharen« (315).153 Und umgekehrt: Die Zufälligkeiten, in denen das »Schicksalsmäßige« sich durchsetzt, dem selbst und gerade Entlegenes zum Auslöser von »Kausalität als Instrument der unaufhaltsam sich entrollenden Fatalitäten« werden kann (308), lassen im Schicksal die ›Absichtlichkeit der Fügung‹ des Schicksalsdramas erkennen (261).154 Kann der ist an P. Calderóns El mayor mónstruo, los celos zu denken (vgl. II, 251, 269; I, 265f., 272). 152 Vorgeführt wird hier, im Zitat Johannes Volkelt (Ästhetik des Tragischen, (3. Aufl.) 1927). 153 Daher »blitzt in dem Abschluß dieses Trauerspiels«, »wie die schicksalhaften Requisiten sich um ihn [Hamlet] als um ihren Herren und ihren Kundigen scharen, [...] das Schicksalsdrama, als in ihm einbeschlossenes, freilich überwundenes auf« (I, 315). Die »Äußerlichkeit« Calderóns (vgl. II, 259f., seiner Mittel, Umstände, Zufälle so Hermann Ulrici: Über Shakespeare’s dramatische Kunst und sein Verhältnis zu Calderon und Göthe, Halle 1839, S. 513-518, 522f., 525) wird »in planvoll veräußerlichter Motivierung« im Zufall der Requisten kenntlich (I, 311; II, 263-265). 154 Zur »Absichtlichkeit« »im idealen romantischen Trauerspiel des Calderon«, vgl. I, 261, II, 260, 264f.. 63

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»Sinn der Determiniertheit« als Schicksal nur im ›Spiel‹ entfaltet werden, so wird, (nur) indem der unterstellte »Sinn« im »Schicksal als Spiel«155 durch die offenbaren Zufälle kenntlich wird, den ›historischen Stoffen‹ in der »Dramatik des Spiels« Genüge getan; »schlechthin real wird das Schicksal nur in den schlechten unromantischen Schicksalstragödien gesetzt«.156 Das Schicksalsdrama verhält sich zum »Problem des historischen Dramas«,157 insofern es als »romantisches«, durch die »paradoxe Reflexion von Schein und Spiel« (261), verhindert, dass der »ewige Sinn der Determiniertheit« in einem realistischen Fehlschluss auf die »Welt« aufgefasst werde. Daher erweise, so Benjamin, »Schillers Kunstverstand« »unvergleichlich« sich darin, dass »er in der ›Jungfrau von Orleans‹ oder im ›Wallenstein‹ jenen Momenten des Wunders oder des Sternenregiments in echt Calderonschem Sinne Eingang gewährte.«158 In solchen Szenen – das macht ihren ›romantisch-reflexiven‹ oder vielmehr den selbst-expositiven Zug ihrer exaltierten Gesten (303) – wird die Theatralität der »spielhaften Entfaltung« des Schicksals im ›begrenzten Raum‹, der die Bühne ist, selbst ausgewiesen, und zwar insofern diese sich ins Drama nicht integrieren. Die »paradoxe Reflexion« des Geschehens als »Spiel und Schein« trägt jenen »Zwiespalt« aus, der dem Drama, das genötigt sei, »Schicksal als Spiel zu entfalten«, konstitutiv angehört.159 Das Spiel ist stets im Zwiespalt (auch) mit sich selbst. Die theatrale Exteriorität wäre – so mag Benjamin dem einbekannten Spiel zuzugestehen – die Bedingung der Möglichkeit des Geschichts-Dramas, wenn sie nicht (vielmehr) dieses durchkreuzte. In diesem Sinne sind Shakespeares Historien Theater, das, so A. Haverkamp, »statt einfach nur Theater [und sei es der Geschichte] zu 155 »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 276, 260. 156 Ebd. II, 272. 157 »Kommt [...] die Ehre [...] als ein [...] durch Alter gesteigerter Stoff dem Dichter entgegen, so führt er allerdings die ungeheure Anforderung mit sich, eben dem Historischen und nicht der Fabel allein zu genügen [...]. Dies bezeichnet den Punkt von Calderons Versagen.« (II, 251) H. Ulrici, den Benjamin (auch) zitiert (II, 259), besteht darauf, »[d]aß man [...] bei Calderon nirgends eine Spur vom historischen Drama findet« (Über Shakespeare’s dramatische Kunst und sein Verhältnis zu Calderon und Göthe, S. 538) 158 II, 272, I, 301; vgl. B. Menke: »Wozu Schiller den Chor gebraucht …«, S. 91-93. 159 Dass die »Dramatik des Spiels« sich, »wo sie historischen Stoffen gegenübersteht«, »genötigt [sehe], Schicksal als Spiel zu entfalten«, »[e]ben dieser Zwiespalt ist es, der die ›romantische Tragödie‹ konstituiert« (II, 260). 64

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machen, die Theater-Maschine bei der Produktion von ›Geschichte‹« zeigt,160 also das Theater als ein doppeltes Zeigen, das von etwas und das des Zeigens selbst.161 Die Theater-Bühne, »im ganzen europäischen Trauerspiel [...] nicht […] eigentlicher Ort« (298) eines ›einmaligen Vollzuges‹, wie die Tragödie einer gewesen sein soll, stelle, so Benjamin, »uneigentlich« den »Schauplatz der Geschichte« (298); sie ist in sich selbst ent-zweit, »zerrissen« (298)162 oder doppel-bödig – als der ›Raum‹, in dessen Begrenzung die dramatische Handlung entfaltet wird, und als ›Platz‹, an dem das theatrale Geschehen statthat, zugleich, als jener begrenzte Raum, dessen vermeintlich ›Inneres‹ als dramatisches Geschehen selbst auf diese Grenze und das negativ konstitutive Außerhalb bezogen und derart in sich selbst geteilt ist. »[E]verything that takes place on stage relates, constitutively, to what has taken and will take place off-stage […]. Every speech on stage is already an echo of itself and a response to other parts, inscribed elsewhere, […]. Every role takes its cue from other roles.« »[T]he space of the stage is split between both here and everywhere«.163

Das – »[they are] both here and everywhere« – kennzeichnet dramatische Personen wie Gespenster; sie sind »never just on the stage but always somewhere else as well. This double or split way of being is not so much represented as enacted by the recurrence of the ghost«.164 Die Heimsuchung durchs Gespenst bestimmt das barocke 160 A. Haverkamp: »Perpetuum Mobile«, S. 36; Benjamin habe »die barocke Bühne als den Ort erkannt[], an dem die Geschichte […] auf unseren Begriff von Geschichte gebracht wurde«, d.i. der »Ursprung der Geschichte aus dem Geist des Theaters […]. Die Verwechslung von Theater und Geschichte […] ist Teil des Theatereffekts« (ebd.; zur Selbstthematisierung der Bühne S. 42). 161 Wie Benjamin von Brecht zitierte: »›Der Schauspieler muß eine Sache zeigen und er muß sich zeigen.‹«, und akzentuierte: der »›Gegensatz [...] zwischen diesen beiden Aufgaben verschwindet‹« nicht (II, 529). 162 Die »Zweiheit von Bedeutung und von Wirklichkeit«, die »in der Einrichtung der Bühne sich gespiegelt« hat (I, 370), führt Benjamin als allegorische. 163 S. Weber: »The Incontinent Plot«, S. 236f.; das nimmt Bezug auf Hamlet, I.5, 155-159. 164 »The very fact that the ghost has returned from the dead to haunt the living indicates that it has no stable place« (S. Weber: »The Incontinent Plot«, S. 237; ders.: Theatricality as Medium, S. 185-189); zur durch die Geistererscheinungen angezeigten Medialität des Theaters (vgl. ebd., 185f.), vor allem dessen Zeitlichkeit, vgl. Natalie Binzek: »Bannung des Geistes. Ge65

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Trauerspiel, seine uneigentliche Zeit, seine Bühne als uneigentlichen Raum;165 sie teilt die dramatische Gegenwart in sich selbst und sie zeigt den Schau-Platz als von sich selbst verschieden, weil er (und alles Geschehen, das auf ihm statthat) konstitutiv auf (ausgeschlossene) andere Orte verwiesen ist. Benjamin zufolge kann die »werdende Formensprache des Trauerspiels [...] durchweg als Entfaltung der kontemplativen Notwendigkeiten gelten, die in der theologischen Situation der Epoche beschlossen liegen«; diese Notwendigkeiten machen die »Beklemmung« aus, in der es »erwuchs« (259). Das Trauerspiel vollziehe die »Säkularisierung« der Geschichte im Schauplatz »restlos« (270f.).166 Dieser sein Schauplatz ist gesperrt, wie Benjamin mit Szenen bildender Kunst vorstellt, die den Barock als »eine geistige Verfassung« vorführen, »die so exzentrisch sie die Akte der Verzückung zu erheben wußte, in ihnen weniger die Welt verklärt, als einen Wolkenhimmel über ihre Fläche streichen läßt« und derart den »hierarchische[n] Zug des Mittelalters« »in einer Welt […] [vorstellt], der der unmittelbare Weg ins Jenseits verstellt war« (258).167 Das Trauerspiel blieb »in eine strenge Immanenz [gebannt] spenstische Erscheinungen in Andreas Gryphius’ ›Cardenio und Celinde‹«, in: M. Bergengruen/R. Borgards (Hg.), Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte, Göttingen 2009, S. 69-103, insb. S. 93f., 6973. Das Theater-induzierte Gespenst ist das der Geschichte (so A. Haverkamp: »Perpetuum mobile«, S. 34, 42-44); es macht die Gegenwart, deren Gleichzeitigkeit mit sich selbst und dessen Vorher und Nachher zweifelhaft (Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/M. 2004, S. 61f., 75ff.). 165 Nochmals sei »Trauerspiel und Tragödie« zitiert: »alle spielen, bis der Tod das Spiel beendet, um in einer anderen Welt die größere Wiederholung des gleichen Spiels fortzutreiben. Die Wiederholung ist es, auf der das Gesetz des Trauerspiels beruht. Seine Geschehnisse sind gleichnishafte Schemen, sinnbildliche Spiegelbilder eines andern Spiels. In dieses Spiel entrückt der Tod. [...] So ist das Trauerspiel freilich nicht das Bild eines höheren Lebens, sondern nichts als das eine von zwei Spiegelbildern, und seine Fortsetzung ist nicht minder schemenhaft als es selbst. Die Toten werden Gespenster.« (II, 136; vgl. I, 313ff.). Friedrich Schlegels romantisches Drama Alarcos sei dafür »das Beispiel, wie [...] allgemein ein sehr hervorragender Gegenstand der Analyse des Trauerspiels« (II, 136). 166 Vgl. I, 370f., I, 353. 167 Vgl. I, 246. »[W]enn die Verweltlichung der Gegenreformation in beiden Konfessionen sich durchsetzte, so verloren darum nirgends die religiösen Anliegen ihr Gewicht: nur die religiöse Lösung war es, die das Jahrhundert ihnen versagte, um an deren Stelle eine weltliche ihnen abzufordern oder aufzuzwingen« (I, 258). Gerade indem die »gesammelte Kraft der Epoche« sich »auf eine gänzliche Umwälzung des Lebensgehaltes unter orthodoxer 66

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und ohne Ausblick auf das Jenseits der Mysterien«, so dass die »Entfaltung ihres reichen Apparates« sich nur auf »die Darstellung von Geistererscheinungen und Herrscherapotheosen« richten konnte (259). Gerade derart aber ist das Trauerspiel »in sich ungeschlossen«168 oder allegorisch verfasst; »die Idee seiner Auflösung [liegt vielmehr] nicht mehr innerhalb des dramatischen Bezirks« (390). Das ist die »Grenznatur« seiner Form (263). Sie wird durch »die quälende Gewaltsamkeit der [barocken] Geste« vorgetragen (229). Verfiel das deutsche Trauerspiel in »Abkehr von der Eschatologie der geistlichen Spiele«, die »das neue Drama in ganz Europa« kennzeichnete, »spezifisch deutsch« einer »besinnungslose[n] Flucht in eine unbegnadete Natur« (260), so bleibt es doch von der »Spannung einer heilsgeschichtlichen Frage« bestimmt, zwischen »strenger Immanenz« (257f.) und der »verzögernden Überspannung der Transzendenz, die all den verzögernden Diesseitsakzenten des Barock zugrunde liegt« (246); diese »Bogenspannung«, die mit keiner dramatischen Handlung zusammenfällt,169 die Benjamin »präzise« zu erforschen sich aufgibt (257; vgl. unten in IV.), bleibt bis zu den Enden des Trauerspielbuches nachzuzeichnen. Für Benjamins Darstellung des Trauerspiels konturieren die Bezüge auf Shakespeare und Calderón die spezifische Beschränktheit des deutschen, denn deren Schauspiele ermöglichen dem Trauerspiel eine ›Vollendung‹‚ die durch das Ein- und Anspielen des Lustins/m Trauerspiel ermöglicht werde (vgl. unten in II. Intrige), und daher einen ›anderen Ausweg der Trauer‹ absehbar machen (vgl. unten in III. Hamlet). Da das deutsche Trauerspiel sich gegen die sog. »vollendete Kunstform des barocken Trauerspiels« sperrt, die als »Trauer-Spiel«170 »[n]irgends anders als bei Calderon« als »die Genauigkeit, mit der ›Trauer‹ und ›Spiel‹ aufeinander sich stimmen Wahrung der kirchlichen Formen« verlegte, gewinne, so Benjamin, eine »der im tiefsten zerrissenen und zwiespältigen Zeiten« Ausdruck (ebd.). 168 »Trauerspiel und Tragödie«, II, 137. »What the baroque rejects is any admission of the limitation of immanence, and it does so by emptying transcendence of all possible representable content. Far from doing away with transcendence, however, such emptying only endows it with a force that is all the more powerful« (in Anlehnung an I, 246, S. Weber: »Taking Exception to Decision«, S. 14). 169 Es ist die »Spannung einer heilsgeschichtlichen Frage«, die »die Säkularisierung des Mysterienspiels ins Ungemessene sich dehnen ließ« (I, 257f.; vgl. I, 359). 170 So zitiert Benjamin die verbreitete barocke Schreibweise (etwa Hallmanns) I, 299, für Calderón II, 260; vgl. I, 260. 67

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können,« die des Trauerspiels »Geltung – Geltung des Worts wie die des Gegenstandes – aus[macht]«, zu finden war (260), endet auch das Trauerspielbuch zwischen Trauer und Spiel, die beide unentscheidbar gleichzeitige entgegengesetzte Perspektiven bezeichnen (vgl. unten in »Enden«), mit der Nicht-Vollendetheit der deutschen Trauerspiele, die diese als ›Trümmer von Anfang an‹ auf ihre Kritik oder Darstellung ihrer Form bezieht.

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II. S O U V E R Ä N , M Ä R T Y R E R , I N T R I G A N T Das Trauerspiel müsse als ein ›Formtypus‹ behandelt werden, dessen »sachliche Kristallisationen« »der König, der Intrigant, das Martyrium, der Schauplatz, die Apotheose« abgeben, so hält Benjamin in seiner Rezension Gundolfs Gryphius-Buch vor.1 »Das geschichtliche Leben wie es jener Epoche sich darstellte«, »die Bewährung der fürstlichen Tugenden, die Darstellung der fürstlichen Laster, die Einsicht in den diplomatischen Betrieb und die Handhabung aller politischen Machinationen«, das sei, so Benjamin im Trauerspielbuch nicht nur der Stoff, sondern »Gehalt des Trauerspiels« (243).2 »Gehalt« ist Geschichte durch des Trauerspiels allegorisches Verhalten zu ihr. »[D]as Wort ›Trauerspiel‹ [galt] im XVII. Jahrhundert vom Drama und historischen Geschehen gleichermaßen.« (244).3 Dies bestimmte »den Monarchen« »als erster Exponent der Geschichte« »zur Hauptperson des Trauerspiels« (243), das »[m]an glaubte, im geschichtlichen Ablauf selbst [...] zu greifen« (243). Ist der Herrscher »nahe daran für ihre [der Geschichte] Verkörperung zu gelten« (243), so bringt dies – umgekehrt – die Repräsentation als solche, die Inszenierung und die Zeichen ins Spiel. Der Souverän in seinen beiden Ausprägungen als Tyrann und Märtyrer wie der Intrigant sind Funktionen des Trauerspiels; es ist mit diesen Figuren, mit Abels Begriff, metatheatre.4 1 2

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»Portrait des Barockpoeten«, III, 87; dazu vgl. K. Garber: »Benjamins Barock-Rezensionen«, S. 205-211. Dies ist seine von der Tragödie (deren Gegen-Stand der Mythos war, und sie dessen ›Befragung‹ wie ›Umformung‹ (I, 299f.)) unterscheidende Bestimmung. Mit der Verschiebung von Stoff zum Gehalt sucht Benjamin die Lösung aus »den Verlegenheiten eines Historismus, der seinen Gegenstand als notwendige aber wesenlose Übergangserscheinung erledigte« (I, 278); als deren »Vorbedingung« fasst er ins Auge: ein »Fundament von dramaturgischen Realien, wie die politische Anthropologie und Typologie der Trauerspiele es darstellt« (I, 278). Das setzt die »Darstellung der Geschichte als eines Trauerspiels«, so (zur Theorie der melancholischen Veranlagung) I, 320f.. Das ist auch L. Abel zufolge Sache der ›modernen Tragödie‹ Shakespeares und Calderóns (Metatheatre, S. 59-72), zunächst, in einem ersten Schritt, 69

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Der Souverän »Der Souverän repräsentiert die Geschichte« (245) – das bezeichnet nicht nur – mit dessen »Hauptperson« – das »geschichtliche Leben« als »Gehalt des Trauerspiels« (243), sondern macht auch die Repräsentation, die den Herrscher kennzeichnet, zum Thema. Wenn dies genauer heißt: »Er hält das historische Geschehen in der Hand wie ein Szepter«, so bindet dies Repräsentation zum einen an äußere Zeichen, die Requisiten der Macht und des Bedeutens, Insignien oder allegorische Attribute, und kennzeichnet sie zum anderen als ein Zeigen, als (Selbst-)Exposition und insofern als gestisch und (selbst-)inszenatorisch. »Er hält das historische Geschehen in der Hand wie ein Szepter. Diese Auffassung ist alles andere als ein Privileg der Theatraliker. Staatsrechtliche Gedanken liegen ihr zugrunde. In einer letzten Auseinandersetzung mit den juristischen Lehren des Mittelalters bildete sich im XVII. Jahrhundert ein neuer Souveränitätsbegriff.« (245)

Theatralität ist mit dem Konzept der Souveränität bereits Teil der staatsrechtlichen Begründung selbst. Denn in diesem ist ein »wesentlicher Zusammenhang zwischen Staatskonzept und Theatralität« ausgeprägt,5 zum einen insofern die theatrale Präsentation als Zur-Schaustellung der Souveränität als deren konstitutive »Selbstinszenierung« angehört.6 Insofern kann von einem »Bühnen- und Schauplatz-Gefühl der politisch Handelnden im 17. Jh.« selbst gesprochen werden, das – wie N. Bolz vorschlägt – als »Extrem der Repräsentation« die Attraktivität des Barock auch für Carl Schmitt ausgemacht habe,7 in Bezug auf dessen Politische Theologie (1922)

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trifft hier Abels reduzierter Begriff von metatheatre zu: »theatre pieces about life seen as already theatricalized« (ebd., S. 60f.; vgl. C. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 152-157, 254). Helmar Schramm: Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996, S. 194-212, hier S. 203. Vgl. Armin Schäfer: »Der Souverän, die clementia und die Aporien der Politik. Überlegungen zu Daniel Casper von Lohensteins Trauerspielen«, in: E. Fischer-Lichte (Hg.), Theatralität und die Krisen der Repräsentation, Stuttgart, Weimar 2001, S. 101-124, hier S. 108-110. Norbert Bolz: »Charisma und Souveränität«, in: J. Taubes (Hg.), Religionstheorie und Politische Theologie Bd. 1: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, München, Paderborn 21985 (1983), S. 249-262, hier S. 255; umgekehrt begründete dies Schmitts zu kurz greifende Kritik der Romantik, 70

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Benjamin den Begriff des (barocken) Souveräns einführt und an staatspolitische Konzepte anschließt. Zum anderen gilt umgekehrt für das barocke Theater, dass es sein Modell an der Repräsentation des barocken Herrschers hat, und zwar insofern, so R. Nägele, Souveränität »is not linked to a personal interiority but is invested in the insignis; anything can be representative, but never from within itself«.8 Gerade die staatspolitische Grundlegung macht den Souverän umgekehrt im Trauerspiel-Fürsten kenntlich, der, des Souveräns theatrale Repräsentation doppelnd, exponierend, zugleich die Exteriorität der theatralen Zeichen vorstellt. Das Trauerspielbuch lässt es sich angelegen sein, »den Begriff der Souveränität historisch« zu nehmen.9 Die von Benjamin angezeigte »Auseinandersetzung mit den juristischen Lehren des Mittelalters« (245), in der der barocke Souveränitätsbegriff unterscheidend neu ausgeprägt wird, kann durch Bezug auf E. Kantorowicz’ The King’s Two Bodies (1957) gestützt werden, dessen »Studie zur politischen Theologie des Mittelalters« in den letzten fünfzehn Jahren, in signifikanter Parallele und Konkurrenz zu dem C. Schmitts, neu für das Konzept des ›politischen Körpers‹ herangezogen wird.10 Der Begriff der »Repräsentation« bezeichnet in diesem Zusammenhang die Bindung der sozialen Körperschaft an den Kördie ihm – ausgerechnet – für alle Unmittelbarkeitsphantasmen steht; zu C. Schmitt und dem Prinzip der »Repräsentation«, vgl. Samuel Weber: Targets of Opportunity. On the militarization of thinking, New York 2005, chap. 2: S. 22-41, hier S. 30-40; zum Souveränitätsdiskurs der 20er Jahre, vgl. M. Twellmann: Das Drama der Souveränität, S. 13-19, 15. 8 R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 16; die Frage der Instanz dieser Investierung lässt die Allegorie unentschieden (vgl. J. Hillis Miller: »The Two Allegories«, in: M. Bloomfield (Hg.), Allegory, Myth and Symbol, Cambridge 1981, S. 355-370, hier S. 358). 9 N. Bolz: »Charisma und Souveränität«, S. 259. 10 Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, München 1990 (Orig. The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957); vgl. »Kantorowicz«-Sonderheft von Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 16 (1991); W. Ernst/C. Vismann (Hg.): Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz, München 1998; T. Frank/A. Koschorke/S. Lüdemann/E. Matala de Mazza: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft, Frankfurt/M. 2002; zu Kantorowicz – Schmitt vgl. Anselm Haverkamp: »Richard II, Bracton, and the End of Political Theology«, in: Law and Literature 16 (2004), S. 313-326, hier S. 313316; ders.: »Stranger than Paradise. Dantes irdisches Paradies als Antidot politischer Theologie«, in: W. Ernst/C. Vismann (Hg.): Geschichtskörper, S. 93-103, hier S. 96f.; zu Kantorowicz – Benjamin, Richard Faber: »Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels und Ernst H. Kantorowicz’ Die zwei Körper des Königs«, a.a.O, S. 171-186. 71

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per des Herrschers, dessen Aufgabe es ist, diese und die Dignität der Herrschaft zu repräsentieren: d.h. sowohl her- als auch darzustellen. Diese Aufgabe schreibt dem Körper des Königs »eine fundamentale Zweideutigkeit ein«, »die seine politische Identität nur um den Preis einer Verdoppelung sichert«.11 Die in der Mitte des 16. Jahrhunderts von englischen Juristen reformulierte Lehre von den zwei Körpern des Königs,12 die vor allem in Frankreich durch Zeremonien und Schaustellungen anlässlich des interregnums vor Augen geführt wurden,13 unterlegt dem Denken der Macht die »Zwillingschaft« des Königskörpers:14 seines natürlichen Körpers, der sichtbar, hinfällig und sterblich ist, während sein ›zweiter‹ politischer Körper, der als symbolischer »nicht sterben kann«, »die Ewigkeit der königlichen Würde garantiert«,15 die das vergängliche Fleisch repräsentieren muss.16 Ist der königliche Körper einerseits fiktiv, im Scheinleib einer persona ficta, gedoppelt und insofern in sich gespalten, so müssen andererseits die doubles aneinander gebunden werden, beider Identifikation – sei es eher figürlich oder eher corporeal – geleistet werden.17 In die Geschichte der ausgetragenen Spannung zwischen Verdopplung und »hybrider Einheit« zugleich ist die Figur des barocken Souveräns im double bind seines »paradoxen Auftrags« einzustellen,18 den Benjamin als seine antithetische Bestimmtheit im Zwiespalt zwischen ›absoluter Herrschaft und der ar11 Ethel Matala de Mazza: »Doppelgänger, Engel, Gespenster«, in: T. Frank/A.Koschorke/S. Lüdemann/E. Matala de Mazza, Des Kaisers neue Kleider, S. 133-146, hier und das Folgende S. 133. 12 Entgegen der Titelformulierung reicht das Buch Kantorowicz’ bis ins elisabethanische Zeitalter, bzw. setzt damit, mit Shakespeares The Tragedy of King Richard II, ein (Die zwei Körper des Königs, S. 47ff./The King’s Two Bodies, S. 25ff.); vgl. Friedrich Balke: »Wie man einen König tötet oder: ›Majesty in Misery‹«, in: DVjs 75/4 (2001), S. 657-679, hier S. 657-662; A. Haverkamp: »Richard II, Bracton, and the End of Political Theology«, S. 316-320, 323. 13 Vgl. E. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs , S. 415-432; insb. S. 416ff., zu den Doppeldeckergräbern S. 427-431; vgl. Ralph E. Giesey: »Was für zwei Körper?«, in: Tumult Nr. 16, S. 79-93, hier: S. 81ff., 91ff. 14 E. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 46f. 15 E. Matala de Mazza: »Doppelgänger, Engel, Gespenster«, S. 133; vgl. Albrecht Koschorke: »Macht und Fiktion«, »Der nackte Herrscher«, in: T. Frank/A. Koschorke/S. Lüdemann/E. Matala de Mazza, Des Kaisers neue Kleider, S. 73-84 u. S. 233-243, hier S. 238. 16 E. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 430. 17 Das ist u.a. Funktion des Amts; es »schafft eine institutionelle und symbolische Verbindung zwischen der natürlichen Person und der persona ficta des Kollektivs« (A. Koschorke: »Macht und Fiktion«, S. 78f.). 18 E. Matala de Mazza: »Doppelgänger, Engel, Gespenster«, S. 135. 72

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men Menschennatur‹ kenntlich macht (250), den die Trauerspiele anhand der Figur des Tyrannen vortragen. Kommt es in dieser Konstruktion zum einen auf die fiktive Zweiheit des natürlichen und des symbolischen ›Körpers des Königs‹, so zum anderen auf die imaginäre Identifikation an, die die ›Korporealität‹ der Verkörperung von Ganzheit und deren transzendenter Begründung erst hervorbringt.19 Die Repräsentation der Macht gibt nicht die vor ihr bereits gegebene Macht wieder: »The ›re‹ of representation [so Louis Marin] does not signal the return of a presence: it constitutes that presence as representation«,20 »sondern der Monarch [wird] allein im Spiegel seiner Repräsentation zum vollkommenen Herrscher«, in jenem Bild, das die Konstruktion, die die absolute Macht ist, besiegelt.21 Das Porträt ist des Königs glorious body, so verdeutlicht L. Marin im Blick auf das Bild des absoluten Herrschers Louis XIV., in dessen An-Blick dieser sich – sich spiegelnd, sich mit dem Bild identifizierend – konstituiert.22 Die Geste, die dem Porträt eingeschriebene Deixis: Dies ist der König, bzw.: Ich bin der König,23 ist in diesem Effekt figuriert und die Figuration durch phantasmatische Identifikation vergessen. So ist, wie R. Campe nach L. Marin akzentuiert, »das Bild des Königs im Zeitalter Ludwigs XIV. beides auf einmal: unmittelbare Gegenwart der symbolischen Essenz des Königskörpers und Verweis auf das

19 Zur imaginären Identität des in sich gedoppelten ›königlichen Körpers‹, vgl. Louis Marin: »The Portrait of the King’s Glorious Body«, in: ders., Food for Thought, Baltimore 1989 (Orig. La parole mangée et autres essays théologico-politiques, Paris 1986), S. 189-217, hier S. 210-217, 200; u. ebd., S. 199, 218-221; ders.: »The Inscription of the King’s memory: On the Metallic History of Louis XIV«, in YFS N° 59, 1980, S 17-36, hier S. 26. 20 Ebd. S. 30; vgl. S. 17, 19. 21 So, im Anschluss an L. Marin: Das Porträt des Königs, Berlin 2005 (Orig. Le Portrait du Roi, Paris 1981), A. Koschorke: »Macht und Fiktion«, S. 81. Den Chiasmus von Macht und Repräsentation exponiert L. Marin (Das Porträt des Königs, S. 9-27 u.ö.; ders., »The Portrait of the King’s Glorious Body«, in: Food for Thought, S. 189f.). 22 L. Marin: Das Porträt des Königs, ders.: »The Portrait of the King’s Glorious Body«, S. 189-200. Marin historisiert Kantorowicz’ Konzept, schreibt es fort und um (Food for Thought, S. 210-217, 218f.). 23 Dies erfüllt sich in der Szene des sich im Porträt ›spiegelnden‹ und selbst identifizierenden ›Königs‹ (»The Portrait of the King’s Glorious Body«, S. 191f.), und zwar in Analogie zu den eucharistischen Einsetzungsworten: Hoc est corpus meum in Bezug auf das eucharistische Modell der Realpräsenz (ebd., S. 190ff.), das zugleich durch Repräsentation nie erreicht wird (ders. »The Inscription of the King’s memory«, S. 26). 73

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ausschließlich Symbolische dieses Körpers«.24 Es ist der Ort dieser Paradoxie, und es verhehlt, verstellt seine Konstitution, die Paradoxie von (in Anspruch genommener, je verfehlter) Realpräsenz25 und Re-Präsentation und jenen Abstand, der der Repräsentation angehört, und den sie – stets – bezeichnet. »[The] inverted expression, ›the king of representation‹, already establishes an ironic distance between representation and power […] a critical difference between them, a gap«.26 Die Inkorporation ist zum einen als Symbolisierungsvorgang gebunden an die Konstruktion, die Figuration und deren Fiktionen, an Rhetoriken und Performanzen, Zeremonien, Investationen, Gesten, die sich als solche des Auftritts zugleich selbst bezeichnen. Zum andern bezieht umgekehrt die Performanz (der Macht) ihre Deckung aus dem imaginären Körper der Herrschaft als ihrem Effekt, dem Bild als Fetisch,27 – und bleibt doch als dessen theatraler Gestus des Auftritts jenem fiktiven Körper, the glorious body, der das Porträt ist, eingeschrieben. Er ist durch die Theatralität gefährdet, auf die er angewiesen ist.28 Daher genügt es nicht, so R. Campe, die »Verbindung zwischen Staatsrecht und Trauerspiel« nur »von der Repräsentation her« als »mehr oder minder bruchlose Umsetzung« des »Begriff[s] der Verkörperung« durch die Darstellung auf der Bühne aufzufassen:29 Es handelt sich bei den Trauerspielen »nicht so sehr um das Theater der Repräsentation, sondern um Schauspiele der Souveränität« als

24 Rüdiger Campe: »Der Befehl und die Rolle des Souveräns im Schauspiel des 17. Jahrhunderts. Nero bei Busenello, Racine und Lohenstein«, in: A. Adam/M. Stingelin (Hg.), Übertragung und Gesetz. Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechniken der Institutionen, Berlin 1995, S. 55-71, hier S. 56. 25 Das eucharistische Modell der Realpräsenz zeichnet (sich als) die Grenze der Repräsentation ab: »an insurmountable boundary between the eucharistic symbols and the political signs […]. Yet it is precisely this boundary that is crossed by the desire for an absolute power that is manifested in the fantastic representation of the Monarch« (L. Marin: »The Portrait of the King’s Glorious Body«, S. 193). 26 Ebd., S. 190; vgl. S. 208. 27 Vgl. ebd., S. 206-209. 28 Vgl. ebd., S. 191, 203-206; B. Wolf: Die Sorge des Souveräns, S. 36f.. 29 R. Campe: »Der Befehl und die Rolle des Souveräns«, S. 61: »Mit Zeremonie und Schauspiel der Souveränität ist dagegen eine Verschiebung gemeint.« »Zeremoniös kann man dieses Sprachschauspiel erst in seinem Vollzug nennen, in dem ein theologisches Geheimnis oder ein theoretisches Paradox sich löst. Dieser Vollzug kann sich auf der Bühne, in einer erneuten Verschiebung, wiederholen«. 74

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›Schauspiele‹ der instituierenden Akte, die »vor oder hinter der großen Sichtbarkeit [spielen], sie aber wohl erzeugen«.30 Der barocke Souveränitätsbegriff, auf dessen Spezifik Benjamin Wert legt, habe sich »entwickelt« »aus einer Diskussion des Ausnahmezustandes und macht zur wichtigsten Funktion des Fürsten, den auszuschließen« (245). An Carl Schmitts Politischer Theologie und dessen berühmter Definition: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«,31 die er zitiert, nimmt Benjamin derart eine Umgewichtung vor.32 Wenn der Souverän, so Schmitt, »auch darüber [entscheidet], was geschehen soll, um ihn [den Ausnahmezustand] zu beseitigen«, so ist doch in rechtslogischer Hinsicht für dessen Konzept die Entscheidung als solche entscheidend, da die Entscheidung »über die Ausnahme […] im eminenten Sinne Entscheidung« ist.33 »Denn eine generelle Norm« könne, so C. Schmitt, »eine absolute Ausnahme niemals erfassen und daher auch die Entscheidung, daß ein echter Ausnahmefall gegeben ist, nicht restlos begründen.«34 Wenn es sich damit um die Entscheidung als solche handelt, so ist diese grundlos und leer. Für Benjamins barocken Souverän aber, der »schon im vorhinein dafür bestimmt [ist], Inhaber diktatorischer Gewalt im Ausnahmezustand« zu sein (245f.), fällt diese eigentliche aussetzende Entscheidung insofern gar nicht an, als sie schon gefallen ist. Denn der »Ausnahmezustand« ist, »wenn Krieg, Revolte oder andere Katastrophen ihn heraufführen« (246), bereits gegeben als derjenige, der abwehrend zu restaurieren sei, und der Souverän personifiziert nicht so sehr die Entscheidung über den Ausnahmezustand, als damit vielmehr auch den Ausnahmezustand, der vorausgesetzt ist, insofern »antithetisch zum Geschichtsideal der Restauration […] vor ihm die Idee der Katastro-

30 Ebd., S. 56. 31 Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München, Leipzig 1922, S. 9. 32 Vgl. Samuel Weber: »Taking Exception to Decision«, S. 12 vgl. 9-15; Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, insb. S. 64-73; ders.: »The Messiah and the Sovereign: The Problem of Law in Walter Benjamin«, in: ders., Potentialities, Stanford 1999, S. 160-174; N. Bolz: »Charisma und Souveränität«, S. 259f.; Sigrid Weigel: »Der Märtyrer und der Souverän. Szenarien eines modernen Trauerspiels«, in: Trajekte 8/4 (2004), S. 32-38, hier S. 36. 33 C. Schmitt: Politische Theologie, S. 9f., 3-5. 34 Ebd., S. 9, vgl. S. 30ff.; vgl. Christoph Menke: »Carl Schmitts Begriff der Souveränität«, in: ders., Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frankfurt/M. 2004, S. 300-323, hier S. 304-307. 75

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phe« (246) steht,35 und damit die Ausnahme, die diese Entscheidung je ist. Auf diese »Antithetik« ist die »Theorie des Ausnahmezustands gemünzt« (246),36 und zwar insofern die »Idee der Katastrophe« noch – negativ – jenes ›Ideal der Herrschaft‹ prägt, das ihr als ›diktatorische‹ Setzung mit der Gewalt der »Restauration der Ordnung im Ausnahmezustand« (253) entgegnen soll. Unter der »Idee der Katastrophe« manifestiert Geschichte sich, die nicht mehr in heilsgeschichtlicher Ordnung, ohne Halt im eschatologischen telos in sich und mit sich zerfallen sich darstellte: »Die Christenheit oder Europa ist aufgeteilt in eine Reihe von europäischen Christentümern, deren geschichtliche Aktionen nicht mehr in der Flucht des Heilsprozesses zu verlaufen beanspruchen.« (257)

In diesem Szenario, das als das des Bürgerkrieges seine ganze Virulenz zeigt, wird der Staatstheoretiker Hobbes die Einräumung souveräner Macht in Funktion der »Restauration der Ordnung« (253), die Einräumung rechtsetzender und als solche rechtaussetzender Souveränität als solche gerechtfertigt sehen.37 Die in ›trostloser Kontingenz› zerfallene Geschichte, als die der »Ausnahmezustand« als deren ›Normalfall› genommen wird, be35 D.i. der Ausnahmezustand, den das Trauerspiel als den Normalfall vorstellt (vgl. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. (Homo sacer II.1), Frankfurt/M. 2004, S. 66-69), wie Benjamin in den Thesen »Über den Begriff der Geschichte« akzentuiert. 36 Das folgt aus: »In der theologisch-juristischen Denkweise, die so kennzeichnend für das Jahrhundert ist, spricht die verzögernde Überspannung der Transzendenz [sich aus], die all den provokatorischen Diesseitsakzenten des Barock zugrunde liegt. Denn antithetisch zum Geschichtsideal der Restauration steht vor ihm die Idee der Katastrophe.« (I, 246) Das Konzept des Souveräns ist als solches eine »theologische Hyperbel« (vgl. I, 247). 37 Thomas Hobbes: Leviathan (1651), hg. v. E. Curley, Indianapolis, Cambridge 1994, chap. 17f.; vgl. Jacob Taubes: »Statt einer Einleitung. Leviathan als sterblicher Gott«, in: ders. (Hg.), Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, S. 9-15, hier S. 9ff., 12ff.; C. Schmitt: Politische Theologie, S. 32f.; ders.: Hamlet oder Hekuba.Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Stuttgart 1985, S. 65. Hobbes stellt den »Body Politique« nicht als »eine Übertragung himmlischer Macht auf den irdischen Herrscher [vor], sondern [als] das übermenschliche Produkt einer menschlichen Anstrengung« durch die Suspension des Rechts des ›natural man‹ und die Fiktion der ›belebten Statue‹ an deren Stelle (so ist dem Frontispiz des Leviathan abzulesen, vgl. Horst Bredekamp: Thomas Hobbes visuelle Strategien. Der Leviathan, Berlin 1999, S. 65-68; Ethel Matala de Mazza: Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg/B. 1999, S. 71-85). 76

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stimmt derart noch die Abwehr, die die Entscheidung des Souveräns zu sein hat: Der »Katastrophe« der Geschichte, deren Geschehnisse »nicht mehr in der Flucht des Heilsprozesses zu verlaufen beanspruchen« können, die im Raume der Natur simultaneisiert, säkularisiert sind (257), korrespondiert die ihr entgegengesetzte ›diktatorische Gewalt im Ausnahmezustand‹ als Kernstück der barocken Ordnungsutopien, Benjamin zufolge: »eine Diktatur, deren Utopie immer bleiben wird, die eherne Verfassung der Naturgesetze an Stelle schwankenden historischen Geschehens zu setzen« (253).38 Wenn die Möglichkeit, historisches Geschehen als ›Stationen des heilsgeschichtlichen Verlaufs‹ aufzufassen, kollabiert, so ist dieses durch seine Simultaneisierung im Raume säkularisiert (271, 370). Alle barocken Ordnungsmodelle beziehen sich auf die ›räumliche‹ ›Simultaneität‹ des auf dem Schauplatz vergegenwärtigten Geschehens (258). Vor allem aber bezeichnet die »diktatorische Entscheidung« als solche die Angewiesenheit der in der »Idee der Katastrophe« aufgefassten Geschichte, die in den Stationen des Verfalls heillos in sich und mit sich zerfallen sich darstellt, auf die »Restauration« von Ordnung durch eine Setzung, die sich auferlegt. ›Diktatorisch‹ soll Geschichte im Raume (der Natur) gebändigt sein. Das ist so gewaltsam wie dies daher nur verfehlt sein kann.39 »Die Exekutivmacht des Fürsten überwältigt, auf beinahe apokalyptische Weise, das Naturgeschehen.« – notierte Benjamin in »Nachträge[n]« zum Trauerspielbuch.40 Der Souverän ›repräsentiert‹ – gerade durch die Geste seiner Machtbekundung – Geschichte als »verstörte Schöpfung« (250). Er 38 »[D]er Ausfall aller Eschatologie« bringe den »Versuch [mit sich], Trost im Verzicht auf einen Gnadenstand im Rückfall auf den bloßen Schöpfungsstand zu finden« (I, 259f.); auch das ist ein Rückgang hinter Geschichte, die als Heilsgeschichte vorstellbar war. Hobbes allerdings (u.a.) begründen die (Notwendigkeit) souveräner gesetzgebender Macht jenseits der Naturgesetze, allerdings fassen Allegorien der Natur etwa die Funktion der Gesetze, wie die der Eindämmung (vgl. Leviathan, chap. 21). 39 Der Zusammenhang zwischen der trostlos starrenden Unordnung und den Utopien der Ordnung, die der traurigen Zerstreuung so hypertroph wie zwanghaft auferlegt werden soll, ist als melancholischer bekannt; vgl. Robert Burtons The Anatomy of Melancholy (1621ff.; vgl. Jean Starobinski: »Demokrit spricht. Die melancholische Utopie des Robert Burton«, in: P. Sillem (Hg.), Melancholie oder Vom Glück, unglücklich zu sein, München 1997, S. 228-258, hier S. 256 u.ö.). 40 Dokumente in I, 954. Dem »Mechanismus, der alles Erdgeborene [...] exaltiert«, entspricht, dass das Ende als Vernichtung »mit katastrophaler Gewalt«, durch einen von jedem ›etwas‹, allem Repräsentierbaren entleerten Himmel, konzipiert ist (I, 246; vgl. S. Weber, »Taking exception«, 14). 77

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stellt diese auf der Bühne der Trauerspiele vor, insofern selbst er, der »Herr der Kreaturen«, der kreatürlichen Natur verfallen bleibt (264). Dies zeigt sich gerade im »Machtrausch«, in dem er die den Selbstherrscher bestimmende »Antithese zwischen Herrschermacht und Herrschvermögen« aufzuführen bestimmt ist (250), an die er zwischen der zugeschriebenen grund-losen Entscheidungs-Gewalt und »Ohnmacht« der Entschlussunfähigkeit verfällt (251). Am Tyrannen führt das Trauerspiel den double bind des »paradoxen Auftrags« vor,41 der den Herrscher bestimmt und ihn zur Hybris verhält; als »Opfer«, als das er diesem »Mißverhältnis« fällt, zeigt der stürzende Tyrann die Züge des Märtyrers (250). »Die Theorie der Souveränität, für die der Sonderfall mit der Entfaltung diktatorischer Instanzen exemplarisch wird, drängt«, so Benjamin, »geradezu darauf, das Bild des Souveräns im Sinne des Tyrannen zu vollenden«, und zwar in der »Geste der Vollstreckung« (249). Benjamins Formulierung: exemplarisch werde der Ausnahmefall des Tyrannen als Instanz der souveränen Entscheidung, rekurriert implizit auf die chiastische Relation zwischen der »exclusive inclusion« im Exempel, das als Sonderfall ein Allgemeineres vorzustellen hat, und dem Akt der ›souveränen Entscheidung über den Ausnahmezustand‹, als Ausnahme (aus der Norm) »an inclusive exclusion (which thus serves to include what is excluded)«, wie Agamben, an Schmitt wie Benjamin anschließend, akzentuiert.42 Die barocken Trauerspiele stellen, Benjamins Akzentuierung zufolge, den (vermeintlichen) Souverän der Entscheidung dar, indem sie ihn, einem »jederzeit umschlagenden Affektsturm« (250f.) ausgesetzt, in »stets wechselnden Entschließungen« exponieren, die in ohnmächtige »Entschlußunfähigkeit« wie all-mächtigen Wahnwitz führen.43 »Der Fürst, bei dem die Entscheidung über den Ausnahmezustand ruht, erweist in der erstbesten Situation, dass ein Entschluß ihm fast unmöglich ist.« (250) Die »Entschlußunfähigkeit des Tyrannen«, die diese in den barocken Trauerspiel zeigen, hebe aber, darauf kommt es Benjamin an, »einzig auf dem Grunde der 41 E. Matala de Mazza: »Doppelgänger, Engel, Gespenster«, S. 135. 42 Giorgio Agamben, Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, Stanford 1998, S. 21 (Orig. Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Turin 1995). 43 Dem »Widerstreit« in der »Antithese zwischen Herrschermacht und Herrschervermögen« (I, 250) entstammt seine »Raserei [...] als wahnwitziger Selbstherrscher«; daher ist er »Emblem der verstörten Schöpfung schlechthin.« (II, 253f.). 78

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Lehre von der Souveränität sich ab« (250).44 Denn umgekehrt belegt die »Entschlußunfähigkeit« vielmehr die Grundlosigkeit der Entscheidung, und zwar gerade der Entscheidung (über die Ausnahme), die, insofern, entgegen Benjamins Formulierung, »bei dem [Fürsten]« keineswegs ruht (250), vielmehr die »Lehre von der Souveränität« grund-los ›begründet‹. Insofern ist Benjamins Lesart des barocken Souveräns, dessen »Bild im Sinne des Tyrannen« er (anhand u.a. der barocken Herodesdramen) »zu vollenden« unternimmt (249), eine zwar implizite aber genaue Auseinandersetzung mit C. Schmitt, spezifischer mit der dezisionistischen Illusion ›reiner‹ Entscheidung.45 Die Entscheidung, die den Souverän bestimmt, die über den Ausnahmezustand entscheidet, ist selbst Aus-Nahme, Aussetzung der Norm, der Ordnung des Rechts. C. Schmitt zufolge lebe die Regel überhaupt nur von der Ausnahme; als solche aber muss die Suspension von der Norm eingeräumt worden sein, um (selbst-)begründend werden zu können.46 Insofern ist der Souverän »at the same time outside and inside the juridical order«,47 »excluded from general law« ist er nicht ohne Relation zum Gesetz: »The sovereign legally places himself outside the law«; »the rule main44 »Die Antithese zwischen Herrschermacht und Herrschervermögen hat für das Trauerspiel zu einem eigenen, nur scheinbar genrehaften Zug geführt, dessen Beleuchtung einzig auf dem Grunde der Lehre von der Souveränität sich abhebt. Das ist die Entschlußunfähigkeit des Tyrannen.« (I, 250) 45 Derart setzt sich Benjamin mit dem Dezisionismus C. Schmitts auseinander; vgl. »Zur Kritik der Gewalt« (1920-1921), II, 185ff.; Jacques Derridas kritische Lektüre in Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹, Frankfurt/M. 1991, und die nachfolgende Debatte in Cardozo Law Review 11 (1990), Nr. 5-6 (= Deconstruction and the Possibility of Justice); Cardozo Law Review 13 (1991), Nr. 4 (= On the Necessity of Violence for Any Possibility of Justice), S. Weber: »Taking Exception«; für die Überführung der Debatte ins Deutsche A. Haverkamp (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt/M. 1994; umgekehrt argumentiert C. Schmitt 1956 in Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel gegen das Trauerspielbuch (vgl. M. Twellmann, Drama der Souveränität, S. 49). Der andere Einsatzpunkt der Auseinandersetzung ist Benjamins Neubestimmung des Ausnahmezustandes (vgl. »Über den Begriff der Geschichte« (ca. 1940), I, S. 691-703; vgl. G. Agamben: Ausnahmezustand, S. 69ff.; ders.: »The Messiah and the Sovereign«, S. 160-163, 169-171). 46 G. Agamben: Homo Sacer, S. 18f. (dass. Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002, S. 39); vgl. Eva Geulen: Giorgio Agamben. Zur Einführung, Hamburg 2005, S. 55ff., 126f.; zur Bedeutung von Benjamins »Zur Kritik der Gewalt« für Agambens Homo sacer, ebd., S. 123-127. 47 G. Agamben: »The Messiah and the Sovereign« (in: ders. Potentialities), hier und das Folgende S. 161f.. 79

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tains itself in relation to the exception in the form of suspension. The rule applies to the exception in no longer applying, in withdrawing from it. The state of exception is therefore not the chaos that precedes legal order but the situation resulting from its suspension«,48 jene Anomie, die – von ihrer Selbst-Be-Gründung her – die legale Ordnung begleitet. Die Entscheidung über den Ausnahmezustand, die zum einen die Rechtsordnung aussetzt und zum anderen durch diese Suspendierung, als die souveräne Aussetzung, Ordnung soll begründen können, bestimmt die Souveränität als Paradoxie. Die Entscheidung über die Ausnahme (von der Norm) muss von der Norm, der legalen Ordnung selbst eingeräumt worden sein, damit sie als Akt souveräner Macht gelten kann; wenn diese Aussetzung der Norm, so G. Agamben im Anschluss an Walter Benjamin und Carl Schmitt, als ›inkludierender Ausschluss‹ die Ordnung soll sichern können, setzt sie schon voraus, was durch die Entscheidung begründet werde.49 Diese Paradoxie ist Jean Bodins Souveränitätslehre (1576) abzulesen, die den Souverän als Gesetzgeber, Souveränität begründend durch den Gesetzes-Befehl bestimmt.50 Der Gesetzes-Befehl ist als die grundlose Setzung des Gesetzes – so liest R. Campe Bodin – der »Augenblick« der »unauflösliche[n] Überkreuzung zwischen der Singularität, die im Akt der Aussage liegt, und der Allgemeinheit der Regel, die als ihr Inhalt ausgesagt wird. Freilich liegt der Formel vom Gesetzesbefehl Souveränität schon zugrunde«.51 Rechtssetzung, die auf keinen ihr vorausliegenden Grund rekurriert, muss ihre Begründung im Vollzug erst erlangen,52 muss die Kontingenz ihrer Setzung nachträglich begründend eingeholt haben. Das ist die Tautologie und paradoxale Zirkularität der Selbst-Be-Gründung, deren Deckung in Einkleidungen wie der vom Souverän als Repräsentant 48 Ebd., S. 162. Das macht das Paradox: »law is outside itself.« (ebd., S. 161). Der »Souverän« ist »Grenzbegriff« der Rechtstheorie, so C. Schmitt, »Limit concept« Schmitts (Agamben, ebd., S. 161f.) oder »Liminal concept« (R. Nägele: »Body politics«, S. 152). 49 Das ist die Aporie des Konstrukts von C. Schmitt, der die Suspendierung des Rechts durch den Souverän, den Staat von Anarchie unterschieden haben möchte (S. Weber: »Taking exception«, S. 10). 50 Jean Bodin: »Über die Souveränität«, in: ders., Sechs Bücher über den Staat, München 1981/1986, Bd. 1, S. 205-239 (Orig. »Traité de la souveraineté«, in: Les six livres de la république, Paris 1576); vgl. R. Campe: »Der Befehl und die Rolle des Souveräns«, S. 57. 51 R. Campe: »Der Befehl und die Rolle des Souveräns«, S. 58. 52 Vgl. B. Wolf: Die Sorge des Souveräns, S.23; zu den performativen Paradoxien, ebd., S. 24. 80

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»überzeitlicher Ordung«53 gesucht werden mag. Daher setzt aber umgekehrt der Akt der Setzung bereits voraus, was durch ihn gegründet werden muss, so ungegründet dieses, Souveränität ist. Mit der Rede von Befehl und der »Geste der Vollstreckung«, die den Souverän im Tyrannen kenntlich macht (249), wird die Perspektive verschoben, die souveräne Macht bestimmt durchs performative, und dessen spezifische Problematiken.54 Der Befehl bezeichnet, wie R. Campe bemerkt, die Stelle des »Schauspiel[s] im Text des Juristen«, weil er »Rollen spielen« macht »und macht, daß es im Reden Rollen zu spielen gibt«.55 Wenn das »Bild des Souveräns im Sinne des Tyrannen« sich zu vollenden dränge, so geschieht das, so Benjamin, in der »Geste der Vollstreckung« (249), in der Befehl, also Wort und Tat, Wunsch und Gesetz unmittelbar zusammentreffen. Dieses unterstellte Zusammentreffen analysiert Lohensteins Nero-Drama Agrippina, indem es dieses mit großer Sorgfalt auseinandernimmt: zerdehnt, aufschiebt, in seinen Teilen ins off verlegt hat, seine Einlösung entzieht und in Wiederholungen überführt. Für das »Tyrannendrama«, das als Gattung, so die Anregung Benjamins, noch zu etablieren sei (253), stellten die Historien des Nero mehr als ein bloßes Beispiel, weil sie dem 17. Jahrhundert zur Exploration der Un/Möglichkeit der »Einsetzung in die absolute Macht« taugten, indem sie den »Übergang« »vom geleiteten zum selbstherrschenden Imperator/Souverän« als zu dem »bösen […] Tyrann« dramatisch entfalten,56 das »Paradox der Einsetzung in die absolute Macht« »durch Sequenzierung gelöst« darstellbar machen. Die »Einsetzung in die absolute Macht« bleibt aber als ›Nullpunkt 53 Vgl. etwa W. Vosskamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert, S. 129; I, 260; Blumenberg zufolge wäre »die entleerte theologische Konstruktion« der Souveränität Metapher, die »die Kontingenz der positiven Setzung der Wahrnehmung entzieht« (A. Haverkamp: »Stranger than Paradise«, S 103). 54 C. Schmitt fasst die Entscheidung nicht in termini des Sprechakts; vgl. dgg. die Funktion des Befehls (nach Benjamin und Schmitt) in Hofmannsthals »Der Turm«, so M. Twellmann: Das Drama der Souveränität, S. 62-66, 59– 86, 95. »In seinem Trauerspiel bringt Hofmannsthal das zeremonielle Unbewusste der ›Politischen Theologie‹ zur Darstelluung« (Ebd., S. 104). 55 Vgl. R. Campe: »Der Befehl und die Rolle des Souveräns«, S. 59. 56 Zu den Varianten der Nero-Historie, der Geburt des Souveräns als Monster, vgl. R. Campe: »Der Befehl und die Rolle des Souveräns«, hier und das Folgende S. 61f.; Christopher J. Wild: »Neros Kaiserschnitt. Das Phantasma der Selbstgeburt absoluter Macht in Lohensteins Agrippina«, in: C. Begemann/D. E. Wellbery (Hg.), Kunst – Zeugung – Geburt, Freiburg/B. 2002, S. 111-149. 81

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der Gründung‹ ihrer Darstellung als ein »Übergang« entzogen. Konstituiert sich der absolute Selbstherrscher als solcher durch den »ersten Befehl der Tötung«, als dem (vermeintlichen) Akt der Ablösung aus seiner Bedingtheit,57 so setzt er zugleich den mit diesem Befehl vorausgesetzten und doch entzogenen »ersten, alle Befehle ermöglichenden, Befehl« voraus und in Szene, jenen Befehl, der die »Einräumung des Tötungsbefehls« selbst, der dem Souverän vorbehalten ist und ihn (aus)macht, befiehlt.58 Dieser vorausgesetzte Befehl, der mit jedem Tötungsbefehl (unausgesprochen) stets mitgesprochen ist, markiert »mit der Gewalt« dieser Entscheidung, die die »Einsetzung in die absolute Macht« ist, »den Raum der Souveränität«, während ihm doch umgekehrt »nur im Innern ihrer [der Souveränität] Geltung gewährt« ist.59 So ist jeder die absolute Macht er-/bezeugende Befehl der Tötung, mit dem konstitutiven ersten Befehl (seiner Einräumung) befangen in der temporalen Paradoxie der SelbstGründung. Der Sprechakt, der schon unmittelbar ununterscheidbar Tat wäre, ist von seiner Grundlosigkeit durchquert, unhaltbar, oder aber setzt bereits voraus, was er als Vollstreckung zu schaffen beansprucht. Das ist die Paradoxie der sich notwendig selbst hintergehenden und vorgreifenden, sich selbst durchkreuzenden Akte der Selbst-Be-Gründung,60 die als kontingente Setzung ihre nachträgliche Einlösung der rhetorischen Figur der Metalepsis verdankt, der metaleptischen Verwechslung, die für eine gegebene Wirkung nachträglich deren vermeintliche Ursache hervorgebracht haben wird.61 Die einsetzende Kraft der Ausnahme der Entscheidung über die Ausnahme ist als Suspendierung der Norm demnach entweder – zirkulär – begründet durch das, die ›absolute‹ Souveränität, was sie erst bezeugt und hervorgebracht haben wird, oder sie bliebe stets grundlos abgründig. Die souveräne Entscheidung ist demnach nicht 57 D.i. von der Mutter, wie D.C. Lohensteins Agrippina für Nero entwickelt. 58 R. Campe: »Der Befehl und die Rolle des Souveräns«, S. 61, 60 (Hvhg. BM). Racines Britannicus dgg. entzieht diese Akte (des Befehls) der Sichtbarkeit, bleibt mit der theatralen Szene im Vorraum (vgl. ebd., S. 56, 60f.). 59 R. Campe: »Der Befehl und die Rolle des Souveräns«, S. 56, 59ff. 60 Vgl. J. Derrida, »Force de la Loi«/Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹. Die Frage der Gründung nimmt diese Figur an, wo diese ohne die Sicherung in einer vorausgesetzten (göttlichen) Ordnung auskommen muss; sie artikuliert sich als die zeitliche Paradoxie des Performativs (vgl. Jacques Derrida: »Unabhängigkeitserklärung«, in: U. Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S.121-128). 61 Nach P. de Man und J. Butler, vgl. A. Haverkamp, »Stranger than Paradise«, S. 97, 103. 82

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(nur) grundlos, C. Schmitt zufolge, »aus einem Nichts geboren«,62 sondern die Entscheidung erfolgt (als solche) aus Unentscheidbarkeit als der ›Nacht der Entscheidung‹ (Derrida), die sie begleitet, die deren Souveränität dementiert. Die absolute Gewalt trifft im performativen Akt (dessen Paradigma der Befehl als Zusammentreffen von Wort und Tat wäre) in der, in »stets wechselnden Entschließungen« sich manifestierenden, »Entschlußunfähigkeit des Tyrannen« auf die Ohnmacht oder Unbeherrschbarkeit ihrer Ausübung. Der »Widerstreit« von »Macht und Vermögen«, in den der »Akt der Herrschaft« derart sich verstrickt zeigt (Müller-Schöll), habe »im Untergang des Tyrannen« »[i]mmer von neuem fasziniert« (251).63 Umgekehrt bliebe die Entscheidung als die des Souveräns, in der rechtsvernichtender Akt, rechtsetzende Gewalt und rechtserhaltende Macht sich ›überkreuzen‹ müssen, gar keine ›reine‹ (leere Entscheidung), sondern sie ist vielmehr ans Amt ihres Trägers zurück- und in Beratung und Verwaltung eingebunden. Ist die Entscheidung auf diese ihre Medien angewiesen und insofern nicht absolut,64 so steht sie also nicht nur beim Entscheidungsträger mit dessen »stets wechselnden Entschließungen« stets noch aus oder ergeht umgekehrt je vorzeitig (250f.), sondern sie ist daher (wie der Nero von Lohensteins Agrippina) auch allen Einwirkungen von Informanten, Beratern und Intriganten und an die Medien seiner Ausübung ausgesetzt;65 jedes Medium der Entscheidung oder souveränen Macht begleitet diese zugleich als ihre Störung. 62 C. Schmitt: Politische Theologie, S. 31. Das heißt: »Daß es die zuständige Stelle war, die eine Entscheidung fällt, macht die Entscheidung relativ, unter Umständen auch absolut, unabhängig von der Richtigkeit ihres Inhaltes« (Ebd., vgl. S. 33). 63 »Immer von neuem fasziniert im Untergang des Tyrannen der Widerstreit, in welchem Ohnmacht und Verworfenheit seiner Person mit der Überzeugung von der sakrosankten Gewalt seiner Rolle im Gefühl des Zeitalters liegt.« (I, 251); vgl. N. Müller Schöll: Theater des ›konstruktiven Defätismus‹, S. 108f.: Die souveräne Macht stößt in diesem Widerstreit auf »die paradoxale Verabgründigungsfigur«, »der sie sich verdankt« (ebd.), auf die Aporie des performative selbst und des Herrschers, der aufs Theater angewiesen, dies doch nicht regiert (so B. Wolf: Die Sorge des Souveräns, S. 36f.). 64 Diese Paradoxie des barocken Souveränitätskonzeptes löst sich nicht in einem »modernen Souveränitätsbegriff« auf, der »auf eine höchste fürstliche Exekutivgewalt hinausläuft« (vgl. aber I, 245), insistiert vielmehr, wie Benjamins »Kritik der Gewalt« zeigt, gerade auch im modernen Staat, der rechtserhaltende Gewalt von der rechtsetzenden zu trennen und voneinander unabhängig zu begründen beansprucht (insb. II, 185-187). 65 Vgl. Carl Schmitt: Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Stuttgart 2008, S. 20-25; zur »Ernüchterung des Phantasmas vom abso83

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»Der Fürst, auf den sich die Rechtsordnung gründet, ist den Gesetzen nicht unterworfen.«66 Die mit dieser rechtssystematischen Figur verbundene Beunruhigung kommt in den vor allem römischen Tyrannen-Figuren der barocken Trauerspiele zur Darstellung,67 als die Beunruhigung, ob denn die Norm den Ort ihrer Begründung, als den ihrer Aussetzung, die von ihr eingeräumte Ausnahme, zu inkludieren, zu bändigen oder zu binden vermöge.68 Für den europäischen Barock und seine politischen Theorien gibt es keine »Handhabe«, »den gerechten Monarchen vom maßlosen Despoten zu unterscheiden«.69 Eine solche bietet auch die naturrechtliche Argu-

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luten Herrscher« durch »Forschungen zur Infrastruktur«, vgl. Albrecht Koschorke: »Das Problem der souveränen Entscheidung im barocken Trauerspiel«, in: C. Vismann/T. Weitin (Hg.), Urteilen/Entscheiden, München 2006, S. 175-195, hier S. 180f.. Vgl. A. Koschorke, »Das Problem der souveränen Entscheidung im barocken Trauerspiel«, S. 177: »in seinem Handeln allein Gott verantwortlich«, »ist er dem politischen Ganzen, dessen Inkarnation er stellt, nach der anderen Seite seines natürlich-übernatürlichen Doppelwesens zugleich entrückt«; zur Rechtssetzung außerhalb der Rechtsgewalt (mit Bodin), vgl. Ethel Matala de Mazza: »Die Regeln der Ausnahme, Zur Überschreitung der Souveränität in Fénelons Télémaque und Mozarts Idomeneo«, in: G. Neumann/R. Warning (Hg.): Transgressionen, Freiburg 2003, S. 257-286, hier S. 259261. Mag es damit auf die ›Modellierung der Differenz zwischen gutem Alleinherrscher und Tyrann‹ ankommen (so Albrecht Koschorke: »Das Begehren des Souveräns. Gryphius’ Catharina von Georgien«, in: D. Weidner (Hg.), Figuren des Europäischen, München 2006, S. 149-162, hier S. 150, 152), so ist entscheidend, dass, so Benjamin, das Bild des Souveräns sich im Tyrannen zu vollenden tendiere (I, 249). »Dann zeigt das Konzept des princeps legibus solutus seine Kehrseite« (so auch A. Koschorke: »Das Problem der souveränen Entscheidung im barocken Trauerspiel«, S. 178). Vgl. G. Agamben: Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, S. 21. Zur Frage der Bindung des Souveräns, die entscheidend für absolutistische Staatlichkeit ist, vgl. A. Koschorke, »Das Problem der souveränen Entscheidung im barocken Trauerspiel«, S. 178f.; ders.: »Das Begehren des Souveräns«, S. 153. Umgekehrt wird das erste ›Sittenmonster‹ jenes politische sein, als das der König in der Französischen Revolution gekennzeichnet wird, so Michel Foucault: »Das Sittenmonster«, in: ders., Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975), Frankfurt/M. 2003, S. 108-142; vgl. F. Balke: »›Majesty in Misery‹«, S. 658, 660-667; vgl. A. Haverkamp: »Richard II, Bracton, and the End of Political Theology«, S. 321-323. E. Matala de Mazza: »Doppelgänger, Engel, Gespenster«, S. 135; zum Status der Unterscheidung vgl. dies.: »Die Regeln der Ausnahme«, S. 262f.; zur Bedeutung der juristisch-theologischen Frage von Tyrannenmord und Usurpator, vgl. I, 245, 264; vgl. Armin Schäfer: »Die Wohltat in der Politik. Über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel«, in: A. von der Heiden (Hg.), per imaginem. Bildlichkeit und Souveränität, Zürich, Berlin 2005, S. 79-99, hier S. 80; A. Koschorke: »Das Problem der souveränen Entschei84

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mentation nicht, die eine ›Lösung‹ vielmehr in der Ambiguität findet, dass der Souverän »nicht im Verhältnis zu Menschen, sondern nur zu Gott Rechtsbruch begehen und darum nur von Gott […] belangt werden« könne.70 Das Problem einer möglichen Bindung des Souveräns, das mit der Figur des Tyrannen dringlich ist, war nicht innerhalb des Rechts,71 sondern nur mit Bezugspunkten außerhalb seiner zu beantworten.72 Benjamins eigener Ausprägung der Relation von Ausnahme und Norm zufolge, werde die »Norm« des absoluten »Herrschertums [...] – und das ist der barocke Zug im Bilde – sogar durch die erschreckendste Entartung der fürstlichen Person nicht eigentlich entstellt« (249), vielmehr wird sie durch diese, die die Möglichkeit der Einfriedung der souveränen Gewalt in Frage stellt, strukturell erkundet. Und auch wenn hier die bizarren Züge der Tyrannen im wahnwitzigen ›Machtrausch‹, die Benjamin am Tyrannendrama anhand der barocken Herodesfiguren auszuprägen vornimmt, zu denken dung«, S. 183-188; ders.: »Das Begehren des Souveräns«, S. 152; vgl. (mit Blaise Pascal »Erste Abhandlung über die Stellung der Großen«, in: ders., Gedanken, nach der ›endgültigen Ausgabe‹ v. F. Strowski, übers. von Wolfgang Rüttenauer, Leipzig, Wiesbaden 1947, S. 75) Louis Marin: »Der legitime Usurpator oder der schiffbrüchige König«, in: ders., Das Porträt des Königs, S. 347-385; ders.: Von den Mächten des Bildes (Glosse 6). 70 Dieser »Satz« bezeichne nicht nur »die Entscheidung zwischen den beiden Möglichkeiten des politischen Diskurses der Zeit«, sondern auch »die Differenz, unter der das Politische theoretisch wahrgenommen wurde« (Rüdiger Campe: »Theater der Institution. Gryphius’ Trauerspiele Leo Arminius, Catharina von Georgien, Carolus Stuardus und Papinianus«, in: R. Galle/R. Behrens (Hg.), Konfigurationen der Macht in der Frühen Neuzeit, Heidelberg 2000, S. 257-287, hier S. 268f.). Exemplarisch war die englische Lage und Diskussion (anlässlich Charles I) vgl. John of Salisbury: Policraticus. Of the Frivolities of Courtiers and the Footprints of Philosophers (1156-59), Cambridge 1990, Book VIII, chap. 20f.. (S. 201ff., S. 206ff.). 71 Benjamin sieht im Argument der Gegner des Tyrannenmordes, dass »selbst in der juristischen Theorie« »dem Königtum im Schöpfungsstande sein […] Ursprung an[gewiesen]« wurde (I, 264), den Rekurs »auf den bloßen Schöpfungsstand« (I, 260), den das naturrechtliche Argument mit der Ordnungsutopie der »ehernen Verfassung der Naturgesetze« (I, 253) teilt. 72 Zu den (Selbst-)Bindungen des Souveräns, vgl. A. Koschorke: »Das Problem der souveränen Entscheidung«, S. 178ff.; ders.: »Das Begehren des Souveräns. Gryphius’ Catharina von Georgien«, S. 151ff.; A. Schäfer: »Der Souverän, die clementia und die Aporien der Politik«; ders.: »Die Wohltat in der Politik. Über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel«; ders.: »Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel«; Bodin ziele dgg. darauf ab das Paradox einer unmöglichen Selbstbindung unschädlich zu machen, so (im Einwand gegen C. Schmitt und G. Agamben) E. Matala de Mazza: »Die Regeln der Ausnahme«, S. 261, S. 264ff.. 85

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sind, so ist doch der Zusammenhang von souveräner Macht und Tyrann ein systematischer, in der leeren oder tautologisch zirkulären Begründung absoluter Macht gegebener. Das pointiert ein Diktum Marins, auch wenn er keinen der Tyrannen deutscher Trauerspiele im Blick hat: »Es gibt keine guten oder schlechten Könige, es gibt sie nie in der Macht; es gibt, ihrem Wesen nach, nie anderes als das bedingungslose Begehren, das weder Prinzip, noch Regel, noch Gesetz kennt – das bedingungslose Begehren der absoluten Macht […].«73

Das »bedingungslose Begehren« ist in Händels Oreste in Thoas insistent wiederholten Worten: »Ich bin der König, […] und mein Verlangen hält keiner auf, ich bin der König, […]«,74 als eine Verschränkung vorgestellt, die Benjamin an Calderóns Schauspielen als eine spezifische »Solidarität der staatlichen und natürlichen Ordnung« erkannte,75 die durch dessen Herodes-Figur »mit außerordentlicher Kühnheit bezeichnet« werde, »wenn um seiner Liebe und nur um ihretwillen Herodes die Weltherrschaft sucht. In jedem andern Anschauungskreis würde dies seine Königsehre mindern, hier steigert es sie, da durch die Einheit mit seiner Liebe sie sich als eines mit der Schöpfung erweist.«76 73 L. Marin: Das Porträt des Königs, S. 270; dgg. kennzeichnet Lacan das Barock (im Motto, das er dem diesem gewidmeten Abschnitt von Encore beigibt) durch »Da wo es spricht, genießt es, und es weiß nichts.« (»Vom Barock«, S. 113; »Du Baroque«, S. 123). Sein Genießen hat der Herrscher vorzuführen, zu sehen zu geben, wie Nero in D.C. von Lohensteins »Agrippina« erfährt (Römische Trauerspiele, Stuttgart 1955, S. 20f.; für diese Erkenntnis danke ich Joseph Vogl (mitgeteilt im gemeinsam veranstalteten Schurken-Seminar in Sankt Johann, Ahrtal Sept. 2008)). 74 In der Arie des Thoas, in der Übers. für die Orest-Inszenierung, Komische Oper Berlin 2007, von: »Pensa ch’io sono un rege amante, e il mio potere freno non ha, no, no, freno non ha, pensa ch’io sono un rege amante, […]. A tuo dispetto mio cor costante […] ancor per forza trionferà, ancor per forza trionferà, sì, sì, trionferà […]« (Oreste, Libretto: Barlocci, Atto I, Scena VIII). Figürlich gemäßigt im Engl.: »Think I’m a King, whose Love/ Will be resistless as his Power« (Georg Friedrich Händel: »Oreste. Opera in tre atti« (1734), in: Hallesche Händel-Ausgabe, Suppl. Bd. 1, hg. von B. Baselt, Kassel u.a. 1991, S. 42, XXXIII; vgl. ebd., S. XLII. 75 »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 268, vgl. I, 271f. 76 II, 269; vgl. den Eingang von Pedro Calderón de la Barca: »El mayor mónstruo los celos« (1637 bzw. 1667, hier 1672, Edition José Maria Ruano de la Haza im Netz zugänglich in Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes), 1. 86

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Diese Einheit trägt des Herodes Eifersucht in ihrer Unerbittlichkeit als ein strenges Konstrukt,77 insofern die »gesellschaftliche Ordnung und ihre Repräsentation, der Hof,« »gleichsam ein Naturphänomen höchster Stufe«, an der »Ehre des Herodes […] ihr erstes Gesetz« habe.78 Es zeichne das »spanische« Drama aus, dass es verstehe, »spielerisch die Ordnung der Geschöpfe zu vertauschen«, so Benjamin (272),79 aber auch im deutschen Trauerspiel habe »nicht die Antithese von Geschichte [als Vergänglichkeit] und Natur« als Entrückung aus »tötender Zeit« »das letzte Wort« (270f.); es vollziehe vielmehr die »restlose Säkularisierung des Historischen« im Raume der Natur, des historischen Geschehens, das in den Stationen des Verfalls in der in dieser Perspektive Schuld-verfallenen Natur verräumlicht werde.80 Derart bildet das barocke Trauerspiel sich nach der, im europäischen Maßstab vollzogenen, »Abkehr von der Eschatologie der geistlichen Spiele« aus (260); die »besinnungslose Flucht in eine unbegnadete Natur« war »spezifisch deutsch« (260). »Säkularisierung« ist eines der entscheidenden Konzepte, und ein vielfach missverstandenes, von Benjamins Trauerspielbuch.81 C.

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jorn., vv. 23-74; Benjamin las und zitierte die Übers. von J. D. Gries, Schauspiele von Don Pedro Calderon de la Barca, Berlin 1818, Bd. 3, S. 195-390; vgl. II, 255. Als eine entgegengesetzte Ausprägung liest A. Koschorke Grypius’ Catharina von Georgien, dessen Tyrann Chach Abas in der Ohnmacht der Leidenschaft die Paradoxie des Herrschers darstelle (»Das Begehren des Souveräns. Gryphius’ Catharina von Georgien«, S. 155-161). Vgl. II, 262; B. Menke: »Reflexion des Trauer-Spiels«, S. 260, 259-262. II, 269 = I, 272, vgl. 265. Zum spanischen sog. Ehrendrama, vgl. B. Teuber: »Die frühneuzeitliche Tragödie als Opfer auf dem Theater?«, S. 81, 90f.; zur Strenge des Gesetzes der Ehre, vgl. H. Ulrici: Über Shakespeare’s dramatische Kunst und sein Verhältnis zu Calderon und Göthe, S. 521ff. Dass »dem Königtum im Schöpfungsstande sein […] Ursprung an[gewiesen]« werde (I, 264), sei, so Benjamin, »an Calderon zu exemplifizieren« (mit Bezug auf A.W. Schlegels Übers. Der standhafte Prinz (1809; vgl. Spanisches Theater II). Vor allem aber eröffne das spanische Drama einen »Kosmos des Profanen«, dafür steht der Ehrbegriff (I, 266; vgl. auch die »heidnisch-katholische[] Konvention«, I, 309). Dagegen ging das Schäferspiel dem »Ideal« des »Schöpfungsstandes« nach (I, 271, vgl. I, 260); aber auch die »Antithese« von »Trauerspiel und Pastorale« besteht »nur auf der Oberfläche, »latent erstreben sie sich zu verbinden« (I, 273); diese »Tendenz« bezeichne die »Auflösung des Barockdramas« (I, 273f.). Auch wo »Natur« »antithetisch« zur Geschichte aufgesucht wird, wird sie doch als »Synthese heterogenster Elemente« erschaffen (I, 270, vgl. 272f.), wie umgekehrt Geschichte simultan aufgefasst wird durch die »Zusammenlegung alles Gedächtniswürdigen« im Raume (I, 271). Benjamin spricht von der Säkularisierung der Mysterienspiele, des christlichen Dramas, I, 257ff., der Geschichte, I, 271; fast alle Sek.Lit. nimmt in der einen oder anderen Weise darauf Bezug. Benjamins Rede von Säkularisie87

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Schmitt erklärt Säkularisation zu der entscheidenden Kategorie für die »moderne Staatslehre«, sind doch, Schmitt zufolge, »[a]lle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre«, insbesondere der der Souveränität, »säkularisierte theokratische Begriffe«.82 Benjamin allerdings deutet das Konzept eines »als säkularisierte Heilsgewalt sich erweisenden Königtums« (260) so um, dass »die Säkularisierung der göttlichen Allmacht, kraft derer er [der Souverän] ›nach dem occasionalistischen Bilde des waltenden Gottes jederzeit unmittelbar ins Staatsgetriebe eingreift‹«, am Souverän scheitert.83 Benjamin widerspricht C. Schmitts Souveränitätskonzept mit seiner Ausprägung der Trauerspielfigur des »wahnwitzigen Selbstherr-

rung wurde als Ignoranz gegenüber der theologischen Dimension der Trauerspiele aufgefasst. Die Alternative von Immanenz oder gesicherter: gegenwärtig sich bezeugender Transzendenz ist verfehlt, sowohl in staatsrechtlichpolitischer wie auch in theologischer Hinsicht. 82 C. Schmitt: Politische Theologie, S. 37 (mit der Analogie Wunder – Ausnahmezustand). E. Kantorowicz zufolge werde der »Begriff des mysthischen Leibes [Christi] sozusagen säkularisiert« (Die zwei Körper des Königs, S. 212); zur Politischen Theologie in der Konstellation Kantrowicz – Schmitt – Blumenberg, zu nicht erfolgten Bezugnahmen, verschwiegenen Gewährsleuten usw. vgl. A. Haverkamp: »Richard II, Bracton, and the End of Political Theology«, S. 313-316. H. Blumenberg bestreitet C. Schmitts Säkularisierungsthese (Legitimität der Neuzeit Frankfurt/M. 1966, 2. erw. Aufl. 1974 als Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 12-14, 20-28, zu C. Schmitt S. 103-119; vgl. die kleine Geschichte der Diskussion von E. Geulen: Giorgio Agamben, S. 133-140; sowie die Materialien in H. Blumenberg/C. Schmitt: Briefwechsel 1971-1978, Frankfurt/M 2007, S. 17-86).). Die entscheidende Differenz benennt auch Jacob Taubes: »Was für Schmitt Wirklichkeiten sind, sind für Blumenberg Metaphern.« (Die politische Theologie des Paulus (Vorträge 1987, nach Tonbandaufzeichnungen red. von A. Assmann), München 1993, S. 95; zu Problemen der Position von Taubes, vgl. Nachwort von W.-D. Hartwich, A. u. J. Assmann, ebd., S. 177-181). Blumenberg macht die Konstruktion im Akt der Gründung lesbar (Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 106-108, (Rhetorik der Verweltlichung) S. 120-124, S. 139f.; vgl. A. Haverkamp: »Säkularisation als Metapher (Blumenberg vs. Nancy)«, Ms. im Netz). Die Säkularisierungsthese kritisiert Blumenberg, weil sie der Neuzeit die eigene Logik ihrer Legitimität bestritt (Legitimität der Neuzeit (1974), S. 24f.): »die Umschaltung von Religion auf Recht und die Herausbildung des modernen Staates« habe man sich aber vielmehr, wenn »religiöse Elemente in profaner Form fortleben« »als ›Umbesetzung‹ [und derart als Bruch mit der Religion] vorzustellen« (E. Geulen: Giorgio Agamben, S. 133ff., mit Blumenberg: Legitimität der Neuzeit 1966, S. 41; 1974, S. 23, 35, 58-61, 76, 91; A. Haverkamp: »Richard II, Bracton, and the End of Political Theology«, S. 315). 83 N. Bolz: »Charisma und Souveränität«, S. 260, mit I, 275, vgl. C. Schmitt: Politische Theologie, S. 37ff., 43f.; I, 264f., 260; vgl. H. Blumenberg: Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 119f.. 88

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schers« zu einem systematischen Argument (251).84 Die Trauerspiele führen den Souverän, und zwar gerade als denjenigen, bei dem die diktatorische Entscheidung liege, als Tyrannen, im »Widerstreit [vor], in welchem Ohnmacht und Verworfenheit seiner Person mit der Überzeugung von der sakrosankten Gewalt seiner Rolle im Gefühl des Zeitalters liegt« (251).85 Derart stellt er das »Emblem der verstörten Schöpfung« (250), insofern in ihm das »Emblem« der Aporie des Performativs zu erkennen ist: seiner Aporie zwischen unbegründeter oder vielmehr allein zitationell, im Bezug auf vorausgehende Zeichen-Ordnungen, Zeremonielle sich einsetzender Gewalt (force) und ihrem Vollzug, durch die sie als solche, als einsetzende sich konstituiert haben müßte. Durch die diktatorische Geste oder die Entscheidung ist der Entscheidende nicht souverän aus der in sich zerfallenen Geschichte herausgesetzt, sondern mit ihr verfällt er je wieder ihren ungewissen Zeichen und seiner eigenen Bedingtheit, die das Barock als seine kreatürliche Natur fasst. Das barocke Trauerspiel führe, so A. Koschorke, dass »alles politische Tun ins Zeichen einer sich selbst ermächtigenden, im Maß der Souveränsetzung zugleich entleerenden Dezision« rücke, nicht in »triumphalistischer Weise« vor, »sondern in der Trauer über die Grundlosigkeit eines Dezisionismus, der auf [seine] [...] Arbitrarität [...] trifft«.86 Das barocke ›Trauerspiel der Geschichte‹ (244) findet keinen Halt und Anhalt daran, dass der Fürst ›Christus in der Geschichte‹ figurierte (R. Campe), wie aber die germanistische Forschung vor

84 So auch II, 253f.. Der Souverän, als »der Herr der Kreaturen«, als obzwar »hocherhabene Kreatur«, bleibt im Scheitern als Entschlussunfähigkeit oder im Fall, der schuldverfallenen Kreatürlichkeit verhaftet (I, 250f.; 264f.): »der Gipfel der Kreatur, ausbrechend in der Raserei [...] als wahnwitziger Selbstherrscher ein Emblem der verstörten Schöpfung schlechthin.« (II, 253f.. dgg. führen Calderóns Dramen die »Konfrontation der menschlich-irdischen Verlegenheit mit fürstlich-hierarchischer Potenz« derart durch, dass sie die »Auflösung« ermögliche (I, 263; vgl. I, 260, 309)). Benjamins Theorie der Souveränität stellt den Begriff der Souveränität selbst und das Konzept von C. Schmitts Politischer Theologie radikal in Frage, vgl. S. Weber, A. Haverkamp, M. Twellmann u.a.. 85 Das war es, was, Benjamin zufolge, »[i]mmer von neuem fasziniert im Untergang des Tyrannen (I, 251). 86 A. Koschorke akzentuiert selbst: »der auf die Arbitrarität des Göttlichen trifft« (»Das Problem der souveränen Entscheidung im barocken Trauerspiel«, S. 195); vgl. I, 252. Zur Trauer der Herrschaft (über die Natur) vgl. »die Bedeutung des Königs im Trauerspiel«, die im »Doppelsinn des Wortes«, seiner »Bedeutung« liege (»Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«, II, 138f.). 89

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allem mit Gryphius’ Carolus Stuardus unterstellen wollte.87 »Säkularisation«, d.i. zwar »nicht […] Schwund, sondern eine Übertragung«, so A. Schöne,88 aber eben daher handelt es sich, wenn der Souverän, zumal der leidende und stürzende Herrscher, in Postfiguration Christi als Märtyrer aufgefasst wird,89 um eine rhetorische Strategie der Darstellung, und zwar durch Zitation aus dem Repertoire der christologischen topoi.90 Des Königs figurale »Gleichformung« mit Christus91 ist eine auf rhetorische Verfahren angewiesene Figuration; in figura ist sie, gerade auch mit E. Auerbachs Be-

87 So Albrecht Schöne: »Figurale Gestaltung. Andreas Gryphius«, in: ders.: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrerssöhne, Göttingen 1958, S. 29-75 (dass. revid. Fass.: »Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britannien«, in: G. Kaiser (Hg.), Die Dramen des Andreas Gryphius, Stuttgart 1968, S. 117-169). Werde »die christologisch ›figurative‹ Lektüre von Carolus gegen eine politische aus[ge]spielt«, dann werde die »Differenz, unter der das Politische theoretisch wahrgenommen wurde«, verkannt (R. Campe: »Theater der Institution«, S. 269, 271; ders.: »Der Befehl und die Rolle des Souveräns«, S. 56). 88 A. Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft, S. 22f.. E. Kantorowicz kennzeichnete das politische-theologische Konzept, »the dual concept of the king’s two bodies« als »metaphor« (The king’s two bodies, S. 26). Was Schmitt als Wirklichkeiten nimmt, kennzeichnet Blumenberg als Metaphern: »die entleerte theologische Konstruktion« der Souveränität als Metapher, die Blumenberg zufolge »die Kontingenz der positiven Setzung der Wahrnehmung entzieht«, bzw. als Katachrese, deren Literalisierung verfehlt: illegitim ist (A. Haverkamp: »Stranger than Paradise«, S 103; vgl. ders.: »Säkularisation als Metapher (Blumenberg vs. Nancy)«). 89 So insb. Charles I, vgl. A. Schöne: »Figurale Gestaltung. Andreas Gryphius«, 61f.; W. Vosskamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert; S. 152-158; zum Märtyrer als christologischer Refiguration des Souveräns, vgl. Elida M. Szarota: Künstler, Grübler und Rebellen. Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts, Bern u.a. 1967, S. 265-269, 304ff., 311; H. Heckmann: Elemente des barocken Trauerspiels, S. 61. 90 Zu dieser Repräsentationsstrategie vgl. B. Wolf: Die Sorge des Souveräns, S. 65, 62-66; zur Strategie der Stillstellung (in) der Figuration (mit Bezug auf Leo Arminius) Heinz J. Drügh: »Was mag wol klärer seyn? – Zur Ambivalenz des Allegorischen in Andreas Grypius’ Trauerspiel Leo Arminius«, in: H. Laufhütte (Hg.), Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit, Teil II, Wiesbaden 2000, S. 1019-1030, hier S. 1028f., 1026f.. Die Frage, ob der heidnische Tyrann im Herrscher als Märtyrer (Carolus Stuardus) aufgehoben werde, beantwortet Nicola Kaminski neu als die nach den Zeichen (Skepsis und Optimismus), Zeichengebung und Zitation (Andreas Gryphius, Stuttgart 1998, S. 73-121, hier insb. S. 120f., 109-117); zur Typologie und deren Kalkül im Herscherlob, vgl. Thomas Borgstedt: »Scharfsinnige Figuration. Zur Semantik des Herrscherlobs bei Lohenstein«, in: V. Bohn (Hg.), Typologie, Frankfurt/M 1988, S. 206-235, hier S. 208ff., sowie 211-214. 91 A. Schöne: »Figurale Gestaltung«, S. 61f., für das Folgende vgl. S. 71-75. 90

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griff, nur um den Preis des Abstands in der Übertragung zu haben, jenes Abstands, der der figura selbst angehört, und den sie hält. (Die figurale Relation machte, E. Auerbachs grundlegendem Artikel zufolge, in der Spannung von Wiederholung und Differenz zwischen typos und anti-typos, figura und implementum die christliche Heilsgeschichte ›denkbar‹.)92 Auch mit der Figuraldeutung ist die Problematik der Zeichengebung und -deutung, die die Allegorie bezeichnet, nicht von den barocken Trauerspielen fernzuhalten (worauf es Schöne und anderen aber ankommt).93 Gerade das Märtyrerdrama, als das Gryphius’ Carolus Stuardus gelesen wird, macht die Fragen nach Evidenz und Opazität der Zeichen unabweisbar.94 Figur und Erfüllung, Figur und Postfiguration sind, ›im selben Raume aufgestellt‹, so vermerkt auch Schöne, nicht »Stadien der Heilsgeschichte«,95 sondern sind allegorische Details (geworden), die die Frage ihrer Lesbarkeit aufwerfen und ›ansprechen‹. Um der Figuration der »Einzigkeit dieser entscheidenden Instanz« willen tritt neben die »theologische Hyperbel« als »eine sehr beliebte kosmologische Argumentation« »der Vergleich des Fürsten mit der Sonne« (247)96 – oder vielmehr auch deren Überbietung 92 Erich Auerbach: »Figura«, in: Archivum Romanicum 22 (1938), S. 436-489. Durch die christliche Figuraldeutung werden die Begebnisse des Alten Testamentes nicht als jüdische Geschichte, sondern als figura des Neuen aufgefasst und im Neuen des Alten Bundes Wiederholung und überbietende Erfüllung (die allerdings mit der Enttäuschung der Naherwartung im eschatologisch Aufschub gedacht werden musste). Auerbach, den Benjamin als Bibliothekar der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin kennenlernte (19231929), ist einer der emigrierten, in den letzten Jahren neu wahrgenommenen Philologen (vgl. K. Barck/M. Treml (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, Berlin 2007; darin u.a.: Robert Kahn: »Eine ›List der Vorsehung‹: Erich Auerbach und Walter Benjamin«, S. 153-166, hier S. 153f.,159-166). 93 A. Schöne zufolge sei die »Gleichung« mit Christus durch »Verkleidung der Fugen zwischen beiden Bereichen« gegeben (»Figurale Gestaltung«, S. 61f., 71); die ›Fugen‹ wären wie deren ›Verkleidung‹ aber zu lesen; zur Problemlage H. Drügh: »Was mag wol klärer seyn?«, S. 1027, (mit Bezug auf G. Kaiser) S. 1026ff.. 94 Vgl. N. Kaminski: Andreas Gryphius, S. 113-117, zu den Verfahren, deren theatraler Dimension und Unbeherrschbarkeit, B. Wolf: Die Sorge des Souveräns, S. 62-65. 95 A. Schöne, »Figurale Gestaltung«, S. 72ff., 75. »Wo das Mittelalter die Hinfälligkeit des Weltgeschehens und die Vergänglichkeit der Kreatur als Stationen des Heilswegs zur Schau stellt, vergräbt das deutsche Trauerspiel sich ganz in die Trostlosigkeit der irdischen Verfassung.« (I, 260). 96 Nebeneinander treten »barocke theokratische Passion« und »staatspolitische Vernunft« (I, 247). Eine Vielzahl von Beispielen finden sich in Julius Wilhelm Zincgreffs Hundert Ethisch-Politische Embleme (Heidelberg 1664, 91

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durch den Fürsten: Wenn Lohenstein Nero, der ein absoluter Selbstherrscher werden will, mit den ersten Worten auftreten lässt: »SO ists! Die Sonn erstarrt für unsers Hauptes Glantz/ Die Welt für unser Macht«,97 so soll die Vollstreckungsgewalt mit der tautologisch-leeren In-Kraftsetzung: »SO ists!« nichts anderes besagt haben als die Überbietung, die noch die Sonne sehend erstarren macht und den Herrscher selbst als den phantasmatisch Er-Blickten modelliert, und wird doch mit ihrer tautologischen Leere alles an deren Stelle Behauptete nur widerlegt haben können. Die Simultaneität der allegorisch fungiblen Details (die etwa ermöglicht, dass in der »Glorifikation« des Fürsten »[h]eidnisch« »irdische und himmlische Gestalten« »in seinem Gefolge durcheinander«-spielen (247)), ergibt für Benjamins Rede von Säkularisierung den präzisen Sinn: »[F]ürs Vergegenwärtigen der Zeit im Raume – und was ist deren Säkularisierung anderes, als in die strikte Gegenwart sie wandeln? – ist Simultaneisierung des Geschehens das gründlichste Verfahren« (370).98 Dies geschehe im Barock, und zwar »restlos« (270f.); es vollzieht sich auf dem Schauplatz des Trauerspiels. – Allerdings kommt es Benjamin darauf an: »In der theologisch-juristischen Denkweise, die so kennzeichnend für das Jahrhundert ist, spricht die verzögernde Überspannung der Transzendenz [sich aus], die all den provokatorischen Diesseitsakzenten des Barock zugrunde liegt.« (246) 99

repr. Heidelberg 1986, Nr. 36, 38, 39, 72, 89, 90, 92); vgl. C. Wild: »Neros Kaiserschnitt«, S. 111-116; K. Garber: Rezeption und Rettung, S. 97. 97 D.C. von Lohenstein: »Agrippina«, S. 19f.. 98 Damit verweist Benjamin auf das Infinitesimalkalkül (I, 271), wie auf das Ballett als Verfallsform des Barockdramas (I, 274). Die »Säkularisierung« der Geschichte (I, 271) kennzeichnet Benjamin als die »Hier wie in anderen Lebenssphären des Barock [...] [bestimmende] Umsetzung der ursprünglich zeitlichen Daten in eine räumliche Uneigentlichkeit und Simultaneität« (I, 260). 99 »[S]o verloren darum nirgends die religiösen Anliegen ihr Gewicht: nur die religiöse Lösung war es, die das Jahrhundert ihnen versagte, um an deren Stelle eine weltliche ihnen abzufordern oder aufzuzwingen« (I, 258). Gerade indem die »gesammelte Kraft der Epoche« sich »auf eine gänzliche Umwälzung des Lebensgehaltes unter orthodoxer Wahrung der kirchlichen Formen« verlegte, gewinne, so Benjamin, eine »der im tiefsten zerrissenen und zwiespältigen Zeiten« Ausdruck (I, 258; die Diskrepanz von »alten Formen« und »neuem Sinn« auch bei H. Cysarz: Deutsche Barockdichtung, S. 28). 92

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Die »verzögernde Überspannung der Transzendenz« bleibt als das, was »all den provokatorischen Diesseitsakzenten des Barock zugrunde lieg[e]«,100 was durch »die quälende Gewaltsamkeit der [barocken] Geste« vorgetragen (229) und vom barocken Trauerspiel in seiner allegorischen Verfasstheit ausgetragen wird,101 (bis zu dessen und des Trauerspielbuchs Ende) zu analysieren. Den barocken Souverän macht Benjamin in den Trauerspielkönigen kenntlich, ja in deren »Miniatüren« auf dem Marionettentheater. Wenn sie »mit ihren goldpapierenen Kronen auf dem Haupte sehr trübe und traurig« (302)102 auf dem Schauplatz – der Geschichte wie des Trauerspiels – auftreten, so »gemahnt [das] an das Puppenspiel nicht umsonst« (303). Diese äußerlichen Requisiten stellen ebenso das theatrale Spiel des Trauerspiels aus, das das Marionetten-Puppen-Spiel exzentrisch realisiert (303),103 wie durch diese der Souverän selbst als Fiktion, die der Verkörperung bedarf, bezeichnet wird. Wenn für die auf der Theaterbühne anfallenden königlichen Leichen zuweilen, wie auf der Bühne von Gryphius’ Catharina von Georgien, Puppen eintraten,104 so re-inszeniert dies die Doppelung der Zwei Körper des Königs in einer verschobenen Wiederholung (die von Parodie nicht unterschieden werden kann) jener sichtbaren Aufführungen der beiden Körper, die seit dem 14. Jahrhundert anlässlich des Todes des Königs des symbolischen Königskörpers Kontinuität über den Tod des hinfälligen Körpers hinaus in effigie, durch ein doppelndes ›Bild‹ oder Puppe, vorstellten.105 Benjamin vermerkte, »die Gegenprobe« dieser seiner Auffas100 So »vergräbt das deutsche Trauerspiel sich ganz in die Trostlosigkeit der irdischen Verfassung. Kennt es eine Erlösung, so liegt sie mehr in der Tiefe dieses Verhängnisses selbst als im Vollzuge eines göttlichen Heilsplans« (I, 260; vgl. S. Weber: »Taking Exception«, S. 14). 101 Die Allegorie heißt das Schema des barocken Trauerspiels (Exposé, I, 951, 404f.). Erst mit der Allegorie (s. unten in IV.) wird die Struktur als der Gehalt des Trauerspiels darstellbar (I, 390). 102 So zitiert Benjamin ausführlich eine »anmutende Beschreibung« österreichischer Haupt- und Staatsaktionen, die als Possen das Trauerspiel kenntlich machen (I, 302f.). 103 Vgl. I, 260 u. 262. 104 Spekulationen zum Prolog der Ewigkeit zu Gryphius’ Catharina von Georgien, deren Auftritt der Ewigkeit den eigenwilligen Zug zeige, sie trete »›ihren Worten nach … auf Vater und Sohn. Das können […] falls wirklich dargestellt, nur Puppen gewesen sein‹«, zit. Benjamin (I, 303, vgl. auch der »herangeschleifte Leichnam Leos«, »die grause Reliquie, das verbrannte Haupt der standhaften Fürstin von Georgien« (I, 303)). 105 Vgl. E. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 415-432. »Fortan spielte das Bild des Königs [...] seine eigene Rolle gesondert vom toten 93

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sung gestatte die »Staatsphilosophie«, weil »ihr solche Perspektiven als Sakrileg erscheinen mußten« (303). »[P]uppenhaft starr« wirkte auch schon »die leibliche Erscheinung der Akteure selbst, zumal des Königs, welcher im Ornat sich zeigt« (304), »wie der volle Ornat, Krone und Szepter nur ausnahmsweise der Bühnenerscheinung des Herrschenden wird gefehlt haben« (249). Er ist selbst die Puppe der dignitas, einer »andere[n] persona ficta«.106 Den »barocken Personen« waren ihre Attribute äußerlich angeheftet,107 die sie vorweisen wie Märtyrer ihre Marterwerkzeuge, um kenntlich zu sein. Dass das Trauerspiel selbst als eines von Puppen vorzustellen sei (303, 262), verhandelt auch die Frage: was für ein Körper es ist, der da auftritt, der sich gerade die Märtyrerdrama widmen (392f.). Wenn Benjamin von Lohenstein zitiert: »›Die Fürsten/ denen ist der Purpur angebohrn‹«, dann »rechtfertigt« er das durch den »Vergleich barocker Bühnen-Herrscher mit den Kartenkönigen« (304), denen die ›angebohrn[en]‹ Insignien auf dem Papier (der Spielkarte) als »Kartenkönigen« oder Funktion im Spiel zukommen. Der Krone, der Insignien der Herrschaft (überhaupt) strenge Äußerlichkeit bringt ihren Träger nicht nur in die Gefahr des metaphorischen Sturzes, sondern lässt ihn auch, wörtlicher (das lässt Lohenstein in der Sophonisbe mitlesen), »schwer von Kronen« stürzen (304). Die Könige müssen die zuweilen groteske Unstimmigkeit zwischen den Zeichen und dem, wovon diese angeblich Zeichen sind, vor-tragen.

Tyrann und Märtyrer Benjamins These, »Monarch und Märtyrer entgehen nicht im Trauerspiel der Immanenz« (247), wurde als die »entscheidende« des Trauerspielbuchs, die »gänzlich neue«, jedenfalls »bis heute heftig Körper des Königs.« (Ebd. S. 417; zu den Zeremonien des interregnums S. 416-426; vgl. H. Bredekamp: »Politische Zeit. Die zwei Körper von Thomas Hobbes’ Leviathan«, S. 107-109; R. Giesey: »Was für zwei Körper?«, S. 91ff.). 106 E. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 416. »Das Abbild [die effigie] trug die königlischen Insignien zur Schau.« (Ebd.) Kantorowicz spricht vom »französischen Kniff, die dignitas auch sichtbar zu machen und sie bei Aufzügen und Zeremonien vor Augen zu führen« (Die zwei Körper des Königs, S. 417). 107 Zu den Einkleidungen, äußeren Zeichen, die die Körper zu deren Trägern, Puppen wie Leichen, machen, vgl. I, 304; sie seien »tote Puppen«, »Gewand- und Gebärdenträger«, so H. Cysarz (Deutsche Barockdichtung, S. 34f.). 94

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umstrittene« identifiziert.108 Beide Trauerspiel-Figuren sind komplementär bestimmt durch die ›Säkularisierung des geschichtlichen Lebens im Raume der gefallenen Natur‹,109 so dass »Tyrann und Märtyrer« als »die Janushäupter des Gekrönten« sich zeigen (249). Die Darstellung des Herrschers erfolgt daher in Entfaltung dieser seiner beiden Gesichter. Zunächst war (voranstehend) die Bestimmtheit des Souveräns als diktatorisch Entscheidender oder Tyrann zu entwickeln. Wo er fällt, wird der Herrscher umgekehrt, durch Devestitur auf seine kreatürliche Körperlichkeit reduziert, in seiner Erniedrigung als Märtyrer figuriert (etwa in Gryphius’ Carolus Stuardus).110 Im Märtyrerdrama zeigen weiterhin sich die tyrannischen Züge einer Herrschaft über die Affekte. Umgekehrt fällt der Souverän gerade als Tyrann (auch dies war bereits anzusprechen) als Opfer der dem »Herrscher, [als] der hocherhabenen Kreatur« (265), gleichsam aufgegebenen Hybris, als ein Märtyrer des double binds seiner Aufgabe, das der Tyrann als Aporie und deren Unlösbarkeit im Fall vorstellte. Der souveränen Macht, die im Tötungsbefehl sich als absolute behauptet, ›entspricht‹ der gemarterte auf seine Physis reduzierte Körper, den sie in ihrer Gewalt hält. Komplementär sind der Märtyrer und der Tyrann durch ihre jeweilige Exposition der kreatürlichen Natur (dies kann auch mit G. Agambens Begriff des »nackten Lebens«, den er zumindest auch aus Benjamins Konzept des Politischen bezieht, erläutert werden). Der Märtyrer ist sowohl als gemarterter, durch die Marter gezeichneter Körper als auch in seiner als Beständigkeit naturalisierten Tugend bestimmt durch Natur-Geschichte, die Auffassung von geschichtlichem Leben in Termini von natürlichem als Vergängnis und der entsprechenden Prägung von Natur, in die Geschichte einzog, als gefallener. Hatte die souveräne Gewalt als »Diktatur«, »die eherne Verfassung der Naturgesetze an Stelle schwankenden historischen Geschehens zu setzen« und spricht sie derart von der kreatürlichen Natur als schuldiger (253, vgl. 398), so zeigt sich im Mär-

108 So K. Garber: Rezeption und Rettung, S. 96f., 105. 109 Vgl. I, 268, 253; »daß zwischen Tyrann und Märtyrer die Grenze verschwimmt«, belegt P. Hankamer (in Bezug auf Gryphius) mit: »Das Bild der sündig-wirren, schuld-dunklen Welt ist der bleibende Eindruck« (Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock, S. 299) 110 Vgl. I, 252; A. Koschorke: »Der nackte Herrscher«, S. 240; F. Balke: »›Majesty in Misery‹«, S. 658-665; B. Wolf: Die Sorge des Souveräns, S. 30ff., insb. S. 46-50, 64ff.; E. M. Szarota: Künstler, Grübler und Rebellen. Märtyrerdrama, S. 259-262. 95

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tyrerdrama ein »Moment des Tyrannendramas« (253), insofern »die stoische Technik inbezug auf einen Ausnahmezustand der Seele, die Herrschaft der Affekte,« »[z]u einer [der diktatorischen] entsprechenden Fixierung« »ermächtigen« wollte; auch »die stoische Technik« »sucht eine widerhistorische Neuschöpfung« (253).111 Umgekehrt stellt der Tyrann in seinem Fall am eindrücklichsten vor, was »ganz unverkennbar […] den Souverän« als »hocherhabene Kreatur« (264f.) bestimmte: das »Mißverhältnis[] der unbeschränkten hierarchischen Würde, mit welcher Gott ihn investiert, zum Stande seines armen Menschenwesens«, dem der Tyrann zum »Opfer« fällt (250). Das (vermeintliche) Subjekt der Entscheidung und Vollstreckung steht mit den »theatralischen Figuren der Epoche im grellen Scheine ihrer wechselnden Entschließungen« (251), so dass nicht sowohl die »Souveränität« sich aufdrängte, als vielmehr die »Willkür eines jederzeit umschlagenden Affektsturms« (251):112 »Auffallend ist’s zumal bei dem Tyrannen […]: zuletzt tritt der Wahnsinn ein« (277). Dieser – an dessen Fall der Widerstreit von »erhabne[r] Stellung des Kaisers« und der »verruchte[n] Ohnmacht seines Handelns« (252) zur Aufführung kommt und »[i]mmer von neuem fasziniert« (251) – wurde genommen als »Emblem« der Menschen›Natur‹ und damit der »verstörten Schöpfung« (250). In des zuletzt dem Wahnsinn verfallenden Selbstherrschers Ende seien »die Züge der Märtyrertragödie verwoben« (250),113 denn es ist »im Sinne der Märtyrerdramatik«, dass »nicht sittliche Vergehung, sondern der Stand des kreatürlichen Menschen selber der Grund des Unterganges« wird (268). Insofern kennzeichne dieser, so Benjamin, »typische[] Untergang, der so verschieden von dem außerordentlichen des tragischen Helden ist«, der Untergang am –/als Opfer des »Stand(s) des kreatürlichen Menschen« das »›Trauerspiel‹« (268), mit dem ›die Geschichte als Schrift in den Schauplatz hineinwanderte‹ (353). 111 Diese sei, »nicht minder als die diktatorische Verfassung des Tyrannen«, »von dem harmlosen ersten Schöpfungsstande entfernt«, dafür steht – so Benjamin – in kennzeichnender Weise die Märtyrerin: »in der Frau die Behauptung der Keuschheit« (I, 253). 112 Derart stellen die »Wechselfälle der Geschichte«, denen der Herrscher »Einhalt« tun soll, sich als Natur dar (I, 250), auch in. »abenteuerlichen Wendungen« I, 262). 113 Dabei ist an Gryphius’ Carolus Stuardus, Papinian und Leo Arminius zu denken (vgl. I, 252ff.), anhand derer die christologische Figuration des Herrschers als Märtyrer diskutiert wurde; für die Diskussionslage vgl. N. Kaminski: Andreas Gryphius, S. 73-78. 96

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Ist das »sonderbare Bild vom Märtyrer«, das Benjamin im Barock ausmacht, durch die neostoische »Technik« der »Fixierung« (253) (oder »Restauration«) des andauernden Ausnahmezustands des »jederzeit umschlagenden Affektsturms« (251) bestimmt, so meint das nicht, dass »die barocke passio im Kern nicht mehr religiös inspiriert sei«.114 Vielmehr ist die Tugend in ihrer Bestimmung als Beharrlichkeit, statt das pseudoantike Ideal christlich zu ›erleuchten‹, um ihren heilsgeschichtlichen Zug beschnitten. Tugend, die als constantia bestimmt war, die sich gegen die ›unaufhaltsame Katastrophe‹, die die in sich zerfallene Geschichte ist,115 zu behaupten hatte, stand »nicht sowohl als Moralität, denn als die in ihrer Beharrlichkeit wesenhafte, als die naturgemäße Seite des Geschichtsverlaufs« »vor Augen«, als das »ständig wiederholte Schauspiel fürstlicher Erhebung und des Falls, das Dulden ehrenfester Tugend« (267). Die »gänzlich geschichtsfremde« »Haltung« des – pseudoantiken barocken – Stoikers,116 »nicht aber die Heilserwartung des christlichen Glaubenshelden ist es, die in den Hauptpersonen des barocken Dramas überall begegnet« (267). Das ist Benjamins unterscheidende Bestimmung des barocken Märtyrers, die ihn zugleich bereits als Schauspieler auffasst: Da »im Sinne [dieses] Zeitalters alles historische Leben der Tugend ab[geht], so wurde sie bedeutungslos auch für das Innere der dramatischen Personen selbst« (270). Die barocke Stoik kennzeichnet Benjamin als »pseudoantik«, ›Verödung‹ des ›Inneren‹ (319) wie die als Apathie gefasste barocke Melancholie.117 Der Märtyrerstoff ist ein melancholischer, denn die ›stoische‹ Herrschaft über die Affekte, die gesucht wird, ist als die entscheidende »physische Askese« (253) negativ bezogen auf den ›Stand des kreatürlichen Menschen‹. Dieses negativen Bezuges auf die schuldverfallene Natur wegen »behauptet die 114 K. Garber: Rezeption und Rettung, S. 98-104, hier S. 100. 115 Vgl. I, 246, 260, 270. 116 »Abglanz sittlicher Würde liegt einzig auf dem Souverän und dies von keiner andern als der gänzlich geschichtsfremden des Stoikers« (I, 267). Auch P. Hankamer spricht von »unchristliche[m] Wille[n] zu human-sittlicher Selbstbehauptung gegen ein Leben voll Zufall und Leid« für Opitz und dessen Seneca-Bezug (Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock, S. 294ff.) 117 I, 319 u. 329. Pascal zufolge vermag die Seele in ihr selbst nichts ihr Genügendes zu finden (Blaise Pascal: Pensées, in: Œuvres de Blaise Pascal, hg. von L. Brunschvicg, Paris 1904-1908, repr. Nendlen 1976-1978 (Bd. 1214), Bd. 13, S. 52f., Nr. 139; vgl. I, 321f.; Pensées II, S. 67-69, Nr. 142 (Benjamin zitiert nach der Ausgabe: Pensées (Edition de 1670, avec la préface d’ Etinne Périer), Paris o.J. (1905)). 97

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keusche Fürstin im Märtyrerdrama den ersten Platz.« (253). Umgekehrt stellte der Tyrann ›bis in seinen Untergang im Wahnsinn‹ das »Modell« für die Melancholie, weil »[n]ichts […] so drastisch die Gebrechlichkeit der Kreatur [lehrt], als daß er selbst ihr unterworfen ist« (321). Mit Seneca als ›antikem‹ Vorbild des Barock ist das »Leiden« nicht (so sehr) durch seine »tiefchristliche Ausschöpfung« motiviert,118 sondern ist es vielmehr das »Darstellungsprinzip der isolierten Greuelgemälde«, das Opitz’ Poeterey mit dem »Greuelkatalog« der res tragicae übernahm.119 Die »atrocitas des Trauerspiels« soll, so etwa Schings, die »Funktion« einer stoischen »Interpretationsund Affektübung« in »Beständigkeit« des Betrachters gehabt haben, der am Protagonisten des Märtyrerdramas für einen solchen Umschwung die Vorlage finde.120 Das Märtyrerdrama erspart kein Detail, übt sich vielmehr in der Rhetorik des locus ex enumeratione partem;121 daher scheint sich für das barocke Trauerspiel die Formel vom »Theater der Grausamkeit« (mit den Worten Artauds) aufzudrängen;122 genau genommen hat dieses keinen Zweck jenseits sei118 So aber W. Barner: »Gryphius und die Macht der Rede«, S. 357; vgl. Gerhard Kaiser in der Vorrede zu ders. (Hg.): Die Dramen des Andreas Gryphius, Stuttgart 1968, S. 3f.; zur (Frage der) Säkularisierung des Märtyrerdramas – nach Schöne und Benjamin – vgl. E. M. Szarota: Künstler, Grübler und Rebellen. Märtyrerdrama, S. 265, 267ff., 272f.. 119 H.-J. Schings: »Seneca-Rezeption und Theorie der Tragödie«, S. 525; R. Alewyn: Vorbarocker Klassizismus, S. 8f... Der Seneca-Bezug begründet das lutherische Märtyrerdrama (E. M. Szarota: Künstler, Grübler und Rebellen. Märtyrerdrama, S. 195-198); zum Sinn der Greuel- und Marterszenen vgl. I, 390ff.. 120 H.-J. Schings: »Seneca-Rezeption und Theorie der Tragödie«, S. 533f.; vgl. ders.: »Consolatio Tragoediae«, S. 22-25, 28-32, 35f.; dgg. hält A. Schäfer das »Vergnügen an der Darstellung« selbst (auch dem von Leiden) (»Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel«, S. 393-399); vgl. I, 392. 121 Vgl. I, 392; vgl. Reinhart Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit. Affektlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von Agrippina, Göttingen 1986, z.B. S. 30-33, 79ff., 173-79, 183, 199-205; E. M. Szarota: Künstler, Grübler und Rebellen. Märtyrerdrama, S. 310f. (d.i. auch eine Huldigung Lohensteins an Gryphius). 122 Und zwar so verschiedenen Interpreten wie H.-J. Schings: »Seneca-Rezeption und Theorie der Tragödie«, S. 525; R. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 173; H. Schramm: Karneval des Denkens, S. 219; Christopher J. Wild: »Fleischgewordener Sinn. Inkarnation und Performanz im barocken Märtyrerdrama«, in: E. Fischer-Lichte (Hg.), Theatralität und die Krisen der Repräsentation, S. 125-154, hier S. 129; Anselm Haverkamp: Hamlet: Hypothek der Macht, Berlin 2001, S. 103. Benjamin spricht von der »Freude an der Grausamkeit« (I, 392), die der Darstellung angehört. 98

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ner, es ist in ihm vielmehr auf die »Pein« selbst abgesehen (252), auf den path(et)ischen Körper, der zu sehen gegeben, der zur Schau gestellt ist. »O Greuel! O! was trit uns für Gesichte!/ [...] Wie schrecklich hängt die abgezwickte Brust! [...] Schauet wie sie die entblösseten Arme zu dem gestrengen Richter streck’/ [...] Schauet schaut!«.123 Die Bühnenpräsenz des Schmerzes, der die ›Greuelkataloge‹ gelten, und die »stoische Ostentation«, die die Beständigkeit selbst ist (268), gehören demselben »Zusammenhang von Trauer und Ostentation« an, »wie er in dem Theater des Barock sich ausprägt« (299) und als allegorischer kenntlich wird (355). Es handelt sich bei den Martyrien um Schaustellungen wie und als Allegorien. Gerade an der christlichen Rhetorik, wie sie etwa Gryphius’ Märtyrerin-Historie Catharina von Georgien ausprägt,124 bewähre sich eindrücklich, so R. Nägele, Benjamins Lektüre,125 derzufolge die Marter-Szenen die allegorische Struktur im Zwiespalt zwischen »Geist, der auf Geisterweise frei« werde (391), und Körper, der zerstückt (übrig) bleibt, realisieren und, als deren mise en abyme, zur Schau stellen. Gerade die »Insistenz […], mit der der Körper im barocken Theater der Grausamkeit zum Ort gemacht wird, an dem sich Transzendenz und Sinn artikulieren«,126 manifestiert, so C. Wild, die barocke Spannung zwischen inkarnationstheologischer Ernsthaftigkeit und dem Prekär-Werden des sakralen Konzepts von Real-Präsenz durch Repräsentation als der ›fleisch123 Auch wenn dem folgt: »Der Himmel bricht!« – es handelt sich dabei um die Vision des heidnischen Gewaltherrschers Chach Abas, eine Deixis am Phantasma (Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Bestaendigkeit. Trauerspiel, in: Andreas Gryphius Dramen, hg. von E. Mannack, Frankfurt/M. 1991, S. 117-226, hier S. 220, 5. Abh., V. 375-392). 124 Gryphius’ Catharina von Georgien und Carolus Stuardus sollen zu dessen Tyrannenstück Leo Arminius die christliche: martyriologische Einlösung geben; zu den Lagern der germanistischen Diskussion vgl. N. Kaminski: Anderas Gryphius, S. 73-78, sowie ihre Lektüre von Catharina von Georgien mit Aufmerksamkeit für die Ungewissheiten der Zeichen, S. 109ff., 102106. 125 So Rainer Nägele: »Trauerspiel und Puppenspiel«, in: S. Weigel (Hg.), Leib- und Bildraum, Köln u.a. 1992, S. 9-34, hier S. 9, 15; vgl. Frauke Berndt: »›So hab’ ich sie gesehen‹. Repräsentationslogik und Ikonographie der Unbeständigkeit in Andreas Gryphius’ Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Bestaendigkeit«, in: Frühneuzeit-Info Jg. 10 (1999, Heft 1 +2), S. 231- 256, hier S. 231ff.; H.-J. Schings: »Consolatio Tragoediae«, S. 35ff.. 126 C. Wild: »Fleischgewordener Sinn«, S. 129; vgl. ders.: »›Weder Worte noch rutten‹. Hypotypose: Zur Evidenz korporealer Inskription bei Andreas Gryphius«, in: B. Menke/B. Vinken (Hg.), Stigmata. Poetiken der Körperinschrift, München 2004, S. 215-239. 99

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gewordene Sinn‹. Es bedarf des »Pfands«, das der königliche Märtyrer mit seiner Leiche auf der allegorischen Bühne hinterlasse, wie Benjamin der Szene des Carolus Stuardus abgewinnt (390ff.); das bezeugt den prekären Ernst des deutschen Trauerspiels.127 Soll es mit dem Martyrium auf den Körper als inscripta pagina hinaus: als imitatio eines anderen, vergangenen oder geistigen Geschehens und als äußere Bezeugung des inneren Bezugs auf dieses, so bezieht dieser seinen ›Sinn‹ woandersher: aus der Vorlage und dem Bezug auf diese, aus der transzendenten Instanz, für die Zeugnis abgelegt wird und die im Körperzeichen Evidenz gewinne.128 Daher produziert es die »Leiche als Emblem«, und es ist wie das Trauerspiel, als die mise en abyme der allegorischen Struktur des Trauerspiels, Schaustellung der Körper, die nicht ihren Sinn inkludieren und nicht Ausdruck seelenvoller Innerlichkeit sind.129 Der Äußerlichkeit ihrer Zeichen wegen, die zugleich solche der theatralen Szene selbst sind, galten im 18. Jahrhundert die Absagen an das Trauerspiel paradigmatisch den ›Märtyrertragödien‹.130 Die Martyrien sind das taugliche Sujet für das barocke Trauerspiel, weil sie selbst, so korpo-real sie auch seien, doch auch selbst immer schon Theater: Wieder-Aufführung, und als solche Zeugnis einer anderen, hier nicht sichtbaren Szene, waren. Die Martyrien selbst sind als imitatio, der »die Märtyrer ihren Leib [leihen], damit 127 Vgl. N. Kaminski: Andreas Gryphius, S. 101f.; mit Bezug auf Catharina von Georgien (1. Abh. V. 86-88, S. 128) stellt sich Frage der Deckung des Pfandes, das »das semiologische Problem« des Märtyriums, seiner Lesbarund Darstellbarkeit, belegt (ebd. S. 105f.; vgl. S. 101-108). 128 Der theologischen Komplexität der Zeichengebung im Martyrium, in der Relation des gemarterten Leibes, des Leibs Christi in der Passion und des verklärten Leibes, mit einer hochspezifischen Temporalstruktur von Postund Präfiguration, wie der Benjamin’schen Auffassung der Allegorie (und ihres Umschlages) entspricht, dass hier keine unmittelbaren Gewissheiten zu haben sind (vgl. N. Kaminski: Andreas Gryphius, S. 113, 120), und auch keine des ›Zeichens der Erlösung‹ (vgl. dgg. Peter-André Alt: Der Tod der Königin. Frauenopfer und politische Souveränität im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, Berlin 2004, S. 70, 194 u.ö.) 129 Am Märtyrer(innen)körper wird der (allegorische) Zusammenhang von (auferlegter) Bedeutung und (sadistischer) Zerstörung evident; vgl. F. Berndt: »›So hab’ ich sie gesehen‹«, S. 242-246; er ist Merk-, Denk-Mal, konstituiert sich in Zitationen von (Venus- und Fortuna-)Topoi (ebd., 231ff.). 130 Die Untauglichkeit des Märtyrers fürs bürgerliche Drama belegt Gotthold Ephraim Lessings Hamburgische Dramaturgie (1767-1769) 1. Stück (in: Lessings Werke, Frankfurt/M. 1967, Bd. 1, S. 127f.; Ausschnitte aus Lessings Dramaturgie in U. Profitlich (Hg.): Tragödientheorie, Reinbek b. Hbg 1999, S. 63-73, lassen die Kriterien absehen). 100

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sich daran die Transzendenz offenbare«,131 theatrale Vorstellung, performance nicht nur dessen, was sie korporeal (re)präsentieren, sondern zugleich Ausstellung des »Repräsentationsmediums« als solchen, des Körpers,132 der die Opazität des Mediums bezeugt. Insofern »schließt« das Märtyrerdrama »die Ebene der Darstellung mit der Ebene des Dargestellten kurz [...]: [d]ie theatralische und performative Repräsentation des Märtyrers, der selbst wiederum die Passion Christi performativ repräsentiert«.133 Zugleich verhandeln diese Dramen mit der des Martyriums »stets auch ihre eigene Theatralität«, »die Möglichkeitsbedingungen der theatralischen Darstellung bzw. der Figurabilität des Unsichtbaren am Schnittpunkt zwischen Körper und Sprache«.134 Die Theatralität (der theatralen Darstellung) der martyriologischen Bezeugung aber ist als solche problematisch,135 sie stellt deren Zeugniskraft infrage. Gerade auch dadurch ist die theatrale Präsentation des Märtyrers, so C. Wild, »immer schon metatheatralisch«.136 Das Verhältnis von Dargestelltem, Repräsentation und theatraler Aufführung, die »Möglichkeits-

131 Märtyrer zeugen, in Nachfolge Christi, »mit ihrem Körper von der KorpoRealität des WORTES. In der imitatio […] leihen die Märtyrer ihren Leib, damit sich daran die Transzendenz offenbare« (C. Wild: »Fleischgewordener Sinn«, S. 134f.). In Bezug auf die Inkarnationslehre kann der Körper im Martyrium nur durch eine hochkomplexe Zeichengebung zwischen Aufführung und Korporealität bezeugen, was er bezeugt; »die korporeale Repräsentation der Fleischwerdung des WORTES im Martyrium [ist] wesentlich performativer Natur. […] Der Märtyrer repräsentiert nicht nur die Leiden seines Vorbildes Jesus Christus, sondern er präsentiert seinen Körper als dieses Repräsentationsmedium. Der insistenten Visualität seines gemarterten Körpers entspringt denn auch die Überzeugungskraft seiner performance« (ebd., S. 134f.). 132 Vgl. ebd., S. 137. 133 Ebd., S. 136. Die im jesuitischen und protestantischen Märtyrerdrama jeweilige konfessionelle Spezifik prägt Wild (in intertextuellen Bezügen) aus (vgl. ebd., S. 129; zu Gryphius’ Catharina von Georgien mit Luthers Konzept sakramentaler Repräsentation beim Abendmahl in der »paradoxale[n] Figur des Erscheinens im Entzug«, vgl. S. 143ff., 147); vgl. R. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 218-221, 199-221. 134 C. Wild: »Fleischgewordener Sinn«, S. 135f.; vgl. N. Kaminski: Andreas Gryphius, S. 95. 135 Wenn die vermeintliche Gewissheit der Transzendenz »ausgerechnet« auf dem Theater sich zeigen soll, vgl. ebd., 73, 95; zur Verhandlung des problematischen Theaters vgl. C. Wild: »Fleischgewordener Sinn«; ders., Theater der Keuschheit. Keuschheit des Theaters: Zu einer Geschichte der (Anti-)Theatralität von Gryphius bis Kleist. 136 Ebd., S. 136; zur Metatheatralität des Trauerspiels oder der modernen Tragödie, vgl. C. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 156, 184. 101

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bedingungen der theatralischen Darstellung« kommen zur Aufführung.

Souveräne Macht und »bloßes Leben« Benjamin bemerkte die barocke martyriologische Rücknahme der Tugend, wie des geschichtlichen Lebens überhaupt, in die bloße Physis. »Tugend«, der »alles historische Leben abging« (270), sei nie »uninteressanter erschienen als in den Helden dieser Trauerspiele, in denen nur der physische Schmerz des Martyriums dem Anruf der Geschichte erwidert« (270). Im Martyrium, das nicht nur Gelegenheit gibt, es stoisch auszuhalten, sondern das auch passionell gesucht wird und das zu korporealer Ausstellung gelangt,137 ›verkörper(lich)t‹ sich, R. Campe zufolge, »geradezu die Umkehrfigur ›Macht‹, die die Physis [...] rhetorisch umwendet zum Mittel des Politischen als seiner eigentlichen Sphäre, die sich gerade darin wieder als Körperlichkeit zeigt«.138 Benjamin rückt die Physis in die Perspektive der »Restauration der Ordnung im Ausnahmezustand«, die »Sache des Tyrannen« sei (253), indem er die zur »rechten Einschätzung der Märtyrertragödie« »ausschlaggebend[e]« Besonderheit bemerkt, die »die Frau als Opfer des Vollzugs in manche dieser Dramen […] einführt«, deren »Wahrzeichen« die »physische Askese«, genauer aber die »Behauptung der Keuschheit« sei (253).139 Das auf seine bloße Physis reduzierte Leben ist das Objekt sui generis oder der bestimmende Referent der souveränen Herrschaft und die ›eigentliche Sphäre‹ neuzeitlicher Politik. Dies ist die These G. Agambens: »the immediate referent of sovereign violence [is]« bare life,140 in der Schmitts Begriff der Souveränität von Benjamins Konzept des bloßen Lebens gequert wird. 137 Der epideiktisch realisierten martyriologischen Erotik (im Katalog: deutend zerlegend) (etwa) in Catharina von Georgien (5. Abh. vgl. 2. u. 3. Abh.), der der »petrarkistische Katalog«, die Venusikonographie unterlegt ist (F. Berndt: »›So hab’ ich sie gesehen‹«, S. 239ff., 242-246), entspricht die Epideixis des erotischen Körpers in seiner Zerstückung in Lohensteins Agrippina (3. Abh. V. 137ff., V. 241-255, S. 60-64); vgl. Friedrich A. Kittler: »Rhetorik der Macht und Macht der Rhetorik – Lohensteins ›Agrippina‹«, in: H.-G. Pott (Hg.), Johann Christian Günther, Paderborn u.a. 1988, S. 3952; R. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 205, 235-240. 138 R. Campe: »Theater der Institution«, S. 258f. 139 Dies fasst dgg. P.-A. Alt unter dem Opferkonzept Girards (Der Tod der Königin, S. 54-58, 125, 229ff.). 140 G. Agamben: Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, S. 112. 102

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Nuda vita, bare life, das »nackte Leben« wird ›hervorgebracht‹ durch den Ausschluss: aus den Ordnungen, aus Gesetz und Sprache, und, indem es ausgeschlossen wird, zugleich drohend erfasst.141 Die souveräne Gewalt selbst ist bestimmt durch diesen Bezug. Agambens nuda vita, bare life ›übersetzt‹ Benjamins Begriff des »bloßen Leben«.142 Nuda vita ist, Agamben zufolge, negativ bestimmt durch die Aussetzung der politischen Lebensform (nach Aristoteles), durch den doppelten Ausschluss sowohl aus der rechtlichen wie der sakralen Ordnung erzeugt,143 wie, Benjamin zufolge (im vielfach ins Trauerspielbuch zitierten »Schicksal und Charakter«), nicht der »Mensch«, sondern »das bloße Leben in ihm, [...] an natürlicher Schuld und dem Unglück Anteil kraft des Scheins hat« und dem »Schicksal« als dem »Schuldzusammenhang des Lebendigen«, den noch die Sühne perpetuiert, untersteht.144 An das »bloße Leben« erinnert das Trauerspielbuch, wo es den ›spanischen‹ Aspekt der »Ehre« berücksichtigt, um die »abstrakte Unverletzlichkeit« der Ehre kenntlich zu machen, da diese »doch nur« die »Unbescholtenheit von Fleisch und Blut« meine.145 [Diese sei] »im Zusammenhange des kreatürlichen Lebens, anders als in dem der Religion, an und für sich nichts und nur der Schild, der die verwundbare Physis des Menschen zu decken bestimmt ist. Der Ehrlose ist vogelfrei: die Schmach entdeckt, indem sie zur Abstrafung des Geschmähten herausfordert, ihren Ursprung in […] [der] kreatürliche[n] Blöße«. (265f.)146

141 G. Agambens: Homo Sacer, S. 19. 142 Vgl. in »Zur Kritik der Gewalt«, II, 201f., 199ff.; zu dessen Bedeutung für Agambens Homo sacer, vgl. E. Geulen: Giorgio Agamben, S. 123-127, und zwar gerade für dessen Drehung gegenüber Carl Schmitt (ebd., S. 126f.; vgl. G. Agamben: Ausnahmezustand, S. 64ff.). 143 Das macht den homo sacer (aus), vgl. G. Agamben: Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, S. 45; Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, S. 57. Während die Bücher Agambens lange nicht ins Deutsche übersetzt waren, wurde in den letzten Jahren in den Kulturwissenschaften die Rede vom homo sacer so ominös wie notorisch. 144 »Schicksal und Charakter«, II, 175 (Hvhg. BM). 145 Dem entspricht das Besondere des barocken Märtyrerdramas mit der »Behauptung der [versteht sich: weiblichen] Keuschheit« (I, 253). 146 Vgl zum Vogelfreien als homo sacer: ausgeschlossen aus der Norm, in deren Bann stehend, G. Agamben: Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, S. 112; ders.: Homo sacer, S. 93. 103

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Diese scheinbar marginale Überlegung des Trauerspielbuchs liest der Ehre ihren strengen Bezug aufs »kreatürliche Leben« in seiner »Blöße« ab und kennzeichnet – insofern ist der Ehrbegriff wie dessen »Schild« so auch dessen negatives Zeichen – den »Stand des kreatürlichen Menschen« (268), auf den Tyrannen- und Märtyrerdrama sich beziehen, den sie als ihre Voraussetzung behaupten und herstellen, um ihn zu beherrschen.147 »Wenn die Ausnahme die Struktur der Souveränität ist«, dann handelt es sich um »die originäre Struktur, in der sich das Gesetz auf das Leben [als das ›bloße Leben‹ in seiner ›kreatürlichen Blöße‹] bezieht und es durch die eigene Aufhebung in sich einschließt«:148 »The originary relation of law to life is not application but abandonment«, »it holds life in its ban by abandoning it«.149 Für die Ausnahme, die die souveräne Entscheidung, die über diese entscheidet, ist, hat die Norm oder das Recht sich-selbst-suspendierend eine (dadurch, im Ausschluss hervorgebrachte) Exteriorität geräumt, um diese zugleich in ihrem Bann zu halten und sich selbst dadurch zu etablieren (und aufrechtzuerhalten).150 Die Aussetzung des Rechts hält das dadurch Ausgeschlossene im Bann, in der Drohung der Gewalt.151 Die souveräne Macht, die sich in der kontingenten Entscheidung über die Ausnahme, d.i. über die Grenze zwischen 147 Der »Ehrbegriff« be»fähig[e]«, das macht ihn zur »spanischen« differierenden Analogie zum Märtyrerdrama, das »spanische Drama«, »die kreatürliche Blöße der Person wie nirgends sonst [zu] einer überlegenen, ja versöhnenden Darstellung« zu bringen (I, 266), weil es einen »Kosmos des Profanen« entdeckte (I, 266; vgl. I, 272; »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 269). 148 G. Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, S. 39, vgl. S. 120. Das hat zwei Seiten: der Körper des Herrschers und der des Vogelfreien (vgl. ebd. S. 101-113; ders.: Ausnahmezustand, S. 7-11, 36-41). 149 G. Agamben: Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, S. 29. 150 Es gehe »um eine Suspendierung der gültigen Ordnung, damit ihr Bestehen gesichert wird. […] [Es] erweist sich der Ausnahmezustand [...] als die Eröffnung einer Scheinlücke in der Ordnung mit dem Ziel, die Existenz einer Norm und ihre Anwendbarkeit in Normalsituationen zu retten […] als enthielte das Recht einen wesensmäßigen Bruch, der zwischen Norm und Anwendung verläuft und der im Extremfall nur per Ausnahmezustand gekittet werden kann, also durch die Schaffung einer Zone, in der die Anwendung des Rechts suspendiert wird, aber das Gesetz als solches in Kraft bleibt.« (G. Agamben: Ausnahmezustand, S. 41; vgl. S. 8). 151 Als Drohende ist die Rechtsgewalt als rechtserhaltende, die zugleich selbst Rechtszwecke setzt, mit Benjamins Begriff »mythische Gewalt«; mythisch ist die Tautologie der Einlösung von rechtsetzender in rechtserhaltender Gewalt (»Kritik der Gewalt«, II, 199f.); das entwickelt Benjamin gerade am modernen Staat und an dessen ›Instituten‹ (II, 189). 104

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Norm und Ausnahme, (ein-)setzt, ist damit bezogen auf die (vom Gesetz [ein-]geräumte) Zone der Anomie, als auf den Ausnahmezustand, den das Trauerspiel als den Normalfall vorstellt.152 Es handelt sich um die Zone der Ununterschiedenheit von Norm und Ausnahme, von Gesetz und (dessen) Aussetzung, von Recht und Natur, Recht und (dessen) Ausübung; sie wird durch die ›Ausnahme‹ geräumt und wird von dieser (schon) vorausgesetzt,153 »a zone of indistinction between law and nature, outside and inside, violence and law«, an der Stelle, wo die voraussetzungslose Entscheidung Carl Schmitts eine Grenze setzen muss, die Zone, in der die souveräne Macht als Entscheidung interveniert (und sich dadurch als solche sowohl behauptet wie erst konstituiert): »And yet the sovereign is precisely the one who maintains the possibility of deciding on the two to the very degree that he renders them indistinguishable from each other«.154 Derart ist das durch die ›Aussetzung‹ des Gesetzes negativ bestimmte »nackte Leben«, das in den »Bann« genommen wird und das das Gesetz dadurch, »durch die eigene Aufhebung in sich einschließt«, das ›Fundament‹ und die Sphäre der neuzeitlichen Politik.155 Das entfaltet das barocke Trauerspiel in deren Doppelgesicht von Tyrann und Märtyrer.

Die Dramaturgie der Intrige »Als dritte[n] Typus« des Trauerspiels sieht Benjamin »neben den Despoten und den Märtyrer« den Intriganten treten (274).156 Er muss im deutschen Trauerspiel vorstellen, was Benjamin unter der Seitenüberschrift »Geschichte als Gehalt des Trauerspiels« unter deren Aspekten als »die Einsicht in den diplomatischen Betrieb und 152 Vgl. G. Agamben: Ausnahmezustand, S. 66-69, S. 10f.; mit Bezug auf Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, ebd., S. 69f.. Der Ausnahmezustand bezeichnet die Verwandtschaft von Recht und Gewalt. 153 G. Agamben: Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, S. 112. Diese Zone der Ununterschiedenheit von Norm und Ausnahme stellt der homo sacer dar und sie wird instituiert durch den Souverän. 154 G. Agamben: Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, S. 64. 155 Vgl. G. Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, S. 93; E. Geulen: Giorgio Agamben, S. 91. Agambens These, die an Foucault anschließt und ihn erweiternd korrigieren will: »›Souveränitätspolitik war immer schon Biopolitik‹« (ebd., S. 132; vgl. G. Agamben, Homo Sacer, S. 197), hat mit Benjamins Auffassung des Barock einen genauen historischen Ort. 156 Vgl. den Intriganten im Verzeichnis der »mehrfachen Durchführung bedeutender Themen« (I, 917f.). 105

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die Handhabung aller politischen Machinationen« anführt (243). Benjamin zufolge komme das barocke Trauerspiel nur bis »zu der peinlichen Verfolgung des politischen Kalküls in der Intrige. Das Drama des Barock kennt die historische Aktivität nicht anders denn als verworfene Betriebsamkeit von Ränkeschmieden« (267) und umgekehrt das »Ideal, das Machiavelli zum ersten mal gezeichnet hat«, das Konzept des politischen Akteurs, als »Schablone« bloß des Intriganten (274).157 Wenn an zeitgenössischen Staatslehren wie Trauerspielen, Benjamins Ansicht ergänzend und korrigierend, »weiterführende[] Ausprägungen von ›Macht‹« zu beobachten sind,158 so sind diese »weiterführend« in dem genauen Sinne, dass sie dem Problem beizukommen suchen, wie Herrschaft auf Dauer zu stellen, die Kontinuität von Macht zu sichern, Macht zu instituieren ist oder Institutionen anzuschließen sind. Darin, dass der absolute Herrscher auf Beratung und Verwaltung angewiesen ist, zeigt die souveräne Herrschaft sich paradoxal bestimmt, denn die vermeintlich souveräne Entscheidung, die absolute Herrschaft begründe, ist durch diese je schon relativiert und je schon eingeholt.159 Ist »[d]ie Machtkonzentration des absolutistischen Staates in der Person des Monarchen […] das Moment seiner größten Gefährdung«, in dem die Möglichkeit infrage steht, Herrschaft auf Dauer zu stellen, so ist der Herrscher daher (entgegen der vorgetragenen Begründungen souveräner Macht) auf die »Hand157 Die ungenügende deutsche Ausprägung des Intriganten misst Benjamin an Graciáns Konzept des »idealen Hofmann[s]« im »schrankenlose[n] Kompromiß mit der Welt« (I, 276f.), wie an der Entwicklung der Intrige in Calderóns Schauspielen (vgl. I, 409); für die Bezugspunkte Machiavelli und Gracián für die barocke Theorie des Politischen vgl.: A. Schäfer: »Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel«, S. 388-391; L. Marin: »Pour une théorie baroque de l’action politique«, Paris 1992. 158 Vgl. R. Campe: »Theater der Institution«, S. 260. R. Campe nennt die prudentia im Sinne der Durchsetzung von Zielen und die Institution als Relation von Macht und Recht (»Theater der Institution«, S. 260-264, 268f.), A. Schäfer nennt Neostoizismus, Prudentismus und Vertragslehren (»Der Souverän, die clementia und die Aporien der Politik«, S. 102ff.) und gewichtet um durch die clementia, die die Tyrannis in Perspektive der Dauer absoluter Territorialherrschaft ergänzen musste (ebd., S. 101-108), R. Meyer-Kalkus nennt den Prudentismus und unterstreicht die agudezza des Affektenregimes (Wollust und Grausamkeit, S. 13, 30ff., 38-80, 178). 159 Vgl. (anlässlich Hobbes’) E. Matala de Mazza: Der verfaßte Körper, S. 90; A. Schäfer: »Der Souverän, die clementia und die Aporien der Politik«, S. 101. Auch Benjamin zufolge stehe »die Einsicht in den diplomatischen Betrieb und die Handhabung aller politischen Machinationen« der theokratischen Begründung des Fürsten auf den barocken Bühnen entgegen (I, 243). 106

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langer und Ratgeber, […] Schergen, Spitzel und Folterer, […] Steuereintreiber [angewiesen], die die stetige Reproduktion eines dauerhaften sozialen Gebildes erst ermöglichen.«160 Sie bezeichnen die Medialität von Entscheidung und Befehl, und als Medium souveräner Machtausübung (an der Stelle von deren Paradoxie) deren (a priori mögliche) diese begleitende Störung.161 In »Nachträgen« zum Trauerspielbuch notierte Benjamin für die Figur des Intriganten Verweise auf den »Geist der Polizei« und »der Exekutive«162 sowie die »Bürokratie«, die in den Blick kommen müsse.163 Damit tritt diese Figur in jenen Zusammenhang ein, den Benjamin in »Zur Kritik der Gewalt« als den ›Umlauf‹ der systematisch getrennten Gewalten, der grundlosen Rechtsetzung (die zugleich Rechtsaussetzung ist, die allenfalls nachträglich Macht-begründende souveräne Einsetzung geworden sein wird) und der rechtserhaltenden Gewalt, analysierte. Denn die heimliche zirkuläre Angewiesenheit der voneinander geschiedenen Gewalten aufeinander wird, so Benjamin, in spezifischer Weise durch das ›schmachvolle‹ Institut der modernen Polizei als beider »gleichsam gespenstische[] Vermischung« belegt.164 Zum einen sind die polizeilichen Akte ›rechtserhaltender Gewalt‹ untrennbar mit der Setzung von Rechts-Zwecken verbunden, zum anderen aber braucht diese jeweilige Setzung sich nicht in der siegreichen Einsetzung der Rechtsordnung auszuweisen, die sie nachträglich: tautologisch als Macht begründet haben müßte; daher heißt die Polizei »gespenstisch« als »gestaltlose« »nirgends faßbare, allverbreitete« »Erscheinung im

160 A. Schäfer: »Der Souverän, die clementia und die Aporien der Politik«, S. 110-113; zum korrespondierenden Problem der dauerhaften Aneignung eines fremden Reiches, vgl. ders.: »Die Wohltat der Politik«, S. 80, 99; ders.: »Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel«, S. 391f.. 161 Das wäre der systematische Sinn der genuinen Verbindung von Intrige und Störung, die nicht erst historisch im 18. Jahrhundert sich entwickelt (so aber Peter-André Alt: »Dramaturgie des Störfalls. Zur Typologie im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts«, in: IASL 29 (2004/1), S. 1-28). 162 Nachträge, I, 954. 163 Rez. »H. Heckel: Geschichte der deutschen Literatur in Schlesien«, III, 193. 164 »Zur Kritik der Gewalt«, II, 189: »Das Schmachvolle einer solchen Behörde […] liegt darin, daß in ihr die Trennung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt aufgehoben ist. Wird von der ersten verlangt, daß sie im Siege sich ausweise, so unterliegt die zweite der Einschränkung, daß sie nicht neue Zwecke sich setze. Von beiden Bedingungen ist die Polizeigewalt emanzipiert. Diese ist zwar eine Gewalt zu Rechtszwecken (mit Verfügungsrecht), aber mit der gleichzeitigen Befugnis, diese in weiten Grenzen selbst zu setzen (mit Verordnungsrecht).« 107

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Leben der zivilisierten Staaten«.165 »Zur Kritik der Gewalt« gibt noch andere Hinweise für den Intriganten, insofern Benjamin als die gesuchten gewaltlosen reinen Mittel die ›Techniken der Übereinkunft‹ ausmacht, als deren eine, traditionell eingeführte er die Diplomatie166 und als Indiz der Möglichkeit dieser Techniken die »Straflosigkeit der Lüge« anführt.167 Entsprechend ist zum einen bei des Intriganten »Handhabung« der Machinationen (243) Könnerschaft hinsichtlich Kalkül und Witz, wie sie Shakespeares Intriganten vorstellen,168 im Spiel, wobei keineswegs ausgemacht ist, dass der Intrigant der »Herr« dieses Spiels bleibt (383). Zum anderen betritt mit der Lüge in der Form von Schlichen und Tricks der alles andere als heroische Lügner als ›Ränkeschmied‹ und Betrüger, der tragende Charakter der Komödie169 die Bühne des Trauerspiels (304). Der Intrigant, der ›Ränkeschmied‹ (267) und Machinator im Geschehen des Trauerspiels, ist der »Veranstalter seiner Verwicklung« (274), der »plotter« der dramatischen Handlung170 und ein »Ballettmeister« (274) der »Choreographien des Ränkespiels« (304). Die Intrige stellt die »Urszene der barocken Dramatik«;171 sie 165 »Zur Kritik der Gewalt«, II, 189; in genauer Unterscheidung von »der nach Ort und Zeit fixierten ›Entscheidung‹« des Rechts« »trifft die Betrachtung des Polizeiinstituts auf nichts Wesenhaftes« (II, 189). 166 »Zur Kritik der Gewalt«, II, 191 u. 193; zum anderen Einsatz in Hinsicht der »Techniken der Übereinkunft«, vgl. Techniken der Übereinkunft. Zur Medialität des Politischen, hg. von H. Blumentrath/K. Rothe/S. Werkmeister u.a., Berlin 2008, darin Bettine Menke: »Zur Kritik der Gewalt: Techniken der Übereinkunft, Diplomatie, Lüge«, S. 37-56. 167 »Zur Kritik der Gewalt«, II, 192. 168 So Iago in »Othello« (1603) (The Arden Shakespeare. Complete Works, Walton-on-Thames, Surrey 1998, S. 939-975, hier 2.3, V. 360, S. 955), so Gloucester, der sich als Redner, in Überbietung des betrügerischen Ulysses und Machiavel ausweist, in »King Henry VI«: Part III (1590) (The Arden Shakespeare, S. 531-565, hier 2.1, S. 540, V. 98f.), in »Richard III« (1593) (The Arden Shakespeare, S. 699-739, hier vor allem 1.1); vgl. I, 402; Peter von Matt: Die Intrige: Theorie und Praxis der Hinterlist, München 2006, S. 125-192). 169 Zum Stellenwert der (niederen) Komik für Benjamins Konzept der Lüge (deren Heroismus wäre dem Mythischen, dem Schicksal verhaftet), vgl. Peter Fenves: »Testing Right – Lying in View of Justice«, in: Cardozo Law Review 13/4 (1991), S. 1081-1113, hier S. 1112. 170 Vgl. S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 477, 497f.; ders.: Theatricality as Medium, S. 178f.; auch A.W. Schlegels Rede von der Intrigue als »sinnreiche Verwickelung« lässt deren Bedeutung (plot wie) Fabel mitlesen (»Über das spanische Theater«, S. VIII, XX). 171 A. Schäfer: »Der Souverän, die clementia und die Aporien der Politik«, S. 110-113. Sie ist selbst eine theatrale Inszenierung, etwa in Lope de Vegas El 108

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hat metadramatische Funktion im Trauerspiel als eine mise en abyme der Inszenierung seines Geschehens. Darf die Intrige Benjamin zufolge das »kompositorische Element« heißen, »das dem Drama die ästhetische Totalität garantiert« (255), so kennzeichnet dies zugleich die Art der hier zugeschriebenen ›Totalität‹: die »Ökonomie« dieser Szenen werde durch die »wie ein Dekorationswechsel auf offener Bühne« vorgestellte barocke Intrige172 »so aufdringlich […] betont« (254).173 Mit dieser ihrer Aufdringlichkeit ist es offenkundig auf die Illusion dramatischer Immanenz und Abgeschlossenheit gar nicht angelegt, an der das 18. Jahrhundert das Barockdrama messen wird, um es zu verwerfen.174 Die Abwehr, die im 18. Jahrhundert der Äußerlichkeit von Motivation und plot der Intrige gilt, verwirft mit der Intrige am Trauerspiel die Exposition des theatralen Dispositivs des Dramatischen, der das Trauerspiel »in grelles Licht gestellte Sonderszene[n]« zwischen dem plotter und seinen Gegenspielern widmete (254) (etwa in King Richard III). Der Intrigant ist, zumal in seinen ›komischen‹ oder spaßhaften (304), lächerlichen, narrhaften und grässlichen Ausprägungen, wie sie in den ›verkleinerten‹ und in den spielerisch-exzentrischen Wiederholungen, den Possen der Haupt- und Staatsaktionen wie (und als) Marionettentheater sich zeigen (303f.), die metadramatische Figur auf der Trauerspielbühne, durch die, so S. Weber, »the ›plot‹ reveals itself to be

castigo sin Venganza, vgl. B. Teuber: »Die frühneuzeitliche Tragödie als Opfer auf dem Theater?«, S. 90; P.-A. Alt: »Dramaturgie der Intrige«, S. 1f., 7, 27. 172 Die Verwandlungen »auf offener Bühne« vermerkt Richard Alewyn in »Der Geist des Barocktheaters«, das gehört zu den Modi, sich zur Grenze zwischen ›Schein und Wirklichkeit‹ auf der Bühne zu verhalten (in: W. Muschg/E. Staiger (Hg.), Weltliteratur. Festschrift für Fritz Strich, Bern 1952, S. 15-38, hier S. 26, 35f.). 173 Die Intrige schlägt »im Ablauf des politischen Geschehens [...] den Sekundentakt, der es bannt und fixiert« (I, 275). Die barocken Szenen sind gekennzeichnet »precisely by their resistance to being emplotted, or rather ›transfigured‹, in an totalizing tale« (S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 498). 174 Vgl. I, 254f.; Lessing, den Benjamin hier nennt, verwarf im Namen des (bürgerlichen) Dramas die »Intrige« anhand von Corneilles Rodogune (»Hamburger Dramaturgie«, 31. Stück, vgl. 29.-32. Stück); zur langanhaltenden deutschen Auseinandersetzung um die Intrige als Intrige gegen Corneille, vgl. P. von Matt: Die Intrige, S. 349-387. F. Nietzsche ist die Intrige als »jene schachspielartige Gattung des Schauspiels« Inbegriff des Verfalls der Tragödie – in die Komödie (»Die Geburt der Tragödie«, S. 76ff.; KSA 1, S. 546). 109

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part of the scenario rather than its informing frame«.175 Die »Ökonomie des Dramas« (277) selbst kommt durch die Intrige, mise en abyme der Dramaturgie, als des Dramas theatrale Gerahmtheit zur Darstellung. Das intrigante Kalkül gilt den »menschlichen Affekten«, die sich dem Intriganten, selbst »überlegen […] ganz Verstand und Wille« (277), »als berechenbares Triebwerk der Kreatur« darstellen (274),176 und zwar zumal am König, der wie dem Spiel seiner Affekte dem Spiel mit ihnen preisgegeben ist, das der Intrigant als »plotter« treibt. »Seine verworfnen Berechnungen erfüllen den Betrachter der Haupt- und Staatsaktionen mit um so größerem Interesse, als er in ihnen nicht allein die Beherrschung des politischen Getriebes, sondern ein anthropologisches, selbst physiologisches Wissen erkennt, das ihn passionierte.« (274)

Dieses »Wissen«, einerseits durchaus »Inventar der Kenntnisse, welche die weltgeschichtliche Dynamik in staatspolitische Aktion umzuprägen hatten« (274),177 kann andererseits kein positives sein oder kann es nicht bleiben, weil es als die Einsicht, die sich als Kalkül von Simulationen und Dissimulationen vollzieht, selbst an diesen teilhat, sich selbst dissimuliert.178 Denn »[n]ach Seneca be175 S. Weber: Theatricality as Medium, S. 178f.; das zeigt die Spannung »between plot as story and plot as stage: between the demands of theater as the presentation of ›plot‹, and the spatial-temporal medium of that presentation. In order for the plot to be presented theatrically, it must take place on stage. But everything that takes place on stage relates, constitutively, to what has taken and will take place off-stage« (ders.: »The Incontinent Plot«, S. 236, vgl. S. 251). 176 Umgekehrt »weist« »Geist« dem Barock »sich aus in Macht; Geist ist das Vermögen Diktatur auszuüben. Dieses Vermögen erfordert ebenso strenge Disziplin im Innern wie skrupelloseste Aktion nach außen.« (I, 276). 177 Vgl. R. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 74ff.; P.A. Alt: »Dramaturgie des Störfalls«, S. 2, 18. Machiavellis Kalküle (»Wie die Fürsten ihr Wort halten sollen«, »Ob die Fürsten ihren eingegangenen Verpflichtungen treu bleiben sollen«) sind untrennbar von der Frage nach der »Eigentümlichkeit des Menschen«, und zwar, so J. Derrida, gerade weil nur ein Fuchs sich auf diese Weise verwandeln kann (»Machtmensch und Machttier. Anmerkungen zu Machiavellis Der Fürst«, in: Le Monde diplomatique, deutsche Ausg. 12. Sept. 2008, S. 23; vgl. L. Marin, Das Portrait des Königs, S. 157-174). 178 Gracián zufolge, dessen »idealen Hofmann« Benjamin mit Bezug auf Lohensteins Übersetzung beruft (I, 276f.; vgl. Karl Borinski: Baltasar Gracián und die Hofliteratur in Deutschland, Halle/Salle 1894, Knut Forssmann: Baltasar Gracian und die deutsche Literatur zwischen Barock und Aufklä110

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herrscht derjenige die Affekte, der in der Lage ist, sie zu simulieren«.179 So ist noch »[i]m Moment scheinbar heftigster Affektivität« die Rede der Agrippina Lohensteins »nirgends Ausdruck, sondern immer nur Kalkül«.180 Die Klugheitslehren durchzieht »[e]ntlang der Machttechnik von Simulation und Dissimulation« die Spur der Theatralität,181 in der die Plätze von Akteur und Beobachter und von Zuschauer und Schauspieler unentscheidbar ineinanderfallen. Das Kalkül der Affekte ist der »unentscheidbaren Konstellation« von wechselseitigen ›Lektüren‹ und unentscheidbar gedoppelten Simulationen und Dissimulationen verhaftet.182 Die die Kalküle herausfordernde Unentscheidbarkeit begegnet nicht nur am Tyrannen, sondern gerade auch am gerechten Herrscher; denn die clementia des Herrschers, das Gegenstück zur tyrannischen Entschließung, die sich als Tat bezeugt, ist ebenso systematisch unberechenbar wie diese und bleibt »immer schon dem Verdacht ausgesetzt, nur vorgetäuscht zu sein«.183 Das ›Wissen‹ des Intriganten kann sich als Kalrung, Diss. Mainz 1977; T. Borgstedt: »Scharfsinnige Figuration«, S. 215234), entspricht die ›Förmlichkeit‹ der ›Höflichkeit‹ der Unentscheidbarkeit: »el carácter formal de la cortesía consiste en que representa la emulación o el conflicto de intereses como indecidible: como imposibilidad de prever cuál de los dos rivales saldrá ganando en cualquier momento de la lucha; pues la prudencia del cortesano es una estrategia encaminada a equiparar la lucha de intereses a un juego de azar donde ninguna intervención es acumulativa« (José Muñoz Millanes: »La presencia de Baltasar Gracián en Walter Benjamin«, in: Ciberletras 1 (1999), S. 287-297, hier S. 296). Das GlücksSpiel der Würfel taugt zur Anweisung der Klugheit, insofern es kein Wissen über den nächsten Zug sichert. Den Höfling zeichnet die Tugenden der prudencia mundana aus: »[que] adquieren el valor ocasional e indecible de la falsa apariencia que induce a error acerca des las verdaderas intenciones del cortesano« (ebd.; zum Zusammenhang von Kalkül und Kontingenz vgl. A. Schäfer: »Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel«, S. 392f.). 179 Vgl. A. Schäfer: »Der Souverän, die clementia und die Aporien der Politik«, S. 113 u. 109-113. 180 Ebd., S. 113, vgl. S. 109; vgl. ders.: »Die Wohltat in der Politik«, S. 90; vgl. R. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 65-69, 109ff. 146ff., 153163; F. A. Kittler: »Rhetorik der Macht und Macht der Rhetorik«, S. 40-44. 181 A. Schäfer: »Der Souverän, die clementia und die Aporien der Politik«, S. 113. 182 Vgl. Ebd., S. 113; ders.: »Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel«, S. 412, 423; zum paradoxalen Zusammenhang von Demaskierung, die sich nur innerhalb des ›Spiels‹ vollziehen kann, und »Potenzierung des Scheins«, vgl. R. Alewyn: »Der Geist des Barocktheaters«, S. 34, 33-36; ders.: Das große Welttheater, S. 84. 183 A. Schäfer: »Der Souverän, die clementia und die Aporien der Politik«, S. 115. 111

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kül der Simulationen und Dissimulationen nur – diese und deren Unentscheidbarkeit doppelnd steigernd – unentscheidbar in Dissimulationen von Dissimulationen verstricken. Um diesen von ihr nicht nur beobachteten, sondern selbst wiederum gedoppelten Bedingungen des Agierens, um dessen Theatralität zu entsprechen, müsste die Intrige zu jener kunstvollen Entwicklung gelangen, die Benjamin in den Schauspielen Calderóns erkennt,184 die diesen die Reflexion auch des Spiels ermöglichte, das das Trauerspiel ist. Die »Einsicht« des Intriganten trifft derart im Kalkül, dem Kontingenz unterworfen wird, stets wieder auf Kontingenz,185 die der Dissimulationen, die unter der Figur der Fortuna und als Spiel des Glücks (mit dem Menschen) begegnen mag.186 Die »illusionslose Einsicht des Höflings«, die im barocken Trauerspiel »[g]anz auf den düsteren Ton der Intrige gestimmt« war (275f.), »weckte [...] die Trauer«.187 Sie trägt, so errechnet sie auch sei,188 mit ihrer Vergeblichkeit satanische Züge. Der Hof, der Schauplatz der Intrige, wird derart »die unvergleichliche Szenerie des Trauerspiels« (275), als der Schau-Platz der Zeichen, der Zeremonielle, Beobachtungen und Verstellungen, der Ort der Traurigkeit – wie die (kalte) Hölle (Dantes).189 Das Verhältnis zur eigenen »illusionslosen Einsicht«,190 zu-

184 Im spanischen Theater zeige sich »in der Erfindung unzähliger solcher Intriguen […] ein bewundernswürdiger Scharfsinn« (A. W. Schlegel »Über das spanische Theater«, S. VIII), darüber hinaus eigne Calderóns Schauspielen, »gewagten, aber edlen Spiele der Liebe, der Ehre, der Eifersucht und der Intrigue«, »immer noch etwas anderes, als die sinnreiche Verwickelung, irgend ein Zauber der Phantasie« (ebd., S. XX); vgl. I, 260-63, 409. 185 Vgl. A. Schäfer: »Versuch über Souveränität und Moral im barocken Trauerspiel«, S. 392ff.. Gracián präpariert die Kontingenz mit der Metapher des Glücks- oder Zufalls-Spiels der Würfel, der die »prudencia del cortesano« entspricht, indem sie damit rechnet, dass sie kein Wissen über den nächsten Zug hat (vgl. J. Muñoz Millanes: »La presencia de Baltasar Gracián en Walter Benjamin«, S. 296). 186 So »ist der Mensch ein Spiel der Zeit. Das Glück spielt mit ihm, und er mit allen Sachen.« (Lohenstein in der Vorrede zur Sophonisbe, zit. W. Vosskamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert, S. 209, vgl. S. 202-210). 187 Die »errechnete Vollkommenheit weltmännischen Verhaltens weckte in der allen naiven Regungen entkleideten Kreatur die Trauer« (I, 276). 188 »Unter solchem Spiel [vor Traurigen] braucht nicht ein zufälliges, es darf ebenso wohl ein berechnendes und planmäßiges und somit eins von Puppen gedacht werden, die Ehrgeiz und Begierde an ihrem Faden halten.« (I, 262) 189 Vgl. I, 274; zum Hof als/ wie die Hölle vgl., I, 305, 322, 407; U. Steiner: »Traurige Spiele – Spiel vor Traurigen«, S. 38f.. Geist weist »sich aus in Macht [...]. Seine Praxis [die dieses Vermögens] führte über den Weltlauf 112

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mal die im barocken Trauerspiel krude Vergeblichkeit der Intrige wie aller teuflischen Aktivitäten, bestimmt den Intriganten zum ›Trübsinn‹. Um den Voraussetzungen seines Agierens zu genügen, müsste der Intrigant aber zum »Räsoneur« werden, wie Benjamin zufolge in Shakespeares Schauspielen die »komische Figur« »Räsoneur« ist; »sie wird sich selbst in ihrer Reflexion zur Marionette.« (306).191 »›Meineid und Verrätherey … Betrüge und Practiken‹ [und damit Züge der Komödie, sind] in den Stoffbereich der Trauerspiele [hineingezogen]. Mit voller Freiheit aber ergeht sich die Figur des ränkeschmiedenden Beraters […] in jenen volkstümlichern Stücken. Dort ist er als komische Figur zu Hause.« (304)

Auf diese »komische Figur« Shakespeares, der »das alte Schema des dämonischen Narren Figuren wie dem Jago und Polonius unterlegt« (306), tue das deutsche barocke Trauerspiel Verzicht, damit auf jene Ausprägung, die ermöglichte, dass »mit dem Intriganten« »›die Komik ins Trauerspiel‹ ein[zieht]« (304). 192 Zusammengehalten werden die beiden Aspekte des Intriganten in der Attribution einer »höllische[n] Spaßhaftigkeit«, die der Vergeblichkeit seiner Einsichten entspricht (401). In der »Lustigkeit des Ratgebers« und »ministralen Intriganten«, die, wie Benjamin den Shakespeareschen Figuren abmerkt, dem »grauenhafte[n] Spaß« benachbart ist, und der »Trauer des Fürsten« als des melancholischen Betrachters (321f.) stellten »die beiden Provinzen des Satansreich[es]« (306) sich dar. Deren ›exzentrischen Umschlag‹ ineinander prägt das Trauerspielbuch aus. Beide, Souverän und Intrigant, werden als Melancholische gekennzeichnet, wie in beiden umgekehrt die antithetischen Züge der Melancholie als so entgegengesetzte eine Ernüchterung mit sich, deren Kälte nur mit der hitzigen Sucht des Machtwillens an Intensität sich vergleichen lässt.« (I, 276). 190 Sie ist »ihm selbst ebenso tiefe Quelle der Trübsal als sie durch den Gebrauch, den er von ihr jederzeit zu machen imstande ist, für andere gefährlich werden kann« (I, 275f.). »In diesem Zeichen nimmt das Bild dieser Figur seine düstersten Züge an« (I, 275); er ist der böse Geist des Despoten, (I, 277). 191 Das ist die Anwendung seines Spiels, das als »ein berechnendes und planmäßiges und somit eins von Puppen gedacht werden [kann], die Ehrgeiz und Begierde an ihrem Faden halten« (I, 262), auf sich selbst. 192 Mit »Figuren wie dem Jago und Polonius«, denen »das alte Schema des dämonischen Narren unterlegt« ist, »wandert das Lustspiel ins Trauerspiel ein.« (I, 306). 113

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wie, in der satanischen Doppelansicht von »irdische[r] Traurigkeit« und »höllische[r] Lustigkeit« (401) aneinander gebundene, sich darstellen. Die »Gesinnungslosigkeit«, die des Intriganten Handeln »zur Schau« trage, »zum Teil bewußte Geste des Machiavellismus«, ist zu deren »anderen aber trostloser und schwermütiger Anheimfall an eine für undurchdringlich erachtete Ordnung unheilvoller Konstellationen […], welche einen geradezu dinglichen Charakter annimmt« (333). »Krone, Purpur, Szepter sind ja im letzten Grunde doch Requisiten im Sinne des Schicksalsdramas, und sie haben ein Fatum an sich, dem der Höfling als sein Augur am ersten sich unterwirft.« (333)

Die ›Treulosigkeit‹ des Intriganten erweist sich so als »Treue zu den Dingen«, den Requisiten der Macht, und diese »Treue« kennzeichnet den Intriganten selbst als Melancholischen. Seine »Treue zu den Dingen«, Ausdruck der »illusionslosen Einsicht« des Intriganten und Modus der ›Trauer‹, die diese weckt, entspricht der »Macht«, der sie anheimfällt: die »über das Menschenleben, ist es einmal in den Verband des bloßen kreatürlichen gesunken, […] das der scheinbar toten Dinge« (311) gewinnt. Das »fatale Requisit« (311), in dem das »Schicksal« über den Schauplatz herrscht, taugt jedoch gerade auch fürs Komische, mindestens dessen »Episoden« (304). So zeigen sich in Calderóns El mayor mónstruo, los celos (Das größte Scheusal Eifersucht), dem Benjamins erste Überlegungen zum barocken Trauerspiel galten, die Requisiten Dolch und (gedoppelte) Porträtgemälde als solche des Schicksals gerade da, wo das Gemälde per Zufall193 vom (durch das dafür geeignete komische Personal) flüchtig eingeschlagenen Nagel fällt und insofern sich als Ding merklich macht. Und wie es derart zum einen eine »komischen Episode« hervorbringt, bringt es – eben in diesem Moment – zum anderen dadurch, dass es wie ein Schild den Dolch zu-fällig von dem mit dem Dolchstich eigentlich gemeinten Rivalen ablenkt, dagegen ins Porträt der von beiden Agierenden geliebten Frau treffen lässt, das Schicksal, das droht, zur theatralen

193 A.W. Schlegel wendete gegen die »Einteilung in Charakter- und Intrigenkomödie« ein: »Beides muß immer vereinigt sein. Sonst fehlt es an Gehalt oder an Bewegung. […] Die List der einen wird Zufall für die anderen« (Kritische Schriften und Briefe, Bd. III, S. 321). 114

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Evidenz.194 Dass ein Zufall des Zu-Falls des von der Wand herabfallenden Messers in Z. Werners Der vierundzwanzigste Februar die Fatalität auslöst (die das Mordmesser gleichsam regiert), macht sie (auch) komisch. Die Machinationen (der Intrigen wie der Schauspiele) zeigen die der »illusionslosen Einsicht« in die Verfasstheit der bloßen Kreatur angemessenen ›Trauer‹ komische »Innenseite« (304). Die »Komik« ist momentan ›aufblitzende‹, dennoch mehr und anderes als bloß »Episode«: die »obligate Innenseite der Trauer, die ab und zu wie das Futter eines Kleides im Saum oder Revers zur Geltung kommt« (304). Derart erscheint die »Komik« oder, wie Benjamin sich selbst ins Wort fällt, »– richtiger: der reine Spaß« (304), und zwar an Shakespeares Schauspielen in einer Wendung oder Faltung des Trauerspiels in sich (auf sich) selbst. Der Zusammenhang von Trauer und Spaß zeigt sich sprachlich am »Doppelsinn« der Worte, den der Intrigant zum Medium seiner Ränke und Spiele macht.195 Der »Doppelsinn des Wortes« ist »mit seiner Bedeutung« (das ist die des »König[s] im Trauerspiel«, als Herr der Kreatur (und Kreatur zugleich), die ihn zum »Träger und Symbol der Bedeutung« macht)196 »Ursprung einer Trauer, an welcher mit ihnen [den Bedeutungen] der Intrigant [der ihr Herr sei] schuld ist« (384). Der Zwiespalt, an dem Bedeutung entsteht, ist zugleich der Spielraum des Witzes im Sinne von wit wie pun. So ›sprechen‹ die Machinationen der Sprache, Maschine und Täuschungsspiel, mit ihren Effekten zugleich von der Dissoziation (der Sprache) im Spiel mit den Worten, das ihren Doppelsinn hervortreibt. Die Lese-Szene aus Calderóns El mayor mónstruo, los celos (die Benjamin sowohl in seinem Text zum »historischen Drama« wie im Trauerspielbuch zitiert) führt das Potenzial der sprachlichen Äußerung auf, als schriftliche, von ihrem vermeintlichen ›Herrn‹ sich ablösende, zum ›fatalen Requisit‹ und als zerlegte vereinzelt 194 P. Calderón de la Barca: El mayor mónstruo, los celos, 2. jorn. vv. 1223-26, v. 1413 (Gries’ Übers., S. 266); vgl. »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 254f., 267; B. Menke: »Reflexion des TrauerSpiels«, S. 270-272). 195 Etwa in Shakespeares Richard III, was Benjamin zitiert: »›Gloster (beiseit): So, wie im Fastnachtsspiel die Sündlichkeit,/ Deut’ ich zwei Meinungen aus Einem Wort.‹« (I, 402). 196 »[M]it dem Doppelsinn des Wortes, mit seiner Bedeutung [sei] die Natur [auf dem Weg zur Sprache] ins Stocken gekommen«, und »jene ungeheure Hemmung des Gefühls wird Trauer«, so Benjamin im älteren Text, »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie (II, 138f.). 115

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»verhängnisvoll« bedeutsam zu werden (382).197 Diese, den Bedeutungseffekten des Auseinandergerissenen gewidmete Szene entfaltet den ›Doppelsinn‹ der dobleces, Faltungen und täuschende Zweideutigkeiten, Falschheiten und Dissimulationen.198 So ist die Sprache als Medium des Witzes, auch wenn oder gerade weil der Intrigant der Bedeutungen Herr zu werden versucht (384), zugleich das der Unentscheidbarkeit und der »Reflexion«. Mit seinen Intriganten-Figuren, die die Nähe des Spaßes zum Grauen halten (was das deutsche Trauerspiel verschmähte),199 spielt Shakespeare nicht nur Momente der Komik ins Trauerspiel ein, sondern: »Mit ihnen [»Figuren wie dem Jago und Polonius«, denen Shakespeare »das alte Schema des dämonischen Narren unterlegt«,] wandert das Lustspiel ins Trauerspiel ein. Von neuem ist an die Verkleinerung der Reflektierten zu erinnern. Dies Bild hat seinen guten Sinn: das Lustspiel macht sich klein und geht gleichsam ins Trauerspiel hinüber.« (306)

Wenn Benjamin die Leser hier »von neuem« »an die Verkleinerung der Reflektierten« zu »erinnern« für nötig hält (306), so weist er zurück auf seine Explikation der Reflexion des Trauerspiels als Spiel, wie sie Calderóns Schauspielen, die im übrigen den Gattungsnamen comedias trugen,200 möglich war: »Spielerisch wird das 197 P. Calderón: El mayor mónstruo del mundo, los celos, 2. jorn. vv. 22762296; in Übers. von J.D. Gries: »Eifersucht das größte Scheusal«, S. 316. Benjamin belegt damit den Zusammenhang von Bedeutung und »Sprachzerstückelung« (II, 263; I, 382): »Die Worte erweisen sich noch« oder vielmehr gerade »in ihrer Vereinzelung verhängnisvoll«; »schon die Tatsache, daß sie, so vereinzelt noch etwas bedeuten, gibt dem Bedeutungsrest, der ihnen verblieb, etwas Drohendes« (I, 382). 198 Vgl. B. Menke: »Reflexion des Trauer-Spiels«, S. 274-276. 199 »Weniges bezeichnet die Grenzen in der Kunst des deutschen Barockdramas so unerbittlich, als daß es die Ausprägung dieses bedeutenden Verhältnisses [von Lustigkeit und Grauen des Spaßes] dem volkstümlichen Schaustück überließ« (I, 306). 200 Vgl. Manfred Engelbert: »Kann die comedia tragisch sein? Überlegungen zum spanischen Welttheater des Siglo de Oro«, in: W. Frick (Hg.), Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur, Göttingen 2003, S. 139157, hier S. 148, 156; (den von Benjamin zitierten) H. Ulrici: Ueber Shakespeare’s dramatische Kunst und sein Verhältnis zu Calderon und Göthe, S. 532f., 552, 524f.; zur Gattungsfrage dgg. B. Teuber: »Die Frühneuzeitliche Tragödie als Opfer auf dem Theater?«, (mit Lit.Diskussion) S. 80f., 91f.. Benjamin spricht von der »Amoralität der spanischen Betrachtung«, auf deren »Grunde […] spanische Tragödien und Komödien ineinander« spielten (I, 266f.). 116

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Geschehen durch Reflexion verkleinert«;201 das geschieht, wenn ihre Protagonisten eine »beispiellose Virtuosität der Reflexion« »jederzeit bei der Hand haben, um in ihr die Schicksalsordnung wie einen Ball in Händen zu wenden« (263).202 Umgekehrt wird die »komische Figur« Shakespeares zum »Räsoneur«, insofern sie »sich selbst in ihrer Reflexion zur Marionette« wird (306). Die Hauptund Staatsaktionen, des deutschen Trauerspiels »radikalste und eben daher kunstloseste Ausgestaltung« (302),203 neigen dazu »umzuschlagen« ins »Puppenspiel« als ihrer »Miniature«, an das sie schon »gemahn[en]« (303).204 Nicht nur ist der Spielcharakter des Trauerspiels durch das »hochbedeutende[] Medium des Puppentheaters« (262) belegt, sondern dieses ist zugleich seine doppelnde: spielerisch exzentrische Exposition (303). Die Intrige oder Machination ist das mise en abyme des Spiels (der Dramaturgie) des Trauerspiels. »Das Trauerspiel erreicht ja seine Höhe nicht in den regelrechten Exemplaren sondern dort, wo mit spielhaften Übergängen es das Lustspiel in sich anklingen macht. Daher denn Calderón und Shakespeare bedeutendere Trauerspiele geschaffen haben, als die Deutschen des XVII. Jahrhunderts, welche niemals über den starren Typus hinausgelangt sind.« (306)

So sehr Benjamin sich in der Sache und deren Wörtlichkeit auf die Romantiker zurückbezieht,205 so zielt er doch nicht auf die von die201 »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 268, vgl. II, 260, sowie I, 260-262. 202 Der grammatische Bezug von »in ihr« ist kaum entscheidbar; grammatisch geht er vorrangig auf »Hand« – oder auf die »Reflexion«? die sie »wie einen Ball« »jederzeit bei der Hand haben«, »um [dann] in ihr die Schicksalsordnung wie einen Ball in Händen zu wenden« (I, 263)? 203 In diesen treten die »ästhetischen Aporien des historischen Dramas« »am deutlichsten zutage« (I, 302). 204 So in der von Benjamin zitierten »ansprechenden Beschreibung«: »›Hier erscheinen die Könige und Fürsten mit ihren goldpapierenen Kronen auf dem Haupte sehr trübe und traurig, […]. Der clown oder fool ist den Personen des Stücks oft sehr lästig; aber sie können die verkörperte Idee der Parodie […] schlechthin nicht los werden‹« (I, 302f.). 205 »Denn ›Lustspiel und Trauerspiel gewinnen sehr und werden eigentlich erst poetisch durch eine zarte, symbolische Verbindung‹, sagt Novalis und trifft damit, zumindest für das Trauerspiel, durchaus die Wahrheit.« (I, 306; zit. ist Novalis Schriften, hg. von J. Minor, Jena 1907, Bd. 3, Bd. 3, S. 20 = Novalis: Schriften. HKA, hg. von R. Samuel/H.-J. Mähl/G. Schulz, Stuttgart u.a. (1960) 31983, Bd. III, S. 650, Nr. 556; vgl., S. 651, Nr. 561).) Wie für Trauerspiel ist für Lustspiel die »historisch-systematische begriffliche Scheidung« (hier von Komödie) auf A.W. Schlegel zu datieren (Hans Joachim Schrimpf: »Komödie und Lustspiel. Zur terminologischen Problematik 117

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sen akzentuierten bloßen »Mischungen allen Entgegengesetzten«, die die ›romantischen Dramen‹ A.W. Schlegel zufolge ausmachen, für die, neben Shakespeares, Calderóns Schauspiele das Modell stellen (301).206 Bei der von Benjamin ins Auge gefassten »Gemeinschaft jener beiden Formen«, die sie nicht durch »empirischen« Befund«, vielmehr »dem Gesetz ihrer Bildung nach so streng aneinander gebunden« zeigt, »daß das Lustspiel ins Trauerspiel wandert« (306), handelt es sich um eine asymmetrische Relation,207 die Reflexion des Trauerspiels als »Trauer-Spiel«208 in dieses hinein. In den Philosophien der Tragödie wurde, wie Benjamin mit Anhalt an der Aufführungspraxis der attischen Tragödie die Wiederaufnahme des in der Tragödie verhandelten Falles im »Satyrspiel« vermutete (296), die Komödie als der Tragödie notwendige Reflexion oder Auf-Lösung konzipiert.209 Aber »Tragedy’s comedy«, einer geschichtlich orientierten Gattungstypologie«, in: ZfdPh 97 (1978), S. 152-182, hier S. 176, 170ff.). Nach dem bürgerlichen deutschen Lustspiel der Aufklärungszeit als ›gemilderte‹ Komödie (»Das Lustspiel (so will ich die neue Gattung zur Unterscheidung von der alten nennen) ist demnach eine Mischung von Scherz und Ernst«, insofern sie das ungebundene Spiel begrenzend »dem Ernst in ihrer Form« unterwirft (A.W. Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Bd. V, 13. Vorlesung, S. 156-168, hier S. 158)) sucht das romantische Lustspiel die »Wiederherstellung der spielenden, frei schaffenden Willkür der Phantasie« orientiert an Shakespeares »phantastischen Lustspielen« (H. Schrimpf: »Komödie und Lustspiel«, S. 175f., 179). 206 »Die antike Kunst und Poesie geht auf strenge Sonderung des Ungleichartigen, die romantische gefällt sich in unauflöslichen Mischungen; alle Entgegengesetzten, Natur und Kunst, Poesie und Prosa, Ernst und Scherz, Erinnerung und Ahnung, Geistigkeit und Sinnlichkeit, das Irdische und Göttliche, Leben und Tod, verschmilzt sie auf das innigste miteinander« (A.W. Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Bd. VI, 25. Vorlesung, S. 107-119, hier S. 111f); vgl. Novalis: »ächtes Schauspiel – Vermischung des Lust- und Trauerspiels« (Schriften. HKA, Bd. III, S. 651, Nr. 561) und das weitere Novalis-Zitat I, 306f. (= Schriften. HKA, Bd. III, S. 670, Nr. 611). 207 Dgg. »könnte« »niemals […] das Trauerspiel im Lustspiel sich entfalten« (I, 306). 208 »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 260. 209 Mit verschiedener Akzentuierung wird dieser Übergang von Hegel, Nietzsche u.a., neuerdings Agamben ausgeprägt (vgl. Katrin Trüstedt: SeaChange of Romance. Shakespeares Tempest und das Umschlagen von Komödie in Tragödie, Diss. EUV Frankfurt/Oder 2008, Ms., Kap. I, S. 7-55). Während Hegel in der Anlage von Tragödie und Komödie beider strukturelle Analogie als verschiedene Umgangsweisen mit Entzweiung ausprägt (vgl. W. Hamacher: »(Das Ende der Kunst mit der Maske)«), ist Nietzsche zufolge die Komödie Siegel des Verfalls der Tragödie an die Dialoge, an dem die Intrige spzifischen Anteil hat (»Die Geburt der Tragödie«, S. 76ff., 118

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insofern sie nämlich mit wrong again zurecht Bescheid erhält,210 wird durch die ›moderne Tragödie‹ oder das Trauerspiel vorgestellt. Der metatheatrale Zug der Komödie nähert sie dem Trauerspiel, und zwar insofern »events in comedy are not irrevocable, as in tragedy«.211 So ist das Trauerspiel nicht ›einmaliger und endgültiger Vollzug‹, wie die Tragödie einer gewesen sei, sein ›Gesetz‹ vielmehr Wiederholung oder Wiederkehr, so dass es als die allegorische Re-Lektüre der Tragödie den Fall der Tragödie als wiederholbaren, ohne endgültiges Ende, kenntlich macht – und ausführt.212 Daher taugt wrong again als Titel für die Nähe von Komödie und Trauerspiel, auf die es Benjamin mit der »Gemeinschaft jener beiden Formen« ankommt, die »dem Gesetz ihrer Bildung nach so streng aneinander gebunden sind [...], daß das Lustspiel ins Trauerspiel wandert« (306). Denn an diesem verkleinert einwandernden Lustspiel findet das Trauer-Spiel seine Reflexion, hat es die mise en abyme des Spiels, das es ist. Denn nicht nur mache »mit spielhaften Übergängen es das Lustspiel in sich anklingen«, sondern genauer macht »das Lustspiel […] sich klein« und geht »gleichsam ins Trauerspiel« »ein«, wie umgekehrt in Calderóns Schauspielen »[s]piele-

KSA 1, S. 546). Das Komische aber bestimmt Nietzsche in der Folge Hamlets als »künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden« (neben dem Erhabenen als »künstlerische Bändigung des Entsetzlichen«) und damit als eine der Formen der Kunst, die »allein« »jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen [vermöge], mit denen sich leben lässt« (ebd., S. 57). 210 Das war der Titel »wrong again. Tragedy’s comedy« einer Tagung des Graduierten-Kollegs Lebensformen & Lebenswissen, Potsdam 29.6.–1.7.2006, org. und mit einer Einleitung von T. Khurana und K. Trüstedt. 211 L. Abel: Metatheatre, S. 59; metatheatre fällt nicht mit der Komödie zusammen, sowenig wie diesem die tragicomedy als mögliches Genre genügte (die Tragikomödie wird mitunter als die Form nach der Tragödie vorgeschlagen, vgl. Karl S. Guthke: Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie, Göttingen 1961, insb. S. 126-167); zur Metatheatralität der modernen Tragödie, deren Austragung zwischen Tragödie und Komödie vgl. C. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 134-156, insb. S. 136-142. 212 Wenn Benjamin in »Schicksal und Charakter« mit einem Zitat von H. Cohen sagt, dass die tragische Handlung »einen komischen Schatten werfe« (II, 278), so bezeichnet zum einen gegen »die mythische Verknechtung der Person im Schuldzusammenhang« (die »die ungeheure Komplikation der verschuldeten Person, die Komplikationen und Bindungen ihrer Schuld aufrollt«) der Charakter die »Freiheit« der »komischen Person« (II, 177), die zum andern als »Tendenz zur Freiheit« der Tragödie schon angehört (vgl. P. Primavesi: Kommentar, Übersetzung, Theater, S. 302). 119

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risch [...] das Geschehen durch Reflexion verkleinert« wird.213 Am mit der Intrige einwandernden Lustspiel hätte das Trauerspiel seine verkleinerte Abbildung, die mise en abyme als Spiel. Derart wird mit der Intrige oder Machination, die den »Spaß« als »Innenseite der Trauer« aufblitzen lassen konnte, im Trauerspiel, in dessen ›Rahmen‹, die Dramaturgie ›seiner dramatischen Handlung‹ als theatrales Spiel ›reflektiert‹, umrahmt wiederholt (262). Dies macht den Stellenwert der Intrige für die Trauerspiele und fürs Trauerspielbuch aus: Als so »berechnendes und planmäßiges« wie »zufälliges« Spiel der »Ränke« (262) stellt sie spielerisch verkleinert, im verkleinerten Maßstab des Hofes, die ›Verwicklungen‹ des Geschehens des Trauerspiels als Spiel in dessen ›Rahmen‹ vor: eine mise en abyme des »Spiel[s] im Spiel« (261).214 »In der Machination hat [so Benjamin] die neue Bühne den Gott« (261),215 wie im Theater seit jeher der Gott durch die Maschine zur Bühnen-Präsenz kam und zugleich das Zu-Sehen-Geben, das das Theater ausmacht, selbst sich zeigt. Die Machinationen, Intrigen, kalkulierten Täuschungen stellen (wie Theater-Maschinen, die das dramatische Geschehen ermöglichen,)216 mit ihrer nachdrücklichen »Absichtlichkeit« jene »Absichtlichkeit« »in der Fügung« vor (259ff.), als die das »Schicksal«, das im »streng begrenzten Raum«, der die Bühne ist, entfaltet werde, noch und gerade im Zufall kenntlich wird. Die Machinationen entfalten den Zusammenhang von Zufall und Absichtlichkeit auf der Bühne, der als der des Schicksals aufgefasst wurde: »ein isoliertes Kraftfeld […], in welchem alles Angelegte und Gelegentliche [...] sich steigert« (308). In Effekten des Zufalls, im Zu-Fall von Effekten217 begegnet die »Absichtlichkeit« »in der

213 Wenn die Protagonisten mit »beispielloser Virtuosität der Reflexion« »die Schicksalsordnung wie einen Ball in Händen [...] wenden« (»›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 268; I, 263). 214 Wie die ›dump-show‹ im Hamlet, vgl. S. Cavell: Disowning Knowledge, S. 188; »nicht immer«, so Benjamin ausdrücklich, »ist die Technik offenkundig, indem die Bühne selber auf der Bühne aufgeschlagen« wird (I, 261). 215 »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 261. 216 Zur »ausgeklügelten Machination« und zur »theatrale[n] Apparatur, die auf der Bühne des 17. Jahrhunderts das Wechselspiel von Sein und Schein, Aufführung und Verstellung bis zur Ununterscheidbarkeit treiben sollte«, vgl. B. Wolf: Die Sorge des Souveräns, S. 37; zum ›Spiel im Spiel‹ als der Präsentation der Theater-Maschine, vgl. R. Alewyn: »Der Geist des Barocktheaters«, S. 34-36. 217 Den »Effekt« (II, 267) betonte auch A.W. Schlegel, will ihn allerdings poetisiert sehen (»Über das spanische Theater«, S. XVIII). 120

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Fügung« der Trauerspiele218 als deren artifizielles Spiel: »Ein Trauer-Spiel also« – schließt Benjamin mit Calderón; d.i. die »paradoxe[] Reflexion von Spiel und Schein« des Trauerspiels (261). Es wäre, so will es schließlich einer der letzten Sätze des Trauerspielbuchs, die Intrige gewesen, die nach dem Muster der Schauspiele Calderóns dem Trauerspiel mit ihrem Bezug aufs (theatrale) Spiel, das das Trauerspiel ist, den anderen »Einsatz« und derart der Trauer einen anderen »Ausgang« gewiesen hätte (409). Dies allerdings, so Benjamin, vermochten allein die Schauspiele Calderóns mit ihrer kunstvollen Entwicklung der Intrige, nicht aber die deutschen Trauerspiele. Wäre es die »Entwicklung der Intrige« gewesen, die, wie die Calderónschen Schauspiele zeigen, den barocken Trauerspielen einen anderen ›Ausgang‹ gewiesen hätte, so ist der Irrealis für Benjamins Argumentation entscheidend. Denn zum einen kennzeichnet »mangelnde Entwicklung der Intrige« das deutsche Trauerspiel (409), und zum andern ist es eben die »Insuffizienz« in der »spielerischen Entfaltung seiner Bühnenaktionen« (409), der »spanisch« »subtile Reflexion« abgewonnen wurde (303), die – Benjamin zufolge – dem deutschen Trauerspiel seinen Rang gibt. Die »spielerische Exzentrizität, die ihren angestammten Helden unter Marionetten hat, verbleibt ihm« (303), weil das Trauerspiel diese nicht in dramatische Handlung integriert.219

218 »Jene Absichtlichkeit, von der Goethe gesagt hat, daß ihr Schein jedem Kunstwerk eigne, zerstreut im idealen romantischen Trauerspiel des Calderon die Trauer« (»›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 261; vgl. II, 260; I, 261; B. Menke: »Reflexion des TrauerSpiels«, S. 269-277); das deutsche Trauerspiel sperrt sich dem. Es bleibt »ganz auf den düstern Ton der Intrige gestimmt« (I, 276). 219 Gerade das Ungenügen des deutschen Trauerspiels mache es, so akzentuiert S. Weber, zum »paradigm of the distinctively modern mediality of theatre« (»The Incontinent Plot«, S. 244). Es ist die Posse, die im Zufall das Geschehen auf der Bühne auf ein Anderswo bezieht, wie S. Weber mit Kierkegaards kleiner Theorie der Posse (Die Wiederholung) zeigt (Theatricality as Medium, S. 218-224); vgl. die Funktion der sog. Haupt- und Staatsaktionen, I, 302f.; zum Possenhaften in Nachträgen, I, 953, sowie H. Cysarz: »Vom Geist des deutschen Literaturbarock«, S. 31. 121

III. T R A U E R

UND

MELANCHOLIE

Eine »Theorie der Trauer« werde, so Benjamin, in der Trauer die »Gesetze« des Trauerspiels aufweisen (318). Ist dieses das Spiel, »über dem die Trauer ihr Genüge findet: Spiel vor Traurigen« (298), so ist umgekehrt der Melancholiker selbst als der Zuschauer von Schaustellungen bestimmt.1 Der »Zusammenhang von Trauer und Ostentation«, der durch sprachliche Bildungen wie »Trauer-Spiel« belegt ist,2 prägte »in dem Theater des Barock« sich aus (299). Den melancholischen Blick macht als solchen aus, dass die Welt in ihm als Schau-oder Masken-Spiel sich ausnimmt. Er ist bestimmt durch die zerstreut sich anfindenden Dinge, denen des Melancholikers »versunkenes Grübeln« gilt, weil sie ihm die ›Chiffern‹ einer »rätselhaftenWeisheit« sind (319), die diese ebenso zu erschließen versprechen, wie sie sie versperren. Der melancholische Blick findet, wie Hamlet abzulesen ist (334f.), auf der Bühne des Theaters seine Reflexion. Nicht nur wiederholt sich in dieser Relation zur Bühne der melancholische Blick aufs sich wiederholende Zeichen-Masken›Spiel der Welt‹, sondern dieser trifft im Schau-Spiel auf sich selbst. Benjamin widmet der Melancholie den letzten abgesetzten Teil des ersten Hauptteils »Trauerspiel und Tragödie« seines Trauerspielbuchs. Er nimmt darin nicht nur auf Dürers Kupferstich Melencolia I, das zu dem Bild der Melancholie wurde, Bezug, sondern bezieht auch detailliert Material und Argumente aus den auf Melencolia I zurückgehenden Studien der Warburg-Schule wie von deren Vorläufer K. Giehlow.3 Vorgeben ließ sich Benjamin vor al1 2 3

So war der Souverän, das »Paradigma des Melancholischen« (I, 321), der beschaute Beschauer des barocken Theaters. Zit. ist Hallmann, I, 299; vgl. 319. K[C]arl Giehlow: »Dürers Stich ›Melencolia I‹ und der maximilianische Humanistenkreis«, in: Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst, Wien u.a. 1903, S. 29-41; 1904, S. 6-18, 57-79; Aby Warburg: »Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten« (1920), in: D. Wuttke (Hg.), Aby M. Warburg. Ausgewählte Schriften und Würdigungen, Baden-Baden 1992, S. 199-304 (vgl. I, 977f.; Verzeichnis der gelesenen Schriften, VII, 890, Nr. 929). Auf Erwin Panofsky/Fritz Saxl: Dürers 123

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lem die »Gegensätzlichkeiten«, die »Doppelgestaltigkeit« des Saturn (327f.), in dessen Zeichen als »Gott der Extreme«4 die Melancholie mit ihrer »immanenten Antithetik« von saturnischer Erdgebundenheit und Genialität des Melancholischen (328) steht.5 Das ist das Resultat eines komplexen Prozesses der Tradierung aus der antiken Humoralpathologie durchs Mittelalter (323f.) in Umschriften, Überlagerungen, Kontaminationen etwa durch Figurationen der Astrologie (326-329), wie durch ihre pseudo-aristotelische Umwertung, die sie als »Erbstück der Renaissance« ans Barock überlieferte (320f.). Die Wiederentdeckung der die ›überragenden Männer‹ durch die Melancholie auszeichnenden Pseudo-Aristotelischen Problemata6 ermöglichte M. Ficino, diese in Verbindung mit dem göttlichen Wahnsinn der platonischen mania »im Sinne einer Lehre vom Genie« zu bringen (328f.).7 Die »Antithetik« der Melancholie prägt sich in der Benjamin’schen Typologie des Personals des Trauerspiels, von Fürst und Intrigant, durch, und sie prägt sich aus in der Dichotomie von gottverlassener Materialität und der als solche gottlosen Geistigkeit (402ff.), durch die die »Intention«, die die Melancholie Benjamin zufolge ist, bestimmt ist (318).

4 5 6 7

›Melencolia I‹. Eine Quellen- und Typengeschichtliche Untersuchung, Leipzig, Berlin 1923, stieß Benjamin nach der Rohschrift des Trauerspielbuches Dez. 1924: als »letztes Wort einer unvergleichlich faszinierenden Forschung« (I, 881, 891; Verzeichnis der gelesenen Schriften, VII, 456, Nr. 955); vgl. weiter Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, Frankfurt/M. 1992, Vierter Teil u. S. 406-511 (Orig. Saturn and Melancholy, London 1964); Klaus-Peter Schuster: »Das Bild der Bilder. Zur Wirkungsgeschichte von Dürers Melancholiekupferstich«, in: Idea 1 (1982), S. 72-134; ders.: »Melencolia I. Dürer und seine Nachfolger«, in: J. Clair (Hg.), Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst, [Ostfildern-Ruit] 2006, S. 90-103. E. Panofsky/F. Saxl: Dürers ›Melencolia I‹, S. 10, 38; A. Warburg: »Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten«, S. 221-225. E. Panofsky/F. Saxl: Dürers ›Melencolia I‹, S. 38. Ps. Aristoteles mit Komm. in R. Klibansky/E. Panofsky/F. Saxl: Saturn und Melancholie, S. 59-76. Marsilio Ficino: Drei Bücher vom Leben (Auszüge in P. Sillem (Hg.): Melancholie, S. 39-54); vgl. I, 320f., 328f.; E. Panofsky/F. Saxl: Dürers ›Melencolia I‹, S. 93ff., 104ff.; K. Giehlow: »Dürers Stich ›Melencolia I‹«, (1903) S. 35ff., 38f., 41, (1904) S. 12-15; E. Panofsky/F. Saxl/R. Klibansky: Saturn und Melancholie, S. 55-91; neu wird Melancholie als Medium der Poesie, poetische Melancholie gedacht (ebd., S. 351-394; vgl. Jean Starobinski: »Die Tinte der Melancholie«, in: J. Clair (Hg.), Melancholie, S. 2431/»L’Encre de la Mélancholie«, in: NRF 123 (1963), S. 410-423; ders.: »Geschichte der Melancholiebehandlung: Die Renaissance«, in: L. Walther (Hg.), Melancholie, Leipzig 1999, S. 107-113. 124

TRAUER UND MELANCHOLIE

Im Unterschied zu den von ihm im Detail beigezogenen ikonografischen Studien belastet Benjamin aber auch den »eigentlich theologische[n] Begriff des Melancholikers […], der in dem einer Todsünde vorliegt« (332),8 der acedia oder desparatio,9 d.i. die ›Verzweiflung‹ an Gott als die Todsünde des Geistes, das ›Versagen in Theodizee‹. Es handelt sich bei Benjamins Melancholie-Konzept schon in ihrem Einsatz um eine signifikante Ergänzung des Materials über das der Warburgschule hinaus.10 Benjamin rekurriert auf Luthers sola fide-Prinzip, das das individuelle Heil von den Werken ablöste, und dadurch mit diesen die Welt entwertete: »Etwas Neues entstand, eine leere Welt« (317f.).11 So trifft Benjamin im Kern der protestantischen Theologie das »taedium vitae« an.12 Darin zeichnet 8

Vgl. Michael Theunissen: Vorentwürfe von Moderne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters, Berlin, New York 1996, S. 50ff., (zur acedia im Mittelalter) S. 25-38; vgl. U. Steiner: »Allegorie und Allergie«, S. 686-692; ders.: »Traurige Spiele – Spiel vor Traurigen«, S. 32, 37f. 9 Thomas von Aquin: Summa Theologiae, Heidelberg u.a. 1966, Bd. 17B II-II, quaestio 35 (acedia), S. 20-35); vgl. M. Theunissen: Vorentwürfe von Moderne, S. 25f., 31-35, (zu Benjamin) 50. 10 Das Material von Panofsky/Saxl zeigt hier eine signifikante Lücke; zur Differenz vgl. U. Steiner: »Allegorie und Allergie«, S. 680f.; H. Caygill: »Walter Benjamin’s concept of cultural history«, S. 88ff. 11 Vgl. Martin Luther: »Die Heidelberger Disputation« (1518), in: Luther deutsch, hg. von K. Aland, Göttingen 1969, Bd. 1, S. 379-394, hier S. 386388 (Thesen 16-18); »Thesen über das Gesetz« (1535), in: D. Martin Luthers Werke KA, Abt. 1, Bd. 39, Weimar 1883, S. 48-53, hier S. 50 (Thesen 36-43); »De servo arbitrio« (1525), in: D. Martin Luthers Werke, Bd. 18, S. 551-787, hier S. 719; vgl. A. Warburg: »Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten«, S. 221, 224ff.; M. Theunissen: Vorentwürfe von Moderne, S. 50-52; Hartmut Böhme: »›Melancholie der Kritik‹. Zur Rehabilitation des saturnischen Temperaments (1)«, in: Spuren in Kunst und Gesellschaft 11/2 (1985), S. 28-36; zur protestantischen Trübsal im Sinne der Melancholie vgl. auch Julia Kristeva: Schwarze Sonne, Frankfurt/M 2007, S. 13, 130f., 140f.; mit Bezug auf Benjamin für das Melancholische des Barock, »das der katholischen Stabilität verlustig ging« (S. 180, 110ff.). 12 H. Cysarz dgg. hält es mit einer vermeintlichen »Lutherische[n] Weltbejahung«, die »ehedem Bedingung weltlicher Askese, […] zum Selbstzweck« werde (Deutsches Barock in der Lyrik, Leipzig 1936, S. 132); P. Hankamer spricht vom »hybriden Anspruch«, den »der geistige Mensch gegen das Leben« erhebe (Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock, S. 295, zu Luther u. Calvin, S. 294f.). Zwar war der »Moralismus des Luthertums immer bestrebt, wie so nachdrücklich seine Berufsethik es bekundet, die Transzendenz des Glaubenslebens an die Immanenz des täglichen zu binden« (I, 263), das aber artikuliert gerade deren Spannung (I, 257f.). Die »Bedeutung des Protestantismus für das deutsche Trauerspiel« (für die Benjamin sich auf F.C. Rang bezog; vgl. U. Steiner: »Traurige Spiele – Spiel vor Traurigen«, S. 46f.; ders.: »Allegorie und Allergie«, S. 682, 687f. 697f.; P. Fenves: »Tragedy and Prophecy«, S. 237f.; S. Weber: Theatricality as Medium, 125

TRAUERSPIEL-BUCH

sich eine Parallel-Lektüre zu Max Webers Protestantische Ethik (1904/5) und dessen Modernisierungsthese, bzw. deren Rückseite, ab.13 In Benjamins Darstellung tritt die lutherische Melancholie der modernen Subjekte neben die geläufigere katholische Vanitas-Vorstellung,14 wobei beide im An-Blick des »Totenkopfes« der im Zeichen der Vergängnis stehenden Natur konvergieren, in dem »nicht nur die Natur des Menschendaseins schlechthin, sondern die biographische Geschichtlichkeit eines einzelnen in dieser seiner naturverfallensten Figur bedeutungsvoll als Rätselfrage sich aus[spreche]« (343). Benjamin akzentuiert vor allem hinsichtlich der Lutheraner die Spannung zwischen den Fragen des individuellen und des kollektiven Heils;15 deren Nichtkoinzidenz, die zugleich Raum schaffen mag für das kleine innerweltliche Handeln, ›begründet‹ die barocke Melancholie. Es darf für signifikant gehalten werden, dass im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Kulturtheoretiker wie Warburg, Freud und Benjamin auf die Melancholie Bezug nehmen. Die Melancholie von der Trauer her aufzufassen, das ist Freuds Vorschlag unter dem markanten Titel »Trauer und Melancholie« (1917),16 der in der Melancholie-Tradition keine Vorlage hat. Daher ist Benjamins Konzept melancholischer Trauer als eine mindestens implizite Lektüre von

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S. 168-172) gibt Benjamin mit »dessen extremen Charakter« an (I, 916; vgl. I, 263; »Trauerspiel und Tragödie«, II, 134-137). Vgl. explizit »Kapitalismus als Religion«, VI, 102. Max Weber sieht die Ethik des Kapitalismus im Calvinismus (eine »Verflachung«, I, 317) begründet (vgl. W. Hamacher: »Schuldgeschichte«, S. 84ff., 95, 103, 106; S. Weber: »The Incontinent Plot«, S. 243f.; ders.: Theatricality as Medium, S. 387). Benjamin spricht von der »essentiell religiösen Struktur des Kapitalismus« statt von der ›Entzauberung der Welt‹; die »fürchterliche Pointe der Prädestinationslehre«, der »Ausschaltung der sakramentalen Magie als eines Heilsmittels« sei vielmehr die ›Universalisierung der Schuld‹ (W. Hamacher ebd., S. 94-103). Vgl. U. Steiner: »Traurige Spiele – Spiel vor Traurigen«, S. 35; vgl. K.-P. Schuster: »Das Bild der Bilder. Zur Wirkungsgeschichte von Dürers Melancholiekupferstich«; zu Darstellungen (etwa von Domenico Fetti) der Vergeblichkeit angesichts der Vergängnis vgl. ders.: »Melencolia I. Dürer und seine Nachfolger«, S. 99. Vgl. I, 406ff., 263. »Für das Mittelalter gab es eine kosmische und eine individuelle Eschatologie. Die[] Spaltung machte unausweichlich, daß das Interesse des Menschen von der Frage nach seinen persönlichen ›letzten Dingen‹ absorbiert wurde«, die zum »endzeitlichen allgemeinen Gericht« in Konkurrenz steht, so H. Blumenberg (Säkularisierung und Selbstbehauptung, S. 56, zu Luther S. 62f.). Sigmund Freud: »Trauer und Melancholie« (1917), in: ders., Studienausgabe, hg. von A. Mitscherlich u.a., Frankfurt/M. 1975, Bd. 3, S. 193-212. 126

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Freuds Text zu lesen,17 weiterreichend aber als eine Gegenlektüre zur Freudschen Entgegensetzung von Melancholie als ›pathologischer‹ zur ›normalen‹ Trauer, die von ersterer ihr Modell bezieht, an letzterer aber ihr Maß nimmt.18 Benjamin kündigte brieflich an, ein Teil des Trauerspielbuches werde »unter dem Titel ›Konstruktion der Trauer‹ […] erscheinen«,19 umgekehrt aber ist Trauer, so ›beharrlich‹ sie sich ausnimmt, selbst ›konstruktiv‹, denn die melancholische Trauer, die der sinn-entleerten, nichtigen Welt gilt, ist eine spezifisch verfasste Erwiderung. Das setzt Benjamins Melancholie-Konzept in genauen Bezug zu Freuds »Trauerarbeit«.20 Die melancholische Trauer erhebt Benjamin zufolge »Einspruch« gegen die »leere Welt«, gegen das »Dasein als ein Trümmerfeld«, in das der Melancholische sich gestellt sah. Unversehens ist es in der Benjaminschen Ausführung »das Leben selbst«, das trauernd agiere: »Tief empfindet es, […]. Tief erfaßt es Grauen bei dem Gedanken, so könne sich das ganze 17 Bez. Benjamins Freud-Lektüre vgl. Lektüreliste: Nr. 540 Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, Nr. 549 Psychoanalytische Bemerkungen u.a. Fall Schreber (VII, 440f., im Umfeld seiner Lektüren für die TrauerspielArbeit, Nr. 490 Calderon: Der standhafte Prinz u. Nr. 569 Hofmannsthal: Das kleine Welttheater). Für den Bezug zur Psychoanalyse ist umgekehrt aufschlussreich, wie Benjamin 1929 Alexander Mettes »Über Beziehungen zwischen Spracheigentümlichkeiten Schizophrener und dichterischer Produktion. Dessau, Dresden 1928« besprach (III, 164ff.; zu A. Mette als in der Folge mindestens ›problematische‹ Figur; vgl. L. Rickels: »Suicitation«, S. 144f.). Aussagekräftig ist Benjamins Kritik, dass Mette nicht »den Raum der Individualität mit ihrem trügerischen Kunstbegriff verlasse[]« und die Schizophrenie nicht »als Bewegung im Medium der Sprache« auffasse (III, 165). Umgekehrt rezensierte Mette 1931 das Trauerspielbuch – so belanglos, dass die Einwände gegen sein Buch bestätigt werden (in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaft 17/4, S. 536538). 18 Es handelt sich also keineswegs (bloß) um die Missachtung oder Verkennung einer Unterscheidung, so aber B. Hanssen, die »the normal, terminable process of mourning« voraussetzt (»Portrait of Melancholy«, S. 180f.), sondern um eine Lektüre, die neben andere Freuds Entgegensetzung infrage stellende tritt, wie etwa die Derridas (vgl. Anselm Haverkamp: »Kryptische Subjektivität. Archäologie des Lyrisch-Individuellen«, in: M. Frank/A. Haverkamp (Hg.), Individualität (Poetik und Hermeneutik XIII), München 1988, S. 347-383; Laurence A. Rickels: Der unbetrauerbare Tod, Wien 1989, S. 13-23; Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse 44/5: »Melancholie und Trauer«, hg. von K. Dahlke/U. A. Müller/M. Schuller, Kassel 1994, darin u.a. Karin Dahlke: »Marionetten im Schatten des Gesetzes«, S. 149-174, hier S. 152; Eva Horn: Trauer schreiben. Die Toten im Text der Goethezeit, München 1998, S. 13-42). 19 Brief an Scholem, 20.-25. Mai 1925, in: GB III, S. 37. 20 Vgl. S. Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 198. 127

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Leben abspielen. Tief entsetzt es sich vor dem Gedanken an Tod« (318). In der dreifachen Anapher »Tief« vertieft wiederholend sich das Leben und die Rede selbst; dies, so liest R. Nägele, »locates life in the dimension of depth«, so dass es die Ambivalenz der Melancholie teilt.21 Das »Gefühl« der Trauer, in dem des Trauerspiels ›Gesetze‹ zu finden seien, ist, wie Benjamin akzentuiert, vom »empirischen Subjekt«, vom »Gefühlsstand des Dichters« wie »des Publikums« »gelöst« (318), und entzieht sich derart jedem Programm einer Psychologisierung von Literatur,22 zu dem deren Rückbezug auf die Melancholie in den 1970erjahren genutzt wurde.23 Trauer ist dagegen in den Formulierungen Benjamins selbst »motorische Attitüde« und »Gebaren«, also nicht nur eine Bewegung, sondern bereits Geste, sichtbare Aufführung, die sich selbst bezeichnet, nicht aber ein Gefühl das nachher seine Darstellung finden würde. Daher vermöchten »viel besser als der Zustand der Betrübnis [umgekehrt] diese Spiele einer Beschreibung der Trauer zu dienen«, wie der »Name« Trauerspiel »besagen« »dürfte« (298). »Denn sie sind nicht so sehr das Spiel, das traurig macht, als jenes, über dem die Trauer ihr Genügen findet […]. Ihnen eignet eine gewisse Ostentation. Ihre Bilder sind gestellt, um gesehen zu werden […].« (298)

Es sind »diese Spiele«, »Bilder«, »gestellt, um gesehen zu werden«, die »der Beschreibung der Trauer zu dienen« vermögen, – und nicht etwa umgekehrt. Denn an diesen hat die Trauer, die »Einspruch« 21 R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 187f.. Mit der entsprechenden Figur eröffnet Dantes Inferno, Stadt der Trauer, wo das Höllentor in seiner Aufschrift ›sagt‹: »Per me si va nelle citta dolente,/ Per me si va […]/ Per me si va […]« (Dante: Die Göttliche Komödie, Inferno III, 1-3, Ital./Dtsch., übers. und komm. von Hermann Gmelin (1949-1957) repr. München 1988, Bd. I, S, 34f., auf den letzten Seiten des Trauerspielbuches zitiert Benjamin aus diesem Zusammenhang eine Zeile, so dass mit der Hölle die Melancholie als »subjektive Perspektive« in die »Ökonomie des Ganzen« eingezogen sei (I, 407). 22 Vgl. K. Garber: Rezeption und Rettung, S. 72. 23 So etwa H.-J. Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in der Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977; Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/M. (1969) 1971; Gert Mattenklott: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, Königsstein/Ts. 1985. Dgg. und anders Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration, Stuttgart, Weimar 1997. 128

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erhebt gegen die entwertete sinn-»leere Welt«, ihr »Genügen«, das sie bestimmt: »Trauer ist die Gesinnung, in der das Gefühl die entleerte Welt maskenhaft neubelebt, um ein rätselhaftes Genügen an ihrem Anblick zu haben« (318). Die Trauer besorgt gleichsam eine theatrale Schaustellung24 – statt des Mangels, den sie erwidert. Die ›Neubelebung‹ der ›sinn-entleerten Welt‹, die sie unternimmt, ist als »maskenhafte« keine ›Verlebendigung‹ des offenbar Toten, sondern Aufführung, Masken-Aufzug, an dessen Anblick – statt des tiefen sich-›Entsetzens‹ des Lebens25 – die melancholische Trauer »ein rätselhaftes Genügen« habe. Das resultiert nicht in der consolatio, auf die es etwa Schings zufolge mit dem barocken Trauerspiel hinauswollte.26 Vielmehr ›spricht‹ der theatrale Aufzug mit seiner Maskenhaftigkeit und der Verstellung, die diese theatrale Repräsentation an-Statt des Mangels ist, selbst (stets wieder) maskenhaft-tot vom Tod, anstelle dessen er statthat.27 Das begründet die genuine Bezogenheit der Melancholie auf (eine Welt der) Zeichen, wie damit umgekehrt die Melancholie der Zeichen sich zeigt. Insofern kann Benjamins Formel vom »rätselhaften Genügen«, das die Trauer an den Bildern wie Masken habe, an Nietzsches Überlegung zum »Typus des theoretischen Menschen« erinnern, der »ein unendliches Genügen am Vorhandenen« habe – »wie der Künstler«: »[Er] ist wie jener vor der praktischen Ethik des Pessimismus und vor seinen nur im Finsteren leuchtenden Lynkeusaugen, durch jenes Genügen geschützt. Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit 24 Vgl. S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 495; P. Primavesi: Kommentar, Übersetzung, Theater, S. 282-285. 25 Benjamin nennt die »Aufzüge der Machthaber«, die trionfi und die »Verwandtschaft von Trauer und Ostentation« (I, 318f.; vgl. I, 299); R. Alewyn akzentuiert den Zusammenhang von Horror vacui und dem barocken Fest, dessen Pomp wie dessen ungeduldiger Ausrichtung durch Kulissen, Werg und Leinwand – und das Leerausgehen (Das Grosse Welttheater, S. 13ff.). 26 Vgl. H.-J. Schings: »Consolatio Tragoediae«, S. 22-25, 36-39, Benjamins Konzept des Spiels »über dem die Trauer ihr Genügen findet« ist offensichtlich nicht zureichend aufgefasst, wenn ihm die Dimension der ›Wirkung‹ entgegengehalten wird (ebd., S. 4, 22). 27 »Theatrically and ostentatiously the lost object, or rather its loss, is staged in mourning« (R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 10). Auch J. Kristeva bestimmt die Melancholie als »Schutzschild gegen den Tod« und zwar als ein, allerdings »perverses«, »Theater« (Schwarze Sonne, S. 58), das sie aufbiete und an das sie gebunden bleibt: als »Maske« an eine »tote Sprache«, die sie einer »ins Hypertrophe gesteigerte[n], hyberbolische[n] Vergangenheit« unterstellt (ebd. S. 62ff., 68f.; vgl. S. 180). 129

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immer nur mit verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein höchstes Lustziel in dem Prozess einer immer glücklichen, durch eigene Kraft gelingenden Enthüllung.«28

Der mögliche Bezug besteht allerdings genau darin, dass Benjamin und die ein »rätselhaftes Genügen« findende Trauer den angezeigten Auswegen nicht folgen will – nicht dem des »Künstlers« und nicht dem des »theoretischen Menschen«.29 Denn sowenig der Melancholische seine Befriedigung an der »glücklichen [...] gelingenden Enthüllung« hat, die die »eigene Kraft« durchs Enthüllte belegt, so sehr ist seine ›Fixierung‹ an die Schaustellung als ›Hülle‹ doch eher die an den Zwiespalt, an dessen Stelle die Re-Präsentation statthat und den diese (je wieder) vertieft. Einsicht in die Melancholie sei, so Benjamin, nur zu gewinnen, indem die »Beschreibung jener Welt [entrollt werde], die unterm Blick des Melancholischen sich auftut« (318); es sind die »Bilder« der Trauerspiele als »Spiel« vor Traurigen, »gestellt, um gesehen zu werden« (298).30 Diese »Welt« ist, explizit genug, »Maskenspiel der Trauer, Beschreibung der Leere, mithin nichts anderes als Schrift« als deren Supplement.31 Der »Gegenstand«, an den das »Gefühl« der Trauer »gebunden« sei, ist mit Benjamins Formulierung dessen »apriorischer« (318) in dem genauen Sinne, dass er »unterm« melancholischen Blick als solcher gegeben ist; daher sei die »Darstellung« dieses Gefühls die »Phänomenologie« dieses Blicks (dem sich die Phänomene entziehen, der in ihnen auf die Leere trifft).32 28 F. Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie«, S. 98. 29 Für diesen »Typus« steht Sokrates (ebd., S. 98). Die »tiefsinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche« (ebd., S. 99), wörtlich entspricht dem das absolute Wissen als abgründiges, das den ›melancholisch Sinnenden‹ in die (falsche) Tiefe verführe (I, 404ff.). 30 Daher ist die Entfaltung der Theorie der Trauer durch die »Darstellung der Geschichte als eines Trauerspiels« (I, 321) in ihren Repräsentanten vorbereitet; in der »Theorie der melancholischen Veranlagung [...] besitzt die Nachwelt einen geraderen Kommentar des Trauerspiels als die Poetiken ihn bieten konnten.« (I, 320f.) 31 N. Müller-Schöll: Theater des ›konstruktiven Defätismus‹, S. 114; der »allegorische Tiefblick« verwandelt alles in »erregende Schrift« (I, 352). 32 Eine Wendung gegen den Neu-Kantianismus kann hier angenommen werden, vgl. etwa von Hans Cornelius (der Benjamin nicht habilitieren mochte): 130

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Benjamin stellt die Melancholie als ein Dispositiv (wie das Theater) vor, das das Subjekt zugleich mit dessen Objekt konstituiert. Oder, so A. Haverkamp: »Melancholie ist der Inbegriff einer Gegebenheitsweise von Gegenständen, deren Gegenständlichkeit sich unter dem Blick des Melancholischen herstellt«.33 Dies macht die »enge Korrelierung von Allegorie und Melancholie« im Trauerspielbuch aus, die den »für die Melancholiegeschichte fundamentalen, aber zuvor nicht explizierten Repräsentationszusammenhang« entfaltet.34 Der Zusammenhang von melancholischem Blick und allegorischer Zeichenschrift ist der von Lesen und Schrift.35 Wenn ›mit den Trauerspielen‹ »›Geschichte‹« »in der Zeichenschrift der Vergängnis« sich der Natur eingetragen hat (353), zeigt sie ihre »allegorische Physiognomie« so »todverfallen« wie allegorisch bedeutend (342), und ihre allegorische Darstellung von ›der geschichtlichen Verwirklichung ihres Sinns‹ sich »unheilbar verschieden« (347). Im Barock wurde, Benjamin zufolge, die Sünde der acedia als bloßer »kontemplative[r] Starrkrampf« aufgefasst: als die »pathologische Verfassung, in welcher jedes unscheinbarste Ding, weil die natürliche und schaffende Beziehung zu ihm fehlt, als Chiffer einer rätselhaften Weisheit auftritt« (319). Dem war, so Benjamin, »gemäß, daß im Umkreis der ›Melencolia‹ Albrecht Dürers die Gerätschaften des tätigen Lebens am Boden ungenutzt, als Gegenstand des Grübelns liegen« (319).36 Panofsky und Saxl wiesen Dürers Melencolia I in Entzifferung ihrer Gerätschaften als Personifikation der Geometrie oder Mathematik aus, genauer aber als »die in ihre Grenzen zurückverwiesene, die resignierende Mathematik«.37 Zur

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Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Leipzig 1897 (Kap. 7); eine Bezugnahme auf E. Husserl vermutet N. Müller-Schöll: Theater des ›konstruktiven Defätismus‹, S. 112f.. A. Haverkamp: »Kryptische Subjektivität«, S. 350; dass. in: ders., Laub voll Trauer. Hölderlins späte Allegorie, München 1991, S. 15-29, hier S. 19; Vgl. B. Menke: Sprachfiguren, S. 206. M. Wagner-Egelhaaf: Melancholie der Literatur, S. 175. Vgl. B. Menke: Sprachfiguren, S. 206-231, 165-170; vgl. I, 342f., 352f.. Vgl. E. Panofsky/F. Saxl: Dürers ›Melencolia I‹, S. 61-76. Ebd., S. 68f., 76; »die Lust zu irgendwelchem Tun [scheine] in einem Gefühl von Zweck- und Sinnlosigkeit dieses Tuns zu ersterben« (ebd. S. 71); das »Temparaments- oder Krankheitsbild« bezeuge die Resignation vor der Beschränktheit gegenüber dem Göttlichen und diene der Warnung (Ebd., S. 54); dgg. fasste Warburg es als »Trost«- und Abwehr-Blatt, das (mit den bereits von Giehlow identifizierten Gegenmitteln) den Sieg des melancholischen Geistes über die ihn bedrohende Verdüsterung vorstelle (A. Warburg: 131

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Darstellung der Melancholie wird sie durch eine Wendung mit eigener Ironie, und zwar durch die »Untätigkeit«, in der sie – »in eine tiefe, ursachlose Schwermut versunken«38 – die Attribute, die ihr als Instrumente der Mathematik und Werkzeuge ihrer angewandten Formen zuzuschreiben waren, ungenutzt lässt. Derart, in einem »Chaos ungenutzter Dinge«,39 ostentativ ›verstreut‹, taugen die Attribute als die der Melancholie. Das gibt Auskunft über die Melancholie wie über die Allegorie. Benjamin kennzeichnet den Melancholiker als »Grübler über Zeichen« (370).40 Er verliere sich im Anblick der Dinge, die – herausgelöst aus den Zusammenhängen des alltäglichen Lebens, in denen ein Werkzeug in Tätigkeit versetzt würde, wie aus denen der Heilsgeschichte, die ihre Stationen mit Sinn begabte – nicht sie selbst, sondern Zeichen sind. ›Chiffer‹ ist ein Ding (wie jedes), insofern es für ein anderes steht, dessen Absenz es bezeichnet und das es verstellt. Es ist als ›Chiffer‹ von sich selbst ver- und geschieden, selbst leer (geworden) und zugleich als Ding opak sperrend. So finden sich die Dinge zur Melencolia Dürers, wie bei allen barocken Personifikationen, äußerlich, entwertet als deren Attribute, als »Hof« der ›unregierten‹ »Fülle der Embleme« an (364). Daher taugt sie zur »allegorischen Person« der Melancholie, weil sie als solche zugleich ihre Figuration selbst bezeichnet, die unter dem »Primat des Dinghaften vor dem Personalen« steht (362).

Der »Grübler über Zeichen« Freud zufolge ist die Trauerarbeit durch »eine problematische ›Objektbeziehung‹« bestimmt;41 daher und als solche ist sie die »Ar-

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»Heidnisch-antike Weissagung«, S. 63f., 61, z.B. Schutz durchs Quadrat S. 59ff.; vgl. I, 329); vgl. K.-P. Schuster: »Das Bild der Bilder«; ders.: »Melencolia I. Dürer und seine Nachfolger«, S. 92-96, 97-102; M. WagnerEgelhaff: Melancholie der Literatur, S. 64-67. E. Panofsky/F. Saxl: Dürers ›Melencolia I‹, S. 71ff. R. Klibansky/E. Panofsky/F. Saxl: Saturn und Melancholie, S. 448f. Die »als ›verworfen‹ oder ›verstellt‹ bezeichneten Geräte[] am Boden« stellten »die Erfolglosigkeit der Melancholiefigur« vor (K.-P. Schuster: »Melencolia I. Dürer und seine Nachfolger«, S. 98). Im 16. Jahrhundert wurde das »als Lähmung verstanden«: »Alle Gerätschaften der Frau sind zerstört und verwahrlost, wodurch ihre Meditationshaltung als Kennzeichen der Faulheit aufgefaßt ist« (ebd., S. 98); dgg. »betonte das 17. Jahrhundert [...] besonders den Aspekt der Vergänglichkeit« (ebd., S. 100). Vgl. K. Giehlow: »Dürers Stich ›Melencolia I‹«, S. 7f.; 76f. A. Haverkamp: Laub voll Trauer, S. 20. 132

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beit« einer Ablösung vom Verlorenen, die diese Freud zufolge erledigen, d.h. abschließen soll, wobei »unterdes die Existenz des verlorenen Objekts psychisch fortgesetzt« wird.42 Die Melancholie, die die Besetzung vom Toten nicht abzuziehen vermöge, die diese »Arbeit« zu keinem Abschluss bringe, wird diesen ambivalenten »problematischen« Objekt-Bezug endlos wiederholend aufführen. Dies trägt die Melancholie, Benjamins Darstellung des Melancholikers zufolge, in ihrer Relation zu den Dingen als Zeichen, als die Relation und den Zwiespalt zwischen Zeichen und Dingen, aus. Der »Grübler«, als den Benjamin den Melancholiker bestimmt, nimmt die Dinge als ›Chiffern‹, insofern sie sich ihm in ›ihrer profanen Hinsicht‹ ›entziehen‹, »weil die natürliche und schaffende Beziehung zu ihm fehlt« (319), vor allem als von sich selbst ge- und verschiedene. Die Gegenstände seines Grübelns stellen als ›Chiffern‹ vor allem diesen seinen melancholischen Blick dar, in dem sie als ›Chiffern rätselhafter Weisheit‹ auftreten, in bedeutende »Schrift« »verwandelt« (352). Dies ist die ›maskenhafte Neubelebung‹ der abgründigen, entsetzenden Leere der ›entwerteten Welt‹ (318), als die melancholische Erwiderung gegen das tiefe (Sich-)Entsetzen (des Lebens) vor dem »Gedanken an den Tod« (318), die erwidernd die Leere besetzt und zugleich mit der maskenhaften Besetzung die Leere, die sie supplementiert und voraus-setzt, abgründig vertieft. Wenn den Dingen eine Bedeutung zugeschrieben wird, so ist es bloß die allegorische, die sie zu den abgestorbenen und disponiblen erklärt, die allein der Bedeutung gewidmet seien, die sie nicht aus sich und von selbst haben. Der Tod ist der melancholischen Erwiderung selbst eingelassen als die Entzweitheit aller Dinge mit sich selbst, die diese Erwiderung zum einen »von jeher« voraussetzt (342), und die sie zum andern selbst als Supplement, Beschriftung an-stelle der Leere (je wieder) hervorbringt. Freud fasst die Melancholie als gestörte Trauerarbeit im Befund: »Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melan-

42 Wenn die »Realitätsprüfung [...] gezeigt [hat], daß das geliebte Objekt nicht mehr besteht«, könne deren »Auftrag«, »alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen«, »nicht sofort erfüllt«, sondern dieser »nun im einzelnen unter großem Aufwand von Zeit und Besetzungsenergie durchgeführt und unterdes die Existenz des verlorenen Objekts psychisch fortgesetzt« werden (S. Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 198f., vgl. 209). 133

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cholie ist es (auch) das Ich selbst«,43 so unterschied Freud und las dem die »narzißtische« projektive Ich-Konstitution durch Identifizierung mit dem Objekt ab.44 Benjamin schlägt vor: »Indem man dies Symptom der Depersonalisation als schweren Grad des Traurigseins« fasst (319), trete dieser »in einen unvergleichlich fruchtbaren Zusammenhang«, den Benjamin im Begriff des »Grübelns« gegeben sieht (319). Grübeln verliert sich an die tiefsinnige Vertiefung im Gegenstande, der ihm nicht er selbst ist, der als »Chiffer« für ein rätselhaftes Anderes die Leere supplementiere und diese als die des Gegenstandes, als dessen Ge-Schiedenheit von sich selbst (342) stets wieder bezeugt. Der grübelnd Sich-Versenkende trifft in allen seinen »Gegenständen« auf immer Dasselbe, den melancholischen Blick selbst. Anhalt für die barocke, zum »Starrkrampf« verhaltene Kontemplation findet Benjamin in Überlegungen Pascals, der zu bedenken gibt: »L’Ame ne trouve rien en elle qui la contente«45 – das ist das pascalsche Pendant zu der lutherischen Entwertung nicht nur aller katholischer Heilsmittel, Sakramente und Werke, sondern damit der »Welt«.46 Daher müsse man, wie Benjamin fast über eine Seite von 43 Ebd., S. 200f. L. Rickels erläutert: »Der Trauernde löst [das wäre die Leistung der Trauerarbeit] sein Ich von einem Objekt [...], das gerade als selbständiges, als Anderes geliebt wurde, während der Melancholiker eine narzißtische Wahl aufgibt, indem er den Einklang seines Ichs mit dem begehrten Objekt durch Identifikation, Verinnerlichung und Idealisierung herstellt.« Melancholie »entsteht, wenn die Ambivalenz, die die libidinöse Bindung an das Objekt schon vor seinem Verschwinden beeinträchtigte, die Trauer blockiert. Die einzige verfügbare Methode, diesen Block zu beseitigen, ist die schleunige Introjektion des verlorenen Objekts, wodurch die feindseligen Gefühle, die der höchst ambivalente Trauernde zwangsläufig dem Verstorbenen entgegenbringt, nun auf ihn selbst gerichtet werden. Aber Freuds These, daß normale Trauer ambivalenzfrei sei, gab er selber auf Anraten Abrahams auf« (Der unbetrauerbare Tod, S. 16f.). Der Ambivalenzkonflikt der Melancholie wird aufgeführt als Konflikt im Ich (S. Freud »Trauer und Melancholie«, S. 204f., 211). 44 Vgl. Ebd., S. 203ff., 209f.. 45 »Elle n’y voit rien qui ne l’afflige quand elle y pense. C’est ce qui la contraint de sa répandre au dehors, et de chercher dans l’application aux choses extérieures, à perdre le souvenir de son état véritable« (Pensées, zit. I, 321 nach der Edition de 1670, Paris o.J. (1905), S. 211f.; vgl. Pensées II, Nr. 139, S. 52-57, 65f.). Die Rettungslosigkeit in der Selbst-Begegnung der Seele fand theologischen Einspruch, etwa von Nicole, Mitverfasser der Logique de Port-Royal, einer der Herausgeber von Pascals nachgelassenen Gedanken. 46 Zur analogen Konstellation Milton – Pascal, vgl. C. Martin: Ruins of Allegory, S. 329f., 28, 45-48. 134

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Pascal zitiert (321), insbesondere den Herrscher durch Äußerliches zu zerstreuen suchen, um ihn von der ›Leere‹ ›im Innern‹ abzulenken, an die er sich in kontemplativer Einsamkeit schwer-mütig verlieren würde.47 Benjamin akzentuiert, der Fürst sei »das Paradigma des Melancholischen«, weil »[n]ichts [...] so drastisch die Gebrechlichkeit der Kreatur [lehre], als dass selbst er ihr unterworfen ist« (321f.); das stellt die Heillosigkeit der Melancholie (in doppelter Lesbarkeit des Genetivs) vor.48 Die »Kontemplation« wird kenntlich als »schlechthin uneigentliche Einlösung der Heiligkeit« (276), »falsche Heiligkeit« (306). Denn sie, in der allein das Barock die mögliche Entbindung aus der »satanischen Verstrickung der Geschichte«, der alle politische Aktivität verfiel, erkannte, führt selbst, so liest Benjamin Pascals Warnung vor einsamen Fürsten, als »Versenkung« »allzu leicht ins Bodenlose« (320). Es ist das »Bodenlose«

47 Man mache, so Pascal (zit. Benjamin), die Probe: »qu’on laisse un Roi tout seul, […] et l’on verra qu’un Roi qui se voit est un homme plein de misères […]. Aussi on évite cela soigneusement et il ne manque jamais d’y avoir auprès des personnes des Rois un grand nombre de gens qui veillent à faire succéder le divertissement aux affaires, et qui observent tout le temps de leur loisir pour leur fournir des plaisiers et des jeux, en sorte qu’il n’y ait point de vide […], que le Roi ne soit seul et en état de penser à soi, sachant qu’il sera malheureux, tout Roi qu’il est, s’il y pense« (zit. I, 321; Pascal: Pensées II, Nr. 142 S. 68f., vgl. S. 65f.). In diesem Sinne bestimmt R. Alewyn das barocke Fest, das der Horror vacui erzeuge (Das große Welttheater, 14f.). 48 Pascals Überlegung zur Traurigkeit des Fürsten geht von der Frage aus: »Ist die königliche Würde nicht in sich selbst groß genug für den, der sie besitzt, um ihn allein durch den Anblick dessen, was er ist, glücklich zu machen?« (B. Pascal: Gedanken, S. 74f. [hier: Nr. 179, Übersicht der AphorismenZählung S. 385]). Pascal hält für nötig hervorzuheben: »Ich spreche in alldem von den christlichen Königen nicht als von Christen, sondern allein als von Königen« (Ebd., S. 75; Pensées II, Nr. 142 S. 69). L. Marin gibt dem: »melancholy is the governing principle of absolute power« (Food for Thought, S. xx), mit Bezug auf Benjamin und Pascal doppelten Sinn (ebd., S. 240f.); »die ostentative Nicht-Aktualisierung der Potenz des Königs führt die Möglichkeit des Umschlagens in den Eindruck der Inaktivität, Trägheit oder Entscheidungsunfähigkeit mit sich«; umgekehrt sei »die Melancholie des Portrait-Königs analog zum apathischen Temperament des physischen Körpers des Monarchen zu verstehen«, als »eine sublime Inaktivität, die den König in eine souveräne Sphäre erhebt, die über jeder Aktualisierung von Fähigkeiten steht und die sich in dem Recht Ausdruck verschafft, unbedingt befehlen zu können« (Dirk Setton: »Mächtige Impotenz. Zur ›DynamoLogik‹ des Königsportraits«, in: V. Beyer/J. Voorhoeve/A. Haverkamp (Hg.), Das Bild ist der König, S. 217-244, hier S. 241). Die Inaktivität, nicht die aktuelle Entscheidung, belegt die Souveränität; dem ist komplementär die von Benjamin akzentuierte in den Wahnsinn führende Entschlussunfähigkeit des Tyrannen (I, 321-23). 135

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des neuzeitlichen Subjekts selbst, auf das es als auf seinen Blick in dem Gegenstand trifft. Seine ›Gegenstände‹ sind als »Chiffer einer rätselhaften Weisheit« im/dem melancholischen Blick gegeben als dessen ›Projektion‹: maskenhaft nicht sie selbst, von sich selbst verschieden. »[I]hres Sinnes beraubt werden diese Akte [»projektiver Identifizierung«] wie Quasi-Objekte behandelt«, so auch J. Kristeva in ihrem Anschluss an Freud.49 Das ist der Modus melancholischer »Depersonalisation« (319), Desintegration und Beschwerung zugleich. Die ›innere‹ ›Verödung‹ des »Grüblers« selbst stellt sich dar in den traurig zerstreuten Dingen, wie sie (in) der melancholischen Kontemplation, ohne ›inneren Zusammenhang‹, übrig-bleiben, wie sie sich als Attribute äußerlich zu Dürers Melencolia als »Hof« der ›unregierten‹ »Fülle der Embleme« anfinden (362ff.) und den allegorischen »Primat des Dinghaften vor dem Personalen« belegen (362), durch den die barocke Allegorie die Melancholie bezeugt. Das Grübeln findet seine Darstellung in allegorischer Dezentrierung. Hieß Melancholie traditionell eine »ursachlose Schwermut«50 oder, so Freud, Trauer ohne bewussten Grund,51 so ist sie doch genauer Trauer über einen nicht – durch ein konkretes Objekt – bestimmten Verlust, daher unbestimmbare Trauer.52 Das »Toddurchdrungensein des mittelalterlichen und barocken Menschen wäre [so

49 J. Kristeva: Schwarze Sonne, S. 61; es handle sich um die »paradoxe Konstitution des Subjekts der Melancholie« in einer »Übertragungssituation, die die ursprünglichen Bedingungen der Omnipotenz und simulierten Trennung vom Objekt wieder herstellt« (ebd., S. 74). 50 E. Panofsky/F. Saxl: Dürers ›Melencolia I‹, S. 71. 51 S. Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 199, 201, 205; zur ›Grundlosigkeit‹ Freud zufolge, vgl. L. Rickels: Der unbetrauerbare Tod, S. 16f.. 52 D.i. einer »Unentschiedenheit in der psychoanalytischen Theoriebildung zur Ätiologie der Melancholie« zwischen »Disposition oder Anlaß, konstitutive[r] Verletzung oder unsagbare[m] Verlust« (E. Horn: Trauer schreiben, S. 32). Den Mangel »vor aller Objektwahl« (ebd., S. 31-34) konzipiert vor allem die Lacansche Lesart als ursprünglichen Verlust (vgl. Barbara Freedman: »Naming Loss: Mourning and Representation in Twelfth Night«, in dies.: Staging the Gaze. Postmodernism, Psychoanalysis, and Shakespearean Comedy, Ithaca, London 1991, S. 192-235, hier S. 208f.), der nicht zureichend als ›unmögliche Trauer um das mütterliche Objekt‹ (vgl. aber J. Kristeva Schwarze Sonne, S. 17, 13ff., 28f., 31f.) bestimmt sei als vielmehr um einen ›unrepräsentierbaren Verlust‹ (vor jeder Bestimmtheit durch den Bezug auf ein Objekt), um das verlorene Ding [an sich], die Res divina (ebd. S. 74ff., 20f., 50, 57, 60f.), an das der Melancholische sich bindet; für einen allerdings zu kurz greifenden Bezug des Benjaminschen auf Kristevas Melancholie-Konzept, vgl. M. Pensky: Melancholy Dialectics, u.a. S. 26ff., 16-19. 136

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Benjamin] ganz undenkbar, wenn nichts als die Erwägung ihres Lebensendes sie beeindruckt hätte« (392); der Tod begegnet vielmehr als die Todverfallenheit der Physis ›von jeher‹; wenn in ihr ein »›Memento mori‹ wacht« (392), so ist sie von sich selbst verschieden, ihre Gegenwart in sich selbst geteilt (wie Gespenster-Auftritte die dramatische Gegenwart an eine andere Zeit verweisen). Spricht Freud von der »offenen Wunde« der Melancholie,53 so nimmt diese sich in Benjamins Darstellung der barocken Melancholie – jedem konkreten Tod vorgängig – als ein Riss oder die Kluft aus, die als Signatur des Todes die ›Welt‹ ›unterm Blick des Melancholikers‹ »von jeher« zeichnet, von sich selbst scheidet: »[A]m tiefsten [gräbt] der Tod die zackige Demarkationslinie zwischen Physis und Bedeutung ein« (343), derart ist die Natur wie »von jeher todverfallen«, so »auch allegorisch von jeher« (343), denn sie hat nicht von selbst und aus sich selbst einen Sinn, den sie darstellend verkörperte. Unterm melancholischen Blick zeigt die ›Welt‹, die Natur sich »als allegorische unheilbar verschieden« von sich selbst und von der »geschichtlichen Verwirklichung« ihres Sinns (347).54 Ist die melancholische Trauer (im jeweiligen Trauerfall), so E. Horn, immer derselbe »Vorgriff auf den ›immer schon‹ gegebenen Tod«,55 so findet die barocke Melancholie in jedem ihrer Gegenstände die so »todverfallene« wie auch »von jeher« allegorische ›Welt‹ (343) (oder ihren Blick, in dem die Gegenstände so auftreten). Der Melancholiker verliert sich, sich versenkend im Gegenstande, an dessen (d.h. aller seiner Gegenstände) heillose Verschiedenheit von sich selbst (347): die »Zweiheit« von »Wirklichkeit und Bedeutung«,56 deren Eintrag, wo »die Dinge nach ihrem schlichten Wesen« sich ihm entziehen (403, 319), ihm die Gegenstände seines Grübelns als ›Chiffern‹ ›gibt‹, wie sie »als rätselhafte allegorische Verweisungen [...] vor ihm [...] liegen.« (403). Wenn die Melancho53 Vgl. S. Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 206; er spricht vom »Konflikt im Ich, den die Melancholie für den Kampf um das Objekt eintauscht«, »wie eine schmerzhafte Wunde« (ebd., 211). 54 In der »Zeichenschrift der Vergängnis« (I, 353) hat »›Geschichte‹« »in Natur« sich eingetragen; die »allegorische Physiognomie der Natur-Geschichte« ist genuin schriftlich: So prägt »die Geschichte nicht als Prozeß eines ewigen Lebens, vielmehr als Vorgang unaufhaltsamen Verfalls sich aus« und »geht [mit dessen Stationen] ein in den Schauplatz« (I, 353). Umgekehrt stellt »Natur« sich »ihnen vor als ewige Vergängnis, in der allein der saturnische Blick jener Generationen die Geschichte erkannte« (I, 355). 55 E. Horn: Trauer schreiben, S. 33. 56 »Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«, II, 138f.; I, 383f. 137

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lie derart die leere Welt ›maskenhaft neubelebt‹, so werden diese Supplemente der abgründigen Leere den Abgrund, den sie verstellen, weil sie ihn (als Supplemente eines Mangels) zugleich bezeichnen, je wieder vertiefen.57 Der Melancholiker verliert sich als »Grübler über Zeichen« dort, wo er sich depersonalisiert konstituiert. Mit seinem grübelnd beharrlichen ›Bezug‹ auf ›seine Gegenstände‹ bindet der Melancholiker sich an die vorausliegende Leere. Benjamins und Freuds Konzepte können, nach dem Vorschlag A. Haverkamps, wie folgt eng- und gegeneinander geführt werden: »Die psychoanalytische Hypothese von der narzißtischen Konstitution des Subjekts auf der Grundlage verinnerlichter ›Objekte‹ findet ihre barocke Pointe in der Beobachtung Benjamins, daß der melancholische Blick den Tod des betrachteten Objekts voraussetzt, ja herbeiführt«.58

Der melancholische Blick setzt nicht bloß »den Tod des betrachteten Objekts voraus«, das ihm als neubelebende Maske, als Chiffer, die von sich selbst verschieden ist, gegeben ist, vielmehr »führt« er eben dadurch den Tod seines Objekts »herbei«, oder, so Benjamin: »Wird der Gegenstand unterm Blick der Melancholie allegorisch, läßt sie das Leben von ihm abfließen« (359). Der »allegorische Tiefblick« mortifiziert, was ihm zum Gegenstand wird (als »erregende Schrift«, in die er »verwandelt«) (352); »allegorisch« ist – unterm 57 J. Kristeva bestimmt Melancholie durch einen zweifachen (Nicht-)Bezug aufs Zeichen: Vor allem als Bezug auf den ursprünglichen Mangel, das Fehlen, den Bruch, der das Symbolische (als dessen Verneinung) generiert und als ›Schicksal der sprachfähigen Wesen‹ das Übersetzen auferlegt (Schwarze Sonne, S. 30-32, 51ff.), und als dessen Nichtanerkennung, die Verleugnung der Verneinung des Verlusts (im Zeichen), d.i. eine Fixierung, die alle Übersetzung versperrt, so dass die Melancholie (»unter der Gewalt des Urobjekts«) sich als »Leichentuch der Asymbolie« ›vollendete‹: im Tod, im Realen (vgl. ebd. S. 51ff., 51-57, 73 u.ö.). »Am [verlorenen] Ding (Res) klebend, ist er ohne Objekte. Dieses totale und unbezeichenbare Ding ist bedeutungslos: ein Nichts, sein Nichts, der Tod. Der Abgrund, der sich zwischen dem Subjekt und den bezeichenbaren Objekten auftut, äußert sich als Unmöglichkeit zu bedeutungstragenden Vorstellungen. Doch ein solches Exil offenbart einen Abgrund im Subjekt selbst.« »Einerseits nehmen die Objekte und Signifikanten [...] den Wert des Nicht-Seins an. Sprache und Leben haben keinen Sinn. Andererseits wird doch der Spaltung am Ding, dem Nichts, ein intensiver verrückter Wert zugewiesen, den Unbezeichenbaren, den Tod.« (ebd., S. 60) Kristeva spricht dann aber auch von der Sprache bloß im Sinne der benennbaren Melancholie, d.i. des Imaginären (ebd. S. 110-112; vgl. etwa S. 168-171, 146f., 33ff.). 58 A. Haverkamp: »Kryptische Subjektivität«, S. 349f., vgl. ebd., S. 352; ders.: Laub voll Trauer, S. 17f.. 138

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Blick der Melancholie – was »unheilbar [von sich] verschieden« ist (wie die »allegorische Darstellung« der Natur von der »geschichtlichen Verwirklichung« ihres Sinns) (347): »Death is at work in allegory«.59 S. Kofman zufolge sieht das »Objekt [...] sich, losgelöst [...], durch die Magie der Kunst in nature morte, in ein Stilleben, verwandelt [...], gleichgültig, was auch das Thema sei«.60 Umgekehrt kommt dem »betrachtenden Subjekt« des Stillebens, das als solches Vanitas-Darstellung ist, »eine doppelte Funktion zu; [...] es betrachtet, was es selbst hergestellt hat, und konstituiert in der Betrachtung nicht nur das Bild, sondern sich selbst als betrachtendes Subjekt«.61 Dem »Grübler über Zeichen« bezeichnen diese stets auch und stets wieder die Leere, an deren Stelle sie stehen, sie bezeugen dem Melancholiker die »unheilbare« Verschiedenheit der Dinge von sich selbst (347), die sie erst zu Zeichen macht, und den melancholischen Blick bestätigt. Was dem Melancholiker als ›Chiffer‹ »auftritt«, wird als Ding versperren, wofür diese stehe, gar »verschlossen« halten (347), und als Zeichen den ›Tod‹ »von jeher« bezeugen: als den Riss oder die Demarkationslinie zwischen »Physis und Bedeutung«, den kein Bezeichnen schließt, sondern je nachzieht. Dass derart der Tod »von jeher« am Zeichen teil hat, das macht die Melancholie der Zeichen aus (die die Allegorie bekundet), von der in Anlehnung an S. Kofmans Melancholie der Kunst gesprochen werden kann.62 Die ›maskenhafte Neubelebung‹ anstelle der Leere, mit der der melancholische Blick der entleerten Welt ›erwidert‹, sie supplementiert und be-schreibt, wird als solche nur je wieder den ›immer schon‹ vorausliegenden Tod, die Todverfallenheit »von jeher« durch die aktuale Abgestorbenheit und Entleertheit jedes Gegenstandes im Blick der Melancholie bezeugt haben. Der melancholische Blick macht die ›Welt‹, die ›maskenhaft neubelebt‹ 59 »The allegorist picks up where death leaves off«, [but] »Death is at work in allegory […] more intimately, as that which separates each thing from itself, from its essence and from its significance« (S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 496); ihm wird daher nur (die Bedeutung) zukommen können, »was der Allegoriker ihm verleiht« (I, 359), vgl. weiter in IV. 60 Sarah Kofman, Melancholie der Kunst, Wien 1998, S. 16. 61 M. Wagner-Egelhaaf: Melancholie der Literatur, S. 89. 62 Es ist die Melancholie der Darstellung von etwas (»*Geist«, so die »Philosophie der Kunst«): Jedes Bild wird nichts anders als die Verlorenheit dessen, was es darstelle, an die Repräsentation selbst bezeugt haben; das tut es, indem es als ein Rest dem vermeintlich dargestellten Sinn gegenüber, fremd übrig-bleibt (S. Kofman: Melancholie der Kunst, S. 21f., 13ff.). So bleibe die »Darstellung ihres [der Natur] Sinnes als allegorische unheilbar verschieden von seiner geschichtlichen Verwirklichung« (I, 347). 139

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bedeutend wird, je wieder zu der entwerteten, trostlosen, die sie ›immer schon‹ gewesen ist. »[Das bestimmt] die Versunkenheit, der diese großen Konstellationen der Weltchronik als ein Spiel vor Augen stehen, die das Anschaun zwar um der Bedeutung willen lohnen mag, die zuverlässig sich darin enträtseln lässt, dessen unabsehbare Wiederholung aber die Lebensunlust melancholischen Geblütes zur trostlosen Herrschaft befördert« (319).

Die als solche vergebliche ›maskenhafte Neubelebung‹, die in den Maskenzügen, die der melancholische Blick anstelle der Leere aufziehen lasse, nur auf immer dasselbe Trostlose stoßen kann, das dieser Blick selbst ist, ist daher selbst das Schema von (nichts anderem als) endlosen Wiederholungen, bzw. der (Beharrlichkeit der) Melancholie, die mehr als absehbar, deren Beendbarkeit ganz »unabsehbar« ist. So enttäuschend die maskenhafte Neubelebung je wieder bleiben muss, so vergeblich supplementieren die Zeichen die entsetzende Leere, die in jedem Zeichen wiederbegegnet (das artikuliert die Allegorie; s.u. weiter in IV.). Diese Vergeblichkeit ist aus der Melancholietradition als die Zirkularität von Melancholie und ihren geläufigen Remedien,63 die die Melancholie stets nur erneut bestärkt haben werden, bekannt. So lässt das Reisen, das den Melancholikern u.a. von Robert Burtons Anatomy of Melancholy (1621-76)64 empfohlen wurde, diese in jedem Neuen, das sie ablenken sollte, doch wieder nur dasselbe und den Überdruss daran antreffen. Das gilt umso genauer für das Lesen, das den Melancholischen nicht so sehr als den Neubegierigen Zerstreuung in den Büchern finden lässt, als ihn vielmehr an die Schrift-Zeichen, die ihm von der Todverfallenheit sprechen, als dem ›Reich des Grüblers‹ bannt. »As already, we shall have a vast Chaos and confusion of books, we are oppressed with them, our eyes ache with reading, our finger with turning.«65

63 Durch diese: etwa die Kräuter im Haarreif, das magische Jupiter-Zahlenquadrat in Dürers Melencolia I (vgl. I, 329; vgl. Giehlow; E. Panofsky/F. Saxl Dürers »Melencolia I«, S. 51f., 57f.; daher schreibt Warburg ihm Schutzfunktion zu (»Heidnisch-antike Weissagung«, S. 59-64)), wird zugleich die Melancholie dargestellt. 64 Auf Burton bezieht sich Benjamin I, 326. 65 R. Burton: Anatomy of Melancholy, New York 1924, S. 7; vgl. das eindrucksvolle Szenario des Lesens, S. 3. Die Bücher sind die Monumente der Trauer (I, 319f.). 140

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Burtons eigenes, als auto-therapeutisches sich kennzeichnendes Schreib-Unternehmen66 ist selbst als Anatomy Ausführung dieser Zirkularität.67 Es wird, wenn er anstelle der entsetzenden Leere in den als »Chiffer« genommenen Dingen eine ›rätselhafte Weisheit‹ sucht, die traurige Zerstücktheit stets wieder reproduziert haben, die ›die Welt‹ zu jenem Trümmerfeld des Abgestorbenen verhält, als das sie im melancholischen Blick vorliegt, und an dem der Melancholiker die »Chiffer« seiner eigenen Verworfenheit hat.68 ›Zerstückelung‹ ist, so Benjamin, das Prinzip des allegorischen Bedeutens (361), dem zufolge der Körper nur entlebendigt, ›in Stücken‹, ›Glied für Glied‹ allegorisch geworden ist. Als Zerstückelung, wie die »anatomische Sektion« (392),69 vollzieht die »Allegorisierung der Physis« (391) sich. Nicht nur kommt nur dem ›Abgestorbenen‹ (nur) allegorische Bedeutung zu, sondern damit allein das, »was der 66 »I write of melancholy by being busy to avoid melancholy« (Anatomy of Melancholy, S. 4; vgl. S. 355); »I have essayed, put myself upon the stage [...] I have laid myself open [...] in this treatise, turned mine inside outward: I shall be censured, I doubt not.« (ebd., S. 8f.). Die Bindung von Melancholie ans Schreiben (und umgekehrt) fasst J. Starobinski im Titel »Die Tinte der Melancholie«, für die »schwarze Galle«, jenen Körpersaft, dessen Übermaß sie, der aus der Antike tradierten Humoralpathologie zufolge, zur Krankheit machte. Aber »die Unmöglichkeit des Lebens in eine Möglichkeit des Sagens zu verwandeln«, vollzieht sich in Paradoxien des ›Gelingens‹ als Mißlingen, das der Schrift angehört (»Tinte der Melancholie«, S. 30/»L’Encre de la Mélancholie«, S. 423). 67 Vgl. M. Wagner-Egelhaaf: Melancholie der Literatur, S. 116-119, 125f.; dafür steht R. Burtons Inanspruchnahme des Demokrit in den Paratexten zu Anatomy of Melancholy (Frontispiz, »The Argument of the Frontipiece«, S. xviiif.; »Democritus Junior to his book«, S. xviif.; »Democritus Junior to the Reader«, S. 1-74 hier S. 4, 17ff.; »The Author’s Abstract of Melancholy« S. x; dtsch. »Demokrit Junior an den Leser« in: P. Sillem (Hg.): Melancholie, S. 67-106); vgl. M. Wagner-Egelhaaf: Melancholie der Literatur, S. 121123; J. Starobinski: »Demokrit spricht«, S. 233, 236ff., 245-248. 68 Was ›schon immer‹ vorausgesetzt ist, wird erzeugt, wird nachträglich vorliegen, vgl. B. Menke: Sprachfiguren, S. 206. 69 Derart operiert auch »der ›Denck- und Danck-Altar‹, den er [Lohenstein] seiner toten Mutter errichtete. Neun unnachsichtige Strophen schildern die Leichenteile im Zustande der Fäulnis ab.« (I, 392; Daniel Kaspers »Denckund Danck-Altar«, in: Beiträge zum Leben und Dichten Daniel Caspers von Lohenstein von Conrad Müller, Breslau 1882, S. 28-38). Die von Benjamin berufenen 9 Strophen sind unschwer in der Rede des »abgefleischt Gerüppe« »stumm«, »sonder Zung’« zu erkennen (ebd. S. 30f.), die C. Müller umgehend als das »widrigste« dieser den natürlichen Geschmack beleidigenden Gedanken-armen Lyrik bezeichnet (ebd. 39). Sie taugen, die barocke Ausprägung der Trauer um die Toten zu charakterisieren: als die der »ostentativen Kluft zwischen Zeichen und Bedeutung, zwischen Leiche und Unsterblichkeit« (E. Horn, Trauer schreiben, S. 52, vgl. S. 50-56). 141

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Allegoriker ihm verleiht« (359). Es ist »auf Gnade und Ungnade ihm ausgeliefert« (359). In dieser »wissentlichen Entwürdigung des Gegenstandes« (398, Hvhg. BM), zeigt die Melancholie ihren Sadismus.70 Die Suche nach dem Wissen macht aus den Gegenständen je wieder, ›zerstückt‹, als »amorphe Einzelheiten« »in wüster, trauriger Zerstreuung« (361f.), das, worin die melancholische Intention sich in ihrer ›Beharrlichkeit‹ ›darstellt‹. Die Vergeblichkeit der Remedien, durch die die Melancholie sich vertieft, führt in die Proliferation der Zeichen-Reste, die die Vergeblichkeit belegen und das melancholische Remedium als solches kenntlich macht. Burtons Anatomy führt dies mit der angehäuften unbewältigten Fülle des Beigezogenen,71 die in den Um- und Fortschreibungen in dessen wiederholten Auflagen stets wieder ›unregiert‹ sich vermehrte, vor Augen.72 In ihm gewinnt das barocke Wissensideal, das sich in der Bibliothek erfüllt,73 »Buchform« (319f.), oder verliert sich vielmehr das Buch un-förmig an ein Zeichenuniversum, über dem wie und als über der ›Welt‹ der »Schatten« der Melancholie liege (Starobinski),74 wie umgekehrt der Melancholische ›im Schatten‹ (Freud) eines immer schon Verlorenen steht, das ihn an Bücher wie Dinge bindet, die den (ursprünglichen) Verlust bezeugen. Burton selbst kennzeichnete sein Schreib-Unternehmen als ein Lesen-Zitieren mit den gängigen Meta-Metaphern der inventio als ein melancholisches Einverleiben,75 das gemäß der medizinischen topoi nicht verdauend aneignet, sondern das zitiert Einverleibte als

70 Vgl. S. Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 205; vgl. I, 359ff.; sowie Passagen-Werk, V, 423 (J 59a,4). 71 »Er wiederholt die zerstreuten Reden der Mediziner, Moralisten, Theologen« über die Melancholie (J. Starobinski: »Demokrit spricht«, S. 258) 72 Zu den Ausgaben und den so umfänglichen wie vergeblichen Ordnungsversuchen (z.B. »Synopsis of the First Partition«, in: Anatomy of Melancholy, S. 77-80) vgl. M. Wagner-Egelhaaf: Melancholie der Literatur, S. 118, 124; J. Starobinski: »Demokrit spricht«, S. 256ff. 73 Denkmal des »Wissensideals des Barock, die Magazinierung« waren die »riesigen Büchersäle« (I, 359f.). 74 J. Starobinski: »Demokrit spricht«, S. 248f.: Die Melancholie findet »ganz gleich, wohin man den Blick wendet«, »universelle Unordnung« der Welt, »die selbst von dem Übermaß an Melancholie [»Komplizin des Wahnsinns der Welt«] verwüstet ist«. 75 R. Burton: Anatomy of Melancholy, S. 7f.; vgl. M. Wagner-Egelhaaf: Melancholie der Literatur, S. 127f.. J. Starobinski kennzeichnet R. Burtons Häufen, Überladen als »Vollstopfen« mit einverleibtem fremdem Wissen, das Autoritäten verbürgen (»Demokrit spricht«, S. 233ff.). 142

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Totes, Mortifiziertes, Fremdes behalten muss.76 Als Inkorporation im wörtlichen Sinne wird die Melancholie auch mit N. Abrahams und M. Toroks Fortentwicklung der psychoanalytischen Konzepte bestimmt:77 Muss die vermeintlich ›normale‹ Trauerarbeit durch Introjektionen und Identifikationen aneignend gelingen, ist die Melancholie dagegen die ›falsch‹ wörtlich genommene entmetaphorisierte Verinnerlichung eines anderen, der fremd bleibt.78 Dachte Freud die Trauerarbeit als »allmählich fortschreitenden« Prozess der Identifizierung mit dem Objekt, der angelegt sei auf die endliche, abschließende Ablösung vom Toten,79 so ist dagegen die Melancholie, die Benjamin als Paradigma der Trauer verhandelt, nicht auf die »gradlinige[] Erledigung« angelegt,80 die Freud zufolge die ›normale‹ Trauer ausmache, deren »Trauerarbeit« durch die Ablösung vom verlorenen Objekt, vom Toten, einen Abschluss findet und (allein) dadurch unterscheidend bestimmt ist. Während in der 76 Vgl. S. Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 203; vgl. Benjamin zu Hofmannsthals ›Zitationen‹ (1930) VI, 145f.; A. Haverkamp: Laub voll Trauer, 21f.. 77 Nicolas Abraham/Maria Torok: L’Écorce et le Noyau, Paris 1987, chap. IV; vgl. dies.: Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns, Berlin, Frankfurt/M., Wien 1976, darin einleitend Jacques Derrida: »FORS«, S. 5-58, 1245; zur Differenzierung der Melancholie-Terminologie durch den Begriff Inkorporation vgl. E. Horn: Trauer schreiben, S. 25f., 20-27; A. Haverkamp: »Kryptische Subjektivität«, S. 351-356; ders.: Laub voll Trauer, S. 20-27. 78 »In der Introjektion [eines der »von der Trauer in Dienst genommen[en]« »Stützsysteme«, »[w]enn ein Objektverlust Libido freisetzt«,] findet ein metaphorisches Zu-sich-nehmen und Verdauen statt, das es dem Subjekt ermöglicht, Objekte zu verinnerlichen und aufzunehmen, die aufgegeben werden, bevor sie verlorengehen können. Dieser Vorgang wird dagegen in der Einverleibung entmetaphorisiert, die statt dessen die Phantasie einer tatsächlichen Verzehrung des verlorenen Objekts liefert.« (L. Rickels: Der unbetrauerbare Tod, S. 25 [mit S. 18], vgl. J. Kristeva: Schwarze Sonne, S. 18f., 81, 84f.) »Dieses wird nicht nur isoliert und verborgen, sondern in einem getrennten Bereich des Ichs abgeschottet. Nur so kann die sonst durch den Verlust verschobene Topographie erhalten werden« (L. Rickels, ebd. S. 25; vgl. N. Abraham/M. Torok: L’Écorce et le Noyau, S. 266, 264-275, J. Derrida: »FORS«, S. 9-20, 38-40, 44f.; vgl. E. Horn: Trauer schreiben, S. 26). 79 S. Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 209. 80 A. Haverkamp: »Kryptische Subjektivität«, S. 350; ders.: Laub voll Trauer, S. 19; vgl. ebd. auch zu den verschiedenen Zeitlichkeiten des Prozesses, den Freud als Trauerarbeit mit »allmählich fortschreitender« Prozessualität der Identifizierung und Ablösung bestimmt (»Trauer und Melancholie«, S. 209) und Benjamin als melancholisches Progredieren des »Tiefsinns« kennzeichnet: »auf der Bahn im Gegenstande selbst – progrediert diese Intention« (I, 318); derart ist sie ein »Verhaftetsein an ein Gedächtnis ohne ein Morgen« (J. Kristeva, Schwarze Sonne, S. 69). 143

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Trauerarbeit das Ich sich durch den ver-innerlich-enden aneignenden Einschluss des Anderen ins Ich und seine Identifikation mit diesem konstituierte und sich, indem es sich vom Toten ablöst, vor dem es selbst bedrohenden Verlust, vor dem Toten schützte, errichtet das melancholische Ich durch Inkorporation als »mise en conserve« des Toten81 eine im ›Innern‹ ausgeschlossene Krypta, in der dieser als Toter entkryptiert: ›abgeschottet‹ (Derrida) bleibt, »als Fremder« »in einem getrennten Bereich des Ichs« (Rickels) behalten wird .82 Benjamin gebe, so wurde A. Haverkamp bereits zitiert, der »psychoanalytische[n] Hypothese von der narzisstischen Konstitution des Subjekts auf der Grundlage verinnerlichter ›Objekte‹« die »barocke Pointe«, dass »der melancholische Blick«, der »den Tod des betrachteten Objekts voraussetzt«, diesen auch »herbeiführt«.83 Die Figur, nach der dies geschieht, ist die Allegorie. »Wird der Gegenstand unterm Blick der Melancholie allegorisch, lässt sie das Leben von ihm abfließen« (359),84 und als Bedeutung wird ihm, der derart von seinem »Sinn« oder ›Wesen‹ »unheilbar verschieden« ist, nur zukommen, »was der Allegoriker ihm verleiht« (359). Nimmt die melancholisch »ausdauernde Versunkenheit […] die toten Dinge in ihre Kontemplation auf, um sie zu retten« (334), so geschieht das um den Preis von deren ›Verrat‹ »um des Wissens willen« (334), das mortifizierend, zerstückend gesucht wird, und stets, was immer auch gefunden worden sein mag, traurige Zerstücktheit, Verworrenheit der Bruchstücke zurückgelassen haben wird; denn dieses »Wissen« wird das Zerlegte sowenig transfiguriert haben, wie es durch dieses totalisierend darstellend verkörpert wäre. Was ›in die melancholische Kontemplation aufgenommen‹ wird (334), wird nicht verinnerlicht ›verlebendigt‹, sondern bleibt gerade ›im Innern‹ tot, äußerlich, als Toter fremd – mächtig, beschwerend und unheimlich 81 N. Abraham/M. Torok: L’Écorce et le noyau , S. 266. 82 Zur Sperrung auch S. Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 210, zur Topografie der »Krypta« vgl. N. Abraham/M. Torok: L’Écorce et le noyau, S. 266f.; J. Derrida: »FORS«, S. 13ff., 19-21, 26, 39, 44f.; vgl. auch J. Kristeva: Schwarze Sonne, S. 69, 72. »Der Leichnam verbleibt wirklich im trauernden Körper, allerdings als Fremder, als lebender Toter in der Krypta an einem besonderen Ort im Ich« (L. Rickels: Der unbetrauerbare Tod, S. 25; vgl. E. Horn: Trauer schreiben, S. 25ff.; A. Haverkamp: »Kryptische Subjektivität«, S. 351-356). 83 A. Haverkamp: »Kryptische Subjektivität«, S. 349, vgl. ebd., S. 352; ders.: Laub voll Trauer, S. 17f. 84 D.i. das ›Töten der Toten‹, das »die Krypta konsolidiert«, so J. Derrida: »FORS«, S. 21. 144

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halblebendig.85 »[D]er Gegenstand unterm Blick der Melancholie« bleibt, »allegorisch«-geworden,86 »als toter, doch in Ewigkeit gesicherter zurück« (359). Demnach nehme sich, so Haverkamp weiter, das ›Ziel der Trauerarbeit‹ bei Freud und Benjamin »komplementär« aus: Will diese bei Freud, und zwar explizit im Dienste des überlebenden Ich, auf die durch »Vereinnahme« »projektiv neubelebte Welt« hinaus, so in Benjamins Konzept der kontemplativen Inkorporation auf eine »Entäußerung«,87 die das Ich dezentriert.88 Wird durch die von Freud vorgreifend von ihrem Abschluss her aufgefasste Trauerarbeit das Ich ›sich‹ konstituiert haben, indem es sich vom verlorenen Toten ablöst, was ihm die in der Trauerarbeit vermeintlich kontinuierliche, weil aufs Ende angelegte, abgeleistete »Vereinnahme« und Abarbeitung ermöglichen muss, so stirbt dagegen durch die melancholische ›Einverleibung‹, durch die Aufnahme in die melancholische Kontemplation das ›inkorporierte‹ Tote ›im Innern‹ ab und mag dadurch, sagt Benjamin, ›gerettet‹ sein, ist jedenfalls aber auf-bewahrt, und bleibt in der Kontemplation äußerlich.89 Was mit dem Konzept der melancholischen Inkorporation als das ›im Innern‹ ›Entäußerte‹, unzugänglich (in der inneren Krypta eingeschlossen) ›Ausgeschlossene‹ aufzufassen ist, zeigt barock sich allegorisch: als (von der melancholischen Versunkenheit in ihre Kontemplation aufgenommenes) ›totes Ding‹ in den Überresten unerledigter ›Trauerarbeit‹, wie sie in »wüster trauriger Zerstreuung« ent-äußert zurückbleiben (361f.). Für die Allegorie der heroi85 Zur beunruhigenden Macht des im-Inneren-eingeschlossen-ausgeschlossenen Toten/»Fremden, vgl. L. Rickels (Der unbetrauerbare Tod, S. 25), des »in die Krypta des Ich einverleibten Fremden«, der »(lebendig Tote wie ›Fremdkörper‹)«, vgl. J. Derrida: »FORS«, S. 33, vgl. S. 39, 44f.. »Eine ins Hypertrophe gesteigerte, hyberbolische Vergangenheit hat alle Dimensionen der psychischen Kunstmittel besetzt.« (J. Kristeva: Schwarze Sonne, S. 68): »Das Sprechen des Depressiven ist eine Maske« (ebd., S. 63f.), in ihm manifestiert sich die Last der Vergangenheit (die nie vergeht) (ebd., S. 61). 86 »Der Grübler, dessen Blick aufgeschreckt, auf das Bruchstück in seiner Hand fällt, wird zum Allegoriker« (»Zentralpark«, I, 676). 87 A. Haverkamp: »Kryptische Subjektivität«, S. 351; ders.: Laub voll Trauer, S. 20; vgl. S. Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 200f. 88 Jacques Derrida: »Mnemosyne«, in: ders., Mémoires. Für Paul de Man, Wien 1988, S. 17-65, hier S. 41; vgl. E. Horn: Trauer schreiben, S. 20-27. 89 Indem die Inkorporation »der Introjektion widersteht, verhindert sie die liebende und aneignende Assimilation des andren, sie bewahrt also scheinbar den andren als andren (Fremden), aber sie tut ebensowohl das Gegenteil. Es ist nicht der andere, den sie bewahrt, sondern eine Topik, die sie gesichert und von diesem Bezug zum andren unberührt erhält« (J. Derrida: »FORS«, S. 23). 145

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schen Moderne Baudelaires90 macht Benjamin diese Wendung explizit: »›L’appareil sanglant de la Destruction‹ – das ist der verstreute Hausrat, der – in der innersten Kammer der Dichtung von Baudelaire – zu Füßen der Hure liegt«.91 In Allegorien wird die Konstitution des Melancholikers lesbar; daher »würde [dieser, so A. Haverkamp] in der allegorischen Verfassung der Texte [...] die eigene Konstitution de-konstruiert« sehen.92 Die sog. ›normale‹ »Trauerarbeit« Freuds steht im Zeichen ihrer Beendigung als Ablösung vom Toten, die den Lebenden als ganzes und geschlossenes Ich (wieder-)herstelle. Genau dies unterscheide sie von der ›pathologischen‹ Trauer, die »ihrem Wesen nach«, so Freud, »noch nicht zu dem ihr gemäßen Schluß gefunden hat«.93 Die Melancholie macht, Benjamin zufolge, die ›erstaunliche Beharrlichkeit ihrer Intention‹ aus, mit der sie die Trauer ›vertieft‹ (318f.). Als der nicht auf einen Abschluss angelegte Prozeß, der sie ist, wird die Melancholie durch die Allegorie ausgeprägt, die ihr Schema ist (403f.): im Rhythmus von »versunkene[r] Anteilnahme des Kranken« und Entwertung durchs allegorische Bedeuten, von Enttäuschung durch jede (jeweilige) Bedeutung und »immer von neuem [hinzu]drängenden [...] amorphen Einzelheiten, welche allein allegorisch sich geben« (361). Es ist der Rhythmus ihrer »vergeblichen« und daher »unabsehbaren Wiederholung«, again and again lautet dazu die melancholische Auskunft R. Burtons,94 als Modus ihrer Trostlosigkeit (319). Diesen teilt die Allegorie, Schema melancholisch-unerledigter ›Trauerarbeit‹, als ihre »intermittierende Rhythmik« dem Trauerspiel mit (373). Das ›Gesetz‹ der melancholischen Trauer, worin mit Benjamin das des Trauerspiels zu lesen ist, ist die unabsehbare Wiederholung.

90 Diese hat »alle Vollmachten der barocken Allegorie geerbt« (»Zentralpark«, I, 676); die Melancolia des Ficino heißt ›illa heroica‹, weil auf dem Spiel steht, »wie es gelingen könne, dem Saturn die Geisteskraft abzulauschen und doch dem Wahnsinn zu entgehen« (I, 329). 91 »Zentralpark«, I, 676; V, 415; vgl. das barocke »Gegenstück« I, 363f.; Jean Starobinski: Melancholie im Spiegel. Baudelaire-Lektüren, München 1992. 92 Wenn, so wäre zu ergänzen, dieser Leser noch der Melancholiker wäre, vgl. A. Haverkamp: »Kryptische Subjektivität«, S. 354; ders.: Laub voll Trauer, S. 24f.. 93 L. Rickels: Der unbetrauerbare Tod, S. 17; vgl. S. Freud, »Trauer und Melancholie«, S. 198f., 209. 94 »[Th]is is […] the same again and again in other words«, sagt R. Burton: Anatomy of Melancholy, S. 5ff.. 146

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Die Wiederkehr von Gespenstern, »again and again«, so P. Fenves,95 manifestiert es, oder, Benjamin zufolge: »Gespenster wie die tief bedeutenden Allegorien sind Erscheinungen aus dem Reiche der Trauer; durch den Trauernden, den Grübler über Zeichen und Zukunft, werden sie angezogen.« (370)

In Allegorien wie Gespenstern, Gespenstern wie »tief bedeutenden Allegorien« kehrt wieder, was ›heillos‹ (von sich selbst) verschieden, der Tod, der ›unerledigt‹ bleibt; »durch den Trauernden, den Grübler über Zeichen und Zukunft, werden sie angezogen« (370), und sie teilen als gespenstische Erscheinungen (das ist ihre epistemologische Tragweite) die Gegenwart und die aller vermeintlichen Phänomene in sich selbst,96 wie auch das Subjekt des Grübelns, das sich im Bezug auf die Zeichen, die nicht sie selbst sind, auf die Spaltung, die »Zweiheit von Bedeutung und Wirklichkeit« (370), die Distanz zu sich selbst, die diese hervorbringt, konstituiert. Wenn dagegen Freuds vermeintlich ›normale‹ Trauerarbeit vorgreifend durch ihr Ende bestimmt ist, so genau dadurch, dass die Trauer nicht bei der Trauer bleibt. Als unbeendbare ›Trauerarbeit‹, die es nicht zur Lösung vom, nicht zur Ersetzung des Verlorenen bringt, ist die Melancholie, wie auch mit Freud selbst expliziert werden kann, nicht die ›pathologische‹ Version, der die ›normale‹ als gelingende entgegenzuhalten wäre. Vielmehr führt die Melancholie die Unlösbarkeit des »Ambivalenzkonflikts«, von dem (gerade Freud zufolge) keine Objektbeziehung frei ist, aus und auf.97 Sie 95 So P. Fenves: »Tragedy and Prophecy«, S. 234; vgl. S. Weber: Theatricality as Medium, S. 182, 187. Durch die Wiederkunft hat das Trauerspiel an der uneigentlichen Zeitlichkeit teil, in die das Trauerspiel seine Toten entrückt (»Trauerspiel und Tragödie«, II, 136f., »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«, II, 139). 96 »Vor allem muß die Gleichzeitigkeit der Gegenwart mit sich selbst bezweifelt werden.« (J. Derrida: Marx’ Gespenster, S. 62) »The schema of return defines thinghood for the mourner in the first and last place – and defines it as ghostly, haunted by its own enigmatic phenomenality.« (P. Fenves: »Tragedy and Prophecy«, S. 234; vgl. S. Weber: Theatricality as Medium, 182f.; N. Binzek: »Bannung des Geistes. Gespenstische Erscheinungen in ›Cardenio und Celinde‹«, S. 93f., 73f., 82f.). 97 Es handelt sich um eine gleichsam theatrale Aufführung dieser Umformung des Ambivalenzkonflikts in einen Konflikt im Ich, in der es sich aufspaltet (S. Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 204f., 210), der »in die Krypta des Ich einverleibte Fremde« als der »(lebendig Tote wie ›Fremdkörper‹)« (J. Derrida: »FORS«, S. 33); auf Freuds zwei Jahre zuvor entstandenen Aufsatz 147

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macht die Paradoxien der vermeintlich ›gelingenden‹ Trauerarbeit lesbar, die proleptisch bereits auf ihre Beendigung in der endgültigen Ablösung vom Toten als dem ›Triumph des Lebenden‹ angelegt ist, so dass – wie Derrida akzentuiert hat – die Trauer gerade im Gelingen, das sie in ihrem Abschluss finde, sich verfehlt.98 Demnach gibt es nur das Scheitern der Trauer, und zwar in zwei Versionen: einerseits als Misslingen der »Trauerarbeit«, die melancholisch nicht zu jenem Ende kommt, auf die sie es anlege, andererseits als die völlige Abwesenheit von Trauer, wo die Trauerarbeit ›gelingt‹ und beendet wird, indem der Überlebende sich auf die Seite des Lebens schlägt und »sich durch die Summe der narzisstischen Befriedigungen, am Leben zu sein, bestimmen [lässt], seine Bindung an das vernichtete Objekt zu lösen«, einem Ende mit unverkennbarer Nähe zum manischen »Triumph«.99 Benjamin kennzeichnet die melancholische Nicht-Erledigung der ›Trauerarbeit‹ als die spezifische melancholische »Treue« (333f.). Freud fasste die Trauer in Hinsicht des Abschlusses ihrer Arbeit ›in terms of object-relationship‹.100 Dagegen ist die Melancholie nicht (durch den Bezug auf ein konkretes Objekt) bestimmt, sondern sie bindet sich an einen unbestimmten Verlust, der durch kein Ersatz-Objekt zu heilen oder darzustellen ist. Bezeugte Freud zufolge die Ersetzung des verlorenen Objekts den Abschluss der Trauerarbeit, den sie zugleich belohnt, so hält sich dagegen die Melancholie als die ›maskenhafte Neubelebung‹ an die ›Verstellung‹, an die Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen (1912/3) weist E. Horn hin (Trauer schreiben, S. 18f. S. 26). 98 Vgl. J. Derrida: »Mnemosyne«, S. 41, 59. 99 S. Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 209. Wenn in der vermeintlich ›normalen‹ Trauer die Trauerarbeit, »das Ich dazu bewegt«, den Toten »für tot« zu erklären, um »die Prämie des Amlebenbleibens« einzustreichen (ebd., S. 211), so ist fraglich, ob/ wie sie von Manie unterscheidbar wäre (ebd. S. 208f.; zu den historischen Redeweisen von »Manie und Melancholie« vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M.1969, S. 268285, hier S. 282ff.) »Es gibt keine ›normale‹, nicht melancholische Trauer – es sei denn die vollkommene Abwesenheit von Trauer im Ersatz, jener triumphierenden Sucht nach neuen Libidobesetzungen, die die Psychoanalyse als Manie beschreibt.« (E. Horn: Trauer schreiben, S. 19f.). Demnach sind die beiden Ausgänge der Trauer durch Manie und Melancholie bezeichnet (ebd., S. 19f.; vgl. J. Kristeva Schwarze Sonne, S. 71f., 75f.). 100 Dazu und zu Lacans Kritik, vgl. B. Freedman: »Naming Loss: Mourning and Representation in Twelfth Night«, S. 193ff., 208-214; der Bezug auf einen ursprünglichen unrepräsentierbaren Verlust konstituiert das Ich, indem es eine Spaltung: im Bezug auf seine eigene Andersheit, erfährt (vgl. ebd., S. 213ff., 219ff., 233). 148

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Schrift, die die Leere supplementiert, und die sie umgekehrt an die vorausliegende Leere (die durch ihr Supplement nachträglich bezeichnet und festgehalten ist), als an die ursprüngliche Differenz zu sich selbst bindet. Im Blick des Melancholischen sind diesem, als dem in dieser Relation sich konstituierenden betrachtenden Subjekt, die Gegenstände (deren ›Gegebenheitsweise‹ die Melancholie ist) als Zeichen, und das heißt: durch die heillose Verschiedenheit der Dinge von sich selbst, als allegorische (343), gegeben. Sie beziehen die Melancholie stest wieder auf den unrepräsentierbaren Mangel, den sie melancholich bezeugen. Die nicht (durch den Verlust eines konkreten Objekts) bestimmte Melancholie wird durch die Allegorie nicht dargestellt, sondern diese ist das Schema der Melancholie, der nichts, was erscheint, ›wesentlich‹ es selbst ist (das ist die Epistemologie der Allegorien wie der Gespenster (370)), der vielmehr »jedes unscheinbarste Ding« sich entzieht, so dass es »als Chiffer einer rätselhaften Weisheit auftritt« (319, vgl. 403f.). Die Allegorie bedeutet etwas anderes, als sie bildlich vorstellt, ja, sie »bedeutet [...] genau das Nichtsein dessen«, was bildlich vorgestellt werde (406). Sie stellt die unrepräsentierbare melancholische Trauer dar, insofern sie den unbestimmten, daher undarstellbaren Verlust, für den sie einsteht und den sie als den Riss des ›Todes‹ (»von jeher«), der der ›Ursprung der Bedeutung‹ und der der Trauer zugleich ist, in dem sich das allegorische Zeichen konstituiert, bezeichnet und mit der Schaustellung an seiner Stelle ratifiziert. Die Melancholie der Kunst, bzw. der Darstellung, bekundet sich, so S. Kofman, in dem Rest, der von jeder Darstellung bleibt, der den Verlust durch die Repräsentation und an sie bezeugt.101 Er begegnet als das Bild, das opak102 das ›Dargestellte‹ sperrt, diesem fremd als totes »Double des Lebendigen« oder »wie ein Wiedergänger«.103

101 Vgl. S. Kofman: Melancholie der Kunst, S. 13-16, 20f.. Weil im Konzept der Ästhetik die Kunst »den subjektiven Inhalt, den Geist*, in einer sinnlichen Form darstellen soll« (ebd. S. 13), »beunruhigt« »die Kunst ›den Geist‹ seltsam«, »weil mit der Kunst ein nicht aufhebbarer ›Rest‹ einhergeht« (ebd., S. 15f). 102 Vgl. L. Marin, Porträt des Königs, S. 14f.. 103 »[D]ie Kunst [»beunruhigt«] ›den Geist‹ seltsam […], [wirft] ihn aus der Bahn […] wie ein Wiedergänger, ein unheimliches Gespenst, das sich nicht im trauten (heimlichen), im allzu trauten Heim des Geistes anketten ließe« ( S. Kofman: Melancholie der Kunst, S. 15f.). Die Kunst gewinnt faszinierende und »beunruhigende Fremdheit« im »Double des Lebendigen«, das 149

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Melancholische Treue ― und Verrat Die ›grundlose‹, nicht durch einen Gegenstand bzw. dessen Verlust bestimmte, melancholische Trauer vertieft sich, abgründig, ›ohne Grund‹ zu finden. Nimmt die vorgeblich ›normale‹ Trauerarbeit, sich selbst vorgreifend, als ihr Ende die Ersetzung des verlorenen Objekts in Aussicht, wird dem melancholischen Blick jeder Gegenstand stets wieder nichts anderes als die Verstellung sein, die den Mangel anzeigt, der von jedem Objektbezug und -verlust verschieden ist. Die »offene Wunde« der Melancholie104 wird als nicht-repräsentierbarer Mangel durch die Allegorie ›dargestellt‹, und zwar weil er durch die Allegorie nicht dargestellt,105 sondern aufgeführt wird. Die Allegorie bezeichnet nicht nur die vorausliegende Dissoziation, sondern reißt sie bedeutend stets wieder auf; sie bezieht sich auf eine Leere, die sie ursprünglich begründet, und die sie umgekehrt gerade als Schaustellung an ihrer Stelle stets wieder bekundet haben wird. Das ist die Treue der melancholischen Trauer, die sich in »unabsehbare[r] Wiederholung« ›vertieft‹.106 Benjamin spricht von der »Beharrlichkeit, die in der Intention der Trauer sich ausprägt« (334), als der »Vertiefung ihrer Intention« (318).107 Ist diese »Beharrlichkeit« in ihrem Rhythmus »aus ihrer Treue zur Dingwelt geboren« (334), so umgekehrt auch diese deren Ausdruck. Diese Treue der Melancholie ist aber vom Verrat untrennbar; sie ist gar nichts anderes als dessen Rückseite. Denn die Melancholie, so akzentuiert Benjamin, verrät die »Welt um des Wissens willen« (334), das die ›Chiffern rätselhafter Weisheit‹ dem Melancholischen zu versprechen scheinen, dem er ›in den Tiefen‹ nachgeht, und von »den Platz dessen eingenommen hat, den es verschlungen hat, und dadurch in gewisser Weise erhöht wurde« (ebd., S. 18). 104 S. Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 206; vgl. 211; vgl. E. Horn: Trauer schreiben, S. 36. 105 Vgl. E. Horn: Trauer schreiben, S. 32-36; L. Rickels: Der unbetrauerbare Tod, S. 15; sowie in Fragmente 44/5 in den Beiträgen von H.-D. Gondek, S. 111, 109ff.; K. Dahlke, S. 152f.; U. Dünkelsbühler, S. 240-242. 106 »Die Treue ist der Rhythmus der emanatisch absteigenden Intentionsstufen« (I, 334; vgl. I, 319; »Trauerspiel und Tragödie«, II,136). 107 »Auf der Straße zum Gegenstande – nein: auf der Bahn im Gegenstande selbst – progrediert diese Intention« (I, 318); und der »Neigung, mit welcher Tiefsinn sich zur Gravität gezogen fühlt«, »entsprang« der »leidenschaftliche Anteil am Prunke der Haupt- und Staatsaktionen«, d.i. die »Verwandtschaft von Trauer und Ostentation« (I, 319; vgl. I, 299), die in Haupt- und Staatsaktionen von der possenhaften Komik untrennbar ist. 150

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dem er sich in abgründige, in zwielichtige Tiefen ziehen lässt. Das kennzeichnet diesen Trieb zu wissen und das Wissen, das ihn hinabzieht, als verfehlt (402ff.). Die ›Welt‹ verratend, zeigt die Melancholie ihre »Treue«, indem sie »die toten Dinge in ihre Kontemplation auf[nimmt], um sie zu retten« (334). Umgekehrt gibt sich des Intriganten »Untreue gegen den Menschen« zu verstehen als dessen »in kontemplativer Ergebenheit geradezu versunkene[] Treue gegen diese Dinge«, das sind die Insignien der Macht und »Requisiten im Sinn des Schicksalsdramas« (333).108 Am Intriganten liest Benjamin ab: »Restlos angemessen ist Treue einzig dem Verhältnis des Menschen zur Dingwelt« (333); sie ist die »hoffnungslose Treue zu dem Schuldgesetze seines Lebens« und diese der Modus seines »trostlose[n] und schwermütige[n] Anheimfall[s] an eine für undurchdringlich erachtete Ordnung unheilvoller Konstellationen«, die in den »Requisiten« »einen geradezu dinglichen Charakter annimmt« (333). Diese »Treue« setzt die Verschiedenheit des Dings von sich selbst voraus, die dieses erst zum Zeichen, zum allegorisch bedeutenden109 und zum tot-halblebendigen Ding macht. Sie ist des Melancholischen Be-Schattung durch und seine trostlose Gebundenheit an den ursprünglichen unbestimmten Verlust. Benjamin gewinnt nicht zuletzt den Studien der Warburgschule die Akzentuierung der melancholischen »Treue« gegen die Dinge ab,110 wie er durch die ambivalente, Verrat am Lebendigen übende, Treue der Trauer die Freud’sche Auffassung der Melancholie, derzufolge sie als pathologische von der ›normalen‹ Erledigung der Trauerarbeit zu unterscheiden wäre, umakzentuiert. Als Trauer, die nicht bereit ist, die Besetzung vom Toten abzuziehen, ist die melancholische mise en conserve des Toten Gedächtnis-Bildung,111 wie damit umgekehrt die Melancholie des Gedächtnisses, das das Tote

108 Vgl. oben in II. Dramaturgie der Intrige. 109 Benjamin stellt den Zusammenhang des »fatalen Requisits« mit den »Requisiten« des Bedeutens her (I, 304f.; vgl. I, 398, 347). 110 Vgl. E. Panofsky/F. Saxl: Dürers ›Melencolia I‹, S. 5. 111 Zu erinnern ist, dass die »Arbeit« der Trauer, wenn die »Realitätsprüfung [...] gezeigt [hat], daß das geliebte Objekt nicht mehr besteht«, darin besteht, dass deren unerfüllbarer »Auftrag«, »alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen«, »im einzelnen unter großem Aufwand von Zeit und Besetzungsenergie durchgeführt und unterdes die Existenz des verlorenen Objekts psychisch fortgesetzt» wird (S. Freud: »Trauer und Melancholie«, S. 198f.). Das melancholische Gedächtnismodell ist die Krypta, die den Toten fremd ein- und abschließt (d.i. im Innern ausschließt). 151

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›behält‹ und ›Treue zu den Dingen‹ hält, kenntlich wird.112 Die Ikonografie selbst zeigt sich durch ihre »Treue«, mit der sie an den Dingen festhält, melancholisch. Das so zweideutige »Fortleben« der antiken Götter, die, so Benjamin mit Anhalt an die Warburg-Schule, ihr Nachleben in allegorischer Dinglichkeit, in der deren Leiblichkeit gebannt war, fanden,113 ist ein Modus trauernder ›Treue‹, die dem Bann des Abgestorbenen und mit diesem (der Topographie) der uneigentlichen Zeitlichkeit des wiederkehrenden Gespenstes untersteht.114 Umgekehrt zieht der melancholisch Trauernde dessen unheimliche Wiederkünfte an (370). Bei der Melancholie handelt es sich demnach nicht bloß um einen Gegenstand von Kulturgeschichte, sondern vor allem auch um deren eigenen Blick und Gestus. Gelesen werden muss die Melancholie der Kulturgeschichte115 als ihre ›Gegebenheitsweise von Gegenständen‹,116 zu lesen ist der Gegenstands-›Bezug‹ der Kultur-Geschichtsschreibungen als undurchschaute Gegenstandskonstitution, als Herstellung von Gegenständlichkeit unter dem Blick des Historikers. Benjamin hat mit der Zitation als seiner ›historiographischen‹ ›Technik‹, die zerschlägt und konserviert zugleich,117 einen textuellen Gestus ausgebildet, der 112 Vgl. I, 363f.; Dürers Melencolia I ist wie/als ein Stilleben Gedächtnisbild, das die barocke Wissensform antizipiert (vgl. I, 319) und stellt Gedächtnis her (vgl. etwa die Gedichte auf das Blatt in L. Völker (Hg.): »Komm, heilige Melancholie«.Eine Anthologie, Stuttgart 1983, S. 445-481; vgl. K.-P. Schuster: »Das Bild der Bilder. Zur Wirkungsgeschichte von Dürers Melancholiekupferstich«). Das barocke Gedächtnis-Modell ist die Bibliothek, der »bloße Fundus düstrer Prachtentfaltung«, der in Emblembüchern vorliege (I, 404), die »Polter- und Vorratskammer«, die die Werke sind (I, 363f.). 113 Vgl. I, 397ff. 400f.; vgl. Friedrich von Bezold: Das Fortleben der antiken Götter im mittelalterlichen Humanismus, Bonn, Leipzig 1922 (repr. 1962) (Verzeichnis der gelesenen Schriften, VII, 453, Nr. 889); A. Warburg: »Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten«, S. 231, 247, 259f.; vgl. auch Passagen-Arbeit, V. 415. 114 J. Kristeva spricht von: »Verhaftetsein an ein Gedächtnis ohne ein Morgen« (Schwarze Sonne, S. 69; vgl. S. 174). Das führt die Zitationspraxis von Burtons Anatomy of Melancholy vor. 115 Vgl. B. Hanssen: »Portrait of Melancholy«, H. Caygill: »Walter Benjamin’s concept of cultural history«; dies hat die Form der Rehabilitation bei H. Böhme: »Melancholie der Kritik«, S. 28-36; gegen die melancholische Fixierung vgl. A. Haverkamp: »Melencolia illa heroica: Die Sackgasse der Benjamin-Kritik«, Vortrag auf dem Internationalen Walter Benjamin Kongress Berlin, 21. Oktober 2006. 116 Wie zitiert: A. Haverkamp: »Kryptische Subjektivität«, S. 350; ders.: Laub voll Trauer, S. 19. 117 Vgl. »Zentralpark« I, 666; Passagen-Arbeit V, 414f.; V, 595, N 11,3; V, 574f. N 2,3. Das gilt auch für die Selbstzitationen Benjamins u.a. im Trauerspielbuch, vgl. L. Rickels: »Suicitation«, S. 143f.; vgl. auch die J. Derri152

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nachträglich einen Gegenstand hervorgebracht haben wird und sich zugleich zur Faktur seiner Gegebenheit selbst-expositiv in Bezug setzt. Die Melancholie vertieft sich abgründig, sich versenkend, ohne Grund zu finden, da sie nicht durch den Bezug (des Verlustes) auf einen konkreten Gegenstand bestimmt ist, durch dessen Ersetzung sie abgeschlossen und beendet werden könnte.118 Die melancholische Wunde eines unrepräsentierbaren, nicht-bestimmten Verlusts stellt die Allegorie (nicht) ›dar‹, denn sie hält vielmehr, so E. Horn, »die Diskrepanz zwischen der Unsagbarkeit des Mangels und der Sprache dieses Mangels offen«.119 Umgekehrt ist die Trauer, so Benjamin, »zugleich die Mutter der Allegorien und ihr Gehalt« (403). Denn im ›Ursprung der Bedeutung‹, d.i. die »Zweiheit von Wirklichkeit und Bedeutung« (370), ist Trauer; »Bedeutung begegnet als der Grund der Traurigkeit« (383f.).120 Daher steht die »von einem unüberbrückbaren Abstand zwischen Darstellung und Dargestelltem gezeichnet[e]« Allegorie nicht nur »im Dienste einer unabschließbaren Trauerarbeit«,121 sondern sie ist selbst deren Schema.

das u. dazu Peter Krapp: »Wer zitiert sich selbst? Notizen zum Suizitat«, in: V. Pantenburg/N. Plath (Hg.), Anführen – Vorführen – Aufführen: Texte zum Zitieren, Bielefeld 2002, S. 105-128. 118 Von Verabgründigung durch Melancholie spricht N. Müller-Schöll: Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, S. 112. Es ist aber nicht die einer vorausliegenden Kluft, wie immer sie bestimmt sei: »als Kluft zwischen Weltgeschichte und Heilsgeschichte« (ebd.), oder »the loss of divine meaning« (so aber M. Pensky: Melancholy Dialectics, S. 93, der auf eine der Subjektivität der Melancholie entgegengesetzte objektive Trauer Wert legt, ebd., S. 57, 108-117, 138), oder der ursprüngliche des mütterlichen »Urobjekts«: Vielmehr »existiert« das ›Unrepäsentierbare‹, ›Unnennbare‹, »jenes immer nur zu übersetzende ›An sich‹, letzte Ursache der Übersetzbarkeit, [so auch Kristeva] nur für und durch den bereits konstituierten Diskurs und das konstituierte Subjekt« (Schwarze Sonne, S. 75). Die »Obsession des Urobjekts« kann nur (jede Übersetzung sperrend) die Un-Form des Realen, des Todes haben, oder sie übersetzt sich und endet »im Verrat schlechthin des einzigen Dings an sich: der Res divina« (ebd., S. 75f.). 119 E. Horn: Trauer schreiben, S. 36. 120 Vgl. »Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«, II, 138f.; der Natur bleibe, »nur gelesen zu werden« und nur so, »unsicher durch den Allegoriker gelesen und hochbedeutend nur durch ihn geworden zu sein«; das gibt »eine Ahnung von Trauer« (I, 398). 121 C. Wild: »Fleischgewordener Sinn«, S. 126. J.-L. Nancy zufolge ist »›Trauerarbeit‹ [...] die eigentliche Arbeit der Repräsentation. Am Ende wird der Tote repräsentiert, also auf Distanz gehalten. Trauer jedoch kennt keine Grenzen und keine Repräsentation. [...] Sie unterscheidet nichts, sie repräsentiert nichts. Es handelt sich also um das Entstehen dieses nichtrepräsen153

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Denn die Allegorie wird (noch) jedem jeweils von ihr bildlich Vorgestellten eine Zweiheit in sich selbst ablesen, die die Erscheinung zweifelhaft macht und entzieht.122 Führt jede Repräsentation des Verlorenen als »dauernde Verstellung ihres Gegenstandes« den Verlust dadurch herbei, dass die Darstellung sich abschließend fixiert,123 so ist die Allegorie der Einspruch gegen diese darstellende Abschließung. Zum einen »bedeutet [das bildlich Vorgestellte als »Allegorie«, sich von sich selbst scheidend] etwas anderes als es ist. Und zwar bedeutet es genau »das Nichtsein dessen, was [...] vor[ge]stellt« werde (406). Zum anderen hält aber die Allegorie, indem tierten Toten« (»Entstehung zur Präsenz«, in C.L. Hart Nibbrig (Hg.) Was heißt Darstellung?, S.102-106, hier S. 102). 122 J. Kristeva, die sich damit auch auf Benjamin bezieht, situiert die Allegorie (anders) bezüglich des Imaginären: als »Raum einer Subjektivität, die notwendig heterogen ist und hin- und hergerissen zwischen zwei zugleich notwendigen und gleich gegenwärtigen Polen der Opazität [»der Dinge wie die des jeder Bedeutung entkleideten Körpers«] und des Ideals« (Schwarze Sonne, S. 110ff.). Beginne hier »eine subtile Alchimie der Zeichen« als Metamorphose »zwischen Nicht-Sinn und Sinn, Satan und Gott, Fall und Wiederauferstehung« mit »schwindelerregende[r] Orchestrierung dieser beiden aufrechterhaltenen Grenzthematiken«, die »in Zeiten einer bis in die Grundfesten einer Zivilisation reichenden Krise der Werte zurück[treten] und [...] der Melancholie keinen anderen Spielraum [lassen] als den der Fähigkeit des Signifikanten, sich ebenso mit Sinn aufzuladen wie auch, sich in Nichts zu vergegenständlichen« (ebd. S.110), so sei es die Allegorie, »die am nachdrücklichsten die melancholische Spannung verwirklicht«: »Dem verlorenen Signifikanten gibt sie eine sinnstiftende Freude, noch Stein und Leichnam verleiht sie jubilatorische Wiederauferstehung und bekräftigt sich auf diese Weise als koextensiv mit der subjektiven Erfahrung einer benannten Melancholie: dem melancholischen Genießen« (ebd. S. 111f.). So bestimmt Kristeva »das Universum des Imaginären als bezeichnete Traurigkeit, aber umgekehrt auch als nostalgisches, bezeichnendes Frohlocken über einen grundlegenden, nährenden Nicht-Sinn, das eigentliche Universum des Möglichen.« (ebd., S. 110f.). Kristeva akzentuiert der Allegorie »antithetisches Wesen, ihr Potential an Zweideutigkeit und die Unbeständigkeit des Sinns, die sich trotz ihrer Absicht einstellt, dem Schweigen und den stummen Dingen (den antiken oder natürlichen daimones) Signifikate zuzuweisen. Als provisorischer Fetisch« enthülle die Allegorie »nachdrücklich« die »Logik des Imaginären«, der sie »selbst eingeschrieben« ist: »Denn das Imaginäre erfahren wir [...] als ein Entzünden toten Sinns durch einen Sinnüberschuß, worin das sprechende Subjekt zunächst den Schutz eines Ideals entdeckt, dann aber vor allem die Chance, in Illusion und Desillusion noch einmal mit ihm zu spielen.« (ebd. S. 112). 123 Die Repräsentation des Verlorenen fixiere »ihre eigene Nachträglichkeit« und führe derart den Verlust herbei (M. Wagner-Egelhaff, Melancholie der Literatur, S. 134f.). »Representation is thus figured as a performing of loss.« (B. Freedman: »Naming Loss: Mourning and Representation in Twelfth Night«, S. 226). 154

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sie metafigurativ – in der selbstreferentiellen Wendung auf die eigene »Faktur« (355) – die ursprüngliche Disjunktion bezeichnet, die das allegorische Zeichen konstituiert, die jedes Bedeuten voraussetzt und auferlegt (s. unten in IV.), doch melancholisch, aber lesbar die »betrauerte Leere« fest, die sie »unaufhebbar zwiespältig« besetzt.124 Die ›maskenhaften Neubelebung‹ vertieft den heillosen Abgrund, vor dem das Leben sich ›tief entsetzt‹, dessen Schrecken sie erwidert, ohne dass der Maskenzug (an seiner Stelle) ihn, sich selbst abschließend, verstellte. Die Allegorie, die stets auch die ursprüngliche Distanz zu sich selbst, in der sich das allegorische Zeichen konstituiert, bezeichnet, artikuliert die Melancholie der Kunst als die des durch die Darstellung (je wieder) herbeigeführten Verlustes. Aber von jeder Darstellung bleibt, S. Kofman zufolge, ein ›Rest‹ und das ›Bild‹ dem, (dem »Geist*«) was es vermeintlich »sinnlich« darstelle, fremd wie der Kadaver.125 Die Trümmer, die das allegorische Bedeuten ›abgestorben‹ zurücklässt, an denen die Allegorie »festhält«,126 stehen für die melancholische Fuge zwischen Dingen und Zeichen/in den Dingen ein. Wenn die Melancholie also einerseits den Riss, die Geschiedenheit von sich selbst vertieft, indem sie diese in allen Erscheinungen wieder›erkennt‹ und in jeder ›maskenhaften Neubelebung‹, die sie vornimmt, remarkiert, so dass sie sich selbst trostlos abgründig vertieft, so hat sie aber andererseits eine Tendenz zur Schließung. Denn die Melancholie bezieht den (ursprünglichen) Mangel und damit

124 In der Schrift, »in der die betrauerte Leere […] verschwindet«, wird sie, so N. Müller-Schöll nach Benjamin, »auch als verschwindende festgehalten« (Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, S. 123); »unaufhebbar zwiespältig besetzt die Trauer die Leere, indem sie sie festhält – und hält sie fest, indem sie sie besetzt« (ebd. S. 114). 125 Weil die Philosophie will, dass die Kunst »den subjektiven Inhalt, den Geist*, in einer sinnlichen Form darstellen soll« (S. Kofman: Melancholie der Kunst, S. 13), begegnet ihr »mit der Kunst ein nicht aufhebbarer ›Rest‹«; und diese trage »gleichsam Trauer um die Philosophie«, vollzieht eine »von keiner überwindenden Dialektik aufhebbare Trauerarbeit« (ebd. S. 15f. u. 20). »Die Faszination durch die beunruhigende Fremdheit der Kunst ist die gleiche, die auch der Leichnam hervorruft, dieses Double des Lebendigen, das [...] viel imposanter, viel kolossaler [...] den Platz dessen eingenommen hat, den es verschlungen hat, und dadurch in gewisser Weise erhöht wurde« (ebd. S. 18; vgl. Maurice Blanchot: »Die zwei Fassungen des Bildlichen«, in: T. Macho/K. Marek (Hg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007, S. 25-36, hier S. 26f., 29). 126 Vgl. Passagen-Arbeit, V, 415. 155

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sich selbst mit trauernder Beharrlichkeit stets auch nostalgisch auf eine vermeintlich fehlende Ganzheit.127 Beide Aspekte der Melancholie führt das Trauerspielbuch an dessen Ende aus, wo es die melancholische Vertiefung im »Abgrund bodenlosen Tiefsinns«, dem die »Gravität« der Versenkung verfällt, im »Sturze Satans« theologisch modelliert (404) – und schließlich die Bilder des Tiefsinns in die Allegorie der Auferstehung umschlagen und einer »Ökonomie des Ganzen« unterstellen lassen wird (406f.).128 »[A]lle Weisheit des Melancholikers ist der Tiefe hörig«, heißt es, »gewonnen aus der Versenkung ins Leben der kreatürlichen Dinge und von dem Laut der Offenbarung dringt nichts zu ihr« (330). Das »Materialische«, das die Melancholie ihrer traditionellen Auffassung zufolge nicht zu transzendieren vermochte, erhielt mittelalterlich als Dämonisches die »Gestalt des Satan« (400f.). Die »absolute Geistigkeit«, die »unbedingt und zwangshaft mit unmittelbarem Tiefsinn aufs absolute Wissen« gehe,129 sei es, die »im Satan gemeint ist« (403), der umgekehrt die »– hier allein entseelte – Stofflichkeit« zur »Heimat« werde (403). Derart prägt Benjamin das »schlechthin Materialische und jenes absolute Geistige« zu polarer Dichotomie als die »Pole des satanischen Bereichs« aus (404). Diese Polarität von »absolute[r], das ist gottlose[r] Geistigkeit« und »dem Materialischen«, dem sie »als Gegenstück […] verbunden« ist (403), ist auf beider ›exzentrischen Umsprung‹ angelegt. Wie die »Erdtiefe«, an die sich melancholischer Tiefsinn verliere, im Satan dämonische »Gestalt« gewann, so zeichnet Benjamin satanische Zü127 So Jacques Derrida, der auf die Möglichkeit der Bejahung der Absenz verweist (»Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1972, S. 422-442, hier S. 440-442; vgl. »Einleitung« in Fragmente 44/5, S. 7f.). 128 Das »Universum des Imaginären als bezeichnete Traurigkeit, aber umgekehrt auch als nostalgisches, bezeichnendes Frohlocken über einen grundlegenden, nährenden Nicht-Sinn«, sei, so Kristeva, »das eigentliche Universum des Möglichen. Möglichkeit des Bösen als Perversion und des Todes als oberster Nicht-Sinn. Aber auch, und dies aufgrund der aufrechterhaltenen Bedeutungshaftigkeit dieser Verdüsterung, unendliche Möglichkeit von Wiederauferstehung, Ambivalenzen, Polyvalenzen« (Schwarze Sonne, S. 110f.). Benjamin habe das »melancholische Substrat jenes Imaginären hervorgehoben, das der klassischen wie auch katholischen Stabilität verlustig ging und nun darauf aus ist, sich [...] mit neuem Sinn zu versehen, der indessen wesentlich von Enttäuschung gezeichnet bleibt, zerrissen von der Schwärze oder der Ironie des Fürsten der Finsternis« (ebd. S. 180). 129 Zum Willen zum Wissen nach Benjamin vgl. C. Menke: »Tragödie und Skeptizismus«, S. 564f.; ders.: Die Gegenwart der Tragödie, S. 257f. 156

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ge in der der ›Sehnsucht‹, die diese Versenkung leitet, Hohn sprechenden, höllischen »Lustigkeit, aus der unverstellt die Teufelsfratze hervorbleckt«, mit der verglichen, so Benjamin, »unversehens« die Trauer, die »falsche Heiligkeit, [die] das Versinken des sittlichen Menschen so drohend macht«, »in all ihrer Verlorenheit« »nicht hoffnungslos« erscheine (306).130 Die Versenkung, die dem verfehlten ›Trieb‹ zum absoluten Wissen (404) folgt, schlägt in eben jenen düsteren Bildern, die die Melancholie ihrer Trostlosigkeit und Unendlichkeit zu versichern scheinen, ›zuletzt‹ um in Allegorien. Als ›Allegorien der Auferstehung‹ bedeuten sie die bloße ›Subjektivität‹ des Vorgestellten, den leeren Schein der trostlosen Unendlichkeit der Verworfenheit ›der Welt‹ wie den der Unendlichkeit des »Progre[sses] in die Tiefe« als des »leeren Abgrunds des Bösen« (404); die desperatio war Versagen in Theodizee. Das »schlechthin Böse, das als bleibende Tiefe sie [die Allegorie] hegte«, bedeutet »etwas anderes«, »als es ist«, d.i. »genau das Nichtsein dessen, was es vorstellt« (406). Die melancholische Unendlichkeit der Verworfenheit ›der Welt‹ ist als deren bloße Subjektivität, deren Partikularität im Satan auftritt,131 in die »Ökonomie des Ganzen« (407) eingezogen.132 Das trägt das Trauerspielbuch allerdings »nun erst« nach (406): Die melancholische Trostlosigkeit der Dinge, mit denen sich die Melancholie aufhält, erweist sich als bloß ›scheinbar unendlich‹, als bloß ›subjektiv‹ – Benjamin sagt: ›beschämt‹ – in jener Perspektive, die zuletzt, aber auch »nun erst im rückwärts gewandten größten Bogen« (406, Hvhg. BM) umspringend, »in Gottes Welt«, ›im Ernst unterm Himmel‹ soll heißen können. »[N]un erst« und »im rückwärts gewandten größten Bogen« wird nachträglich, mit der Allegorie der Auferstehung, das »Ganze« als der nachträgliche Grund der Melancholie immer schon gegeben sein, so dass sie sich (gerade in ihrer Tiefe, der Unendlichkeit der Verworfenheit) als bloße SelbstTäuschung beschämt sehe. »[Die Gegenstände der Melancholie,] in denen des Verworfnen sie am völligsten sich zu versichern glaubt, [...] haben das, als was sie dastehn, 130 Vgl. dazu das Trauerspiel-Personal (I, 404), Fürst (I, 321, 330) und Intrigant (I, 333); vgl. oben in II. Dramaturgie der Intrige. 131 Dies sei das »entscheidende theologische Präjudiz« des Trauerspielbuches, U. Steiner: »Allegorie und Allergie«, S. 688ff.. 132 Zu lesen wäre das in John Miltons Paradise Lost (1667), das Benjamin wohl nicht kannte. 157

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nur vor dem subjektiven Blick der Melancholie; sind dieser Blick, den seine Ausgeburten vernichten, weil sie nur seine Blindheit bedeuten. Sie weisen auf den schlechthin subjektiven Tiefsinn, als dem sie einzig ihr Bestehn verdanken.« (406)

Wenn die Melancholie derart in ihren Gegenständen auf ihren Blick selbst (als auf die bloße Subjektivität ihrer Gegebenheit) treffen wird, so wirft die Organisation von Benjamins Abhandlung, die hier dazu zwang, weit, auf die letzten Seiten des Trauerspielbuches vorzugreifen (s. unten in IV.), die Frage nach dem Ort dieser ihrer Erkenntnis auf: Ist sie dem Melancholiker möglich? ist sie jenseits oder diesseits der Melancholie? wird sie dort möglich, wo die »melancholische Intention« einem »Ganzen« – nachträglich – bereits eingefügt, gegenstandslos, sich zeigt (407)? Wenn »die Intention zuletzt im Anblick der Gebeine nicht treu verharrt, sondern zur Auferstehung treulos überspringt« (406), so geschieht das, indem ihr die ›Bilder‹, die sie der Unendlichkeit des ›Bösen‹ versicherten, in Allegorien, die etwas anderes bedeuten, umschlagen. Dies Umschlagen entspricht, gerade als das »ihre[r] letzten Gegenstände, in denen des Verworfnen sie am völligsten sich zu versichern glaubt, in Allegorien«, dem »Wesen melancholischer Versenkung« selbst (406). So sieht der Melancholiker, so A. Haverkamp, der in Allegorien »die eigene Konstitution« zu lesen bekommt, »in der allegorischen Verfassung der Texte bestenfalls die eigene Konstitution de-konstruiert«.133 – Bestenfalls, denn nicht nur mag der Melancholiker sich dem Einbezug in die Lektüre sperren, sondern dieses Lesen würde auch nicht mehr zur Erkenntnis des Melancholikers. Die Melancholie des modernen Subjekts »weiß«, so pointiert A. Haverkamp anderswo, »was es als Subjekt gerade nicht weiß«, »ein Sich-selbst-nicht-ganz-Wissen« und ein »Esselbst-auch-nicht-ganz-sein«.134 Dieses ›Wissen‹ ist das der Allegorie, das der metafigürlichen Selbstreferentialität ihrer Faktur. Die Melancholie der Zeichen, die auf eine verlorene grundlegende Totalität bezogen ist, ist nur deren eine Seite, zu der als deren andere die Bejahung der Absenz im Spiel gehört, die diese aus der melancholischen Bindung an die Präsenz als Begründung und telos löst.135 Es ist das »Spiel«, das die melancholische Trauer, 133 A. Haverkamp: »Kryptische Subjektivität«, S. 354; ders.: Laub voll Trauer, S. 24f.. 134 A. Haverkamp: »Perpetuum Mobile«, S. 48. 135 J. Derrida: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel«, S. 436-442, 441. 158

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die sich an »the play of disappearing appearances« hält und dieses aushält, mit P. Fenves Akzentuierung, »for all its gravity«, auch ist: »since nothing is done by this work but reproduce its original conditions«.136 Indem die Supplemente den ursprünglichen Abstand nicht schließen, sondern bezeichnen, wird jener ›Spiel‹-Raum eröffnet und in einem unabschließbaren Aufschub gehalten, der wie der der Zeichen, der Melancholie und des Spiels der des prekären Lebens ist.

Theatrale ›Reflexion‹ der Melancholie: Hamlet Als »Poetinn« bestimmt sich die »Melancholey« im Gedicht A. Tschernings, wo sie durch Prosopopöie »selber« spreche, »meinen fall« »besinge« – und damit, was sie »selber« ist (325f.).137 Wird die ›Rede‹ der Melancholie selbstreferentiell, so doppelt sie die Paradoxie der vermeintlichen ›Verwandlung‹ der melancholischen »Unmöglichkeit des Lebens in eine Möglichkeit des Sagens« in melancholischer Poesie,138 jene Paradoxie, die die Allegorie als NichtIdentität dessen, was sie sagt, und dem, was sie tut, aufführt. Als Sonderfall der theatral vorgeführten Selbst-Referentialität des melancholischen Blicks nimmt Benjamin Shakespeares Hamlet exemplarisch. Mit der Figur des Hamlet wendet sich der Blick des Melancholischen auf jenes Schauspiel, das sein Leben im Zeichen der Melancholie sei.139 »Sein Leben, als vorbildlich seiner Trauer dargeliehener Gegenstand«, gebe jenes »Geschehen [ab], das diesem seinem Blick ganz homogen ist« (334); es ist vorbildlich und gibt ein Vor-Bild der Melancholie, insofern es selbst als Schauspiel der der »Trauer dargeliehene[] Gegenstand« ist. Hamlet, der auf der Bühne den Zuschauer gibt, »ist für das Trauerspiel Zuschauer von 136 P. Fenves: »Marx, Mourning, Messianity«, S. 260; ders.: »Tragedy and Prophecy«, S. 234. 137 Andreas Tscherning: »Melancholey redet selber«, zit. I, 325f. und als Motto I, 317; vgl. in: L. Völker (Hg.): »Komm, heilige Melancholie«, S. 303; die Analyse von M. Wagner-Egelhaff: Melancholie der Literatur, S. 186-189. 138 J. Starobinski: »Tinte der Melancholie«, S. 30; ders.: »L’Encre de la Mélancholie«, S. 423. Entweder verfehlt sie als ›gelingende‹ Rede die Unmöglichkeit ›zu sagen‹ oder sie versagt die ›poetische Vollendung‹, denn sollte es »gelungen [sein], das Mißlingen des Schreibens zu beschreiben«, so widerstreitet das schreibende ›Gelingen‹ dem ›Beschriebenen‹ und bleibt derart im Zwiespalt (mit sich selbst). 139 Hamlet steht bei S. Freud für die narzisstische Ichkonstitution (»Trauer und Melancholie«, S. 200f.). 159

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Gottes Gnaden; aber nicht was sie [!] ihm spielen,140 sondern einzig und allein sein eigenes Schicksal kann ihm genügen« (334f.). Am Schauspiel hat die Melancholie ihr Genügen, nicht weil das Vorgestellte dem Melancholischen genügte, sondern insofern dieses – jedes – (bloß) maskenhaft von der Verschiedenheit von sich, der Differenz zu sich selbst ›spricht‹. Insofern ist Hamlets »eigenes Schicksal«, »[s]ein Leben, als vorbildlich seiner Trauer dargeliehener Gegenstand«, gleichsam das Emblem oder die mise en abyme dieser Relation, die das Beschauen ist, dem die Gegenstände als Schaustellungen: von sich selbst verschieden, gegeben sind. Im »spielerischen […] Durchgang durch alle Stationen dieses intentionalen Raums«, jenem »Durchgang«, der sein Leben ist, liege, so Benjamin, das »Geheimnis seiner Person […] beschlossen« (334).141 ›Spielerisch‹ ist die Melancholie als das Masken-Spiel vorgeführt, das Hamlet (u.a. mit seinen puns) treibt,142 das in dem des Theaters sich doppelt. Hamlets »Erkenntnis«, die Nietzsche ihm im umstandslosen Ausgriff der »Geburt der Tragödie« zuschrieb,143 wäre, dass nichts 140 Die grammatische Irritation betrifft hier keine Nebensache: Sind »sie« die von ihm ins Spiel-Feld geführten Schauspieler (der dump show)? oder (mit einer grammatischen Überanstrengung) »Gottes Gnaden«? (vgl. S. Weber: »The Incontinent Plot«, S. 247; ders.: Theatricality as Medium, S. 388f.; N. Müller-Schöll: Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, S. 126). 141 Insbesondere gewinne der Zwiespalt »neuantiker und medievaler Beleuchtung«, »in welchem das Barock den Melancholiker gesehen hat«, in Hamlet »menschliche Gestalt« (I, 334). 142 D.i. »feigning madness«, so Jacques Lacan: »Desire and the Interpretation of Desire in Hamlet«, in: S. Felman (Hg.), Literature and Psychoanalysis. The Question of Reading; otherwise, Baltimore 1982, S. 11-52, hier S. 20, 34, zu den puns, S. 33f., 51f.; vgl. S. Kaufmann: Mit Benjamin im Théâtre Moderne, S. 69–86, insb. S. 81; A. Haverkamp: Hamlet: Hypothek der Macht, S. 75, 86f.; N. Müller-Schöll: Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, S. 124, 136. 143 F. Nietzsche: »Geburt der Tragödie«, S. 57; vgl. A. Haverkamp: Hamlet. Hypothek der Macht, S. 88, 120; ders.: »Twilight of the Literary. Hamlet, Nietzsche, Freud« (1995/1997), Ms. (im Netz) Abschnitt II.). Und zwar, wo er ein »lethargisches Element« in der »Verzückung des dionysischen Zustandes« bemerkt, die »durch diese Kluft der Vergessenheit« (die diese ist) »die Welt der alltäglichen und der dionysischen Wirklichkeit von einander ab[scheide]«. »Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit wieder ins Bewußtsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden« (F. Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie«, S. 56f.). C. Menke deutet dies auf die ›Erfahrung‹ des Theaters (Die Gegenwart der Tragödie, S. 185, 258); sie hat Konsequenzen: die »einmal einen wahren Blick in das wahre Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder 160

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›es selbst‹, vielmehr alles Maske (für ein anderes) sei, jenes ›negative Wissen‹, das S. Cavell als skeptisches ausweist und dessen Verfehltheit durch die Haltung des (Theater-)Zuschauers kennzeichnet.144 Hamlet aber, akzentuiert demgegenüber C. Menke, ist »Theaterzuschauer« in dem »speziellen Sinne«, dass er von sich selbst als Zuschauer weiß: »[Er] ist als Theaterzuschauer niemals gänzlich absorbiert durch die Gegenwart eines dramatischen Charakters, seines Tuns und Leidens. Gerade im Theater, ja, durch das Theater, durch das, was das Theater als Medium und Apparat ausmacht, ist Hamlet sich dessen bewußt, wodurch die dramatische Gegenwart hervorgebracht wird – des Schauspielers und seiner Künste – und was durch sie hervorgebracht wird – des Schicksals und seiner Wendungen.«145

Ist Benjamin zufolge »das Geheimnis seines [des Hamlet] Schicksals beschlossen […] in einem Geschehen, das diesem seinem Blick ganz homogen ist« (334),146 so verhält er sich nicht nur als Zuschauer zum »eigene[n] Schicksal«, als dessen Schauspieler er zugleich agiert, sondern damit auch zum ›melancholischen Blick‹ als dem des Zuschauers: »sein Blick ist sein Schicksal. Dieser Blick

schmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten« (F. Nietzsche: »Die Geburt der Tragödie«, S. 56f.). Nietzsche legt Wert darauf: »nicht das Reflectiren, nein! – die wahre Erkenntnis, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit« »tödtet das Handeln«, »zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion – das ist die Hamletlehre« (ebd., S. 57). Während Nietzsche zufolge »in dieser höchsten Gefahr des Willens« »die Kunst« die »rettende, heilkundige Zauberin« sei, die »allein […] jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen [vermöge], mit denen sich leben lässt« (ebd.), dementiert Benjamin genau diese Möglichkeit. 144 Stanley Cavell: »Hamlet’s Burden of Proof«, in: Disowning Knowledge, S. 179-192, hier S. 179ff.; die Einstellung des ›theatralen‹ Zuschauens verbucht Cavell als den ›Fehler‹ der Skepsis praktischer Erkenntnis (»Avoidance of Love«, S. 94-97; vgl. C. Menke Die Gegenwart der Tragödie, S. 182185, zu Hamlet S. 161-188). Hamlet, führt den »Zusammenhang von Reflexion und Zweifel« als »Genealogie der Skepsis« vom Theaterzuschauer her vor: »seine Handlungserfahrung« ist »wie seine Theatererfahrung verfaßt« (ebd., S. 181, 174, 179f.; vgl. ders.: »Tragödie und Skeptizismus«). 145 C. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 179f.. 146 Das steht in genauer Analogie zu: das »Geheimnis seiner Person«, sei »beschlossen im spielerischen eben dadurch aber gemessenen Durchgang durch alle Stationen dieses intentionalen Raumes« (I, 334). 161

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ist der des [theatralen] Zuschauers«.147 Wenn mit Hamlet der melancholische Blick in dem ›der Melancholie dargebrachten Leben‹ ›sich selbst begegnet‹ (335), so eröffnet das nicht nur Hamlet (in sich gedoppelt, gespalten) als Zuschauer Einsicht in die Theatralität der Schaustellungen seiner Trauer, sondern dem Zuschauer wie Hamlet metatheatrale Einsicht. In den theatralen Machinationen, »wodurch die dramatische Gegenwart hervorgebracht wird«, erkennt er (Hamlet als und wie der theatralen Zuschauer) eben das, »was durch sie hervorgebracht wird«,148 das ›der Melancholie dargebrachte Leben‹, das Trauerspiel als Geschehen, das auch und gerade als ›Schicksal‹ Schau-Spiel149 und dem der Zuschauer »›impliziert‹« ist.150 Der Theaterzuschauer trifft derart im Beschauten auf sich selbst, ins »dramatisch Vorgestellte« gefaltet oder »›impliziert‹«, und verhält sich zugleich zu sich selbst als Zuschauer, wendet sich (als Zuschauer des ›dargestellten Schicksals‹) zugleich (sich in sich/von sich selbst entzweiend) ›reflexiv‹ auf sich selbst.151 Die Position als Theaterzuschauer ist derart nicht unabhängig, sondern von dem dramatischen als theatralem Geschehen, auf das er sich bezieht und von dem er getrennt ist, kontaminiert.152 Wenn, Ben147 C. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 179. Nicht nur wird Hamlet der »Fall des Schauspielers« »zum Paradigma allen Handelns« (ebd., 174), sondern »die dramatischen Charaktere« sind »im Verhältnis zueinander selbst theatrale, reflektierende Zuschauer« (ebd., S. 182; vgl. S. Weber: Theatricality as Medium, 192f.). 148 C. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 179f.. 149 C. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 178-187; ders.: »Tragödie und Skeptizismus«, S. 577-586; eine reduzierte Auffassung des Spiels zeigt demgegenüber C. Schmitt: Hamlet oder Hekuba, S. 41-46. 150 Mit S. Cavell: »Avoidance of Love«, S. 97, C. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 182, 184; »Hamlets Zuschauen [löse] die dramatische Gegenwart der dargestellten Handlung auf« (ebd., S. 180), durchquert auch Hamlet, der nicht nur dramatische Person (und von sich selbst absorbiert) ist. 151 Benjamin spricht vom »Silberblick der Selbstbesinnung«, der dem deutschen Trauerspiel mangle (I, 335). 152 »[D]ie Einstellung reflektierenden Zuschauens [erweist sich als] ebenso unvermeidbar wie sie verhängnisvoll ist«; »Hamlets Reflexion des Handelns macht seine Suche nach Gewißheit notwendig, und zugleich macht sie diese Suche unerfüllbar: Sie führt in einen grundsätzlichen Zweifel an der Erkennbarkeit der (Absichten und Aufrichtigkeit der) anderen« (C. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 181f.) – d.i. die Skepsis ›praktischer Erkenntnis‹ im Sinne Cavells, die der nicht durch Erkenntnis auflösbaren Dissimulationen des Intriganten entspricht. »Erkenntnis der verborgenen Absichten der anderen ist [so C. Menke] nur möglich, wenn wir nicht alle Äußerungen von Absichten in Handlungen als bloße Erscheinung ansehen«, wenn die aufgelöste Gewissheit durch »eine handlungsermöglichende Gewißheit zweiter Ordnung, über den ›Grund‹ oder das ›Wesen‹ der Erschei162

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jamin zufolge, »Melancholie, indem sie sich begegnet, sich ein[löst]« (335), so erfolgte diese ›Einlösung‹ als die der melancholischen ›negativen‹ Erkenntnis in der ›meta‹-theatralen Einsicht, die zugleich die in des Zuschauers eigene Verstrickheit ist, in eine unlösbare Verfallenheit an den »Schwindel« (405) von ›Wirklichkeit‹ und Trug oder Schein, von Leere und Verstellung,153 und zwar gerade als Zuschauer, der (auch) von sich selbst als theatralem weiß. Der »Exkurs« zur Melancholie des Hamlet »rechtfertigte« sich, wie Benjamin wollte, als Abschluss des ersten Hauptteils »Trauerspiel und Tragödie« (335), demnach, weil in der ›Einlösung‹ des Blicks der Melancholie im dramatischen ›Schicksal‹, des ›der Trauer dargebrachten Lebens‹ (Hamlets), die mise en abyme der Implikation des Theaterzuschauers ins Trauerspiel erkannt werden kann. Benjamin schließt mit »diesem Exkurs« zum Hamlet seinen ersten Hauptteil wie folgt: »Die Bilder und Figuren, die es [das deutsche Trauerspiel] stellt, widmet es dem Dürerschen Genius der geflügelten Melancholie. Seine rohe Bühne beginnt vor ihm ihr inniges Leben.« (335)

Anhand Hamlets gewinnt Benjamin der Melancholie, im melancholischen »Zwiespalt« von Erd-Stoff-Verhaftetheit und neuzeitlichem Willen zum Wissen, der in Hamlet »menschliche Gestalt« erhalte (334), eine Wendung ab, die ihr mit einer Formel F.C. Rangs (zu Shakespeare) einen »Ausgang« wiese,154 den das deutsche Trauer-

nungen [zu] ersetzen« wäre, was »Reflexion« nicht kann; das ist die metatheatrale »Erfahrung«, die Hamlet mache (ebd., S. 180f.)). 153 Dieser abgründige »Schwindel« ist es, dem Benjamins Konstruktion Grund gibt (I, 405f.; vgl. auch »Vorrede« I, 237). Benjamins und Cavells Lektüre treffen sich, so C. Menke, darin, dass »beide Diagnosen des modernen Willens zum Wissen« sind (Die Gegenwart der Tragödie, S. 257f.; vgl. A. Haverkamp: Hamlet: Hypothek der Macht, S. 11-24). Richard III mache Selbstreflexion als »Schlund« kenntlich (so P. von Matt: Intrige, S. 191f.). 154 Florens Christian Rang: Shakespeare der Christ, hg. von B. Rang, Heidelberg 1954, S. 166, vgl. S. 67; vgl. I, 916, III, 100f. Zur Frage der Christlichkeit Shakespeares nach F.C. Rang vgl. U. Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geist der Kunst, S. 321f., 232ff.; ders.: »Traurige Spiele – Spiel vor Traurigen«, S. 33; zu Rang, Liliencron (den Benjamin zit. I, 335), Schmitt, u.a. U. Steiner: »Allegorie und Allergie«, S. 681f., 691-698; »Traurige Spiele – Spiel vor Traurigen«, S. 43-47; C. Schmitt: Hamlet oder Hekuba, S. 6266; P. Fenves: »Marx, Mourning, Messianity«, S. 265ff. 163

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spiel nicht zu nehmen wusste (334f.).155 Benjamin spricht von der »kühne[n] Wendung, mit der die Renaissancespekulationen in den Zügen der weinenden Betrachtung den Widerschein eines fernen Lichtes gewahrten, das aus dem Grunde der Versenkung ihr entgegenschimmerte« (334, das als »Widerschein« vom zwielichtigen, den Willen zu Wissen in die Tiefe verleitenden »unterirdischen Leuchten« unterschieden wäre (403)), vom Sich-Verkehren der »traurigen Bilder […] in seliges Dasein«, durch die »melancholische Versenkung zur Christlichkeit« komme (335). Diese »Wendung«, mit der »Spekulationen« in traurigen »Zügen« »den Widerschein eines fernen Lichtes gewahrten«, ist wie die ›Verkehrung‹ der »traurigen Bilder« keine Selbst-Reflexion, keine Sache des Bewusstseins, sondern Trope, »the trope of theology«, wie R. Nägele bemerkt hat;156 »ohne Umschweife theologisch« (390) geht es hier also gerade nicht zu. Diese Verkehrung der »traurigen Bilder«, die das Trauerspiel mit Hamlets »Leben« »als vorbildlich seiner Trauer dargeliehenen Gegenstand« stellt, die dem Melancholischen Genüge tun, in »seliges Dasein« (335), vollzieht sich analog der bereits angesprochenen Wendung, die die melancholische Versenkung, die ›dem Schwindel ihrer grundlosen Tiefe anheim[fallen]‹ müsste (405), erfährt,157 indem zuletzt ihre ›melancholischen Bilder‹ in Allegorien, und zwar die der »Auferstehung«, umschlagen (406).158 Zum einen zeigt darin, »daß ihre letzten Gegenstände in Allegorien umschlagen, daß sie das Nichts, in dem sie sich darstellen, erfüllen und verleugnen«, sich das »Wesen melancholischer Versenkung« (406, Hvhg. BM). Zum 155 In genauer Parallele dazu weist die Reflexion des Spiels in den Schauspielen Calderóns der Trauer einen »anderen Ausgang«, den das deutsche Trauerspiel nicht nimmt (I, 409, vgl. I, 262f.); vgl. im Folgenden: Ende(n). 156 R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 167ff., mit Bezug auf die letzten Seiten des Trauerspielbuches S. 189ff.. Die Metapher des Lichts verschiebt sich: »Shakespeare allein vermochte aus der barocken, unstoischen wie unchristlichen, pseudoantiken wie pseudopietistischen Starre den christlichen Funken zu schlagen« (I, 335, Hvhg. BM); an der Metaphorik der Erleuchtung partizipiert noch der »Silberblick der Selbstbesinnung« dadurch, dass umgekehrt das deutsche Trauerspiel, das diesen »in seinem Inneren nie zu erwecken vermocht« habe, »sich selbst erstaunlich dunkel geblieben sei« (I, 335). 157 Hamlets »Leben« weise »vor dem Erlöschen« »auf die christliche Vorsehung, in deren Schoß seine traurigen Bilder sich [...] verkehren« (I, 335, Hvhg. BM); vgl. I, 401-404. 158 Der Melancholie-Exkurs könne als »ein Miniaturmodell der gesamten Abhandlung« aufgefasst werden, so U. Steiner: »Traurige Spiele – Spiel vor Traurigen«, S. 33; vgl. ders.: »Allegorie und Allergie«, S. 683-687. 164

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andern bezeichnet dieser ›Umschlag‹ die »Grenze des Tiefsinns«, den die Unendlichkeit seines »Progreß in die Tiefe« kennzeichnete (405f): Sie liegt, wo die unabschließbare Melancholie in ihrer trostlosen Unendlichkeit sich beschämt sehe, indem sie in der »Allegorie der Auferstehung« auf ihr Ende oder ihren ›Grund‹ trifft (vgl. 404f.). Mit diesem Umschlag findet sie sich als bloß »subjektive Perspektive« nachträglich immer schon der »Ökonomie des Ganzen« eingezogen (406f.). Wie dieser ›letzte Umschlag‹ dem Schema der Allegorie folgt, so ist die »Überwindung« der »Saturnkindschaft im christlichen Geiste«, die die Figur des Hamlet in Aussicht stellt, aber ›selbst‹ »Schauspiel« der Melancholie (335), das, und sei es auch noch so »einzigartig«, als solches unentscheidbar hält, ob die Verkehrung »Realität oder Trug? [...] Christliche Vorsehung oder verkehrte Welt?« wäre.159 Die Einsicht, die Hamlet als Schauspiel ›des vorbildlich der Trauer dargebrachten Lebens‹ (Hamlets), das dem melancholischen Blick »ganz homogen« sei (334), ermöglicht, ist die metatheatrale; die Melancholie wendet sich als dieser Blick (oder als ›Gegebenheitsweise von Gegenständen‹) (auch) auf sich selbst und wird derart als der Blick erkennbar, dem nicht nur alle Erscheinungen zweifelhaft, von sich selbst verschieden sind, sondern der noch in sich selbst (unverträglich) gedoppelt ist. Sie liegt bei keinem Subjekt (es ist nicht der Melancholiker, welcher weiß, vielmehr die Melancholie, die des Subjekts »Sich-selbst-nicht-ganz-Wissen« und »Es-selbst-auch-nicht-ganz-sein« »weiß«),160 sondern sie gehört als nie mit sich selbst zusammenfallende oder sich abschließende dem Schauspiel oder der allegorischen Verfasstheit an: als die von der ›ursprünglichen Differenz‹ aller Darstellung zu sich selbst, die Hamlet im ›Spiel mit der Maske‹ ausspielt, vom »anfänglichen Zerfall des Trauerspiels in sich, mit sich, in zwei«.161 Dass die Melancholie »indem sie sich [»in einem Leben von der Art dieses fürstlichen«, als dem »vorbildlich seiner Trauer dargeliehenen Gegenstand«] selbst begegnet, sich ein[löse]«, das be159 N. Müller-Schöll, Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, S. 127. Damit wäre auch dessen Anlage auf Wiederholung mitzulesen (vgl. I, 312-316). 160 D.i., »was es als Subjekt gerade nicht weiß«, so A. Haverkamp: »Perpetuum Mobile«, S. 48. 161 N. Müller-Schöll: Theater des ›konstruktiven Defaitismus‹, S. 122-129. Das wäre die Antwort auf Müller-Schölls Frage, ob irgendwo im Barock diese Einsicht aufzufinden sei, ob einer der Fürsten im Trauerspiel ihrer inne werde, usf. (ebd., S. 124; zu Hamlet S. 123, 136f.). 165

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schied Benjamin mit: »Der Rest ist Schweigen« (335),162 und derart mit einem verschwiegenen Hamlet-Zitat. »[T]he rest is silence«,163 das sind Hamlets letzte Worte, die mit »rest« wörtlich auch vom Rest sprechen, der unabgegolten bleibt, als der der tote Hamlet im Schlussbild dem Horatio (und den Zuschauern) aufgebahrt verbleibt.164 Mit diesem »Rest«, der vor allem als Rest bleibt, nimmt Benjamin unausgesprochen jene Aussicht zurück, die am Ende von »Trauerspiel und Tragödie« noch lautete: »Der Rest des Trauerspiels heißt Musik«, »das Spielhafte« ›erlöse sich selbst‹ »in Musik«.165 Hamlet bringt dagegen auf der Bühne, auf der das Trauerspiel statthat, die unabgegoltenen Reste zur Ausstellung. »[T]hat these bodies/ High on stage be placed to the view«, ordnet Horatio an, und damit die mise en scéne des »dem Theater des Barock« eigenen »Zusammenhang[s] von Trauer und Ostentation« (299), der durch die mise en abyme der »Trauerbühne« auf der TrauerspielBühne selbst aufgeführt ist. Obwohl Horatio den Auftrag Hamlets, zu erzählen, »How these things came about«, erfüllen müsste,166 ergibt das, was er zu diesen Resten sagen kann, keinen plot, der Konsistenz gewänne, sondern von der story bleibt die Aufzählung der diskreten Stücke: »Of carnal, bloody and unnatural acts,/ Of 162 Vgl. I, 315 (»in diesem Raume, in dem das Wort der Weisheit nur trügerisch geistert«; I, 335). »[T]he remnant […] is silent«, »not giving the rest any form or figure« (P. Fenves: »Tragedy and Prophecy«, S. 248, sowie zur Restlosigkeit (der Immanenz) vgl. S. 235ff.). Der Zusammenhang von Bühne, Theatralität und Trauer (I, 299) wird durch »the Ghost« aufgeführt, vgl. wie (in I., III.) bereits zit. S. Weber: »The Incontinent Plot«, S. 237f.; A. Haverkamp: Hamlet: Hypothek der Macht, 1. Kap.; J. Derrida: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, insb. S. 15-75; ders.: »The Time is Out of Joint«, in: A. Haverkamp (Hg.), Deconstruction is/in America. A New Sense of the Political, New York, London 1994, S. 14-38. 163 William Shakespeare: »Hamlet« (1601), in: The Arden Shakespeare, S. 291332, hier S. 331 (v. 365); vgl. Hamlet. (englisch/deutsch), Textbd. 1, S. 308 (v. 346). 164 Vgl. A. Haverkamp: Hamlet: Hypothek der Macht, S. 80. 165 »Trauerspiel und Tragödie«, II, 137; »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«, II, 139. Dass Musik die ›unabsehbaren Wiederholungen‹ zu ›erlösen‹ vermöge (II, 136f.), das traut ihr das Trauerspielbuch nicht zu (vgl. I, 386); vielmehr ist Hemmungslosigkeit im Ablauf der durch die Oper bezeichnete Verfall des Trauerspiels. Es gibt einen Bezug zur »Klage« (II, 139), die Benjamin als Desiderat des Trauerspielbuchs nennt (I, 929f.; GB I, S. 443, Brief an Scholem 30.3.1918). »The rest ist silence. O, o, o, o« sagt Hamlet in der Folio-Edition 1623 (Hamlet (englisch/deutsch), Textbd. 1, S. 318-320; Kommentarbd. 2, S. 661). 166 Ebd., Textbd. 1, S. 308. 166

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accidental judgements, casual slaughters,/ Of deaths put on by cunning and forced cause,/ And, in this upshot, purposes mistook/ Fall’n on th’ inventors’ heads«.167 Das ist die jeden erzählbaren plot zerstückelnde und an die Nacht seines Nicht-Wissens verweisende Unterschrift unter diese Szene (vgl. 371) der sich auf sich selbst doppelnden, sich ausstellenden Trauer-Bühne. Und macht dies zum einen das Leben im Trauerspiel kenntlich als die ›Produktion von Leichen‹ (391f.), so ist zum anderen dessen Dramaturgie bestimmt als ›allegorische‹ Schaustellung (367, 371) auf dem Schau-Platz,168 der sich selbst, und damit jene ursprüngliche Distanz zu sich selbst bezeichnet, in der er sich konstituiert.

167 Ebd., S. 310. 168 Das Schauspiel ist nicht vom plot regiert, sondern als staging bestimmt: »the play has already displayed not just ›how‹ these things ›came about‹ but no less importantly where. ›Where is this sight?‹, asks Fortinbras upon entering the scene. The answer: on a stage« (S. Weber: »The Incontinent Plot«, S. 252, ders.: Theatricality as Medium, S. 197ff.) 167

IV. A L L E G O R I E Die Allegorie sei das, so schrieb Benjamin 1924 an Scholem, »um dessen Rettung es mir [im Trauerspielbuch] ging«.1 An anderer Stelle kennzeichnet Benjamin sie als »das stilistische Schema des Barocktrauerspiels«.2 Dabei ist das interessante Wort hier das Schema, das die Allegorie sei.3 Wie daher zum einen erst mit der Allegorie die Struktur des Trauerspiels erläutert wird (und daher auch im Voranstehenden mit Vielem schon Bezug zu nehmen war auf den zweiten, »Allegorie und Trauerspiel« überschriebenen Hauptteil), so wird zum andern umgekehrt die »allegorische Physiognomie der Natur-Geschichte« »auf der Bühne durch das Trauerspiel gestellt« (353), und zwar schriftlich, d.i. »›Geschichte‹« »als Schrift« (353, Hvhg. BM). Von der Allegorie muss, nach ihrer Verwerfung, die für die Ästhetik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konstitutiv war, aus einer Perspektive der Nachträglichkeit gehandelt werden.4 Diese Nachträglichkeit ihrer Bestimmtheit hat Benjamin der barocken Allegorie als deren vorgreifenden Einspruch gegen das ästhetische Konzept darstellender Verkörperung, demzufolge die »schöne Physis« (352) zur Gestalt der Wahrheit werde, abgelesen. Benjamin setzt die Allegorie ins Recht als die ausgeführte Gegenthese zum »plastischen Symbol« und dessen verfehltem Programm: »Als symbolisches Gebilde soll das Schöne bruchlos ins Göttliche übergehen«, und zwar im »Bild des schönen Individuum« (336f.), das zur 1 2 3

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I, 881; GB II, S. 508; vgl. GB III, S. 13-18. Exposé, I, 951; vgl. I, 390, 404; III, 87. Vgl. I, 359; sie ist Schema der Verwandlung (I, 403), wie das Emblem das des Trauerspiels (I, 405), umgekehrt haben allegorische Figuren ein Schema: die »Schädelstätte« (I, 405f.). Schema (vgl. I, 405) ist ein Begriff Kants (Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Band X, hg. von W. Weischedel, Frankfurt/M. 1974,§ 59, S. 294) und der Romantiker. Vgl. R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 80; Bettine Menke: »Allegorie« (III. Aesthetica), in: Historisches Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe, hg. von K. Bark/M. Fontius/D. Schlenstedt u.a., Stuttgart 2000, Bd.1, S. 70-95, hier S. 70f. 169

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Gestalt für die Erscheinung der Wahrheit sollte werden können. Dagegen suchte die germanistische Barockforschung, in selbstverständlicher Übernahme der Terminologie der nach-goetheschen Symbol-Allegorie-Entgegensetzung, die barocke Emblematik in deren bruchloser Kontinuität zur mittelalterlichen Lehre aufzufassen,5 und setzte sie daher ab von Renaissance-Hieroglyphik und Rhetorik.6 Das kann der komplexen Konstellation von Mittelalter, Renaissance und Barock nicht genügen,7 auf die Benjamin vor allem in Hinsicht des allegorisch organisierten Nachlebens der Antike Wert legt (394f.). Die vor allem germanistisch unterstellte Kontinuität zur mittelalterlichen Allegorese, die der Emblematik des Barock und deren Deutung die theologische Gewissheit des Bedeutens sichern sollte, verstellt allerdings nicht nur das Operieren des komplex bimedial figurierenden Emblems8 und die ›Neuheit‹ der barocken Hervorbringungen, sondern umgekehrt wird rückwirkend auch die mittelalterliche Poesie um deren Rhetorik und allegorische Fiktion verkürzt. Mit Giehlows Hieroglyphenkunde, einer bedeutenden Vorlage Benjamins im Umkreis der Warburgschule und im Anschluss an diese, wird dagegen das Emblem in der Tradition von Hieroglyphe und Imprese der Renaissance und der Konzepte des

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So etwa Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 21968 (1964); zur Diskussion vgl. Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker, Stuttgart 1966, S. 98-103; Harald Steinhagen: »Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie«, in: W. Haug (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979, S. 666-685; Burkhard Lindner: »Satire und Allegorie in Jean Pauls Werk. Zur Konstitution des Allegorischen«, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 5 (1970), S. 7-61, hier 15-22; Heinz J. Drügh: Anders Rede: Zur Struktur und historischen Systematik des Allegorischen, Freiburg/B. 2000. Die germanistisch gängige ›Kontinuitätsthese‹ spricht von der versichernden »Nachwirkung mittelalterlicher Vorstellungen für die geistige Konzeption des Emblems« statt der «durch das humanistische, archäologisierende Interesse belebten ägyptisch-antiken Vorbilder« (A. Henkel/A. Schöne (Hg.): Emblemata, Stuttgart (1967) ²1976, S. XVf.; vgl. A. Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, S. 44f.). Vgl. I, 254-259; K. Garber: Rezeption und Rettung, S. 102-105; August Buck: »Die Emblematik«, in: ders., Neues Handbuch der Literaturwissenschaft: Renaissance und Barock, 2. Teil, Frankfurt/M. 1971, S. 328-345, hier S. 339. Vgl. Sabine Mödersheim: Art. »Emblem, Emblematik«, in: G. Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 1994, Bd. 2, Sp. 10981108; dies.: »Materiale und mediale Aspekte der Emblematik«, in: E. Horn/M. Weinberg (Hg.), Allegorie. Konfigurationen von Text, Bild und Lektüre, Opladen u.a. 1998, S. 201-220. 170

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Humanismus wahrgenommen.9 Die barocken Allegorien (oder Embleme) zitieren, und als Zitationen bringen sie Neues hervor; so schreiben die Zitate typologischer Topoi in Embleme diese in »Darstellungen moralischer und politischer Art« um (344).10 Benjamin unterstreicht, wie die neuere Emblemforschung, die heterogene Vielfalt der heranzitierten fremden und in der Zitation überraschenden Wissensbestände. Die Situation der barocken Allegorie kann durch einen zweifach bestimmbaren ›Zerfall‹ gekennzeichnet werden, der diese Bestände tradiert und in deren unbeschränkter gleichzeitiger Vielheit zur Verfügung stellt. Zum einen ist die typologische Struktur und deren Schema, das »die Hinfälligkeit des Weltgeschehens und die Vergänglichkeit der Kreatur als Stationen des Heilsweges zur Schau stellt[e]« (360), in die Simultaneität allen Geschehens im Raume aus-gefallen,11 so dass deren Elemente disponibel werden. Diese »Säkularisierung« der (Heils-)Geschichte wird als Simultaneisierung auf dem Schauplatz durch die barocken Allegorien vollzogen. Muss Benjamin zufolge das barocke Trauerspiel in Bezug auf die »theologische[] Situation« des Barock bestimmt werden, so als der »Ausdruck einer Verlegenheit« (258), dass den erneuerten religiösen Anliegen der »unmittelbare Ausdruck« verlegt war, daher jener barocke »Mechanismus, der alles Erdgeborne häuft und exaltiert, bevor es [dies Zeitalter] sich dem Ende überliefert« (246). So überliefert die Simultaneisierung der figuralen Ordnung der Geschichte, wie auch die Auflösung des ›Systems der Ähnlichkeiten‹, das Foucault zufolge die Relation von Dingen und Signaturen sicherte,12 dem Barock ein ›schrankenloses 9

Karl Giehlow: Die Hieroglyphenkunde des Humanismus in der Allegorie der Renaissance, besonders der Ehrenpforte Kaisers Maximilian I. Ein Versuch. Wien, Leipzig 1915, S. 1-253; Ludwig Volkmann: Bilderschriften der Renaissance. Hieroglyphik und Emblematik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen, Leipzig 1923; vgl. William S. Heckscher/Karl August Wirth: Art. »Emblem, Emblembuch«, in: L. H. Heydenreich/K.A. Wirth (Hg.), Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Stuttgart 1967, Bd. 5, Sp. 85-228, hier Sp. 116-129, Sp. 151; Dieter Sulzer: »Literaturbericht. Emblematik und Komparatistik«, in: Arcadia 9 (1974), S. 60-69; A. Buck: »Emblematik«, S. 328-333. 10 Vgl. Embleme, die christologische Typen in ethisch-politischer Hinsicht auf den Souverän umdeuten, in Zincgreffs, auch von Benjamin zitierten, Ethisch-Politischen Emblemen (Nr. 1). 11 Vgl. I, 258ff.; das ist ein spezifischer Ausdruck jener »Krise« im »Zusammenbruch der theologischen Deutung und Sinngebung der Geschichte«, von der K. Garber spricht (Rezeption und Rettung, S. 102f.). 12 Vgl. M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 46-77; vgl. B. Lindner: »Allegorie«, S. 64. 171

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Bildgedächtnis‹, eine Abundanz von Zeichen ohne Sinngarantie.13 »Wenn die Literatur des Ähnlichen sich anschickt zu enden«, wie Foucault den Barock kennzeichnet,14 dann ist das Netz der Ähnlichkeiten und der diese bezeichnenden Signaturen zum vielfältig verzweigten Fundus der Schemen des (allegorischen) Bedeutens geworden: »überall zeichnen sich die Gespinste der Ähnlichkeit ab, aber man weiß, daß es Chimären sind«.15 »Die Renaissance belebte das Bildgedächtnis«, formuliert Benjamin im Anschluss an Giehlow, »zugleich aber erwacht eine Bilderspekulation« (395). Die Formel, dass »Literatur des Ähnlichen sich anschickt zu enden«, bestimmt den Barock als eine Schwelle oder Zone. So ist die barocke Allegorie nicht nur im ›Bruch‹ der episteme zu situieren, sowenig sie schlicht unter die neue episteme der klassischen Repräsentation fällt.16 Vielmehr ist sie Effekt und Schema von Irritationen in Bezug auf beide: Durch manieristische Sprachpraktiken wie deren Konzepte wird die ›Krise der Ähnlichkeit‹ bezeugt, heraufge13 Vgl. I, 374f.. So wird etwa auf der Kreuzinsel (in Continuatio von Grimmelshausens Simplicissimus) »ausnahmslos alles zum bedeutungsvollen Zeichen«, und die ›Gefahr‹, dass sie »Verfallsprodukte und Requisitensammlung einer Geschichte« ohne Sinngarantie bleiben, zeigt sich gerade in deren Abwehr durch die Beschriftungen, die in die Natur einziehen (W. Wiethölter: »›Baltanderst Lehr und Kunst‹. Zur Allegorie des Allegorischen«, S. 51; vgl. H. Drügh: Anders-Rede, S. 46-76, S. 105-109; vgl. ders. »Was mag wol klärer seyn?«, hier: S. 1028). 14 Den Bezug auf Foucault hat die germanistische Barockforschung in Deutschland, wenn überhaupt, erst spät hergestellt, vgl. Bernhard F. Scholz: »Zur Bedeutung von Michel Foucaults These eines epistemischen Bruchs im 17. Jahrhundert für die Barockforschung«, in: K. Garber (Hg.), Europäische Barock-Rezeption. Bd. 1, S. 169-184, hier S. 181-184; vgl. S. Neumeister: »Der Beitrag der Romanistik zur Barockdiskussion«, S. 851ff.; Joachim Küpper: »Die spanische Literatur des 17. Jahrhunderts und das BarockKonzept (Forschungsüberblick und Thesen)«, in: K. Garber (Hg.): Europäische Barock-Rezeption, Bd. 2, S. 919-941. 15 M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 84. 16 Mit Bezug auf Benjamins Allegoriekonzept besteht C. Martin auf dem laufenden Umbruch, »the rupture in 17th century« (The Ruins of Allegory, S. 4ff., 13f, 20f., 323ff.), statt der Einrichtung der neuen episteme – mit Bezug auf Milton gleichsam als Vorbild (ebd. S. 28f., 40ff., 51f., 286) parallel dazu Pascal (ebd., S. 36-41, 45-49, S. 323-329, 336ff.); J. Küpper fasst dgg. die Komplexität der diskursiven und literarischen Phänomene »dieser Zeit« als Fortbestand des Analogismus mit »Chaotisierungsstufen« (»Die spanische Literatur des 17. Jahrhunderts und das Barock-Konzept (Forschungsüberblick und Thesen)«, in: K. Garber (Hg.): Europäische Barock-Rezeption, Bd. 2, S. 919-941, hier S. 930-939; ders.: »Repräsentation und Real-Präsenz. Bemerkungen zum auto sacramental (Calderón: Psiquis y cupido)«, in: E. Fischer-Lichte (Hg.): Theatralität und die Krise der Repräsentation, S. 83100, hier S. 83f.). 172

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führt und ausgetragen; denn die »ingeniöse Signifikationen« des Concettismo erfinden oder erschriften Ähnlichkeiten und erschüttern damit die Ähnlichkeit als unterstellte gegebene Fundierung der Relationen.17 Die »ingeniöse Signifikation« gewinnt dabei ein Vergnügen aus den Prozessen der Signifikation selbst, deren verblüffende Effekte »vocabulo significante und cosa significata« als solche gegeneinander-auseinander-treten lassen.18 »Ostentation der Faktur« ist es, worauf es, wie Benjamin mit Rückbezug auf Calderón bemerkt, auch die Allegorie anlegte (355).19 Die Allegorie ist eine Zeichenpraxis, die sich ins Verhältnis zur Repräsentation und zum klassischen Zeichen setzt, indem sie die Problematik der Repräsentation selbst, die ihr als solcher angehört, merklich macht. Die barocke Allegorie thematisiert die Voraussetzung, die das Bedeuten macht, indem sie den ›Ursprung der Bedeutung‹ als den der ›Trauer‹ (383f.), als Zweiheit durch die Disjunktion, die sich in ihr vollzieht, erkundet. Durch ihre Faktur trägt sie diese aus und die Kunstfertigkeit an ihrer Stelle und mit ihr die Trauer, die sie weckt, zur Schau. Zwar unterstellt das Konzept der Repräsentation durch Zeichen, so Foucault mit Descartes, dessen »Selbstdurchsichtigkeit«, die Vorstellung des repräsentierten Dinges müsse durch die des Dinges, das diese repräsentiere, hervorgerufen werden, die zugleich sich selbst ›transparent‹ mache, um den Blick auf das (/die Vorstellung des) Repräsentierte/n nicht zu hindern.20 Aber dazu steht die »Opazität und Dunkelheit der Allegorie, wie sie Benjamin für das barocke Trauerspiel herausgearbeitet hat«, nicht

17 Vgl. Renate Lachmann: »Polnische Barockrhetorik: Die problematische Ähnlichkeit und Maciej Sarbiewskis Traktat De acuto et arguto (1619/1623) im Kontext concettistischer Theorien«, in: dies., Die Zerstörung der schönen Rede: Rhetorische Tradition und Konzepte des Poetischen, München 1994, S. 101-134, hier S. 102, 106, 108. 18 Ebd., S. 129; wie R. Lachmann zeigt, konzipiert Gracián (anders als andere Concettisten) eine ›subjektive Ästhetik‹; dgg. spricht J. Küpper von Prämoderne (»Repräsentation und Real-Präsenz«); zur Spannung von Imitation und Invention vgl. Gerhard Poppenberg: »Pro fano. Zu El pintor des su dishonra von Calderón (comedia und auto) sowie zu Las meninas und Las hilanderas von Velázquez« in: W. Nitsch/B. Teuber (Hg.): Zwischen dem Heiligen und dem Profanen, München 2008, S. 413-452, hier S. 450ff., 445. 19 Auch Benjamin gewinnt dies aus dem Bezug auf Calderón (I, 355); zum Concettismus auch des deutschen Barock, vgl. H. Cysarz: »Vom Geist des Literaturbarock«, S. 26-29; M. Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker, S. 263, 192; T. Borgstedt: »Scharfsinnige Figuration«, u.a.. 20 Vgl. M. Foucault: Ordnung der Dinge, S., 44ff., 96ff.; Descartes setze auf die vollständige Transparenz des Zeichens auf das Bezeichnete. 173

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schlicht »im Gegensatz«.21 Denn Foucault kennzeichnet auch für das klassische Konzept das alte, seit Augustinus vermerkte, Problem des Zeichens, dass »dieser Inhalt [den das Zeichen durch eine andere Vorstellung eines Dings anzeigen solle] [...] nur in einer Repräsentation angezeigt [wird], die sich als solche gibt«.22 Die Relation im Zeichen, die vom 17. Jahrhundert an auf dem Spiel steht, setzt voraus, dass »diese Repräsentation […] ihrerseits in ihm [dem Ding, das Zeichen werde,] repräsentiert« ist.23 Wenn daher jede Repräsentation »ihrerseits« die Repräsentation repräsentieren muss: jedes Zeichen nicht nur das Bezeichnete bezeichnen und sich auf dieses mehr oder weniger durchsichtig machen, sondern zugleich sich selbst als Zeichen bezeichnen muss, ist sie konstitutiv in sich gedoppelt24 und gespalten. Das hat L. Marin der Logique der Jansenisten von Port-Royal (1683), Grundlage auch von Foucaults Konzept des klassischen Zeichens, abgelesen, indem er in einer alternativen Lektüre »als das verborgene Zentrum der Theorie der Sprache und des Zeichens« der Logique das Konzept der sakramentalen Repräsentation, der Realpräsenz in der Eucharistie erkennbar macht.25 War für die ›Logiker‹ Realpräsenz das enthüllte Geheimnis der sakramentalen Zeichen, so wird von Pascal die ›Faktur‹ ihres Funktionierens offengelegt.26 Pascal zufolge ist jede ›Darstellung mittels Zeichen‹ stets zugleich Verbergung, Verhüllung im Zeichen; das gilt gerade für die Eucharistie, das entscheidende christliche

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C. Wild: »Fleischgewordener Sinn«, S. 126. M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 99. Ebd., S. 98. Ebd., S. 98f.; vgl. Barbara Vinken: »The Concept of Passion and the Dangers of the Theatre: Une esthétique avant la lettre: Augustine and PortRoyal«, in: RomR 83 (1992), S. 45-59, hier S. 49ff. 25 Vgl. L. Marins Lektüre des Zeichen-Konzeptes der Logique der Jansenisten von Port Royal hinsichtlich der eucharistischen Einsetzungsworte (»Un chapitre dans l’histoire de la théorie sémiotique: La théologie eucharistique dans ›La Logique de Port-Royal‹ (1683)«, in: A. Eschbach/J. Trabant (Hg.), History of Semiotics, Amsterdam, Philadelphia 1983, S. 127-144); C. Wild: »Fleischgewordener Sinn«, S. 129. 26 Zum Bezug von Pascal und der Logique de Port Royal vgl. Marin La critique du discours (1975); P. de Man: »Pascal’s Allegory of Persuasion«, in Stephen J. Greenblatt : Allegory and Representation, Baltimore 1981, S. 125, hier S. 12; ders.: »Pascals Allegorie der Überzeugung«, S. 78ff.; Marins Lektüre zeigt, dass Pascals Pensées »die Begründungsakte des logischen linguistischen ›Diskurses‹« der Logique de Port-Royal ausstellen (ebd., S. 90f. A.d.Ü. = R. Campe). 174

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Dogma.27 Das ›Problem des Zeichens‹ ist nicht durch die Dechiffrierung des wahren Sinns im Sinne eines Sich-transparentMachens des Zeichens aufzulösen, sondern die Unlesbarkeit der Zeichen, dass die Zeichen unergründlich bleiben, ist Pascal zufolge selbst ›negatives Zeichen‹ der Wahrheit, d.i. ihre Verborgenheit im Zeichen – wie im Fleische.28 Geriet einerseits der theologisch fundierte, sakramentale Repräsentationsbegriff, der Realpräsenz im Sakrament der Eucharistie durch die Reformation in die Krise, so zeigt sich aber barock andererseits die Ambiguität der Repräsentation als »Vergegenwärtigung einer Sache oder ihre Darstellung mittels Zeichen« als solche unlösbar.29 Das in sich gedoppelte/gespaltene Zeichen, das als Zeichen des Repräsentierten einerseits indispensabel ist, stellt andererseits als Statthalter für das Repräsentierte stets die ›Gefahr‹ dar, dass das Zeichen als Ding, in seiner materialen Schwere, Ver-Bergung und Verstellung noch der Zeichenrelation selbst ist. Das machte insbesondere die ›ästhetischen Zeichen‹, die Fiktionen der ›Fabeln‹ und des Theaters problematisch,30 bzw. umgekehrt thematisieren die 27 Die oxymorale Komplexität wird absehbar durch Marins Lektüre der Logique de Port Royal (»Un chapitre dans l’histoire de la théorie sémiotique«); mit Pascals Präzisierung: »Pascal insists that the presence of God in the meantime of soterial progression is effectively present, but present as concealed. This mode of appearance of a continuous concealment is that of the Eucharist. […] It means to know that God cannot be known, that he reveals himself as concealed, and that he is true precisely in that« (B. Vinken: »The Concept of Passion and the Dangers of Theatre«, S. 50, vgl. S. 49-51). 28 Vgl. B. Vinken: »The Concept of Passion and the Dangers of Theatre«, S. 50. »After the refutation of the analogia entis of the medieval world there remains only one thing to be read in Pascal’s world: the unredability of signs, […] a ›Chiffre a double sens: un clair où il est dit que le sens est caché‹« (ebd.; mit Pascal: Pensées III, S. 112, Nr. 677; d.i. ders.: Gedanken, S. 208, Nr. 397; vgl. P. de Man: »Pascals Allegorie der Überzeugung«, S. 84). »Pascal’s sign is not transparent or analogical to the signified; it is a barrier that marks that the signified cannot be known« (B. Vinken: »The Concept of Passion and the Dangers of Theatre«, S. 50). 29 C. Wild: »Fleischgewordener Sinn«, S. 127; zu Sakrament und Zeichen nach Pascal – auch Milton, vgl. C. Martin: The Ruins of Allegory, insb. S. 45-49; J. Küpper dgg. traut dem (katholischen) theologischen Zeichenkonzept nicht in hinreichendem Maße Komplexität zu (»Repräsentation und RealPräsenz«, S. 84f.). Die Eucharistie ist für die Repräsentation zuweilen ihr Ideal, jedenfalls aber deren Grenze, vgl. L. Marin: Food for Thought, S. xi, 189-193; ders.: Das Porträt des Königs, S. 197ff.. 30 Vgl. B. Vinken: »The Concept of Passion and the Dangers of Theatre«, S. 51-59; zur prekären Theatralität der Märtyrer, vgl. N. Kaminski: Andreas Gryphius, S. 73; vgl. C. Wild: »Fleischgewordener Sinn«, S. 135f.. Eine komplexe theatrale Doppelung gelingt in den autos sacramentales, vgl. Ans175

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Trauerspiele die Problematik des Zeichens, die sie offensichtlich doppeln, sie tragen die Unergründlichkeit der Zeichen vor und lesend-dissozierend aus.31 Die ›Dunkelheiten‹ allegorischen Bedeutens, die Benjamin namhaft macht (350), stellen insofern Repräsentation als solche, als die prekäre Relation vor, die sie ist. Ihre Dunkelheit wie die geläufigste Konventionalität der Allegorie stehen für die Relation der Repräsentation selbst, den konstitutiven Abstand in ihr, den die Allegorie verbirgt und öffnet. Allegorien bezeichnen die ›ursprüngliche‹ Disjunktion, die ›Ursprung der Bedeutung‹ in der Trauer ist, indem sie das Vorgestellte und das Bedeutete auseinandersetzen und deren Inkompatibilität auftreten lassen.

Leiche als Emblem (der Allegorie) Für das allegorische Format des Lebens im Trauerspiel gibt einer der Seitentitel im zweiten Teil des Trauerspielbuchs die Formel »Leiche als Emblem«. Viel später in Notaten zur Moderne (1938/9) im Umkreis seiner Passagenarbeit stellt Benjamin den folgenden rückwirkenden Anschluss her: »Die Schlüsselfigur der frühen Allegorie ist die Leiche« oder die »Reliquie«, das »Andenken« die der neuen oder modernen.32 Im Trauerspielbuch heißt es: »die Allegorisierung der Physis kann nur an der Leiche sich energisch durchsetzen«, »das Martyrium [rüstet] den Körper des Lebendigen […] emblematisch zu« (391). Das gibt über die Allegorie so gut, wie über barocke Martyrien Auskunft. Die »Greuel- und Marterszenen, in denen die barocken Dramen schwelgen«, »jene sprödesten Motive, denen andere als stoffliche Feststellungen nicht scheinen abgewonnen gar Hillach: »Sakramentale Emblematik bei Calderón«, in: S. Penkert (Hg.), Emblem und Emblematikrezeption, Darmstadt 1978, S. 194-206; Sebastian Neumeister: »Die Verbindung von Allegorie und Geschichte im spanischen Fronleichnamsspiel des 17. Jahrhunderts«, in: W. Haug (Hg.), Formen und Funktionen der Allegorie, S. 293-309; G. Poppenberg: Psyche und Allegorie. Studien zum spanischen auto sacramental von den Anfängen bis zu Calderón, München 2003. 31 Zum Streit zwischen Skepsis und erkenntnistheoretischem Optismismus in Gryphius’ Leo Arminius und Catharina von Georgien, vgl. N. Kaminski: Andreas Gryphius, S. 52, 84ff., 89f., 101-105); ein »theologisch-zeichentheoretischer Konflikt« wird in Leo Arminius bezeichnet, vgl. H. Drügh: »Was mag wol klärer seyn?«, S. 1023-1029; die Deutungsbedürftigkeit der Zeichen wird als Lektüre-Konflikt in Catharina von Georgien ausgetragen und in Unbeständigkeit überführt, vgl. F. Berndt: »›So hab’ ich sie gesehen‹«, S. 232f., 237f.. 32 »Zentralpark«, I, 690. 176

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werden zu können« (389), sind, darauf will es hier hinaus, struktureller Natur: Es handelt sich um das mise en abyme der Struktur, die die Allegorie ist. »[D]ie Personen des Trauerspiels sterben, weil sie nur so, als Leichen, in die allegorische Heimat eingehn. Nicht um der Unsterblichkeit willen, um der Leiche willen gehn sie zu Grunde. ›Er lässt uns seine leichen / Zum pfande letzter gunst‹, sagt Carl Stuarts Tochter vom Vater, welcher seinerseits es nicht vergaß, um deren Einbalsamierung zu bitten. Produktion der Leiche ist, vom Tode her betrachtet, das Leben.« (391f.)

So haben die Tyrannen, deren Aufgabe es war, das Trauerspiel mit Leichen zu versorgen (vgl. 393), eine allegorische Funktion. Die Leiche stellt, zurückgelassen, auf der Bühne des Trauerspiels das Emblem der allegorischen Lektüre,33 und zwar insofern sie zugleich die Schaustellung selbst, die der Allegorie angehört und deren »oberstes emblematisches Requisit« sie ist (392), auf der Bühne anzeigt. Als metafigürliches Emblem der Allegorie ist sie das Argument, das Benjamin dem barocken Trauerspiel als vorgreifende Gegenthese zum »plastischen« oder »Kunst-Symbol« abliest.34 Das sog. »Kunst-Symbol« behauptet, so Benjamin, die »Einheit von sinnlichem und übersinnlichem Gegenstand« als in der »schönen« vollendeten Physis gegebene, während diese »Einheit« dem »theologischen Symbol« eine »Paradoxie« blieb (336), und dieses die Spannung von Entzogenheit und Sich-Zeigen in der Darstellung auf- und als Paradoxie aushält. Wird dagegen die »Einheit von sinnlichem und übersinnlichem Gegenstand« in der als »schöne« in sich vollendeten Physis ausgegeben, so ist dies der charakteristische »Mißbrauch« (des Symbols) (336f.), als den Benjamin die ästhetische Ideologie kennzeichnet,35 die in der in sich vollendeten menschlichen Gestalt die Gestalt der ästhetischen Totalisierung vor33 Es steht in Frage, dass und wie das Pfand sich löse, vgl. N. Kaminski, Andreas Gryphius, S. 105f., 101, 82 u.ö; insbs. zu den lutherischen Märtyrern vgl. C. Wild, »Fleischgewordener Sinn«, S. 143-147; zur Opazität vgl. F. Berndt: »›So hab’ ich sie gesehen‹«, S. 232ff., 237ff., 241, 248. 34 Daher handelt sich keineswegs um »Walter Benjamin’s Love Affair with Death«, wie ein Titel Rey Chows lautet (in NGC 46 (1989), S. 63-86); vgl. B. Menke: »Leiche als Emblem«, in: D. Schmidt (Hg.), Körper.Topoi. Sagbarkeit – Sichtbarkeit – Wissen, Weimar 2002, S. 225-248. 35 Mit dem Begriff nehme ich Bezug auf Paul de Man, Ideologie des Ästhetischen, hg. von C. Menke, Frankfurt/M. 1993; ders.: Aesthetic Ideology, hg. von A. Warminski, Minneapolis, London 1996. 177

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stellt. Dies klassische Ideal der Darstellung (wie umgekehrt das ›des Menschen‹) erfüllte sich im Phantasma der vergötterten Menschennatur, der beseelten Statue, die die vom Leben als Vergehen unablösbare Desintegration figurierend verstellt und diese Figuration vorgreifend schon vergessen gemacht hat.36 Dem erwidert die Allegorie durch die Verfasstheit, die sie ist. »Unfreiheit, Unvollendung und Gebrochenheit der sinnlichen, der schönen Physis zu gewahren, war wesensmäßig dem Klassizismus versagt. Gerade diese trägt die Allegorie des Barock verborgen unter ihrem tollen Prunk, mit vordem ungeahnter Betonung vor.« (352)

»Unfreiheit, Unvollendung und Gebrochenheit« der Physis. Dies trägt die Allegorie vor, indem sie das Leben in die Perspektive des Todes nimmt: »Produktion der Leiche ist, vom Tode her betrachtet, das Leben.« (392) 37 Zum einen stellt sie die Leiche ›unnachsichtig‹, detaillierend, in ihren Stücken, aus und hält diese: wie ›einbalsamiert‹ (392), trauernd fest.38 Zum andern bringt sie alles, was ihr zum bedeutenden Detail wird, als Leiche und wie diese »Stück für Stück« zum allegorischen Auftritt (352, 392). Mit der »Leiche« wird ›dargestellt‹, dass die Darstellung nicht verkörpernd einzuschließen vermag, was sie vermeintlich darstellt, sie vielmehr unvollendet an ein in ihr nicht eingeschlossenes, durch sie nicht verkörpertes, Anderes, Anderswo, verwiesen ist. Während der Körper allegorisch zerstückt und opak (übrig) bleibt, werde der »Geist [...] auf Geisterweise frei« (391), als ein Gespenst, das sich nicht zu verkörpern vermag.39 Die »allegorische Grenzform«, die

36 Helmut Pfotenhauer: »Vorbilder. Antike Kunst, Klassizismus und Weimarer Klassik«, in: W. Voßkamp (Hg.), Klassik im Vergleich: Normativität und Historizität europäischer Klassiken, Stuttgart 1993, S. 42-61, hier S. 46f., 50; Juliane Vogel: Die Furie und das Gesetz, Freiburg/B. 2002, S. 307-313. 37 Im Ursprung des Bildes wurde die Leiche, die in ihm »begraben« liege, vermutet (I, 396); bzw. »Der Leichnam ist sein eigenes Bild« (M. Blanchot: »Die zwei Fassungen des Bildlichen«, S. 29, vgl. oben in III.). 38 Vgl. den von Benjamin angeführten Lohensteinschen »›Denck- und DanckAltar‹, den er seiner toten Mutter errichtete« (I, 392; zit. in C. Müller: Beiträge zum Leben und Dichten D. C. von Lohenstein, S. 28-38); darin prägt er Trauer allegorisch, d.i. ostentativ die »Kluft zwischen Zeichen und Bedeutung, zwischen Leiche und Unsterblichkeit« aus (E. Horn, Trauer schreiben, S. 52). 39 Herder spricht von der Allegorie als Wortgeburt, die sich nicht verkörpern darf, vgl. Bettine Menke: »Allegorie – Personifikation – Prosopopöie. Steine 178

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das Trauerspiel ist, macht Benjamin zufolge aus, dass sie sich nicht »innerhalb einer rein ästhetischen Betrachtung« ›löse‹ (390), sie erhebt vielmehr Einspruch gegen die ästhetische Integration. Das »Martyrium [rüstet] den Körper des Lebendigen [...] emblematisch zu«, und operiert derart allegorisch – wie die Allegorie, deren Prinzip Zer-»Stückelung« ist (361). »Nicht anders konnte der orthodoxe Emblematiker denken: der menschliche Körper durfte keine Ausnahme von dem Gebote machen, das das Organische zerschlagen hieß, um in seinen Scherben die wahre, die fixierte und schriftgemäße Bedeutung aufzulesen. Ja, wo konnte dieses Gesetz triumphierender dargestellt werden als am Menschen, der seine konventionelle, mit Bewußtsein staffierte Physis im Stich läßt, um an die vielfachen Regionen der Bedeutung sie auszuteilen.« (391)

Die allegorische Lektüre, die als Beschriftung an dem auftritt, was allegorisch bedeuten muss, zerfällt den Körper in bedeutende Details gemäß den »Regionen der Bedeutung«, denen sie zufallen. Die Zuweisung oder Auferlegung von Bedeutung vollzieht die »Aufteilung eines Lebendigen in die disiecta membra der Allegorie« (374).40 Sie bestimmt ihren Gegenstand zum leichenhaften, darin liegt die Gewaltsamkeit des allegorischen Bedeutens, deren andere Seite dessen Untreue gegen das Lebendige oder die »konventionelle, mit Bewußtsein staffierte Physis« des Menschen ist, die er ebenso wohl »im Stich läßt«, wie er sie tot zerstückt in die »allegorische Heimat« eingehen lasse (391f.). Bedeutung setze derart am allegorisch Bedeutenden sich durch »wie Lettern im Monogramm« (371f.), sagt Benjamin. Die Bedeutung liegt allegorisch »ohne Rückstand« vor, das ist aber nicht wie, Foucault zufolge, im klassischen Zeichen: »im Innern der Repräsentation«,41 sondern äußerlich zu lesen, als »Unterschrift« hinzugefügt, als Schrift »vors Bild gezerrt« (360f.). Das heißt umgekehrt fürs derart allegorisch Bedeutende: »das Eidos verlischt, das Geheimnis geht ein«, übrig bleiben »dürre[] rebus« (352). »Aufund Gespenster«, in: E. Horn/M. Weinberg (Hg.), Allegorie, S. 59-70, hier: S. 68-70. 40 In Emblemen tritt der Körper ›in Stücken‹ bedeutend auf (Sabine Mödersheim: »Herzemblematik bei Daniel Cramer«, in: B.F. Scholz/M. Bath/D. Weston (Hg.), The European Emblem, Leiden, New York 1990, S. 90-103, hier S. 90ff.). 41 M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 99. 179

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schriften« sind »Grabschriften«.42 Benjamin kennzeichnet die allegorische Bedeutungszuweisung als »Entwertung« der den Bedeutungen unterworfenen Welt, diese aber als die andere Seite der ›Rang-Erhöhung‹, die die Details als allegorisch verweisende erfahren (351). Das gehört zu den »Antinomien« der Allegorie, die Benjamin herauszustellen sich angelegen sein lässt.43 Wird das allegorische Detail als ein Zeichen für ein anderes einerseits den Alltagsgegenständen gegenüber im »Rang erhoben«, so ist es andererseits als Zeichen, das ein anderes bezeichnen soll, zugleich entwertet und als Chiffre, die für ein ›verborgenes Wissen‹ stehe, die ins Grübeln, in die melancholische Vertiefung zieht, als solche leer und selbst verbergend. »In seiner [des Allegorikers] Hand wird das Ding zu etwas anderem, er redet dadurch von etwas anderem und es wird ihm ein Schlüssel zum Bereiche verborgenen Wissens, als dessen Emblem er es verehrt. Das macht den Schriftcharakter der Allegorie.« (359) 44

»Der allegorische Tiefblick«, das kennzeichnet den allegorischen als melancholischen, »verwandelt mit einem Schlage [...] Dinge und Werke in erregende Schrift« (352). Diesen lesend-beschreibenden Blick, der sich seinen Gegenstand als Schrift gibt, die ihm als allegorischem Blick eine »erregende« ist, erkennt Benjamin »noch in Winkelmanns ›Beschreibung des Torso des Hercules im Belvedere zu Rom‹: wie er Stück für Stück, Glied für Glied in unklassischem Sinne ihn [...] durchgeht. Nicht umsonst vollzieht sich das am Torso.« (352)45 Es ist beim Wort zu nehmen, dass »in der Allegorie die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen« liegt (343, Hvhg. BM), und dass die »Zeichenschrift der Vergängnis«, in der »›Geschichte‹« (das Wort in Lettern) »auf dem Antlitz der Natur« steht, »als Schrift« »mit dem Trauerspiel« »in den Schauplatz hinein[ge]wandert« sei (353 Hvhg. 42 Nach H. Cysarz: Deutsches Barock in der Lyrik, S. 123. 43 Vgl. I, 350-353. 44 »Was immer sie ergreift, verwandelt ihre Midashand in ein Bedeutendes« heißt es gegen Schluss; »Verwandlung aller Art, das war ihr Element, und deren Schema war Allegorie« (I, 403). 45 »Eindringlich sei »ein solcher Blick noch in Winkelmanns ›Beschreibung‹« (I, 352). Benjamin wechselt hier unmarkiert die Ebene, vom »allegorischen Blick« zu einer Darstellung, die »unklassisch« allegorisch ist. Aber genau dies vollzieht, was Benjamin zufolge die Melancholie als (mit Haverkamp) Gegebenheitsweise ihrer Gegenstände ausmacht (s.o. in III.). 180

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BM).46 Die »allegorische[] Physiognomie der Natur-Geschichte, die auf der Bühne durch das Trauerspiel gestellt wird« (343), ist nicht ein Antlitz, das ein Inneres verkörperte und dieses zum Ausdruck brächte.47 Das »starre Antlitz der bedeutenden Natur« (347) ist vielmehr als die »Zeichenschrift der Vergängnis«, in der »›Geschichte‹« auf diesem »Antlitz der Natur steht« (353f.), gegeben: als des Gesichts, Gestalt der Figuration des Ausdrucks, letterale Disfiguration. Was derart ›vorliegt‹: als das, wozu es gemacht wurde, hat Bedeutung nicht von/ aus sich ›selbst‹: »eine Bedeutung, einen Sinn auszustrahlen, ist er von nun an ganz unfähig« (359), sondern allein aus der ›Machtvollkommenheit‹ des Allegorikers, dem der Gegenstand derart »auf Gnade und Ungnade [...] überliefert« ist (359), das macht die Schrift dem »allegorischen Tiefblick« zur erregenden. Die Allegorie ist insofern (allein) dieser ›Machtvollkommenheit‹ ›Ausdruck‹.48 Das allegorische Bedeuten erklärt den Gegenstand zum entwerteten – und macht ihn dazu. »Schrift« sagt über die Allegorie, über das Zeichen als »ein Schlüssel zum Bereiche verborgenen Wissens«, dass es sich um ein Supplement, eine Hinzufügung handelt, die stets auch Verschließung, Blockade ist, und die die Nicht-Ganzheit des Supplementierten (vermeintlichen Bildes)49 bezeugt. Daher heißt Benjamin »Schriftcharakter der Allegorie«, dass »das Ding« dem Allegoriker (immer) »zu etwas anderem, [...] ihm ein Schlüssel zum Bereiche verborgenen Wissens [werde], als dessen Emblem er es verehrt« (359). In Zentralpark, wo Benjamin von der barocken Allegorie her die Perspektive auf die ›Moderne‹ eröffnet, heißt dies: »Das von der allegorischen Intention Betroffene 46 »Wenn mit dem Trauerspiel die Geschichte in den Schauplatz hineinwandert, so tut sie es als Schrift. Auf dem Antlitz der Natur steht ›Geschichte‹ in der Zeichenschrift der Vergängnis.« (I, 353) »Die allegorische Physiognomie der Natur-Geschichte [werde] [...] auf der Bühne durch das Trauerspiel gestellt« (I, 353). 47 Denn es ist der Totenkopf, explizit kein »Antlitz«, sondern dessen Fehlen, in dem »die biographische Geschichtlichkeit eines einzelnen in dieser seiner naturverfallensten Figur bedeutungsvoll als Rätselfrage sich aus[prägte]« (I, 343, 353). 48 »Wird der Gegenstand unterm Blick der Melancholie allegorisch, läßt sie das Leben von ihm abfließen, bleibt er als toter, doch in Ewigkeit gesicherter zurück, so liegt er vor dem Allegoriker, auf Gnade und Ungnade ihm überliefert. Das heißt: eine Bedeutung, einen Sinn auszustrahlen, ist er von nun an ganz unfähig; an Bedeutung kommt ihm das zu, was der Allegoriker ihm verleiht« (I, 359). 49 »Das Bild im Feld der allegorischen Intuition« ist »Bruchstück, [...] Rune« (I, 352; vgl. I, 388f.). 181

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wird aus den Zusammenhängen des Lebens ausgesondert: es wird zerschlagen und konserviert zugleich«.50 Derart entspricht die Allegorie mit ihrem »Schriftcharakter« dem melancholischen Blick genau: »In den dürren rebus, die bleiben, liegt Einsicht, die noch dem verworrenen Grübler greifbar ist« (352), denn Einsicht wird, wenn sie denn aufgefunden wird, als Wissen beigebracht und aus dessen barock vielfältigen Fundus bezogen. Der allegorische Gegenstand liege »als toter«, abgestorben »vor dem Allegoriker, [...] an Bedeutung kommt ihm das zu, was der Allegoriker ihm verleiht« (359). Diese Bestimmung Benjamins, bekannt vor allem unter der Formel: »Jede Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis kann ein beliebiges anderes bedeuten.« (350),51 meint nicht die Subjektivität allegorischer Bedeutung, sondern die Unbegründetheit der Relation,52 zu der die Allegorie sich verhält, und die sie merklich macht. Daher verträgt diese sich genau mit der Beziehung der Allegorie auf »Konvention«, als deren Ausdruck: »Ausdruck der Konvention« (351), Benjamin die Allegorie ausweist. Allegorisch bedeutet und gelesen werden kann nur im Bezug auf ein anderes, vorgängiges Zeichen. »›Anderswoher‹ greift […] der Allegoriker sie [seine Zeichen] auf« (360). Allegorische Zeichengebung ist eine Zitation – ›anderswoher‹. An Benjamin anschließend formuliert de Man: »[I]t remains necessary, if there is to be allegory, that the allegorical sign refers to another sign, that precedes it.«53 Die Vorgängigkeit, »pure anteriority«,54 in der sie begründet ist, die das Bedeuten überhaupt ermöglicht, wird in der Bedeutung nicht in50 I, 666. Emblem dieses Doppelzuges ist das Emblem als ein Fall des »Körpers in Stücken« oder Reliquien aller Art (vgl. Geneviève Bresc-Bautier: »Embleme: Heraldik, Symbolik, synekdochisches Fragment«, in: S. Schulze (Hg.), Das Fragment. Der Körper in Stücken, Frankfurt/M. 1990, S. 43-46, hier S. 43-45). 51 Dies, diese »Möglichkeit« spreche »der profanen Welt ein vernichtendes doch gerechtes Urteil« (I, 350). 52 »[A]n Bedeutung kommt ihm [dem Gegenstand] das zu, was der Allegoriker ihm verleiht«, das gelte »nicht psychologisch sondern ontologisch« (I, 359). 53 Paul de Man: »Rhetoric of Temporality«, in: ders., Blindness and Insight, Minneapolis 21983 (1971), S. 187-228, hier S. 207; dtsch. »Die Rhetorik der Zeitlichkeit«, in: Ideologie des Ästhetischen, S. 83-130, hier S. 104; zu dieser Fortführung von Benjamins Konzept vgl. B. Witte: »Allegorien des Schreibens«, S. 133ff.; H. Drügh: Anders-Rede, S. 323 u.a., sowie das vollständige Unverständnis von Peter-André Alt: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen 1995. 54 P. de Man: »Rhetoric of Temporality«, S. 207. 182

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tegriert, sondern von der Allegorie als ursprüngliche Entzweitheit, Distanz zu sich selbst ausgestellt. Dieser Bezug auf Vorgängiges mag autoritativ abgesichert sein und selbst zum Ausdruck von »Autorität« werden (351), doch stellt sich die »Macht« dieses Zugriffs ›als eine äußere‹ dar. »›Anderswoher‹ greift […] der Allegoriker sie [seine Zeichen] auf und meidet darin keinesfalls die Willkür als drastische Bekundung von der Macht des Wissens« (360). Diese äußere »Macht« gehört dem allegorische Zeichen als die Differenz zu sich selbst an, das allein im zitierenden Bezug auf ein anderes Zeichen bedeutet, und manifestiert sich in der Fülle dessen, was an (der) Stelle dieses Bezuges an ›Bildern‹ und Bedeutungen weniger als »Fundus« zur Verfügung steht, als vielmehr ›herzudrängt‹ (361). Auf Merklichkeit wie Entferntheit der Bezüge sind Allegorien angelegt (wenn auch in verschiedener Weise in ihren aenigmatischen oder didaktischen Varianten). Die Allegorie bezeugt Ungewissheit hinsichtlich »the source of the authority validating the allegorical image«, ob es in der (bloßen) Erfindungskraft eines Poeten oder durch eine göttliche Ein-Gabe ins Bild begründet sei (J. Hillis Miller stellt dies als zweifache Auffassung der Allegorie vor);55 sie hält diese Ungewissheit als »the perennial division, within allegory« aus. Schlagend, ›bestürzend‹ (357) tritt die allegorische Bedeutung auf und bekundet derart die »Macht des Wissens« als verfügende und entblößende. Wenn die Auflösung »schlagend« erfolge (269) oder, mit Nähe zum Concettismus, frappierend,56 so dementiert dies die Voraussetzung eines substantiellen Zusammenhanges, der von innen getragen wäre, der darstellend verkörpert und ins Innere aufgenommen wäre.57 Auf Bestürzung angelegt »veralten« die Allegorien (359).58 Die »Macht des Wissens«, die in ihnen »ständig neu 55 J. Hillis Miller: »The Two Allegories«, hier und das Folgende S. 358; vgl. Prousts Bezugnahme auf Giottos »Caritas« der Arena-Fresken, dazu P. de Man: »Lesen (Proust)«, in: ders., Allegorien des Lesens, Frankfurt/M. 1988, S. 91-117, hier S. 106-110; R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 82f.. 56 Benjamin spricht auch von »Schlagfertigkeit« (I, 394); der allegorische Tiefblick verwandelt »mit einem Schlage [...] Dinge und Werke« (I, 352), und Allegorisches »schießt [...] der Intention auf dem Weg hinab entgegen und schlägt sie dergestalt vors Haupt« (I, 359, vgl. 405); wie zufolge des »Schema[s] des Emblems« »mittels eines Kunstgriffs« »sinnfällig das Bedeutete herausspringt« (405). 57 Dies bestimmt das »mystische Nu«, in welchem das Symbol den Sinn in sein (wie es heißt: waldiges) Inneres aufnehme (I, 342). 58 »Um der Versenkung Widerpart zu halten, hat ständig neu und ständig überraschend das Allegorische sich zu entfalten.« »Allegorien veralten, weil das Bestürzende zu ihrem Wesen gehört. Wird der Gegenstand unterm Blick der 183

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und ständig überraschend« sich zeigt, um »der Versenkung Widerpart zu halten« (359), ist die des kontingenten Zugriffs, ist grundlos, unsubstantiiert. Die »Willkür«, in der die »Macht des Wissens« sich drastisch bekunde (360), kennzeichnet diese als Macht ohne gesicherte Autorität und Souveränität; sie bezeugt vielmehr die Unregierbarkeit der bedeutenden Details. »[D]ie vielfachen Dunkelheiten des Zusammenhanges zwischen Bedeutung und Zeichen […] reizten […] dazu, immer entfernter liegende Eigenschaften des darstellenden Gegenstandes zu Sinnbildern zu verwerthen, um durch neue Klügeleien sogar die Ägypter zu übertreffen«, so zitiert Benjamin Giehlows Hieroglyphenkunde (350).59 Da diese Relationen (als solche) ohne vorgängige Sicherung und ohne inneres Maß sind, sind sie je zu viele60 und die Lektüre als allegorische jenes Zuviel,61 das durch die sich (als Legende oder Unterschrift) hinzufügende Schrift bezeugt wird.62 Der »Fundus« des Zitierten wird zum vielfach verzweigten und zeigt sich als solcher unabsehbar in den Bibliotheken, Kollektaneen, Tesauri, Schatzhäusern der allegorisch funktionablen Details. Das Gesetz der Findung und Fügung der ›Bilder‹, das Kombinieren und Re-Kombinieren von topoi, »Realien, Redeblumen, Regeln« (354f.), rhetorisch die ars inveniendi, ist ein ›äußeres‹. Damit will es nicht aufs »bloße Ganze« hinaus, sondern auf die Merklichkeit der Faktur und die Vorführung der techné selbst. Benjamin vermerkt die »Ostentation der Faktur« (355), auf die es mit der Allegorie (wie mit den ingeniösen Signifikationen) angelegt sei.63 In diesem Sinne ist die

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Melancholie allegorisch, lässt sie das Leben von ihm abfließen, [...] so liegt er vor dem Allegoriker auf Gnade und Ungnade ihm ausgeliefert.« (I, 359) D.i. K. Giehlow: Hieroglyphenkunde des Humanismus, S. 127. Von »im Allegorischen angelegter Wucherung der Semantik«, deren Begrenzung jeweils, rhetorisch oder hermeneutisch, gesucht werde, spricht H. Drügh: »Was mag wol klärer seyn?«, S. 1019; hier allerdings wird einerseits etwas historisch Spezifischeres ins Auge gefasst, und wäre andererseits viel weitreichender von Zeichen als Figuren, von Zeichen, die von Figuren nicht zu unterscheiden sind, zu handeln. R. Campe spricht von »rhetorischen Allegorien, die zuviele sind, und [...] Allegorese, die dieses Zuviel selber ist«, in Bezug auf’s »Versprechen [...] eines Sinns« (»Melanchthons Allegorie zwischen Rhetorik und Hermeneutik«, in: E. Horn/M. Weinberg (Hg.), Allegorie, S. 46-58, hier S. 51). P. de Man: »Lesen (Proust)«, S. 110-112. Zum Concettismus vgl. R. Lachmann: »Polnische Barockrhetorik: Die problematische Ähnlichkeit«; zu dem des deutschen Barock vgl. I, 375; M. Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker, S. 263, 192; R. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit; Stefan Rieger: Speichern/Merken. Die künstlichen Intelligenzen des Barock, München 1997, S. 66-73, 38f.; T. 184

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Allegorie des 17. Jahrhunderts »nicht Konvention des Ausdrucks«, wie die Ästhetik des Symbols sie kennzeichnete, damit die Allegorie als ihr »finsterer Fond« tauge (337), sondern, wie Benjamin umwendend einwendet, »Ausdruck der Konvention«, »geheim der Würde ihres Ursprungs nach und öffentlich nach dem Bereiche ihrer Geltung« (351).64 Benjamin prägt die Allegorie in der Antinomie von »Ausdruck« und »Konvention« als exzentrischen Vollzug, als »Umschlag[] von Extremen« aus (337); derart findet sich ausgeführt, was Benjamin die notwendige »dialektische Abhandlung« der »Antinomien des Allegorischen« nennt (350).65 Fasste die Ästhetik des Symbols die Allegorie als bloßes »konventionelles Verhältnis zwischen einem bezeichnenden Bilde und seiner Bedeutung« auf, und damit, wie Benjamin unterstreicht, »wie Schrift« (339), in einer Analogie, die beide, Allegorie und Schrift, reduzierte, so gewinnt dagegen in der Allegorie das Bedeuten selbst als »Willkürherrschaft über Dinge« (407) »Ausdruck« (339). Gelesen wird die »als Schrift« und »Unterschrift« (360) auftretende allegorische Bedeutung und mitgelesen werden muss mit dem zitierenden Beizug ›anderswoher‹, mit der Bekundung von der »Macht des Wissens« als Verfügung über die Dinge, die sich als »Willkürherrschaft« kenntlich macht, diese Relation – d.i. ihre Grundlosigkeit, die Heteronomie ihrer Begründung und die »Distanz in bezug auf ihren eigenen Ursprung«. De Man spricht von »Leere« an dieser Stelle: »Während das Symbol die Möglichkeit einer Identität oder Identifikation postuliert, bezeichnet die Allegorie in erster Linie eine Distanz in bezug auf ihren eigenen Ursprung […] [und] richtet […] sich als Sprachform in der Leere dieser zeitlichen Differenz ein.«66

Dieses Sich-Einrichten macht zum einen die in der Allegorie ausgehaltene Melancholie des Bezeichnens und deren Zeitlichkeit aus, zum anderen bringt die »Leere« der »zeitlichen Differenz« zum »eigenen Ursprung« das unaufhörliche ›Spiel‹ der Zeichen hervor.

Borgstedt: »Scharfsinnige Figuratio«; Ekkehard Knörer: Entfernte Ähnlichkeiten. Zur Geschichte von Witz und ingenium, München 2007, S. 94, 91. 64 Dies ist dem Wort Allegorie selbst abzulesen; vgl. u.a. J. Hillis Miller: »The Two Allegories«, S. 357. 65 Zur keineswegs hegelschen »Dialektik« Benjamins (etwa I, 364) vgl. R. Nägele: »Body politics«, S. 157, 152. 66 P. de Man: »Rhetorik der Zeitlichkeit«, S. 104. 185

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Das allegorische Bild ist nicht in sich (ab)geschlossen: »nicht das Wesen in seiner Hülle« (388), sondern bleibt vielmehr »Bruchstück«, »Rune« (352), »Schriftbild«. Es bezeichnet als solches, als Allegorie, die ›Distanz in bezug auf den eigenen Ursprung‹. Weil es keine Geschlossenheit des Bildes und daher keine Beschränkung der Bilder-Mengen ›von innen‹ kennt (350), erscheine das ›barocke Bilderwesen‹ ›unregiert‹. Am Maß der ästhetischen Gestalt, die als darstellende Verkörperung Totalität einzuschließen vermöge und sie daher vermeintlich unmittelbar zur Anschauung bringe, die vermeintlich zwanglos ein ›inneres Maß‹ der Bilder gebe, stellte es sich als Verschwendung dar. »Für jeden Einfall trifft der Augenblick des Ausdrucks zusammen mit einer wahren Bilderuption, als deren Niederschlag die Menge der Metaphern chaotisch ausgestreut liegt« (349). Die Fülle der Tesauri aus denen die ›allegorischen Bilder‹ bezogen werden können, reproduziert sich in jenen »Polter- und Vorratskammern« wie »Zauberstuben«, als die die barocken Werke sich zeigen (363f.).67 Zum einen muss die »Chiffernfülle« die »Macht des Wissens« belegen (360), zum andern aber fällt diese Fülle als ›Über-Last‹ der zitierten ›Bilder‹ an, die vielfach »Nachdruck« verleihen sollen (269), aber – so die auffällige Metapher Benjamins: »So verdunsten vielfach die Gedanken in Bildern« (375).68 Daher zeigen diese sich in dezentrierter Ungeordnetheit, als die »Unordnung der allegorischen Szenerie«: »Der Dialektik dieser Ausdrucksform gemäß hält einem Fanatismus der Versammlung die Schlaffheit in der Anordnung die Waage: besonders paradox die üppige Verteilung von Werkzeugen der Buße oder der Gewalt« (364).

Die allegorische Differenz von Vorgestelltem und Bedeutetem führen gerade die Embleme vor, die bedeuten, was auf der pictura nicht zu sehen ist; Harsdörffer definiert sie mit der Unterscheidung, sie seien »Gemälde«, »die ›ein anders‹ bedeuten als sie vorstellen«.69 67 »Das Trauerspiel vor allen anderen arbeitet mit diesem Fundus [»düstrer Prachtentfaltung«, der »in den Emblembüchern des Barock« vorliege]. Unermüdlich verwandelnd und vertiefend vertauscht es seine Bilder miteinander« (I, 404); »zugrunde liegt das Schema des Emblems« (I, 405). »Verwandlung aller Art, das war ihr Element; und deren Schema war Allegorie« (I, 403). 68 Das ist die andere Seite von, so wird Breitinger zitiert: »›Er hüllet die Begriff in Gleichniß und Figur als einen Kerker ein‹« (I, 376). 69 Nach M. Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker, S. 95. 186

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Sie zeigen die Diskrepanz »zwischen bezeichnendem Bilde und seiner Bedeutung« (339) im Auseinandertreten von Sichtbarkeit und Lesbarkeit, wie damit die Unabsehbarkeit letzterer. Das bildlich Vorgestellte manifestiert mit der möglichen Heterogenität seiner Elemente, durch seine katachrestischen Fügungen, dass sie nicht mimetisch aufgefasst, sondern gelesen werden müssen,70 und derart die Unverträglichkeit von »bildlichem Sein und Bedeuten«, die die Allegorie bestimmt (342). Die »barocke Bilderschrift« (360) muss gelesen werden; sie vergegenwärtigt die »Zeit im Raume«, wenn sie eine »Rose gleichzeitig halb blühend, halb verwelkt, die Sonne in der gleichen Landschaft auf- und untergehend zeigt« (370). Das Emblem sagt: Bedeutung fügt sich als Schrift neben dem Bild hinzu, als der notwendige Zusatz zu ihm, der dieses mit seinem Bezug anderswo hin in sich teilt, der das Emblem als solches erst macht.71 Benjamins entschiedener Akzentuierung dieser Diskrepanz zufolge wird dabei keineswegs das Vorgestellte als Bedeutendes der Bedeutung so unterstellt, dass dieses in jener ein- und aufgelöst wäre. Die durch die Allegorie hergestellte Relation von Vorgestelltem und Bedeutetem wird als beider Disjunktion kenntlich (342). Die Allegorie ist nicht nur eine Trope, die das eine sagt oder vorstellt, und der Allegoriker »redet dadurch von etwas anderem« (359), sie bedeutet nicht bloß (immer etwas anderes), statt mimetisch darzustellen, sondern bedeutet, indem sie das von ihr Präsentierte dementiert72 und damit an diesem Vorstellung und Bedeutung auseinander-setzt.73 Das ist die metafigurative Auskunft der Allegorie, die Benjamin konstatiert: sie »bedeutet genau das Nichtsein dessen, was 70 Zu erinnern ist Freuds Einsicht, dass Träume wie ein Rebus nicht durchs Anschauen zugänglich sind, sondern als eine heterogene Anordnung in der Fläche gelesen werden müssen. 71 S. Kofman: »Die alten Maler kennzeichnen diese strukturelle Unmöglichkeit, eine Bedeutung auszudrücken, im Bild, indem sie ihren Figuren Bänder mit aufgerollten Enden beigaben, die Legenden trugen« (Melancholie der Kunst, S. 21ff.); vgl. P. de Man: »Lesen (Proust)«, S. 110-112. 72 So ist auch die Allegorie im Sinne der spätantiken Allegoresen, im Schema der christlichen Exegese als eine Trope aufzufassen, »in der sich der Buchstabe negativ auf sich selber bezieht und damit seine Differenz zum Geist markiert« (David E. Wellbery: »Rhetorik und Literatur«, in: E. Behler/J. Hörisch (Hg.), Die Aktualität der Frühromantik, Paderborn u.a. 1987, S. 161173, hier S. 164; vgl. R. Campe: »Melanchthons Allegorie zwischen Rhetorik und Hermeneutik«). 73 Die Doppelsicht akzentuiert Roland Barthes anhand von Arcimboldos ›Allegorien‹ (»Arcimboldo oder Rhétoriqueur und Magier«, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt/M. 1990, S. 136-154, hier S. 150-154. 187

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[sie] vorstellt« (406). Dies als negative Erkenntnis einer »overtly negative relationship between content and mode of expression« aufzufassen,74 reicht nicht hin. Benjamin zufolge spiele sich im »Abgrund zwischen bildlichem Sein und Bedeuten« jene ›Bewegung‹ ab, als die er die Allegorie kennzeichnet (es sei eine »dialektische«, die keine Aufhebung absehrbar macht, sondern sich im »Umschlag von Extremen« vollzieht (337)). Die Allegorie macht aus, so argumentiert de Man, dass ein allegorischer Ausdruck zwei Bedeutungen, die wörtliche und die figürliche, erzeugt, die einander inkompatibel sind, und deren Inkompatibilität unauflösbar ist.75 Denn die sprachliche Form selbst erlaubt nicht zwischen diesen zu entscheiden, weder sind die beiden ineinander zu überführen, noch fügen sie sich zu einer integralen Einheit, sondern das Vorgestellte oder Erzählte und die figürliche Bedeutungen dementieren, ihre Lektüren blockieren einander. Die sprachliche Form der Allegorie fällt daher in keiner Lektüre mit sich selbst zusammen (und schließt sich ab). Stets wird zugleich etwas anderes ›vorgestellt‹, erzählt oder abgebildet, was den Zugang zur anderen Bedeutung der Allegorie blockiert. Die Allegorie führt die Disparatheit von Vorgestelltem und Bedeutung (von etwas anderem) vor, indem die allegorische Bedeutung zugleich »genau das Nichtsein« des Vorgestellten bedeute (das ist die metafigürliche Bedeutung) und durch die Opazität des allegorischen Bildes, das mit allem, was es zu sehen gibt, die allegorische Bedeutung blockiert. In ihrer metafigurativen Wendung auf die eigene Faktur ›spricht‹ die Allegorie von der Disparatheit zwischen (allegorisch vorgestellter) ›Welt‹ und Sprache,76 Dingen und Lesbarkeit, Gelesenem und Lektüre. Der Riss, von dem die Allegorie ›spricht‹, weil sie ihn voraussetzt und bezeugt, scheidet die allegorische ›Welt‹ in sich/von sich selbst.77 Es ist der Tod, der in dieser Auffassung: im allegorischen Tiefblick, die »Demarkationslinie« zwischen Physis und Bedeutung ›am tiefsten eingräbt‹ (342f.) (da-

74 Jan Mieszkowski: »Art forms«, in: D. S. Ferris (Hg.), The Cambridge Companion to Walter Benjamin, S. 35-53, hier S. 46. 75 Hier und das Folgende: P. de Man: »Allegory (Julie)«, in: ders., Allegories of Reading: Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven 1979, S. 188-220, hier S. 205; ders.: »Lesen (Proust)«, S. 109f. 76 Damit spricht sie, wenn »Jede Person, jedwedes Ding, jedes Verhältnis [...] ein beliebiges anderes bedeuten« kann, »der profanen Welt ein vernichtendes doch gerechtes Urteil« (I, 350). 77 Vgl. P. de Man: »Rhetorik der Zeitlichkeit«, S. 103f. 188

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rauf komme ich gleich zurück, nach der genaueren Erkundung des »Schriftcharakter[s] der Allegorie« (359)). Schrift, nach deren Konzept Benjamin die Allegorie zu denken gibt (339), bezeichnet als Supplement und durch ihre buchstäbliche Zerlegbarkeit, als die sie sich (auch im Bild) durchsetzt, die NichtIdentität des Vorgestellten, die nicht durch Bedeutung eingeholt, integriert und eingeschlossen werden kann; sie fügt sich hinzu, exponiert doppelnd die Angewiesenheit der Bedeutung auf ein ihr Äußerliches und führt die Diskrepanz zwischen Bedeutung und ihrem vermeintlichen ›Träger‹ vor.78 Diese Diskrepanz akzentuiert Benjamin durch die »Grell«-heit, mit der die allegorischen Sentenzen auftreten, wenn sie gleichsam die »allegorischen Verwicklungen« beschriften (371) und keineswegs die allegorisch bedeutende ›Handlung‹ zu einer Einheit integrieren. Diese Sentenzen fungieren, so schlägt Benjamin vor, wie »Rahmen, als obligater Ausschnitt […], in den die Handlung stets verändert, stoßweise einrückt, um sich als emblematisches Süjet darin zu zeigen« (373).79 Derart unterliegt die ›dramatische Handlung‹ des Trauerspiels der »intermittierenden Rhythmik eines beständigen Einhaltens, stoßweisen Umschlagens und neuen Erstarrens« (373), die die ›Handlung‹ zerstückt, indem sie, jeweils in diesen »Rahmen« einrückend, in ihren Teilen etwas anderes bedeutet und ›selbst‹ ausgestellt wird. So lösen, nach der Beobachtung Benjamins, die Reyen, die allegorischen Zwischenspiele der barocken Trauerspiele, nicht nur unterbrechend deren Akte aus dem Zusammenhang der Handlung,80 sondern ›akzentuieren‹ als »Einfassungen des Akts, die zu ihm sich verhalten wie die ornamentalen Randleisten der Renaissancedrucke zum Satzspiegel«, die handelnden Auftritte selbst als »Bestandstücke einer bloßen Schaustellung« (301, 367). Der ornamentale Rahmen, als den Ben78 Vgl. I, 381ff., 388; vgl. zur Schrift als Supplement, J. Derrida: Grammatologie, zur Hinzufügung als Unterschrift de Man, »Proust (Lesen)«, 110-112, S. Kofman: Melancholie der Kunst, S. 21f. 79 Vgl. I, 367ff. »Unermüdlich verwandelnd und vertiefend vertauscht es [das Trauerspiel] seine Bilder miteinander« (I, 404); »jene[n] zahllosen Effekte[n] [...], in welchen der Thronsaal in den Kerker, das Lustgemach in eine Totengruft, die Krone in den Kranz aus blutigen Zypressen anschaulich, oder sprachlich nur, verwandelt wird« »liegt [zugrunde] das Schema des Emblems, aus welchem mittels eines Kunstgriffs, der stets von neuem überwältigen musste, sinnfällig das Bedeutete hervorspringt« (I, 404f.). 80 Die zwischen die Akte eingelassenen Reyen waren die barocke Umformung (»reicher entwickelt«, »loser mit der Handlung verbunden«) des antiken Chors, dessen Reden Benjamin als das nimmt, was sie Aristoteles zufolge keinesfalls sein durften: »Intermezzi« (I, 300). 189

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jamin die Reyen auffasst, indiziert als parergonale Zugabe die Nichtgeschlossenheit der dramatischen Handlung selbst (daher ist »der Chor im Barockdrama [...] nichts Äußerliches« (366)), nämlich deren ›innere‹ Angewiesenheit auf ein anderes, das diese begrenzend, ausschließend und einfassend konstituiere. In keiner Bedeutung ist das allegorische Bedeuten oder die Lektüre totalisierend ein- und abgeschlossen, sondern je wieder manifestiert sich die Diskrepanz zwischen ›Handlung‹ und Sentenz als Unterschrift oder zwischen Auftritt und Reyen, der ihn rahme (366-371). Die so akzentuierte Schriftlichkeit kennzeichnet keineswegs die barocken Trauerspiele als ›Lesedramen‹ (361) unter Hintanstellung ihrer Aufführung,81 sondern charakterisiert diese vielmehr gerade mit der Analogie zu Typographie und Schriftbild als »Schaustellungen«. Denn die »Erkenntnis«, das Trauerspiel sei »seiner Form nach Lesedrama« (361), »sagt«, so Benjamin, »[ü]ber den Wert und die Möglichkeit seiner Aufführungen [...] [gar] nichts aus«,82 sondern damit will es auf die Schau-Stellung selbst hinaus, wie die typografische Organisiertheit der Schrift in der Fläche deren Sichtbarkeit als Schrift vorstellt. So haben die »Einfassungen des Akts«, die diesen als »Bestandstück[] einer bloßen Schaustellung« (301) zeigen, wenn sie »zu ihm sich verhalten wie die ornamentalen Randleisten der Renaissancedrucke zum Satzspiegel« (300f.), ihr Modell an der Anordnung auf der Fläche als eine dem Zuschauer gewidmete Ausstellung dessen, was diese Rahmen zu sehen geben. Diese Analogie »akzentuiert«, Benjamin zufolge, das Trauerspiel (statt als dramatische Handlung, vielmehr) als die »bloße Schaustellung«, als deren Stücke seine isolierten Akte zu sehen sind (301). Die konzeptuelle Metapher von Rahmen und »Satzspiegels« wird fortgeführt, wenn Benjamin das Vorurteil vom ›Lesedrama‹, das das barocke Trauerspiel gewesen sei, derart beim Wort nimmt, »daß der erwählte Zuschauer solcher Trauerspiele grüblerisch, und mindestens dem Leser gleichend, sich in sie versenkte; daß die Situation nicht allzu oft, 81 Dies Missverständnis, das den Status des Begriffs der ›Schrift‹ betrifft, findet sich erneut bei Claudia Benthien (Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert, München 2006, S. 100), trotz Benjamins ausdrücklichen Gegenhaltes: »Gewiß wäre diese Anschauung im Unrecht« (I, 361), der sich gegen »ältere Forschung« richtete (vgl. ein paar Jahre später P. Hankamer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock, S. 298); dgg: »Über den Wert und die Möglichkeit seiner Aufführungen sagt diese Erkenntnis nichts aus«. 82 »Ist doch die Allegorie das einzige und gewaltige Divertissement, das da dem Melancholiker sich bietet« (I, 361). 190

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dann aber blitzartig wechselten wie der Aspekt des Satzspiegels, wenn man umblättert« (361). Lesen, das an die typografische Anordnung als an seine Figur gebunden ist (388), akzentuiert derart statt der Handlung und deren dramatische Konsistenz am barocken Trauerspiel die »Bestandstücke einer bloßen Schaustellung« als die seine Partien gerade durch den »blitzartigen« Wechsel, dessen was zu sehen gegeben ist, kenntlich werden. Die Auffassung der Schrift als ›Figur‹ des Lesens bindet dieses und das Gelesene an die sichtbare Anordnung der Zeichen in der Fläche. Zwar ist »das Bild [...] im Zusammenhang der Allegorie nur Signatur, nur Monogramm des Wesens, nicht das Wesen in seiner Hülle« (388), aber »Schrift [hat] nichts Dienendes an sich, fällt beim Lesen nicht ab wie Schlacke. Ins Gelesene geht sie ein als dessen ›Figur‹« (388). Lesend wird nicht die Schrift in das Gelesene transzendiert, sondern das »Gelesene« bleibt ans Schriftbild als seine »›Figur‹« gebunden und ist derart in der Schrift-Fläche festgehalten. »[D]en Schriftcharakter der Allegorie« bestimmt daher Benjamin auch in einer Doppelung. Was der Allegoriker einerseits als »Schlüssel zum Bereiche verborgnen Wissens« und dessen »fixierendes Zeichen« auffasst (359), nimmt er andererseits »als dessen Emblem« und behält es als »fixiertes Bild«: »Ein Schema ist sie [die Allegorie], als dieses Schema Gegenstand des Wissens, ihm unverlierbar erst als ein fixiertes: fixiertes Bild und fixierendes Zeichen in einem.« (359)

Die Allegorie ist »als ein Bild nicht Zeichen des zu Wissenden allein, sondern wissenswürdiger Gegenstand selbst« (360). Es ist zitierbar und als Emblem ›verborgenen Wissens‹ selbst Teil des Wissens, das durch dieses zitierend belegt wird. Es wird zitiert, tradiert und fixiert, zum »wissenswürdigen Gegenstand«. Das »Emblem« ›verborgenen Wissens‹ mag dieses auf-schließen, aber stellt es nicht dar, verkörpert es nicht und schließt es nicht ein, vielmehr springe nach dem »Schema des Emblems« »mittels eines Kunstgriffs« »sinnfällig das Bedeutete heraus« (405). Festgehalten ist als »Emblem«, das als Bild auch die Bedeutung blockiert, für die es stehe, ein Schema83 des Bedeutens.

83 In diesem Sinne wäre das Emblem auf die imagines der memoria zu beziehen, wie Frances Yates: The Art of Memory, London 1966 dies will. 191

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»Das Bild im Feld der allegorischen Intuition« ist als »Bruchstück« (352) das Schema des allegorischen Lesens. Wenn zum einen »[i]n den dürren rebus, die bleiben, [...] Einsicht [liege], die noch dem verworrenen Grübler greifbar ist« (352), so ist zum andern umgekehrt das, was »dauert«, ein »Bruchstück« (geworden), das zum »Gegenstand des Wissens« wird (357). Die Allegorie ermöglicht eine metafigürliche Lektüre ihrer Faktur, die sie zur Ausstellung bringt,84 und damit das Lesen des allegorischen Lesens, wie sie immer (auch) etwas anderes lesen lässt, als sie bildlich vorstellt oder erzählt, was dessen »Nichtsein« bedeute (406); oder vielmehr: »In allegory, what is sensibly apparent is not the idea, but the absence of idea.«85 Derart spricht die Allegorie von der ›Welt‹, die sie allegorisch liest, deren Lektüre in Allegorien ›dargestellt‹ ist, die nicht mit ihrem Sinn, wie dieser nicht mit seiner Darstellung zusammenfällt. In ihrer allegorischen Auffasssung ist sie von einem Riss in sich/von sich selbst geschieden, gezeichnet von der »Demarkationslinie«, die als die »zwischen Physis und Bedeutung« »am tiefsten« der Tod »eingräbt« (342f.). »In der Allegorie [liege] die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen« (343) – das ist die melancholische Ansicht der Allegorie. Sie ist allegorisch als »erstarrte« simultaneisierte ›Landschaft‹ und, insofern sie »als allegorische [Darstellung] unheilbar verschieden von seiner [des Sinns der Natur] geschichtlichen Verwirklichung« ist (347).86 Durch Ostentation ihrer Faktur ›spricht‹ die Allegorie von der gefallenen Natur, die ›unheilbar von sich selbst verschieden‹ (347) allein dem allegorischen Bedeuten »gewidmet« und daher dessen »Willkürherrschaft« unterworfen sei. So »tragen« die Dinge – gemäß der dem Barock »eigenen Betrachtungsart« – »auf der Vollmacht ihres allegorischen Bedeutens das Siegelbild des Allzu-Irdischen« (356). Natur ist so allegorisch wie todverfallen »von jeher« (343), oder vielmehr sie wird

84 C. Martin setzt mit Milton den Akzent auf’s Metaallegorische der Allegorie in Analogie zur Metatheatralität Shakespeares (The Ruins of Allegory, S. 4f., 25, 28f., 95, 99). 85 J. Hillis Miller: »The Two Allegories«, S. 364f.. 86 »Gewidmet weder irdischer noch sittlicher Glückseligkeit der Kreaturen, ist sie [Natur] angelegt einzig auf ihre geheimnisvolle Unterweisung. Denn dem Barock gilt die Natur als zweckmäßig für den Ausdruck ihrer Bedeutung, für die emblematische Darstellung ihres Sinnes, die als allegorische unheilbar verschieden von seiner geschichtlichen Verwirklichung bleibt.« (I, 347). 192

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durch die Zuweisung von Bedeutung zu einer solchen (gefallenen) erklärt (vgl. 398), zu einer solchen gemacht. »The allegorist picks up where death leaves off, with a nature that is historical in passing away, and natural in its endurance and recurrence. Death is at work in allegory however not just as decline and decay, but more intimately, as that which separates each thing from itself, from its essence and from its significance.«87

»Soviel Bedeutung, soviel Todverfallenheit« (343), so lautete die metafigürliche Erkenntnis des allegorischen Lesens. Die Allegorie ist nicht nur auf den Tod bezogen, von dem her dem allegorischen Blick die Gegenstände, so todverfallen wie allegorisch, gegeben sind, sondern dieser ist, so S. Weber, in der Allegorie selbst am Werk als das, was alles von sich selbst (oder ›seinem Wesen‹) scheidet oder verschieden-macht. Wenn die Allegorie im »Abgrund zwischen bildlichem Sein und Bedeuten sich versenkt«, so unterscheide sie sich, so will es Benjamin, von der »unbeteiligten Süffisanz des Zeichens« (342), denn in diesem »Abgrund der Allegorie« habe eine brausende »Bewegung« statt (342), die als »Urgeschichte des Bedeutens«88 wohl »geschichtliche Breite« habe (342), aber in keiner Erzählung integriert werden kann. Denn die Allegorie eröffnet ›Zeitlichkeit‹ als die »Distanz in bezug auf ihren eigenen Ursprung« und hält sie (auf), weil sie, so P. de Man, »in erster Linie eine Distanz in bezug auf ihren eigenen Ursprung« bezeichnet, indem sie sich »in der Leere dieser zeitlichen Differenz ein[richtet]«.89 In der allegorischen Lektüre (des Lesens) der (barocken) Allegorien begegnet die Trauer im ›Ursprung der Bedeutung‹ (384);90 Trauer ist der »Gehalt« der Allegorien (403), die umgekehrt das Schema der unabschließbaren Trauer stellen (die den Toten nicht abschliessend repräsentiert; s. oben in III.), indem sie statt (der sich schließenden Darstellung) die Bruchstücke, die ihre Bilder sind, 87 S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 496. 88 Die Formel griff Adorno auf. »Der Terminus ›Bedeuten‹ heißt, daß die Momente Natur und Geschichte nicht ineinander aufgehen, sondern daß sie zugleich aufbrechen und sich so verschränken, daß das Natürliche auftritt für Geschichte und Geschichte […] als Zeichen für Natur« (T. W. Adorno: »Idee der Naturgeschichte«, S. 360). 89 Vgl. P. de Man: »Rhetorik der Zeitlichkeit«, S. 104. 90 Vgl. »Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«, II, 138f. 193

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anhäuft und in trauriger Zerstreuung hinterlässt. Der barocke »Bilderschatz« ist nicht nur inhaltlich naturgeschichtlich bestimmt, insofern er »zur schlagenden Auflösung historisch-sittlicher Konflikte in die Demonstrationen der Naturgeschichte« beigezogen werden konnte, sondern Trauerspiel und Allegorien verfallen im »›Prangen mit einer physicalischen Gelahrtheit‹« (269),91 mit ihren Requisiten und dem »Fundus düsteren Prachtentfaltung«, den sie beiziehen, dem barocken ›Geist der Schwere‹92 und damit gleichsam an die Natur-Geschichte. Das allegorische Lesen schiebt nicht die Bedeutung unendlich auf. – Das wäre vielmehr eine romantische Auffassung der allegorischen Struktur, wie diese Fineman mit: »the structurality of the text holds out the promise of a meaning that it will also perpetually defer«,93 eher als ironische bestimmt. Allegorien bedeuten, aber sie bedeuten, was sie nicht bildlich vorstellen, was durch das bildlich Vorgestellte oder Erzählte vielmehr blockiert wird, und was umgekehrt genau das »Nichtsein« dessen bedeute, was vorgestellt ist. Das allegorische Bedeuten bestreitet den Personen oder Dingen (die bedeutend seien) die (Möglichkeit einer) »Sinnerfüllung«, die diese »in sich selbst« fänden (398). Mit der allegorischen Bedeutung ist »das Geheimnis [...] ein[gegangen]«, übrig bleiben »dürre[] rebus« (352). Ist daher die Bedeutung jeweils enttäuschend, so kann aber dies enttäuschende Bedeuten je (nur) vergeblich wiederholt werden. Jeder jeweiligen Entwertung der Dinge, die die allegorische Bedeutung bekundet, und der Enttäuschung an dem, was Bild, Chiffre, Schlüssel war, folgt dasselbe, bzw., so Benjamin: »immer von neuem drängen die amorphen Einzelheiten, welche allein allegorisch sich geben, hinzu« (361). Daher ist die Allegorie Modus einer ›vergeblichen Wiederholung‹, während die Ironie eine ›unendliche‹, unendlich aufschiebende prozediere.94 Zum einen wären nun 91 So zit. Benjamin die Absage Breitingers, I, 269. 92 Vgl. F. Strich: »Der lyrische Stil des siebzehnten Jahrhunderts«, S. 37, 39. 93 Joel Fineman: »The Structure of Allegorical Desire«, in: S. J. Greenblatt (Hg.), Allegory and Representation, Baltimore, London 1981, S. 26-60, hier S. 45. Angus Fletcher schlägt (in seinem für die angelsächsische AllegorieAuffassung so wichtigen Buch: Allegory. The Theory of a Symbolic Mode, 1964/1970) vor: »ironies« seien nicht anti-allegorisch, sondern »collapsed« oder »condensed allegories« (ebd., S. 230, vgl. S. 229-233). 94 Vgl. Paul de Man: »Excuses (Confessions)«, in: Allegories of Reading, S. 278-301, hier S. 300f.; ders.: »Allegory (Julie)«, S. 193; ders.: »Rhetoric of Tropes (Nietzsche)«, in: Allegories of Reading, S. 103-118, hier S. 106; zu den verschiedenen Zeitlichkeiten vgl. P. de Man: »Rhetorik der Zeitlich194

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Benjamin zufolge »das Fragment und selbst die Ironie als Umbildung des Allegorischen zu erweisen« (364),95 zum anderen aber sperrt die Schwerfälligkeit der barocke Allegorien (sich gegen) die romantische ›Potenzierung‹ durchs Wiederholen, so schwindelndunabschließbar diese sei.96 Allegorien geben ihre metafigürliche Einsicht in die ›unheilbare‹ Verschiedenheit von Dingen und Sinn zu lesen, insofern sie diese austragen und stets wieder auf-halten. Sie teilen diese mit, indem sie noch mit dieser Einsicht zu koinzidieren sich weigern: die allegorische Lektüre fällt mit der Lektüre des allegorischen Lesens (die zugleich nicht vermieden werden kann) nicht zusammen. Anstelle der ›Distanz in bezug auf ihren eigenen Ursprung‹, den die Allegorie bezeichnet, behauptet sich die barocke Allegorie durch die traurigen Anhäufungen von Bruckstücken (ihres Bedeutens), die sie aufbietet und hinterlässt.

Im »Widerspiel zwischen Laut und Bedeutung«. Sprachgebärden Wie Allegorien so führen andere barocke Spiele, Paronomasien, puns, Anagramme die Verselbständigung der Elemente der Sprache vor. Sie dissoziieren, was als »gefestete[s] Massiv der Wortbedeutung« (376) vorgestellt zu werden pflegt, im Spiel zwischen »Schriftbild« und Lautlichkeit (376), im »Widerspiel zwischen Laut und Bedeutung«.97 Echo-Spiele, in denen »Laut und Bedeutung« – wie nirgendwo sonst sagt Benjamin – als Einheit gegeben seien, sind es, die beider Antithetik ausspielen. Während Benjamin zufolge ein »freies Lautspiel« »von Bedeutung sozusagen befallen« werde (383f.), ist das Echo aber barockes Spiel der Sprach-Laute, inso-

keit«; Anselm Haverkamp: »Allegorie, Ironie und Wiederholung. Zur zweiten Lektüre«, in: M. Fuhrmann/H. R. Jauß/W. Pannenberg (Hg.), Text und Applikation, München 1981, S. 561-567, hier S. 563. 95 Benjamin meint Jean Paul (I, 364); zur Berührung von Romantik, »unvergleich genau«: Novalis, und »barocker Geistesart« »im Raum des Allegorischen«, vgl. I, 363. 96 Vgl. die Unterscheidung von Barock und Romantik, beide »Korrektiv der Klassik«, wobei letztere »im Namen der Unendlichkeit, der Form und der Idee das vollendete Gebilde kritisch potenziert« (I, 352), sowie Benjamins Bestimmung der »Kritik« (nicht romantisch, sondern) als »Mortifikation der Werke« (I, 357). 97 »Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«, II, 139; vgl. I, 376389. 195

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fern es diese zum Schauplatz von Bedeutungseffekten macht. Es handelt sich um einen Typus der Paronomasie, deren Spiel der »Antithese« (387) »von Laut und Bedeutung« (383) gilt, die die Concettisten zu verblüffenden Effekten zu nutzen verstanden.98 Die Verblüffung, auf die es die ingeniösen Signifikationen des europäischen Concettismus in diesem Widerspiel anlegten, tritt im intriganten Spiel mit den Worten in einer (vermeintlichen) Echo-Szene – »Meisterstück in einer übrigens uninteressanten wiener Haupt- und Staatsaktion« (383), Die Glorreiche Marter des Heyligen Joannes Von Nepomuckh99 – als der ›Schrecken‹ ›todverheißender Bedeutungen‹ auf. »Bedeutung begegnet als der Grund der Traurigkeit«, und zwar nicht nur als jene »todverheißenden« Bedeutungen, die im Wortspiel den vom Intriganten zerlegt-verkürzt wiedergegebenen Wortkörpern beigelegt sind: »und solt es kosten auch mein Bluth und auch mein Leben,/ Eben – –«.100 Vielmehr führt gerade, wo im Echo »Laut und Bedeutung« »beide in einem« gegeben werden sollten (383), die Tropik der Wiederholung zur Dissoziation zwischen Bedeutung und Wort-Laut, der Bedeutung (als solche) als ›Ursprung der Trauer‹ kenntlich macht. Den Reden begegnet in den »todverheißenden Bedeutungen«, mit denen sie Antwort zu erhalten schei98 Paronomasien spielen die Unähnlichkeit zwischen den Bedeutungen zweier einander möglichst ähnlicher Signifikanten im verblüffenden Bedeutungseffekt aus; derart treten die (Ähnlichkeit der) Signifikanten und die (Unähnlichkeit der) Signifikate gegeneinander (vgl. R. Lachmann: »Polnische Barockrhetorik: Die problematische Ähnlichkeit«, S. 101f.). 99 Es handelt sich um Die Glorreiche Marter des Heyligen Joannes Von Nepomuckh unter Wenzeslao dem faulen König der Böhmen und die Politischen Staats-Streiche, und verstelten einfalth des Doctor Babra eines grossen Fovirten des Königs gibt denen Staats Scenen eine Modeste Unterhaltung, zu finden in: Fritz Homeyer: Stranitzkys Drama vom ›Heiligen Nepomuck‹. Mit einem Neudruck des Textes, Berlin 1907, repr. New York u.a. 1970. 100 Die Glorreiche Marter, V. 868, S. 170; vgl. näher Bettine Menke: »Rhetorik der Echo. Echo-Trope, Figur des Nachlebens«, in: D. Bischof/M. WagnerEgelhaaf (Hg.), Weibliche Rhetorik – Rhetorik der Weiblichkeit, Freiburg/B. 2003, S. 135-159; dies.: »›Wie man in den Wald hineinruft …‹. Die Echos des Übersetzens«, in: C. L. Hart-Nibbrig (Hg.), Übersetzen: Walter Benjamin, S. 367-393. Insofern es »die letzten zwei oder drei Silben einer Strophe wiederholt, und zwar oft« – so zit. Benjamin Hallmann (I, 384) – »durch Weglassung eines Buchstabens so, daß es wie Antwort, Warnung oder Prophezeiung klingt«, handelt es sich, auch wenn Benjamin am Echo-Spiel dessen Lautlichkeit hervorhebt, doch (auch) um buchstäbliche Effekte (vgl. B. Menke: »Die Wiederholung, die das Echo ist«, in: K. Müller-Wille/D. Roth/J. Wiesel (Hg.), Wunsch – Maschine – Wiederholung, Freiburg/B. 2002, 171-196). 196

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nen,101 ein unheimlicher Sinn, der heimlich den eigenen Worten letteral schon angehörte. Die »bedeutungsschwangere Ironie« dieser Antworten (383f.) untersteht nicht letztendlich dem Intriganten als dem »Herrn der Bedeutung«, sondern sie gilt der Äußerung ›eines Gemeinten‹ überhaupt. Das »Widerspiel zwischen Laut und Bedeutung« begegne als »ein Geisterhaftes, Fürchterliches«,102 denn darin tritt das double des ›eigenen‹ Wortes auf, das diesem schon immer als Anderes angehörte, und führt die unheilbare Inkohärenz der Dimensionen der Sprache vor. »Dies Spiel [sagt Benjamin] wie andre seinesgleichen, die man so leicht für Allotria nahm, redet also zur Sache selber« (384); seine ›Sache‹ ist die Sprache. Diese Spiele beziehen sich in ihrem Operieren auf die Sprache, auf das Verhältnis von Wort, sprachlicher ›Materialität‹ und Bedeutungen.103 Das Echo gehört wie andere Formen der Laut-Insistenzen oder Anagramme zu den Operationen, die die sprachliche Äußerung zerlegen und ihre »Elemente« selbst produktiv machen. Die bereits genannte Lese-Szene aus Calderóns El mayor mónstruo, los celos bezieht aus »Sprachzerstückelung« ihre dramatische Kraft (382):104 »Die Worte erweisen sich noch« oder vielmehr gerade »in ihrer Vereinzelung verhängnisvoll« für die Leserin, die nur auf Teilstücke des Schriftstücks, das nicht für sie bestimmt war, trifft; »schon die Tatsache, daß sie, so vereinzelt noch etwas bedeuten, gibt dem Bedeutungsrest, der ihnen verblieb, etwas Drohendes« (382); es ist jenes Drohende, das nicht vom (im Satz) Geäußerten regiert wird, sondern in den Zwischenräumen und Spalt(ung)en lauert. Die baro101 – Wenn der in der Wiederholung leere Laut als Antwort (einer anderen Stimme) fehl-referentialisiert wird; vgl. Anselm Haverkamp: »Milton’s Counterplot. Dekonstruktion und Trauerarbeit 1637: ›Lycidas‹«, in: DVjs 63 (1989), S. 608-627, hier S. 619; I. 384. 102 »Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie« II, 139. 103 Vgl. mit Bezug auf »Über die Aufgabe des Übersetzers« Paul de Man: »Conclusions: Walter Benjamin’s ›The Task of the Translator‹«, in: ders., The Resistance to Theory, Minneapolis u.a. 1986, S. 73-105; sowie in Bzug auf dieses wie das Trauerspielbuch Hans Jost Frey: »Die Sprache und die Sprachen in Benjamins Übersetzungstheorie«, in: Christiaan L. HartNibbrig (Hg.), Übersetzen: Walter Benjamin, Frankfurt/M. 2001, S. 147158, hier S. 149ff.; R. Nägele: »Echolalie«, insb. S. 66f., 74ff. . 104 Diese Szene führt Benjamin sowohl im Aufsatz zum »historischen Drama« wie im Trauerspielbuch an (II, 263; I, 382). Die schriftliche von ihrem ›Herrn‹ sich ablösende Äußerung wird, zerrissen, in herausgerissenen Einzelworten drohend bedeutsam (P. Calderón: El mayor mónstruo del mundo, los celos, 2. jorn. vv. 2276-2296; Übers. von J.D. Gries: »Eifersucht das größte Scheusal«, S. 316; vgl. B. Menke: »Reflexion des Trauer-Spiels«, S. 274-276). 197

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cke Sprache ist »erschüttert« durch »Rebellionen ihrer Elemente« (381f.).105 An den Echospielen macht Benjamin spezifisch aus, dass Bedeutung als »Hemmung und [insofern] Ursprung einer Trauer« (384) erfahren werde; er nimmt die Hintergrund-Metapher einer vorausgehenden fließenden sich ergießenden Bewegung (383f.) in Anspruch. Mit deren »Hemmung« und »Stauung« ist eine Figur für den »materialische[n] Aufwand« der Sprache der barocken Dichtung (376) gegeben; den Barock-Stil kennzeichne »keine fortschreitende Bewegung, sondern ein Anschwellen innen her«, so auch F. Strich (der die Rede vom Barock aufs Wortbarock bezog, den auch Benjamin beizieht).106 Benjamin notiert zur Passagenarbeit: »Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ›schwellen‹«; Schwelle ist daher nicht Grenze, sondern »eine Zone«.107 Mit seiner Bestimmung der Bedeutung, die schriftgemäß heißt, durch die »Hemmung« im – so Benjamins irritierende Metapher – »harmlosen Erguß einer onomatopoetischen Natursprache« nimmt Benjamin zum einen Bezug auf die barocken »bald spiritualistisch, bald ins Naturalistische gewendet[en]« Imaginationen einer »Natursprache«.108 Zum andern ist dies als der »Ursprung einer Trauer« der Natur (384) auch ein RückBezug auf Benjamins ›ältere Theorie der Trauer‹ (der Natur):109 es handelt sich um die »Hemmung« eines »Duchgangs« »vom Laute der Natur zum reinen Laute des Gefühls«, die dieser im Verrat erfahre, als der das Wort mit der Bedeutung der Natur begegne.110 Im

105 Letterale Operationen machen die Worte selbst ›schütter‹, exponieren in Hinsicht ihrer Zerlegbarkeit, vgl. (mit Bezug auf Benjamins »Kommentare« zu Brecht-Gedichten) B. Menke: »Die Wiederholung, die das Echo ist«, S. 174f.. 106 F. Strich, »Der lyrische Stil des siebzehnten Jahrhunderts«, S. 39, 41f.. 107 Zugleich sei der »tektonische und zeremonische Zusammenhang festzustellen, der das Wort zu seiner Bedeutung gebracht« habe (V, 618). 108 Zur im Barock populären Auffassung von Natursprache, vgl. Paul Hankamer: Die Sprache. Ihr Begriff und ihre Deutung im 16. und 17. Jahrhundert (1927), repr. Hildesheim 1965, S. 117-122, was Benjamin sowohl zitiert als auch rezensierte. 109 »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«, II, 139. 110 Das setzt als Hemmung das Konzept des »Wortes in der Verwandlung« voraus, das »sich vom Laute der Natur zum reinen Laute des Gefühls läutert«; im Trauerspiel werde dieser »Duchgang« gehemmt: »mitten auf diesem Wege sieht sich die Natur von Sprache verraten und jene ungeheure Hemmung des Gefühls wird Trauer« (»Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«, II, 138); »seine Natur werde von Sprache besessen die Beute eines endlosen Gefühls« (II, 139); dieses ist Trauer. Im »Doppelsinn« 198

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Trauerspielbuch wird dies umgekehrt (zunächst)111 von jenen SpielFormen her aufgefasst, die Wort-Laut und Bedeutung »in einem« geben, um sie gegeneinander auszuspielen: Durch die »Hemmung« erst, als die die Bedeutung sich dem »Sprachlaut« ›auferlege‹, der barock als Laut der gefallenen oder seligen Natur vorgestellt werden konnte (376ff.), wird dieser an der ›Schwelle‹: gehemmt-gestaut schwellend »berauschend« zum Rausch der Laute, die sich, indem sie als solche insistieren, aus der Bindung an die Bedeutung gelöst haben.112 – Derart erst kommt auch die Klage der Natur oder deren Trauer über die Sprache zum »Ausdruck«: durch der Klage (der Natur) oder des ›Ausdrucks‹ »Hemmung«, als »Hemmung« des »Ausdrucks« (383f.).113 »Schrift und Laut stehen [in der barocken Dichtung] in hochgespannter Polarität einander gegenüber« (376), die der barocke sog. »›Schwulst‹« von Klang und Bild114 exponiert, dem auch ein Anklang an die Schwelle und ans Anschwellen abgehört werden darf. Der »›Schwulst‹« belegt Benjamin zufolge nicht (allein) das Ungeschick der barocken Sprachverwendung (vgl. 364), sondern Benjamin macht ihn vielmehr in Bezug auf diese »Polarität« kenntlich »als eine durch und durch planvolle, konstruktive Sprachgeberde« (376).115 Der »materialische Aufwand« (376) der barocken Trauerspiele manifestiert deren Versuch, Bedeutung – gewaltsam, vergeb-

der Worte, der »Zweiheit von Bedeutung und Wirklichkeit« sei »die Ruhe der tiefen Sehnsucht zerstört und Trauer über die Natur verbreitet« (II, 139). 111 Wie die Natur (nicht) zur Sprache komme, ihre durch die menschliche Sprache auferelegte Traurigkeit und Stummheit, greift Benjamin dann im Weiteren auf (I, 398), im Beizug von »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« (II, 155). 112 Es gibt eine melancholische Bindung an den Klang in Reim, Assonanzen, u.ä. (vgl. N. Abraham/M. Torok: Kryptonymie). 113 Gehemmt werde (so Benjamin in »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie«) der »Duchgang« oder das »Wort in der Verwandlung«, das »sich vom Laute der Natur zum reinen Laute des Gefühls läuter[n]t« will: »Es beschreibt den Weg vom Naturlaut über die Klage zur Musik«; »mitten auf diesem Wege sieht sich die Natur von Sprache verraten und jene ungeheure Hemmung des Gefühls wird Trauer« (II, 138). Im Trauerspielbuch dagegen (I, 383) macht Benjamin das Moment der »Hemmung« selbst stark gegen die Selbst-»Erlösung« des »Spielhafte[n]« »in Musik« (II, 139f.; vgl. dgg. I, 386f.). 114 So seien Wortbarock und Bildbarock (deren Relation seit der Übernahme des Barock-Begriffs aus der bildenden Kunst verhandelt wird) polar ineinander fundiert (I, 377). 115 Vgl. dgg. u.a. P. Hankamer: Die Sprache. Ihr Begriff und ihre Deutung, S. 115; ders.: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock, S. 289. 199

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lich – ›einzukörpern‹; das macht den Schwulst zur barocken Gebärde (384).116 »Ihre Sprache ist voll von materialischem Aufwand«, weil »[d]iese Dichtung [...] in der Tat unfähig [war], den derart ins bedeutende Schriftbild gebannten Tiefsinn im beseelten Laut zu entbinden« (376). Die als ›bedeutendes Schriftbild‹ aufgefasste und derart gebannte ›allegorische Welt‹ transfiguriert sich (in der barocken Dichtung) nicht in den »beseelten Laut«. Vielmehr steht der Laut dieser ›Welt‹ in »strenger Antithetik« gegenüber, wie umgekehrt des Trauerspiels Schrift »sich im Laute nicht [verklärt]; vielmehr bleibt dessen Welt ganz selbstgenugsam auf die Entfaltung ihrer eigenen Wucht bedacht« (376).117 Beider »Antithetik« allerdings akzentuiert Benjamin als die »vom Barock bedachtsam aufgerissene« (387, Hvhg. BM).118 Die Sprach-Gebärde, die das 18. Jahrhundert als ›Schwulst‹ denunzierte, die die Verkörperung als so gewaltsame, wie unmögliche: als sich nicht (von innen) abschließende 116 Zur »barocken Geberde« vgl. auch I, 403, 359, sowie: I, 229. 117 Wenn die »allegorische Welt« »vielmehr ins Schweigen gebannt« bleibe (I, 377), hat das demnach nichts damit zu tun, ob etwas zu hören oder etwa »das Akustische zu wenig beachtet« ist (so aber C. Benthien: Barockes Schweigen, S. 100f.), sondern ›Schrift‹ und ›Laut‹ sind Konzepte der Sprache. 118 Das Verhältnis von Schrift und Laut begründe »eine Dialektik, in deren Licht der ›Schwulst‹ als durch und durch planvolle, konstruktive Sprachgeberde sich rechtfertigt« (I, 376); diese wird mit dem romantischen Naturphilosophen J.W. Ritter als antithetische gedacht (I, 387, vgl. H.J. Frey: »Die Sprache und die Sprachen«). Denn inbezug auf die strenge Antithetik von allegorisch-schriftlicher Welt und Laut als Austönen der Natur als ›berauschender Sprachlaut‹ (I, 376-89) komme mit J.W. Ritters Theorie der Schrift »die Synthesis der vom Barock bedachtsam aufgerissenen Antithetik« in den Blick, die »erst« »das volle Recht der Antithetik« erweise (I, 387). Mit J.W. Ritters im Anschluss an das romantisch hochsignifikante Modell von ›Chladnis Klangfiguren‹ (I, 387) ausgeprägte Konzept der sichselbst-aufschreibenden Töne (I, 388) als »absolute Gleichzeitigkeit« »von Wort und Schrift« werde Musik als »Antithesis« (!) zu «Laut und Schriftsprache«, die »einander zu nähern [seien: »wie auch immer«], so doch nicht anders als dialektisch, als Thesis und Synthesis, zu identifizieren« seien (I, 387f.). Indem dem »Mittelgliede der Musik […] die ihr gebührende zentrale Stelle der Antithesis« gesichert werde, sei, »wie aus ihr, nicht aber aus dem Sprachlaut unmittelbar, die Schrift erwächst, zu erforschen« (I, 388). Gefunden wird mit J.W. Ritter, der alles Tönen zugleich als Schrift auffasst, gerade nicht die Auflösung der ›Schriftlichkeit‹ des Trauerspiels »im Laute« (I, 376): als ›Verklärung im Laute‹ bleibt diese vielmehr ausgeschlossen. »[D]ie schwelgerische Lust am bloßen Klang« habe, wie die Oper mit ihrem widerstandslosen Ablauf zeige, »Anteil« am »Verfall des Trauerspiels« (I, 386f. mit Bezug auf Nietzsches Geburt der Tragödie). 200

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vorstellt, »nötigt« – das macht sie »planvoll« –, den »Blick in die Sprachtiefe« (376), in die »Kluft« im »gefestete[n] Massiv der Wortbedeutung« (376), die sie aufreißt.119 Der Abgrund, den die ›Gebärde‹, die der Schwulst ist, (sich selbst bezeichnend) bezeichnet und aufreißt (durch den ›materialischen Aufwand‹, den die barocken Werke an seiner Stelle treiben, um dessen Nicht-Inkludierbarkeit durch die Exzentrik der Gesten zu exponieren), gehört der Sprache an, insofern mit ihr etwas bedeutet oder gemeint werden soll. Die Allegorie vollzieht, indem sie bedeutet, »the eternal disjunction between the inscribed sign and its material embodiment«,120 und zugleich bezeichnet sie diese und damit die ›ursprüngliche Distanz zu sich selbst‹, in der das allegorische Zeichen sich konstituiert. Jede allegorische Lektüre (von etwas) bezieht sich zugleich auf die allegorische Bedeutungsbildung selbst, sie ist daher (unvermeidlich) auch zugleich Lesen der allegorischen Lektüre, in der unheilbar je wieder die unstillbare Distanz (des allegorischen Zeichens zu seinem Ursprung) auseinandertritt, die sich daher nie mit dem (allegorischen) Lesen des Vorgestellten oder Erzählten zusammenschließt. Die Erkenntnis/Lektüre der Inkompatibilität, der gegenseitigen Hemmung und Blockade der beteiligten Dimensionen der Sprache, ist melancholisch, denn »die Allegorie hält an den Trümmern fest«,121 in die ihr die Welt zerfällt, zu denen sie diese zerschlägt, und bindet sich an die ursprüngliche Leere. Die barocke Allegorie nimmt, in den Ernst ›vergafft‹ (368), die Enttäuschung im Bedeuten und ihr Veralten als Anweisung auf die vergebliche Wiederholung desselben, die sich in den Überresten bezeugt.

Einspruch gegen ästhetische Integration »In allegory, what is sensibly apparent is not the idea, but the absence of idea. Allegory makes visible ruins, fragments of matter unenlightened by any ›spirit‹«.122 Insofern taugt die Ruine, die Allegorie der Natur-Geschichte »als Vorgang unaufhaltsamen Verfalls« (353), zugleich als Allegorie der Allegorie selbst. Sie ist Meta119 »Die Kluft zwischen bedeutendem Schriftbild und berauschendem Sprachlaut nötigt, wie das gefestete Massiv der Wortbedeutung in ihr aufgerissen wird, den Blick in die Sprachtiefe« (I, 376). 120 J. Hillis Miller: »The Two Allegories«, S. 364f. 121 Passagen-Arbeit, V, 415. 122 J. Hillis Miller: »The Two Allegories«, S. 364f. 201

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Allegorie als Monument der Nicht-Integration (in) der Allegorie. »Damit«, sagt Benjamin, also in der allegorischen Ausprägung der Naturgeschichte auf dem Schauplatz als Ruinen und als die Ruine, die sie selbst ist, »bekennt die Allegorie sich jenseits von Schönheit« (353f.). Es handelt sich bei der »Ruine«, die die Allegorie ist, dem »Stückwerk« (362), das die allegorischen Werke bleiben, um den Einspruch gegen das Konzept des »plastischen Symbol[s]« (341), dem zufolge die individuelle Physis als schöne vollendete sollte zur Gestalt der Totalität der Wahrheit werden können. »Allegorien sind im Reiche der Gedanken, was Ruinen im Reiche der Dinge.« (354) Die Allegorie verweigert, so Benjamins Akzentuierung, das vollendete ›ganze Bild‹ der Ganzheit abzugeben, das der Ästhetik des Symbols in Verstellung seiner sprachlichen Hervorbringung die zur »menschlichen« Gestalt ›geläuterte‹ Physis stellen sollte (336f.). Die allegorische Zerlegung, die auf der Trauerspielszene in der Schaustellung zerstückter Körper ihre emblematische Exposition erfährt, stellt sich der Gestalt ästhetischer Integration – dieser vorgreifend – entgegen. Im »amorphen Bruchstück«, das überdauert, hat »symbolische Schönheit« sich »verflüchtigt«, »[d]er falsche Schein der Totalität geht aus« (352). »Als symbolisches Gebilde soll das Schöne bruchlos ins Göttliche übergehen« und zwar im »Bild des schönen Individuum« (337). Dieses stellte das Paradigma der die Ästhetik begründenden Norm, dass das einzelne Werk unter der Prämisse des Ausdrucks eines Innern, das darstellend verkörpert werde, aus sich selbst zu verstehen sei. Diese Norm im Dienste eines Phantasmas der Ganzheit wurde dem Wissen von mythologischen, poetischen, kunsthistorischen Zusammenhängen entgegengehalten, das das allegorische Lesen entziffernd beizieht und beruft.123 Der Sinnzusammenhang sollte als ›Inneres‹ in dessen darstellender Verkörperung unmittelbar gegeben sein, musste aber im Medium der Sprache und gemäß deren Logik doch erst konstituiert worden sein. Ein Bild symbolisch aufzufassen, unterstellt, »that it was what it looked like, that its meaning was readable from its face«.124 Der der Allegorie konstitutive Bezug auf andere Zeichen, die sie aus Sicht der Ästhetik der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts bloß willkürlich machte, drängt dagegen die meta123 So von J.W. v. Goethe, K.P. Moritz, vgl. B. Menke: Art. »Allegorie«, S. 79. 124 Barbara Johnson: The Wake of Deconstruction, Oxford, Cambridge (Mass.) 1994, S. 67. 202

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figurative Erkenntnis von der Differenz jeder Darstellung von sich selbst auf, »of the difference between signifier and signified, of the relation between any use of language and its linguistic or cultural past«.125 Die Allegorie »presents the cut that every representation inflicts upon the whole: the cut of the signifier from the signified, the cut of the signified as part of a never available totality whose fictive presence the symbol offers and allegory refuses«.126 Als der (/durch den) Ausschluss dieser Einsicht konstituiert sich das Schöne, das insofern selbst durch die Allegorie negativ bestimmt ist. Denn diese stellte dem ›wahren Schönen‹ (so K.P. Moritz), als in der Darstellung ›in sich vollendetes Ganzes‹, die Heteronomie seiner Begründung dar, die dieses ausschließen oder marginalisieren musste.127 In Perspektive der in Gestalt phantasmatischer Körperganzheit vorgestellten Geschlossenheit der Darstellung werden die Allegorie, Schrift und Lektüre imaginiert als eine die imaginäre Ganzheit bedrohende Zerlegung, als die – die ›Gestalt‹ phantasmatischer Körperganzheit, mise en abyme für den totalisierenden Einschluss aller bedeutenden Bezüge ins ›Innere‹,128 bedrohende – Zerstreuung oder gar Zerstückung. In der die Ästhetik im 18. Jahrhundert kennzeichnenden »scene of allegorical anxiety«129 wird die sprachliche Dissoziation phantasmatisch als naturalisierte Zersetzung des Objekts, das als nicht-gestalthaftes im phantasmatischen Verbund mit dem Betrachter, diesen selbst affiziert und dessen Integrität bedrohe, vorgestellt: als »the subject’s anxiety of dismemberment, a phantasy of the dismembered body«.130

125 Ebd., S. 63; vgl. P. de Man: »Rhetorik der Zeitlichkeit«, S. 103f. 126 R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 92. 127 Denn die Allegorie müsse »noch etwas außer sich selbst anzeigen und bedeuten«, so dass ein solches Werk »alsdann nicht mehr seinen Zweck bloß in sich selbst, sondern schon mehr nach außen zu« habe, so Karl Philipp Moritz. Das »wahre Schöne«, das »sich selbst umfasse, ein in sich vollendetes Ganzes sei«, schließe daher »bloß allegorische Figuren« aus, durch die »die Aufmerksamkeit, in Rücksicht auf die schöne Kunst, zerstreuet, und von der Hauptsache abgezogen« werde (K.P. Moritz: »Fortuna – von Guido« (1789), in: ders., Werke, hg. von H. Günther, Frankfurt/M. 1981, Bd. 2, S. 384-385, hier S. 384. 128 Vgl. Paul de Man: »Anthropomorphismus und Trope in der Lyrik«, in: ders.: Allegorien des Lesens, S. 179-204, hier S. 196. 129 Von der R. Nägele spricht (Theater, Theory, Speculation, S. 92); vgl. etwa K.P. Moritz: »Die Signatur des Schönen« (1788), in: ders., Werke, Bd. 2, S. 579-588, hier S. 588. 130 R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 92. 203

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Indem »als Stückwerk [...] aus dem allegorischen Gebild die Dinge« starren (362), zeigt dieses ›Gebilde‹ sich ›spröde‹ gegen die ›steigernde Belebung‹.131 Die Allegorie dementiert die Möglichkeit dessen, woran die Ästhetik des 18. Jahrhunderts sie misst: die beseelte Gestalt als Gestalt des gelingenden Austauschs von außen und innen, in der sich das Symbol seiner Macht zu totalisierender Inklusion versichert. Das zeigen die Personifikationen, die Ende des 18. Jahrhunderts zu dem Paradigma der Allegorie bzw. dem ihrer Verwerfung avancierten. Scheinen zu diesen die menschlichen Körper die Bedeutung darstellen zu sollen, so treten doch Hegel zufolge in ihnen »Allgemeinheit und Besonderheit« auseinander, als das bloße ›dass‹ der Verkörperung in nichts-sagenden »Figurinen« oder manequins und deren Ausführung durch bloß ›angehängte‹ Attribute oder »emblematisches Zubehör«, durch die sie etwas Bestimmtes bedeuten (367).132 Diese Dissoziation verschärft Benjamin zum »Primat des Dinghaften vor dem Personalen«, das er der barocken Personifikation abliest (362). »Zumal in dem Barock sieht man die allegorische Person gegen die Embleme zurücktreten, die meist in wüster trauriger Zerstreuung sich den Blicken darbieten« – so zitiert Benjamin Cysarz, und zwar als »die letzte Stufe der Veräußerlichung« (361f.).133 Mit der Veräußerlichung, die sie vollzieht, tritt die Allegorie, ästhetische Integration verweigernd, »dem Symbol polar, aber eben darum gleich machtvoll gegenüber« (362). Um den »Widerstreit zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen« in ästhetischer Darstellung aufzulösen (341), wie das Bild als Symbol es sollte, gab die klassische Ästhetik zum einen das ›Unendliche‹, als ein ›sich selbst begrenzendes‹, als ein »Menschliches« aus und musste sie zum anderen umgekehrt die Physis einer »Läuterung« zum »Bild des schönen Individuums« unterwerfen (341). Dies »verschmäht«, so Benjamin, die barocke Bildlichkeit, und zwar sowohl die Selbstbeschränkung der Bilder von ›innen‹ wie auch die Läuterung der Physis zur schönen ›Gestalt‹ der Totalisie131 Vgl. I, 357; im Abgleich mit der Moderne im »Passagen-Werk« V, 473, Konvolut J 83a, 3. 132 G.W.F. Hegel: »Vorlesungen über die Ästhetik I«, Werke, Frankfurt/M. 1970, Band 13, S. 512; vgl. Johann Gottfried Herder: »Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume« (1778), in: ders., Sämtliche Werke, hg. von B. Suphan (1892), repr. Hildesheim ca. 1978, Bd. 8, S. 1-87, hier S. 83; K.P. Moritz: »Fortuna – von Guido« (1789), S. 384; vgl. B. Menke: »Allegorie – Personifikation – Prosopopöie«, S. 59-70. 133 I, 363 mit H. Cysarz: Deutsche Barockdichtung, S. 31. 204

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rung. Das macht ihr vielfach benanntes Ungenügen, ihre Form zu vollenden, zu einer Geste des Einspruchs gegen die ästhetische Integration. Die barocke Allegorie trägt ihre Gegenthese zu diesem Konzept und seiner ›Gestalt‹ vor, und zwar als das »amorphe Bruchstück« (351), als das sie auf dem Schauplatz übrig bleibt. »Machtvoll«, hieß es, manifestiert sich diese Gegenthese im »verstockte[n] Haften am Requisit« des allegorischen Bedeutens (356), das in der jeweiligen Bedeutung nicht aufgeht, im Über-Dauern von »disiecta membra der Allegorie« (374). Derart aber handelt es sich nicht mehr um eine These der Allegorie, sondern um einen Vollzug der Dissoziation und dessen Relikte. »Kein härterer Gegensatz zum Kunstsymbol, dem plastischen Symbol, dem Bilde der organischen Totalität ist denkbar als dies amorphe Bruchstück, als welches das allegorische Schriftbild sich zeigt.« (351f.)

Mit den »Bruchstücken«, die seine Bilder sind und als die sie zurück-bleibend ausgestellt sind, »erweist sich das Barock als souveränes Gegenspiel der Klassik« (352); denn die Allegorie des Barock trage »verborgen unter ihrem tollen Prunk, mit vordem ungeahnter Betonung vor«, was »zu gewahren«, »dem Klassizismus versagt« war: »Unfreiheit, Unvollendung und Gebrochenheit der sinnlichen, der schönen Physis«, die durch das Konzept des (plastischen) Symbols, durch die negativ konstitutierende Begrenzung oder Läuterung, die das Symbol als verfehlt vorgestellte Einheit von Besonderem und Allgemeinem ist, verworfen werden und als Ängstigendes stets schon vergessen gemacht worden sein müssen. Weitergehend aber noch »handelt es sich nicht sowohl um ein Korrektiv der Klassik als um eines der Kunst selbst« (352). Die Allegorie kann daher als »Benjamins anti-ästhetische Figur par excellence« ausgewiesen werden – so E. Geulen.134 Und »handelt es sich« »in beiden: in Romantik wie Barock«, sagt Benjamin, um ein solches Korrektiv, so ist »jenem kontrastierenden Präludium der Klassik, dem Barock […] eine höhere Konkretion, ja bessere Autorität und dauerndere Geltung dieser Korrektur kaum abzusprechen« (352). Die barocke »Korrektur« weist sich konkreter und dauernder aus und ist vorgetragen durch »amorphe Bruchstück[e]« (351), die bleiben als das,

134 E. Geulen: Das Ende der Kunst, S. 89f. 205

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»was da in Trümmern abgeschlagen liegt« (354).135 Denn mit den Überresten, die nach aller Enttäuschung der Bedeutung im Zeichen zurück-bleiben, manifestiert die Allegorie, was die Gestalt ästhetischer Integration vergessen gemacht haben muss, die ›Hinfälligkeit‹, die »Unvollendung und Gebrochenheit der schönen Physis« (352); sie verweist die ›Gestalt‹ ästhetischer Integration an ihre Faktur und deren Vergessenheit als an das, was diese nicht integrieren kann. Wenn die Dinge als »Stückwerk« aus jenen »durchdachten Trümmerbauten«, die die barocken Werke sind, »starren« (müssen und dürfen) (362), so zeigt sich die Allegorie von der »Einsicht ins Vergängliche der Dinge« geleitet, die »Sorge, sie ins Ewige zu retten, im Allegorischen [als] eins der stärksten Motive« (397). In »erstorbener Dinghaftigkeit« sind Allegorien der Modus des Nachlebens der antiken Götter, indem sie einen »ungebrochenen Rest antiken Lebens« bezeugen, den sie bannen sollen. »Trauer im Ursprung der Allegorie«, so lautet der Seiten-Titel, unter dem Benjamin davon handelt.136 Als »Stückwerk«, das sie bleiben, legen die barocken Werke es (zugleich) auf ihr Dauern an, das ist aber der Zerfall ihrer Wirkung, ihre ›kritische Zersetzung‹, die im Fortleben sich vollzieht. Benjamins Formel: das barocke Kunstwerk »will nichts als dauern« (356), erinnert A. Riegls Begriff des »Kunstwollens«, das (auch) auf anderes denn auf »Schönheit« und »Lebendigkeit« sich richten kann.137 Als Stückwerk »bekennt die Allegorie sich jenseits von Schönheit« (353f.).

135 Das ist zurückzubeziehen auf die Unterscheidung von Allegorie und Ironie, soweit letztere als romantische ›kritische Potenzierung‹ »im Namen der Unendlichkeit [...] der Idee« gedacht ist, während »der allegorische Tiefblick Dinge und Werke in erregende Schrift« verwandle (I, 352). Die metaallegorische Wendung der Allegorie ist demnach nicht ironisch. 136 I, 397; vgl. I, 395-400; R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 195. 137 Das erlaubt, das Hässliche oder Leblose anders denn als Verfall zu denken (A. Riegl: Spätrömische Kunstindustrie, S. 11); in Benjamins Schema für den Schluss firmiert »Kunstwollen« unter »Theorie der Verfallsgeschichte«, »Stückwerk« u.a. als »Korrektiv der Kunst« (I, 920; vgl. »Vorrede«, I, 235, auch I, 277; zur konzeptionellen Bedeutung Riegls vgl. Benjamins »Lebenslauf III« (Anfang 1928), VI, 217; U. Steiner: »Allegorie und Allergie«, S. 677). Scheint das Trauerspielbuch einen anderen Begriff von Schönheit einzuführen: »Schönheit, die dauert, ist ein Gegenstand des Wissens«, so ist aber »fraglich, ob die Schönheit, welche dauert, so noch heißen dürfe« (I, 357); das ›wahre Kunstwerk‹ sei durch augenblickliche Form, hinschwindende und neuentstehende Lust bestimmt (vgl. I, 356). 206

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Benjamins Darstellung der Allegorie macht die Komplexität aus, mit der das, was die Allegorie tut, und das, was sie sagt, sich gegenseitig kommentieren und einander exponieren. Diese Komplexität ist ungestillt und unabschließbar; sie ist weder dem Vollzug, noch der Behauptung der Allegorie zuzuschlagen. Dadurch untersagt die Allegorie, gerade wo sie von sich selbst ›spricht‹, jede konsistente Darstellung von etwas, und sei es die der meta-allegorischen Erkenntnis. Denn es kommt zu keinem abschließenden Zusammenschluss mit sich selbst, sie ist »amorphe[s] Bruchstück« (351). Mit den »Bruchstücken«, die bleiben und als die sie bleibt, bekundet die Allegorie sich ›triumphal‹ oder vielmehr: spröde gegen die Anmutung ästhetischer Integration.

»Mortifikation der Werke«: Kritik Die »Bruchstücke«, als die die allegorische Schrift sich zeigt (351), das »Stückwerk«, das die barocken Werke seien, fügen sich nicht der ›ästhetischen Betrachtung‹ (390), sondern sie sind deren barockes Korrektiv. Insofern setzt Benjamin die barocken Trauerspiele in eine spezifische Relation zur »Kritik«, die er hier bündig als »Mortifikation der Werke« bestimmt (357). Benjamin hatte dem »Begriff der Kritik« und der »Kritik des Trauerspiels« einen der »Erkenntniskritischen Vorrede« symmetrischen ›methodischen‹ Schluss widmen wollen, der entfiel,138 aber als epistemologisches Konzept trägt er vor: »Kritik ist Mortifikation der Werke«, das ist die »Ansiedlung des Wissens in ihnen, den abgestorbenen« (357), und entspricht damit seinen ›Gegenständen‹.139 138 Vgl. Dokumention, I, 920; was als methodischer Schluss nicht geschrieben wurde, ging an anderen Stellen ein; vgl. die beiden Schemata ca. 1924, I, 919f.. 139 Vgl. »Erkenntniskritische Vorrede« I, 212, 225. Zuerst findet sich diese Bestimmung in einem Brief an F.C. Rang (9.12.1923), und zwar im Anschluss an »Kritik ist […] Darstellung einer Idee« (I, 889; GB II, S. 393). »Die Kunstwerke sind definiert als Modelle einer Natur, welche keinen Tag, also auch keinen Gerichtstag erwartet, als Modelle einer Natur, die [anders als die Natur in den Trauerspielen] nicht Schauplatz der Geschichte und nicht Wohnort der Menschen ist. Die gerettete Nacht. Kritik ist nun im Zusammenhang dieser Überlegung (wo sie identisch ist mit Interpretation und Gegensatz gegen alle kurrenten Methoden der Kunstbetrachtung) Darstellung einer Idee. […] Ich definiere: Kritik ist Mortifikation der Werke. Nicht Steigerung des Bewußtseins in ihnen […]« (I, 889; GB II, S. 393; weiter wie I, 357, mit Parallelen zur Bestimmung der Idee als Konstellation in der »Vorrede«). 207

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Insofern die barocken Hervorbringungen es vor allem auf ihre ›Dauer‹ anlegen und »irdisch, gegenwärtig ihren Platz zu füllen« suchen,140 greifen sie ihrem »Fortleben« vor und »sind von Anbeginn auf jene kritische Zersetzung angelegt, die der Verlauf der Zeit an ihnen übte« (357). Im ›allegorischen Kunstwerk‹ vollziehe sich »die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst«, kündigte Benjamin im Exposé zu seiner Habilitationsschrift an.141 »Kritik«, einer der Begriffe des frühen Benjamin, den er in vielfachen Bezügen auf die Frühromantik wie in markanter Anknüpfung an die Kant’sche Philosophie verwendet, ist epistemologisches Konzept wie zugleich der entscheidende Begriff seiner ›Ästhetik‹, und zwar insofern mit ihm »die Kunst-Sphäre definitiv verlassen« ist.142 »Kritik« hat »zum einzigen Medium [das] Fortleben der Werke«, so Benjamin in Notaten zur ›Aufgabe der Kritik‹ von 1929/30,143 die seiner »Aufgabe des Übersetzers« (1921) insofern genau entsprechen, als die Übersetzung wie die Kritik ein »Moment des Fortlebens der Werke« ist, in dem diese, als »Einheit« von Gehalt und Form, drangegeben sind.144 Kritik setzt, so Benjamin nun im Trauerspielbuch, den »Verfall der Wirkung« voraus, den »der Verlauf der Zeit an ihnen übte« (357f.), in dem sich der als Kunstwerk gegebene Zusammenhang von »Sachgehalt« und »Wahrheitsgehalt« zersetzt.145 Die Kritik, die des Werkes Abgestorben-Sein voraussetzt, will nicht dessen Auferstehung oder Verlebendigung, sondern ist Benjamin zufolge selbst »Mortifikation der Werke«. Derart trägt sie eine These zur Ästhetik vor.

140 Das ist ein historischer Befund bez. des Barocks: »der Blick, der an der Sache selbst sich zu genügen gewußt hätte, war selten« (I, 357). 141 I, 952; das nimmt Bezug auf Nietzsches Tragödienbuch, vgl. U. Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geist der Kunst; ders.: »Allegorie und Allergie«, S. 664-667. 142 In der bisherigen Ausgabe GS als »Fragmente zur Kritik« in Bd. VI (= Fragmente vermischten Inhalts), 179; vgl. VI, 171, 95; »Vorrede«, I, 227. 143 Fragmente, VI, 170. 144 »Die Aufgabe des Übersetzers«, IV, 15; zur Metapher »Fortleben«, vgl. P. de Man: »Conclusions: Walter Benjamin’s ›The Task of the Translator‹«, S. 84f., 92f.. 145 Für die Begrifflichkeit vgl. in Goethes Wahlverwandtschaften: »im Verlauf dieser Dauer [stehen] die Realien dem Betrachter eines Werkes desto deutlicher vor Augen, je mehr sie in der Welt absterben. Damit tritt aber der Erscheinung nach Sachgehalt und Wahrheitsgehalt, in der Frühzeit geeint, auseinander mit seiner Dauer, weil der letzte immer gleich verborgen sich hält, wenn der erste hervordringt« (I, 125; vgl. die Schemata I, 919f.). 208

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»Kunst [dies erweist die Kritik] ist nur Durchgangsstadium der großen Werke. Sie sind etwas anderes gewesen [in ihrem Werden] und sie werden zu etwas anderem werden [durch Kritik]«.146

So sehr der »Kritik«-Begriff den frühromantischen mitlesen lässt (Benjamin verweist daher im Trauerspielbuch umgehend auf seine Dissertation zum Thema (357)),147 so sehr bestimmt Benjamin sie hier explizit gegen die Romantik: »Kritik« sei »Mortifikation der Werke«, »nicht also – romantisch – Erweckung des Bewußtseins in den lebendigen, sondern Ansiedlung des Wissens in ihnen, den abgestorbenen« (357). Kritik setzt Disjunktion und Zersetzung ebenso voraus, wie sie selbst eine solche vollzieht,148 und zwar als »Ansied146 Fragmente, VI, 172; vgl. VI, 174, 179. »Nicht auf die werdenden Ideen, sondern auf die geformten Gehalte« richte sich der »Klassizismus« (Goethes Wahlverwandtschaften, I, 126, vgl. »Vorrede«, I, 212). Die Einheit des Kunstwerks ist, vor allem wenn diese mit dem ›Leben‹ des Künstlers zusammenfallen soll, eine mythische Supposition (vgl. I, 149f.); daher bedarf es selbst der Zäsur (vgl. I, 182). Im Trauerspielbuch spricht Benjamin von der »werdende[n] Formensprache des Trauerspiels« (I, 259; das hat Parallelen in »Die Aufgabe des Übersetzers«) 147 Der frühromantische Begriff der Kritik meint die »Vollendung« der KunstForm durch die Auflösung jener »Begrenzung«, die die Werke sind (Der Begriff der Kunstkritik, I, 73): »›Jene poetische Kritik […] wird die Darstellung von Neuem darstellen, das schon Gebildete noch einmal bilden wollen […] wird das Werk ergänzen, verjüngen, neu gestalten‹« (I, 69). »Ihre Aufgabe erfüllt die Kritik« als »stetige mediale Überführung« der Reflexion der Form, die diese »aus sich heraustreibt, die ursprüngliche Reflexion in einer höheren auflöst und so fortfährt« (I, 73). »Kritik ist also in ihrer zentralen Absicht […] einerseits Vollendung, Ergänzung, Systematisierung des Werkes, andererseits seine Auflösung im Absoluten. Beide Prozesse fallen letzten Endes zusammen« (I, 78, vgl. 115). Zum Bezug auf die Frühromantik vgl. Rodolphe Gasché: »The Sober Absolute: On Benjamin and the Early Romantics«, in: D. S. Ferris (Hg.), Walter Benjamin: Theoretical Questions, Stanford 1996, S. 50-74; J. Mieszkowski: »Art Forms«, S. 44-47. 148 Gegen den romantischen Kunst- wie Kritik-Begriff wendet Benjamin ein: dass »nur graduell […] die Einheit des Einzelwerkes von der der Kunst, in welche sie sich jederzeit in Ironie und Kritik verschiebt, unterschieden« werde (Der Begriff der Kunstkritik, I, 86): »indem es sich in seiner Form beschränkt, macht es seine zufällige Gestalt vergänglich, in vergehender Gestalt aber ewig durch Kritik« (I, 115). In den letzten Abschnitten von Der Begriff der Kunstkritik führt Benjamin gegenüber der frühromantischen Kritik (und Idee) ein »negatives« Moment, das der Unstetigkeit und der Brechung an (I, 111-115; vgl. W. Menninghaus: »Walter Benjamins romantische Idee des Kunstwerks und seiner Kritik«, in: Poetica 12 (1980), S. 421442, hier S. 440 f.). Umgekehrt bedarf das Werk (für dessen Begriff Goethe einsteht) der Zäsur, der ausdruckslosen Unterbrechung (vgl. I, 182), damit die Supposition seiner Einheit nicht (als naturale wie mit der Dämonie des Genies) eine mythische sei (vgl. I, 149f.). 209

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lung des Wissens in ihnen, den abgestorbenen« (357). Derart operiert die »Kritik« – nicht romantisch, sondern – als »Mortifikation der Werke« wie die Allegorie (vgl. 352). Der barocken Korrektur der Klassik, bzw. der Kunst überhaupt, billigte Benjamin die »bessere Autorität und dauerndere Geltung« zu als der Romantik, insofern diese – das entspräche der romantischen Ironie – »im Namen der Unendlichkeit, der Form und der Idee das vollendete Gebilde kritisch potenziert«, wo dagegen »mit einem Schlage der allegorische Tiefblick Dinge und Werke in erregende Schrift« verwandelt (352). Kritik setzt das Totsein, die Zerfällung, die das »Fortleben« an den Werken übte, – wie die Allegorie, wie die Zitation149 – voraus und vollzieht, als Modus des Fortlebens, dieses Zerfällen, indem sie in den »abgestorbenen«, in unverstandene Realien zerfallen(d)en, »Wissen« ansiedelt.150 Setzten Benjamins Konzepte des »Fortlebens« in der Kritik wie der Übersetzung eine vormalige Einheit von Sach- und Wahrheitsgehalt im ›Dicht-Werk‹ voraus, so wird im Trauerspielbuch Kritik durch die »barocken Werke« anders situiert, da diese »von Anbeginn auf jene kritische Zersetzung angelegt [seien], die der Verlauf der Zeit an ihnen übte« (356f.). Sie wollen – so Benjamin – »nichts als dauern«, suchen »irdisch, gegenwärtig ihren Platz zu füllen« (356f.), das tun sie mit dem »Stückwerk«, als das aus ihnen die Dinge »starren« (362), als das »Stückwerk«, das sie »von Beginn an« sind.151 Denn »[w]as dauert, ist das seltsame Detail der allegorischen Verweisungen: ein Gegenstand des Wissens, der in den durchdachten Trümmerbauten nistet« (357). Insofern haben die ›barocken Werke‹ »ihren Lohn dahin«. Auf die Zerfällung, die das Fortleben der Werke an diesen vollzieht, greifen sie »von Beginn

149 Zum Zitat als Kritik vgl. Fragmente, VI, 162 u. 175. Das »Interesse«, das das Zitieren am Gewesenen nimmt, ist »stets ein brennendes Interesse an dessen Verflossensein, an seinem Aufgehörthaben und gründlich Totsein« (Passagen-Arbeit, V, J 76a, 4; zum zitationellen ›Vergegenwärtigen‹ als Nachleben des Toten vgl. V, N 2,3; D, 3). 150 Denn »im Verlauf dieser Dauer [stehen] die Realien dem Betrachter eines Werkes desto deutlicher vor Augen, je mehr sie in der Welt absterben. […] Mehr und mehr wird für den späteren Kritiker die Deutung des Auffallenden und Befremdenden, des Sachgehalts, demnach zur Vorbedingung« (Goethes Wahlverwandtschaften, I, 125). »Dem [Unwissenden] ist das deutsche Trauerspiel spröde wie weniges. Sein Schein ist abgestorben« (I, 357). 151 Vgl. in einem Schema zu »Schluß«, I, 920; vgl. I, 409. »Die Formen der barocken Dichtung [...] sind vor allem Formen des Ausdrucks, dann erst (und in gewissem Sinne sogar nie) der Kunst.« (Rez. III, 87). 210

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an« vor (357); »eben darum liegt mit seltener Deutlichkeit in ihrer ferneren Dauer [bereits] die Kritik entfaltet« (357). Ihrem »Fortleben« vorgreifend stellen die ›barocken Werke‹ je schon, ›von Anfang‹ an die Verfallenheit mit »trümmerhafte[n] Formen« vor, die – so will es Benjamin – »Grund der Neugeburt« (durch Kritik) werde. Diese »Neugeburt«, deren »Grund« der »Verfall der Wirkung« ist, vollziehe sich, so gibt Benjamin an, als »Umbildung der [historischen] Sachgehalte zum [philosophischen] Wahrheitsgehalt« (358) durch Kritik. Diese »Umbildung der Sachgehalte zum Wahrheitsgehalt«, als die das philosophische Verhalten zu den ›historischen Sachgehalten‹ aufgegeben wäre, muss – Benjamins Erläuterung von beider Relation in Goethes Wahlverwandtschaften als Unableitbarkeit des letzteren aus ersteren folgend – eine diskontinuierliche sein.152 Hier, im Trauerspielbuch, ist der sog. »neue, philosophische Bereich«, in den, einem Notat für den Schluss zufolge, das »Kunstwerk« durch Kritik ›verwandelt‹ werde,153 nicht angegeben. Wird »Kritik« als »Ansiedlung des Wissens, in ihnen, den abgestorbenen« ›Dingen und Werken‹, bestimmt (357), so ist sie kaum vom Kommentar geschieden, der, beider Unterscheidung in Goethes Wahlverwandtschaften zufolge, den historischen und philologischen Sachgehalten zu gelten habe154 (von dem hier gar nicht Rede ist). Der Kommentar allerdings sitzt, so die Einschätzung Benjamins an anderer Stelle, der vermeintlich unmittelbaren Gegebenheit der ›Sachgehalte‹ auf, insofern sei die »Haltung des Philologen« eine mythische,155 während der Kritik ihre Gegens-

152 Goethes Wahlverwandtschaften I, 127. 153 Zur »Kunsttheorie« (für den Schluss) heisst es: »Nicht Unterstützung des ›Verständnisses‹ […] sondern Verwandlung des Kunstwerks in einen neuen, philosophischen Bereich« (I, 919). 154 Wie der Wahrheitsgehalt aus den Sachgehalten unableitbar ist (Goethes Wahlverwandtschaften, I, 127), so verhält Kritik sich diskontinuierlich zum Kommentar (vgl. Vorfassung der »Vorrede«, I, 918); in diesem Zusammenhang steht das Notat: »Methodisches Verhältnis der metaphysischen Untersuchung zur historischen: der umgekehrte Strumpf« (I, 918) – mit der Folgerung: »Keine Kunstgeschichte«. Mit dieser Metapher arbeitet Benjamin weiter (»Zum Bilde Prousts«, II, 314; »Berliner Kindheit«, VII, 416f.). 155 Seine »Kritik an der Haltung des Philologen« sei »zuinnerst identisch mit der am Mythos«, so Benjamin (Brief an Adorno, 9. Dez. 1938, GB VI, S. 185f.; vgl. Fragmente, VI, 94). Wo Benjamin den Kommentar anlässlich seiner »Kommentare zu Gedichten von Brecht« ins Recht zu setzen sucht, »geht [er doch] von der Klassizität seines Textes und damit gleichsam von einem Vorurteil aus« (II, 539); »wie einen klassischen Text zu lesen«, heißt »wie durch Jahrhunderte geschieden« (II, 540). 211

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tände durch jene Zerfällungen gegeben sein werden, die sie wiederlesend vollzieht (358) und die sie zugleich bezeichnet.156 Wenn Benjamin zufolge eine ›Neugeburt‹ der ›Werke‹, in welcher »alle ephemere Schönheit vollends dahinfällt«, in Aussicht zu nehmen ist,157 so »behauptet« sich »das Werk als Ruine« (358) – anderswo als in der Kunst.158 Zeichnen die »trümmerhaften Formen des geretteten Kunstwerks«, »[i]m allegorischen Aufbau des barocken Trauerspiels« »von jeher« sich ab (358), so manifestieren sie sich im kritischen Lesen – als Blockaden (der Nicht-Lesbarkeit). Die kritische Erkenntnis der Form des Trauerspiels, die eine philosophische genannt werden mag, liegt gar nicht als »Wahrheitsgehalt« vor, sondern wäre benannt als die »treuga dei« im Widerstreit »von theologischer und künstlerischer Intention« (353).

Überspannung der Transzendenz Der problematische Anspruch eines ›Bereichs‹ der Ästhetik, den die Allegorie kenntlich macht, indem sie ihm sich nicht fügt, wird im Einsatz zum letzten Teil des zweiten Hauptteils noch einmal reformuliert.159 Nicht »innerhalb einer rein ästhetischen Betrachtung«

156 Vgl. für die Passagen-Arbeit, Benjamins ›historiografisches‹ Projekt, die Zitation (V, N 2,3; D, 3; N 11, 3; vgl. Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, I, 702-704). Es wird Benjamin darauf ankommen, die Lehre von den Trümmern, die die Zeit anrichtet, zu ›steigern‹ durch die vom »Abmontieren«, das Sache des Kritikers sei (Fragmente, VI, 174; zur Destruktivität der Kritik vgl. »Karl Kraus«, II, 355-357, sowie VI, 161, 164, 174f., 182f.; zum »Zitat« als deren Technik VI, 162, 170f.). Kritik ist insofern bestimmt vom »Tempo« der »Natur«, der »der destruktive Charakter« »zuvorkommen [müsse]. Sonst wird sie selber die Zerstörung übernehmen« (»Der destruktive Charakter«, IV, 397). 157 Die Aufgabe, »Sachgehalte« »zu philosophischen Wahrheitsgehalten zu machen«, birgt sich auch im Benjamin’schen Postulat, die Philosophie dürfe nicht »ab[]streiten, daß sie das Schöne der Werke wieder erweckt« (I, 357f.). Das ist eine Problem-Formulierung, keine Lösung. 158 Das hat eine Entsprechung am »Ausdruckslosen« als »kritische[r] Gewalt«: es zerschlage »die falsche, irrende Totalität«, eine mythische Supposition (vor allem wenn diese mit dem ›Leben‹ des Künstlers begründet wird, vgl. I, 149f.). Das Werk selbst bedarf der Zäsur, der ausdruckslosen Unterbrechung (I, 182): »Dieses erst vollendet das Werk, welches es zum Stückwerk zerschlägt, zum Fragment der wahren Welt« (Goethes Wahlverwandtschaften, I, 181). Die Zäsur gibt einer »sprachlichen Gewalt«, die keinem Kunstwerk erreichbar ist, ausdruckslos Raum. 159 Benjamin kündigt an, das bisher ›Eingebrachte‹ »rückt unterm allegorischen Aspekt zusammen, versammelt sich zum Trauerspiel in der Idee«, fügt hin212

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›löse‹ »die allegorische Grenzform«, die das Trauerspiel ist, sich (auf), sondern allein von jenem »Bereich« aus, den Benjamin nun, »ohne Umschweife«, erklärt, als den »theologischen« zur Sprache bringen zu wollen (390). Aber geschieht das hier, auf den letzten 20 Seiten des Buchs, so: »ohne Umschweife«? Die Allegorie stellt mit dem ursprünglichen Abstand oder Abgrund, jener Leere, aus der sie sich grundlos begründet, die Heteronomie des Kunstwerks vor. Sie führt des Kunstwerks Angewiesenheit auf ein von ihm nicht Einholbares und nicht Inkludierbares auf, das Benjamin (für das barocke Trauerspiel) als das »Theologische« namhaft macht (390).160 Die Bezogenheit des barocken Trauerspiels auf den (sog.) »Bereich« von »Geschichtstheologie« allerdings kann Benjamin zufolge ›nicht anders als negativ‹ (284), »nicht statisch im Sinne der garantierten Heilsökonomie« angelegt sein, sie ermöglicht vielmehr die »Auflösung« (der »Grenzform«, die das Trauerspiel ist) (390).161 Es handelt sich um einen diskontinuierlichen Vollzug, der, wie das Trauerspielbuch auf seinen letzten Seiten entfaltet, nicht abgelöst werden kann von der Allegorie, ihren Schaustellungen, von den theatralen Ereignissen und der theatralen Verfasstheit der barocken Konstruktionen. Wenn germanistische Barockliteratur zuweilen festzustellen sich erlaubt, dass Benjamin »– zufolge seiner jüdischen Herkunft – konstant die eschatologische und messianische Bindung der Geschichte in der Pictura leugnete«,162 dann wird die Spannung zwischen »Immanenz und Transzendenz« verkannt (359), auf die es, Benjamin zufolge, mit den Exaltationen der barocken Formgebung als eine »verzögernde Überspannung der Transzendenz« (246) angelegt sei, die seine Darstellung als »Bogenspannung« der Trauerspiele (257), zu: »kritisch kann die allegorische Grenzform des Trauerspiels einzig vom höheren Bereiche aus, dem theologischen, sich lösen« (I, 390). 160 »The theological terminology is less a means of transfiguration than the critique of a secularized aesthetic transfiguration of the body as Gestalt.« (R. Nägele, Theater, Theory, Speculation, S. 189, vgl. I, 258). 161 Die Art dieser »Auflösung« ist daran abzusehen, wie deutlich »das Trauerspiel des Barock [...] auf Sturm und Drang, auf Romantik« verweist, wie »dringend, wenn auch wohl vergeblich, [es] von neusten dramatischen Versuchen die Rettung seines besten Teiles sich erhoff[t]« (I, 390). 162 Sibylle Penkert: »Zur Emblemforschung«, in: dies. (Hg.), Emblem und Emblemrezeption, S. 1-22, hier S. 20; fragwürdig, dass diese »Bindung der Geschichte« sich ausgerechnet »in der Pictura« manifestieren soll. »Unter dem Titel der jüdischen Theologie hat man versucht […] die Bedingtheit seines Verfassers zu stigmatisieren« (U. Steiner: »Allegorie und Allergie«, S. 667, weitere Nachweise aus der germanistischen Barockliteratur: S. 667-671). 213

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die mit keiner dramatischen Handlung zusammenfällt, zu ermessen unternimmt. Die barocke Allegorie artikuliert die »Spannung einer heilsgeschichtlichen Frage«, die die »Säkularisierung des Mysterienspiels ins Ungemessene sich dehnen« ließ (257),163 indem sie diese Spannung ›unerbittlich‹ (auf)-hält; das tut sie durch ihr Ungenügen, mit dem sie vorgreifend sich gegen die Ideologie des Ästhetischen behauptet, indem sie sich ›spröde‹ zeigt, sich sperrt gegen die Auflösung des »Widerstreits zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen« (341), wie diese verfehlend durch die darstellende Verkörperung in Gestalt der ›schönen Physis‹ geleistet werden soll, die die dem theologischen Symbol angehörende Paradoxie dieser Auflösung verstellt und die Verstellung vergessen macht.164 Aus der Sperrung von Transzendenz, der Bannung in Immanenz als der »verzögernde[n] Überspannung der Transzendenz« (246) begründen sich die »provokatorischen Diesseitsakzente«165 und die »exaltierten Formen des Barock« (246). »Niemals verklären« sich dem barocken Trauerspiel die Dinge »von innen.166 Daher ihre Be163 Zur »theologischen Situation« des Zeitalters vgl. I, 258ff., 248; von »überstraffter Spannung zwischen Bestimmung und Dasein des Menschen« schreibt P. Hankamer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock (1935/47), S. 293. Es mag sein, dass Benjamin die »›Überspannung der Transzendenz‹ […] mit der deutschen Barockforschung teilt« (A. Haverkamp: »Latenz des Barock«, S. 208), aber bei Cysarz, den Haverkamp als Beleg anführt (»Gleichlautend Herbert Cysarz: Deutsches Barock in der Lyrik, Leipzig 1936, S. 126«), einer der Gewährsleute Benjamins fürs Barock, will es mit aller »Selbstüberschreitung«, ›Selbstübergreifung‹ des barocken Bildes, die die Bildlichkeit »der größten Wirklichkeit« einfüge, bei aller ›Spannung‹ (H. Cysarz: Deutsches Barock in der Lyrik, S. 127, 103, 123) doch hinaus auf eine Einheit, die durch die Kunst hergestellt werde, für die Cysarz das deutsche ›klassisch idealistische Zeitalter‹ einsteht, das erst die »volle Tragweite des Aufbruchs [als der die Barockdichtung verstanden wird] […] würdigen« lasse; das heißt dann der »deutsche Geist« und »deutsche Schicksalsgang« zur ›Einheit‹ (ebd. S. 130, 133, 129-135). 164 Zu Allegorie und Symbol vgl. P. de Man: »Rhetorik der Zeitlichkeit«; vgl. ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. 165 Zum »barocken Naturalismus« in der »Spannung zwischen Welt und Transzendenz« vgl. I, 246f.; Wilhelm Hausenstein: Vom Geist des Barock, München 1924, S. 42, 78-81; sowie R. Alewyn (der mit seinem Buch 1932 eine Debatte zum barocken Realismus anstieß), der als »Naturalismus« »jene Stauungen, Blähungen und Häufungen [abtut], die man niemals ›Realismus‹ genannt hat« (»Realismus und Naturalismus«, in: ders. (Hg.), Deutsche Barockforschung,358-372, hier S. 365 u. 362-368). 166 »[S]o exzentrisch […] die Akte der Verzückung« ›erhoben‹ wurden, ist »in ihnen weniger die Welt verklärt«, als vielmehr ein »Wolkenhimmel über ihre Fläche streich[t]« (I, 258); »in den Gemälden des Barock bewegt die 214

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strahlung im Rampenlicht der Apotheose« (356). »Die Neigung des Barock zur Apotheose« als »Widerspiel von der ihm eigenen Betrachtungsart der Dinge« im Zeichen des Verfalls (356) prägt sich aus in bühnen-technischen Effekten, die spezifische Anordnungen theatraler wie piktoraler Bühnen zur Voraussetzung haben. »[I]n den malerischen Apotheosen [pflegte] der Vordergrund mit outrierter Realistik […] behandelt zu werden, um desto verläßlicher die entfernten Visionsgegenstände erscheinen zu lassen. Der drastische Vordergrund sucht in sich alles Weltgeschehen zu sammeln, nicht nur um die Spannweite von Immanenz und Transzendenz zu steigern sondern auch um die größte Strenge, Ausschließlichkeit und Unerbittlichkeit für diese zu erwirken.« (358f.)

Wenn Benjamin derart die Funktion der barocken Exaltationen des Diesseits in deren theatralen Effekten ausmacht, dann kann ein Beispiel dafür erkannt werden im Auftritt der »Ewigkeit« (im sog. Prolog von Gryphius’ Catharina von Georgien) über einer Bühne, auf dem »eine ganze Anzahl von Requisiten verstreut am Boden umher[liegen], ähnlich vielleicht wie es der Titelkupfer der Ausgabe von 1657 zeigt«:167 »Neben Zepter und Krummstab liegt ›Schmuck, Bild, Metal und ein gelehrt Papier‹« (303). Im Sinne der »Unerbittlichkeit« der »Spannweite von Immanenz und Transzendenz« (359) und deren Über-Spannung ins »Ungemessene« (257f.) nehmen die Trauerspiele in ihren »Schaustellungen« die »Leiche«,168 das »embWolke sich dunkel oder strahlend auf die Erde zu«, stellt eine »Welt […], der der unmittelbare Weg ins Jenseits verstellt war«, sich dar (I, 258). 167 »Unter dem Titel FESTE THEATRALI TRAGICHE PER LA CATHARINA DI GIORGIA del Sig Andrea Gryphii […] erschienen 1655 sieben Kupfer zu Szenen aus dem Drama, hergestellt von den Breslauern Gregor Bieber und Johann Using nach italienischen Vorbildern« (Kommentar zu Catharina von Georgien in: E. Mannack (Hg.), Andreas Gryphius Dramen, S. 923f.); zu deren höfisch-theatralen Charakter vgl. B. Wolf, Die Sorge des Souveräns, S. 48; Harald Zielske: »Andreas Gryphius’ Trauerspiel ›Catharina von Georgien‹ als politische ›Festa Theatrali‹ des Barock-Absolutismus«, in: Funde und Befunde zur schlesischen Theatergeschichte, Dortmund 1983, Bd. 1, S. 1-32, hier S. 3ff.; zur ›Gattung‹ der ›Festa Teatrale‹ S. 13-19; die Kupfer überbieten mit ihren »Bühnendekorationsvorschlägen [u. deren Raumtypen, mit dem »üppigen und aufwendigen Ausstattungsapparat venezianischer Operninszenierungen« u.a.] erheblich« das vom Dramentext Geforderte (ebd. S. 19, 14, 26f.). 168 »Der Schauplatz liget voll Leichen/ Bilder/ Cronen/ Zepter/ Schwerdter etc. Vber dem Schau-Platz oeffnet sich der Himmel/ unter dem Schauplatz die Helle. Die Ewigkeit kommet von dem Himmel« (so die Szenenanweisung 215

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lematische Requisit schlechthin«, gleichsam als ›Pfand‹ (391f.) für das, was auf dieser Bühne nicht dramatisch dargestellt ist, damit es woanders erscheine. Dem entspricht in der 5. Abhandlung desselben Stücks die Deixis am Phantasma in den Worten des heidnischen Gewaltherrschers: »Schauet! schaut! Der Himmel bricht! Die Wolckenfeste reist entzwey/ Das rechte Recht steht ihrer Sache bey!«.169 Umgekehrt gilt daher: »Beinahe undenkbar sind ohne sie [die Leiche] die Apotheosen« (393). Die barocke »Einrichtung der Bühne« in Vorder- und Hinterbühne ›spiegele‹, so Benjamin, die allegorische »Zweiheit von Bedeutung und von Wirklichkeit« (370). Dabei ist der Bezug auf jenes andere, für das das ›Pfand‹ Pfand sei (392), als Zeichenrelation selbst ein fraglicher. Die »Schaustellungen des entseelten Körpers« (392), als solche von »allegorischer Typik« (371), stellen die Verstelltheit des »unmittelbaren Weg[es] ins Jenseits« vor (258). Wie Stilleben als solche der vanitas ihre allgorische Konstitution mit-bezeichnen,170 so handelt es sich bei solchen ›Schädelstätten‹ um Allegorien der Allegorien, ihrer Faktur oder Lektüre selbst, 171 wie die am Schluss des Hamlet errichtete ›Trauerbühne‹ als mise en abyme der Bühne diese als den Schau-Platz ›thematisiert‹, auf dem das Geschehen als Schaustellung möglich wurde. Apotheosen sind wie der »Ewigkeit« Auftritt in Catharina von Georgien »zitathaftes Bruchstück, dessen Bedeutung selbst auf dem

zum Eingang der ersten Abhandlung von Gryphius’ Catharina von Georgien. Oder bewehrte Bestaendigkeit, S. 117-226, hier S. 125). Es handelt sich nicht nur um ein Stilleben, sondern die sprechende Ewigkeit enumeriert ekphrastisch die loci der Vanitas und bezeichnet damit zugleich den Modus der allegorischen Wahrnehmung, der durch Fortuna repräsentiert werde (F. Berndt: »›So hab’ ich sie gesehen‹«, S. 236f.). 169 Catharina von Georgien. Oder bewehrte Bestaendigkeit, S. 220f. (5. Abh. V. 385-388); das korrespondiert der Rede der Ewigkeit genau: »schaut was ist diß Thränenthal?/ Ein Folter-Hauß/ da man mit Strang und Pfahl/ Vnd Tode schertzt. Vor mir liegt Prinz und Crone/ Jch trett’ auff Zepter und auff Stab und steh auff Vater und dem Sohne./ Schmuck/ Bild/ Metall und ein gelehrt Papir; Jst nichts als Sprew und leichter Staub vor mir.« (1. Abh. V. 65-70, S. 127). Die zitierte vanitas-Topik holt die Rede der Ewigkeit selbst ein: als Produkt eben dieser vergeblichen Bemühungen, auf »Papir« wie in den Schnee geschrieben (N. Kaminski: Andreas Gryphius, S. 105). 170 Vgl. M. Wagner-Egelhaff: Die Melancholie der Literatur, S. 89. 171 Vgl. das ausführliche Zitat Benjamins aus Hallmanns Exposition zu seinen Leichreden: »dass unsere Rosen in Dornen/ unsere Lilgen in Neßeln/ unsre Paradise in Kirchhöfe/ ja unser gantzes Wesen in ein Bildnüßs des Todes verwandelt worden«; »auf dieser allgemeinen Schaubühne deß Todes [erlaube er sich] auch meinen papirenen Kirchhoff zu eröffnen« (I, 405). 216

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Spiel steht«.172 Es handelt sich um Bestandstücke aus dem dramatischen Fundus und um Theater-Ereignisse, die Bühnen-Apparaturen173 und Theater-Vorrichtungen (wie sie auch jene »Puppen« sind, die für den Auftritt der Ewigkeit die »Leichen« doubeln (303),) ermöglichen müssen. Das Diktum Benjamins: »in der Machination hat die neue Bühne den Gott« (261), verweist ebenso auf die ermöglichte Täuschung (des deus ex machina) wie auf die »Absichtlichkeit« jener Vorrichtungen, die sie ermöglichen.174 Benjamin zufolge ist die ›unregierte‹, verschwendende Häufung der allegorischen ›Bilder‹, wie sie der von Überresten starrende Schauplatz des Trauerspiels ausstellt, der als »gelehrt Papier« noch die barocke Dichtung selbst einschlösse, aufzufassen als der barocken Werke Kalkulation auf ein »Wunder« (354), das da über dem ziellos Angehäuften kommen soll.175 »Jählings ist alles anders.«176 – das bezeichnet den Modus, nach dem ein solches Wunder einträ-

172 So N. Kaminski. Andreas Gryphius, S. 101, vgl. 101-105; nur scheinbar betritt mit »unangefochtene[r] Selbstverständlichkeit« »Transzendenz die Trauerspielbühne« und beanspruche »Gültigkeit für ihre heilsgewisse Rede« (ebd. S. 98-103). Im Detail analysiert F. Berndt die Zitathaftigkeit des Ewigkeitsauftritts, Auftritt zugleich des Versuchs die Deutungsrelationen zu stabilisieren, wobei dieser durch die Ikonographie der Fortuna kontaminiert wird (»›So hab’ ich sie gesehen‹«, S. 236-238, 241ff., 247ff.) 173 Die Szene (vgl. die Anweisung in Catharina von Georgien, S. 125) bedarf der »Ober- und Untermaschinerie einer barocken Illusionsbühne« (H. Zielske: »Gryphius’ Trauerspiel ›Catharina v. Georgien‹ als politische ›Festa Theatrali‹«, S. 18). 174 Calderóns Schauspiele machen diese kenntlich (I, 261). Die »theatrale Apparatur« trieb »auf der Bühne des 17. Jahrhunderts das Wechselspiel von Sein und Schein, Aufführung und Vorstellung bis zur Ununterscheidbarkeit« (B. Wolf: Die Sorge des Souveräns, S. 37) 175 »[J]enen Dichtungen ist es gemein, ohne strenge Vorstellung eines Ziels Bruchstücke ganz unausgesetzt zu häufen und in der unablässigen Erwartung eines Wunders Stereotypien für Steigerung zu nehmen. Als ein Wunder in diesem Sinne müssen die barocken Literaten das Kunstwerk betrachtet haben« (I, 354). Benjamin kennzeichnet sie als »Polter- und Vorratskammern«, wie Zauberstuben (I, 363f.). 176 Wunder, d.i. »das Tempo, in dem das barocke Ereignis sich vollzieht: vorhin erschien alles als ein Schauspiel auf irdischer Bühne nur, das vielleicht von der Unheimlichkeit des Theatralen umwittert wird. Jählings ist alles anders« (W. Hausenstein: Vom Geist des Barock, S. 80). Jähheit kennzeichnet den Auftritt allegorischer Bedeutung, die ›bestürzend‹ auf und vors Bild tritt (I, 357; vgl. F. Strich: »Der lyrische Stil des siebzehnten Jahrhunderts«, S. 39), aber auch den höllischen Hohn (401ff.), mit dem die Allegorie sich dem »mystische[n] Nu« des Symbols, dem die einschließende »momentane Totalität« möglich sein sollte, entgegensetzte (vgl. I, 341ff.). 217

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te,177 ein Umschlagen, wie das von Buchseiten, das sich in Allegorien vollzieht (404f.), deren Sache »Verwandlung aller Art« ist (403). »[E]ins der stärksten Motive« »im Allegorischen« ist aber Benjamin zufolge die »Sorge«, die Dinge »ins Ewige zu retten«, die begründet ist durch die »Einsicht ins Vergängliche der Dinge« (397), die keinen Halt in der Heilsgeschichte haben und die umgekehrt als Reste diesen »Ausfall« artikulieren (359). Das entspricht der theologischen Perspektive, in die das Trauerspielbuch die Allegorie nimmt, und zwar (zuerst) als Verhalten zu den antiken Göttern, deren »dämonische Natur« ihre allegorische Deutung »christlich festzulegen« hatte: diese »galt der frommen Mortifikation des Leibes« (396).178 Die Allegorie aber ist »nicht epigonales Denkmal eines Sieges; viel eher das Wort, das einen ungebrochenen Rest antiken Lebens bannen soll« (396).179 Denn sie ist, auch wo sie die Götter als Personifikationen von Abstrakta nimmt, »mehr« »als die wie immer abstrakte Verflüchtigung theologischer Wesenheiten, nämlich deren Fortleben« (397):180 Die Götter über-dauern in »erstorbener Dinghaftigkeit« – das ist die ›emblematische Bewältigung‹ der »verdächtigen zumal antiken Leiblichkeit« (395f.). Personifikationen sind als solche »zwittrig«, zwielichtig, »schwankend« zwischen Göttern, deren Namen sie tragen, und bloßen Fiktionen personifizierter Begriffe, die mit diesen verwechselt werden;181 die177 Vgl. die barocke Exzentrik der »Akte der Verzückung«, da »der hierarchische Zug des Mittelalters mit der Gegenreformation seine Herrschaft in einer Welt antritt, der der unmittelbare Weg ins Jenseits verstellt war« (I, 258). 178 Darin zeige sich die »sachliche Verwandtschaft« »zwischen der barocken und der mittelalterlichen Christlichkeit« (I, 394; vgl. I, 398, 400). 179 »Hätte die Kirche kurzerhand die Götter aus dem Gedächtnis ihrer Gläubigen verdrängen können, so wäre die Allegorese nie entstanden« (I, 396). Warburg konstatiert (»Heidnisch-antike Weissagung«), was Benjamin zitiert: »›als kosmische Dämonen gehörten die antiken Götter ununterbrochen seit dem Ausgange des Altertums zu den religiösen Mächten des christlichen Europa‹« (I, 400). 180 Benjamin bezog sich vor allem auf Hermann Usener: Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896; gegen die Engführung von Personifikation und Allegorie, vgl. Karl Reinhardt: »Personifikation und Allegorie«, in: ders., Vermächtnis der Antike, Göttingen 1960, S. 7-40. Als Personifikationen werden die Götter in christlichen Texten ›tradierbar‹; vgl. Reinhart Herzog: Die allegorische Dichtkunst des Prudentius, München 1966, S. 8 (zu Prudentius auch I, 398). 181 Vgl. F. Stößl: »Personifikationen (abstrakter Begriffe)«, in: Pauly-Wissowa, Real-Encyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft. Bd. XXXVII, 218

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se Fiktionen drohen mit einer unheimlichen Produktivität, insofern sie zu ihrer dämonisierenden Verwirklichung tendieren.182 Die Allegorien der Götter sind das Symptom und der Modus von deren FortLeben (357),183 und insofern, darauf legt Benjamin Wert, ein anderes denn »bloße[s] Schmuckwort«, »Spielerisches, Unbeteiligtes« (396).184 Das Fortleben ist ein solches von Wiedergängern, ist Nach-Leben:185 »It is the life of the incorporated dead«,186 der Götter, die zum einen auf kreatürliche, gefallene Leiblichkeit ›festgelegt‹187 und zum anderen allegorisch mortifiziert: entleert zu Abstrakta, als Embleme dinglich bleiben und behalten werden. Hat »gerade die Allegorie […] [die Götter] gerettet« (397), so zu einem Nachleben, das Allegorien als »ungebrochenen Rest antiken Lebens«, das sie zu bannen bestimmt waren, bezeugen.188 In allegoStuttgart 1937, Sp. 1044-1058, hier Sp. 1045 u. 1044-1048; L. Deubner: »Personifikationen abstrakter Begriffe«, in: W.H. Roscher (Hg.), Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1902-1909, Sp. 20582169. 182 Zum referentiellen Kurzschluss der Figur, der Dämonen hervorbringt, vgl. Ernst H. Gombrich: »Personification«, in: R. R. Bolgar (Hg.), Classical Influences on European Culture, Cambridge 1971, S. 247-257, hier S. 249; »›als kosmische Dämonen gehörten die antiken Götter [...] zu den religiösen Mächten des christlichen Europa‹« (mit Warburg, I, 400) 183 Vgl. für diesen entscheidenden Begriff A. Warburgs, u.a. dessen »Heidnisch-antike Weissagungen in Wort und Bild zu Luthers Zeiten« (1920), sowie F. v. Bezold: Das Fortleben der antiken Götter (1922), S. 62; beide zit. Benjamin), und nach der Warburgschule: Jean Seznec: La survivance des dieux antiques, 1980; dtsch. Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus und in der Kunst der Renaissance, München 1990. 184 – Oder eine bloße »Arabeske zur antiken Göttervorstellung« (I, 396). Das »scheidet« sie »von der orientalischen Rhetorik dieses Ausdrucks« (I, 398) 185 »Abgestorbenheit der Gestalten und Abgezogenheit der Begriffe sind […] für die allegorische Verwandlung des Pantheons in eine Welt magischer Begriffskreaturen die Voraussetzung« (I, 399; zit. ist Warburg). 186 R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 195, vgl. ebd., S. 192-196. 187 D.h.: »sie werden böse und sie werden Kreatur« (I, 399). Was an »Waffen […] für die Niederwerfung der Götter« aufgeboten werden kann (F. v. Bezold: Das Fortleben der antiken Götter, [1922] S. 3), wird rückwirkend ›produktiv‹: »›so verband sich die Herabsetzung der Götter zu bloßen Menschen immer enger mit der Vorstellung, daß in den Resten ihres Kultes, vor allem in ihren Bildern, bösartige magische Kräfte fortwirkten. Der Nachweis ihrer völligen Ohnmacht wurde doch wieder abgeschwächt, indem sich satanische Stellvertreter der ihnen abgesprochenen Befugnisse bemächtigten‹« (I, 399, zit. ist Bezold, ebd.). 188 Benjamin zeichnet die Allegorie als Modus nachträglicher ›Gegenwart‹ aus: »Das geheimnisvollste Antlitz der Antike« war »nie das ihres Lebens, nur das ihres magischen Nachwirkens« (II, 626). Vgl. zur Akzentuierung des 219

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risch »erstorbener Dinghaftigkeit« »ragen« »die Götter [...] in die fremde Welt hinein« oder, wie Benjamin die Metapher katachrestisch überziehend fortführt: Es blieb »das Kleid der Olympischen zurück, um das im Laufe der Zeit die Embleme sich sammeln. Und dieses Kleid ist kreatürlich wie ein Teufelsleib« (399). »[E]ntscheidend […] war, daß im Bezirk der Götzen wie der Leiber nicht die Vergänglichkeit allein, sondern die Schuld sinnfällig angesiedelt scheinen mußte. Dem allegorisch Bedeutenden ist es durch Schuld versagt, seine Sinnerfüllung in sich selbst zu finden.« (398)

Dies, und damit »die Unvollendung und die Gebrochenheit [noch] der schönen Physis« (352), teilt die Allegorie durch die Gewalt mit, mit der Bedeutung den Dingen und Details zugewiesen und ihnen auferlegt ist, die im Ausfallenden der barocken Gebärde (359) der Verkörperung sich ausweist, und die die Allegorie als »Willkürherrschaft über Dinge« ausstellt (407), die diese entwertet. Die »Trauer im Ursprung der Allegorie«, die der Seitenüberschrift zufolge den »ungebrochenen Rest antiken Lebens« in ihr ausmacht (396), führt Benjamin selbst-zitativ, durch Inklusion eines Teilstücks aus »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« (ca. 1916, zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht) aus: »Weil sie stumm ist, trauert die gefallene Natur. Doch noch tiefer führt in das Wesen der Natur die Umkehrung dieses Satzes ein: ihre Traurigkeit macht sie verstummen. […] Benannt zu sein […] bleibt vielleicht immer eine Ahnung von Trauer.189 Wie viel mehr aber, nicht benannt, sondern nur gelesen, unsicher durch den Allegoriker gelesen und hochbedeutend nur durch ihn geworden zu sein.« (398)

Die allegorische Bedeutung erklärt und macht das »allegorisch Bedeutende« zu dem, was ihr vermeintlich vorliegt, dem »versagt [ist], Fortlebens im Sinne der Nachträglichkeit: Beat Wyss: »Die Nachträglichkeit der Bilder. Man sieht nur was man sieht«, in: ders., Vom Bild zum Kunstsystem, Köln 2006, S. 87-116, hier: 101-104, 114f. 189 Bis hier handelt es sich um ein Zitat aus »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (II, 155). »Es ist in aller Trauer der Hang zur Sprachlosigkeit« – das führt auf die von Benjamin, in Bezug auf die »Trauer«, ältere Frage, wie diese zur Sprache zu bringen sei; in »Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie« (II, 138f.) ist das erläutert durch den Weg vom Natur-Laut zum Wort, der durch das Wort, insofern mit ihm, seiner »Doppelbedeutung« die Bedeutung kommt, unterbrochen werde. 220

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seine Sinnerfüllung in sich selbst zu finden« (398), was als die schuldige, todverfallene »gefallene Natur« »nur gelesen, unsicher durch den Allegoriker gelesen und hochbedeutend nur durch ihn geworden« sein wird (398). Da die barocke »allegorische Anschauung« spezifischer »ihren Ursprung in der Auseinandersetzung der schuldbeladenen Physis, die das Christentum statuierte«, mit der ›Natur der antiken Götter‹ hatte (400), ergibt sich umgekehrt: »Je mehr andererseits die Natur wie die Antike als schuldbeladen empfunden wurden, desto obligater ward ihre allegorische Interpretierung als die denn doch allein absehbare Rettung. Denn mitten in jener wissentlichen Entwürdigung des Gegenstandes bewahrt ja die melancholische Intention auf unvergleichliche Art seinem Dingsein die Treue.« (398)

Der »Trauer« in ihrem »Ursprung« genügt die Allegorie, weil sie »[d]en antiken Göttern in erstorbener Dinghaftigkeit entspricht« (400) und, »mitten in jener wissentlichen Entwürdigung des Gegenstandes« (398), die das allegorische Bedeuten vollzieht, am »Dingsein« (der Dinge) festhält. Benjamin unterstreicht, daher einerseits: »Wenn die allegorische Intention auf die kreatürliche Dingwelt, das Abgestorbene, zuhöchst das Halblebendige sich richtet,« »[h]ält sie an den Emblemen einzig fest, ist Umschwung, ist Errettung nicht undenkbar« (400). Andererseits aber begegnet der »allegorischen Intention«, die »auf die kreatürliche Dingwelt, das Abgestorbene, zuhöchst das Halblebendige sich richtet« (Hvhg. BM), das allegorisch mortifizierte ›Leben‹ wieder als unheimliche ›Lebendigkeit‹. (Denn die »allegorische Intention« hält sich nicht »einzig« an die Embleme in ihrem »Dingsein«.) »Aber es vermag aller emblematischen Verkleidung spottend in triumphierender Lebendigkeit und Blöße aus dem Erdschoß die unverstellte Teufelsfratze vor dem Blick des Allegorikers sich zu erheben.« (400f.)190

Benjamin fasst der Allegorien melancholische Vergeblichkeit des Bedeutens in theologischen Termini als satanische. Die Vergeblichkeit des allegorischen Bedeutens, d.i. die der »Macht des Wissens«, die im Bedeuten als dessen ›Willkür‹ sich manifestiert, die nichts 190 D.i. die neue Umprägung, nachdem die mittelalterliche »Waffe[] […] für die Niederwerfung der Götter« »ihre Verteufelung« war, die sich »aus dem spätantiken Dämonenglauben entnehmen« ließ (F. v. Bezold: Das Fortleben der antiken Götter, S. 3, zit. I, 399). 221

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anderes bestätigen kann als die Sinn-Leere, d.i. die Angewiesenheit des »allegorisch Bedeutenden« auf den Allegoriker, wird als satanische re-figuriert in der Doppelbewegung von sich vertiefender Trauer, die an die Erdtiefe sich verliert, und dem »höllische[n] Hohn«, mit dem die Materie der Versenkung entgegnet: Denn »im Teufel [besinnt die Materie] sich ihrer Tartarusnatur, spottet ihrer allegorischen ›Bedeutung‹ und höhnt jedwedem, der da glaubt, in ihren Tiefen ungestraft ihr nachgehen zu können« (401). Da beider, des Materialischen und Dämonischen, »Verknotung« »in der Gestalt des Satan [mittelalterlich] fest […] geschürzt« worden war (400), begegnet der melancholischen Vertiefung im Gegenstande dessen Materialisches als Dämonisches. Der allegorischen Bannung in Emblemen »spottend« ent-gegnet »dem Blick des Allegorikers«, der in dessen Tiefen einem Wissen nachgeht, »in triumphierender Lebendigkeit und Blöße aus dem Erdschoß die unverstellte Teufelsfratze« (400f.). Es ist der »Spott«, mit dem das trauernd Stumme, das (nicht nur benannt, sondern) ›allegorisch gelesen und beschriftet‹ zum todund schuld-verfallenen erklärt wird, als das »Abgestorbene«, Gebannte, doch »Halblebendige« ›ant-wortet‹ oder genauer: jäh bestürzend hervorschießt.191 Dadurch, das ist die »im Triumph der Materie vereitelte Sehnsucht« »irdische[r] Traurigkeit« (401), wird das allegorische Verfügen kenntlich: »Die stumme Kreatur ist fähig, auf Rettung durchs Bedeutete zu hoffen. Die kluge Versatilität des Menschen spricht sich selber aus und setzt, indem sie im verworfensten Kalkül ihr Materialisches im Selbstbewußtsein menschenähnlich macht, dem Allegoriker das Hohngelächter der Hölle entgegen.« (401)

Im allegorischen Bedeuten als der »Willkürherrschschaft über Dinge« (407), die deren Unvermögen, »Sinnerfüllung in sich selbst zu finden«, behauptet, »spricht«, so akzentuiert Benjamin, allein die »kluge Versatilität des Menschen« »sich selber aus« (die im Intriganten als dem vermeintlichen »Herrn der Bedeutung« (383f.) Per-

191 Allegorische Bedeutung tritt bestürzend auf (I, 357). »Um der Versenkung Widerpart zu halten, hat ständig neu und ständig überraschend das Allegorische sich zu entfalten«; es »schießt aus dem Seinsgrund […] der Intention auf ihrem Weg hinab entgegen und schlägt sie dergestalt vors Haupt« (I, 359, vgl. I, 394, 405). 222

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son des Trauerspiels wird).192 Sie mache in dieser Selbst-Aussprache, das heißt Benjamin das »verworfenste[] Kalkül«, »Materialisches im Selbstbewußtsein« »menschenähnlich« (401). Was derart verfehlt figuriert erscheint, manifestiert umgekehrt das »Hohngelächter der Hölle« (401) disfiguriert, in Disartikulation. »Gerad im Gelächter nimmt mit höchst exzentrischer Verstellung Materie überschwenglich Geist an. So geistig wird sie, daß sie weit die Sprache überschießt.« (401)

Die Vergeblichkeit aller Kalküle kommt ausdruckslos disartikuliert ›zum Ausdruck‹ in der ›überschießenden‹ exzentrischen ›Erwiderung‹, die das »Gelächter« ist (401). Die Materie nehme »überschwenglich Geist« an, »das Verstummen der Materie [werde] überwunden«,193 allerdings in einer nicht nur bedeutungslosen, sondern sprachlosen Manifestation: (Sprache) überschießend, als »Gelächter« disfiguriert und disfigurierend.194 Dieser exzentrische Umschlag vollzieht sich gemäß jener ›gnostisch-manichäischen‹ Dichotomie (401), die das allegorische Operieren austrage, von »hier entseelte[r] Stofflichkeit« und »absolute[r] Geistigkeit« (404), die Benjamin als die beiden »Pole« des »satanischen Bereich[s]« kennzeichnete (404). Die »allegorische Intention« trifft im höllischen Gelächter, das ihr entgegenschlägt, auf 192 Versatilität ist ein Begriff des concettismo, vgl. E. Knörer: Entfernte Ähnlichkeiten, S. 91. 193 Weiterverfolgt wird damit die Frage Benjamins, wie die Natur (nicht) zur Sprache komme (vgl. »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« II, 155), worin die menschliche Rede in Worten, die nicht ohne Bedeutung kommt, enttäuscht, so dass die (gefallene) Natur so traurig wie stumm ist (vgl. I, 398; II, 138f.); »alle Natur [begönne] zu klagen [...], wenn Sprache ihr verliehen würde« (II, 155, Hvhg. BM); die »Klage« wäre das Gegenstück zum Gelächter, aber doch auch »der undifferenzierteste, ohnmächtige Ausdruck der Sprache« (II, 155). 194 Diese Kennzeichnung des Lachens (es sei »Chaos der Artikulation«, so III, 956 = Benjamin-Archiv, Ms. 926) steht in Bezug auf H. Bergsons Le rire (1900) wie auf C. Baudelaires (De l’essence du rire; vgl. V, 414), der das Lachen durch die ›anamorphe Verzerrung‹ der Gestalt kennzeichnet (vgl. Samuel Weber: »Die Zeit des Lachens«, in: Fragmente 46: Heilloses Lachen: Fragmente zum Witz (1994), S. 77-90, hier S. 81; Marianne Schuller, »Der Witz oder die ›Liebe zum leersten Ausgange‹«, in: a.a.O., S. 11-28, hier S. 20f., 11-13). Benjamin stellt für das Trauerspielbuch einen Bezug zu (Baudelaires) spleen und ideal her (vgl. I, 919) und wird diesen die satanische heroische Melancholie der Moderne als Heroismus der ausgehaltenen Moderne ablesen (I, 661, 1151; V, J 60,7; vgl. J. Starobinski: Melancholie im Spiegel, S. 17ff., u.ö.). 223

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den Hohn, den der »Triumph der Materie« der »Sehnsucht [...] irdische[r] Traurigkeit« ›spreche‹, im exzentrischen Leerausgehen, im ›Überschuss‹ des Gelächters (über die Sprache) auf die (Un)›Wahrheit‹ des allegorischen Bedeutens, die nicht etwas, die nichts ist. Was in der Tiefe »versucht«, zur ›Vertiefung‹ (ver-)führt, ist das ›absolute‹ Wissen‹; es ist gegenstandslos, wie Benjamin im Nachtrag, in selbstzitativer Nach-Erzählung des Sündenfalls, darlegt,195 das als solches Böse (407). Es verleitet zur Versenkung »in den leeren Abgrund des Bösen hinab« (404):196 »Es ist dies aber auch der Abgrund des bodenlosen Tiefsinns« (404). Am melancholischen Grübler, der von »rätselhafter Weisheit«, als deren ›Chiffern‹ ihm die Dinge auftreten (319), angezogen wird (das macht die »falsche Heiligkeit« (306) seiner Kontemplation), »entzündet sich« der »Tiefblick des Satans«, der – weil er sich aufs ›absolute‹: nichtsachliche Wissen richtet – »rebellisch« heißt (403).197 Der Allegoriker folge, so führt Benjamin die passende Lichtmetapher fort, »einem unterirdisch[] [dämmernden] Leuchten«: »nicht das innere Licht, kein lumen naturale, das in der Nacht der Traurigkeit als dieses Wissen sich auftut« (403). »[Dem] Sinnen, […] wenn es nicht sowohl geduldig auf Wahrheit, denn unbedingt und zwangshaft mit unmittelbarem Tiefsinn aufs absolute Wissen geht, [entziehen] Dinge nach ihrem schlichten Wesen […] sich, um 195 Vgl. I, 407; zitiert ist »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, II, 152-154. Das Wissen um Gut und Böse ist »im Grunde nur Wissen vom Bösen«, das »gar keinen Gegenstand hat«; »als Wissen ist es primär: Denn es [das Böse] setzt sich mit der Lust am Wissen erst vielmehr am Urteil, in dem Menschen selber« (I, 407). Das Wissen von Gut und Böse ist ironisch unmittelbar; das Urteil produziert, was es nur zu konstatieren scheint. »Dem richtenden Wort ist allerdings die Erkenntnis von gut und böse unmittelbar. […] Dieses richtende Wort verstößt die Menschen aus dem Paradies; sie selbst haben es exzitiert« (II, 153). Darauf bezieht Benjamin die Allegorie, insofern »[d]ie abstrakten Sprachelemente« »im richtenden Wort, dem Urteil« »wurzeln« (I, 407; II, 154): »Im Sündenfall selbst entspringt die Einheit von Schuld und Bedeuten vor dem Baum der Erkenntnis als Abstraktion« (I, 407). 196 Genau genommen: »Als Wissen führt der Trieb in den leeren Abgrund […] hinab« (I, 404, Hvhg. BM) 197 Es steht im Gegensatz zu allem sachlichen Wissen (I, 407); in der »Intention der Allegorie« tritt »Neugier mit der hochmütigen Absonderung des Menschen zutage« (I, 403), die Umwertung der Neugier ermöglichte das Konzept neuzeitlichen Wissen (vgl. Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt/M. 1973). 224

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als rätselhafte allegorische Verweisungen und weiterhin als Staub vor ihm zu liegen.« (403)198

Dieses Wissen verlocke »als Fata morgana eines Reiches der absoluten […] Geistigkeit« (die »als Gegenstück dem Materialischen verbunden, das Böse erst konkret erfahren läßt« (403)) in die Tiefe. »Der in ihm [jenem »Reich«, in dem die Hölle erkannt werden muss] herrschende Gemütszustand ist die Trauer,199 zugleich die Mutter der Allegorien und ihr Gehalt« (403). Wie die Suche nach allegorischer Bedeutung die ›satanische Verheißung‹ (404) »absolute[r], das ist gottlose[r] Geistigkeit« bezeugen mag, so erweist jede (vom Allegoriker) zugewiesene diese »Geistigkeit« als bloße Fiktion, als ungedecktes Trugbild200 (während die »rätselhafte[n] allegorische[n] Verweisungen« »als Staub vor ihm [dem allegorischen Tiefblick] liegen« werden). Die »theologische Essenz des Subjektiven«, das in der »Willkürherrschaft über Dinge« mit der »ungeheuren widerkünstlerischen Subjektivität in dem Barock« ›zusammenschieße‹ (406f.), ist das »Böse«.201 – Umgekehrt erweist das von diesem Vorgestellte sich als ›subjektives Phänomen‹ (406). Die melancholische Vertiefung, die der Trieb zu wissen, das falsche Versprechen absoluten Wissens »in den leeren Abgrund des Bösen hinab[führt], um dort der Unendlichkeit sich zu versichern« (404), womit sie der ›Bodenlosigkeit‹ des Scheins verfällt, nimmt sich als der »Sturz Satans« nach dem Schema der Allegorie aus. Wo die Vertiefung im »Abgrund des bodenlosen Tiefsinns« (404) als satanischer Fall modelliert ist (405), erfährt sie – »zuletzt«, heißt es – einen Umschwung, in dem nun nicht nur die Grundlosigkeit des Anheimfalls, sondern der bloße »Schein« seiner (des Tiefsinns, des Bösen) »Unendlichkeit« sich »enthüll[e]« (404). 202 198 »[D]ie Majestät [werde] zu Staub in einem Augenblick«, heißt es auch bei F. Strich: »Der lyrische Stil des siebzehnten Jahrhunderts«, S. 39. 199 Zu denken ist an Dantes Inferno als Ort der Traurigkeit; dieses sagt durch die Anschrift am Tor: »vor mir ist kein geschaffen Ding [...]« (Dante: Göttliche Komödie, Bd. I, S. 34f.. »Die Hölle wurde beim Sturz des Lucifer vor der Schöpfung des Menschen geschaffen«, sagt der Komm. (Bd. IV, S. 63, mit Bezug auf Matth. XXV, 41). 200 Insofern dissoziiert die Allegorie dort, wo »das Bewusstsein ihre gauklerische Synthesis [des schlechthin Materialischen und jenes absoluten Geistigen] [ist], mit welcher sie [?] die echte, die des Lebens äfft« (I, 404). 201 Dies ist das »entscheidende theologische Präjudiz« des Trauerspielbuchs (U. Steiner: »Allegorie und Allergie«, S. 688ff.). 202 Dem »Reich[] der absoluten, das ist gottlosen Geistigkeit [...] entstammen drei ursprüngliche satanische Verheißungen. Sie sind geistiger Art. [...] Was 225

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»Wie Stürzende im Fallen sich überschlagen, so fiele von Sinnbild zu Sinnbild die allegorische Intention dem Schwindel ihrer grundlosen Tiefe anheim, müßte nicht gerade im äußersten unter ihnen so sie umspringen, daß all ihre Finsternis, Hoffart und Gottferne nichts als Selbsttäuschung scheint.« (405)

Diese Wendung der Bewegung in die scheinbare Unendlichkeit im Abgrund des Sturzes »von Sinnbild zu Sinnbild« »gerade im äußersten unter ihnen«, heißt es hier, vollzieht sich explizit genug, nach dem Schema der Allegorie: »[G]erade in Visionen des Vernichtungsrausches, in welchen alles Irdische zum Trümmerfeld zusammenstürzt, enthüllt sich weniger das Ideal der allegorischen Versenkung denn ihre Grenze. Die trostlose Verworrenheit der Schädelstätte, wie sie als Schema allegorischer Figuren aus tausend Kupfern und Beschreibungen der Zeit herauszulesen ist,203 ist nicht allein das Sinnbild von der Öde aller Menschenexistenz. Vergänglichkeit ist in ihr nicht sowohl bedeutet, allegorisch dargestellt, denn, selbst bedeutend, dargeboten als Allegorie. Als die Allegorie der Auferstehung.« (405f.)

Die »Grenze« der (wie es hier heißt) »allegorischen« Versenkung, ihrer trostlosen Immanenz (vgl. 260), ist keine interne, von innen her zu bestimmende, denn sie ist als solche »unendlicher Progreß«, der kein Ende kennt. Und sie wird doch nicht anders als durch das allegorische Umschlagen von Darstellen und Bedeuten, d.i. die allegorische Differenz, bezeichnet. Dieser Umschlag beruft, wenn nachträglich »[d]ie sieben Jahre [der trostlosen »Unendlichkeit«] ihrer Versenkung« »nur ein Tag« gewesen sein werden, das Schema der Allegorie: »Denn auch diese Zeit der Hölle wird im Raum säkularisiert [wie zuvor als »trostlose Verworrenheit der Schädelstätte«] lockt ist der Schein der Freiheit – im Ergründen des Verbotnen; der Schein der Selbständigkeit – in der Sezession aus der Gemeinschaft der Frommen; der Schein der Unendlichkeit – in dem leeren Abgrund des Bösen.« (I, 403f.) Es ist einleuchtend hier eine Auseinandersetzung mit Kants Versuch, sich zur (nicht internen) Grenze integrativ zu verhalten, das Absolute der Freiheit in das Subjekt zu verlegen, zu lesen (vgl. Nina Zimnik: »Allegorie und Subjektivität in Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: The Germanic Review Vol 72 (1997), S. 285-302, hier S.288ff, 290-93). 203 Ein Beispiel gäbe das Kupfer zur Bühne des ›Prologs‹ der Catharina von Georgien, über der die Oberbühne sich zu einer Apotheose der »Ewigkeit« öffne (A. Gryphius: Catharina von Georgien, S. 125, Kommentar S. 924). 226

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und jene Welt, die sich dem tiefen Geist des Satan preisgab und verriet, ist Gottes.« (406) Der Umschlag der Allegorie ins Bedeuten (von etwas anderem als sie darstellt)204 spricht stets auch von der Willkür des Zugriffs und Effekts, von der Ungedecktheit allen und jeden – das heißt auch diesen – allegorischen Bedeutens. Es entspricht dem »Wesen melancholischer Versenkung« selbst, löste es also ein, dass ihr ihre »letzten Gegenstände, in denen des Verworfnen sie am völligsten sich zu versichern [, der Melancholische sich derart konstituiert] glaubt, in Allegorien umschlagen« (406), die nicht nur »etwas anderes« bedeuten, sondern »genau das Nichtsein dessen, was es [das Böse] vorstellt« (406). »Die absoluten Laster, wie Tyrannen und Intriganten sie vertreten, sind Allegorien«, das heißt explizit: »nicht wirklich« (406). Sie belegen derart, so Benjamin, nichts anderes als den »subjektiven Blick der Melancholie; sind dieser Blick, den seine Ausgeburten vernichten, weil sie nur seine Blindheit bedeuten.« (406) Das tun sie als Allegorien. Als solche »weisen [sie] auf den schlechthin subjektiven Tiefsinn, als dem sie einzig ihr Bestehn verdanken. Durch seine allegorische Gestalt verrät das schlechthin Böse sich als subjektives Phänomen.« (406)205 Denn diese bedeutet »genau das Nichtsein dessen, was es [das Böse] vorstellt« (406), und der Melancholiker sähe in dieser allegorischen Verfasstheit seiner »letzten Gegenstände, in denen des Verworfnen [der Blick der Melancholie] am völligsten sich zu versichern glaubt«, »die eigene Konstitution dekonstruiert«.206 Denn »Leer aus geht die Allegorie« (406). Das heißt umgekehrt (nun nicht für das »schlechthin Böse«, sondern) für die Allegorie: »All das [was der Allegorie »als Eigenstes zugehörte: das geheime, privilegierte Wissen, die Willkürherrschaft im Bereich der toten Dinge, die vermeintliche Unendlichkeit der Hoffnungsleere«] zerstiebt mit jenem einen Umschwung, in dem die allegorische Versenkung die letzte Phan204 Nach dem »Schema des Emblems« »aus welchem mittels eines Kunstgriffs, der stets von neuem überwältigen musste, sinnfällig das Bedeutete hervorspringt« (I, 404f.), vertauscht das Trauerspiel »[u]nermüdlich verwandelnd und vertiefend« »seine Bilder miteinander«, mit »zahllosen Effekte[n] [...], in welchen der Thronsaal in den Kerker, das Lustgemach in eine Totengruft, die Krone in den Kranz aus blutigen Zypressen anschaulich, oder sprachlich nur, verwandelt wird« (I, 404). 205 Denn: »Das schlechthin Böse, das als bleibende Tiefe sie [die Allegorie] hegte, existiert nur in ihr, ist einzig und allein Allegorie.« (I, 406) 206 A. Haverkamp: »Kryptische Subjektivität«, S. 354; ders.: Laub voll Trauer, S. 24f.). 227

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tasmagorie des Objektiven räumen muß und, gänzlich auf sich selbst gestellt, nicht mehr spielerisch in erdhafter Dingwelt sondern ernsthaft unterm Himmel sich wiederfindet.« (406)

Wird derart die Subjektivität des modernen Wissens in der Theologie des Bösen erschlossen (404ff.), so findet diese mit dem Allegoriker – »nun erst im rückgewandten größten Bogen« umspringend (406) – sich »in Gottes Welt« (406). Die »subjektive Perspektive [ist] restlos einbezogen in die Ökonomie des Ganzen« (407), dies aber durch die »eingestandene Subjektivität«: »Im schlechthin Bösen greift [!] die Subjektivität [!] ihr Wirkliches und sieht es als die bloße Spiegelung ihrer selbst in Gott« (407). So füge »die eingestandene Subjektivität207 […] als ›Werk der höchsten Weisheit und der ersten Liebe‹, als Hölle, der göttlichen Allmacht sich ein« (407). Das ist der Einbezug der »eingestandenen Subjektivität« durch Zitation – nicht die Wendung in vermeintlich Benjaminsche Theologie. Zitiert ist aus Dantes La Divina Comedia die Prosopopöie der Hölle, die als »Stadt der Trauer« in der Aufschrift »zu Häupten eines Tores« über sich selbst sagt: »Geschaffen haben mich die Allmacht Gottes, die höchste Weisheit und die erste Liebe.«208 Die Hölle wird hier (mit ihrer eigenen Aufschrift) dahin beschieden, dass sie nicht dichotomischer Gegenpart (der Wahrheit) des Guten sei, als der ihr Herr sich aufwirft, sondern immer schon nur deren (bloß) abgefallener Teil. (Nach traditioneller theologischer Auffassung haben die »höchste Weisheit und die erste Liebe« das Böse »geschaffen«, weil allein dieses die Freiheit der Entscheidung zum Guten ermöglicht; daher partizipiert aber auch diese, mit der unterscheidenden »Subjektivität« am Bösen, d.i. am Nichts.) Benjamin akzentuiert einerseits (ich hebe hervor): »Im Weltbild der Allegorie also ist die sub207 Benjamin argumentiert auch: »in dem himmlischen [Gericht] [komme] der Schein des Bösen ganz zu seinem Recht«, während das »irdische Gericht« »die schwankende Subjektivität des Urteils mit Strafen in der Wirklichkeit verankert«. Dagegen kommt »in dem himmlischen« »die eingestandene Subjektivität zu dem Triumphe über jede trügerische Objektivität des Rechts« (I, 407, Hvhg. BM). 208 Das ist die 6. Zeile der Aufschrift, die im 3. Gesang des Inferno »in dunkler Farbe/ Zu Häupten eines Tores« angeschrieben ist (Dante: Göttliche Komödie, Bd. I, S. 34f.); für den Dante-Beizug vgl. U. Steiner: »Traurige Spiele – Spiel vor Traurigen«, S. 38f.; eine interessante Analogie zur von Benjamin angeführten »Ökonomie des Ganzen« (I, 407) gäbe sowohl Miltons Satan als auch Calderóns Auffassung des Bösen als bloßer Teil des göttlichen Willens (vgl. G. Poppenberg: Psyche und Allegorie. Studien zum spanischen auto sacramental). 228

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jektive Perspektive restlos einbezogen in die Ökonomie des Ganzen« (407); das heißt aber andererseits: »Leer aus geht die Allegorie« (406).209 Diese (Auf-)Lösung ist offenkundig paradoxal. Geht dem melancholischen Blick zuletzt alles verloren, so allerdings nicht nur die »letzten Gegenstände«, die die melancholische Betrachtungsart mit vermeintlicher Objektivität versicherten und doch als Allegorien ihr »Nichtsein« bedeuten (406). Gelöst ist auch die der Melancholie eignende Treue zum Dingsein ihrer Gegenstände (398), das Festhalten an dem, was als Trümmer dinghaft zurückbleibt, was »Errettung«, »Umschwung«, so hieß es bei Benjamin, doch »nicht undenkbar« mache (400f.).210 Umgekehrt aber vollzieht sich jener Umschwung, durch den die Allegorie »[l]eer aus geht« (406), weil alles, »was ihr als Eigenstes zugehörte«, was »als bleibende Tiefe sie hegte«, doch eine ganz andere Bedeutung habe und »zerstiebt«, eben nach jenem Schema, als das die Allegorie von Benjamin ausgewiesen ist: »Was immer sie ergreift, verwandelt ihre Midashand in ein Bedeutendes«; ihr Geschäft ist »Verwandlung aller Art« (403). Für diese allegorischen »Verwandlung[en] aller Art«, die jede Erscheinung als solche dementiert, gibt es keine ›Stoppregel‹, sei diese auch mit »ernsthaft unterm Himmel« angegeben (406), und keine letzte Einsicht, und sei diese auch die ›Vernichtung von Ausgeburten‹. Die »Grenze« allegorischer Betrachtung wäre eine bloße grundlose Setzung, auch wenn diese »die Ökonomie des Ganzen« eingesetzt haben wird. Denn auch die vermeintlich »letzte« Allegorie gehört als Allegorie noch jenem »Abgrund« an, der der Fall »von Sinnbild zu Sinnbild« sei (405). Wenn »Auferstehung« nur als Allegorie zu haben ist, geht die »Allegorie der Auferstehung« so »leer« aus (406), wie alle Allegorie.211 Daher trifft umgekehrt (auch) zu: »It is precisely this moment that constitutes the triumph of allegory«.212 Allerdings ist dies der ›Triumph‹ der Allegorie, den nun keineswegs mehr die »Schädelstätte« ihrer Gegenstände darstellt und den nicht bloß die »Allegorie

209 Und mit dieser deren »Subjektivität«: »null and void« (so S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 499). 210 In diesem Sinne ist die Allegorie, die an den Trümmern festhält (V, 415), Figur der Rettung (V, 573). 211 Vgl. B. Menke: Sprachfiguren, S. 231ff.; S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 500; R. Nägele: Theater, Theory, Speculation, S. 201; E. Geulen: Das Ende der Kunst, S. 98. 212 Bainard Cowan: »Walter Benjamin’s Theory of Allegory«, in: NGC 22 (1980), S. 109-122, hier S. 118f. 229

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der Auferstehung« vollzieht. Vielleicht handelt es sich daher auch gar nicht um einen ›Triumph‹, sondern um einen solchen (nur) als der Allegorie »Leer«-Ausgehen. Denn dieses ist nicht nichts und auch nicht die leere Unendlichkeit, sondern die offen- und ausgehaltene Doppelung (und Spaltung in sich selbst), die das allegorische Zeichen erfährt.213 Das ist die der Allegorie als metafigürliche eignende ›Einsicht‹ von der das allegorische Zeichen selbst in sich uneinholbar spaltenden Inkongruenz von allegorischer Darstellung und vermeintlich dargestelltem Sinn. Wenn den melancholischen Blick ausmacht, dass ihm nichts es selbst ist, sondern Zeichen (eben dafür): für die ›Verschiedenheit‹ von sich selbst, so wäre die melancholische Erkenntnis nicht durch »letzte Gegenstände, in denen des Verworfnen sie am völligsten sich zu versichern glaubt« (406), zu sichern und nicht im ›ernsthaften‹ Konfrontiertsein ihrer haltlosen ›Subjektivität‹ mit dem Himmel erfüllt, in dem nachträglich jener Standpunkt, der immer schon einzunehmen wäre, gegeben wäre, sondern in der Einsicht, die ihre ›Blindheit‹ bedeutet, von der die allegorische Verfasstheit ihrer Gegenstände oder »Ausgeburten« ›spricht‹ (406). Das Trauerspielbuch entzieht derart – noch indem es diesen »im rückwärts gewandten größten Bogen« (406) anzuweisen scheint – den Ort und die Instanz der Erkenntnis.214 Allegorisch verfasst zu sein, bedeutet für jede Erkenntnis, und sei es die in die ›Subjektivität‹ der Gegebenheit ihrer Gegenstände, ›nur ihre Blindheit‹, hat nämlich je schon das, worin sie sich vermeintlich darstellt, als ihr inkompatibles Anderes behauptet. Derart suspendiert die Allegorie noch die ›negative Gewissheit‹, worin das Differieren von sich selbst, dem die Trauer gilt, »erfüllt« und verstellt wäre (406). Sie ist je wieder ans Spiel des aufgehaltenen Zwiespalts und in diesem Riss verwiesen, das nicht auf seine Lesart als Mangel zu verpflichten ist. Für die Dissoziation, die die Allegorie voraussetzt und vollzieht, und statt ihrer Leere bleiben deren Trümmer oder Reste (»was nach aller Enttäuschung bleibet im Zeichen«).215

213 Wie P. de Man vorgestellt hat: »Lesen (Proust)«, S. 110-112. 214 »The knowledge of allegory is ultimately suspended […] since all it knows could as well be different«. (S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 498). 215 A. Haverkamp: »Kryptische Subjektivität«, S. 382; ders.: Laub voll Trauer, S. 70. 230

E N D E N , ...

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S P I E L , ...

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ERNST

Der ›letzte‹ allegorische Umschwung der Allegorien, der diese leer ausgehen lässt, ist (noch) nicht das Ende des Trauerspielbuchs, dieses kommt vielmehr endend nicht so recht zum Ende, sondern wiederholt die Gesten und schiebt den Abschluss auf.1 Es handelt sich um Bewegungen im Dreieck der Begriffe Trauer (oder Melancholie) – Spiel – Ernst, in dem kein Moment mit dem anderen kohärent ist oder in diesem seine Einlösung fände; Benjamins Abhandlung wird sich auf keine der Seiten schlagen wollen – oder doch nicht schlagen dürfen. Der allegorische Sturz, in dem das Allegorische eine eigentümliche ›letzte‹ Wendung in eine andere Allegorie, die Allegorie der Auferstehung nehme (405), so dass dessen »Subjektivität« im Angesicht des Himmels als solche eingestanden und eingeholt werde (406), erfährt eine Wiederholung in jenem architektural ›gedolmetschten‹ »Wunder«, das Benjamin im ausführlichen Zitat einer Architektur-Ekphrasis von Borinski übernimmt: »Subjektivität, die wie ein Engel in die Tiefe stürzt«, Postfiguration des als typos der Subjektivität ausgeprägten Lucifer, werde »von Allegorien eingeholt und [...] am Himmel […] in Gott […] festgehalten«, heißt es da (408) und zwar, wie Borinski formuliert und Benjamin zitiert, »durch ›Ponderación misteriosa‹« (408).2 Anders aber als Benjamins Zwischenhändler Borinski zu fassen vermochte, ist der ›Eingriff Gottes ins Kunstwerk‹ als ponderación misteriosa Teil jener Anordnung, die er vermeintlich von oben halte. Denn die ponderación misteriosa ist als dunkle oder rätselhafte Er-Wägung oder über-

1 2

»Benjamin’s end is ›overtaken‹ […] by an allegory that comes to no end but only endings«. (S. Weber, »Genealogy of Modernity«, S. 500) Das Borinski-Zitat wird »›Ponderacion mysteriosa‹« wiedergegeben (I, 408); es handelt sich um verschiedene Korrekturen von EA »›Ponderazion mysteriosa‹« (in beiden Fällen, Antiqua neben der deutschen Fraktur; 1928, S. 235 u. f.), zit. ist Karl Borinski: Die Antike in Poetik und Kunsttheorie. Von Ausgang des Klassischen Altertums bis auf Goethe und Wilhelm von Humboldt, Leipzig 1914, Bd. 1, S. 193. 231

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treibende Gewichtung eine der die poetische Wahrscheinlichkeit überbietenden ingeniösen Figuren, die Baltasar Graciáns concettistische Rhetorik Agudeza y arte de ingenio exponiert:3 mit so unwahrscheinlichen wie desto glanzvolleren Effekten.4 Dieses effektive Spiel des ingeniums oder der agudeza wäre ein schlagender Fall von nicht nur »eingestandene[r]«, sondern »zur Schau getragene[r]« »Subjektivität«, die (wie, Benjamin zufolge, die »glühende Ekstase« der Theresa de Avila, »säkularisiert zum Nüchternen«, zeige) »zum förmlichen Garanten des Wunders« wurde (408). Es handelt sich, anders als Borinskis Ekphrasis der architekturalen Anordnung zu verstehen gibt, um eine artifiziöse Setzung, die, so überspannt ihr Effekt: wie ein Wunder, auch sei, Teil des concettistischen Spiels ist und als solches exponiert wird.5 »Wunder« heißt, dass der Effekt 3

4

5

Baltasar Gracián: »De la agudeza por ponderación misteriosa«, Agudeza y arte de ingenio (1642/48), in: ders., Obras Completas. Vol. II, hg. von M. Arroyo Stephens, Madrid 1993, S. 352-362. Ponderación misteriosa ist eines der durch die Operation bestimmten concettos, dessen Name kaum zu übersetzen ist (vgl. M. J. Woods: »On Pondering la ponderación in Gracián’s Treatise on Wit«, in: The Modern Language Review, Vol. 88 (1993), S. 639-643): ponderación ist bei Gracián stets »a kind of heightened expression, be it in invective, paradox, exaggeration, or sententiousness«, auch im Sinne von encarecer, die superlativische Rede von etwas (so die Wörterbücher des castellaño seit 1611) (Ebd. S. 642f.); ponderación misteriosa, kunstfertig-pointierende Errichtung eines Rätsels oder einer Dunkelheit: »a levantar misterio«, ermöglicht agudeza, die auf subtile Weise durch schwierige Koinzidenz eine ›Begründung‹ (»razón«) findet (Gracián, S. 352). Der Scharfsinn oder »agudeza por ponderación misteriosa« präpariert eine rätselhafte Stelle oder Lacuna des Sinns: »ante un enigmático ›reparo‹ o laguna de sentido, el ingenio se ve obligado a ›ponderar‹ o reflexionar, hasta que lo ›desempeña‹ o explica como una connexion inesperada entre el sujeto del discurso y alguno des sus correlates«, schlägt Muñoz Millanes vor (»La Presencia de Baltasar Gracián en Walter Benjamin«, S. 290f.), genauer aber wird sie durch die übertreibende Redeform, die eine unerwartete Verbindung herzustellen vermag, ›erklärt‹ oder wörtlich (wieder-)herstellt; ponderaciónes misteriosas suchen zu ›verschwierigen‹ (dificultar) und artifiziös-pointierende ›Ausgänge‹ zu geben (»da salida con mucho artificio«) (Agudeza y arte de ingenio, S. 393f.). »Cuanto más extravagante la contingencia, da más realce [Lichter, Glanz] a la ponderación« (Ebd., S. 356; vgl. S. 359; vgl. E. Knörer: Entfernte Ähnlichkeiten, S. 73f.) K. Borinski, Autor auch von Baltasar Gracián und die Hofliteratur in Deutschland (1894), fehlüberträgt Graciáns »artificio del orden del ingenio«, weil er in den Bruch der Wahrscheinlichkeit, Simulakrum der ausgesetzten Schwerkraft und des »impulso ascensional de los cuerpos«, die »intervención milagrosa de fuerzas sobrenaturales« verlegt, während die ingeniöse Kunst ein ›Rätsel‹ zum Verwundern, als Bruch der »verosimilitud artística« kunstfertig organisiert, um im artifiziösen Operieren agudeza oder ingenio vorzuführen (vgl. J. Muñoz Millanes: »La Presencia de Baltasar Gracián en 232

ENDEN

nachträglich einen Eingriff ›von außen‹ vorausgesetzt, d.h. ihn als metaleptisch erzeugten fingiert haben wird.6 Die im ausführlichen Zitat von Borinskis architekturaler Übertragung vorgestellte Anordnung, die mit »Stützschwierigkeiten von unten das Wunder von oben eindringlich mach[e]« (408),7 ist gleichsam Allegorie der allegorischen Faktur der ›barocken Werke‹, die allerdings nicht mit ingeniösem »Ausgang« (Gracián), sondern nur mit ›unregierter‹ »Häufung« von »Stereotypien«, bruchstück-beschwert, auf ein »Wunder« als deren »errechenbare[s] Resultat« (354) setzen, als einen Effekt von jenseits dessen, was sie selbst aufzubieten vermögen. Ich erinnere daran, dass Benjamin den Barock dadurch charakterisiert, dass er den »hierarchische[n] Zug des Mittelalters« »in einer Welt […], der der unmittelbare Weg ins Jenseits verstellt war«, zu realisieren suche (258); das macht seine Exaltationen des Diesseitigen wie die Exzentrik seiner Gesten aus (259). Wenn die barocke architektonische Anordnung, Borinskis Darstellung zufolge, das »›Eingreifen Gottes [von oben] ins Kunstwerk‹« »›als möglich‹« vorstelle (zit. 408), so wird »›der Eindruck übernatürlicher Kräfte [...] im mächtig sich Ausladenden und wie von selbst Gestützten‹« doch gerade durchs »›von selbst Gestützte[] [...] erweckt‹« (Hvhg. BM); ein »›schwebende[s] Wunder von oben‹« wäre allein als trompe l’oeuil gegeben, das scheinarchitektonisch akzentuiert und plastisch ›gedolmetscht‹, sowie durch »›[S]chwierigkeiten von unten‹« »›eindringlich‹« gemacht wird (zit. 408).

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7

Walter Benjamin«, S. 289ff.). Auch das thaumastón des Aristoteles (Poetik 1460a), das Borinski als den »künstlerische[n] Ausdruck des Wunders (der biblischen semeia)« führt, »der seit der Gegenreformation [...] Architektur und Plastik ›beherrscht‹« (I, 408), macht als meraviglia, admiratio eine concettistische Karriere. Das wirft ein Licht auch auf die (Ausnahme der) Entscheidung, die C. Schmitt als Analogon des Wunders genommen wissen wollte (Politische Theologie, S. 37). »›Es ist der Eindruck übernatürlicher Kräfte, der im mächtig sich Ausladenden und wie von selbst Gestützten gerade in den Regionen der Höhe erweckt werden soll, gedolmetscht und akzentuiert durch die gefährlich schwebenden Engel der plastischen Dekoration … Diesen Eindruck nur noch zu verstärken, wird auf der anderen Seite – in den unteren Regionen – die Wirklichkeit dieser Gesetze wieder übertrieben in Erinnerung gehalten. Was denn anderes wollen die durchgehenden Hinweise auf die Gewalt der tragenden und lastenden Kräfte, die ungeheuren Sockel, die doppelt und dreifach begleiteten vorgeschobenen Säulen und Pilaster, die Verstärkungen und Sicherungen ihres Zusammenhalts, um einen – Balkon zu tragen, was besagen sie, als durch Stützschwierigkeiten von unten das schwebende Wunder von oben eindringlich zu machen‹« (I, 408). 233

TRAUERSPIEL-BUCH

Das Modell greift Benjamin nicht nur in der Formel der »durch ›Ponderación misteriosa‹« (wie immer diese hier missverstanden sei) »in Gott« festgehaltenen (hinabstürzenden) »Subjektivität« auf, sondern er gibt mit dessen Auffassung als »die verklärte Apotheose, wie Calderon sie kennen lehrt« (408),8 dem deutschen Trauerspiel das uneingeholte Vorbild vor, das dieses, »mit dem banalen Fundus des Theaters, den Reyen, Zwischenspiel und stille Vorstellung entfaltet, nicht aufzustellen« vermochte (408).9 Allerdings wurden Apotheosen, und zwar gerade auch im Benjaminschen Sinne, dass »in dem Bilde der Apotheose ein von den Bildern des Verlaufes Artverschiedenes« (409) in Calderóns Schauspielen sich ›erhebe‹, gerade durch Bühnenanordnungen und -techniken ermöglicht,10 es kann von einem geradezu theatertechnischen Begriff gesprochen werden. Wenn sie, die »verklärte Apotheose, wie Calderon sie kennen lehrt, […] zwingend sich aus einer sinnvollen Konstellation des Ganzen, das sie [die Apotheose?] nur mehr, auch minder nachhaltig betont, heraus[bildet]« (408f.), so ist die »Konstellation des Ganzen« entscheidend, die (hier) nicht den Anhalt an einer theologischen ›Ökonomie des Ganzen‹ hat (407).11 Vielmehr wird umge8

Dagegen spricht Borinski zwar davon, es solle »›der Eindruck übernatürlicher Kräfte [...] erweckt werden‹«, aber »›die Gewalt der tragenden und lastenden Kräfte, die ungeheuren Sockel [...]‹« werden ausgestellt »›um einen – Balkon zu tragen‹« (I, 408) – und um etwas anderes zu besagen. Der Balkon ist leer (vgl. N. Zimnik: »Allegorie und Subjektivität in Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels«, S. 297). 9 Allerdings waren die profanen Dramen, um die es sich auch bei Calderón handelt, »[g]ebannt [...] in strenge Immenenz und ohne Ausblick auf das Jenseits der Mysterien, in der Entfaltung ihres gewiß reichen Apparates auf die Darstellung von Geisterscheinungen und Herrscherapotheosen beschränkt.« (I, 259). Umgekehrt bietet Benjamin anstelle des ›Ungenügens‹ »ausgangslose[r] Verzweiflung, die das letzte Wort des säkularisierten christlichen Dramas sein zu müssen scheint«, eine architekturale Allegorie auf: »Denn niemand wird die stoische Moralität, in welche das Martyrium der Helden mündet, oder die Gerechtigkeit, die das Wüten der Tyrannen auf Wahnsinn hinausführt, für hinreichend erachten, die Spannung einer eigenen Dramenwölbung zu begründen. Eine massive Schicht von ornamentaler, wahrhaft barocker Stukkatur verdeckt ihren Schlußstein [!] und einzig die präzise Erfahrung ihrer Bogenspannung errechnet ihn.« (I, 257); es ist die der »durch Säkularisierung der Mysterienspiele« ins Ungemessene gedehnten »Spannung einer heilsgeschichtlichen Frage« (I, 257f.). 10 Vgl. I, 358f., 354, 356, 370f., 393; vgl. oben in IV. Überspannung der Transzendenz. Kirchen- und Bühnenarchitektur verhalten sich zur Grenze von Schein (oder Spiel) und Wirklichkeit und wiederholen sie im Innern des Spiels, vgl. R. Alewyn: »Der Geist des Barocktheaters« (1952), S. 28-36. 11 Allerdings wurde diese erst im Umspringen in Allegorie nachträglich als die immer schon vorausliegende Totalität allegorisch bedeutet (I, 406). 234

ENDEN

kehrt das »Ganze« »nur mehr, auch minder nachhaltig« durch die Apotheose »betont«, die selbst (und sei es überspannte) Figur ist. Möglich ist sie durch die »Entwicklung der Intrige« (409), denn umgekehrt »macht« die »mangelnde Entwicklung der Intrige«, die im »deutschen Trauerspiel« »kaum je die des Spaniers auch von ferne nur erreicht«, dessen »Insuffizienz« (aus) und hier den Unterschied: »Nur die Intrige wäre vermögend gewesen, die Organisation der Szene zu jener allegorischen Totalität zu führen, mit welcher in dem Bilde der Apotheose ein von den Bildern des Verlaufes Artverschiedenes sich erhebt […].« (409)12

Es geht damit um des deutschen Trauerspiels ›Ungenügen im Spiel‹.13 Denn die Intrige, der plot und dessen Choreografie, die Machination, die Täuschung und deren Apparatur ist Spiel des Trauerspiels selbst und verhält sich zu ihm. Mit dem Spielhaften ihrer Regie dramatischer Handlung ist ›im Inneren‹ des Trauerspiels ›nachdrücklich‹ die »Absichtlichkeit« seiner »Fügung« ausgestellt. Sie ist mise en abyme des Spiels, das das Trauer-Spiel ist. Die »Intrige« leistet demnach nicht Integration, sondern die ›Reflexion‹ des Geschehens, das im begrenzten Raum der Bühne als Trauerspiel entfaltet werde, als Spiel, durch die Benjamin die Schauspiele Calderóns auszeichnet – wie er umgekehrt die deutschen barocken Trauerspiele dadurch kennzeichnet, dass sie dieses »Kunstmittel« (noch) nicht ausgeprägt haben (262). »Die stretta des dritten Aktes mit ihrem indirekten spiegel-, kristall- oder marionettenhaften Einschluß der Transzendenz verbürgt dem Calderonschen Drama einen Ausgang, der deutschen Trauerspielen überlegen ist. [...] Wenn dennoch das weltliche Drama an der Grenze der Transzendenz 12 Dies ist als rückwirkender Bezug auf die Subjektivität, die als das Böse »die bloße Spiegelung ihrer selbst in Gott« und derart »restlos einbezogen« sei in die »Ökonomie des Ganzen« (I, 407), zu lesen. Mit der »Intrige« geht es hier um die »Organisation der Szene zu jener allegorischen Totalität« (I, 409 Hvhg. BM), der auch jenes »Bild« angehört, das sich als »ein von den Bildern des Verlaufs Artverschiedenes« erhebe (I, 409). 13 Vgl. S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 475f., 498ff.; Weber liest die Sperrung gegen die Calderónsche Apotheose allerdings als »resistance to being emplotted, or rather, transfigured into a totalizing tale« (ebd. 498; vgl. ders.: Theatricality as Medium, 192); Benjamin spricht aber mit der Intrige von der »Organisation der Szene«; mit deren »Entwicklung« wird die »eingestandene Subjektivität« (des plotting) verhandelt (I, 408); vgl. oben in II. Dramaturgie der Intrige. 235

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innehalten muß, sucht es auf Umwegen, spielhaft, sich ihrer zu vergewissern« (260).

In ›spielerischer Verkleinerung‹ gelinge Calderóns Schauspielen ihre Lösung und deren Einschluss;14 das meint nicht die Darstellung vom ›Leben als (bloßem) Spiel‹ und dessen Einklammerung, die dieses und den Schein, dem es angehört, bereits transgrediere,15 sondern eine ›Lösung‹, die selbst »spielhaft« ist. Dieser »Einschluß der Transzendenz« ist ein »indirekte[r]« »gleichsam spiegel-, kristalloder marionettenhafte[r]«, eine Hinein-Spiegelung oder Einspielung wie als sich überstürzend verdichtende Steigerung zum Schluss. »Transzendenz« komme im – wohlgemerkt – profanen Drama16 (allein) »spielhaft«, hineingespie(ge)lt und spielerisch verkleinert und umrahmt, zu einem »letzten Worte«: »nur weltlich verkleidet« »als Spiel im Spiel«. Gerade die »auf das Unbedingte gerichtete[] Intensität« »betonte« »[o]stentativ« »das Spielmoment im Drama« (261).17 Weisen derart Calderóns Schauspiele dem Trauerspiel oder 14 »Spaniens Drama – das höchste jenes europäischen Theaters [das durch die »Abkehr von der Eschatologie der geistlichen Spiele« gekennzeichnet ist] – in welchem die barocken Züge so viel glänzender, so viel markanter, so viel glücklicher sich im katholisch kultivierten Land entfalten, löst die Konflikte eines gnadenlosen Schöpfungsstandes gewissermaßen spielerisch verkleinert im höfischen Umkreise«, wo das deutsche »die besinnungslose Flucht in eine unbegnadete Natur« antritt (I, 260). 15 So aber K. Garber: Im spanischen Drama wirke »vermöge der Integration des Spielelements [...] ›auf Umwegen‹ Transzendenz ins Drama hinein[]. Leben darf als Spiel begriffen werden, wo es ›vor einer auf das Unbedingte gerichteten Intensität seinen letzten Ernst verloren hat‹ so im Barock, so auf andere Weise in der Romantik« (Rezeption und Rettung, S. 105; mit Zit. von I, 261); eine solche traditionellere Variante der Transgression des Scheins durch das Einbekenntnis des Scheincharakters des Bildes etwa bei P. Hankamer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock (1935/47), S. 289 u. (mit dem Begriff der Ironie) S. 313; H. Cysarz: Deutsches Barock in der Lyrik, S. 101f., mit der Metapher »kostbare Prismen der Transzendenz« S. 102; u.v.a.. 16 Vorausgesetzt ist die »Säkularisierung der Mysterienspiele« (I, 258), die »Abkehr von der Eschatologie der geistlichen Spiele« (I, 260), durch die die »Spannung einer heilsgeschichtlichen Frage« ins Ungemessene gedehnt werde (I, 257f.); vgl. W. Nitsch/B. Teuber (Hg.): Zwischen dem Heiligen und dem Profanen, darin u.a. dies.: Einleitung, S. 9-20. 17 Derart akzentuiert Benjamin (II, 259f.) H. Ulrici um: »Die Transzendenz des Göttlichen aber wird von Calderon wiederum meist ganz äußerlich objektiv abgefasst. Sie zeigt sich [...] in himmlischen, übernatürlichen Offenbarungen und Wundern, ganz wie in der katholischen Kirche selbst.« (Shakespeare’s Dramatische Kunst und sein Verhältnis zu Calderon und Goethe, S. 515; vgl. 513ff., 525). 236

ENDEN

»der Trauer« den anderen »Ausgang« (260, 409), so ist dafür entscheidend: »Doch stets liegt nur in einer paradoxen Reflexion von Spiel und Schein für das eben damit ›romantische‹ Theater der profanen Gesellschaft die heilende und lösende Instanz. Jene Absichtlichkeit […] zerstreut im idealen romantischen Trauerspiel des Calderon die Trauer. Denn in der Machination hat die neue Bühne den Gott.« (261)

Hat die »neue Bühne« einen Gott, so nicht nur als deus ex machina durch Machination, sondern in ihr, als Täuschung und technische Vorrichtung des Theaters, die zeigt und zeigt, dass gezeigt wird;18 sie ist im berechnend-täuschenden Spiel der Intrige im dramatischen Geschehen umrahmt wiederholt und verweist dieses, theatral gerahmt, an jene anderen Orte, die und deren Vorrichtungen alle Sichtbarkeit auf der Szene erst ermöglichen. Die »neue Bühne« hat keinen Ober-plotter, jeder ist vielmehr Teil der theatralen Spielanlage selbst, wird von ihr in Szene gesetzt und ist auf diese, als sie teilende Nichtsichtbarkeit verwiesen. Jedes »Bild der Apotheose«, das der Trauer einen Ausgang weise, wird durch die »Organisation der Szene« aufgestellt und hat, auch wenn es als »ein von den Bildern des Verlaufs Artverschiedenes sich erheb[e]« (409), als gestelltes Bild am theatralen »Schein und Spiel« teil.19 Daher muss es sich, um nicht trügerisch fehl zu 18 Dem entsprechen »Geisterscheinungen«, auf deren (und der »Herrscherapotheosen«) »Darstellung« die profanen Dramen (»[g]ebannt [...] in strenge Immenenz«) »in der Entfaltung ihres gewiß reichen Apparates« »beschränkt« blieben« (I, 259). Sie exponieren die bühnentechnischen Möglichkeiten, die Illusionsmaschine – sind selbstreferentielles Element des Schauspiels, und zwar in auch expliziter Analogie (Gryphius’) zum deus ex machina (N. Binzek: »Bannung des Geistes. Gespenstische Erscheinungen in ›Cardenio und Celinde‹«, S. 69-75, 82f, 89). Sie unterstellen, Benjamin zufolge, vor allem das Geschehen einer anderen uneigentlichen Zeitlichkeit und sie stellen den uneigentlichen Raum der Bühne vor (W. Benjamin, S. Weber, J. Derrida); vgl. oben in I.. 19 So ist das Wunder in der Höhe architekturaler Konstruktion Trug-Gemälde. »Die Andacht zum Kreuze« (La devoción de la Cruz) endet nicht nur damit, dass Julia, die ihre Schuld im Kloster zu büßen gelobend das Kreuz umarmt, mit diesem »in die Höhe« »fliegt« (in der Übers. 1803 von A.W. Schlegel, Spanisches Theater II, S. 121): »Großes Wunder!« (»¡Gran milagro!«), sondern endet mit dem Kommentar des eben noch Rache drohenden Vaters: »Und mit solches/ Hohen Staunens Aufgebot,/ Schließt die Andacht zu dem Kreuz/ Glücklich hier der Dichter so.« (S. 122) (»Y con el fin/ de tan grande admiración,/ la devoción de la Cruz/ da felice fin su autor« (Tercer Jornada, 237

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leiten, zu sich selbst als zu »Schein und Spiel« in Beziehung setzen.20 Das Trauerspiel exponiert mit der Machination (wie in zuweilen grellen Szenen, die der Intrige als mise en abyme des plotting gewidmet sind) die »Absichtlichkeit« »in der Fügung« des Trauerspiels als Bühnengeschehen. Es legt den ›Nachdruck‹ auf die »Absichtlichkeit«, die Benjamin im Namen Goethes als »Schein« jeden »Kunstwerk[s]« aufruft,21 auf die »einbekannte Subjektivität« noch der kunstvollen »Konstruktion des Ganzen« in den Schauspielen Calderóns, die ein solches »Bild der Apotheose« aufführt (408f.); diese kunstvolle »Konstruktion« ist als »Spiel im Spiel« reflektiert. Der »indirekte[] gleichsam spiegel-, kristall- oder marionettenhafte[] Einschluß der Transzendenz« (260) vollzieht sich als spielerische Verkleinerung durch Reflexion – wiederholt, umrahmt – im Spiel, und er bedarf der »Reflexion von Schein und Spiel«,22 V. 803-06). Wenn in Calderóns »Leben ein Traum« »der Traum als Himmel waches Leben überwölbt« (I, 260), handelt es sich um »Spiel und Schein« im Spiel. 20 Umgekehrt führen Calderóns autos sacramentales das theatrale Moment der Schaustellung, die nach dem Tridentinischen Konzil für den Corpus Christi in der Hostie etwa bei Fronleichnamsprozessionen möglich geworden war, durch dessen realisierende Verdoppelung im Medium des Theaters vor. Die Komplexität der autos sacramentales als Interaktion der Zeichenordnungen des Sakraments und deren Inszenierung in der De-Monstration der Fronleichnamsprozession im Medium des Theaters zeichnet sich in der selbstreflexiven Durchführung der Theatermetapher im auto sacramentál »El gran teatro del mundo« ab (vgl. A. Hillach: »Sakramentale Emblematik bei Calderón«; S. Neumeister: »Die Verbindung von Allegorie und Geschichte im spanischen Fronleichnamsspiel des 17. Jahrhunderts«). Die autos sacramentales verhalten sich, diesseits ihrer, zur Grenze zwischen Literatur und Liturgie (G. Poppenberg: »Pro fano. Zu El pintor de su deshonra von Calderón (comedia und auto)«, S. 414). 21 Vgl. I, 261f.; »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 260. Benjamins sieht »Schillers Kunstverstand« darin sich erweisen, wie er den »Momenten des Wunders oder Sternenhimmels in echt Calderonschem Sinne Eingang gewährte« (I, 303), d.i. nicht dramatisch integriert, sondern selbstexpositiv theatral (vgl. oben in I.). 22 Dafür genügt Cysarz’ Erläuterung nicht: »Das Bild vermag nur dadurch Seinswert zu erzeugen, daß es sich für Schein erklärt.« Auch wenn die modellierenden Metaphern sich gleichen: »Keinerlei Kunst darf ihre Bilder für leibhaftige Wirklichkeit ausgeben. [...] [E]ben die ontologische Enthaltsamkeit der Dichtung fügt die Bildlichkeit, in einer begrifflich nicht nachzuahmenden Selbstübergreifung der größten Wirklichkeit ein«: »Indem sie dieses Größere durch Spiegelungen, Brechungen und eigentümlich bejahende Selbstverneinungen gültig heraufbeschwört [...]. Notwendig aber heischt die Selbstüberschreitung der dichterischen Form die Preisgabe gegenständlichen Anspruchs.« (H. Cysarz: Deutsches Barock in der Lyrik, S. 127). Die Refle238

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die Benjamin zufolge selbst »Kunstmittel« ist, kraft dessen »Entfaltung« »das romantische Drama von Calderon bis Tieck immer von neuem zu umrahmen und zu verkleinern verstand« (262).23 Das macht die romantische »Reflexion von Schein und Spiel« paradox. Spielhaft verkleinert die Reflexion das ›Ganze‹, spielt es ins (begrenzte) Innere des Spiels – verkleinert wiederholt, umrahmt – ein, und zwar »immer von neuem«. Im ›begrenzten‹ Raum des »Schicksalsdramas« wird durch »Reflexion« des auf dem begrenzten Schau-Platz des Spiels entfalteten Trauerspiels (261) das Spiel und dessen Um-Rahmung verkleinert-wiederholt eingetragen. Das ist die mise en abyme des Spiels, das das Trauerspiel ist (an dem noch jedes »Bild der Apotheose« im Schau-Spiel teilhat); sie ist unabschließbar. Daher führt sie in »die geschloßne Endlichkeit eines profanen Schicksalsraums«, den durch seine Grenze konstituierten Bühnenraum (261), die »reflexive Unendlichkeit des Denkens« (262) ein.24 Wenn Benjamin zufolge nur »in einer paradoxen Reflexion von Spiel und Schein« die »heilende und lösende Instanz« des profanen Theaters (261) gegeben war, so ist diese doch keine »Instanz«, sondern die wiederholte und sich wiederholende Ein-Faltung des theatralen Spiels in sich/auf sich selbst. Das Ausgangs-lose Trauerspiel (vgl. 257) fände in seiner Reflexion als Spiel einen anderen ›Ausgang‹ und entkommt doch gerade durch diese nicht dem Spiel, das vielmehr durch dieses »Kunstmittel« sich in sich selbst xion des Scheins hat – folgen wir Benjamin – kein Ende. Das barocke Theater setze die Grenze zwischen Schein und Wirklichkeit als »Abgrund, der die sinnliche von der übersinnlichen Welt trennt«, wiederholt diese aber bis zum Schwindel der Unterscheidung (R. Alewyn: »Der Geist des Barocktheaters«, S. 30f., S. 28-36); vgl. I, 237. 23 Dies »Kunstmittel« habe dem deutschen Drama des 17. Jahrhunderts gefehlt (I, 262f.). 24 Das sind die »beiden Seiten der Reflexion: die spielhafte Reduzierung des Wirklichen wie die Einführung einer reflexiven Unendlichkeit des Denkens in die geschloßne Endlichkeit eines profanen Schicksalsraums« (I, 262; vgl. zu Calderóns »El mayor monstruo, los celos«, II, 260-270). »[D]ie Unendlichkeit war gesichert durch bloße Reflexion«; so erfüllte Calderón, was die Romantiker »in ihrem eignen Schaffen erstrebten« (»›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 268). Vergleichbar sagt Benjamin über Shakespeare: »Eine der größten Entdeckungen der Renaissance im Geistesleben war die Entdeckung des Unendlichen[,] [...] in der Poesie erobert sie Shakespeare. [...] [N]icht jede Unendlichkeit ist romantisch. Die Shakespeares aber ist es: es ist die im engeren Sinne poetische. Sie ist in ihrer reinsten Erscheinung in seinen Komödien enthalten. Die Unendlichkeit der Romantik hat keinen Träger, die Romantiker kennen nichts Unendliches, sondern nur das Unendliche selbst« (II, 610). 239

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doppelte, auf sich selbst faltete. Durchs »Kunstmittel« der »Reflexion« potenziert sich das Spiel. Unabschließbar sich wiederholend, »verkleinernd« sich auf sich selbst abbildend, sich in sich selbst auf sich selbst faltend, zeichnet die Reflexion des Schau-Spiels und seiner theatralen Rahmung die barocke Figur der Volute als die des unabschließbaren mise en abyme des Spiels; sie taugt als Figur der »reflexiven Unendlichkeit des Denkens« (262), weil ihr errechenbares Resultat stets wiederholend aufgeschoben leer wäre. Wenn also einerseits die »Fügung« des Schicksalsdramas als Spiel im ›umgrenzten Raum‹ der Bühne entfaltet wird, so wird andererseits zugleich nachdrücklich die »Absichtlichkeit« der »Fügung«, die sich in diesem (negativ konstitutiven) Rahmen als »Schicksalszusammenhang« entfalte,25 vorgestellt. Die Schauspiele Calderóns sind es, die Benjamin zufolge mit der »Geltung des Worts« Trauer=Spiel »die des Gegenstandes« ausweisen, da an ihnen »die Genauigkeit, mit der ›Trauer‹ und ›Spiel‹ aufeinander sich stimmen können«, absehbar wird (260).26 Denn das Theaterhafte der Trauer selbst erfährt im Spiel seine Einlösung und Reflexion, die verkleinerte Wiederholung und Ausspielung. Aber die »Absichtlichkeit« »zerstreut« auch, so Benjamin, »die Trauer« »im idealen romantischen Trauerspiel des Calderon«, in dem die Trauer in ihrem Gegenstand auf sich selbst als theatrales Spiel trifft.27 Dass die Trauer »zerstreut« werde, heißt auch: zerteilt, ausgestreut multipliziert, verstreut vielfach verteilt. Das »dramatische Schicksal« ist als vermeintlicher Naturablauf aufgelöst, wenn es durch die »Reflexion von Schein und Spiel« in der »Fügung« des Schicksalsdramas oder Trauerspiels als dessen »Absichtlichkeit« kenntlich wird. Sowenig wie daher der »Schein« in sich gleichsam natural geschlossen ist, sowenig entkommt das Trauerspiel aber durch die »paradoxe Reflexion von Spiel und Schein« (261) dem »Spiel«, das es ist. In jeder umrahmten Wiederholung seiner theatralen Rahmung in sich selbst ist dieses durch einen Bezug anderswohin, den es gerade nicht einschließt, in sich selbst geteilt, von einer Spaltung durchzogen, die

25 Der »Schicksalszusammenhang« wird gerade in seinen Zufällen kenntlich, denen die Requisiten Raum geben; zu Calderóns »El mayor monstruo, los celos« vgl. II, 263f.. 26 Vgl. »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 260, 264. 27 II, 260; I, 261; vgl. B. Menke: »Reflexion des Trauer-Spiels«, S. 269-277. 240

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das Trauer-Spiel (stets wieder) von sich selbst scheidet.28 Die mise en abyme ist, als unendliche Spiegelung in oder Faltung auf sich selbst unabschließbar; je wieder in sich selbst wieder-eintretend verhindert sie die Ein- und Ab-Schließung mit sich selbst. Wird das Trauerspiel eine »sinnvolle[] Konstellation des Ganzen« (408f.) demnach erst im ›spielhaften‹ Bezug auf sich selbst als Spiel entfaltet haben, durch das »Kunstmittel« seiner Reflexion als der mise en abyme der theatralen (Spiel-)Anordnung, die im Spiel den anderen »Einsatz« und derart der Trauer zugleich einen anderen »Ausgang« gewiesen hätte (409), so bestimmt Benjamin demgegenüber das deutsche Trauerspiel durch »Insuffizienz« (409). Das deutsche Trauerspiel sperrt sich der ›romantischen‹ ›unendlichen‹ »Reflexion« des Spiels (als Spiel im Spiel) im ›tödlichen Ernst‹ (368), der ihm eignet. Sein »Ungenügen« im Spiel wie das an diesem lasse, so Benjamin, das deutsche Trauerspiel »besinnungslos[]«, verfehlt und verfehlend, an die »unbegnadete Natur« verfallen (260).29 Es verrate »dank der Vergaffung in den Ernst« das Allegorische, dem das »Bürgerrecht in dem profanen Drama« »allein die Komik« leihe (368), an die Schwere, an die »Aufdringlichkeit seiner allegorischen Prachtentfaltung«: Wo das Allegorische »jedoch im Ernst den Einzug hält, da ist es unversehens der tödliche« (368).30 Umgekehrt aber macht Benjamin gerade in des deutschen Trauerspiels Ungenügen in der spielerischen Entfaltung, in der Sperrung gegen seine Reflexion als Spiel (die doch je wieder im Spiel, in der Volute der Reflexionen, damit in der Differenz zu sich selbst, nichtendete) dessen Vor-Rang aus.31 Sein Rang begründet sich demnach in des Trauerspiels »Vergaffung in den Ernst« (368), der »Beklemmung«, ›in der es erwuchs‹ (259), der »spielerischen Exzentrizität«, die dem deutschen Trauerspiel »verbleibt« (303) (während ihr »spa28 Das möchte ich einerseits in einer Wendung auf die ersten im Trauerspielbuch zu lesenden Sätze auch der als Motto dem ganzen Buch vorangestellten Formulierung Goethes entgegenhalten: »Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innere, dieser das Äußere fehlt«; denn Benjamin folgt keineswegs dem Postulat Goethes, dass »wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken« müssen (I, 207; EA, S. 11). Andererseits ist damit zugleich eine Figuration der (romantischen) Reflexion angegeben, die diese nicht mehr romantisch im Namen der Unendlichkeit fasst (vgl. weiter im Folgenden). 29 Was dem Trauerspiel statt dessen bleibt, führt der Aufbau der dem Spielmoment gewidmeten Seiten des Trauerspielbuchs vor (I, 260-263). 30 Vgl. P. Hankamer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock (1935/47), S. 298f., 280f. 31 Vgl. I, 409 und S. Weber: »The Incontinent Plot«, S. 242f. 241

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nisch« »subtile Reflexion« abgewonnen wurde), den ›Verschrobenheiten‹ wie ›Intensitäten‹ der barocken Formen.32 »[Denn, so der Vorbehalt Benjamins,] gerade diese beispiellose spanische Vollendung, die, so hoch sie künstlerisch steht, rechnerisch immer noch um eine Stufe höher zu stehen scheint, läßt die Statur des Barockdramas, die aus der Einfriedung der reinen Dichtung sich erhebt, vielleicht in mancher Hinsicht weniger klar hervortreten als das deutsche Drama, in welchem eine Grenznatur viel weniger in dem Primate des Artistischen verhüllt als in demjenigen des Moralischen verraten wird.« (263)

Im »Primat« »des Moralischen« (vor dem Artistischen) werde also eine »Grenznatur« im deutschen Trauerspiel ›verraten‹, offengelegt statt »verhüllt« (oder auch an diesen »Primat« verraten);33 derart sperrt dieses sich der (künstlerischen) Vollendung. »Der Moralismus des Luthertums [habe] [...] niemals die entschiedene Konfrontation der menschlich-irdischen Verlegenheit mit fürstlich-hierarchischer Potenz, auf der die Auflösung so vieler Calderonscher Dramen ruht, erlaubt. Der Schluß der deutschen Trauerspiel ist daher wie minder formvoll so auch weniger dogmatisch, er ist – moralisch, sicherlich nicht künstlerisch – verantwortlicher als der spanische.« (263)

»[M]oralisch verantwortlicher« wäre das deutsche Trauerspiel einerseits, insofern es an die »menschlich-irdische Verlegenheit« sich hält, ohne in deren »Konfrontation« »mit fürstlich-hierarchischer Potenz« eine Lösung zu finden (263), andererseits nur insofern es diese »Verlegenheit« keineswegs im Individuum als dem ethischen Subjekt eingefasst vorstellt.34 Durch die künstlerische Nicht-Vollen32 Die profanen Dramen, keineswegs nur der Protestanten (I, 257ff.), blieben, »[g]ebannt [...] in strenge Immenenz und ohne Ausblick auf das Jenseits der Mysterien, in der Entfaltung ihres gewiß reichen Apparates auf die Darstellung von Geisterscheinungen und Herrscherapotheosen beschränkt. In dieser Beklemmung erwuchs das deutsche Barockdrama. Was Wunder, daß es in verschrobener, darum jedoch nur intensiverer Form geschah« (I, 259; vgl. in »Vorrede« I, 227ff.). 33 Benjamins eigenwillige Formulierung lässt zugleich den Verrat der »Grenznatur« an diesen »Primat« lesen, vor allem wenn dabei an den »Moralismus des Luthertums« zu denken ist (I, 263). 34 Das Luthertum war »immer bestrebt, wie so nachdrücklich seine Berufsethik es bekundet, die Transzendenz des Glaubenslebens an die Immanenz des täglichen zu binden« (I, 263), und so sehr dabei beider Spannung merklich wurde (I, 317f.), sowenig konnte für diese Bindung die dem alltäglichen Le242

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dung des deutschen Trauerspiels, durch seine »werdende Formensprache«, seine allegorische Faktur, artikuliert es die »theologische Situation der Epoche« (259). Benjamins Vorbehalt akzentuiert allerdings nicht nur den ›Ernst‹, in den das deutsche barocke Trauerspiel ›vergafft‹ war, und in dem dieses moralisch sich behaupte. Vielmehr prägt er mit des deutschen Trauerspiels ›Ungenügen im Spiel‹35 auch ein Benjamin’sches Misstrauen gegenüber der ›spielerischen Vollendung‹ durch Reflexion aus, die er als »romantische« kennzeichnet (262). Dem deutschen barocken Trauerspiel kommt, nach Benjamin, sein ›Rang‹ als nicht sich vollendend mit sich selbst zusammenschließende, ihrer Vollendung vielmehr widerstrebende Form zu. Weist des Trauerspiels »vollendete Kunstform« durch die erfüllte Wörtlichkeit von Trauer-Spiel bei Calderón sich aus (260), so zeigt die des deutschen Trauerspiels sich als allegorisch »in sich ungeschlossen« oder stets noch »werdende« Form (259), derart dass »die Idee seiner [des Trauerspiels] Auflösung nicht mehr innerhalb des dramatischen Bezirks« liege (390). Vielmehr löse »die allegorische Grenzform des Trauerspiels einzig vom höheren Bereiche aus, dem theologischen, sich« – und zwar »kritisch« (390).36 Dass »die Statur des Barockdramas [...] aus der Einfriedung der reinen Dichtung sich« erhebe (263), das bekennt das deutsche Trauerspiel durch seine traurige Nicht-Vollendung, seinem allegorischen Konzept zufolge durch die Trümmer, an die es im Ernst sich hält (409). Seine ben entgegengesetzte »fürstlich-hierarchische Potenz« in Anschlag gebracht werden. Benjamin entfalte »an allegorical dialectic [of ›baroque apotheosis‹] in specific contrast to a bourgeois-humanistic dialectic where the ethical subject collapses into the individual« (R. Nägele: »Body politics«, S. 157); die »Bedeutung des Protestantismus für das deutsche Trauerspiel« bestimmt Benjamin durch »dessen extremen Charakter« (I, 916). 35 »Spiel [rolle] in ihnen nicht mit dem Glanze des spanischen noch mit der Durchtriebenheit der späteren romantischen Produktionen ab« (I, 261). 36 – »während innerhalb einer rein ästhetischen Betrachtung Paradoxie das letzte Wort behalten muß« (I, 390). P. Hankamer gibt die »Paradoxie« in diesem Sinne an, die »von Anfang an in der Kunst der Gegenreformation und des Barock lag; der ästhetisch=spirituelle Lebenswille bedient sich [...] aller sinnlichen Reizmittel und verbraucht sie im ästhetischen Spiel, indem die kolossale Häufung und variierende Allegorik die Dinge entwirklicht. So wird ihre leere Scheinhaftigkeit dem Geiste sichtbar. Was an Reizen der Sinne da pomphaft und glänzend, zierlich und verführerisch aufgaukelt, ist Maskenspiel des Lebens vor dem Sein und wird immer und immer wieder kontrastiert mit dem Jenseits. Die abgefeimt-virtuose Form war und blieb nur Mittel«, aber »Rauschmittel« (Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock (1935/47), S. 289). 243

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»Auflösung«, die keine »theologische« Einlösung, die »nicht statisch im Sinne der garantierten Heilsökonomik zu vollziehen ist« (390), bezieht das Trauerspiel auf ein Anderswo (jenseits des Dramatischen). Diese ausstehende »Auflösung« wird Benjamin auch dadurch kenntlich, wie »deutlich« das barocke Trauerspiel nicht nur »auf Sturm und Drang, auf Romantik« verweise, sondern wie »dringend, wenn auch vergeblich, von neuesten dramatischen Versuchen [es] die Rettung seines besten Teiles sich erhoffe[]« (390).37 Als einen so weiten wie zeitlich paradoxen Vorgriff liest Benjamin ihm einen Bezug auf neueste Formen des Theaters ab, auf andere Mitglieder jener eigenen ›Sippe‹ der Theaterformen, zu der das Trauerspiel gehört, die wie das Brechtsche Theater den »undramatischen Helden« suchen,38 das »vom Begriff der Bühne her« besser zu denken ist »als vom Begriff eines neuen Dramas«, das »Bewusstsein, Theater zu sein,« theatral ausprägt39 und etwas zeigend zugleich das Zeigen zeigt. Mag dies an »die alte Tiecksche Dramaturgie der Reflexion« erinnern, so wäre das »irrig«,40 denn dieses Theater hat als »gestisches« einen »anderen distanzierenden Modus der Darstellung«: Die Geste, die sich als Unterbrechung von Abläufen gegenüber jedem etwas, das sie trage, behauptet, macht unterbrechendstauend »Situationen« »zitierbar«, sie absondernd, episodisch umrahmend und gegeneinander absetzend;41 darin erführe das Trau37 Diese Wendung findet sich im letzten Reyen von Gryphius Cardenio und Celinde: »Aber unser bestes Theil/ Weiß nichts von verwesen;/ Es bleibt in den Schmertzen/ Heil,/ Sterben heist’s genesen« (in ders.: Dramen, S. 291f.). Wenn der Tod derart »Erlösungsschwelle« sei, so als »gespenstische Verschränkung von Leben und Tod« (N. Binzek: »Bannung des Geistes. Gespenstische Erscheinungen in ›Cardenio und Celinde‹«, S. 101) oder mit Benjamin: im Tod werde der »Geist [...] auf Geisterweise frei« (I, 391). 38 »Über das epische Theater« (I u. II), II, 523f., 533f., 534. 39 »Über das epische Theater«, II, 539. 40 »Über das epische Theater«, II, 529 u. 538. Die »romantische Ironie«, wie Tieck sie in der Komödie handhabe, bekunde »gerade nur die philosophische Informiertheit des Autors«: »Die Welt mag am Ende wohl auch Theater sein« (II, 538). 41 »Über das epische Theater«, II, 537-39. Gesten zitierbar machen, heißt sie »sperren« lernen – wie die Setzer (II, 536; vgl. I, 361), und zwar durchs »Staunen«, das eine »Stauung im realen Lebensfluß« erzeugt (II, 531; vgl. II, 535, I, 376). Schauspieler zeigen eine Sache und sich selbst: die (als zitierbare erkennbaren) Gebärden sperren »das Verhältnis der aufgeführten Handlung zu derjenigen, die im Aufführen überhaupt gegeben ist« (II, 538f u. II, 529); »die Songs, die Beschriftung, die gestischen Konzentrationen heben die Situationen gegeneinander ab« (II, 537f.; vgl. I, 373); mit dem »episodischen Charakter der Umrahmung«, der erzeugten »strenge[n] rahmenhafte[n] Geschlossenheit jedes Elementes einer Haltung« (II, 521ff., Hvg. 244

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erspiel die »Rettung seines besten Teils« (oder in Teilen), die es erhoffen mag, allerdings ohne dass diese »neuesten [...] Versuche« auf dem Theater irgend im Interesse einer solchen »Rettung« des Trauerspiels angestellt worden wären. Wie aber könnte danach der »gewaltige Entwurf dieser Form [des Trauerspiels] […] zu Ende« gedacht werden (409)? – wenn zwar »von der Idee des deutschen Trauerspiels […] einzig unter dieser Bedingung« zu handeln sei (409)? dies Postulat und diese Aufgabenstellung aber nur wenige Zeilen, bevor das Trauerspielbuch im Realen der Buch-Seiten endet, zu lesen ist? und die Form, deren »Idee« zu denken sei, gerade als ihrer Vollendung widerstrebende Form ausgezeichnet wurde? Das ›Zu-Ende-Denken‹ ist verlegt in die Nicht-Vollendung der »Form des Trauerspiels«, deren allegorischer Verfasstheit ihre Darstellung, in der das Denken dieser Form ihren Ort hat, sich die Vorlage nimmt. Benjamins Abhandlung endet mit den Trümmern und Bruchstücken, als die, so halten die letzten Zeilen des Trauerspielbuchs nochmals fest, die Trauerspiele »im Geiste der Allegorie« »von Anfang an« »konzipiert« waren (409), an denen die Darstellung ihrer Form die Allegorien ihrer allegorischen Nicht-Vollendung (und damit ihr Ende) hat. An den Trümmern trete die »Statur des Barockdramas, die aus der Einfriedung der reinen Dichtung sich erhebt« (263), »vielleicht in mancher Hinsicht« besser, nämlich lesbar hervor.42 Die (je) »noch offene Form« des Trauerspiels wird »zu Ende« gedacht43 (nur) genau insofern, als die »Trümmer« (ihrer Nicht-Vollendung) bleiben, als die »diese Form« »konzipiert« war »von Anfang an« (409). Ist es doch ›im Ernst‹, der das deutsche Trauerspiel kennzeichnet, trümmerhaft bleibend »von Anfang an« auf seine Kritik angelegt,44 die die »Idee des deutschen Trauerspiels« als »Bauplan« »eindrucksvoller« »aus den Trümmern großer Bauten« absehbar:

BM; vgl. I, 301) widerstreitet dieses Theater genau dem Konzept dramatischer Handlung; auch von »Bogenspannung« (im »Eintritt«) spricht Benjamin für Brechts Theater (II, 537). 42 »Weil aus den Trümmern großer Bauten die Idee von ihrem Bauplan eindrucksvoller spricht als aus geringen noch so wohl erhaltenen, hat das deutsche Trauerspiel des Barock den Anspruch auf Deutung.« (I, 409; vgl. »Vorrede«, I, 227f.) 43 Vgl. E. Geulen: Das Ende der Kunst, S. 92; U. Steiner: »Traurige Spiele – Spiel vor Traurigen«, S. 46ff.; S. Weber: »Genealogy of Modernity«, S. 449. 44 Vgl. I, 889; GB II, S. 393; I, 357. »Kritik« setzt den »Verfall der Wirkung« voraus, der im »Fortleben« der Werke sich vollzieht (I, 357f., vgl. »Goethes Wahlverwandtschaften«, I, 125f.; s.o. in IV. (Kritik). 245

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lesbar mache (409).45 Indem die »werdende Formensprache des Trauerspiels« (259), die hier als die Versagtheit der Vollendung der Kunstform anderswo (die die Calderónschen Schauspiele als deren anderen Ausgang in Aussicht stellen) noch einmal ausgeprägt wurde, in den Trümmern als den Allegorien ihrer Nicht-Vollendung: »als Trümmer […] konzipiert von Anfang an«, kenntlich wird (409), wird der »gewaltige Entwurf dieser Form« ›zu-Ende‹ gedacht. Derart, mit den Trümmern seiner Form als den Allegorien der Allegorien, fällt das barocke Trauerspiel am Ende des Trauerspielbuches nicht (allein) in den Bereich der Kunst und der Ästhetik (409).46 Das ›zu-Ende-Denken‹ müssen am Ende des Buches die (Allegorien der) Trümmer bezeugen. Einen Abschluss gibt (sich) das Trauerspielbuch weder damit, dass es in seinen letzten Abschnitten mit der spielerischen Einlösung das uneingeholte Vorbild des deutschen Trauerspiels vorstellt, an dem dieses versagt und diesem sich sperrt, noch aber (nur) mit dem Versagtsein dieses »Einsatzes und Ausgangs« (409) für das deutsche Trauerspiel im Ernst der Allegorie, an dem dieses das trümmerhafte Format seiner Rettung hat. Das Trauerspielbuch kann sich sowenig auf die Seite des »Ernstes« – sei es »unversehens der tödliche« des Allegorischen (368), sei es jener, in dem die allegorische Auffassung »nicht mehr spielerisch in erdhafter Dingwelt sondern ernsthaft unterm Himmel sich wiederfindet« (406) – schlagen, wie auf die seiner Reflexion des Spiels im Spiel, in dem doch auch der Ernst noch sich artikuliert haben musste, sondern es verweist auf beider, von Benjamin nicht entfaltete Relation. Insofern wäre es noch unzureichend, das Ende(n) des Trauerspielbuchs als Entgegensetzung von Trauer und Spiel aufzufassen, auch wenn dies eine Vorgabe an der eingeführten romantischen Auseinandersetzung zwischen Scherz und Ernst hätte.47 Beide Ent45 Die barocken Werke seien, weil sie »nichts [wollen] als dauern« (I, 356f.), ihrem »Fortleben« vorgreifend, »von Anbeginn auf jene kritische Zersetzung angelegt, die der Verlauf der Zeit an ihnen übte« (I, 357), und damit auf ihre Kritik. 46 »Die Formen der barocken Dichtung Deutschlands, welche im Trauerspiel, das alle anderen umfasst, den Gipfel haben, sind vor allem Formen des Ausdruckes, dann erst (und in gewissem Sinne sogar nie) der Kunst. Mag diese Dichtung in der Formensprache wie immer dunkel und sinnlos scheinen, das Studium ihrer Sprachform erhellt sie.« So fasst Benjamin in der Rez. »Porträt eines Barockpoeten« (1928) zusammen (III, 87). 47 Vgl. C. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, Kap. II.2 u.ö.; in den Begriffen Scherz und Ernst handeln A.W. Schlegel wie Adam Müller von Trauer246

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gegensetzungen, die von Trauer und Spiel und die von Ernst und (Spiel oder) Scherz, fallen nicht zusammen. Denn ist jenseits des Spiels nur ein Ernst möglich, der der Melancholie verfällt? Oder ist jenseits – oder vielmehr: diesseits – der Melancholie48 nur das ›verantwortungslose‹ Spiel denkbar? Einerseits zeichnete sich zwar die mögliche ›Rettung‹ in der Allegorie als deren so ernsthafte wie tödliche Treue zur Dingwelt (400f.) ab; sie wäre aber Rettung nur, wenn diese ›Treue‹ ohne Bezug aufs Wissen wäre, also nur um den Preis der Blindheit gegenüber dem Zusammenhang zwischen dem ›Verrat an der Welt‹ um des Wissens willen und der Dinghaftigkeit (334). Erst im Widerspiel zwischen Dingen und Zeichen sind aber die Dinge als das, was von den Zeichen bleibt, in ihrem Dingsein gegeben. Andererseits mag es scheinen, als könne die Darstellung sich auf die Seite des Spiels und die Reflexion des Spiels schlagen, das den ›Ausgang‹ nach dem Vorbilde Calderóns wiese (409). Aber auch die Allegorien, deren »Mutter« und »ihr Gehalt« »zugleich« die »Trauer« ist (403), sind auf »Ostentation der Faktur« (355) angelegt durch das ›Spiel‹ bestimmt, wie umgekehrt die barocke Schaustellung von »allegorischer Typik« (371). Es gehört als Maskenspiel der Melancholie an, der daher das barocke Trauerspiel Genüge tut, wie umgekehrt das Spiel, das sich auf sich selbst bezieht, in sich gespalten, von sich selbst verschieden ist, wie die Welt unterm melancholischen Blick. Der in der Relation von Calderóns Schauspielen und dem »deutschen Trauerspiel« am Ende des Trauerspielbuches erneut, pointierend aufgeführte Gegensatz von »spielhafter« Entwicklung der »Kunstform des barocken Trauerspiels« und »lastendem Ernst«49 und Lustspiel und deren (romantischer) »Mischung«; für die Begriffe Ironie und Ernst vgl. K. H. Bohrer (Hg.): Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes. 48 Melancholie und Spiel sind, so Derrida, zwei Auffassungen der Absenz im Zeichen (»Die Struktur, das Zeichen und das Spiel«, S. 423). Derrida lasse die Melancholie »vom Grenzwert der ›Überspannung der Transzendenz‹ in ein Diesseits keiner Melancholie mehr« »zurückspringen« (A. Haverkamp: »Latenz des Barock«, S. 208). 49 Auch wenn Benjamin in Shakespeare und Calderón zwei Seiten des Allegorischen (»Fundierung« und »Ausbildung der Form«) gleichsam personifiziert (I, 402), so kann doch zwischen diesen beiden, die dem Trauerspiel Maß und Ausgänge geben, nicht entschieden werden; auch Shakespeare heißt »der größte Romantiker [...], wenn er auch nicht allein das ist«: »nicht jede Unendlichkeit ist romantisch. Die Shakespeares aber ist es: es ist die im engeren Sinne poetische. Sie ist in ihrer reinsten Erscheinung in seinen Komödien enthalten.« (II, 610; vgl. I, 263; I, 915). 247

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begegnet in Benjamins aufs Trauerspielbuch vorgreifenden Text »›El mayor monstruo, los celos‹ […] Bemerkungen zum Problem des historischen Dramas« im Verhältnis von Calderón und Hebbel. Während Calderóns Schicksalsdrama die »paradoxe Reflexion« auf das »historische Drama« als Spiel leiste, sei Hebbels »historisches Drama« bestimmt »durch den ihm eignen, von Scherz nicht nur sondern auch von Ironie unerhellten Ernst«.50 Derart auf den »unerhellten Ernst« verpflichtet aber ist das »historische Drama« als solches verfehlt, geht es darin fehl, dass es die seiner Fügung unterstellten Zusammenhänge als Kausalität realistisch kurzschließt.51 Da das historische Drama nur als »Schicksalsdrama« den Zusammenhang der Geschichte als Sinn ausgeben könne, so ist es aber auch nur durch dessen »paradoxe Reflexion von Schein und Spiel« (261) möglich,52 die verhindert, dass der »ewige Sinn der Determiniertheit« der »Welt des Schicksalsdramas« naturalistisch missverstanden werde, also dadurch dass es das Spiel als Modus seiner Entfaltung und die Bühne als dessen gerahmten, konstitutiv begrenzten Raum (der sich konstitutiv auf seine Grenze, auf seine Rahmung und den Ausschluss bezieht) ›reflektiere‹. Mag auch durch den Vorrang des Stückwerks, als das die Trauerspiele sich behaupten, Benjamins Misstrauen gegenüber der spielerischen Vollendung, bzw. der Unendlichkeit der »romantischen« Reflexion des Spiels vorgetragen werden, so ist doch keine Entscheidung gegen die »Reflexion von Spiel und Schein« möglich, ohne dass (wie das »historische Drama«) das Trauerspiel durch die realistische Verwechselung der auf den Ernst verpflichteten Allegorien verfehlt wäre. Die »Reflexion von Spiel und Schein« ist keine Kategorie des Subjekts oder des Bewusstseins, wie Benjamin der Romantik vorhält.53 Vielmehr ist sie dem Trauer-Spiel als mise en abyme des Schau-Spiels, die es ›innen‹ auf seine theatrale Rahmung bezieht und in sich teilt, notwendig. Diesen Bezug prägt das Trauerspiel aus durch die theatrale Exposition seiner selbst als allegorische Schaustellung (301). Wenn am »Schicksalsdrama« die nach50 Es habe »nichts Spielhaftes« (II, 271). 51 Wenn ›Schicksal‹ als ›Sinn der Determiniertheit‹ ›realistisch‹ missverstanden würde (II, 266, 272), bleibt das »historische Drama« im »Naturalismus« befangen. 52 »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 276. 53 Vgl. I, 218. »Was anders haben die Romantiker zuletzt ersehnt, als das in den goldenen Ketten der Autorität verantwortungslos reflektierende Genie?« (I, 263). 248

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drückliche »Absichtlichkeit« seiner Fügungen gerade in den »verzwickten Intrigen« wie den »unwahrscheinlichen Zufällen«, denen diese Raum gibt (308f.), kenntlich wird, so werden diese zum einen in greller Komik oder als »reiner Spaß« ausgespielt, und zum andern wird derart sein »Zwiespalt« mit sich selbst, in dem es als Schau-Spiel steht,54 artikuliert; d.i. die ›Distanz zu sich selbst‹, die die Allegorie bezeichnet, die im ›Ursprung‹ der Repräsentationen ist, deren Melancholie die Allegorie austrägt. Die Relation zwischen Trauer und Spiel, die Benjamin der ›paradoxen (Nicht-)Vollendung‹ des Trauerspiels anhand der mise en abyme des Spiels im Shakespeare’schen Einspielen des Lust- ins Trauerspiel und als subtile Reflexion den Schauspielen Calderóns absieht, gehört dem TrauerSpiel als solchem an. Diese ›Erfüllung‹ seiner Form wäre aber kein Abschluss durch den »Einschluß von Transzendenz«, vielmehr wird durch die paradoxe, nie mit sich selbst zusammenfallende »Reflexion von Spiel und Schein« oder vielmehr durch den Wieder-Eintrag der konstitutiven Grenze der Bühne innerhalb dessen, was in ihrem begrenzten Raum entfaltet wird, dessen Entzweitheit mit sich selbst, der »Zwiespalt« in sich, die ursprüngliche Distanz zu sich selbst vor- und ausgetragen. Umgekehrt birgt jedes entschiedene ›zum Ernst‹-Rufen, der doch einmal nötig werde, der einmal die dem Spiel eignende Unaufhörlichkeit werde stoppen müssen, eine Gefahr, die Benjamin als das ›unversehens‹ ›Tödliche‹ des Ernstes im Allegorischen anzeigt (das sein Recht im profanen Drama allein durch die Komik habe (368)). Am ›Ernst‹ des Melancholikers wird erkennbar, dass er ›im Ernst‹ seinen Gegenständen als dem aufsitzen muss, was als Gegenständlichkeit unter seinem Blick sich herstellt. Im Allegorischwerden seiner Gegenstände begegnet er nicht nur der Melancholie als der ›Gegebenheitsweise von Gegenständen‹, sondern der allegorischen Verfasstheit werden die Konstitution der ›Welt als melancholische Schaustellung‹ wie des Melancholikers als betrachtendem Subjekt ablesbar – und in der allegorischen Faktur dekonstruiert. Der ›unerhellte‹ Ernst wird als verfehlter, als die Faktur der Gegenständlichkeit seiner Gegenstände verkennender, sich an die Lektüre der allegorischen Verfasstheit seiner Gegenstände und seiner selbst, an deren und noch seiner Differenz von sich selbst verweisen lassen müssen.

54 »›El mayor monstruo‹. Zum Problem des historischen Dramas«, II, 260. 249

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Keineswegs sind die ›Vollendung‹ durch Reflexion einerseits und der Bruch der Form andererseits Alternativen, zwischen denen zu entscheiden wäre. Benjamins Vorbehalt gegen die bloße ›rechnerische Vollendung‹ erledigt nicht die Frage, wie sich die Reflexion des Spiels, das das Trauerspiel ist, zu seiner, den Anspruch des Ästhetischen beschränkenden, allegorischen »Grenznatur« verhält, die ihm eignet, insofern seine Form sich nicht vollendend mit sich zusammenschließt (390f.). Benjamin selbst spricht vom Zwiespalt in der Entfaltung des »Schicksals als Spiel« und von der Paradoxie der »Reflexion von Schein und Spiel« (261), die durch die mise en abyme des Spiels und seines ›begrenzten Raums‹ vorgestellt werden. Dies wäre nicht mehr als ›romantische Reflexion‹, sondern als Komik und mit der Allegorie weiterzudenken. Genauer ist die Relation von Spiel und Ernst als die zweier Nicht-Vollendetheiten aufzufassen: von Unabschließbarkeit der Reflexion oder besser, weil explizit technischer: der mise en abyme des Spiels im Spiel und von einem ›Ende‹, das »im Geiste der Allegorie« kein Abschluss wird, sondern in Trümmern liegt, an die das Trauerspiel – wie dessen Darstellung – ›im Ernst‹ sich halte. Das Postulat: der »gewaltige Entwurf dieser Form ist zu Ende zu denken«, ›erfüllt‹ Benjamins Darstellung, indem sie das Sich-NichtVollenden dieser Form mit deren »Trümmern« als dessen Allegorie bezeugt, also mit jener Figur, die dem Anspruch auf ästhetische Geschlossenheit Abbruch tut. In »Trümmer[n], als Bruchstück konzipiert von Anfang an« (409), als der einzigen (Nicht-)Gestalt seiner, bzw. der »Idee des deutschen Trauerspiels« ›Erkennbarkeit‹ oder Lesbarkeit (409), entspricht diese in spezifischer Weise Benjamins Begriff der »Kritik«, die die »Mortifikation der Werke« vollzieht (und voraussetzt) (357). Daher könnte in des Trauerspielbuchs Ende jener, der »Erkenntniskritischen Vorrede« symmetrische, ›methodische‹ »Schluß«, den Benjamin, brieflichen Mitteilungen zufolge, hatte der »Kritik« widmen wollen,55 erkannt werden, den er entfallen ließ, weil »[d]ie Steigerung, die ich im Abschluß des Hauptteils erreiche, […] nicht zu überholen« gewesen wäre.56 Dass dieser »Schluß« aber entfiel, lässt statt einer ›Methodik‹ der kritischen Erkenntnis die Allegorie der allegorischen »Form« der barocken Trauerspiele stehen, die als Bruchstücke, Trümmer, in Stücken ›schon immer‹ die posthume Lesbarkeit dieser ›Form‹, die die ›kritische 55 Vgl. Dokumentation I, 919, 881; »Erkenntniskritische Vorrede«, I, 212, 225. 56 Dokumentation I, 884. 250

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Zersetzung‹ und Konstellation voraussetzt, ermöglicht haben wird.57 Lesbar sind sie, insofern sie nicht mehr dem ›Bereich‹ der Kunst zugehören. Folgten wir Benjamins Selbst-Wahrnehmung von der »Steigerung, die ich im Abschluß des Hauptteils erreiche,« die »nicht zu überholen« gewesen wäre, dann hätten wir gerade die Trümmer oder Allegorien der Erkenn- oder Lesbarkeit als eine Schlusssteigerung (260) oder Apotheose,58 wie Theaterstücke sie als Schlussbild stellten, zu nehmen. Die Alternative, die Benjamin mit Calderóns kunstvoller Entwicklung, die ermögliche das »Bild der Apotheose« aufzustellen, einerseits und des deutschen Trauerspiels »Insuffizienz«, die die ›Idee von dieser Form‹ lesbar macht, andererseits auszuprägen sich angelegen sein ließ, wäre darin kollabiert. Am Ende verweist das Trauerspielbuch mit der »Insuffizienz« des deutschen Trauerspiels, das im Bruchstück(haft)-Bleiben sich manifestiert, einerseits auf jene ›Vollendung‹ der Kunstform, mit der der »Entwurf dieser Form« (der hier zu lesen ist) nicht zusammenfällt, und andererseits »hält diese Form«, »im Geiste der Allegorie« »als Trümmer […] konzipiert von Anfang an«, an den Bruchstücken fest, die sie immer schon war. Das Ende, zu dem diese »Form« zu denken ist, ist zum einen als allegorisches Stückwerk gegeben, »als Trümmer, als Bruchstück konzipiert von Anfang an«, als das die Kunstwerke ›abgestorben‹ – nicht im ›Bereich der Kunst‹ – über-dauern, und zum andern hält mit der zeitlichen Paradoxie des Vorgriffs »diese Form das Bild des Schönen an dem letzten« Tage fest (409); »dieses Ende [so daher E. Geulen] fällt überhaupt nicht mehr in die Kunst«, und dieses »Bild« ist »keine Einsicht des Trauerspiels mehr«.59 Auch in diesem Sinne wird der »gewaltige Entwurf dieser Form« zu-Ende gedacht. Von diesem »Bild« spricht Benjamin zwar als dem (zukünftig) einmal gegebenen, aber es kann nicht den einnehmbaren Standort seiner Erkenntnis belegen, 57 Kritik ist »Darstellung einer Idee« (I, 889) als die Konstellation der zerlegten Phänomene (I, 227, 230). Die barocken Werke, die »nichts [wollen] als dauern« (I, 356f.), seien ihrem »Fortleben« vorgreifend, »von Anbeginn auf jene kritische Zersetzung angelegt, die der Verlauf der Zeit an ihnen übte« (I, 357), und damit auf ihre ›Kritik‹. Die Passagen-Arbeit akzentuiert dies (anders) in der Relation von »Jetzt der Lesbarkeit« und des in diesem gegebenen Gegenstande (in dessen »Vor- und Nachgeschichte«, vgl. V, 587), (s.o. Einleitung). 58 Das macht umgekehrt die Rede vom »abgestumpften Schluß«, der »materialistischen Untersuchungen zu geben sei« (Passagenwerk, V, 592), im Unterschied zum Trauerspielbuch plausibel. 59 E. Geulen: Das Ende der Kunst, S. 96f.; vgl. I, 358, 409, 238. 251

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sondern bezeugt diese allein durch die Trümmer, die seine Erkenntnis, bzw. Darstellung (als die Gegenstände der kritischen Lesbarkeit) hinterlassen haben wird. Benjamin ergänzt hier nicht (den ausgesparten Tag) durch ›des Gerichts‹,60 sondern endet mit: »hält [...] an dem letzten fest« (409).61 Die »Bogenspannung« dieser Form lässt nur dadurch sich ermessen (257f.), dass diese Nicht-Form in Trümmern – »von Anbeginn an« wie »am letzten [Tage]« – gelesen wird, und dadurch dass diese gegen jede Lektüre übrig-bleiben (409).

60 Zum Gericht wäre rückwirkend zu vergleichen I, 407. 61 »Benjamin’s end is itself ›overtaken‹ and held fast by an allegory […], significant without sense.« (S. Weber, »Genealogy of Modernity«, S. 500, vgl. 499). Fraglich daher, ob dieses Ende die programmatischen Formulierungen einlöst (mit denen Benjamin seine »Vorrede« schließt), die eine »souveräne[] Haltung, wie Darstellung von der Idee von einer Form sie aufdringt,« aufgeben. »Nur eine [..] sich dem Anblick der Totalität zunächst versagende Betrachtung« erlaube »dem Geist« »im Anblick jenes Panoramas seiner selbst mächtig zu bleiben« (I, 237). 252

LITERATUR Werke Walter Benjamins Gesammelte Schriften = GS, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972-1989. Gesammelte Briefe = GB, hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, 6 Bde., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995-2000. »Die Aufgabe des Übersetzers« (ca. März bis November 1921), GS IV.1, S. 921, ED: Charles Baudelaire. Tableaux Parisiens [französisch u. deutsch], Deutsche Übertragung mit einem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers, Heidelberg: Verlag Richard Weißbach 1923, 69 S. »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie« (ca. zwischen Juni und November 1916, posthum veröffentlicht), GS II.1, S. 137-140. »Berliner Chronik« (1932, posthum veröffentlicht), GS VI, S. 465-519. »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« (Adorno-Rexroth-Fassung, ca. 19321934), GS IV.1, S. 235-304; zuerst Teilabdrucke u.a. in: Frankfurter Zeitung vom 2.2.1933 (Jg. 77, Nr. 87-89), S. 1f.; FZ vom 9.2.1933 (Jg. 77, Nr. 106-108), S. 1f.; Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung vom 17.3.1933 (Nr. 76). »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« (Fassung letzter Hand und Fragmente aus früheren Fassungen) (ca. Frühjahr 1938, posthum veröffentlicht), GS VII.1, S. 385-433. »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« (März 1918 bis Juni 1919), GS I.1, S. 7-122, ED: Bern: Verlag A. Francke 1920, 111 S. [jetzt auch als Walter Benjamin: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, Bd. 3, hg. von Uwe Steiner, S. 6-134] »Der destruktive Charakter« (1931), GS IV, S. 396-398, ED: Frankfurter Zeitung vom 29.11.1931 (Jg. 76, Nr. 863-864), S. 1. [Rez. von] Roger Caillois: »L’aridité« (in: Mesures. Cahiers trimestriels 2 (1938), S. 7-12), GS III, S. 549-550, ED: Zeitschrift für Sozialforschung 7 (1938), S. 463f. »Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker« (Zwischen Sommer 1934 und Februar/März 1937), GS II.2, S. 465-505, ED: Zeitschrift für Sozialforschung 6 (1937), H. 2, S. 346-380. Einbahnstraße (Zwischen ca. Anfang 1923 und Mitte September 1926), GS IV.1, S. 83-148, ED: Berlin: Ernst Rowohlt Verlag 1928, 83 S. (zuerst Teilabdruck in Literarische Welt 3 (1927), Nr. 46, S. 3).

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Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz Mai 2010, 456 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1206-6

Friedemann Kreuder, Michael Bachmann (Hg.) Politik mit dem Körper Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968 2009, 294 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1223-3

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Theater Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen September 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten August 2010, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1289-9

Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Schule Ein Handbuch zur kulturellen Bildung 2009, 352 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1072-7

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Theater Gabi dan Droste (Hg.) Theater von Anfang an! Bildung, Kunst und frühe Kindheit

Stephanie Metzger Theater und Fiktion Spielräume des Fiktiven in Inszenierungen der Gegenwart

2009, 260 Seiten, kart., inkl. Begleit-DVD, 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1180-9

April 2010, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1399-5

Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Paradoxien des Zuschauens Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater 2008, 114 Seiten, kart., 15,80 €, ISBN 978-3-89942-853-7

Jennifer Elfert Theaterfestivals Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells 2009, 406 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1314-8

Hajo Kurzenberger Der kollektive Prozess des Theaters Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität

Artur Pelka, Stefan Tigges (Hg.) Das Drama nach dem Drama Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland nach 1945 Dezember 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1488-6

Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.) Theater und Bild Inszenierungen des Sehens 2009, 322 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-706-6

Christina Schmidt Tragödie als Bühnenform Einar Schleefs Chor-Theater

2009, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1208-0

Oktober 2010, ca. 334 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1413-8

Kuan-wu Lin Westlicher Geist im östlichen Körper? »Medea« im interkulturellen Theater Chinas und Taiwans. Zur Universalisierung der griechischen Antike

Franziska Schössler, Christine Bähr (Hg.) Ökonomie im Theater der Gegenwart Ästhetik, Produktion, Institution

Juli 2010, ca. 316 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1350-6

2009, 370 Seiten, kart., farb. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1060-4

Natascha Siouzouli Wie Absenz zur Präsenz entsteht Botho Strauß inszeniert von Luc Bondy 2008, 214 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-891-9

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