Chinesische Positionen zum Völkerrecht [1 ed.] 9783428429660, 9783428029662


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German Pages 370 Year 1973

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Chinesische Positionen zum Völkerrecht [1 ed.]
 9783428429660, 9783428029662

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GERD KAMINSKI

Chinesische Positionen zum Völkerrecht

Schriften zum Völkerrecht

Band 31

Chinesische Positionen zum Völkerrecht

Von

Gerd Kamioski

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

C 1973 Duncker & Humblot, Berl1n

41

Gedruckt 1973 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berl1n 65 Printed in Germany ISBN 3 428 02966 6

Vorwort Seit dem verstärkten internationalen Engagement der Volksrepublik China, das insbesondere 1971 mit dem Einzug von Vertretern aus Peking in die Vereinten Nationen spektakulären Ausdruck fand, ist für prognostische Aussagen über die Außenpolitik dieses Staates nicht zuletzt seine Einstellung zum Völkerrecht von großer Bedeutung. Diese Einstellung - die chinesischen Positionen zu der westlich geprägten Rechtsordnung der Staatengemeinschaft - zu erfassen und zu überprüfen ist wegen der Kargheit des zugänglichen Materials und der teils gewollt, teils ungewollt unpräzise abgefaßten einschlägigen chinesischen Stellungnahmen eine schwere Aufgabe. "Wenn du weißt, wo aufhören, und du hörst auf, wirst du nie in Schande geraten", sagt ein altes chinesisches Sprichwort. Diesem beherzigenswerten Ratschlag folgend habe ich mich daher darauf beschränkt, eine Bestandaufnahme jener völkerrechtlich relevanten chinesischen Positionen zu versuchen, für welche die chinesische Doktrin und Praxis zumindest verschwommene Umrisse geliefert haben. Ich habe jedoch überall dort Zurückhaltung gezeigt, wo bis jetzt Manifestationen der Volksrepublik China ganz oder in der Zahl ausgeblieben sind, die ein Zusammenfügen zu einer für Schlußfolgerungen tragfähigen Basis erst ermöglicht. Ein Thema, die chinesische Konzeption völkerrechtlicher Verträge, ist, trotz ausreichend vorliegenden Materials, aus den Erwägungen heraus nicht behandelt worden, daß es dazu einerseits bereits sehr gute und sehr umfassende Arbeiten gibt (stellvertretend sei hier für selbständige Publikationen das Buch Luke T. Lees "China and International Agreements" sowie für Artikel Oskar Weggels in der Zeitschrift "Verfassung und Recht in übersee" erschienene Studie "China und das Völkerrecht" genannt, die sich vornehmlich mit dem Vertragsrecht beschäftigt) und der Verfasser andererseits weder in der Literatur noch in Arbeitsgesprächen Anhaltspunkte finden konnte, die wesentliche Ergänzungen der eingeführten Publikationen über dieses Thema erlaubt hätten. Wie schon bereits erwähnt, war das verfügbare Material teilweise dürftig. Andererseits schien die Bedeutung Chinas als einer der entscheidenden Faktoren der internationalen Szene groß genug zu sein, um die Veröffentlichung von Teilergebnissen über die Grundsätze seines

6

Vorwort

internationalen Verhaltens nicht weiter hinauszuzögern. Dieser Weg, der vor allem in den Vereinigten Staaten bereits couragiert beschritten worden ist, mag dazu geeignet sein, Diskussionen in Lehre und Praxis über die chinesischen Positionen zum Völkerrecht in Gang zu setzen, beziehungsweise zu verstärken. Die Chinesen könnten durch die mit solchen Arbeiten angetretene Beweisführung, daß man zunehmend um eine objektive Würdigung ihres internationalen Verhaltens und seiner völkerrechtlichen Leitlinien aufrichtig bemüht ist, zu einem intensiveren Dialog über einschlägige Fragen angeregt werden. Es gibt aber noch ein anderes Motiv, das mich ermutigt hat, mich der Bearbeitung dieses Themas trotz der weitgehenden Absenz neuerer chinesischer völkerrechtlicher Literatur zu widmen. "Ein Gespräch mit einem überlegenen Menschen ist besser als zehn Jahre Studium", heißt es in der chinesischen Spruchweisheit. Zu solchen Gesprächen, die zumindest zum Teil die mangelnde Gelegenheit der Auseinandersetzung mit chinesischem Schrifttum der letzten Jahre kompensieren konnten, wurde mir im April 1972 in Peking in großzügiger Weise Gelegenheit gegeben. Daher sei nun, da ich allen jenen Dank sagen will, welche mir bei der Durchführung dieser schwierigen Arbeit ihre wertvolle Hilfe und Unterstützung gewährt haben, an erster Stelle dem stellv. Außenminister der Volksrepublik China, Ch'iao Kuan-hua sowie den Experten für Völkerrecht und internationale Beziehungen Sheng Wei-liang, Lin Xin und Huang Jia-hua, die sich trotz größter Arbeitsüberlastung für Fachgespräche zur Verfügung gestellt haben, aufrichtigst und herzliehst gedankt, wie auch den kompetenten Beamten in· Peking und der chinesischen Botschaft in Wien, die an der Realisierung meines Wunsches nach Fachdiskussionen in China mitgewirkt haben. Herrn Univ. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Alfred Verdross, bin ich für seine warme Anteilnahme an meinen Studien und für seine wertvollen Ratschläge und Hinweise überaus dankbar. Große Dankbarkeit verpflichtet mich insbesondere auch meinen Lehrern und Vorgesetzten Univ. Prof. Dr. Stephan Verosta und Univ. Prof. Dr. Karl Zemanek. - Besonders betonen möchte ich an dieser Stelle, daß Univ. Prof. Verosta, dessen Assistent ich bin, seit meinem Eintritt in das Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen der Universität Wien, mich nicht nur zu Forschungen auf dem Gebiet der ostasiatischen Völkerrechtskonzeptionen ermuntert, sondern mir auch zur Durchführung dieser Forschungen großzügig Zeit und Freizügigkeit gewährt hat. - Den Genannten danke ich ebenso ergebenst für ihren wichtigen Rat wie den anderen Gutachtern dieser an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien als Habilitationsschrift eingereichten Arbeit, den Universitätsprofessoren Dr. Willibald Plöchl, Dr. Felix Ermacora und

Vorwort

7

Dr. Hung Lien-te. Wie schon anläßlich früherer Publikationen ließ mir Frau Prof. Vivien Pick (geb. Hsü Dschi-siu) bei der Lösung von Fachfragen und übersetzungsproblemen ihre unschätzbare Hilfe zuteil werden. Meinen Kollegen am Institut für Völkerrecht, Herrn Univ. Ass. Dr. Gerhard Hafner und Univ. Ass. Dr. Hanspeter Neuhold bin ich für die Lektüre der sowjetische Positionen zum Völkerrecht beziehungsweise die Deklaration über freundschaftliche Beziehungen betreffenden Teile sowie für wertvolle Hinweise sehr dankbar. Daß die Vollendung der Forschungen nicht an materiellen Problemen scheiterte verhinderte die freundliche Unterstützung der UNESCO und des Vereins der Freunde der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. In diesem Zusammenhang sei dem Leiter der ständigen Vertretung Österreichs bei der UNESCO, Prof. Alwin Westerhof und dem damaligen Vorsitzenden des oben genannten Vereins, Univ. Prof. Dr. Walter Kastner, besonders herzlich gedankt. Den materiellen Bedingungen für den Abschluß des Manuskriptes kommt die Drucklegung an Bedeutung gleich. Es ist mir daher ein besonderes Bedürfnis, dem Inhaber des Verlages Duncker und Humblot, Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann, für die Aufnahme in seine völkerrechtliche Reihe und für seine ansonsten in hohem Maße gezeigte Freundlichkeit aufrichtigst Dank zu sagen. Die Drucklegung gestaltete sich für mich durch die effiziente Betreuung durch Fräulein Gertraude Michitsch sehr erfreulich. Bei der wissenschaftlichen Referentin am Österreichischen ChinaForschungsinstitut, Frau Else Unterrieder, bedanke ich mich herzlichst für die Verfassung des Literaturverzeichnisses und sonstige wertvolle Hilfeleistungen, und ich kann nicht umhin, dem Leser die Bereicherung dieser Danksagungsliste um noch einen wesentlichen Punkt zuzumuten: meiner Frau und meinen Eltern, denen die Nebenwirkungen meiner wissenschaftlichen Produktionstätigkeit sicher nicht immer zur Annehmlichkeit gereichten, gebührt meine außerordentliche und besondere Dankbarkeit. Ich habe zwei chinesische Sprichwörter gefunden, die auf das vorliegende Werk bezogen werden könnten und sich für den Schlußsatz dieses Vorworts eignen würden. Das eine heißt: "In einer Menge von Worten werden sicher Fehler sein," das andere: "Ein Buch öffnen bringt Vorteil." Ob das eine, das andere oder beide - beziehungsweise in welchen Proportionen der Intensität zu zitieren angebracht ist, gestatte ich mir dem Urteil des geneigten Lesers zu überantworten.

Gerd Kaminski

Zur Transskription der chinesischen Zeichen Die chinesischen Zeichen wurden, wenn es sich dabei um Begriffe, Namen oder Titel aus der Volksrepublik China handelte, nach dem dort üblichen System, ansonsten nach dem Wade-Giles System transskribiert. Eine Ausnahme bilden Namen, die sich in einer bestimmten Form durchgesetzt haben. Der Autor verfolgt dabei die Absicht, eine Verwirrung des im Chinesischen nicht bewanderten Lesers durch die stark differierenden Transskriptionen zu vermeiden und offeriert daher jene Schreibweisen, auf die man bei Lektüre der jeweils zur zusätzlichen Information angegebenen Literatur in den meisten Fällen stoßen wird.

Inhaltsverzeichnis ETsteT Abschnitt

Das dünesische Rechtsdenken 1. Die antiken Grundlagen

13

...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

II. Die Zeit der Republik ..... . .......... . .................. . ... . ..

22

III. Die Zeit der Volksrepublik ...... . ............................. . .

25

ZweiteT Abschnitt

Historische Wurzeln heutiger cb.lnesischer Positionen zum Völkerredlt

37

I. Hat China im eigenen Staatenverband oder im Verhältnis zu nichtchinesischen Staaten völkerrechtliche Normen entwickelt und angewandt? .. . .. . ... . ... . ... . .. . . . ............... . ........ . ........ 37 1. Vorbemerkungen zum chinesischen Völkerrecht der Frühlings-

und Herbstperiode (770-475 v. Chr.) ............................ 37 a) Die Organe der damaligen chinesischen Staatengemeinschaft 38

2. Zur Völkerrechtssubjektivität ......... . ....... .. ..... . ......... a) Erlangung der Völkerrechtssubjektivität ........ . ........... b) Verlust der Völkerrechtssubjektivität ..................... . .. aal Gänzlicher Verlust.. .. . .. ...... .... . . .. ............ . . . .. bb) Partieller Verlust .............. . ...... . ................ c) Die Völkerrechtssubjektivität der "Barbaren" ................ aal Die wilden Stämme . ....... . ... .. ., ...... ....... .. .. bb) Die Stämme mit hohem kulturellen Niveau..............

40 40 42 42 43 45 45 46

3. Zur völkerrechtlichen Repräsentation der chinesischen Staaten . .

47

4. Das Recht der diplomatischen Beziehungen ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rangklassen der Diplomaten . . ....... . . . ................ b) Die Voraussetzungen für die Aufnahme der diplomatischen Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Beginn, Durchführung und Ende der diplomatischen Tätigkeit d) Die diplomatischen Vorrechte.................... . .......... e) Die Rechtsstellung der Gesandten in dritten Staaten ...... . . . .

49 49 50 50 52 52

10

Inhaltsverzeichnis 5. Das Recht der völkerrechtlichen Verträge a) Die Fonn ................................................... b) Die vertragschließenden Organe ............................ c) Willensmängel .............................................. d) Das Erlöschen von völkerrechtlichen Verträgen.... ........ .. e) Zum Vertragsinhalt .........................................

53 53 54 54 54 55

6. Das Kriegsrecht ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 a) Das Recht des gerechten Krieges ............................ 56 b) Beschränkungen des Rechts zum gerechten Krieg............ 57 c) Rechtliche Beschränkungen des Verhaltens im Krieg........ .. 57 aa) Beginn einer Schlacht .................................. 57 bb) Die Kombattanten ...................................... 58 ce) Die Verwundeten, Kranken und Wehrlosen.............. 59 dd) Die Kriegsgefangenen .................................. 59 ee) Spionage, Kriegslist, Perfidie.... ... ........ ..... ........ 60 d) Die Beendigung des Kriegszustandes ........................ 60 7. Das Neutralitätsrecht ..........................................

61

8. Der Zusammenbruch der Organisation der chinesischen Staatengemeinschaft der Frühlings- und Herbstperiode und ihrer Völkerrechtsordnung ................................................. 63 11. Der chinesische Universalismus als Gegner einer auf Basis der Gleichheit aufgebauten Völkerrechtsordnung ...................... 65 1. Die mit Ch'in Shih huang-ti einsetzende und von der T'ang-

Dynastie endgültig gefestigte Kontinuität des chinesischen Universalismus ............................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

2. Das Scheitern militärischer und geistiger Angriffe auf den chinesischen Universalismus ........................................ 73 111. Der Eintritt des chinesischen Reiches in den völkerrechtlichen Verband ......................................................... 90 1. Objektive Voraussetzungen -

Das Vertragssystem und seine Folgen ................ ;....................................... 90

2. Subjektive Voraussetzungen - Die Neuordnung des chinesischen Weltbildes .............. ; . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 102 3. Frühe chinesische Positionen zum westlich geprägten Völkerrecht 115 IV. China in der Zeit zwischen dem Sturz der Monarchie und dem Beginn des chinesisch-japanischen Krieges - Der Kampf um die Gleichberechtigung ............................................... 128 1. Vom Beginn der Republik bis zur Pariser Friedenskonferenz .... 128

2. China auf der Pariser Friedenskonferenz ........ . . . . . . . . . . . . . . .. 132 3. Chinas Kampf um Vertragsrevision und Gleichheit .............. 138 4. Der Schock der japanischen Aggression ........................ 162

Inhaltsverzeichnis

11

Dritter Abschnitt Die Politik der Volksrepublik Cblnaund ihr Elnftuß auf die Grundpositionen der dünesiscben Völkerrecbtsdoktrin

166

Vierter Abschnitt

Ausgewählte Probleme clünesischen internationalen Verhaltens Chinesische Positionen zu:

199

I. Souveränität und Gleichheit ...................................... 199 1. Der Eintluß der chinesischen Konzeptionen von Souveränität und

Gleichheit auf die Leitlinien der aktuellen chinesischen Außenpolitik ......................................................... 208

2. Der Eintluß der chinesischen Souveränitätskonzeption auf andere Positionen der chinesischen Völkerrechtslehre ................... 217 a) Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht ........ 217 b) Die internationale Gerichtsbarkeit (im weiteren Sinne) ...... 219 11. Diplomaten- und Konsularrecht ..... . .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 224 1. Historische Grundlagen ...................... .. ................ 224

2. Kritik an der Handhabung des Diplomaten- und Konsularrechtes durch die Volksrepublik China . ....... '" ...................... 227 3. überprüfung der erhobenen Vorwürfe .......................... a) ZUr Beschränkung der Bewegungsfreiheit des ausländischen diplomatischen und konsularischen Personals in China .. . . . . .. b) Chinesische Amtshandlungen bezüglich der Zuerkennung eines chinesischen Führerscheins an ausländisclle Diplomaten und der von ihnen verursachten Verkehrsunfälle ..... " . ........ c) Der Jongejans-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

231 239 240 241

4. Die aktuellen chinesischen Positionen zum Diplomaten- und Konsularrecht ..................................................... 243 111. Seerecht ... . .......... . ... . .... ... ...... . ....... . ........... . .... 244 1. Relevante Positionen vor 1958 .. . ..................... . ......... 244

2. Die Erklärung Chinas bezüglich der Ausdehnung seines Küstenmeeres vom 4. September 1958 .. . ............................... 249 3. Die chinesische Position zum Seerecht unter dem Aspekt einer chinesischen Weltstrategie ...................................... 255 IV. Chinas Verhältnis zur Gewalt .................................... 265 1. Die Entwicklung der theoretischen chinesiscllen Positionen zur

Rolle der Gewalt als politisches Werkzeug bis zum Ende der sechziger Jahre ................................................ 270

12

Inhaltsverzeichnis 2. überprüfung der Praxis der Volksrepublik China bis zum Ende der sechziger Jahre auf den Grad der Identität zwischen ideologischen Positionen und tatsächlicher Gewaltanwendung .. . . . . . . .. 278 a) Fälle direkten Einsatzes von Gewalt ........................ 278 b) Die chinesische Praxis der Unterstützung revolutionärer Bewegungen bis zum Ende der sechziger Jahre ................. 284 3. Die aktuelle chinesische Position ................................ 286 V. Chinas Ansichten zu Neutralismus und dauernder Neutralität ...... 289 1. Bezogen auf seine Nachbarstaaten .............................. 289

2. Bezogen auf entfernter liegende staaten ........................ 301 3. Aktuelle chinesische Ansichten zur dauernden Neutralität, skizziert nach den vom Autor im April 1972 in Peking abgewickelten Arbeitsgesprächen ............................................. 308 VI. Chinas Positionen zu den Vereinten Nationen ...................... 311 1. Die chinesischen Verhaltensweisen bis zur Zulassung der Pekinger

Delegation zu den Vereinten Nationen .......................... 311

2. Die bisherigen Schwerpunkte der von China in den Vereinten Nationen verfolgten Politik .................................... 318 3. Chinesische Positionen zu einigen mit seiner Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen zusammenhängenden Problemen ............ a) Zur Völkerrechtspersönlichkeit der Vereinten Nationen ...... b) Zur normativen Kraft von Resolutionen der Generalversammlung ........................................................ c) Zum Einstimmigkeitsprinzip für die Abstimmung der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates in substantiellen Fragen

325 325 326 327

VII. Vereinbarkeit der chinesischen Positionen mit der "Declaration on Principles of International Law concerning Friendly Relations and Cooperation among States in accordance with the Charter of the United Nations" .................................................. 329

Literaturverzeidmis

336

Namenverzeichnis

361

Sadlverzeidmis

367

Erster Abschnitt

Das chinesische Rechtsdenken I. Die antiken Grundlagen Die klassische Annäherung zur Lösung eines Streitfalles, der sich in Europa als Rechtsstreitigkeit darstellen würde, weicht von der europäischen Vorgangsweise sehr stark ab. Zur richterlichen Entscheidung wurden nicht nur Rechtsnormen herangezogen, sondern auch die Riten (li) und Maßstäbe der Menschlichkeit und Billigkeit (ch'ing). In diesem Zusammenhang bedarf der Begriff der Riten einer näheren Erläuterung. Der Name wurde in ältester Zeit für die Tätigkeit des Opferns verwendet, sodann für das dabei beobachtete Zeremoniell und stand, als sich Konfuzius (551 v. Chr.-479 v. Chr.) damit beschäftigte, für jede Art von Etiquette und Höflichkeit!. Konfuzius entwickelte den Begriff weiter und versuchte, das Schwergewicht seiner Bedeutung von der Befolgung äußerer Formen auf die Betonung der den Menschen innewohnenden Idealvorstellungen menschlichen Verhaltens zu verlegen!. Idealvorstellungen, die jedem Menschen über die ihm angeborene Vernunft zugänglich sind3 • Hsun Tzu (298 v. Chr.-238 v. Chr.) meinte, Li sei die Vernunft, die stets konstant bleibt und sich nicht wandle. Cheng Hao, ein Philosoph der nördlichen Sung-Dynastie (960-1127) setzte hinzu, in allen Dingen gebe es Vernunft. Halte man sich daran, so sei alles leicht und unkompliziert. Li ist demnach die 1 Vgl. H. G. Creel, Chinese Thought from Confucius to Mao Tse-tung, London 1954, S. 43 ff.; Horace H. Y. Too, The Origin and Formation of the Traditional Chinese Sythetic Jurisprudence, in: Chinese Culture, Bd.9, Nr.2, Juni 1968, S.85; Jyun-hsyong Su, das chinesische Rechtsdenken im Licht der Naturrechtslehre, Freiburg (i. Br.) 1966, S. 72 ff. Karl Bünger, Die Rechtsidee in der chinesischen Geschichte, in: Saeculum, Bd.3, 1952, S. 192 ff; idem, Religiöse Bindungen im chinesischen Recht, in: Bünger-Trimborn (Hrsg.), Religiöse Bindungen im frühen und im orientalischen Recht, Wiesbaden 1952, S. 58 ff.; Otto Franke, Chinesisches Recht, in: Stier-Somlo und Elster (Hrsg.), Handwörlerbuch der Rechtswissenschaft, Berlin 1926, S. 867 ff. 2 s. Konfuzius, Gespräche, 12. Buch, 1. Kap., in der übersetzung von James Legge, Nachdruck 1955, Bd. I, S.250. 3 Vgl. Chang Chin-Tsen, Li and Law, in: Chinese Culture, Bd.2, Nr.4, Mai 1960, S.5.

1. Abschn.: Das chinesische Rechtsdenken

14

natürliche Vernunft, die sich im menschlichen Verhalten manüestiert und umfaßt Bereiche, die man nach westlicher Terminologie als Normen des Naturrechts, der Moral und Sitte bezeichnen würde. Ein Abweichen von den Riten brachte Komplikationen und Streit. Das Buch der Riten sagt: "Die Riten verbieten übertretungen bevor sie begangen werden, während das Recht kriminelle Handlungen nach ihrer Begehung bestraft." In diesem Sinne ging es vor allem darum, das menschliche Verhalten nach den Riten auszurichten, um es erst gar nicht zum Streit kommen zu lassen. Einen wesentlichen Beitrag hierzu erblickte Konfuzius im persönlichen Beispiel: "Wenn das Volk durch Gesetze geleitet wird und ihm eine Ordnung im Wege von Bestrafungen gegeben wird, wird es den Bestrafungen zu entgehen suchen, aber des Schamgefühls entbehren. Wenn es aber durch Tugend geleitet wird und ihm eine Ordnung im Wege der Riten gegeben wird, wird es sich das Schamgefühl erhalten und darüber hinaus gut werden4 ." Drastischer noch lehnte Lao Tse (6. oder 4. Jh. v. Chr.) das Recht als Ordnungsprinzip ab, indem er sagte: "Je mehr Gesetze und Verordnungen es gibt, um so mehr gibt es Diebe und Räuber6· 6 ." Diese geringe Bewertung des Rechtes führte dazu, daß die Kodifikation von Gesetzen die längste Zeit hindurch von chinesischen Gelehrten mit dem Hinweis behindert wurde, daß die menschliche Natur, welche letztlich für Störungen der guten Ordnung verantwortlich ist, dadurch nicht positiv, sondern negativ beeinflußt wird und mit der Anwendung des rechtlichen Instrumentariums höchstens vorübergehende Scheinerfolge erzielt werden könnten. Es gibt dazu keine bessere Illustration als den Brief, den Shu Hsiang seinem Freund Tsu Ch'an 536 v. Chr. schrieb, als er hörte, daß jener für die Zusammenstellung eines Kodex von Strafgesetzen verantwortlich war: "Zuerst habe ich Dich als Mein Vorbild betrachtet, aber ich habe nun damit aufgehört. Die alten Könige berücksichtigten alle Umstände und trafen dann ihre Entscheidung. Aber sie erließen nie allgemeine Strafgesetze, da sie befürchteten, andernfalls im Volke Streitsucht zu erregen. Da Verbrechen nicht verhindert werden konnten, setzten sie die Schranken der Rechtschaffenheit und versuchten, das Volk mit ihrer eigenen Redlichkeit in Einklang zu bringen. Sie gaben ihm das Beispiel des guten Anstands und der Aufrechterhaltung des guten Glaubens und kamen ihm mit Güte entgegen. Sie begründeten Ränge und Stellungen, um seine Treue zu ermutigen und verhängten schwere Strafen, um Ausschreitungen zu verhindern. Von der Furcht bestimmt, dies könne noch nicht ausreichend sein, lehrten sie das Volk Aufrichtigkeit, drängten es zum Handeln, instruierten es in nützlichen Fertigkeiten, vergaben sie Stellen im Verhältnis zu den Fähigkeiten, 4

s. Konfuzius, Gespräche, 2. Buch, 3. Kap., in: Legge, S.146. Tao-te-king, Kap. 57.

5.8

I. Die antiken Grundlagen

15

behandelten das Volk mit Respekt, während sie gleichzeitig ihre Angelegenheiten mit fester Hand in Ordnung hielten und Auseinandersetzungen mit männlicher Festigkeit entschieden. All dies erforderte einen weisen Herrscher, der über weise und scharfsinnige Beamte, treue und aufrichtige Älteste und liebende und verständnisvolle Lehrer verfügt. Nur dann wurden die Leute es wert, betraut und mit Ämtern versehen zu werden und Unglück und Unordnung wurden hintangehalten. Andererseits - wenn das Volk von der Existenz eines Strafrechtkodex erfährt, wird es vor den Höherstehenden nicht mehr die nötige Ehrfurcht haben und außerdem wird es einen Hang zur" Streitsucht bekommen. Dann wird es nur auf den Buchstaben der Gesetze schauen und sie in einer gewinnsüchtigen Weise nach Art von Spielern erfüllen. Es wird dann nicht mehr in Ordnung zu halten sein. Als die Regierung der Hsia-Dynastie verfiel, wurde der YÜ-Kodex gemacht, als die Regierung der Shang-Dynastie in die Irre ging, der Tang-Kodex und als die Regierung der Chou-Dynastie schlechte Tage sah, der Chin-Kodex. Alle diese Strafrechtskodizes entstanden zu einer Zeit des Verfalls. Und nun haft Du in Deiner Verwaltung des Staates Ch'ing die Deiche und Bewässerungsgräben neu festgelegt, Steuereinnahmen festgesetzt, die vom Volk verurteilt werden und hast Strafgesetze in Nachahmung der drei Kodizes zusammengestellt und ihre Strafbestimmungen in Metall schlagen lassen. Wie schwer ist es, das Volk durch di~se Maßnahmen zu befrieden. Es wird in einer der Oden gesagt: ,Unsere Riten sind nach dem Vorbild des Königs Wen gestaltet und Friede herrscht in allen Gebieten.' Und es wird wieder gesagt: ,Die Regeln .unseres Lebens sind nach dem Beispiel des Königs Wen ausgerichtet. Wir haben den guten Willen aller Leute gewonnen. Wenn das so ist - wozu braucht man dann ein Strafgesetz? Aber nun hast Du den Leuten Angriffspunkte für Streitigkeiten bekanntgegeben. Sie werden die ehrwürdigen Gebräuche und den guten Anstand aufgeben und werden trachten, sich auf die geschriebenen Gesetze zu stützen. Sie werden über Dinge, wie die Spitze einer Aale oder eines Messers streiten. Von der guten Ordnung abweichende Streitigkeiten werden sich vervielfachen und Bestechungen überhandnehmen. In der auf Deine Amtsherrschaft folgenden Zeit wird Ch'ing zugrundegehen. Es geht die Rede: ,Die Vervielfachung rechtlicher Einrichtungen geht dem Fall eines Staates voraus.' Kann man dies nicht auf den aktuellen Anlaß auch anwenden?7." Der so angegriffene Staatsmann schrieb höflich zurück: "Wie Du richtig bemerkst, habe ich weder die Talente noch die Fähigkeiten, für die Nachwelt zu wirken. Mein Ziel ist es, die Gegenwart zu retten. Aber da ich Deinen Rat nicht annehmen kann, habe ich um so mehr Grund, Deine Freundlichkeit nicht zu vergessen8 ." 7 s. Kommentar des Tso zum Chun Chiu des Konfuzius, Herzog Chao, 29. Jahr, in: Legge, Bd.5, S. 609 f. 8 s. ibd., S. 610.

16

1. Abschn.:

Das chinesische Rechtsdenken

Sind im Schreiben Shu Hsiangs die alten Ideale nochmals zusammengefaßt, so wird in der Antwort eine Geisteshaltung offenbar, die in der Folge eine vorübergehende völlige Durchbrechung der sonst so einheitlichen Linie chinesischen Rechtsdenkens verursachte. Der Verfall der Macht des chinesischen Zentralherrschers ab 771 v. Chr.9 ermöglichte eine faktische Unabhängigkeit der einzelnen Feudalstaaten, die miteinander um die Vorherrschaft rangen. In diesem Wirrwarr rasch wechselnder Allianzen und kriegerischer Auseinandersetzungen fehlte den Herrschern die Geduld, durch Beobachtung der Riten das Volk zu vollkommener Tugend zu führen, da sie nicht sicher waren, ob die Früchte ihrer Bemühungen nicht schon ein fremder Eroberer ernten würde ... Dies schuf die Vorbedingung für die Entstehung einer philosophischen Richtung, die in völliger Umkehrung früherer Ideale das gesatzte Recht über alles setzte und sich aus der überwachung von dessen Einhaltung im Wege von Belohnungen und Bestrafungen eine rasche und fühlbare Kräftigung des Staatswesens versprach. Die "Legisten", wie die Angehörigen dieser Schule bezeichnet werden, hatten den Glauben an die Fähigkeit der Menschen, durch tugendhaftes Leben allein Ordnung zu halten, verloren. Shang Yang, einer der Hauptvertreter meinte, ohne generelle Rechtsvorschriften könne nur jemand wie Yao (ein legendärer allweiser chinesischer Herrscher), die Weisen, die Würdigen und Unwürdigen erkennen. In der Welt seien aber nicht alle Yaos. Eine vom Recht bestimmte Ordnung sei daher einer vom Menschen bestimmten Ordnung überlegen, denn Gesetze seien einheitlich und klar10 • Als Shang Yang beim Herrscher des Staates Ch'in vorsprach, der fähige Beamte suchte, enthüllte er sein Konzept nicht sofort. Während der ersten beiden Audienzen sprach er zum sichtlich gelangweilten Herzog über die Methoden der Alten. Als er aber in der dritten Audienz über praktische Wege und Mittel zur Stärkung eines Staates zu referieren begann, hatte er sofort die ungeteilte Aufmerksamkeit des Herrschers für sich. Die Ideen der legistischen Schule, der neben Shang Yang auch Gelehrte wie Li K'uei, Shen Pu-hai und Han Fei-tzu zuzuzählen sind, gewannen in der Folge immer mehr Einfluß. Die strenge Einhaltung 9 Zu den Ursachen s. Gerd Kaminski, Chinas Völkerrecht und Außenpolitik: historische Grundlagen, Wien 1972, S. 26 ff. 10 Vgl. dazu Yuan Sha-chi, Some Reflections on Shang Yang and his Political Philosophy, in: Chinese Culture, Bd.9, Nr.3, Sept. 1968, S.87; E. J. M. Kroker, Rite, Gesetz und Recht (Grundlagen der Rechtsordnung im alten China), in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd.19, 1969, S. 107 ff.; Li Sin-yang, Doctrine du Droit Public en Chine antique, 1928, S.17 ff.; Jyun-hsyong Su, Das chinesische Rechtsdenken im Licht der Naturrechtslehre, S. 103 f.

I. Die antiken Grundlagen

17

der Rechtsvorschriften wurde über alles andere gestellt11 • Und doch - trotz aller Entfernung von den traditionellen Vorstellungen - findet man selbst in den legistischen Konzepten einen Gedanken bewahrt, der den Einbruch in die Kontinuität chinesischen Rechtsdenkens überbrückbar macht: Das Recht, so sehr man auch seine Bedeutung herausstreicht, wird nicht um seiner selbst willen so gerühmt, sondern es ist jenes Mittel zum Zweck, das die Legisten aus der Situation der Zeit heraus für die Stärkung der Staaten am geeignetsten gehalten haben. Es ist zu betonen, daß selbst die extremsten chinesischen Verfechter einer ausschließlichen Bindung an das gesatzte Recht eine Distanz wahrten, indem sie das Recht nicht als eigenständigen Wert, sondern

bloß als Instrument zur Verfolgung ihrer Ziele ansahen11a •

Shang Yang, der die Grundlagen für den Legismus legte, hat dem Ausdruck verliehen, als er sagte, wenn das Volk einmal gelernt habe, die Strafen zu fürchten und dem Recht zu gehorchen, werde es nicht mehr nötig sein, Strafen zu verhängen, da niemand ein Verbrechen begehen werde. Sei einmal dieses Stadium erreicht, so käme man ohne Recht aus und könne das Volk unbehelligt lassen12 • Zu dieser letzten Erprobung der legistischen Lehren sollte es aber nicht mehr kommen. Einen letzten großartigen Aufschwung erlebten sie unter dem Reichseiner und Begründer der kurzlebigen Ch'in-Dynastie Shi Huang Ti, dessen Premierminister Li Ssu legistische Vorstellungen verwirklichte1 3 • Bereits der Sohn des Kaisers jedoch konnte sich nicht 11 Han Fei-tzu (gest. 223 v. Chr.) umreißt die legistische Position mit folgendem Beispiel: "Der alte Markgraf Chao von Han (358-333 v. Chr.) war betrunken eingenickt. Der Kronenverwahrer, der seinen Herrscher der Kälte ausgesetzt vorfand, breitete einen Mantel über ihn. Als der Markgraf erwachte, war er darüber erfreut und fragte seine Dienerschaft: ,Wer hat den Mantel über mich gebreitet?' ,Der Kronenverwahrer' lautete die Antwort. Hierauf befand der Markgraf, daß sich beide, der Mantelverwahrer und der Kronenverwahrer schuldig gemacht hatten. Der Mantelverwahrer, weil er seine Pflichten versäumt und der Kronenverwahrer, weil er die seinen überschritten hatte." Han Feis Kommentar dazu: "Dies geschah nicht, weil der Markgraf vor einer Erkältung nicht etwa Angst gehabt hätte, sondern weil er die Kompetenzüberschreitung für schwerwiegender hielt, als die eigene Erkältung." - s. Han Fei Tzu, Kap.7. Vgl. auch P. Josef Thiel, Die Staatsauffassung des Han Fei Tzu, in: Sinologica, Bd.6, 1960, S. 171 ff. l1a Vgl. Günther Winkler, Wertbetrac:htung im Recht, Forschungen aus Staat und Recht, Nr. 12, Wien.,--New York 1969, S. 39 ff. 12 S. J. J. L. Duyvendak, The Book of Lord Shang, London 1928, S.285; vgl. Yuan Sha-chi, Some Reflections on Shang Yang and his Political Philosophy, S.89. Needham meint allerdings dazu, es handle sich hier um eine beinahe ebenso leere Phrase wie die vom Krieg, um weitere Krige unmögljch zu machen. - s. J. Needham, Science and Civilization in China, Cambridge 1956, S.207. 13 Vgl. Dirk Bodde, China's First Unifier: Li Ssu, Honkong 1967, S. 181 ff.; Charles C. Kung, The Legalist School and Shi Huang Ti, in: Chinese Culture, Bd. 4, Nr. 3, Okt. 1962, S. 108 ff.

2 Kaminski

1. Abschn.: Das chinesische Rechtsdenken

18

auf dem Thron halten. Der Unmut der Bevölkerung gegen den Drill und Zwang der Ch'in machte SIch Luft und der Begründer der RanDynastie, LlU Pang, beeIlte SIch, dle Aufhebung der alten pedantischen Vorschriften zu verkünden (207 v. Chr )14. Selbstverständlich vermochte aber auch er nicht bloß mIt drei Gesetzartikeln, wie er damals ankündigte, sein Auslangen zu finden. In Wirklichkeit waren es wohl noch immer Shang Yangs und Ran Feis jurIStische Techniken, die unter dem Mantel eines lalssez faire Prinzips das zerrüttete frühe Ran-Reich zusatmnenhielten14a • Zur Zeit der Regierung des Kaisers Wu-ti (179 v. Chr.-104 v. Chr.) hatten die Konfuzianer allerdings bereits so viel Macht erlangt, daß Tung Chung-shu den Herrscher bItten konnte, die konfuzianischen Klassikrer ZU alleinigen Studlenunterlage zu erklären und die legistischel!l Aut~n auszuschließen. Damit war zumindest formell bis zum Ende der chinesischen Moder V'6rr~ng von Li und Ch'ing vor den Rechtsnormen wieder hetgeStellt w. Dies bedmgte eine Gesamtbetrachtung von Streitfällen, bei der trotz auch später erfolgten Zusammenstellungen von Strafrechtskodizes dem Rt!cl1t nur eine subsidiäre Bedeutung zukam. In erster Lin1~ ga]t es, die- ~t-l.ing der guten Ordnung zu vermeiden und durch eitte· erttspteclien~ Set'iicksichtigung der Riten Streitfälle von vornehe:reinzu verrru!iden. Die Von Kui Wan-jung im Jahre 1211 zusammengestl!!llte SatnmlutJg lmrilhmter Rechtsfälle, die sich zwischen dem dritten Jahrh~ndert und dem elften Jahrhundert nach Christus zunarchi~

n "Väter \lIlld Altere, zu lllnge habt ihr unter den unmenschlichen Geder eh'in ges.ti:ihnt: ffie, welche die Regierung kritisierten, wurden zusammen mit ihren Flamilien ausgelöscht, die welche privat sprachen, öffentliCh auf dem Marktplatz hingericlttet. ICh rrt6c!hte mit euth, 'Vliter und Ältere, einen Vertrag auf Basis bloß dreier Gesetze seh1ießen: der jemand tMet, wird auch getötet, der jemanden ver'Wi!J.n'6et ~r jertf!itttlen fH!~ilt Odl:n" ~gtieh1t, wird eine angemessene Strafe eilfahron·. Was -den ReSill betrifft, so sinä die Gesetze der eh'in aufge·hoben ....... s. Shih Chi, KM, Tzu PeIl. Cht. ua Fra ~uhn hat itI Seiher Arl;l.eit .,rJa:!i 'Oschong Lun des Tsui Schi" Ilcb evti '. " da-~~ine PoUtik der schWe'rE\!1 Str:afen auch noch in der Hander tmtweilliig War und von den Konfuzianern gEldu1det Wurd~; ~ s. AM1~n/:l>h1tigen der K. Preußischen Akademie d. Wissenschaften, Jahrgang 1914; Phi:r."'histKl~. S.21ff. 15 Arurultlerken 1St anetillngs, daß die· iegiStischen Amtaren auch in den Gelehr'l!enmkeln späterer IDytiliStien galesl:!h wurden 'lfnd sie den einen oder anderen Philosophen beeinflußten, wenn auch ihr Einfluß nie wieder dominant wutd~. - So (!twa' greiitdet Gelehrt!!' Haang '!Il'sung-hsi (1610-1695) der s~ätetien Mitig'-Dynastie in, saifiM 1663 v~faßten J!lÖI1tischen Traktat Ming~i tai-fliDg Ieglstirscltle .Jde'en a\i-f, w{!nn er 'in ,dem 'Kapitel "über das Recht" ausführt: "Einige Kommentatoren sagen, die Regierung werde durch den M®s.C!ben un,d, nicht rdurcll das Gese~bestimmt~ ich mtlchte sagen, daß die Regierung dur.ch das Recht \fQr dM Regi~ 4t'rrcb doo Menschen kommen sollte." se~en

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"Z~'lts'clilhien"

I. Die antiken Grundlagen

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getragen haben (T'ang-Yin-Pi-Shih) liefert dazu ein illustratives Beispiel aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. Sie erzählt von einem Beamten namens Chen Shih, der nicht nur Streitigkeiten entschied, sondern auch versuchte, die Streitteile auf den Pfad der Tugend zu führen. Eines Nachts bemerkte er einen Dieb, der sich auf dem Balken des Hauses versteckt hatte. Er tat so, als sehe er ihn nicht, hielt aber seiner Familie einen Vortrag über die Vorteile harter Arbeit. Räuber und Diebe seien nicht von Natur aus schlecht, sondern durch Müßiggang verdorben worden. - Wie zum Beispiel auch jener Herr am Balken. Dieser erschrak so sehr, daß er zu Boden fiel. Er bekam von Chen Shih weitere moralische Vorhaltungen zu hören und wurde schließlich mit einem Geschenk entlassen. Der tief bewegte Dieb wurde anständig und als sich die Geschichte herumsprach, waren die Leute davon so beeindruckt, daß in diesem Bezirk keine Diebstähle mehr vorkamen16 • Kam es trotz der Propagierung der Riten, die das Entstehen von Auseinandersetzungen verhindern sollte, zu einem Streitfall und wurde dieser einem Beamten zur Entscheidung vorgelegt, was wegen der von den Chinesen bevorzugten informellen Streitschlichtungen nicht die Regel war17, so bemühte sich auch dieser vorerst, die Sache gütlich zu regeln. In der oben erwähnten Sammlung berühmter Rechtsfälle findet sich auch die Erzählung eines Streites zweier Brüder um Land. Der Beamte Su Ch'ing, der zur Entscheidung aufgerufen war, sagte zu ihnen: "Die wichtigste Sache auf der Welt ist die brüderliche Liebe und die unwichtigste das Eigentum. Warum für die unwichtige Sache streiten und die wichtigste opfern?" Nach Aussage des Buches seien die beiden Brüder hierauf einander um den Hals gefallen und hätten nach zehn Jahren der Trennung wieder eingewilligt, miteinander zu leben. War mit gütlichem Zureden nichts auszurichten, so gingen die Parteien, deren mangelnde Konzessionsbereitschaft vom Standpunkt des Konfuzianismus zu mißbilligen war, das Risiko ein, daß der mit umfassenden Gewalten ausgestattete Beamte zu für sie völlig unvorhersehbaren Schlüssen und Entscheidungen kam. Nicht zufällig enthält eine alte chinesische Redensart eine deutliche Warnung an alle Streithähne: "Laßt den Hausherrn Streit vermeiden, denn eine Rechtsangelegenheit bringt nichts als Ärger." Und der chinesische Kaiser K'ang-hsi (1663 bis 1722) meinte: "Es ist gut, daß die Menschen sich vor den Gerichten fürchten. Ich wünsche, daß jene, welche sich an die Richter wenden, 16 s. John. C. H. Wu, Chinese Legal Philosophy, ABrief Historical Survey, in: Chinese Culture, Bd. 1, Nr.4, April 1958, S. 10. 17 Vgl. Jerome A. Cohen, Chinese Mediation on the Eve of Modernization, in: California Law Review, Bd.54, 1966, S.1207. 2*

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1. Abschn.: Das chinesische Rechtsdenken

ohne Mitleid behandelt werden. Mögen sich doch alle guten Brüder untereinander wie Brüder vertragen und Streitfälle dem Urteil der Greise und Ortsvorsteher vorlegen. Was aber die Streitsüchtigen, die Eigensinnigen und die Unverbesserlichen betrifft, so sollen sie nur von den Beamten zerschmettert werden. Das ist das einzige ihnen zukommende Recht1 7a,17b." Daher wurden Leute, welche - und sei es in bester Absicht - für andere Klageschriften aufsetzten, unbarmherzig bestraft. Ein moralisch überlegener Mensch, der sich von den Riten leiten ließ, glich die Verfolgung seiner Rechte den Notwendigkeiten und Wünschen der anderen Mitglieder der Gesellschaft an und gab da nach, wo Beeinträchtigungen der universellen Harmonie zu vermeiden waren. Hatten die Parteien dies verabsäumt, so war es vordringlichste Aufgabe des Richters, die verletzte Harmonie wiederherzustellen. Dazu brauchte er natürlich umfassende Befugnisse, die ihm ein vom Parteibegehren völlig unabhängiges Vorgehen ermöglichten. So versteht es sich auch, daß im alten China zwischen Zivil- und Strafgerichtsbarkeit keine Trennung bestand, da ein in einem Zivilstreit im Unrecht befindlicher zugleich ein Ordnungsstörer war und um der gestörten Ordnung willen bestraft werden mußte18 • Die Verletzung der vorgeschriebenen Formen bei der Verpfändung etwa wurde auch mit Stockschlägen bestraft. Entscheidungen mit generell abstrakter Automatik gab es im alten China nicht. Alles wurde untersucht, erwogen, und schließlich fällte der Richter eine allein auf den konkreten Fall bezogene Entscheidung19 • Diese Praxis blieb während der gesamten Dauer der Monarchie bestehen, und es wird zu Recht angezweifelt, daß die Chinesen die zugrundeliegenden Prinzipien sozialen Verhaltens zur gegenwärtigen Zeit mehr als oberflächlich geändert haben20 • Wie sehr den Riten und ihrer Ausdeutung in den konfuzianischen Klassikern bei der Beurteilung eines Falles besonderes Gewicht zukam, zeigt ein Fall, der sich in der späteren Chin-Dynastie (936-946) abspielte. Einem Mann wurde sein Erbe mit der Begründung verweigert, daß er den Vater verlassen habe und nach dem Tod seiner Mutter nicht

17a Zitiert nach Ernst von Hesse-Wartegg, China und Japan, 2. Aufl., Leipzig 1900, S. 48. 17b s. die bei Bodde-Morris, Law in Imperial China, Cambridge (Mass.) 1967, S.413-417, angeführten Fälle. 18 Vgl. Tsao Wen-yen, The Development of Chinese Law, Taipei 1953, S. 3 f. 19 Vgl. Creel op. cit. S. 163 f.; Tsao Wen-yen, Equity in Chinese Customary Law, in: Chinese Culture, Bd.3, Nr. 2, Dec.1960, S.9. 20 Vgl. Tsao Wen-yen, ibd., S.14.

1. Die antiken Grundlagen

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heimgekehrt sei, um zu trauern. Einem solchen Menschen könne man kein Land anvertrauen21 • Die Freiheit des chinesischen Richters und seine ausschließliche Verpflichtung, durch eine gerechte Entscheidung die gestörte Harmonie wieder herzustellen, wird vollends in dem Fall deutlich, der von einem Mann berichtet, der zur Zeit der westlichen Han-Dynastie lebte (206 v. Chr.-24 n. Chr.) und ein umfangreiches Vermögen hinterließ. Zur Zeit seines Todes hatte er einen dreijährigen Sohn und eine Tochter von schlechten Charaktereigenschaften. Vor der versammelten Sippe bestimmte der Mann, sein gesamtes Vermögen der Tochter auszufolgen. Seinem Sohn vererbte er bloß sein Schwert, das diesem an seinem fünfzehnten Geburtstag auszufolgen war. Als die Tochter dem jüngeren Bruder selbst das Schwert vorenthielt, wurde die Angelegenheit dem Minister Ho-Wu vorgetragen, der folgende Ansicht vertrat: Eigentlich habe der Erblasser die Absicht gehabt, alles dem Sohn zu hinterlassen. Da er aber um die schlechten Eigenschaften der Tochter und ihres Mannes wußte, fürchtete er für das Leben des Sohnes und vermachte ihm daher nur das Schwert zum Zeichen, daß er im richtigen Alter die Sache selbst in die Hand nehmen müsse. Nicht nur das Schwert, sondern die gesamte Hinterlassenschaft sei von Anfang an dem Sohn zugedacht gewesen und ihm daher auch zu überlassen22 • Die so plastisch gemachten Grundlagen chinesischen Verständnisses von Recht und Gerechtigkeit wurden bis in die Ch'ing-Dynastie (1644-1911) tradiert und sind auch dort noch nachzuweisen. So wurde etwa vom Gouverneur Han der Provinz Kiangsi ein Mann zwar von der Mordanklage freigesprochen, da sich der Todesfall als Selbstmord erwiesen hatte. Im Zuge der Nachforschungen hatte der Gouverneur jedoch festgestellt, daß dieser Selbstmord aus einer vom Angeklagten heftig vorgetragenen, wenn auch völlig rechtmäßigen Einmahnung einer Schuld resultiert war. Er befand, daß der Angeklagte in diesem Punkt gegen die Riten verstoßen hatte und verurteilte ihn zu nicht weniger als achtzig Stockschlägen mit dem schweren Bambus23 • Ein andermal überprüfte Han Wen-Ch'i in einer Streitigkeit um Land die Billigkeit der geforderten Kaufsumme, obwohl dies überhaupt nicht Gegenstand des Parteibegehrens gewesen war 4 • Ebenso tritt uns auch aus den Entscheidungen des Gouverneurs Han mit unverminderter Frische das konfuzianische Bestreben entgegen, Streitigkeiten überhaupt den Boden zu entziehen. K. H. Van Gulik, T'ang-Yi-Pi-Shih, Leiden 1956, S.176t. s. ibd. 23 Thomas Francis Wade, Key to the Tsu Erh Chi, Bd.l, London 1867, S. 72; s. auch ähnlich gelagerte Fälle bei Bodde - Morris, Law in Imperial China, S. 409-413. 24 s. ibd., S. 43. 21 S.

2!

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1. Abschn.:

Das chinesische Rechtsdenken

- Seine Urteile, die er dem Kaiser vorlegt, enthalten nicht nur Spruch und Begründung, sondern auch häufig Vorschläge, wie man durch geeignete Maßnahmen derlei Störungen in Zukunft vermeiden könnte25. Als Beispiel dafür, daß die Richter auch während der Ch'ing Dynastie wegen der Berücksichtigung von Riten und Billigkeit in bestimmten Fällen ihr Urteil contra legem fällten, sei noch der Fall eines Beamten erwähnt, der entgegen dem strengen Gesetz, das es verbot, größere Reismengen aus Peking aufs Land zu transportieren, seine Leute in die Stadt schickte, um Verpflegung für Soldaten, die gerade mit öffentlichen Bauarbeiten beschäftigt waren, herbeizuholen. Das Gericht befand, daß der Mann in öffentlichem Interesse gehandelt habe und daher überhaupt nicht zu bestrafen sei. Da es aber rechtspolitisch unklug erschien, überhaupt keine Strafe zu erlassen, verurteilte man ihn statt auf 100 Schläge mit dem schweren Bambus, die in vielen Fällen den Tod herbeiführten, zu 40 Schlägen mit dem leichten Bambus für "eine Handlung, die man nicht tun soll"25a. Dafür, daß Riten und Klassiker trotz steigenden europäischen Einflusses sogar bis zum Ausgang der Monarchie wichtiger blieben, als das Gesetz, kann niemand geringerer als Mao Tse-tung als Zeuge aufgerufen werden. Wie er Edgar Snow in Yenan erzählt hat, brachte seinen Vater ein wegen eines vom Gegner richtig angebrachten Klassikerzitates verlorener Prozeß dazu, den Jungen zur Schule zu schicken28 •

n. Die Zeit der Republik Die Einteilung, der hier gefolgt wird, kann deshalb nur zeitlich verstanden werden, weil die Errichtung der chinesischen Republik im Jahre 1912 in den rechtlichen Anschauungen der Chinesen kaum eine Änderung herbeiführte. Erstens wußte die große Masse der chinesischen Bevölkerung die längste Zeit gar nicht, daß sich ein Wandel im Regierungssystem vollzogen hatte. - Frau Dr. Chang Sun-fen (Universität Sofia), die 1936! als Mitglied einer Studentenpropagandatruppe die umliegenden Dörfer Pekings besuchte, wurde von der Landbevölkerung wiederholt gefragt, warum alles so in Unordnung sei und warum denn nicht endlich der Kaiser Ordnung schaffe27. 25 s. ibd., z. B. S. 45, wo er vorschlägt, die Landgrenzen eines bestimmten Gebietes neu zu markieren, um künftige Dispute hintanzuhalten. 25a S. Derk Bodde-Clarence Morris, S. 185 f. 26 s. Edgar Snow, Roter Stern über China, Frankfurt 1970, S. 169. 21 s. Chang Sun-fen, The December 9 and the December 16 Students Movement, in: China Report, Nr.3, 1972, S.39.

H. Die Zeit der Republik

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Zweitens war die Haltung der Kuo Min Tang zu Rechtsproblemen nicht sehr profiliert. Jean Escarra schreibt in seinem 1936 in Peking und Paris erschienenem Werk "Le Droit Chinois" zutreffend, daß China noch keine festen Rechtsanschauungen entwickelt habe!'!. Die Kuo Min Tang experimentierte mit abendländischen Rechtsvorschriften doch wurden vom Volk nur solche Vorschriften anerkannt, die mit den Riten übereinstimmten28a• Selbst die Richter wendeten abendländisches Recht in konfuzianischem Geiste an29 • Auch Sun Yat-sen, Vater und Theoretiker der chinesischen Republik orientierte sich in seinen auf das Recht bezogenen programmatischen Schriften an den traditionellen chinesischen Vorstellungen. Er betrachtete die Riten als Teil des Rechtes und bemühte sich, eine Verschmelzung von Li (Riten), Ch'ing (Menschlichkeit oder Billigkeit) und Recht herbeizuführen. Das Recht müsse sich, so sagt er, mit Ch'ing und Li im Einklang befinden, um praktikabel zu sein!9a. Also lebten die vom bürgerlichen Revolutionär Sun Yat-sen gutgeheißenen alten chinesischen juristischen Traditionen weiter. Escarra bestätigt, gestützt auf seine in China gesammelte reichhaltige Erfahrung, daß die Riten das Recht weiterhin an Bedeutung überragten. Seiner Ansicht nach waren die chinesischen Juristen in sämtlichen Fällen nicht geneigt, das Recht in seiner gesamten Schärfe und Abstraktion anzuwenden30 • Hauseigentümer wurden etwa zuweilen aus Billigkeitsgrunden daran gehindert, arme Mieter zu delogieren, obwohl ihnen gemäß des Gesetzes jene Möglichkeit unbeschränkt offenstand31 • Verträge, welche unter Verletzung der Vorschriften des Zivilgesetzbuches von 1910, aber unter Beachtung eines lokalen Brauches abgeschlossen worden waren, wurden für gültig befunden31a• Ein bezeichnendes Licht auf die damaligen Verhältnisse wirft ein Fall, der sich im Jahre 1926 vor dem gemischten Gerichtshof in Shanghai abgespielt hat. Während sich die eine Streitpartei auf eine zur damaligen Zeit die Unterinstanzen bindende Entscheidung des Obersten Gerichtshofes zu Peking stützte, machte die andere einen lokalen Handelsbrauch dagegen geltend. Dabei entspann sich folgende Wechselrede: s. Jean Escarra, Le Droit Chinois, Peking-Paris 1936, S.436. Vgl. Eduard J. M. Kroker, Die amtliche Sammlung chinesischer Rechtsgewohnheiten, Bergen-Enkheim 1965, Bd. 1, S. 43. 29 Vgl. Edward J. M. Kroker, Die Strafe im chinesischen Recht, Opladen 1970 (in der Reihe der Vorträge der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften), S. 10. 29a s. John C. H. Wu, Chinese Legal Philosophy, S. 41 U. 30 s. Escarra, op. cit., S. 79 f. 31 s. ibd., S. 82. 31a s. Kroker, Die amtliche Sammlung chinesischer Rechtsgewohnheiten, S. 18 f., 149 ff. 28

28a

1. Abschn.: Das chinesische Rechtsdenken

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Beisitzer: Respektieren Sie Ihren Obersten Gerichtshof zu Peking? Zeuge:

Natürlich schulden wir ihm als chinesischer Einrichtung Respekt. Aber wenn eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes nicht gut ist, haben wir Kaufleute nicht die Mittel, das zu ändern.

Beisitzer: Wollen Sie damit sagen, daß Sie besser in der Lage sind, zu entscheiden, ob eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes gut oder schlecht ist, als die kompetentesten Männer Chinas? Zeuge:

Nein, wir Kaufleute machen im allgemeinen das, was die anderen Kaufleute machen.

Beisitzer: Nun, werden Sie der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes gehorchen oder nicht? Zeuge:

Wenn das Urteil vernünftig ist, werde ich ihm gehorchen. Wenn es nicht vernünftig ist, dann werde ich ihm nicht gehorchenn .

Auch die Klassiker kamen im Rahmen der Gerichtsverfahren der chinesischen Republik nicht zu kurz. Ein Bericht der China Press vom 25. September 1929 beweist, daß sich selbst europäische Anwälte mit den Lehren der chinesischen Weisen vertraut machen mußten, um vor Gericht erfolgreich auftreten zu können. Der Anwalt Dr. O. Fisher verlas ganze Abschnitte der "Gespräche" von Konfuzius, um nachzuweisen, daß die Verurteilung seiner beiden mexikanischen Mandanten durch das Shanghaier Gericht wegen des Betriebes einer Spielhölle nach Meinung des großen Philosophen eine "despotische Grausamkeit" wäre. Solche Vorgangsweisen, welche nur von der chinesischen Rechtstradition her verständlich sind, mochten manche Europäer in Erregung versetzen. Der chinesische Richter brachte dafür ein hohes Maß an Verständnis auf. Noch im Jahre 1947 gab Chu Chung, Oberster Richter in China, folgende Stellungnahme zur Reform des chinesischen Gesetzessystems ab: "Gesetze können zwar einer guten Regierung nützlich sein, aber sie sind nicht der wesentliche Faktor für die Herstellung des Friedens und der Harmonie ... Mit Menschen wird regiert und nicht mit Gesetzen ... Die Gesetze haben von sich aus keine Wirksamkeit ... Gibt man dem richtigen Menschen die Macht dazu, so wird es Gesetze geben. Geht er unter, so werden auch die Gesetze verschwinden. Der integre Mensch ist selbst Rechtsquelle. Ist der Herrscher ein lauterer Mann, so wird im Lande Ordnung sein, auch wenn es nur wenige Gesetze 32

s. Escarra, op. cit., S. 81.

III. Die Zeit der Volksrepublik

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kennt. Ist er aber kein anständiger Mensch, so wird er die Anwendung von Gesetzen nicht begreifen, auch wenn sie noch so vollständig sind. Noch wird er verhindern können, daß die Lage des Landes sich fortwährend verändert. Und das wird dann das Chaos sein... Das Gedeihen des Staates hängt allein von der Fähigkeit und vom Verhalten der Herrscher ab 3s . " - Man könnte diese Stellungnahme ohne weiteres vordatieren und einem vor tausend oder zweitausend Jahren lebenden Konfuzianer unterschieben, ohne daß dies auffallen würde. Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, daß die in ihrem Bezug auf das Ganze zu begreifende chinesische Rechtsauffassung von der europäischen grundverschieden - ja mit ihr kaum zu vereinbaren ist. Die angeführten Beispiele machten deutlich, daß zur Zeit der Republik europäische Rechtsanschauungen keineswegs bis zu den breiteren Volksschichten durchgedrungen sind, ja daß sie sich nicht einmal bei den höchsten Richtern durchsetzen konnten. Die Rechtsauffassung der Volksrepublik China, die erst auf eine Tradition von etwas mehr als zwanzig Jahren zurückblicken kann, muß unter diesen Aspekten gesehen werden. III. Die Zeit der Volksrepublik

Den chinesischen Kommunisten standen im wesentlichen drei Grundpositionen zum Recht offen. 1. Weitgehende übernahme europäischer Modelle, wobei in erster Linie das Modell des sowjetischen Nachbarn in Frage kam.

2. Rückgriff auf die Konzepte der legistischen Schule, wobei die dort vorgesehene Stärkung des Staatswesens der von Mao-Tse-tung vorgesehenen "demokratischen Diktatur des Volkes" möglicherweise zugute kommen konnte. 3. Eine modifizierende Weiterführung der klassischen Tradition. Die kommunistische Führung, die bereits vor der übernahme der Kontrolle im gesamten Staatsgebiet in kommunistischen Basisgebieten eine Art rudimentäres Rechtssystem geschaffen hatte 33 , entschloß sich nach der Begründung der chinesischen Volksrepublik vorerst zu einer starken Anlehnung an das sowjetische Vorbild, was an Hand der anschließenden Entwicklung von sowjetischen Autoren bestätigt und begrüßt wurdeS38 • Bis 1957 hatte man eine Verfassung und eine Reihe 33 Vgl. Leng Shao-chuan, Justice in Communist China: A Survey of the Judicial System of the Chinese People's Republic, New York 1967, S.1-26; Jerome Alan Cohen, The Party and the Courts: 1949-1959, in: The China Quarterly, Nr.38, April/Juni 1969, S. 128 ff. 338 s. Harold I. Berman, Soviets on Chinese Law, in: Jerome Alan Cohen (Hrsg.), Contemporary Chinese Law, Cambridge (Mass.) 1970, S.317.

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1. Abschn.: Das chinesische Rechtsdenken

anderer Gesetze beschlossen, Staatsanwaltschaften und Volksgerichtshöfe eingerichtet34, 34a. Ein umfassendes Gesetzbuch, welches die Rechte und Pflichten der Privatpersonen und Funktionäre enthalten sollte, war angekündigt. Unzulänglichkeiten wurden der mangelnden Erfahrung mit dem neuen System zugeschrieben, und man erwartete sich, daß sie mit Konsolidierung des neuen Systems verschwinden würden. Der Rechtsunterricht wurde gefördert und der Arbeit der mit Rechtsangelegenheiten befaßten Institutionen eine breite Publizität gegebenS6 • Bevölkerung und Funktionäre wurden dringend ermahnt, sich strikt an die Gesetze zu halten. In diesem Zusammenhang rief Tung Pi-wu, der heutige Staatspräsident und damalige Präsident des Obersten Gerichtshofes, in seiner Rede vor dem Parteikongreß des Jahre 1956 alle Organe der öffentlichen Sicherheit, alle Staatsanwälte, Gerichtshöfe und alle anderen staatlichen Organe auf, ihren Aufgaben unter Beachtung der Cksetze nachzukommen. Wörtlich sagte er: " ... Ich glaube, daß die Erledigung aller Angelegenheiten in Einklang mit den Gesetzen die wichtigste Voraussetzung für die Herausbildung eines gesünderen und stärkeren volksdemokratischen Rechtssystems darstellt ... " Er setzte hinzu, diese Vorgangsweise habe zwei Aspekte. Erstens müßten weitere wichtige Gesetzeswerke rasch geschaffen und verkündet werden, und zweitens müsse auf die Parteimitglieder erzieherisch eingewirkt werden, um ihnen klarzumachen, daß die Verletzung staatlicher Vorschriften auch eine Verletzung der Parteidisziplin bedeute38• Der Schein, daß das chinesische Rechtsdenken endlich in europäische Bahnen gelenkt worden sei, trügte jedoch. Die mit Rechtsfragen befaßten Institutionen waren personell nicht einheitlich besetzt. Den von der KMT übernommenen oder neu eingestellten Berufsjuristen standen Kader gegenüber, die über ihre Parteikarriere in diese Stellung ge34 Aufstellung und Text der erwähnten Gesetze finden sich bei: Theodore H. E. Chen, The Chinese Communist Regime (Documents and Commentary), London 1967, S.63-113. 34a S. L. M. Gudoschnikow, Der staatliche und rechtliche Aufbau (Chinas), Kap. IV von: "Die VR China - Wirtschaft, Staat, Recht und Kultur," Berlin (Ost) 1972, S. 168 ff. 311 Vgl. Victor H. Li, The Role of Law in Communist China, in: The China Quarterly, Nr.44, Okt./Dez. 1970, S. 79 f.; Oskar Weggel, Die Gesetzgebung in der Volksrepublik China, in: Verfassung und Recht in Übersee, Heft 2, 1970, S.140; Jerome Alan Cohen, The Criminal Process in China, in: Donald W. Treadgold, Soviet and Chinese Communism, 3. Aufl., Washington 1970, S. 109 ff.; idem, The Criminal Process in the People's Republic of China, 1949-1963: An Introduction, Cambridge (Mass.) 1968; David C. Buxbaum, Preliminary Trends in the Development of the Legal Institutions of Commtinist China and the Nature of the Criminal Law, in: The International and Comparative Law Quarterly, Bd. 11, 1962, S. 1-30. 36 s. Foreign Languages Press: Speech by Comrade Tung Pi-wu, Eighth National Congress of the Communist Party of China, Peking 1956, S. 94-96.

III. Die Zeit der Volksrepublik

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kommen waren. Sie waren nicht nur juristisch kaum geschult, sondern betrachteten auch die professionellen juristischen Praktiken mit unverhohlenem Mißtrauen. Sie, die sich in den kommunistischen Basisgebieten ihre Sporen verdient hatten, waren einen einfachen und flexiblen Arbeitsstil gewohnt und wußten mit einem wuchernden komplizierten Rechtssystem immer weniger anzufangen. Unmutig forderten sie ihre Kollegen zu einer Reduktion der vielen Verfahrensregeln und zum übergang zu einem weniger formalistischen Arbeitsstil auf37• Auch die Bevölkerung schien von der Behandlung von Rechtsstreitigkeiten riach europäischem Muster nicht begeistert, und es ging die Redensart um: "Vor den Gerichtshöfen der Kuomintang brauchte man für die Erledigung eines Falles viel Geld. Nun braucht inan ein langes Leben38 ." Das unter dem Zeichen der Anweisung Mao Tse-tungs "Laßt hundert Blumen blühen" stehende Intermezzo des Frühjahrs und Sommers 1957 schien zuerst der kleinen, aber einflußreichen Gruppe europäisch geschulter chinesischer Juristen eine Chance zu geben. Mao Tse-tungs Einladung, den Arbeitsstil der Partei durch Kritik zu verbessern, fand bei ihnen ein lebhaftes Echo. Sie beschuldigten die Partei, das Recht nicht genügend hoch zu achten, während Massenbewegungen die Legalität zu verletzen, die judiziellen Organe mit ungeschulten Parteimitgliedern zu belasten sowie die Trennung zwischen Partei und Regierung zu mißachten. Außerdem wurde die Partei beschuldigt, die Erarbeitung weiterer Kodifikationen zu wenig zu fördern. - "Man hört die Tritte auf der Treppe, ohne daß jemand herunterkommt", meinte einer der Kritiker zur Säumigkeit der ParteiführungS9 • Die über Umfang und Intensität der Kritik sehr überraschte Parteiführung antwortete mit einer abrupten Kursänderung. Im Zuge der bald darauf initiierten Bewegung gegen die Rechtsabweicher wurden die intellektuellen Kritiker nun selbst Zielscheibe heftiger Kritik. Besonders die studierten Juristen wurden mit heftigen Vorwürfen konfrontiert, in die ihre von der Partei entsandten pragmatisch orientierten Kollegen nur zu gerne einstimmten. Aktivität und Prestige der meisten mit judiziellen Funktionen betrauten Organe reduzierten sich in der Folge auf drastische Weise. Die sichtbar gewordene neue Linie deutete auf eine Abkehr von der Anlehnung an europäische Modelle und auf eine Besinnung auf spezielle chinesische Bedürfnisse und Traditionen hin. Mit den legistischen Philosophen teilten die chinesischen Kommunisten wohl die Ansicht. Vgl. Victor H. Li, loc. cit., S.84. Guang-ming Ri-bao vom 27. August 1952. 39 s. Roderick Mac Farquhar, The Hundred Flowers Campaign and the Chinese Intellectuals, New York 1960, S. 115. 37

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1. Abschn.: Das chinesische Rechtsdenken

das Staatswesen müsse gekräftigt werden, doch waren jene frühen Rechtspositivisten noch mehr auf das gesatzte Recht eingeschworen, als die europäisch ausgebildeten chinesischen Juristen, deren übergroße Betonung der Kodifikationsarbeit eben in das Kreuzfeuer der Kritik gekommen war. Außerdem mochte die Konzentration der Legisten auf die Mittel der Belohnungen und Strafen zwecks Einhaltung der Rechtsvorschriften für die chinesische KP nicht attraktiv gewesen sein. Belohnungen durften neben dem Gefühl, für den Aufbau des Sozialismus zu arbeiten und den Massen verbunden zu sein, nur eine untergeordnete Rolle spielen und wurden später während der Zeit der Kulturrevolution als rückschrittliches Instrumentarium gebrandmarkt. Außerdem hat die Strafe bei den chinesischen Kommunisten in erster Linie Erziehungsfunktion und wird nicht wie bei den Legisten aus dem Zweck verhängt, das System aufrechtzuerhalten40 • Die zweite historisch stärker und kontinuierlicher nachzuweisende Richtung chinesischen Rechtsdenkens stützt sich weitgehend auf konfuzianischen Elementen. Trotzdem eignete sie sich nach einigen Modifikationen hervorragend für den Gebrauch durch das kommunistische Regime. Die Vertreter dieses Regimes waren zu der überzeugung gekommen, daß eine zu große Betonung der Gesetze ihren Zielen kaum dienlich sei. 1958 heißt es in einer juristischen Publikation der Volksrepublik 40 Dagegen vertritt Su Jyun-hsyong die Meinung, die Legistenschule habe mit ihrer Auffassung des Rechtes als realer politischer Klugheit und Macht ohne sittliche Grundlage die Rechtslehre des kommunistischen China stark beeinflußt. - s. Su Jyun-hsyong, Die Struktur chinesischen Rechtsdenkens und ihre Wirkung auf das moderne Recht, S. 323. Dazu ist zu sagen, daß man bei der überprüfung kommunistisch-chinesischer Stellungnahmen zum Recht viel eher an das konfuzianische Modell erinnert wird, wobei an Stelle der Riten die Gedanken Mao Tse-tungs getreten sind. Wie Kroker richtig darauf hinweist, hat Mao Tse-tung in seiner Abhandlung über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk betont, es dürften keine Zwangsmittel angewandt werden, um innerhalb des Volkes (Feinde des Aufbaus des Sozialismus sind davon ausgenommen) bestehende ideologische Differenzen zu lösen. - s. Mao Tse-tung, Vier Philosophische Monographien, 1. Nachdruck, Peking 1971, S. 96 f. Selbst bei Verfehlungen krimineller Natur kennt das kommunistische China ein abgestuftes auf individuelle Behandlung abgestimmtes System, das den Menschen bessern und dadurch in Hinkunft vor weiteren Verfehlungen bewahren soll. - Vgl. Cohen, The Criminal Process in China, S. 138; Kroker, Die Strafe im chinesischen Recht, S.51, 57; Lennart Petri, Einige Betrachtungen über Recht und Rechtssprechung in der Volksrepublik China, in: Juristische Blätter, Jg. 93, Heft 1/2, S. 27 ff .. Dies ist mit den legistischen Vorstellungen, nur mit dem Mittel der Abschreckung durch härteste Strafen könne das Volk zur Einhaltung der Gesetze angehalten werden (Charles C. Kung, The Legalist School and Shi Huang Ti, S.108), ebenso unvereinbar wie sich das legistische Begehren nach allgemeinen gleichbleibenden, sich vom Menschen unabhängig nach Art einer Automatik vollziehenden Gesetzen, mit den Lehren Mao Tse-tungs von der dauernden Revolution nicht in Einklang bringen läßt (vgl. Kroker, Gesetz und Recht, S.35, Fußnote 4).

IH. Die Zeit der Volksrepublik

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China: " ... Im gegenwärtigen Zeitpunkt darf unser Land nur ein paar provisorische Vorschriften ... erlassen, welche im wesentlichen allgemeine Programme und Grundsätze enthalten... Wir sind keine Theoretiker, die glauben, daß Gesetze alles schaffen können ... In einer Periode, in der unsere Gesellschaft ihr Gesicht verändert, ... ist es nicht nötig, ... alle Maßnahmen der Partei in Gesetzesvorschriften umzumünzen ... 41." In einem im April 1959 in der Zeitschrift "Cheng-Fa Yanjiu" veröffentlichten Artikel findet man folgende Stelle: "Das Recht unseres Landes ist ein wechselndes Recht, das der perpetuierten Revolution angepaßt ist ... Bemerkt man, daß ein Gesetz mit der Entwicklung der ökonomischen Grundlagen nicht Schritt hält oder nicht den Notwendigkeiten des revolutionären Kampfes entspricht, wird es ohne Zögern zum alten Eisen geworfen oder abgeändert42 • Dem Volk war die geringe Bewertung von Gesetzen und Organen leicht nahezubringen, entsprach sie doch uralten Traditionen. Wie Van der Sprenkel nachgewiesen hat, sind die meisten Angehörigen der Landbevölkerung, die auch heute noch über 80 Ofo der chinesischen Gesamtbevölkerung ausmacht, während der Kaiserzeit nie mit staatlichen Rechtsorganen in Berührung gekommen. Sie hatten ein praktisches Interesse daran, ihrer Arbeit ungestört nachgehen zu können43 • Die Ordnung, welche dies garantierte, wurde weitgehend von der Familie und Sippe aufrechterhalten44 • Zuweilen mochte man einen s. Oskar Weggel, Die Gesetzgebung in der Volksrepublik China, S.14l. s. China News Analysis, Honkong, 10. Juli 1959, S.2. 43 s. Sybille van der Sprenkel, Legal Institutions in Manchu China, London 1962, S.29. 44 Welche große Bedeutung dem privaten Sippengesetz, das in erster Linie vom Sippenältesten vollzogen wurde, zukam, wird durch einen aus der zu Ende gehenden Ching-Dynastie erhaltenen Vertrag bezüglich des Verkaufes eines Mädchens als Konkubine deutlich. Dort heißt es unter anderem: " ... Wenn sie die Regeln von YÜ lao ye (des Käufers) Haushalt verletzt, so wird es ihm als Familienoberhaupt freistehen, sie zu korrigieren. Es wird nicht in der Gewalt des Vaters liegen, sich einzumischen, Wenn sie krank wird oder in jungen Jahren stirbt, so soll es als Wille des Himmels angesehen werden ... " (s. Tzu Erh Chi, Documentary Series, Bd.1, S.21). Das Strafgesetzbuch der Ching-Dynastie "Da Ching Lu Li" ermöglichte den Sippenältesten weitestgehende Selbstjustiz. Prügelstrafen, die er an der Frau, den Kindern oder den Sklaven vollzog, blieben vom Gesetz ungeahndet. Diesen war sogar die Ahndung von Kapitalverbrechen überlassen. Väter, welche ihre Kinder wegen solcher Handlungen töteten, wurden nicht behördlich zur Verantwortung gezogen (s. Bodde-Morris, Law in Imperial China, S.215, wo ein illustrativer Fall angeführt ist). Andererseits wurden Sklaven, die ihre Herren oder Personen, die Vater, Mutter, Großvater oder Großmutter väterlicherseits schlugen, auf Anweisung der staatlichen Stellen geköpft. Schlug die Hauptfrau ihren Gatten, so zog das eine Strafe von 100 Stockschlägen nach sich, und der Gatte konnte außerdem deshalb die Scheidung einreichen (s. Tsao Wen:"yen, The Development of Chinese Law, S.5). In Geldangelegenheiten beschritt man erst im äußersten Notfall den Gerichtsweg, sondern versuchte zuerst immer über die Vermittlung eines 41

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1. Abscbn.: Das chinesische Rechtsdenken

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außenstehenden Vermittler heranziehen, mit dessen Hilfe eine freundschaftliche mit den Riten im Einklang stehende Lösung herbeigeführt wurde". Es war also im Einklang mit diesen Traditionen, daß von den chinesischen Kommunisten die freundschaftliche, informelle Streitschlichtung ab Sommer und Herbst 1957 wieder besonders betont wurde. Da die feudalen Familienstrukturen abgeschafft worden sind, ersetzte man die Streitschlichtungsfunktion der Sippe durch die anderen Gruppierungen, die Verstöße gegen das "gehörige Verhalten" mit sozialem Druck erwidern. Mit der Schlichtung von Streitigkeiten aus Mietsverhältnissen wurde das Wohnungskontrollbüro, mit der Beilegung von Disputen aus dem Arbeitsverhältnis verschiedene Arbeits- und Gewerkschaftseinheiten betraut48 • Streitigkeiten zwischen Nachbarn wurden innerhalb der Hausgemeinschaft erledigt, Streitigkeiten zwischen Angehörigen des gleichen Ministeriums durch das Ministerium oder für den Fall der Angehörigkeit zu verschiedenen Ministerien durch das Wirtschaftskomitee beigelegt47. Nach Muster der konfuzianischen Gelehrten kamen kommunistische Autoren zu der überzeugung, daß von großen Gesetzeswerken nicht Sippenangehörigen oder Freundes zu einer gütlichen Einigung zu kommen (vgl. etwa das im Tzu Erh Chi auf S.17 angeführte signifikante Beispiel: Der Gläubiger führt in seiner Klageschrift an, er habe, als sein Schuldner es verstand, ihm immer wieder auszuweichen, sich der guten Dienste eines Vermittlers bedient, um die Schuld einzumahnen. Dieser Vermittler habe aber später seinen Wohnort gewechselt, und so sei der Gläubiller dazu gezwungen gewesen, sich wieder selbst um die Angelegenheit zu kümmern. - Im Verlaufe eines seiner Besuche beim Schuldner ist er dann von dessen Familie halb tot geschlagen worden. Erst jetzt ist ihm die Geduld gerissen, und reifte in ihm der Entschluß, zu Gericht zu gehen, was er folgendermaßen begründet: " ... Der Bittsteller erlaubt sich in aller Bescheidenheit, die Vorstellung zu machen, daß die Zurückweisung einer Schuld schlimm genug ist, aber dem noch einen öffentlichen Affront dem Gläubiger gegenüber, weil er die physisch schwächere Partei ist, hinzuzufügen und eine Anzahl von Personen herbeizurufen, ihn gemeinsam zu überfallen, ist ohne Frage im höchsten Maße eine Mißachtung des Rechtes. Selbst nicht in der Lage, dieses schwere Unrecht wieder gutzumachen, das ihm zugefügt worden ist, bleibt Eurem Bittsteller nichts anderes übrig, als zu klagen (Hervorhebung vom

Verfasser). Aus diesem Grunde erfleht er niedergebeugt das Wohlwollen von Euer Ehren, welches wie das des Himmels ist, ihm freundlich gesinnt zu sein, die Parteien vor Euch zu rufen, den Fall zu untersuchen, und die Dankbarkeit für Euer großes Mitgefühl wird ohne Grenzen sein." - Der

Umstand, daß die staatlichen Stellen erst subsidiär, wenn man selbst keinen Ausweg einer privaten Lösung mehr findet, angerufen werden, ist hier voll bestätigt.

s. Cohen, Chinese Mediation on the Eve of Modernization, 8. 1207. s. Victor H. Li, The Role of Law in Communist China, 8. 100. 47 s. ibid., S.101; s. dazu auch Ezra F. Vogel, Voluntarism and Social Control, in: Donald W. Treadgold, Soviet and Chinese Communism, S.175 ff.; zum Vergleich mit den außerjudiziellen Mechanismen der Sowjetunion Leon Lipson, Law: The Function of Extra-Judicial Mechanismus, in: Soviet and Chinese Communism, 8,144-167. 4&

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111. Die Zeit der Volksrepublik

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allzuviel zu halten sei48 • Man befürchtete, die Formulierung und Kundmachung von Gesetzen würde die Menschen streitsüchtig machen und kam immer mehr zu der Ansicht, daß mehr Gesetze das Wohlverhalten der Menschen nicht zu steigern imstande seien. Im Gegenteil, mehr Gesetze würden dazu beitragen, daß die Staatsbürger immer mehr auf ihre Rechte pochten und weniger geneigt sein würden, selbstlos für den sozialen Fortschritt zu wirken49 • Selbstverständlich blieb diese Entwicklung nicht ohne Einfluß auf die rechtswissenschaftlichen Publikationen, welche drastisch zurückgingen49a • Wie einst zur Kaiserzeit wird in China der Mensch in seinem Verhältnis zum Staat und zur Gruppe begriffen. Waren früher die Riten wichtiger als die Gesetze, so sind es heute die Gedanken Mao Tsetungs. Rechtsstreitigkeiten werden daher vor allem im Lichte der Gedanken Mao Tse-tungs geprüft und nach einem ad hoc-Verfahren entschieden und vollstrecktliO. Dabei spielt der Rat von Parteünstanzen, die dem oder den zur Entscheidung Berufenen bei der Interpretation der maoistischen Ideologie behilflich sind, eine große Rolle. Diese 1957 entwickelten Grundsätze entsprechen im wesentlichen auch noch der aktuellen Situation der Volksrepublik China. Zu erwähnen wäre noch, daß nach dem "Großen Sprung", als die Linie des Vorsitzenden Mao Tse-tung, einige Zeit lang von Liu Schao-tschi und dessen Anhang durchkreuzt wurde, wiederum der Ruf nach einer stärkeren Betonung von Gesetz und Justiz ertönte. Der später während der Kulturrevolution zu Fall gekommene Oberbürgermeister von Peing, Pen Chen, forderte die Beseitigung des Mangels an Rechtskenntnissen und propagierte, man möge sich zwei oder drei Jahre mit chinesischen und ausländischen Büchern über juristische Fragen beschäftigen51 • Diese Bestrebung wurde jedoch von der bald darauf einsetzenden Kulturrevolution abgebremst und ins Gegenteil verkehrt61a • 48 s. Arthur Stahnke, The Background and Evolution of Party Policy on the Drafting of Legal Codes in Communist China, in: American Journal of Comparative Law, Nr.15, 1957, S.506. 49 Vgl. Victor H. Li, The Role of Law in Communist China, S.89. 49a Einen statistischen überblick gibt: Tao-tai Hsia, Chinese Legal Publications: An Appraisal, in: Jerome Alan Cohen, Contemporary Chinese Law (Cambridge (Mass.) 1970, S. 28. 60 s. Su Jyun-hsyong, Wesen und Funktion von Staat, Recht und Regierung im Kommunistischen China, in: Osteuropa Recht, Jg.15, Heft 3, Sept. 1969, S.161. 61 Vgl. Oskar Weggel, Die Gesetzgebung in der Volksrepublik China, S. 141. 61a Selbstverständlich wurde diese Entwicklung in der UdSSR kritisch kommentiert. In der Isvestiya vom 12. Febr. 1967 steht auf S.4 zu lesen, China sei vom Prinzip der sozialistischen Gesetzlichkeit abgerückt ohne das es keine wahre Demokratie gebe; vgl. auch Berman, op. cit., S. 319 H.

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1. Abschn.: Das chinesische Rechtsdenken

Das charismatisch legitimierte System wurde überaus stark betont5!. Man verzichtete weitgehend auf institutionelles Denken. Mao Tse-tung, in vielen Schriften und Liedern als der "große Steuermann" Chinas angesprochen, erließ kurze Anordnungen, deren Ausdeutung und Ausführung den ohne gesetzliche Basis errichteten Revolutionskomitees überlassen wurde. Die Rolle Mao Tse-tungs wird in einem der bekanntesten Lieder der Kulturrevolution folgendermaßen geschildert: "Beim Fahren auf hoher See vertraun wir dem Steuermann, wie die Zehntausend Wesen in ihrem Wachstum auf die Sonne vertraun. Wenn Regen und Tau sie benetzen, werden die Sprößlinge stark. So vertraun wir, wenn wir die Revolution betreiben, auf die Gedanken Mao Tse-tungsM ." Wolfgang Bauer erkennt in diesem Lied eine uralte gegen den Konfuzianismus gerichtete Tradition der Verehrung der Sonne und des Lichtes, die seiner Ansicht nach nicht unmittelbar auf chinesische Quellen, sondern auf Einflüsse des während der T'ang-Zeit in China eingedrungenen Zoroastrismus und Manichäismus zurückzuführen is~4. Gewiß mögen diese Einflüsse mitspielen, doch vermögen sie nicht, den politischen Gehalt des Liedes zu erklären. Dieser wird erst dann deutlich, wenn man bedenkt, daß das Gleichnis von Sonne und Tau einer chinesischen Tradition entstammt, die viel weiter zurückreicht, als in die T'ang-Dynastie. Durch dieses Gleichnis wurden nämlich von alters her Position und Funktion des chinesischen Zentralherrschers versinnbildlicht. Das Ideal des Zentralherrschers, der durch sein tugendhaftes Beispiel das Reich positiv und fruchtbringend beeinflußt, findet sich bereits in der Ode "Chan 100" des Buches der Lieder, die mit den Sätzen beginnt: "Schwer liegt der Tau, nichts als die Sonne kann ihn trocknen55 ." Diese Ode, in der der Zentralherrscher mit der Sonne und die Lehensfürsten mit dem von der Sonne beeinflußten Tau verglichen werden, bildete noch in der Zeit der Frühlings- und Herbstperiode (770 v. Chr.-475 v. Chr.), als sich die Lehensfürsten verselbständigt hatten, einen festen Bestand der Oden, die protokollgemäß vom Gastgeber bei Banketten mit ausländischen Diplomaten gesungen werden mußten56 • - Dieses Gleichnis einer später von den Konfuzianern stark s. ibid., S. 150 f. Text in China Reconstructs, Okt.1966; Abdruck bei Wolfgang Bauer, China und die Hoffnung auf Glück, München 1971, S.567. 54 s. ibd., S. 567. 55 s. Shi Chin, 2. Teil, 2. Buch, 10. Lied, in: Legge, The Chinese Classics, Bd. 4, S. 276. 56 Kommentar des Tso zum Chun Chiu, 4. Jahr des Herzogs Wan, in: Legge, The Chinese Classics, Bd. 5, S. 239. 52

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III. Die Zeit der Volksrepublik

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geförderten Leitung des Staates durch das gute Beispiel eines "Erleuchteten" kann kaum zufällig in dieses Lied der Kulturrevolution übernommen worden sein. Wenn auch seitdem die persönliche Verehrung Mao Tse-tungs, die ihm selbst recht lästig warll 7 , abgeklungen ist, besteht doch die vorstehend angedeutete Grundkonzeption weiter und läßt zur Zeit einer Steigerung der Bedeutung des Rechtes und seiner Einrichtungen in China wenig Raum. Diese Vermutung findet durch konkrete Angaben ihre Bestätigung, die von der Österreicherin Gudrun Plattner, welche 1972 China verlassen hat, der Zeitschrift China-Report (Wien) in einem Interview gegeben worden sind. Gudrun Plattner, die in China Volksund Mittelschule sowie mehrere Jahre Fabriksarbeit absolviert hat, weiß zu berichten, daß nunmehr Ehescheidungen den Betriebsleitungen übertragen worden sind, welche nach zwingend vorgeschriebenen Vermittlungsversuchen die entsprechende Bescheinigung ausstellen. Eine umfassende Zuständigkeit für die Regelung von Streitigkeiten aller Art haben ihren Angaben nach die Straßenkomitees bekommen, in dene~ jeweils einige Straßenzüge eines Wohngebietes zusammengefaßt Sind und deren Leitung aus Parteimitgliedern besteht. Im Falle von Zwistigkeiten haben sie schlichtend und belehrend einzugreifen. Flexible, informelle Streiterledigung scheint in China auch noch nach der Kulturrevolution Trumpf zu sein57a • Im Frühjahr 1972, als der Verfasser Universitäten in Peking, Shanghai, Nanking und Wuhan besuchte, waren deren juristische Fakultäten noch sämtlich geschlossen. Die Professoren für Rechtswissenschaft, die er antraf, erklärten, in ihrem Fachbereich hätten die drei Phasen der Kulturrevolution (Kampf, Kritik, Umgestaltung) längere Dauer und sie befänden sich teilweise noch im Stadium der Kritik. Es würde, so sagte man, noch einige Zeit dauern, bis man wieder Vorlesungen über Rechtswissenschaft hören könne. Das Bild wird durch die Tatsache abgerundet, daß trotz eifrigen Suchens in den Buchhandlungen Pekings kein einziges rechtswissenschaftliches Werk aufzutreiben war. Aus den Auffassungen der Volksrepublik China über das innerstaatliche Recht abzuleitende, für das Verständnis chinesischer Positionen zum Völkerrecht relevante Schlußfolgerungen: Maßnahmen der Innenpolitik werden von den Chinesen oft in engem Zusammenhang mit den auswärtigen Angelegenheiten gesehen. Von den konfuzianischen Klassikern werden die alten weisen Könige gerühmt, 67 Vgl. Harry Sichrovsky, Perspektiven der Politischen Entwicklung Chinas, in: China-Report, Nr.4/5, 1972, S. 18 f. 67a S. Else Unterrieder, Gespräche mit Gudrun Plattner, in: China-Report 9/10, 1973, S. 40 f.

3 Kaminski

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1. Abschn.:

Das chinesische Rechtsdenken

die ihren Staat so gut in Ordnung hielten, daß von weit her Abgesandte fremder Völker kamen, um ein Nahverhältnis zu China zu suchen und .ihrer Bewunderung Ausdruck zu verleihen. In der chinesischen Gedankenwelt begreife man kein Ding unmittelbar für sich, sondern nach seiner Stellung im Ganzen und in seinem Bezug auf das Ganze, betonen moderne chinesische Wissenschaftlerll8 • Die Volksrepublik China hat ihre innere Entwicklung immer im Zusammenhang mit der ganzen Welt gesehen. Dieser Zusammenhang wurde in programmatischen Reden und Schriften immer wieder hervorgehoben~9. Die Zusammenhänge zwischen chinesischen inneren Entwicklungen und seinem äußeren Verhalten wurde besonders während der Zeit der Kulturrevolution auf spektakuläre Weise deutlich. Unter dem radikalen Einfluß des aus Indonesien zurückgekehrten chinesischen Geschäftsträgers Yao Teng-shan wurden im Frühjahr 1967 die Aktionen der Roten Garden auf die Tätigkeit des chinesischen diplomatischen Personals im Ausland transponiert. Der Terminus "Hong Wai Zhan-shi" (Roter diplomatischer Kämpfer) wurde geprägt und dieser Stil beherrschte solange das Auftreten chinesischer Vertreter im Ausland, bis Mao Tse-tung und Tschu En-Iai 1968 die Linksabweicher zügelten und in den inneren wie in den äußeren Angelegenheiten zu einem besonneneren Vorgehen mahnten. Angesichts dieser Zusammenhänge ist es von besonderer Bedeutung, wie weit innerstaatliche Strukturen vorhanden sind, welche der chinesischen Führung das Verständnis für Notwendigkeit und Funktion der Regeln der Völkerrechtsgemeinschaft erleichtern würden. Aus der vorhergehenden Untersuchung geht hervor, daß in China, auch zur Zeit der Volksrepublik, ein Rechtssystem nach europäischem Muster bis jetzt nicht auf Dauer errichtet werden konnte und daß die chinesischen Kommunisten zudem nicht mehr wie vor 1957 auf dem Standpunkt stehen, dies sei ein Vorsprung Europas, der noch wettgemacht werden müßte. Die chinesische Führung ist vielmehr heute der Meinung, das chinesische System einer hohen Bewertung der Billigkeit und der Gedanken Mao Tse-tungs, die an die Stelle der Riten getreten sind, sei dem europäischen System weit überlegen60 • 58 s. Su Jyun-hsyong, Die Struktur des chinesischen Rechtsdenkens und ihre Wirkung auf das moderne Recht, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, L III-3, S.307; Shen Yi - Heinrich Stadelmann, China und sein Weltprogramm, Dresden 1925, S. 142. 59 s. etwa Tschou En-lai, Das Große Jahrhundert, Peking 1959, S.42 oder Teng Hsiao-ping, The Great Unity of the Chinese People and the Great Unity of the Peoples of the World, Peking 1959, S.1, 12, 16 f.; vgl. dazu Gerd Kaminski, China-Taiwan, Frankfurt 1972, S. 27 f. 80 Dies kommt in einem Gespräch, das Jerome Cohen mit dem "inoffiziellen Vertreter der Volksrepublik China in Honkong", Percy Cheng, geführt hat. Der in London erzogene chinesische Anwalt meinte: "The trouble with you westemers is that you've never got beyond that primitive stage

III. Die Zeit der Volksrepublik

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Unter diesem Aspekt ist es zu sehen, daß der Verfasser im April 1972 von Yang Wen-gui, Kommandant der Volksmiliz im Lin-Kreis, Provinz Honan, auf die Frage, ob er die Landkriegsordnung oder die Genfer Konvention kenne, die Anwort bekam, er kenne sie zwar nicht, doch gebe es die drei Prinzipien und acht Regeln Mao Tse-tungs für die Volksbefreiungsarmee, mit denen man durchaus sein Auslangen finde. Unter diesem Aspekt ist es zu sehen, daß China, wo der Grundsatz "nulla poena sine lege" keine Geltung hat, - weil man in jedem Fall die gestörte Ordnung wiederherstellen muß -, ausländische Diplomaten wegen Verkehrsvergehen bestraft. Unter diesem Aspekt ist es zu sehen, daß die Strafbemessung in China sich nicht nur nach Klassenzugehörigkeit des Täters, der Gefährlichkeit der Tat für die Gesellschaft und der gezeigten Reue, sondern im Fall eines ausländischen Täters sich in sehr wesentlichem Ausmaß nach dessen Staatszugehörigkeit richtet. Der zur Zeit der Kulturrevolution in China stationierte schwedische Botschafter Lennart Petri weiß von einem Fall zu berichten, der die Verbindung der heutigen chinesischen Rechtsprechung zur alten chinesischen Auffassung des auf den einzelnen Fall bezogenen Richterrechts in aller Deutlichkei t darstellt: "Als ein schwedischer Seemann 1964 zur Verantwortung gezogen wurde, weil er an Bord eines schwedischen Schiffes in einem chinesischen Hafen zwei chinesische Stauer durch Messerstiche verletzt hatte, wurde gesagt, daß das Gericht u. a. die guten Beziehungen zwischen China und Schweden, das Verhalten des schwedischen Befehlshabers des Schiffes und der Besatzung bei der Untersuchung des Verbrechens ebenso berücksichtigt habe, wie das Mitgefühl der schwedischen Botschaft mit den Opfern der Mißhandlung. Dies, in Verbindung mit der vom Angeklagten gezeigten Reue, bewirkte, daß er zu keiner Strafe verurteilt wurde. Hingegen wurde ihm auferlegt, solidarisch mit dem "Schiffe" die Krankenhauskosten der Verletzten und ihre "Verluste aus Anlaß der Verletzung" zu einem für chinesische Verhältnisse ziemlich hoch berechneten Betrage zu ersetzen. Das "Schiff" habe versäumt, für Aufrechterhaltung der nötigen Disziplin auf dem Schiffe und genügend Schutz der chinesischen Stauer zu sorgen. Weder die Reederei, noch der Befehlshaber des Schiffes, noch "das Schiff" waren verklagt worden80a ." you call the 'rule of law'. You are all preoccupied with the 'rule of law'. China has always known that law is not enough to govern a society. She knew it twentyfive hundred years ago and she knows it today." - s. Cohen, The Criminal Process in China, in: Soviet and Chinese Communism, S.107. 60a Lennart Petri, Einige Betrachtungen über Recht und Rechtsprechung in der Volksrepublik China, in: Juristische Blätter, Jg.93, Heft 1/2, 1971, S.29f.

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1. Abschn.: Das chinesische Rechtsdenken

Unter diesem Aspekt ist es zu sehen, daß China mit den internationalen Bestrebungen zum Schutz und Förderung der Menschenrechte (von Kolonialismus und Rassendiskriminierung abgesehen) nicht sehr viel anfangen kann, sind doch in sämtlichen Perioden der chinesischen Geschichte die Pflichten des auf die Gemeinschaft ausgerichteten Menschen stärker betont worden, als seine Rechte61 • So daß der chinesische Delegierte im Zuge der Arbeiten für die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte geniert gestehen mußte, daß es im Chinesischen gar kein Wort für Menschenrechte gebe. Der Ersatz, den er anbot: "Der Himmel liebt das Volk, und der Herrscher muß dem Himmel gehorchen" entspricht wohl nicht ganz den entsprechenden europäischen Vorstellungen82 • Unter diesem Aspekt ist es zu sehen, daß Vizeaußenminister Ch'iao Kuan-hua im Zuge eines Gespräches, das der Verfasser mit ihm im April 1972 führte, auf den Hinweis auf mangelnde völkerrechtliche Deckung chinesischer Positionen bezüglich der Ausdehnung des Küstenmeeres bzw. der überprüfung sämtlicher von früheren chinesischen Regierungen geschlossenen Verträgen erregt ausrief: "Aber das entspricht doch der Gerechtigkeit! Es muß doch möglich sein!" Der vorstehende Abschnitt wurde daher vom Verfasser an den Anfang seiner Ausführungen gestellt, damit bei der Lektüre der den aktuellen chinesischen Positionen zum Völkerrecht ausschließlich gewidmete Abschnitte in Erinnerung bleibt, daß China nicht nur zur abendländischen Völkerrechtskonzeption, sondern zur abendländischen Rechtskonzeption überhaupt, wenig Beziehung hat. Seine Verhaltensund etwaige Fehlverhaltensweisen sind daher nicht mit denen solcher Staaten gleichzusetzen, die selbst über ein gewachsenes und gefestigtes Rechtssystem verfügen.

61 Vergleiche das Schlußwort Ku Hung-mings in seinem Werk: "Der Geist des chinesischen Volkes und der Ausweg aus dem Krieg": (Jena 1916, S.181) Wenn also die Völker der jetzt in Europa kriegführenden Länder ihre Zivilisation, die Zivilisation der Welt retten und aus diesem Krieg herauskommen wollen, ist der einzige Weg, den sie dazu einschlagen können, ihre gegenwärtigen Magna Chartas der Freiheit und ihre Verfassungen zu zerreißen und eine neue Magna Charta, nicht der Freiheit, sondern der Treue zu errichten, so wie wir Chinesen sie in unserer Religion des guten Bürgers haben." Dazu ist anzumerken, daß in dem am 9. Parteikongreß 1969 beschlossenen Parteistatut die Pflichten der Parteimitglieder gegenüber ihren Rechten sehr stark betont werden. - s. dazu Jen-wu yü ssu-hsiang (Aufgaben und Gedanken), 15. Mai 1969, Nr.26, in: Chinese Law and Government, Bd. 3, Nr. 2-3, 1970, S. 134 ff. 6! Vgl. den Diskussionsbeitrag Piepers in: Kroker, Die Strafe im chinesischen Recht, S. 70.

Zweiter Abschnitt

Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen zum Völkerrecht I. Hat China im eigenen Staatenverband oder im Verhältnis zu nichtchinesischen Staaten völkerrechtliche Normen entwickelt und angewandt? 1. Vorbemerkungen zum ddneslsdlen Völkerredlt der FriIhlIngsund Herbldperlode (770-415 v. ehr.)

Die Existenz eines eigenständigen chinesischen Völkerrechts wird von einer Reihe von Gelehrten unter Hinweis auf den chinesischen Universalismus für alle Perioden der chinesischen Geschichte in Abrede gestellt. So meint Fung Yu-Ian, die Identifizierung Chinas mit der Welt sei die alles andere verdrängende Dominante der chinesischen Geschichte gewesen'. Dazu ist zu sagen, daß sich der Universalismus, d. h. die Gleichsetzung Chinas mit der Welt, für die der chinesische Zentralherrscher als Mittler dem Himmel gegenübersteht, gewiß wie ein roter Faden durch die chinesische Geschichte zieht. Bereits das Buch der Lieder bringt dies mit folgenden Worten zum Ausdruck: "Unter dem weiten Himmel gibt es kein Land, das nicht des Königs ist und auf dem vom Meer umschlossenen Land keinen, der nicht Untertan des Königs ist!." Es ist richtig, daß China bis zum Ende der Monarchie von dieser theoretischen Grundhaltung nie abgegangen ist. Andererseits findet sich zumindest eine Periode in der chinesischen Geschichte während der die Theorie der Oberhoheit des chinesischen Zentralherrschers durch eine entgegenstehende Praxis so obsolet geworden war, daß sie die tatsächliche Unabhängigkeit der Staaten, in die China damals zerfallen war, in keiner Weise berührte. Die Zeit der Frühlingsund Herbstperiode (770 v. Chr.-475 v. Chr.), von der die Rede ist, folgte auf ein Ereignis, das als Signal der drastischen Schwächung der königlichen Gewalt angesehen wurde: 771 v. Chr. besetzte der Schwie, s. Fung Yu-lan, A short History of Chinese Philosophy, 1962, 8.181 sowie 188f. 2 s. James Legge (Hrsg.), The 8he King, in: The Chinese Classic, 4. Bd., 8.360.

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

gervater des Königs, der die Königin und ihren Sohn um der Gunst einer Konkubine willen zurückgesetzt hatte, im Bündnis mit mehreren Barbarenstämmen die Hauptstadt3 • Von da ab war die Stellung des Zentralherrschers nur noch Schein und leere Form. Die ehemaligen Lehensfürsten beanspruchten nunmehr die Landeshoheit für sich, nahmen zum Zeichen ihrer neu gewonnenen Souveränität untereinander Gesandtschaftsverkehr auf und kämpften in vom Zentralherrscher nicht gestatteten Kriegen um die Vorherrschaft. Das Argument Keishiro lriyes, auch das System der Frühlings- und Herbstperiode sei hierarchisch gegliedert und den Regeln des internationalen Verkehrs jener Periode entbehrten daher des für Völkerrechtsnormen unerläßlichen Elements der Gleichheit der Staaten4 , erscheint deshalb nicht stichhaltig, weil sich Rangunterschiede der den chinesischen Staaten vorstehenden Fürsten nur im Protokoll ausdrücktenG und sie selbst dieses Vorranges verlustig gingen, wenn sie gegen das Zeremoniell verstießen6 • - Verletzungen ihrer Gebietshoheit etwa - auch wenn es sich bei den Verletzern um Organe eines großen Staates handelte wurden von einem kleinen Staat ebenso unerbittlich geahndet wie von einem großen7 • Es sind daher die Feststellungen der Autoren zu unterstreichen, die für die Zeit der Frühlings- und Herbstperiode eine Völkerrechtsgemeinschaft annehmen 8 , wenn auch zugestanden werden muß, daß bei den Normen dieser Gemeinschaft die den Riten und die dem Recht entspringenden nicht säuberlich zu trennen sind.

a) Die Organe der damaligen chinesischen Staatengemeinschaft Der mit dem Zentralherrscher verlorengegangene Ordnungsfaktor mußte ersetzt werden. Nach Art eines Hausmeiers oder Shoguns trat 3 Zu den Gründen für die Schwächung der Macht des Zentralherrschers s. Gerd Kaminski, Chinas Völkerrecht und Außenpolitik: Historische Grundlagen (Das chinesische Völkerrecht der Frühlings- und Herbstperiode), Wien 1972, S. 26 f. 4 s. Keishiro Iriye, The Principles of International Law in the Light of Confucian Doctrine, in: Reeueil des Cours, 1967, 1. Teil, S.7. 5 Vgl. Kaminski, Chinas Völkerrecht und Außenpolitik: Historische Grundlagen, S. 54 f. 6 s. ibd., S. 55. 7 s. ibd., S. 62. 8 Vgl. etwa Elbert Duncan Thomas, Chinese Political Thought, New York 1927, S. 237 ff.,; Hung Chün-pei, Ch'un-Ch'iu-Kuo-chi Kung-Fa (Das Völkerrecht der Frühlings- und Herbstperiode), Taipei 1971; Tetsu Izumi, International Custom of the Ch'un Ch'iu Period, in: Kokusaiho Gaikozasshi, Bd.27, Nr.3, S.205; Shingo Nakamura, On International Law in the Ch'un Ch'iu and Chan Kuo Period, in: Kokka Gakkai Zasshi, Bd.8, Nr.92, S.827, W. A. P. Martin, Les Vestiges d'un Droit International dans l'Ancienne Chine, in: Revue de Droit International et de Legislation Comparee, Bd.14, 1882, S.230.

I. Hat China Völkerrecht entwickelt und angewandt?

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zuerst formal als Beauftragter des Königs' und später kraft eigenen Rechtes lo der stärkste Fürst im chinesischen Staatensystem auf, welcher den Titel "Pa" bzw. "Meng-chu" (Herr der Verträge) trug. Er hatte über Frieden und Sicherheit zu wachen und kam dieser Aufgabe vor allem durch die Aufrechterhaltung des politischen Gleichgewichtes nach. Zu diesem Zweck berief er die chinesischen Staatenkonferenz ein, präsidierte ihr, führte gemeinsame Militäraktionen der chinesischen Staatengemeinschaft an und übte gewisse schiedsrichterliche Funktionen aus11 • Die chinesische Staatenkonferenz trat relativ häufig zusammen. - Für eine bestimmte Zeitspanne ist sogar eine Anzahl von neun Tagungen innerhalb von acht Jahren belegt12 • Die Staatenkonferenz hatte in erster Linie Bündnisverträge auszuarbeiten, die zu einem gemeinsamen Vorgehen unter der Führung des Vorsitzenden der Staatenkonferenz gegen Friedensstörer verpflichteten. Der Vorsitzende war dazu berufen, über die Einhaltung dieser Verträge zu wachen, bei Gefahr im Verzug durfte er auch ohne Befragung der Konferenz einstweilen selbständig friedenssichernde Aktionen einleiten l3 • Außerdem hatte die Staatenkonferenz auch andere Aufgaben wahrzunehmen, welche früher dem Zentralherrscher zugekommen waren. Die dort versammelten Staaten hatten gemeinsam über Veränderungen der Machtverteilung im chinesischen Staatensystem zu befinden, d. h. zu Neuaufnahmen in die Gemeinschaft14 , Begründung und Aufhebung von Fu-yung ("Protektoraten")15 sowie zu Grenzänderungen16 und ähnlichen war ihr Konsens erforderlich. V gl. Legge, Bd. 5, S. 90, 93. Vgl. Legge, Bd.5, S.99; Zur Aufeinanderfolge der verschiedenen Pa vgl. Siu Tchoan-Pao, Le Droit des Gens et la Chine Antique, Bd. 1, Paris 1926, S.37--40. 11 Die angeschlossene kurze übersicht über das chinesische Völkerrecht der Frühlings- und Herbstperiode enthält über die schiedsrichterlichen Funktionen des Pa keinen gesonderten Abschnitt, da der Text des Tso Chuen hierüber zu wenig aussagt. Immerhin sei auf den im Tso Chuan enthaltenen Bericht verwiesen, der erzählt, daß sich die Herrscher zweier kleinerer Staaten vor einem Minister von Chu verklagten. Der Minister antwortete hierauf: "Wenn ihr Fürsten beide vor meinem Herrscher tretet, dann werden er und einige seiner Minister anhören, was ihr beweisen sollt, und euer Fall kann gewürdigt werden ... " s. Legge, Bd.5, S.355; vgl. auch Hung Chünpei, op. cit., S. 132, 152; Iriye loc. cit., S. 24 f. 12 s. Legge, Bd. 5, S. 453. 13 Vgl. Hung Chün-pei, op. cit., S. 129 f. 14 Vgl. die Aufnahme von Wu, s. Legge, Bd.5, S.389. 15 s. Legge, Bd. 5, 533 unten (Begründung eines Fu-Yung) sowie S. 427 unten (Aufhebung). 16 s. Legge, Bd. 5, S. 525, s. auch Liu Po-chi, Chun Chiu Hui-Meng ChengChih (Die Staatenkonferenz und die Allianzpolitik der Frühlings- und Herbstperiode), Taipei 1962, S. 21 ff. 9

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

Der chinesische Völkerrechtler Hung Chün-pei unterscheidet folgende Aufgaben der chinesischen Staatenkonferenz: 1. Ökonomische Aufgaben

Darunter fiel vor allem die gegenseitige Hilfe bei Naturkatastrophen und die Harmonisierung von Damm- und Bewässerungsprojekten sowie die Bereinigung innerer Schwierigkeiten eines Mitgliedstaates auf dessen Wunsch. 2. Militärische Aufgaben Beistand im Krieg, Anlegen von Befestigungen, Stationierung einer Bundesmacht (nicht unähnlich der Friedensstreitmacht der Vereinten Nationen). 3. Rechtliche Aufgaben Bestrafung von abgefallenen Mitgliedstaaten, Beschlußfassung über militärische Interventionen, Bestrafung der zur Konferenz zu spät gekommenen Staaten (dies konnte bis zur militärischen Intervention eskalieren), Bestrafung von kriegerischen Mitgliedstaaten, Unterstützung des Vorsitzenden bei dessen schiedrichterlicher Tätigkeit17 • Dieses System, von dem anschließend ein kurzer Überblick gegeben wird, war bei anerkannter Autorität des Vorsitzenden der Staatenkonferenz in der Lage, für Frieden und Ordnung zu sorgen, wurde aber in dem Augenblick, als andere Staaten ebenfalls nach dem Vorsitz zu streben begannen und abwechselnd versuchten, die schwächeren Staaten in ein Bündnis zu pressen, selbst Ursache für Kriege und Unordnung. 2. Zur VölkerredltssubjektivUlt

a) ETlangung deT VölkeTTechtssubjektivität Zur Erlangung der Völkerrechtssubjektivität in der damaligen chinesischen Völkerrechtsgemeinschaft war das Vorhandensein folgender Kriterien notwendig: Ein Staatsgebiet von mindestens 50}i18 im Geviert19 • s. Hung ChÜD-pei, op. cit., S. 148 ff. Ein li = 1/2 km. 19 Diese Voraussetzung leitete sich aus den alten Zhou-Vorschriften über die Reichsunmittelbarkeit ab. Die Bemerkung des Konfuzius: "Hast du je ein Territorium von 60 oder 70 li oder eines von 50 oder 60 gesehen, welches kein Staat war?" (s. Konfuzius, Gespräche, in: James Legge, Chinese Classics, Bd.l, S.249) spricht dafür, daß sich diese alte Bestimmung in gewandelter Bedeutung erhalten hatte. Stand früher die Mindestgröße im Zusammenhang mit der Fähigkeit des Herrschers die großen Auslagen für die Hoffahrtspflicht zu tragen, so war sie später dafür maßgebend, daß der Herrscher den 17

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Seßhaftigkeit der Bevölkerung, was in soliden Wohngebäuden und befestigten Städten seinen Ausdruck fand20 • Forlgeschrittenheit auf dem Sektor der Nahrungsmittelproduktion21 • Eine nach chinesischem Muster organisierte Staatsführung, die im Verkehr mit anderen Staaten das chinesische Zeremoniell beobachtete!!. Ein geordnetes Verwaltungs- und Steuersystem nach dem Muster des chinesischen Beamtenstaates23 • Ein Staatskult mit entsprechenden Opferstätten, über die das Staatsoberhaupt für seinen Staat als Mittler zum Jenseits auftrat. in seinem Ahnentempel aufbewahrten Vorschriften über die öffentlichen Opfer, die Bankette mit anderen Souveränen un,d ähnlichen nachkommen konnte (s. Werke des Mencius, in: Legge, Bd.2, S.439). Die zunehmende Zahl der militärischen Auseinandersetzungen brachte es später mit sich, daß für die Staatsqualität eines Territoriums und den Rang seines Herrschers nicht mehr ausschließlich die Ausdehnung des Staatsgebietes, sondern zusätzlich noch das Militärpotential maßgeblich wurde. Bei Klärung der Frage nach Völkerrechtssubjektivität und der politischen Bedeutung eines Staates hat jedoch die Zahl seiner Streitwagen das Ausmaß seines Territoriums auch gegen Ende der Frühlings- und Herbstperiode nicht als kennzeichnendes Kriterium verdrängen können, da beides noch zu Konfuzius' Zeiten abwechselnd zur Bestimmung von Staaten verwendet wird (s. Konfuzius, Gespräche, in: Legge, Bd.l, S.247). 20 Dadurch unterscliied~n sich die Chinesen von den Nomadenstämmen ihrer Nachbarschaft (s. unter 21). ' 21 (Der Ackerbau, verfeinert durch die Kenntnis verschiedener Getreidesorten sicherte als Voraussetzung für die Errichtung eines Staates auf Dauer die geordnete Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung). - s. Werke des Mencius, Buch 6, Teil 2, Kap. 11, Abschnitt 4, in: Legge, Bd.2, S.442: "In Mo werden nicht alle fünf Sorten von Getreide kultiviert, es produziert nur Hirse. Es gibt keine befestigten Städte, keine Gebäude, keine Ahnentempel, keine Opferzeremonien, es gibt keine Fürsten, die Geschenke und Bewirtung erfordern, es gibt kein System von Beamten mit ihren verschiedenen Untergebenen. Die Steuer eines Zwanzigstels der Produkte ist daher dort ausreichend." 22 Die Leitung eines Staates und der Verkehr mit anderen Staaten mußten ihren "geordneten Gang" haben. Unregelmäßigkeiten in der Befolgung des Zeremoniells brachten infolge der Störung der Harmonie (kosmologisches Weltbild) die Gefahr himmlischer Sanktionen mit sich. Einem nicht nach chinesischem Muster organisierten politischen Gebilde, das weder über die korrespondierenden Einrichtungen noch über das Wissen um die festgelegten Formen der Abwicklung internationaler Kontakte verfügte, war daher die Möglichkeit genommen, mit den Staaten des Mittelreiches auf Basis der Gleichberechtigung zu verkehren. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der Rat" der von einem hohen Würdenträger dem Herrscher von Ts'oo erteilt wurde, als dieser zum ersten Mal als Vorsitzender der chinesischen Staatenkonferenz auftrat: "Ich habe gehört, daß im Verkehr der Staaten das, was ihre Zuneigung und Anhänglichkeit begründet, die Zeremonien sind, die ihnen gegenüber beobachtet werden. Eure Hoheit hat nun die Staaten zum ersten Mal versammelt und müßt in euren Zeremonien größte Sorgfalt walten lassen ... " s. Tso Chuen, Legge, Bd.5, S.597. 23 Vgl. 21.

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen Die Anerkennung durch die anderen Mitglieder der chinesischen Staatengemeinschaft!4. b) Verlust der VölkeTrechtssubjektivität aa) Gänzlicher Verlust

Der völlige Untergang eines Staates wurde bei Vorliegen aller folgender Kriterien angenommen: Einverleibung von Volk und Gebiet durch eine andere Macht. Vernichtung oder zumindest Vertreibung des regierenden Hauses. Abschaffung der Opfer des einstmals regierenden Hauses!6. Während der Perioden, in der die chinesische Staatenkonferenz unter der Leitung eines starken Vorsitzenden funktionsfähig war, mußte auch ihre Bestätigung eingeholt werdenz8 • Die Anerkennung des Himmels war notwendig, wurde aber vorausgesetzt27 , die von Mencius geforderte Anerkennung durch das betroffene Volk ist unerfülltes Ideal geblieben28 • 24 Wie in Anbetracht des stark ausgeprägten chinesischen Fonnalismus nicht anders zu erwarten, hatte damals die Anerkennung von Staaten konstitutive Wirkung. Selbst wenn ein Staat alle vorher aufgezählten Voraussetzungen erfüllte, galt er erst dann als gleichberechtigtes Mitglied der chinesischen Staatengemeinschaft, wenn ihn die anderen Staaten dadurch anerkannten, daß sie mit ihm Gesandtschaftsverkehr pftogen. Nach dem Aufkommen der großen Staatenkonferenzen galt die Teilnahme eines Neustaates an der Konferenz und am Vertragseid als kollektive Anerkennung von dessen Völkerrechtsubjektivität. - VgI. die Aufnahme des vonnals barbarischen Woo durch die Staatenkonferenz zu Chung-li (Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 389). 26 VgI. dazu Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S.85. 26 Allerdings kam bloß ein geringerer Prozentsatz tatsächlich vor die Staatenkonferenz, was durch die Venninderung von ursprünglich 140 Staaten auf unter 20, die sich während der Frühlings- und Herbstperiode abgespielt hat, deutlich wird. Es hat daher die Ansicht Hung Chün-peis viel für sich der als häufigeres Instrument der Sanierung eines illegalen Gebietsüberganges statt der Bestätigung durch die Staatenkonferenz eine Art "Ersitzung" annimmt, die auf eine lange Zeit der Herrschaftsausübung durch die neuen Gebietsherren abstellt. - s. Hung Chün-pei, op. cit., S. 84. 27 "Die Leute von Ch'i griffen Yen an und eroberten es. König Hsüan fragte: ,Einige raten mir ab, mich in den Besitz von Yen zu setzen, andere ennutigten mich dazu. Wenn ein Königreich von zehntausend Streitwagen ein anderes von zehntausend Streitwagen angreift und seine Unterwerfung innerhalb von fünfzig Tagen beendet, so ist dies eine Leistung, die nicht nur mit menschlicher Hilfe erreicht worden ist. Wenn ich es nicht meinen Territorien eingliedere, wird sicherich Unheil vom Himmel auf mich herabkommen .. .''' - s. Werke des Mencius, in: Legge, Bd.2, S.169. 28 Mencius antwortete auf die Frage des König Hsüan (s. unter 27): "Wenn das Volk von Yen damit einverstanden ist, daß Ihr diesen Staat in Besitz nehmt, dann tut es .. ." - s. Werke des Mencius, in: Legge, Bd.2, S.169.

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bb) Partieller Verlust Partieller Verlust der Völkerrechtsfähigkeit resultierte vor allem aus zwei Ursachen. Einmal bedeutete dies eine Sanktion gegen Staaten, die unter Mißachtung des von der chinesischen Staatengemeinschaft garantierten Friedens ein Mitglied dieser Staatengemeinschaft bekriegt hatten. Diese Friedensbrecher verloren in weitgehendem Maße die Fähigkeit, Rechtsgenosse innerhalb der chinesischen Staatengemeinschaft zu sein. Da sie sich durch ihr Verhalten außerhalb der chinesischen Staatengemeinschaft gestellt hatten, war es den anderen Staaten untersagt, mit ihnen zu verkehren!9. Insbesondere ihre Vertragsfähigkeit30 und der Schutz für ihre Gesandten waren aufgehoben31 • Ihre Rechtsfähigkeit ging ihnen vermutlich bis auf die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten aus dem Kriegsrecht zu sein, verloren. Bei funktionstüchtiger Staatenkonferenz konnte die Völkerrechtsfähigkeit des betreffenden Staates nur dadurch wiederhergestellt werden, daß dieses Gremium das Ansuchen um Neuaufnahme in die chinesische Staatengemeinschaft bewilligte32 • Zum anderen konnten individuelle Auseinandersetzungen zwischen den chinesischen Staaten eine Abhängigkeit des besiegten Staates vom Siegerstaat bewirken, die bis zu einem partiellen Verlust der Völkerrechtsfähigkeit des Schwächeren führen konnte. Im günstigsten Falle brauchte der unterlegene Staat nur Beschränkungen seiner völkerrechtlichen Handlungsfähigkeit hinzunehmen33 , welche maximal bis zur Wahrnehmung seiner sämtlichen auswärtigen Beziehungen durch den anderen Staat reichten34 • Solche "Protektorate" wurden als Fu-yung bezeichnet. Unter Fu-yung konnte jedoch auch ein Rechtsverhältnis verstanden werden, das dem stärkeren Staat weitgehende Eingriffe in die inneren Angelegenheiten des beschützten Staates gestattete36 • 29 Vgl.: "Im Frühling notifizierte Woo seine Niederlage (gegen das damals von der chinesischen Staatengemeinschaft ausgeschlossene Ts'oo) an Tsin (den damaligen Vorsitzenden der chinesischen Staatengemeinschaft), Fan Seuen-tsze legte jedoch Woos Verhalten als Verfehlung aus und schickte dessen Gesandten weg. Er ordnete auch an, den Kung-tsze Woo-Iow von Keu zu arretieren, da Keu mit Ts-oo Beziehungen unterhielt ... " s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.463; oder: "Er (der Vorsitzende der Staatenkonferenz) ... setzte Herzog Seuen von Choo und Herzog Lope von Keu gefangen ... und beschuldigte sie der freundschaftlichen Beziehung zu Ts'e und Ts'oo ... "; - s. ibd., S.472. 30 Vgl. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S. 651 f. 31 Vgl. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.576, 689. 32 Vgl. Hung Chün-pei, op. cit., S.260. 33 Vgl. Kaminski, Chinas Völkerrecht und Außenpolitik: historische Grundlagen, S. 37 f. 34 s. ibd., S. 38 f. 35 Die Eingriffe konnten von der Entsendung eines Beamten, der den Herrscher des abhängigen Staates einkerkern ließ und eigenmächtig die

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

Das Fu-yung war in diesem Fall der Rechtsordnung des anderen Staates unterworfen und konnte höchstens in den Bereichen, die ihm von diesen zugewiesen wurden, als partielles Völkerrechtssubjekt auftreten. Waren einmal Herrscher, Hauptstadt und Staatstempel auf fremdes Staatsgebiet übersiedelt, so hätte man unter Verwendung moderner Maßstäbe nur von einem vollkommenen Verlust der Völkerrechtsfähigkeit sprechen können. Infolge der kosmologischen Konzeption der damaligen chinesischen Staaten blieb jedoch ein Staat so lange "am Leben", als speziell für ihn geopfert wurde. So lange die Staatsopfer noch fortgeführt wurden, konnte nicht von einer völligen Einverleibung des Fu-yung gesprochen werden. Der Grund für die Erlaubnis, die Staatsopfer weiterzuführen, kann nur teilweise in einer aus der älteren Zeit des Feudalismus herübergeretteten Ritterlichkeit gesucht werden. In weit größerem Ausmaß waren rechtliche und politische Erwägungen maßgebend. Theoretisch bedurften alle Gebietsstandsveränderungen der Zustimmung der Staatenkonferenz. Zudem war Mitte des sechsten Jahrhunderts vor Christus ein feierliches Abkommen geschlossen worden, welches das Verbot der Angriffe der starken auf die schwachen Staaten noch besonders bekräftigte36 • Wie schon vorher erwähnt, war das Funktionieren des chinesischen Staatensystems auf die Erhaltung eines überaus empfindlichen politischen Gleichgewichts abgestellt37 . Insbesondere die Nachbarstaaten des in Frage stehenden Gebietes mochten sich nach dem alten Grundsatz "Wenn die Lippen fehlen, werden die Zähne kalt" veranlaßt fühlen, den alten Zustand unter Anwendung militärischer Gewalt wieder herzustellen. Indem man durch die Weiterführung der Opfer einen spektakulären Untergang des besiegten Staates vermied, gewann man Zeit für die Erkundung der Reaktionen anderer Staaten und für die Auswahl des günstigsten Zeitpunktes, an dem man dann die Einverleibung durch die Abschaffung der Staatsopfer des Fu-yung endgültig vollzog37a. Thronfolge regelte, über die Erzwingung der Verlegung der Hauptstadt in Richtung der zum stärkeren Staat näheren Grenze bis zu der Übersiedlung der Hauptstadt samt Herrscher, Staatstempel und Regierung auf das Territorium des stärkeren Staates reichen: "Der Vizegraf von Choo hatte sich gegen den Herrscher von Woo ungebührlich betragen. Der Vizegraf dieses Staates sandte daher seinen Großadministrator Tsze-yu, um ihn zu bestrafen. Er wurde in einem Zimmer in einem hohen Turm festgehalten, welches mit Domen verrammelt wurde und Tsze-yu veranlaßte dann alle hohen Beamten Kih, den ältesten Sohn des Vizegrafen, bei der Verwaltung des Staates zu unterstützen." s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.817. Vgl. auch Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.800. 36 s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 482. 37 Zur Funktionsweise dieses Gleichgewichts s. Elbert Duncan Thomas, Chinese Political Thought, New York 1927, S.238. 37a Vgl. etwa das Verhalten Lus, welches zur Zeit eines seiner politischen Hochs sich mühelos Chuen durch Abschaffen von dessen Opfern einverleibte. - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.360.

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c) Die Völkerrechtssubjektivität der "Barbaren"

aal Die wilden Stämme Die wiederholten Bündnisse zwischen Barbarenstämmen und chinesischen Staaten deuten darauf hin, daß diesen von den Chinesen Vertragsfähigkeit zugestanden wurde38 • Von den damaligen chinesischen Geschichtsschreibern wurde zur Registrierung dieser Vertragsschlüsse mit dem Zeichen für "meng" dasselbe Zeichen verwendet wie für Vertragsschlüsse zwischen chinesischen Staaten. Das betreffende Schriftzeichen stellt eine Opferschale dar. In einer solchen Schale wurde nach damaligem chinesischen Zeremoniell das Blut des aus Anlaß des Vertragsabschlusses geschlachteten Opfertieres aufgefangen. Die Verwendung dieses Zeichens deutet an, daß man sich bei Verträgen mit den Barbaren der unter chinesischen Staaten üblichen Vertragsform bediente und diese als gleichberechtigte Vertragspartner akzeptierte39 • - Wußten doch die chinesischen Chronisten ansonsten sehr genau zu differenzieren, indem sie etwa den Besuch eines Barbarenfürsten nicht mit der für Besuche chinesischer Staatsoberhäupter gebräuchlichen Form "er kam zur Hofvisite" vermerkten, sondern mit der kurzen Formel "er kam"40. Allerdings verwehrte man den Barbaren, an den großen multilateralen Abkommen teilzunehmen, welche das Zusammenleben der chinesischen Staatengemeinschaft regelten. In der späteren Zeit der Frühlings- und Herbstperiode durften die Anführer verschiedener Stämme an der chinesischen Staatenkonferenz als Beobachter teilnehmen41 • Dieser Beobachterstatus wurde den Stämmen unabhängig vom Grade ihres Sinisierungsprozesses oder zivilisatorischen Fortschritts gewährt42 • Schließlich ist zu betonen, daß der weitgehende recht38 Die erste historisch belegte vertragliche Abmachung zwischen Mittelreich und Barbarenstämmen fällt in das Jahr 780 v. Jhr. - s. Annalen der Bambusbücher, Teil 5, Kapitel 12. Aus der Zeit der Frühlings- und Herbstperiode ist eine ganze Reihe solcher Vertragsschließungen belegt. - s. Vertrag Lus mit den Jung, Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.9; Vertrag Weis mit den Stämmen der Teih, Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.221; Vertrag Ts'oos mit den Man, Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.275; Vertrag des damaligen Vorsitzenden der Staatenkonferenz Tsin mit den Jung, Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 424. 1I9 VgI. die entsprechenden Vorhaltungen eines Beamten an seinen Fürsten bezüglich der Einhaltung eines mit den Jung-Barbaren geschlossenen Vertrages. - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.337. 40 VgI. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.213. 41 s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, ~. 463 f. 42 Dies wird durch die Ansprache des Anführers der Jung auf der Staatenkonferenz zu Heang bewiesen, der besonders betonte, nicht nur Nahrung und Kleidung, sondern auch Sprache und Gebräuche seines Stammes seien von denen der chinesischen Staaten völlig verschieden. - s. ibd.

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liche Ausschluß von nicht staatlich organisierten Stämmen aus der chinesischen Staatengmeinschaft die für beide Seiten fruchtbare Abwicklung tatsächlicher Kontakte nicht verhinderte 43 • bb) Die Stämme mit hohem kulturellen Niveau Konfuzius vertrat die Meinung, daß im Bereiche der Erziehung keine Standesunterschiede gemacht werden sollten". Er hielt außerdem fremdstämmige Völker für durchaus fähig, bei entsprechender Unterweisung das chinesische Niveau zu erreichen46 • Die chinesische Staatengemeinschaft der Frühlings- und Herbstperiode war von ethnischen Gesichtspunkten her keineswegs exklusiv. Waren alle Kriterien für die Mitgliedschaft in der chinesischen Staatengemeinschaft erfüllt, so zögerten die chinesischen Staaten trotz ethnischer Verschiedenheit nicht mit der Anerkennung und der Aufnahme in ihre Gemeinschaft48 • Das erste Beispiel hierfür lieferte Ts'in, dessen Aufstieg zu Beginn der Frühlings- und Herbstperiode von den anderen Fürsten dadurch anerkannt wurde, daß sie zu seinem Herrscher Gesandtschaftsverkehr aufnahmen41 • Später vollzog sich die Entwicklung der südlichen Staaten Ts'oo und Woo zu vollberechtigten Mitgliedern der chinesischen Staatengemeinschaft48 , 49. Die Beispiele dieser später hinzugekommenen 43 Zu Natur und Motiven dieser Kontakte, die keineswegs unter dem Zeichen chinesischer Rassenstolzes standen, s. Kaminski, Chinas Völkerrecht und Außenpolitik: historische Grundlagen, S.42-44. 44 s. Konfuzius, Gespräche, in: Legge, Bd.l, S.305. 45 s. Konfuzius, Gespräche, in: Legge, Bd. 1, S.221. 48 In diesem Sinne auch Yang Lien-sheng, Historical Notes on the Chinese World Order, in: John K. Fairbank (Hrsg.), The Chinese World Order, Cambridge (Mass.) 1968, S. 21 f.; Keishiro Iriye, The Principles of International Law in the Light of Confueian Doetrine, in: Reeueil des eours, 1967, Bd. 1, S. 15 ff. 47 Aus den Annalen des Staates Ts'in: "damit erhielt der Herzog Siang zum ersten Mal einen Staat, er unterhielt mit den anderen Lehensfürsten Gesandtschaftsverkehr und die Zeremonien des Geschenkeaustausches und der Staatsbankette." (übersetzung von otto Franke, in: Otto Franke, Bd.l, 2. Aufl., Berlin 1965, S. 156 ff.) 48 Details über diese Entwicklung geben Iriye, loe. eit., S. 16-19; Kaminski, Chinas Völkerrecht und Außenpolitik: historische Grundlagen, S. 44-46. 49 Es wird zuweilen behauptet, daß die Bevölkerung dieser beiden Staaten ethnisch ebenfalls "chinesisch" gewesen und daß der Unterschied zwischen ihnen und den Mittelstaaten rein im zivilisatorischen Fortschritt gelegen sei. Dagegen spricht jedoch im Falle Ts'oo das Verhalten des Zentralherrschers zu der Zeit, als Ts'oo noch als halbbarbarischer Staat um die Anerkennung der chinesischen Staatengemeinschaft rang. Er nahm nämliche die Beteiligung an der Beute Tsins, welches einen Feldzug gegen Ts'oo geführt hatte, bereitwillig an, während er die Annahme von Beutestücken, die ihm von Tsin nach einem Krieg gegen den Mittelstaat Ts'e mit der Begründung verweigerte: "Wenn irgendwelche der wilden Stämme des Südens, Ostens, Westens oder Nordens auf die Befehle des Königs nicht hören ..., gibt der

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Mitglieder der chinesischen Staatengemeinschaft beweisen, daß zwar die Regeln für den Eintritt in die chinesische Staatengemeinschaft von den chinesischen Staaten selbst festgelegt wurden, daß aber das chinesische Völkerrecht jener Zeit keine beschränkte Anzahl von Rechtsgenossen statuierte, sondern auch ethnisch fremde Staaten bei Erfüllung der vorgesehenen Voraussetzungen Mitgliedschaft in der Gemeinschaft und dadurch volle Völkerrechtssubjektivität erlangen konnten. 3. Zur völkerrechtlichen Repräsentation der chinesischen Staaten

Zu Beginn der Frühlings- und Herbstperiode war der Souverän in sämtlichen auswärtigen Angelegenheiten seines Staates allein vertretungsbefugt60. Eine Ausnahme bildete bloß die Zeit nach dem Tod eines Fürsten bis zum Amtsantritt seines Nachfolgers - regelmäßig der älteste Sohn der Hauptfrau. Für diese Zeit wurde die Vertretung von einem Gremium der höchsten Beamten wahrgenommen, dessen Befugnisse ziemlich weitgehend gewesen sein dürften, da sie sogar kollektiv zum Abschluß von völkerrechtlichen Verträgen mit den Herrschern anderer Staaten berechtigt waren61 . Die volle Vertretungsbefugnis des Thronerben begann jedoch nicht sofort mit dem Antritt seiner Herrschaft, sondern erst nach seiner Anerkennung als Staatsoberhaupt durch die Staatengemeinschaft5! . König Befehl, sie anzugreifen. Wenn dann die von ihnen gewonnene Beute präsentiert wird, erscheint der König persönlich und belohnt die, welche die Bestrafung durchgeführt haben '" Wenn staaten, regiert von Fürsten desselben oder anderen Familiennamens des königlichen Hauses, den Anordnungen des Königs zuwiderhandeln, so gibt der König Befehl, sie anzugreifen. In diesem Falle wird Meldung über die Verrichtung der Aufgabe erstattet, jedoch werden keine Trophäen präsentiert ... " s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 210, 349. Diese Differenzierung legt den Schluß nahe, daß es sich damals bei Ts'oo um ein von den chinesischen Staaten zivilisatorisch aber auch ethnisch verschiedenes Gebilde gehandelt hat. 'Ober Woo wiederum berichtet Kuh-Ieang, es sei ein barbarischer Staat gewesen, "wo sie ihr Haar kurz schnitten und ihre Körper tätowierten". s. Kommentar des Kuh Leang, in: Legge, Bd.5, S.81. Darüber hinaus hatte der Verfasser im Frühjahr 1972 Gelegenheit, Professor Wang Yeh-qiu, den engsten Mitarbeiter Kuo Mo-jos bei dessen historischen und archäologischen Forschungen, nach einschlägigen neueren chinesischen Forschungsergebnissen zu befragen. Er bestätigte, daß die kulturelle der rassischen Durchdringung voranging, und daß es sich bei den in Frage stehenden Staaten um solche mit zumindest überwiegender ethnisch fremder Bevölkerung gehandelt haben müsse. 50 Trat der Souverän in wichtigen internationalen Angelegenheiten nicht selbst auf, so konnte dies sogar militärische Vergeltungsaktionen der Staaten zur Folge haben, welche durch diese Handlungsweise beleidigt worden waren. - s. Hung Chün-pei, ow. cit., S. 154. 51 Vgl. Tso Chuen, in : Legge, Bd.5, S.84. 52 Wie die Anerkennung der Völkerrechtssubjektivität eines neuen Staates konstitutive Wirkung hatte, kam auch der durch die Staatengemeinschaft

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

Um den anderen Souveränen Gelegenheit zur Anerkennung zu geben, wurde der Thronwechsel notifiziert53 • Die Anerkennung erfolgte meist in der Form einer Glückwunschdelegation54 • Während der späteren Frühlings- und Herbstperiode wurde die Vertretungsbefugnis des Souveräns zunehmend durch den Einfluß der hohen Beamtenschaft eingeschränktM • Der Herrscher kam nicht mehr bloß kraft eigenen aus der Primogeniturnachfolge abgeleiteten Rechtes auf den Thron, sondern ein Gremium bestehend aus den hohen Beamten und dem Bewahrer der Orakel-Schildkrötenschale entschied bindend über die Person des NachfolgersH. ausgesprochenen Anerkennung eines neuen Staatsoberhauptes bezüglich seiner Vertretungsbefugnis konstitutive Wirkung zu. - VgI. Liu Po-chi, Ch'un-Ch'iu Hui Meng Cheng-Chih (Die Staatenkonferenz und die Allianzpolitik der Frühlings- und Herbstperiode), Taipei 1962, S. 460. Dies entspricht dem Formalismus, der im gesamten damaligen chinesischen Rechtsleben gegenwärtig war. An alle bedeutsamen Akte des öffentlichen oder privaten Rechts schloß eine Frist an, innerhalb der die Anerkennung vollzogen werden konnte, welche erst die Rechtswirksamkeit begründete. Wie die junge Ehefrau während der drei Monate nach der Hochzeit bis zu ihrer Anerkennung durch die Sippe nicht als vollwertiges Mitglied der Sippe galt und nicht am Ahnenkult teilnehmen durfte (vgI. Hermann Köster, Was ist eigentlich Universismus, in: Sinologica, Bd.9, Nr.2, 1967, S.85), galt auch ein Souverän vor seiner Anerkennung durch die anderen Souveräne nicht als vollwertig. Starb die Frau während der erwähnten Frist, so wurde sie nicht im Gräberhain der Familie ihres Mannes begraben, sondern in dem ihrer Eltern (s. ibd.). Starb ein Fürst vor seiner Anerkennung durch die anderen Fürsten, so vermerkte ihn der chinesische Chronist nicht mit seinem Herrschertitel, sondern bloß mit seinem persönlichen Namen. - Woo-che von Ts'e, welcher einen Monat nach seinem Amtsantritt ums Leben kam, ist daher von Konfuzius ohne Herrschertitel verzeichnet worden (s. Chuen Chiu, in: Legge, Bd.5, S.83). 53 VgI. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.583. Illegale Thronbesteigungen wurden von den anderen Staaten in der Regel nicht anerkannt. VgI. Liu Po-chi, op. cit., S.290, 293; lriye, op. cit., S. 13 f., der allerdings unter der Anführung von Beispielen die Meinung vertritt, daß Usurpationen dann als saniert galten, wenn der illegal auf den Trohn gekommene Herrscher von genügend anderen Herrschern anerkannt wurde. 54 "Anläßlich der Thronbesteigung eines Fürsten erschienen kleinere Staaten durch ihre Fürsten an seinem Hof und größere schickten freundschaftliche Gesandtschaften." - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.413. 55 über die näheren Umstände s. Kaminski, Chinas Völkerrecht und Außenpolitik: historische Grundlagen, S. 48 ff. 56 Im Rahmen der Debatte um die Nachfolge eines Herrschers von Lu erklärte ein altgedienter Beamter zu den Vorschlägen, die ein Abweichen von diesem Verfahren propagierten: "... Für die Einsetzung eines Herrschers sind die Minister, die hohe Beamtenschaft und der Bewahrer der Schildkrötenschale zuständig. Ich gestatte mir (von diesem Verfahren zuwiderlaufenden Vorschlägen), überhaupt nicht Kenntnis zu nehmen." - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.745. Der Markgraf von Wei sagte, nachdem er die Beleidigungen eines Beamten des mächtigen Tsin hatte hinnehmen müssen: "Ich habe die Altäre entehrt. Ihr müßt die Schildkrötenschale befragen und einen anderen an meine Stelle setzen." - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.769.

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Auch bei den Regierungsgeschäften des Herrschers hatte die hohe Beamtenschaft später ein gewichtiges Wort mitzureden. Wichtige politische Entscheidungen bedurften deren Einverständnis, so daß die Willenserklärung des Herrschers allein nicht genügte, um den Staat rechtlich zu binden. Der Machtzuwachs der hohen Beamtenschaft führte schließlich dazu, daß sie selbst in der Wahrnehmung der gemeinsamen Angelegenheiten der chinesischen Staatengemeinschaft, dem letzten und am peinlichsten gehüteten Reservat einer ausschließlichen Vertretungsbefugnis der Souveräne, diese einschränkten und sogar teilweise verdrängten. So kam es dazu, daß die Beamten auf den Staatenkonferenzen ebenfalls anwesend waren und auf einem gesonderten Opferplatz einen mit dem von den Souveränen geschlossenen gleiclilautenden Vertrag abschlossen57 • Es geschah auch, daß der Vorsitzende der Staatenkonferenz, wenn er eine wichtige Angelegenheit zu beraten hatte, eher die hohen Beamten der Staaten, als deren Fürsten zu sich berief68 • Schließlich bürgerte es sich sogar ein, daß die Beamten völlig selbständig Konferenzen abhielten, an deren Ende der Abschluß eines für ihre Staaten sofort verbindlichen Vertrages stand58 • 4. Das Redlt der diplomatisdlen Beziehungen69

a) Die Rangklassen der Diplomaten Der Rang eines Diplomaten richtete sich nach dem Willen seines Herrschers, der unter sieben verschiedenen Rangstufen wählen konnte80 , sowie nach Rang und politischer Bedeutung des Sendestaates4l1 • 57 So geschehen sogar auf der größten Friedens- und Abrüstungskonferenz der Frühlings- und Herbstperiode, der von Sung (546 v. Chr). - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.533. 58 So belegt das Tso Chuen für eine Zeitspanne von sieben Jahren bloß zwei Konferenzen, bei denen der Vorsitzende der Staatenkonferenz die Fürsten zur Vertretung ihrer Staaten aufgerufen hatte, aber deren drei, zu denen von ihm die hohen Beamten eingeladen worden waren. - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S. 576. Die erste Konferenz dieser Art ist vom Chuen Chiu für die Zeit um 595 v. Chr. belegt. - s. Legge, Bd.5, S.316. 59 Dem Gesandtschaftsverkehr wurde damals große Bedeutung zugemessen. Konfuzius leitet das Recht, welches den Gesandtschaftsverkehr regelt, von den 1i ab, jenen vorgegebenen naturrechtlichen Normen, welche " ... im Himmel wurzeln, sich über die Erde verbreiten, sich auf gute und böse Geister verteilen und sich erstrecken auf Totentrauer und Opfer, auf Bogenschießen und Wagenlenken, auf Mannbarkeitsfest und Eheschließung, auf Audienzen und Empfang von Gesandtschaften". - s. Li Ki, Buch Li Jun, zitiert nach de Groot, Universismus, Berlin 1918, S. 26. 60 Eine genaue Einteilung findet sich bei Liu Po-chi, op. cit., S. 290-293 sowie bei Winberg Chai, International Law and Diplomacy in Ancient China (771-221 B. C.), in: Chinese Culture, Bd.5, Nr.2, S.49. 61 "Ein Minister ersten Grades eines zweitrangigen Staates entspricht einem Minister zweiten Grades eines großen Staates, sein Minister zweiten

4 Kaminski

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

Dieser Grundsatz galt nicht nur für die bilateralen Beziehungen, sondern fand auch im Rahmen der chinesischen Staatenkonferenzen Anwendung. Wenn sich allerdings die Vertreter der großen Staaten nicht nach dem strengen Zeremoniell richteten und zu spät kamen, verloren sie ihren VorrangS!.

b) Die Voraussetzungen für die Aufnahme der diplomatischen Tätigkeit Im Gegensatz zu den heute geltenden Bestimmungen über die diplomatischen Beziehungen bestand damals in China in gewissem Umfang die Pflicht zur Entsendung und zum Empfang von Gesandten. Analog zur Hoffahrtspflicht der alten Zeit bestand die Pflicht, auf den Staatenkonferenzen und zu gewissen Anlässen am Hof des Vorsitzenden der Staatenkonferenz vertreten zu sein8s • Eine Nichtbeachtung dieser Regeln führte zu scharfen Gegenmaßnahmen, die in einer gemeinsamen militärischen Aktion der chinesischen Staaten gegen den Außenseiter gipfeln konnten84 • Als Rechtfertigungsgründe, die solche Maßnahmen abwenden konnten, wurden anerkannt: innere oder äußere Schwierigkeiten, Opfertätigkeit, Krankheit66 • c) Beginn, Durchführung und Ende der diplomatischen Tätigkeit

Dem Gesandten wurde für seine Reise ein besonderer Diplomatenpaß ausgestellt, der im Gegensatz zu den hölzernen Tafeln der gewöhnlichen Reisenden aus einer Metalltafel bestand68 • Der Gesandte wurde Grades entspricht dem Minister dritten Grades des großen Staates und sein Minister dritten Grades der höchsten Klasse der hohen Beamten des großen Staates. In einem kleinen Staat entspricht der Minister ersten Grades dem Minister niedrigsten Grades eines großen Staates, der Minister zweiten Grades der höchsten Klasse der hohen Beamten des großen Staates und der Minister dritten Grades der zweiten Beamtenklasse des großen Staates. Dies sind die Beziehungen von Hoch und Niedrig, wie sie von den altehrwürigen Regeln festgelegt sind." - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 353. 8! Vgl. Hung Chün-pei, op. cit., S. 145. 83 Die Fürsten mußten alle drei Jahre eine Freundschaftsdelegation zum Vorsitzenden der Staatenkonferenz entsenden. Alle fünf Jahre mußten sich die Fürsten selbst zum Vorsitzenden der Staatenkonferenz begeben. Außerdem hatten sie zur Thronbesteigung eines neuen legitimen Herrschers der Hauptmacht sowie zu dessen Begräbnis und zum Begräbnis seiner Hauptfrau Delegationen zu entsenden. - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.588. Eine Nichtbeachtung dieser Regeln konnte scharfe Gegenmaßnahmen des Vorsitzenden der Staatenkonferenz nach sich ziehen. So wurde der Herrscher von Lu, der es verabsäumt hatte, auf die Thronbesteigung des Herrschers der Hauptmacht zu reagieren, als er sich später auf einer Staatenkonferenz einfand, festgenommen und von der Teilnahme ausgeschlossen. - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S.300. 84 s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.90, 112, 147, 242, 300; vgl. auch Liu Po-chi op. cit., S. 242. 85 Vgl. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.597.

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für gewöhnlich schon an der Grenze oder spätestens in den Außenbezirken der Hauptstadt des Empfangsstaates von einem Beamten empfangen, der sich nach den Mühen der Reise erkundigte, Erfrischungen anbot und mit dem ein erster Gedankenaustausch stattfinden konnte67 • Dem Gesandten wurde dann ein Gästehaus zugeteilt68 • Die eigentliche diplomatische Tätigkeit begann mit der Überreichung des "Beglaubigungsschreibens"69, aus dem Rang und eventuell Aufgabe des Gesandten hervorgingen. Das Protokoll erforderte es dann, daß dem Gesandten ein Bankett gegeben und ihm Geschenke überreicht wurden. Der Wert der Geschenke sowie der Ablauf des Banketts waren bis ins letzte Detail - sogar bis zur Zahl der Becher und der Gänge, der Sitzhaltung, der Zeit des Trinkens etc. - bindend vorgeschrieben, und es bestand ein Rechtsanspruch seitens des Sendestaates auf die genaue Einhaltung dieser Regeln7o• Zur damaligen Zeit war die Einrichtung von ständigen Gesandtschaften noch unbekannt, sondern der Gesandte kehrte nach Erledigung seines Auftrages in den Sendestaat zurück. Da aber sein Aufenthalt an fremden Höfen monate- oder gar jahrelang verlängert werden konnte, wurde der Effekt von permanenten Gesandtschaften beinahe erreicht71 • Nach Beendigung der Mission eines Gesandten verlangte das Protokoll wiederum die überreichung von Geschenken72 • Ein Ansatz zur Einrichtung einer ständigen Vertretung in anderen Staaten findet sich in der Errichtung von "Militärmissionen", die das Verteidigungsbündnis zweier Staaten dadurch unterstrichen, daß durch die Stationierung von Wacheabteilungen im schwächeren Staat das Schutzinteresse des stärkeren dokumentiert wurde. Bis zu ihrem Abzug oder ihrer Abberufung auf Wunsch des Empfangsstaates, die diesem freistand 73, wohnten diese Wachen in besonderen Baulichkeiten74 und genossen gewisse Privilegien711 • 66 Näheres bei Hung Chün-pei, op. cit., S.248; Kaminski, Chinas Völkerrecht und Außenpolitik: historische Grundlagen, S.57. 87 Vgl. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.584, 605, 610. 88 Diese Häuser mußten nicht immer innerhalb der Stadtmauern gelegen sein. Aus Sicherheitsgrunden brachte man zuweilen fremde Gesandte außerhalb der Mauern unter oder ließ sie unter der Bedingung in die Stadt, daß ihr Gefolge die Pfeilköcher verkehrt trug. - Vgl. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 575. 69 s. dazu Kaminski, Chinas Völkerrecht und Außenpolitik: historische Grundlagen, S. 57 f. 70 Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.605, 577, 610, 688. 71 Vgl. Winberg Chai, loc. cit., S.49. 72 s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 605. 73 s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 224. 74 s. ibd. 75 Dazu gehörte als besonderer Vertrauensbeweis, daß ihnen der Schlüssel zum Stadttor überlassen wurde. - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.221.

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen d) Die diplomatischen Vorrechte

Die Diplomaten unterlagen nicht den Zollvorschriften des Empfangsstaates76 und hatten, wie schon oben erwähnt, einen Rechtsanspruch auf ordentliche Ausführung des vorgeschriebenen Zeremoniells. Eine Immunität der Gesandten ist nicht nachzuweisen. Diese hätte auch der damaligen chinesischen Denkungsart widersprochen, daß jedes Unrecht die Harmonie beeinträchtige und den Himmel beleidige, so daß auf jede Störung der guten Ordnung notwendigerweise auch eine Sanktion folgen mußte. Hatten die Gesandten selbst Unrecht getan, so hatten sie damit eben den Zugriff auf ihre ,Person herausgefordert, hatte ihr Staat Unrecht getan, so hafteten sie als mitverantwortliche hohe Beamte für ihn77 • Die Gesandten genossen zwar während des gegen sie eingeleiteten Verfahrens gewisse Ehrenrechte, konnten aber die Einleitung und eine etwaig verhängte Bestrafung nicht abwenden78 • e) Die RechtsstelZung der Gesandten in dritten Staaten

Gesandte auf dem Weg zur Staatenkonferenz oder an den Hof des Vorsitzenden der Staatenkonferenz genossen in den Staaten, die sie auf dem Wege dorthin passierten, dieselbe Rechtsstellung wie im Empfangsstaat. Üblicherweise wurde ihnen vom Fürsten des Staates, den sie passierten, auf ihrem Weg eine Freundschaftsvisite abgestattet79 • Während hier die Verweigerung der Durchreiseerlaubnis eine Militäraktion der Staatengemeinschaft oder ihres Vorsitzenden nach sich gezogen hätte, konnten Gesandten, die in einer Mission normalen bilateralen Verkehrs unterwegs waren, die Durchreisegenehmigung versagt werden80• Gesandte, die sich nicht daran hielten, liefen Gefahr, daß die Vgl. Hung Chün-pei, op. cit., S.212. Vgl. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.327, 576, 698, 763, 829. - Daß die Diplomaten sehr wohl um ihr Berufsrisiko wußten, wird durch die Bemerkung eines Beamten deutlich, der die übernahme einer diplomatischen Mission mit folgenden Worten ablehnte: "Ts'oo und Ch'ing sind nun gegeneinander aufgebracht. - Mich dorthin zu senden, heißt mich zu töten." Hinweisen, die übernahme solcher Aufträge sei in seiner Familie erblich, begegnete er mit der Bemerkung: "Wenn es möglich ist, gehen wir, wenn es Schwierigkeiten gibt, gehen wir nicht - was für eine erbliche Pflicht liegt darin?" - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.551. 78 Behauptungen, die man in der Literatur relativ häufig flndet, und die von einer Immunität der Gesandten sprechen, erweisen sich bei näherer überprüfung als Fehlinterpretationen, da die dort angeführten Ausnahmen auf rein praktische oder Motive der Courteoisie zurückgehen. - Vgl. Kaminski, Chinas Völkerrecht und Außenpolitik; historische Grundlagen, S. 61 f. 79 Vgl. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.610. 80 Es sei denn, der Staat hatte dem anderen die freie Durchreise und eine besondere Obsorge hinsichtlich von dessen Gesandten vertraglich zuge7S 77

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Staatsführung des Durchreisestaates zur Betonung von dessen Souveränität ihre Hinrichtung anordnete81 • 5. Das Rechi der völkerrechiUchen Venräge

a) Die Form

Die Vertragsform setzte sich aus schriftlichen, mündlichen sowie Zeichenelementen zusammen. Es wurde eine viereckige Mulde gegraben und über dieser ein Opfertier geschlachtet. Das linke Ohr wurde abgeschnitten und das Blut in einem Gefäß aufgefangen. Der Vorsitzende verlas dann die Bestimmungen des auf Holztafeln geschriebenen Abkommens mit dem Gesicht nach Norden, das heißt in Gegenwart der Geister der Sonne und des Mondes. Dem Vertragstext waren Selbstverfluchungen für den Fall des Vertragsbruches angefügt. Zum Zeichen des Konsenses nahmen die vertragschließenden Organe nacheinander von dem Blut und beschmierten dann damit ihre Mundwinkel. Die Reihenfolge bestimmte sich dabei nach dem Rang der vertretenen Staaten. Dann wurde das Opfertier in die Mulde gelegt, darauf kamen die Artikel des Abkommens und sodann wurde die Mulde zugeschüttet. Bei den innerhalb der chinesischen Staatenkonferenz abgeschlossenen großen internationalen Verträgen wurde das Opfertier vom Gastgeberstaat beigestellt und fungierte der Vorsitzende der Staatenkonferenz als Leiter der Zeremonien82 • Für die bloße Erneuerung von Verträgen war ein etwas vereinfachtes Verfahren vorgesehen. Es wurde lediglich geopfert, der Text des zu erneuernden Vertrages verlesen und die Schrift auf das Blut des Tieres gelegt8s. Diese Vertragsformen entsprechen der Art, wie sie damals auch zwischen Privatleuten im Gebrauch standen84 • Es gab jedoch auch eine von diesen strengen Formen abweichende Type. In diesem Falle wurde der Vertragstext niedergeschrieben und den vertragschließenden Organen vorgelesen, welche dann Verpflichtungserklärungen abgaben, ohne sichert. - Vgl. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.216; s. auch Hung Chün-pei, op. cit., S. 98 f. 81 S. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.324: " ... Durch unseren Staat zu reisen, ohne um unsere Erlaubnis zu bitten, heißt, unseren Staat so zu behandeln, als sei er eine Grenze von Ts'oo - heißt, mit Sung so zu verfahren, als sei es kein Staat! Der Gesandte wurde daher getötet." s. auch Martin, Les Vestiges d'un Droit International dans l' Ancienne Chine, S.236. 82 Vgl. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.829; s. auch Kaminski, Chinas Völkerrecht und Außenpolitik: historische Grundlagen, S.64. 83 Auf diese Weise wurde z. B. der Vertrag von Sung erneuert. s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 576. 84 Vgl. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.525, 610.

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daß die bei Vertragsschlüssen sonst üblichen Zeremonien abgewickelt wurden86 • b) Die vertragsschließenden Organe

Wie bereits in dem Abschnitt über die völkerrechtliche Repräsentation der chinesischen Staaten ausgeführt wurde, waren anfangs allein die Staatsoberhäupter abschlußberechtigt. Beamte durften wohl Verträge bisweilen aushandeln und abschließen, doch erstreckte sich die Bindung bis zur nachfolgenden Genehmigung ihres Souveräns bloß auf ihre eigene Person. c) Willensmängel

Von den heute bekannten Willensmängeln scheint in den chinesischen Quellen nur der Zwang auf. Bezüglich dieses Willensmangels folgte man zur damaligen Zeit in China einer überraschend modernen Regelung: nicht nur der Zwang gegen das abschließende Organ machte den Vertrag mangelhaft, sondern auch der Zwang, welcher sich gegen den Staat richtete. Der religiösen Elemente der chinesischen Verträge wegen ließ Zwang - gleichgültig, ob zwischen Staaten oder Privaten bei dem gezwungenen Partner keine Bindung entstehen86 • d) Das Erlöschen von völkerrechtlichen Verträgen Die Verträge waren grundsätzlich unbefristet und enthielten keine Kündigungsklausel. Bloß bei Heiratsverträgen zwischen den fürstlichen Familien, welche wie im älteren europäischen Völkerrecht ebenfalls zu den völkerrechtlichen Verträgen zählten, Zessionsverträgen und anderen Verträgen, bei denen die Natur des Vertrages eine endgültige Vgl. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S. 42. So verstieß der in allem so gewissenhafte Konfuzius seelenruhig gegen einen ihm abgepreßten Vertrag. Auf die Fragen seiner Schüler antwortete er: "Es war ein erzwungener Eid. Die Geister hören solche nicht." - s. Legge, Bd. 1, S.79. Der Kommentar Kung Yangs zu einem Vertrag, welcher dem Herrscher von Lu vom Markgrafen von Ts'e mit der Schwertspitze abgefordert worden war, enthält denn auch die Bemerkung: "Ein erzwungener Vertrag wie dieser hätte außer acht gelassen werden können." Aber auch für die Nichtigkeit von unter Druck gegen den Staat zustandegekommenen Verträgen gibt es Beispiele. Ein Ch'ing von Tsin unter der Androhung von Waffengewalt auferlegter Vertrag wurde von zwei Ministern Ch'ings folgendermaßen beurteilt: " ... bei einem erzwungenen Vertrag, wo keine Aufrichtigkeit herrscht, sind die Geister nicht anwesend. Sie sind nur dort anwesend, wo guter Glaube herrscht. Der gute Glaube ist die Kostbarkeit der Sprache und die Hauptsache der Tugend und daher werden die Geister davon angezogen. Sie in ihrer Weisheit verlangen nicht das Festhalten an einem erzwungenen Vertrag - er kann mißachtet werden." - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.441. 811

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Erfüllung des Vertragszieles ermöglichte, erlosch der Vertrag durch Erfüllung. In anderen Fällen war es meist ein vertragswidriges Verhalten der Vertragsparteien, welches ein allzu langes Andauern der Verträge verhinderte. Kriegerische Auseinandersetzungen der Vertragsparteien brachten die Verträge zum Erlöschen. Eine andere Gefahr stellte die Nichtanwendung dar, welche ebenso wie das vertragswidrige Verhalten gegen Ausgang der Frühlings- und Herbstperiode durch die Hektik der ständig wechselnden Allianzen begünstigt wurde. Dagegen versuchten sich die Staaten zu schützen, indem sie die Verträge nach immer kürzer werdenden Fristen erneuerten87 •

e) Zum Vertragsinhalt Bei bilateralen Verträgen aus der ersten Zeit der Frühlings- und Herbstperiode fällt auf, daß stets auf das Gesamtinteresse der chinesischen Staatengemeinschaft Rücksicht genommen wurde88 • In noch höherem Maße waren die großen multilateralen Abkommen aus dieser Zeit auf ihre Ordnungsfunktion innerhalb der Staatengemeinschaft ausgerichtet89 • Bei zunehmendem Machtstreben der einzelnen Staaten 87 Durch das Tso Chuen sind Vertragserneuerungen, die bereits nach fünf oder gar vier Jahren vollzogen wurden, überliefert. - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 441, 828 f. 88 Vgl. den Bündnis- und Freundschaftsvertrag zwischen Tsin und Ts'oo (etwa 578 v. Chr.). - Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.378, Text auch bei Kaminski, Chinas Völkerrecht und Außenpolitik: historische Grundlagen, S. 68 f. 89 Das Abkommen von Kw'ei ch'iu (650 v. Chr.) hat folgenden Wortlaut: .. 1. Tötet die unehrerbietigen Kinder, verdrängt nicht den Sohn, welchen ihr zum Erben eingesetzt habt, erhöht nicht den Stand einer Konkubine zu dem einer Frau. 2. Ehrt die, welche es verdienen und pflegt die Fähigen, zeichnet die Tugendhaften aus. 3. Respektiert die Alten und seid gütig zu den Jungen. Vergeßt nicht auch Fremde und Reisende. 4. Laßt die Ämter nicht erblich werden, und laßt die Beamten nicht mehrere Pfründen auf sich vereinigen. Bei der Wahl eurer Beamten laßt es euer Anliegen sein, den rechten Mann zu flnden. Kein Herr soll einen hohen Beamten selbst zu Tode bringen. 5. Verfolgt keine unehrenhafte Politik beim Aufführen von Dämmen. Legt dem Getreidehandel keine Beschränkung auf. Laßt keine Rangerhöhungen zu, ohne vorhergehende Verständigung des Souveräns. Alle von uns, die dieses vereinbart haben, werden von nun an freundschaftliche Beziehungen unterhalten." s. Werke des Mencius, in: Legge, Bd.2, S.437. - Die Verpflichtungen, welche sich die Staaten hier auferlegen, sind nicht nur ethisch motiviert, sondern auch von einem rein praktischen Standpunkt aus betrachtet durchaus geeignet, die wesentlichsten Friktionsursachen aus der Welt zu schaffen. - Vgl. dazu Kaminski, Chinas Völkerrecht und Außenpolitik: historische Grundlagen, S. 70.

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mußte diese Orientierung den jeweiligen Sonderinteressen weichen. Es galt nicht mehr, Rechte und Pflichten, welche die Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb der chinesischen Staatengemeinschaft sichern sollte, präzise zu formulieren, sondern es ging bei bilateralen und multilateralen Abkommen den Unterhändlern in erster Linie darum, kurzfristige taktische Vorteile zu sichern und sich durch vage Formulierungen für später einen möglichst weiten Handlungsspielraum vorzubehalten90• Darunter mußten notwendigerweise der gute Glauben und die Vertragstreue leiden, und so gab man sich später nicht mehr mit der Bestärkung der Verträge durch bloße Versicherungen der Bündnistreue und Selbstverfluchungen zufrieden. Um den eigenen Vorteil zu wahren, ließ man sich Kostbarkeiten übereignen oder Land zedieren. Eine wichtige Bestärkung von Verträgen wurde außerdem die Stellung von Geiseln91 ,92. Aber auch diese Vorkehrungen erwiesen sich in der ausgehenden Frühlings- und Herbstperiode als wirkungslos, als ein Minister von Ch'u die damaligen Zustände mit dem lapidaren Satz treffend kennzeichnete: "Bei einem Vorteil über den Feind muß man ohne Rücksicht auf Verträge vorgehen93 ." 6. Das Kriegsrecht

a) Das Recht des gerechten Krieges Ähnlich wie im klassischen europäischen Völkerrecht mußte für den Krieg eine "iusta causa" vorliegen94 • Der Unterschied zu der klassischen europäischen Konzeption besteht darin, daß sich das Unrecht, welches den Kriegsgrund lieferte, sich nicht gegen den Staat gerichtet haben mußte, welcher militärisch reagierte. Ausgenommen die Perioden, in denen sich starke Vorsitzende der chinesische Staatenkonferenz das Monopol der Kriegsführung vorbehalten hatten'li, war jedes Mitglied der chinesischen Staatengemeinschaft berechtigt, als Instrument des durch grobe Rechtsverletzung beleidigten Himmels aufzutreten und militärisch zu intervenieren. 90

sind.

Vgl. Kaminski, op. cit., S.71-73, wo entsprechende Beispiele angeführt

s. dazu Liu Po-chi, op. cit., S. 244 ff. Als Geiseln kamen in erster Linie Mitglieder des Herrscherhauses oder Minister in Frage. - s. z. B. Tso Chuen, in: Legge. Bd.5, S.182, 817. Es gab aber auch Kollektivgeiselschaften, wobei aus jedem Dorf ein Mann gestellt werden mußte. - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S.310. 93 s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 388. 94 Vgl. T'ang Wu, Chung-Kuo YÜ Kuo-Chi-Fa (China und das Völkerrecht), Bd.l, 1967, S. 3 ff.; Martin, Les Vestiges d'un Droit International dans l' Ancienne Chine, S. 239. 91

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Kriege mußten also als Strafexpeditionen konstruiert werden" und bedurften außerdem der Zustimmung des Himmels, welche man in einem günstigen Orakel zu erkennen vermeinte97 . Während der späteren Jahre der Frühlings- und Herbstperiode verloren die Orakel jedoch stark an BedeutungU8. b) Beschränkungen des Rechts zum gerechten Krieg

Kriegsgrund und günstiges Orakel gaben nicht in jedem Fall und zu jeder Zeit das Recht, in den Krieg zu ziehen. Es gab feste nach J ahreszeit und Monatstag bestimmte Zeiten, an denen nicht marschiert und nicht gekämpft werden durfte99 • War der gegnerische Staat durch einen Trauerfall - im allgemeinen Tod des Herrschers - betroffen, so durfte für die Zeit der Staatstrauer weder dieser Staat100 noch andere mit Herrschershäusern gleichen Familiennamens angegriffen werden101 • Zuweilen wird auch ein Verbot angeführt, Staaten anzugreifen, die mit inneren Schwierigkeiten zu kämpfen hatten10!. Mit der zunehmenden Härte der Auseinandersetzung um die Macht kamen diese Regeln jedoch außer Gebrauch. c) Rechtliche Beschränkungen des Verhaltens im Krieg aa) Beginn einer Schlacht Es war üblich, vor Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen den Armeen Boten hin- und herzusenden, welche absolut unverletzlich waren103• Diese hatten die Aufgabe, zuweilen mit Gründen versehene Kampfansagen sowie deren Beantwortung zu überbringen sowie die Zeit der Schlacht festzulegen 104 • Bevor die Kampfhandlungen beginnen konnten, 911 Vgl. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.507, 516. 96 Wobei die Gründe allerdings oft je nach politischer Notwendigkeit schamlos erfunden wurden. Näheres bei Kaminski, Chinas Völkerrecht und Außenpolitik: historische Grundlagen, S. 80 f. 97 Meist bediente man sich dazu getrockneter Schafgarbenstengel, welche nach bestimmten Gesetzen ausgezählt wurden. Eine eingehende Schilderung gibt Wolfgang Bauer, China und die Hoffnung auf Glück, München 1971, S. 35 ff. 98 Vgl. Kaminski, op. cit., S. 81 f. 99 s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 396. 100 s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.71. 101 s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.225. 102 s. Hung Chung-p'eh, op. cit., S. 268. 103 Vgl. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.371. 104 Näheres bei Kaminski, op. cit., S. 83.

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mußten außerdem beide Heere Schlachtordnung eingenommen und die Trommeln gerührt habenlO5 • Diese von einem ritterlichen Geist getragenen Regeln hielten jedoch der Staatenpraxis auf Dauer nicht standl06 • Während Shang Fu, der berühmte alte Militärtheoretiker der westlichen Chou-Dynastie, in seinen "Sechs Prinzipien der Strategie" die Meinung vertrat, die gute Führung einer Armee hänge von der Tugend und Rechtschaffenheit des kommandierenden Generals ab lO7 , verfocht der nicht minder berühmte Theoretiker Sun Woo aus dem sechsten Jahrhundert v. Chr. die These, der Erfolg in der Kriegsführung richte sich ausschließlich nach der Fähigkeit des Feldherrn, günstige Situationen unter alleiniger Berücksichtigung von Zweckmäßigkeitserwägungen auszunützenlO8 • Die spätere ,praxis der Frühlings- und Herbstperiode war von der Anwendung seiner Theorien gekennzeichnetlO9 • bb) Die Kombattanten Nach traditionellem chinesischen Kriegsrecht agierten bloß reguläre Ritterheere mit der Ausnahme als aktive und passive Kombattanten, daß im äußersten Notfall sich die Bevölkerung dann dem Feind entgegenstellen durfte, wenn es darum ging, die Staatsaltäre und somit den Staat vor Zerstörung und Untergang zu schützen. Vgl. Liu Po-chi, op. cit., S. 75. Einen Markstein in dieser Entwicklung bildete die Schlacht zwischen Sung und Ts'oo. Der Kriegsminister des schwachen Sung bat seinen Herrn, die ungeordneten bei einem Flußübergang befindliche Annee Ts'oos angreifen zu dürfen. Der Herzog lehnte ab und erwiderte auf spätere Vorwürfe: " ... Als die Alten ihre Armeen im Felde hatten, attackierten sie keinen in einem Engpaß befindlichen Feind, und obwohl ich bloß ein armseliger Nachfahre einer gefallenen Dynastie bin, lasse ich meine Trommeln nicht zum Angriff auf einen ungeordneten Feind ertönen." - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 183. Sein Kriegsminister argumentierte dagegen mit den pragmatischen überlegungen, die sich damals gerade durchzusetzen begannen: "Euer Gnaden kennen die Regeln des Kampfes nicht - wenn uns der Himmel einen Feind in einem Engpaß oder in ungeordneter Formation beschert, so heißt das, daß uns der Himmel unterstützt ... In einer Armee sind scharfe Waffen im Gebrauch, während die Messinginstrumente und Trommeln die Männer anfeuern. Die scharfen Waffen dürfen gegen einen Feind irp Engpaß erhoben werden. Wenn der Lärm am größten ist und die Männer alle entfiammt sind, dann dürfen die Trommeln gegen einen in Unordnung befindlichen Feind getragen werden." s. ibd. 107 Vgl. Chang Chi-yun, The First Famous General in Chinese History_The Grand Duke, in: Chinese Culture, Bd.9, Nr.3, Sept. 1968, S.55. 108 Daher rät er in seiner "Kriegskunst", stets den Angriff auf einen ungeordneten und unvorbereiteten Feind zu suchen. - s. Sun Woo, Trakfat über die Kriegskunst (deutsche übersetzung), Berlin 1957, S.87. 109 Bei manchen gegen das alte Kriegsrecht verstoßenden Aktionen wurde die Kriegskunst ausdrücklich zitiert. - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 319, S.689. 105 106

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Ansonsten durfte die Bevölkerung weder Kampfhandlungen setzen, noch durfte sie Objekt von Kampfhandlungen werden110. Dieses Prinzip wurde während der späteren Zeit der Frühlings- und Herbstperiode außer acht gelassen111 • ce) Die Verwundeten, Kranken und Wehrlosen Das traditionelle Kriegsrecht verlangte einen ritterlichen Kampf, welcher ein Vorgehen gegen einen verwundeten, kranken oder sich ergebenden Feind ausschloß112. Kriegsführung wurde als sportlicher Wettkampf aufgefaßt, der fair und gentlemanlike ausgetragen werden mußte 113,114. Der Kampf um die Vormacht in der chinesischen Staatengemeinschaft brachte es mit sich, daß die kleinen Ritterheere später durch große Heerhaufen ersetzt wurden, in die gelegentlich sogar Strafkompanien von Kriminellen eingegliedert waren115. Der Sieg im ritterlichen Einzelkampf zählte nicht mehr, sondern es galt, den Gegner möglichst zu schwächen, wodurch die früher streng beobachtete Schonung des wehrlosen Feindes außer übung kam116. dd) Die Kriegsgefangenen Bereits nach den traditionellen Regeln konnte mit Kriegsgefangenen beliebig verfahren werden, und sie mußten mit teils religiös, teils aus praktischen Gründen vorgenommenen Verstümmelungen rechnen, auf 110 Die vom traditionellen Kriegsrecht geforderte Situation wird von Mencius folgendermaßen beschrieben: "Die Einkäufer auf den Märkten hielten nicht mit ihrer Tätigkeit inne. Die Viehzüchter gingen unverändert ihrer Arbeit nach. Während er (T'ang, der Gründer der Shang-Dynastie) ihre Herrscher bestrafte, tröstete er die Bevölkerung. Sein Fortschreiten war wie der Fall willkommenen Regens und die Bevölkerung war beglückt." - s. Werke des Mencius, in: Legge, Bd. 2, S. 17l. 111 Beraubung, Mißhandlung, Gefangennahme und sogar Tötung von Angehörigen der Zivilbevölkerung wurden üblich. - VgI. Kaminski, op. cit., S.86. 112 VgI. den Kommentar von Kuh-Ieang, in: Legge, Bd.5, S.65, 183 sowie Werke des Mencius, in: Legge, Bd.2, S.329. 113 VgI. die Aufforderung eines Feldherrn von Ts'oo an seinen Widerpart von Tsin: "Laßt mich mit euren Männern ein Spiel haben." - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.209. 114 Zu der perfekten Höflichkeit, die selbst die direkte und harte Auseinandersetzung mit dem Feind dominierte s. Kaminski, op. cit., S. 87 f. 115 s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.699, 788. 116 VgI. Kaminski, op. cit., S.88.

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jeden Fall aber mit ihrer Versklavung117• Die einzige bekannte Schutzbestimmung aus der älteren Zeit, welche grauhaarige Feinde von der Gefangennahme ausnahm, wurde später nicht mehr angewandt118 • ee) Spionage, Kriegslist, Perfidie Das traditionelle Kriegsrecht verbot derlei Verstöße gegen die militärische Ehre. Sun Woo, der dann die Staatenpraxis nachhaltig beeinflußte, war aber der Auffassung, daß beim Wissen um die Zukunft nicht auf Götter und Dämonen, sondern allein auf Spionage und Gegenspionage zu vertrauen sei11e• Hinterlist und Täuschung seien erlaubte Mittel, um zum gewünschten militärischen Erfolg zu kommen120 • d) Die Beendigung des KTiegszustandes

Nach Verhandlungen mit einem noch nicht unterworfenen Gegner: Dies traf dann zu, wenn der Gegner noch über entsprechende Reserven verfügte und insbesondere seine Hauptstadt noch nicht gefallen war. Deshalb bestand er des öfteren darauf, daß sich der andere vor Abschluß des Friedensvertrages 30 li von den Mauem der belagerten Hauptstadt zurückzog, um zu dokumentieren, daß es sich dabei um einen Friedensvertrag handle, der auf Basis der Freiwilligkeit und nicht etwa einer völligen Niederwerfung der einen Partei geschlossen wurde. Die Einwilligung in den Abschluß des Vertrages "unter den Mauern der Hauptstadt" hätte nämlich nach den damaligen chinesischen Gepflogenheiten das Eingeständnis der debellatio bedeutet und dem Sieger weitgehende Handlungsfreiheit gelassen121 • s. ibd., S.89. Der oben bereits zitierte Kriegsminister von Sung meinte dazu: "Sogar die Alten und Welken unter ihnen müssen von uns gefangen werden, wenn wir dazu die Möglichkeit haben - was schert uns ihre Grauhaarigkeit! . . . Wenn wir die Grauhaarigen schonen, können wir uns gleich dem Feind ergeben." 119 s. Sun Woo, op. cit., S. 114. 120 s. ibd., S. 101, 115. 121 So überbrachte ein Abgesandter Sungs der Belagerungsarmee von Ts'oo folgende Botschaft: "Mein Herr hat mich beauftragt, euch von unserer Bedrängnis in Kenntnis zu setzen. In der Stadt tauschen wir unsere Kinder aus. Wir essen sie und spalten ihre Knochen, um Brennstoff zu gewinnen. Dennoch, wenn ihr von uns verlangt, einen Vertrag unter den Stadtmauern zu schließen, werden wir dies nicht tun, sollte auch unsere Stadt völlig vernichtet werden. Zieht euch von uns 30 li zurück, so werden wir euren Befehlen Folge leisten." s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 328. 117

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Nach bedingungsloser Kapitulation: Diese erfolgte dann, wenn der militärische Widerstand entscheidend gebrochen war bzw. Herrscher und Hauptstadt in die Hände des Feindes gefallen waren12l!. Während der Sieger in der älteren Frühlings- und Herbstperiode zumindest daran gehindert war, sich Staaten von Herrscherhäusern seines Familiennamens einzuverleiben, waren ihm später keinerlei Schranken auferlegt. Er konnte wohl durch ausdrückliche Genehmigung der Staatsopfer, Rückerstattung von Ministersiegeln, Landkarten und Einwohnerlisten zum Ausdruck bringen, daß er den Staat weiterexistieren lasse, konnte aber auch jede andere Entscheidung fällen 123 , d. h. ein Abhängigkeitsverhältnis begründen oder sich das betreffende Territorium ganz einverleiben. 7. Das Neutralitiitsredlt

Bei Funktionieren der ursprünglichen Konstruktion der chinesischen Staatengemeinschaft wäre für die Neutralität kein Raum geblieben. Ähnlich, wie später der Völkerbund in seiner ebenfalls Theorie gebliebenen Zielsetzung, hatte die chinesische Staatengemeinschaft die Aufgabe, gegen Friedensbrecher in einer gemeinsamen notfalls militärischen Aktion vorzugehen, von der sich kein Staat ausschließen durfte.

Als dann aber später die Verwirklichung dieses Konzeptes durch den Umstand in Mitleidenschaft gezogen wurde, daß mehrere Vorsitzende der Staatenkonferenz um die Macht kämpften und sich mehrere Bündnisse gegenüberstanden, bedeutete die Neutralität für die kleinen Staaten die einzige überlebensschance. - Nur zu leicht konnte aus dem starken Bündnispartner von heute der Aggressor von morgen werden124. 122 über das Zeremoniell der bedingungslosen Kapitulation s. Kaminski, op. cit., S. 91 f. 123 Dies kommt in der Rede des unterlegenen Grafen von Ch'ing an den Sieger ganz deutlich zum Ausdruck: "Wenn ihr uns in den Süden der Keang verschleppt, um dort das Küstenland zu bewohnen, es mag geschehen. Wenn ihr dem staat einen anderen Herrscher bestimmt, dessen Knecht ich wäre, es mag geschehen. Wenn ihr großmütigerweise früherer freundschaftlicher Beziehungen zwischen unseren Staaten eingedenk seid und auch des Segens der Könige Le und Weuen und der Herzöge Hwan und Woo wegen unsere Altäre nicht zerstört, so daß ich meine Haltung ändern möge und eurer Hoheit zugleich mit den Gouverneuren eurer neuen neun Bezirke dienen kann, so wäre das eure Güte und mein Wunsch, aber es ist etwas, was ich nicht zu erhoffen wage. Ich habe mich erdreistet, euch mein ganzes Herz zu offenbaren, eure Hoheit werden darnach eure Maßnahmen ergreifen." - s. Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S.316. 124 Vgl. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.136, 145, 146.

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Die Neutralität war im wesentlichen auf Kleinstaaten beschränkt, weil gegen große Staaten, die abseits standen, vom gerade mächtigsten der Konkurrenten um den Vorsitz der Staatenkonferenz früher oder später unweigerlich eine Strafexpedition eingeleitet wurde. Das Abseitsstehen kleiner Staaten wurde hingegen toleriert, da ihre Heere für den Vorsitzenden der Staatenkonferenz ohnehin keine wesentliche Unterstützung oder Bedrohung darstellten. Das bedeutete aber nicht, daß die kleinen Staaten ihr Heer vernachlässigen durften. Neutralität konnte nur als bewaffnete Neutralität praktiziert werden. Bereits in alter Zeit hatte der kleine Staat im Falle, daß ein großes Heer an seinen Grenzen vorüberzog, die Pflicht, seine Verteidigungsanlagen zu bemannen, um Vermögen und Gewilltheit, seine Neutralität zu verteidigen, unter Beweis zu stellen125 • Hielt die Staatsführung eines kleinen Staates einen klugen politischen Kurs, der die Gegebenheiten des politischen Gleichgewichtes berücksichtigte ("Der Wagen und seine Radachsen hängen voneinander ab" oder "Wenn die Lippen verschwinden, werden die Zähne kalt") und sorgte sie für ein entsprechendes Verteidigungspotential, so konnte sie es vermeiden, zwischen den Kriegen der Großmächte zerrieben zu werden. Wurden jedoch diese Prinzipien vernachlässigt, so führte dies in jedem Falle zum Untergang des betreffenden Staates1%8. Neutralität war aber in der Zeit der Frühlings- und Herbstperiode nicht nur das Produkt eines individuellen, ausschließlich von Motiven des eigenen Vorteils bestimmten politischen Kurses kleiner Staaten. Wie die permanente Neutralität geltenden Völkerrechts eine Geburt des europäischen Gleichgewichts ist127 , entspringen die von der damaligen chinesischen Staatengemeinschaft hervorgebrachten Ansätze zu einer Perpetuierung des neutralen Status ebenfalls einem über individuelle Sonderinteressen hinausgehendes Gleichgewichtsdenken. In Erweiterung des ursprünglich auf dem eigenen Schutzbedürfnis aufbauenden Satzes der Lippen und Zähne stellte man Gebiete ein für alle Mal außer Streit, an deren Unabhängigkeit und Neutralität man gemeinsam mit anderen Staaten ein strategisches Interesse hatte. Da in diesem besonderen Falle die Neutralität des betreffenden Gebietes s. Kommentar des Kuh Leang, in: Legge, Bd.5, S.72. Beispiele bei Kaminski, op. cit., S. 95. 127 Vgl. Stephan Verosta, Die dauernde Neutralität, Wien 1967, S. 12 ff.; Herbert Schambeck, Gedanken zur dauernden Neutralität Österreichs, in: R. Weiler-V. Zsifkovits (Hrsg.), Unterwegs zum Frieden, Wien-FreiburgBasel 1973, S. 407 ff.; Robert Prantner, Der Souveräne Malteserritterorden (Abschnitt: Die Neutralität des Malteserordens zur Sichenmg seiner Unabhängigkeit und im Dienste seiner sozial-humanitären Stellung unter den Völkern), Wien 1971; Gerd Kaminski, Bewaffnete Neutralität, Wien 1970, S.15. 125

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I. Hat China Völkerrecht entwickelt und angewandt?

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von den interessierten Staaten garantiert wurde, konnte auf seine Verteidigungsbereitschaft verzichtet werden. Man bemühte sich vielmehr, dieses Gebiet in einen Zustand zu bringen, in dem es für keinen der interessierten Staaten eine Gefahr darstellen konnte. Dies konnte entweder durch ein Niederlassungsverbot für Neuansiedler erreicht werden, welches einen Druck auf die Grenzen der anderen Staaten vermeiden solltel28 , oder durch eine Entmilitarisierung. Diese wurde von den interessierten Staaten vertraglich vereinbart und garantiert und näherte den daraus resultierenden Status dem eines neutralisierten Staates modernen Völkerrechtes an. Zwischen Sung und Ch'ing lag ein kleiner Staat, über den die vertragliche Abmachung bestand, "daß ihn keiner von ihnen haben sollte". Als nun Ch'ing daran ging, drei Ansiedlungen des neutralisierten Gebietes (wörtliche übersetzung des chinesischen Ausdruckes: "leer") zu befestigen, erfolgte eine militärische Intervention Sungs, worauf das Gebiet wiederum "neutralisiert" wurde l29 • 8. Der Zusammenbrudl der Organisation der dlinesisdlen Staatengemeinsdlaft der Frühllngs- und Berbstperiode und ihrer Völkerredltsordnung

Die Organisation der chinesischen Staatengemeinschaft und ihre Völkerrechtsordnung, vor allem, wie sie auf die Zeit der älteren Frühlings- und Herbstperiode zurückgehen, ging von der Konzeption einer gebilligten Vielheit von Staaten aus, die in freiwilligem Zusammenwirken das politische Gleichgewicht und damit die Ordnung innerhalb ihrer Gemeinschaft sicherstellten. Die später entwickelten, zuerst rein machtpolitisch und nicht universalistisch motivierten Bestrebungen, welche die Vielheit selbständiger chinesischer Staaten in Frage stellten und den traditionellen Zielen des Gleichgewichts die einer in einen erzwungenen Zusammenschluß mündenden Hegemonie eines starken Staates gegenüberstellte, mußte schließlich zu einem Zusammenbruch der alten Konzeptionen führen. Wie Liu Po-chi treffend bemerkt, wurden während der Blütezeit der Frühlings- und Herbstperiode die Kriege von den Staatenkonferenzen an Bedeutung weit übertroffen, während es zur Zeit der darauf folgenden Periode der Kämpfenden Staaten gerade umgekehrt war l30 , an deren Ende schließlich dem Rücksichtslosesten Sieg und Reichseinigung winkten. So wurde die alte Rechtsordnung vernichtet, welche in der westlichen Chou-Dynastie wurzelte, sich in der Frühlings- und Herbstperiode lange Zeit hindurch Tso Chuen, in: Legge, Bd. 5, S. 33. s. Tso Chuen, in: Legge, Bd.5, S.829, 831. s. Liu Po-chi, op. eit., S. 463.

128 S . 129

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

bewährt hatte, die jedoch von den veränderten soziologischen Voraussetzungen nicht mehr getragen wurde. Immerhin wurde durch diesen

Abschnitt demonstriert, daß die Chinesen in einer langen und wichtigen Epoche ihrer Geschichte ein rassisch nicht diskriminierendes auf der Basis der kulturellen Ebenbürtigkeit aufgebautes Staatensystem gekannt haben, das nach den Regeln einer eigenständig hervorgebrachten hoch spezialisierten Völkerrechtsordnung funktionierte. Ein Umstand, der bei einem so geschichtsbewußten Volk wie den Chinesen 130a , eine große Rolle spielen und ihnen das Verständnis für Wert und Notwendigkeit der geltenden Völkerrechtsordnung erleichtern mag130b • 13Ga Vgl. dazu die sehr illustrative Darstellung von Richard Harris:" I will offer only one defenee, namely, that I think China's outlook on the world is, in fact based on generalizations. I should like to begin by illustrating one of my major points with a personal aneedote. In 1949 I was in Nanking on a visit from Shanghai and I went to the station on a Sunday evening to get my ticket to go back to Shanghai. This was at a time when the Communist armies were sweeping aeross North China and were fifty or sixty miles north of the Yangtse River. I arrived to find the booking-offiee closed, and three soldiers were standing there waiting for it to open. I stood beside them and listened to their eonversation, and I was faseinated by it. They were eomparing the eondition of China in that year, 1949, with the eondition of China during the Sung Dynasty, when there was a regime which held out in the South after the North had been oeeupied; and they were reflecting, with what seemed to me a wealth of historical knowledge, on how China eame to be reunified in the past, and how it might again be unified in the future. When this subjeet had been dealt with, they then turned to diseuss me, in the charming way in which all Chinese assume that no foreigner speaks their language. They said, 'Who is this fellow? What is he doing and where is he going?' And one of them said, 'You ean see he is an Ameriean; look at the size of his nose.' When a few moments had passed, I asked if they eould tell me when the booking-offiee opened. And one of them said, 'rt opens at ... But you speak Chinese!' I said, 'Yes, I do and, ineidentally, I am not an Ameriean.' 'You are not an Ameriean?' I said 'No, eould you guess what I am?' They thought for a moment and one of them said, 'You are French.' I said 'No, not French, try again.' They thought a little harder. 'Wait a minute, wait a minute,' said one of them, 'there is another one, you are English.' And I said, 'Yes, quite eorrect.' I reflected on that little ineident, and found myself thinking that, if I was ever at Waterloo Station and saw three British private soldiers and asked them to name ten or twenty eountries, I am sure that they eould do it without diffieulty, but I should be very, very surprised indeed if I was to hear those soldiers eomparing inflation in England today with inflation during the Wars of the Roses." Richard Harris, China and the World, in: International Affairs, Bd.35, Nr.2, 1959, S. 161. 13Gb Zur Zeit der Einführung des westlich geprägten Völkerrechtes in China wurde in mannigfaltiger Weise auf das Völkerrecht der Frühlingsund Herbstperiode Bezug genommen. W. A. P. Martin verwendete das von ihm verfaßte "International Law in Ancient China" im Unterricht an der chinesischen "Diplomatischen Akademie", dem Tung-wen College. Einige Schüler des Reformers des 19. Jahrhunderts, K'ang Yu-wei, verglichen das

11. Chinesischer Universalismus gegen Staatengleichheit

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IL Der chinesische Universalismus als Gegner einer auf Basis der Gleichheit aufgebauten Völkerrechtsordnung 1. Die mit Ch'in Shih huang-ti einsetzende und von der Tang-Dynastie endgültig gefestigte Kontinuität des chinesischen Universalismus

Das Machtstreben des jungen Königs Cheng von Ch'in brachte im Jahre 221 v. Chr. die Reichseinigung. Ihm und seinem Kanzler Li 8su verdankt der chinesische Universalismus jene theoretische Untermauerung der bloß einen Zentralherrscher zulassenden Reichseinheit, welche später ihre Dominanz auch dann behaupten konnte, wenn die machtpolitische Basis teilweise wieder gewichen war. Die geänderte Situation wurde vom neuen Herrscher bereits durch die Annahme eines neuen Titels (huong-ti) deutlich gemacht, bei dem es sich um eine aus ehrwürdigen Bezeichnungen geformte bewußte Neuschöpfung handelte. Schon dadurch wurde die Absicht ausgedrückt, einen von der losen Oberhoheit der Chou ganz verschiedenen Typ der Herrschaft auszuüben131 • Gemäß dieser Zielsetzung verweigerte es der Kaiser, durch Wiederherstellung der alten Fürstentümer die alte feudale Lebenspyramide wieder erstellen zu lassen: "Daß die Oikumene unter unaufhörlichen Kriegen litt, kam daher, daß es Fürsten und Könige gab. Durch die Hilfe meiner Ahnen ist jetzt die Oikumene zum ersten Mal befriedet. Nunmehr aufs neue Einzelstaaten zu errichten, hieße wiederum, Krieg zu schaffen. Wäre es dann nicht schwierig, nach Frieden und Ruhe zu streben13l!?" Den Plänen Li Ssus folgend schweißte der Kaiser das Reich zu einer verwaltungstechnischen Einheit zusammenl33 • Dem Einheitsgedanken wurden unter seiner Herrschaft so starke Impulse gegeben, Chun-chiu mit dem Völkerrecht der europäischen Staaten. Einer meinte: "Wie der Codex des Völkerrechts für die Europäer die höchste Menschlichkeit und die vollkommenste Gerechtigkeit darstellt, so auch die Gesetze des Chun chiu mit dem Kung yang chuan." In einem anonymen Aufsatz "über die Klassiker als Grundlage des Völkerrechts" versuchte man, europäische Rechtsbegriffe mit den Lehren der chinesischen Klassiker in Einklang zu bringen. "Das Völkerrecht", so hieß es darin, "ist das Chun chiu für die ganze Welt". - s. Wolfgang Franke, Die staatspolitischen Reformversuche K'ang Yu-weis und seiner Schule, in: MSOS, Bd.4, S. 3~37. Es ist auch zu erwähnen, daß die Verfasser der Denkschrift zur Zeit des Boxeraufstandes die Angriffe auf die ausländischen Gesandtschaften mit dem Hinweis auf die Mißbilligung solcher Aktionen durch das Chun ehiu und erst in zweiter Linie unter Berufung auf das westliche Völkerrecht verurteilten. s. Ssu-Yu-Teng und John K. Fairbank, Chinas Response to the West, New York 1970, Dok.49, S. 19l. 131 s. Peter Weber-Schäfer, Oikumene und Imperium Studien zur Ziviltheologie des chinesischen Kaiserreichs, München 1968, S. 216. 132 Zitiert nach Schäfer, op. cit., S. 184. 133 VgI. Derk Bodde, China' First Unifier A Study of the Ch'in Dynasty as seen in the Life of Li Ssu, Neudruck Hong Kong 1967, S.133-180. 5 Kamtnsld

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

daß späteTe ReichsteiZungen eTfolgTeich iibeTwunden weTden konnten134 • Der nunmehr gefestigte Einheitsgedanke mußte jeden anderen mit Anspruch auf Gleichberechtigung auftretenden Herrscher zum die natürliche Ordnung störenden Usurpator stempeln. Daher konnte nicht einmal ein außerhalb des eigentlichen Herrschaftsbereiches auftretender Souverän geduldet werden, der mit den gleichen Titeln und Würden auftrat, die dem chinesischen Weltbild nach ausschließlich dem chinesischen Zentralherrscher zustanden. So wandte sich Kaiser Wen-ti der auf die Ch'in-Dynastie folgenden Han-Dynastie im Jahre 179 mit einem offiziellen Schreiben an den Herrscher von Vietnam, der sich den Kaisertitel angemaßt hatte, das den Satz enthielt: "Wenn zwei Kaiser gleichzeitig auftauchen, muß einer davon vernichtet werden." Da dem chinesischen Begehren durch eine Wirtschaftsblockade Nachdruck verliehen wurde, mußte sich der vietnamesische Herrscher unter Wahrung der vollen Selbstregierung seines Staates mit dem Titel König und dem Status eines Vasallen des chinesischen Reiches begnügen134a • Die Dominanz des Universalismus wurde aber vollends während der Zeit der drei Königreiche (220-280) deutlich, als sich zeigte, daß ein am Muster der Frühlings- und Herbstperiode orientiertes Staatensystem unabhängiger chinesischer Staaten nicht mehr herzustellen war. Dies wird durch einige Zitate aus der Chronik der Drei Königreiche treffend illustriert. Im Jahre 224 sandte Han wiederum Teng Chih als Gesandten nach Wu. Der König von Wu sagte zu ihm: "Wenn das Reich Frieden genießt während wir heide Souveräne voneinander unabhängig regieren, ist dies nicht ein Grund zur Freude?" Teng Chili antwortete: "Es gibt weder zwei Sonnen am Himmel noch gibt es zwei Souveräne auf der Erde. Nach der Annexion von Wei werden Eure Majestät dennoch ohne wahre Anerkennung des himmlischen Auftrages bleiben. Wenn die Souveräne 134 Natürlich hatte es bereits vor der Reichseinigung ein chinesisches Einheits- und Zusammengehörigkeitsdenken gegeben. Wie Fitzgerald ausführt, lebte die Erinnerung an ein früh zerfallenes einheitliches Reich weiter, das durch die weisen Könige des Goldenen Zeitalters errichtet worden war. Dieses habe sich über die politischen Machtkämpfe der Fürstenzeit hinweg erhalten und die Grundlage für den späteren Zusammenschluß gebildet. s. Charles Patrick Fitzgerald, Das politische Selbstverständnis Chinas in der Welt von gestern und heute, in: Europa-Archiv, Folge 23, 1965, S.874. Dieser Hinweis ist sicherlich zu unterstreichen, da ohne die Basis eines solchen Bewußtseins dem Ch'in-Kaiser ein so bleibender Erfolg sicherlich versagt geblieben wäre. Andererseits wird im Haupttext in der Folge deutlich, wie sehr sich die Einstellung der späteren Herrscher hinsichtlich der Duldung von gleichberechtigten Souveränen im Vergleich zur späteren Chou-Dynastie geändert hat. 134a s. L. Wieger, Textes Historiques, 1903, S. 389 ff.

II. Chinesischer Universalismus gegen Staatengleichheit

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jeder die eigene Macht ausdehnen und die Minister ihr Äußerstes tun, um ihnen zu dienen und die Generäle zur Kriegstrommel greifen - dann wird in der Tat Krieg anheben!" Der König von Wu lachte hierauf herzlich und sagte: "Du bist wirklich ehrlich, nicht wahr136 !" Im Jahre 232 wurde der König von Wu von seinem Beamten Sun Teng folgendermaßen angesprochen: " ... Zur Zeit ist das Reich nicht geeint und innerhalb der vier Meere schaut das Volk in seinem Streben, Euch untertan zu werden, zu Eurer Majestät auf, wie zum Himmel ...136." Im Jahre 235 wandte sich Yang Fu mit einem Memorandum an den Kaiser von Wei, das folgenden Passus enthält: "Nur nach der Eroberung von Wu und Shu können die Höheren beruhigt sein und die Niederen frohlocken sowie die neun Klassen der Verwandschaft sich freuen. Nur dann werden die Geister Eurer Ahnen glücklich sein137." Im Jahre 237 sandte Chien Kuan-Ch'iu ein Memorandum an den Thron von Wei, in dem er bemerkte: "Seit der Thronbesteigung Eurer Majestät ist nichts vorgefallen, was wert gewesen wäre, aufgezeichnet zu werden. Wu und Shu, welche sich auf ihre natürlichen Verteidigungsmöglichkeiten stützen, sind nicht leicht zu unterwerfen. Vielleicht sollte man die Soldaten, welche gegen sie vergeblich eingesetzt werden, dazu verwenden, um Liaotung zu erobern." Der Beamte W ei Chen sagte dazu: "Was Chien vorschlägt, ist eine kleinliche Vorgangsweise aus der Zeit der Kämpfenden Staaten und fällt nicht in die Angelegenheiten

einer königlichen Persönlichkeit . ..138."

Die chinesischen Erben des Han-Reiches hatten aber nicht nur unter sich auszumachen, wem die Stellung des Zentralherrschers und somit die Wiederherstellung der rechten Ordnung im Reiche gebühre, sondern sie hatten einer Gefahr zu begegnen, welche durch die zunehmende Sinisierung fremder Völkerschaften im Zusammentreffen mit einer Schwächeperiode des chinesischen Reiches plötzlich virulent wurde. Bekanntlich hatte man während der Shang- und Chou-Dynastie fremde Stämme, welche es bis zur Erreichung des chinesischen kulturellen Niveaus gebracht hatten, als gleichberechtigte Partner innerhalb des losen chinesischen Staatenverbandes akzeptiert139 • Die Straffung der Verwaltung des chinesischen Reiches während des Ch'in und HanDynastie hatte eine solche Teilnahme nicht nur sehr erschwert, sondern auch unattraktiv gemacht. Der Verfall der Chinesischen Macht nach dem 136 s. Ssu-Ma Kuang, Die Chronik der Drei Königreiche, übersetzt und kommentiert von Achilles Fang, Bd. 1, Cambridge (Mass.), 1952, S. 164 f. 138 s. ibd., S. 386. 137 s. ibd., S.47l. 138 s. ibd., S.517. 139 s. oben unter 38, 39, 40.

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

Ausklingen der Han-Dynastie versetzte die nach chinesischem Muster organisierten Völkerschaften nun plötzlich in die Lage, als Kompensation für die unmöglich gewordene Aufnahme als gleichwertige Lehensträger in den Kreis der Innenstaaten, den universalistischen Reichsgedanken von seinen chinesischen Trägern abzuheben und ihm unter Beibehaltung des chinesischen Instrumentariums selbst eine neue Basis zu geben. Dies wird durch einen Ausspruch Liu Yuans, eines "Hunnen" (Hsiung nu), der als erster 304 ein solches Ziel verfolgte, besonders anschaulich: " ... Gibt es für die Berufung des Weltherrschers etwa ein unverrückbares Gesetz? .. Nur von der Tüchtigkeit hängt es ab, wem das Reich gegeben wird ... Hinauf zur Herrlichkeit des Han-Reiches blicke ich, das die Welt umfaßte und die Herzen der Völker beglückte, es ist mir nicht genug, die Rolle des Hu-han-ye140 zu spielen ... Han wollen wir uns nennen und als Nachfolger im Herrscheramt die Ahnen ehren, indem wir die Sehnsucht der Völker stillenl4l." Der Südtunguse Mu-jung Tsün machte sich 352 zum Kaiser von Yen und ließ dem Gesandten des chinesischen Hofes melden: "Kehrt zurück und meldet Eurem Himmelssohn, daß ich zu ersetzen übernommen habe, was den Menschen fehlt, daß ich mir die Würde beigelegt habe, die das Mittelreich aufgegeben hat, daß ich der Kaiser bin142 ." 382 erklärte der Tibeter Fu Kien, Herrscher von Ts'in: "Seit dreißig Jahren habe ich nunmehr die Herrschaft des Reiches übernommen. Ich habe alle flüchtigen Verbrecher ausgerottet und die Völker der vier Himmelsrichtungen zu Ordnung und Frieden gebracht. Nur im Südosten (wo der chinesische Hof lag), ist noch ein Winkel, wo man sich dem veredelnden Einfluß des Zentralherrschers noch nicht unterworfen hat. Wann immer ich daran denke, daß das Weltreich noch nicht eins ist, vergeht mir die Lust zu essen, sobald ich mich zum Mahle setzel"." Die dadurch angedeutete Entwicklung wurde von den Chinesen mit verblüffter Empörung zur Kenntnis genommen. - Eine Empörung, der sich später die chinesische Geschichtsschreibung angeschlossen hat, wo mit Akribie auseinandergesetzt wird, daß verdienstvolle Barbarenfürsten es zwar im Altertum zu chinesischen Lehenstiteln bringen konnten, sie aber im Falle von eigenmächtigen Rangerhöhungen von 140 Hu-han-ye stritt im Jahre 60 v. Chr. mit seinem Bruder um den Thron des Herrschers der Hunnen, unterlag und erklärte sich 54 v. Chr. freiwillig zum Vasallen des chinesischen Kaisers, unter dessen Schutz er sich freiwillig stellte. - s. Otto Franke, Geschichte des chinesischen Reiches, Bd. 1, 2. Auf1., Berlin 1965, S. 355 f. 141 Zitiert nach Otto Franke, Geschichte des chinesischen Reiches, Bd. 2, 2. Aufl., Berlin 1961, S. 42. 142 s. ibd., S. 79. 148 s. ibd., S. 91 f.

II. Chinesisdler Universalismus gegen Staatengleichheit

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Konfuzius in seinen Annalen der Frühlings- und Herbstperiode immer als Barbaren vermerkt worden seien. Außerdem hätten sich derlei angemaßte Titel stets nur auf den Barbarenstaat bezogenI4'. Die damals unmittelbar betroffenen Chinesen, die noch nicht in abgerundeter Form aus dem Abstand von Jahrhunderten urteilten, gaben ihrem Unmut in weit unverbindlicherer Art und Weise Ausdruck. Es wurden Kopfprämien auf Angehörige der Kie-Hunnen ausgesetzt. Doch darüber hinaus kam es ganz allgemein zu Ausschreitungen gegen Menschen, deren hohe Nasen oder reichlicher Bartwuchs ihre Fremdstämmigkeit verrietenl45 • Jan Min, der chinesische Rivale des Hunnen Mu-jung Tsün im Kampf um die Zentralherrschaft, schleuderte diesem entgegen, als er gefangen vor ihm stand: "Während im Reich allgemeine Wirrnis herrschte, hast du scheußliche Mißgeburt mit dem Gesicht eines Menschen und dem Wesen eines Tieres dich zu empören versucht, wie sollte ich, ein tapferer Mann aus dem Mittelstaate mich da nicht Kaiser nennen dürfenI46 ?" Ein früherer Gouverneur des chinesischen Staates Tsin antwortete, als ihn der Tibeter Fu Kien bat, seine Form der Neujahrsaudienz mit der des chinesischen Hofes zu vergleichen: "Einen Haufen von Scheusalen kann man mit einer Versammlung von Hunden und Schafen vergleichen, aber wie kann man sich unterstehen, ihn der von Gott berufene Dynastie zur Seite zu stellen?" Von einem Gesandten der Tsin mußte sich Fu Kien sagen lassen: "Im Süden bei der Zentrale hörte ich, daß in Tsch'ang-ngan ein Barbar den Himmelssohn darstelle und man sagte, Eure Majestät hätten auf dem Kopf ein HornI47." Trotz der in diesen Sätzen enthaltenen Geringschätzung waren sich die Chinesen bewußt, daß die fremden Stämme bei entsprechender an den chinesischen kulturellen Errungenschaften orientierter Entwicklung sehr wohl zu großen Leistungen fähig waren. Man zog die Lehre daraus, indem man mit dem Kulturexport sparsamer umging, ihn unter genaue Kontrolle brachte und sehr oft überhaupt verweigerte. Die Unterschiede zwischen Chinesen und Barbaren wurden stärker hervorgehoben als früher und ihre Verwischung war unerwünschtl48 • Desgleichen suchte man des öfteren, sie vom Studium der chinesischen Klassiker fernzuhalten149 • s. ibd., S. 52. s. ibd., S.74. 148 s. ibd., S. 78. m s. ibd., S.147. 148 s. ibd., S. 331. 149 s. etwa ibd., S.438. Der Kommentar eines Kaiserlidlen Ratgebers: "Gerade die Tibeter aber sollen von besonderen lebhaftem Temperament, großer Entsdllossenheit, hellem Verstande, durdldringender Sdlärfe und unersättlidler Lernbegierde sein . . . Es bekümmert midl tief, daß die kanonisdlen Sdlriften an die Barbaren weggeworfen werden sollen." 144

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

Diese auf die Erkenntnis von Krisenjahren zurücke'p.hp.nde Haltung fand im Potential des wiedererstarkten China der T'ang-Dynastie (618-907) den zur Durchsetzung nötigen Rückhalt. "Durch die Erfahrungen der T'ang-Periode wurden die Chinesen also in ihrem Glauben an die eigene überlegenheit und das relative - oder absolute- Barbarentum anderer Völker nur noch bestärktiso." Es zementierten sich der Glaube an die Unfehlbarkeit des chinesischen Systems und Weltbildes sowie dessen untrennbarer Bindung an das zur Durchsetzung berufene chinesische Volk und dessen Herrscher. Die vermehrten Kontakte zu anderen Völkern waren nicht als Hindernis, sondern als Förderung der chinesischen Vorstellungen zu qualifizieren. Jene anderen konnten entweder kulturell oder machtmäßig mit den Chinesen nicht Schritt halten oder hatten gar nicht die Absicht, zum chinesischen Zentrum in Konkurrenz zu treten. Letztere, welche die Mehrzahl ausmachten, waren nur zu bereit, sich dem chinesischen Weltbild anzupassen. Unter den T'ang wurde das ganze Becken von Turkestan unter chinesische Gewalt gebracht. Der chinesische Kaiser genoß auch in entferntesten Regionen solches Ansehen, daß der letzte Sassanidenherrscher Jedzgerd den Ausweg vor einer drohenden Niederlage durch die Araber in wiederholten Hilfeappellen an den chinesischen Hof sahl51 • Zu diesem Zeitpunkt, an dem China ein eindrucksvolles Hoch an politischem und kulturellem Einfluß erlebte, spielten alle in Reichweite Chinas gelegenen Staaten fast friktionslos die ihnen zugewiesenen Rollen. Verteiler der Rollen war natürlich der chinesische Kaiser, der an der Spitze einer streng nach hierarchischen Gesichtspunkten gegliederten Staatengemeinschaft stand. - Vielleicht wäre der Ausdruck Staatenfamilie in diesem Zusammenhang als präziser vorzuziehen, denn das damalige Konzept der chinesischen internationalen Beziehungen bedeutete nichts anderes als eine Transponierung der konfuzianischen Ideen über die rechten Beziehungen zwischen Individuen auf die zwischenstaatliche Ebene. Tragendes Prinzip war daher nicht wie in der heutigen Staatengemeinschaft die Gleichheit, sondern vielmehr die Ungleichheit, welche die damalige ostasiatische Staatenfamilie nach dem Vater-Sohn bzw. dem Verhältnis des Älteren zum Jüngeren organisiertel5Z • In der Literatur wird für dieses System sehr oft der 150 s. Fitzgerald, Das politische Selbstverständnis Chinas in der Welt von gestern und heute, S. 876. 151 Vgl. Wolfram Eberhard, A History of China, 2. Aufl., London 1960, S.178, Stephan Verosta, International Law in Europe and Western Asia between 100 and 650 a. D., in: Reeueil des Cours, Bd. III, 1964, S.612. 152 s. John K. Fairbank, Sinocentrism and its Problems, in: The Chinese World Order (Hrsg.: John K. Fairbank), Cambridge (Mass.) 1968, S.2; Immanuel C. Y. Hsü, China's Entrance into the Family of Nations, 2. Aufl., Cambridge (Mass.) 1968, S. 5.

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Name Tributsystem verwendet. - Dies könnte im unbefangenen Leser den Eindruck erwecken, es habe sich dabei um eine nach chinesischen Bedürfnissen ausgerichtete verfeinerte Form der Ausbeutung gehandelt. Es sind jedoch Immanuel C. Y. Hsüs Darstellungen zu unterstreichen, der von einem primär zeremoniell und rituell ausgerichteten Verhältnis spricht. Mit Recht wird von ihm darauf hingewiesen, daß die "Tributbeziehungen" Rechte und Pflichten mit sich brachten. Während die Tributstaaten einerseits als jüngere Familienmitglieder die chinesischen Kalenderrechnung übernahmen und den Vorrang des Familienoberhauptes durch periodische Tributgesandtschaften an den chinesischen Hof bekräftigten, kam dem chinesischen Kaiser die Pflicht zu, zwischen den Familienmitgliedern Ordnung zu halten. Der chinesische Kaiser sandte zur Thronbesteigung der Herrscher jener Staaten spezielle Gesandte, welche in seinem Namen die Investitur vornahmen, bei Unglücks- und Trauerfällen drückten chinesische Gesandte das Mitgefühl des chinesischen Kaisers aus, der außerdem die anderen Herrscher und ihre Tributgesandtschaften oft so reich beschenkte, daß der Wert dieser Geschenke den Wert des überbrachten Tributes bedeutend überstiegl113 • Durch den letzten Halbsatz wird angedeutet, daß es dem konfuzianischen Idealen treuen chinesischen Kaiser im allgemeinen fern lag, die chinesische Weltordnung mit Gewalt aufrechtzuerhalten. Man vertraute viel lieber auf die überzeugungskraft der kulturellen Einflüsse des chinesischen Hofes, auf die kultivierende Ausstrahlung des chinesischen Kaisers (te), auf klug argumentierende Gesandte und Geschenke, als auf die Anwendung militärischer Gewalt1M• - Warum auch nicht? Das chinesische Konzept begegnete kaum einer bleibenden ernsthaften Herausforderung. - Im Gegenteil, Staaten wie Korea und Japan zeigten sich besonders seit der Herrschaft d. T'ang an einer Partizipation an den chinesischen Errungenschaften in hohem Maße interessiert und fügten sich den von China aufgestellten Spielregeln. Japan benützte die Tributgesandtschaften, um Gelehrte, Techniker und buddhistische Mönche in China ausbilden zu lassen l66 • Wie viel den Japanern an einem ungestörten und fruchtbaren Gesandtschaftsverkehr mit China lag, sieht man aus dem Umstand, daß sie die Gesandten für die Zeit ihrer Mission mit höheren Beamtenrängen ausstatteten, damit jene in Vgl. Immanuel C. Y. Hsü, op. cit., S. 4 f. s. ibd. 165 Genaue Listen der Namen und Berufe der Teilnehmer an den japanischen Gesandtschaften während der Tang-Zeit gibt: Kazuo Aoki, in: Nihon no Rekishi (~schichte Japans), Bd.3, Tokio 1965, S.368--370. Der japanische Mönch Ennin erwähnt in seinem Reisebericht: Studenten der Geschichte, der Medizin, der Kalenderwissenschaft, der Astronomie, der Astrologie, der Musik und der Malerei. - s. Edwin O. Reischauer, Die Reisen des Mönchs Ennin, Stuttgart 1963, S. 53. 153

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

China sich höheres Ansehen verschaffen könnten158 • In der Haushaltsabteilung der japanischen Kaiserin wurden neben anderen Gaben Seidenstoffe hergestellt, welche dann dem Kan-kokushin, dem Inspektor der Nationalen Tributgaben anvertraut wurden156 • Bürokratismen der Chinesen, wie das Ausfüllen endloser Fragebogen, bei Betreten des Landes 157 und die rigorose Kontrolle jedes ihrer Schritte auf chinesischem Boden konnten den japanischen Eifer nicht bremsen. Das japanische Interesse an China sollte erst geringer werden, als die Periode der Anpassung und Assimilierung chinesischer Zivilisation bereits vollzogen war. Zu dieser Zeit hatte sich jedoch dank der langen Stärkeperiode der T'ang und dank der Bereitwilligkeit, mit der die Japaner wie auch die anderen Völker Ostasiens sich in eine inferiore PartnersteIlung zu China gefunden hatten, die chinesische Vorstellung von ausschließlich in den Formen des "Tributsystems" rechtmäßig abzuwickelnden internationalen Beziehungen schon so unverrückbar gefestigt, daß das als vorübergehend qualifizierte Ausscheren des einen oder anderen Partners aus der chinesischerseits aufgerichteten Ordnung daran nichts zu ändern vermochte. Diese von der Glorie der mächtigen T'ang-Dynastie in spätere Dynastien hineingetragenen Traditionen bildeten bis ins 19. Jh. einen festen Rückhalt, an dem das alte siozentristische Weltbild immer wieder aufgerichtet werden konnte. Nach den Worten von Charles Patrick Fitzgerald übertraf das T'ang-Reich "jeden, auch den fernsten potentiellen Rivalen um ein Vielfaches an Größe". "Es war reicher als irgendein anderes Land; Kunst, Wissenschaft und Literatur blühten nirgends in solcher Vielfalt und Reife. Unübertroffen war vor allem das Regierungssystem; die Verwaltung hatte einen Grad der Leistungsfähigkeit erreicht, der bis ins 18. Jahrhundert hinein nirgendwo seinesgleichen fand 156." Nach dem Intermezzo der Mongolenherrschaft, welche mit den meisten chinesischen Traditionen brach, die Vormachtstellung Chinas gegenüber den Tributstaaten jedoch noch nachdrücklicher und härter betonte, als frühere chinesische Dynastien159, wurden die T'angTraditionen von der Ming-Dynastie wieder hergestellt1 80 • Auch die s. Reischauer, op. cit., S. 51, 55. s. ibd., S. 103 f. 158 s. Fitzgerald, Das politische Selbstverständnis Chinas in der Welt von gestern und heute, S. 875. 159 Vgl. die vergeblichen Versuche, das unbotmäßige Japan militärisch in die Knie zu zwingen. - Toshio Kuroda, in: Nihon no Rekishi, Bd. 8, S. 65 bis 122. 180 s. Fitzgerald, loc. cit., S.877. - Wie schon früher chinesische Dynastien vorher, betrieb auch die Ming-Dynastie vor allem mit redegewandten Gesandten, Prachtentfaltung und reichen Geschenken eine erfolgreiche Politik, 156 157

II. Chinesischer Universalismus gegen Staatengleichheit

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Mandschu-Dynastie, welche die Ming ablöste, gab sich trotz ihres fremdstämmigen Ursprungs redlich Mühe, von den alten chinesischen Traditionen nicht abzuweichen. Ch'ien Lung, einer der bedeutendsten Mandschu-Kaiser, war für schmeichelnde Vergleiche mit T'ang T'ai Tsung sehr empfänglich. In weit größerem Maß als persönliche Eitelkeit waren es aber politische überlegungen, welche die Mandschus veranlaßten, wo immer nur möglich der konfuzianischen Weltanschauung Rechnung zu tragen. Das Regime wäre sonst gefährlichen Kollisionen mit der machtvollen Bürokratie und gentry ausgesetzt gewesen161 • Die Kontinuität der Vorstellung von der notwendigen Ungleichheit chinesisch-ausländischer Beziehungen, welche von den Mandschus getreulich bis in das 19. Jh. hinübergerettet wurde, wird vielleicht am besten dadurch deutlich, daß die westlichen Staaten, mit denen China verkehrte, auch auf den chinesischen Tributlisten von 1818 mit dem Vermerk figuerierten, es handle sich dabei um tributpflichtige Staaten, denen aber wegen ihrer großen Entfernung keine bestimmten Perioden zur Entsendung von Tributgesandtschaften vorgeschrieben seienH1'l!. 2. Das Scheitem mllitirischer und gelstlpr Angriffe

auf den dünesischen Unlvenallsmus

Ohne Verankerung in der oben beschrieben festen Basis hätte die dem Boden originärer chinesischer Vorstellungen entwachsene Pflanze des chinesischen Universalismus ihre Triebe nicht bis in das 19. Jahrhundert vorschieben können. Daß dies möglich war, ist aber auch der Stützung durch den chinesischen Pragmatismus zu verdanken, der durch flexibles vorübergehendes Nachgeben zur Zeit von Schwächeperioden den Aufbau von Machtpositionen vorbereitete, aufgrund derer der Universalismus später wieder glaubhaft vertreten werden konnte. Daß zuweilen am chinesischen Weltbild heftig gerüttelt wurde, ist eine historisch nachweisbare Tatsache. Bereits der erste Han-Kaiser mußte sich im 2. Jahrhundert v. Chr. mit fremder militärischer Machtentfaltung auseinandersetzen. Bereits damals wurde eine Richtung gewiesen, die von der chinesischen Staatsführung zu Zeiten der Bedrängnis immer welche nicht nur fast alle früheren Tributverhältnisse wieder herstellte, sondern mit einer Reihe von Staaten Südostasiens neue begründete. - Vgl. Wang Gungwu, Early Ming Relations with Southeast Asia, in: The Chinese World Order, S.54--60. 161 Vgl. Fitzgerald, loc. cit., S.877; in diesem Sinne auch Mark Mancall, Russia and China - Their Diplomatie Relations to 1728, Cambridge (Mass.) 1971, S.34. 162 Vgl. Immanuel C. Y. Hsü, op. cit., S.14, John K. Fairbank, A Set of Assumptions: The Origin and Growth on the Chinese World Order, in: The Chinese World Order, S. 11.

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

wieder gerne eingeschlagen wurde. Mao Tun, Herrscher über die anstünnenden Hunnen, wurde mit einer chinesischen "Prinzessin"163 und (Tribut-)Gaben von Seidengeweben, Reis und Wein bei guter Laune gehalten1M. Der chinesische Kaiser folgte dabei dem Rat seiner Beamten, welche meinten, angesichts der Unempfindlichkeit der Hunnen für chinesische Heere und den humanisierenden Einfluß des chinesischen Kaisers, sei die erwähnte Methode, durch die ein allmählicher Sinisierungsprozeß eingeleitet werde, die beste161i . Später wiederholte sich die Situation mit den Tibetern, die 696 aus einer Position der militärischen Stärke heraus den Vorschlag machten, die sich zwischen Tibet und China bewegenden Nomadenstämme nach Einflußsphären aufzuteilen. Wiederum rieten die Beamten dazu, dem Begehren der Tibeter nachzugeben und sie im übrigen mit chinesischen Prinzessinen und Geschenken milde zu stimmenl116 • Bald darauf wurden aber die Uiguren so stark, daß ihnen noch mehr entgegengekommen werden mußte. Die Chinesen mußten auf ein "Tauschgeschäft" eingehen, welches ab 758 den Uiguren für die jährliche Lieferung von 100 000 Pferden, die sich meist als lahm und unbrauchbar erwiesen, jeweils die Gegenleistung von einer Million Seidenstücken sicherte187 . Überdies hatten die Chinesen die Schmach einer ständigen Uigurengesandtschaft in der Hauptstadt zu ertragen, welche mit weitreichenden Vorrechten ausgestattet war und stets zu Ausschreitungen gegen die chinesische Bevölkerung neigte. Als man die Tibeter brauchte, um die Uiguren loszuwerden, nahmen diese erneut die Chance wahr, um das universalistische Dogma anzugreifen. Sie setzten durch, daß im Jahre 783 zwischen beiden Reichen ein Vertrag geschlossen wurde, der auf die sonst von den Chinesen in ähnlichen Fällen verwendeten Ausdrücke wie "Tributbringer" , "kaiserliche Verleihung" etc. verzichteteUl8 • Auch der 821 geschlossene Vertrag, der wieder aufgeflammte Streitigkeiten zwischen Chinesen und Tibetern bereinigen sollte, ging von einer völligen Gleichberechtigung der beiden Herrscher aus, wenn sich auch die chinesische Seite mit der Fonnulierung, vom Himmel die Herrschaft über die acht Enden des Universums erhalten zu haben, einen Schein von theoretischer Überlegenheit bewahren wollte189. 163 184 165 166 167 168 169

In Wahrheit eine Dienerin aus dem Palast. s. Leon Wieger, Textes Historiques, 1903, S. 354. s. ibd. s. Franke, op. cit., Bd. 2, S. 40l. s. ibd., S. 469 f. s. ibd., S. 480. s. ibd., S. 484.

II. Chinesischer Universalismus gegen Staatengleichheit

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Hingegen konnte in den Beziehungen zu den Kitan nicht einmal mehr eine theoretische chinesische Oberhoheit bewahrt werden l70 • Der zwischen dem Sung- und dem Kitanherrscher geschlossene Vertrag zu Shan-yüan (1005 n. ehr.) wurde in je einem Schwurbrief niedergelegtl7l. 170 s. Christian Schwarz-Schilling, Der Friede von Shan-YÜan. Ein Beitrag zur Geschichte der chinesischen Diplomatie, Wiesbaden 1959, S. 55. 171 Text, ibd., S. 137 f.: Der Schwurbrief des Sung-Kaisers Chen-tsung: "Es ist der Tag Ping-hsü des Mondes Keng-ch'en des ersten Jahres der Ching-te-Devise, das ist der 7. Tag des 12. Monats des Jahres 1004. Seine Majestät, der Kaiser der großen Sung, übersendet (hiermit) hochachtungsvoll den Schwurbrief an seine Majestät, den Kaiser der (Großen) Kitan, um in Ehrfurcht und Ergebenheit Zeugnis dafür abzulegen, daß (Wir) den beglückenden Vertrag aufrichtig erfüllen (wollen). Entsprechend den Erfordernissen des Landes werden als Beitrag für die Armeekosten jährlich 200 000 Rollen Seide und 100 000 Unzen Silber geliefert. Zu diesem Zwecke begibt sich jedoch keine besondere Gesandtschaft an den Nördlichen Hof, sondern (die Lieferungen) sollen durch Beamte der Finanzkommission nach Hsiung-chou transportiert und (dort) übergeben werden. Die Kreis- und MilitärPräfekturen an der Grenze haben die Demarkationslinie streng zu bewachen, um illegale (Grenz-)überschreitungen von seiten der Bevölkerung beider Länder zu verhindern. Etwaigen kriminellen Verbrechern (wörtlich: Räubern und Dieben), die sich auf der Flucht befinden, darf kein Aufenthalt oder Unterschlupf auf der jeweils anderen Seite (wörtlich: dort und hier) gewährt werden. Was die Arbeit der Bauern auf dem Felde betrifft, so sind von Süd und Nord Belästigungen oder Störungen zu unterlassen. Wo immer in beiden Reichen sich Mauern und Gräben befinden, ist deren Instandhaltung wie bisher gestattet; das Reinigen der Gräben, Reparaturen und alle sonstigen Arbeiten dieser Art dürfen wie üblich ausgeführt werden. Nicht erlaubt dagegen ist es, mit dem Neubau von Mauern und Gräben zu beginnen oder neue Flußläufe auszuheben. Beide (Vertragspartner) erheben keinerlei Forderungen, die in den Schwurbriefen nicht enthalten sind. Wir verPfiichten uns, künftig eine innige Gemeinschaft zu pfiegen, fortan den Frieden für die Völker zu wahren und die Landesgrenzen genauestens zu beachten. Wir verpfänden uns gegenüber den Göttern des Himmels und der Erde und melden es den Göttern des Erdbodens und der Feldfrucht im Kaiserlichen Ahnentempel, daß unsere Nachkommen dies ehrfürchtig befolgen und alle Zeiten fortführen werden. Wer diesen Vertrag bricht, ist nicht fähig, für das Wohl des Landes zu sorgen und soll nach den Präzedenzurteilen des leuchtend-erhabenen Himmels mit dem gerechten Tode bestraft werden. Dies machen wir allgemein bekannt und warten dabei insbesondere auf Eure Antwort. Ende der Proklamation Der Schwurbrief des Kitan-Kaisers Sheng-tsung: Es ist der Tag Hsin-mao des Mondes Keng-ch'en des 22. Jahres der Wei-t'ung Devise, das ist der 12. Tag des 12. Monates des Jahres 1004. Seine Majestät, der Kaiser der Großen Kitan, übersendet hochachtungsvoll den (Schwur)Brief an seine Majestät, den Kaiser der Großen Sung. Auf gemeinsamen Beschluß haben Wir die Feindseligkeiten beendet und sind wieder in freundliche Beziehungen zueinander getreten. Nachdem Wir Eure edelmütige Gesinnung vernommen haben, verwenden Wir uns für den Schwurbrief, der hier eigens verkündet werden soll. Wiederholung des oben angeführten Vertragstextes. Wir verpfänden Uns gegenüber den Göttern des Himmels und der Erde und melden es den

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesisdler Positionen

Die Herrscher der chinesischen Sung-Dynastie verpflichteten sich, dem Herrscher des Nachbarreiches der Kitan eine als "Beitrag für die Armeekosten" verkappte Tributzahlung von jährlich 200 000 Rollen Seide und 100000 Unzen Silber zu leisten. Aus Wendungen wie "Seine Majestät, der Kaiser der Großen Sung, übersendet hiermit hochachtungsvoll den Schwurbrief an seine Majestät, den Kaiser der Großen Kitan" oder "Wir verpflichten uns, künftig eine innige Gemeinschaft zu pflegen, fortan den Frieden der Völker zu wahren und die Landesgrenzen genauestens zu beachten" oder gar aus der dem chinesischen Weltbild Hohn sprechenden Ankündigung, man werde den Vertrag den Göttern des Himmels und der Erde melden - jenen Göttern, die nach chinesischer Ansicht ausschließlich den chinesischen Kaiser zum Herrscher über die Welt berufen hatten, kann man ersehen, wie gründlich die Konfrontation mit den Kitan mit dem chinesischen Universalismus aufgeräumt hatte. In der Folge setzte zwischen beiden Reichen ein starker Gesandtschaftsverkehr ein, dessen Intensität und Differenziertheit aus den nicht weniger als 12 in Gebrauch stehenden Gesandtschaftstypen abgelesen werden können17!. Im 12. Jahrhundert waren es dann sogar die Sung selbst, welche aus eigenen Stücken mit dem aufstrebenden Vasallen der Kitan, Chin, internationalen Verkehr aufnahmen. Unter dem Eindruck einer potentiellen Bedrohung durch Chin173 wollte man durch die Überredungskunst chinesischer Diplomaten rechtzeitig Schranken setzen, entging aber schließlich auch in diesem Falle nicht der Notwendigkeit, die Gleichberechtigung des Chin-Reiches durch einen Vertragsabschluß besonders zu unterstreichen. In dem 1123 abgeschlossenen Vertrag verpflichteten sich die Chinesen zu einer jährlichen Zahlung von 100000 Unzen Silber, 300 000 Ballen Seide und 2000 Körben grünen Alauns an Chin. Zwar brachte der Vertrag auch die Zession von sechs (ehemaligen chinesischen) Präfekturen an China, doch ließ sich Chin den Steuerausfall durch jährliche Ersatzleistungen in Form von Waren, die den damaligen Göttern des Erdbodens und der Feldfrudlt im Kaiserlichen Ahnentempel, daß Unsere Nachkommen dies ehrfürchtig befolgen und für alle Zeiten fortführen werden. Wer diesen Vertrag bricht, ist nicht fähig, für das Wohl des Landes zu sorgen und soll nadl den Präzedenzurteilen des Leudltenderhabenen Himmels mit dem gered1ten Tode bestraft werden. Wenn ich audl nidlt würdig bin, so wage ich dodl, diesen Vertrag zu befolgen und mödlte vor Himmel und Erde feierlich geloben und für meine Nadlkommen besdlwören: Wer diesen Vertrag bridlt, den sollen die Götter dafür mit dem gered1ten Tode bestrafen. Diese besondere Erklärung geben Wir vor aller Öffentlidlkeit ab. Ende der Proklamation (Übersetzung von Christian Sdlwarz-Schilling). 172 Eine Aufzählung gibt Sdlwarz-Sdlilling, op. cit., S. 79 f. 173 Vgl. Dagmar Thiele, Der Abschluß eines Vertrages: Diplomatie zwischen Sung- und Chin-Dynastie 1117-1123, Wiesbaden 1971, S.21.

H. Chinesischer Universalismus gegen Staatengleichheit

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Marktpreis von einer Million Geldschnüre entsprechen, honorieren. Wie im Falle des Vertrages mit den Kitan wurde die Separation beider Reiche und Einfiußsphären durch feste und streng geschützte Grenzen besonders betont174 • Darüber hinaus enthält der Text des wiederum 174 Text ibd., S.254-258: Schwurbrief von Sung: 5. Jahr Hsüan-ho, Zyklus des Jahres kui-mao, 3. Monat mit dem Zyklus chia-yin für den Monatsanfang, vierter Tag ting-szu. Seine Majestät, Kaiser der Großen Sung, sendet einen Schwurbrief zum Palasttor seiner Großen und Erhabenen Majestät, Kaiser der Großen Chin. Wer vom Himmel Unterstützung erfährt, ist gehorsam; wem von den Menschen geholfen wird, der ist wahrhaftig. Wer den Weg der Wahrhaftigkeit wandelt und seine Gedanken auf den Gehorsam richtet, dem wird Hilfe vom Himmel zuteil. Glück und Vorteile werden in jeder Hinsicht mit ihm sein. Als unlängst seine Große und erhabene Majestät, Kaiser der Großen Chin (seine Dynastie) gründete und zum Ruhm führte und das Reich der Liao vollständig in seinen Besitz nahm, wurden Gesandte abgeschickt, um Verhandlungen über (das Gebiet), das seit der Wu-tai-Zeit unter das YenTerritorium der Kitan gefallen war, zu führen. Wir sind dankbar bewegt über Eure freundlichen Absichten, Uns eigenst Yen-ching (mit den Präfekturen) Cho, I, T'an, Shun, Ching und Chi, einschließlich seiner Kreise und des unter seiner Verwaltung stehenden Volkes zu übergeben. Da jetzt das, was früher dem Liao-Reich gehörte, von den Großen Chin in Besitz genommen wurde, werden von nun an die an die Kitan geleisteten Zahlungen über 200 000 Unzen Silber und 300 000 Ballen Seide sowie von den jährlichen Steuereinnahmen Yen-chings ein Teil von fünf bis sechs Teilen in Waren, die einem Preis von einer Million Geldschnüre entsprechen, in Rechnung gestellt und jedes Jahr zur Grenze der Südlichen Hauptstadt transportiert und dort übergeben werden. Qualitäten und Quantitäten (der Waren) wurden bereits (schriftlich) in den früher und kürzlich ausgetauschten Staatsbriefen zur Fixierung unseres Abkommens niedergelegt. Außerdem werden wir jährlich 2000 Körbe grünen Alaun übersenden. Die beiderseits der Grenze ansässige Bevölkerung darf nicht (das Staatsgebiet) des anderen (Landes) betreten. Räubern und Flüchtlingen darf von Eurer und Unserer Seite kein Aufenthalt gewährt werden, ebenso darf (keine der beiden Seiten) insgeheim Spione einsetzen oder Aufruhr unter der Grenzbevölkerung provozieren. Wenn Räuber oder Flüchtlinge mitsamt ihrer Beute aufgegriffen werden, ist jede Seite gehalten, sie nach den Gesetzen des eigenen Landes vor Gericht zu bringen, die Beute soll sichergestellt, die Verbrecher müssen bestraft werden. Selbst wenn die Räuber nicht (augenblicklich) gefaßt werden können, sollen ihre Spuren überallhin verfolgt werden, um sie zwecks Auslieferung zu arretieren. Falls es wegen bewaffneten Aufruhrs oder irgend eines anderen Grundes angemessen erscheint, Truppen auszuheben, muß den an den Grenzen beider Länder liegenden Behörden schriftlich darüber Mitteilung gegeben werden, damit jede Seite die Verteidigung der gemeinsamen Landesgrenze (wörtlich: die Landesgrenze beider Länder) vornehmen kann. Im Inland beider Dynastien soll alles so wie früher sein. Straßsperren dürfen nicht errichtet werden, und wenn in Zukunft Personen und Gesandte aus entfernten Gebieten oder fremden Ländern hin- und herreisen wollen, so sollten sie nicht zurückhalten und daran gehindert werden. Die Achtung langfristiger Freundschaftsbeziehungen soll für zehntausend Generationen gewährleistet sein. Falls Unsere Seite gegen den Vertrag verstößt, werden Himmel und Erde dies zur Kenntnis nehmen und die Götter

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

in Schwurbriefen beider Herrscher niedergelegten Vertrages Wendungen genug, die an einer völligen Gleichstellung beider Herrscher keinen Zweifel ließen. Der Sung-Kaiser redet seinen Partner unter Verzicht der Betonung seines Vorranges nicht nur als "Große und Erhabene Majestät, Kaiser der Großen Chin" an, sondern muß sich sogar gefallen lassen, daß der Schwurbrief der Chin mit dem Satz "Es ist der Wunsch unserer Dynastie, Harmonie zwischen den zehntausend Staaten zu unverzüglich Verderben senden, so daß (das Erbe) durch unsere Söhne und Enkel nicht fortgeführt wird und die Landesaltäre der Zerstörung anheimfallen. Wir haben dieses eigenst zu Eurer Kenntnisnahme aufgesetzt. Ende der Erklärung. Ehrfurchtsvoll übermittelt. Schwurbrief von Chin: 6. Jahr T'ien-fu, Zyklus des Jahres kui-mao, 4. Monat mit Zyklus chia-shen für den Monatsanfang, 8. Tag hsin-mao. Seine Majestät, Kaiser der Großen Chin, sendet einen Brief zum Palasttor seiner Majestät, Kaiser der Großen Sung. Es heißt, daß Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit die großen Werkzeuge sind, um alles, was unter dem Himmel ist, zu ergreifen, mit ihnen rührt man an das Herz der Gottheiten und entfernt das übel von Himmel und Erde. Als unlängst der Herrscher des Kitanreiches vom rechten Weg abirrte und sein Volk in Schmutz und Asche sank, da schritten wir voller Energie zur Aktion und hoben Truppen aus, um unsere Aufgabe "Strafe (für den Schuldigen) und Trost (für das Volk)" zu erfüllen. Euer Staat sandte Boten über das Meer, um Verhandlungen zu führen. Im Falle unserer zukünftigen Inbesitznahme des Kitan-Reiches hatten wir den Wunsch, Euch die ehemaligen Territorien Yu-Yen zurüdtzugeben; damals schon kamen wir zu dieser übereinkunft. Als unlängst die Truppen unter Unserer persönlichen Führung (dort) ankamen und das ganze Territorium Yen mit seinen Mauern und Gräben sich ohne (vorausgegangenen) Angriff unterwarf, waren wir nach wie vor eingedenk unseres ursprünglichen Wunsches, Freundschaftsbeziehungen zu pflegen, und (deshalb) übergeben wir Euch jetzt entsprechend unserer übereinkunft Yen-ching mit (den Präfekturen) Cho, I, T'an, Shun, Ching und Chi zusammen mit seinen Kreisen und das unter seiner Verwaltung stehende Volk. Jetzt erhielten wir Euren Brief (welcher lautet): Text wie oben. Es ist der Wunsch unserer Dynastie, Harmonie zwischen den zehntausend Staaten zu schaffen und größte Redlichkeit und Vertrauenswürdigkeit zu offenbaren. Aus diesem Grunde übergeben wir (Euch) das Territorium Yen und schließen uns dem Schwurbündnis an. Falls wir gegen diesen Vertrag verstoßen, werden Himmel und Erde dies zur Kenntnis nehmen und die Götter unverzüglich Verderben senden, so daß (das Erbe) durch Unsere Söhne und Enkel nicht fortgeführt wird und die Landesaltäre der Zerstörung anheimfallen. Falls der Vertragsbruch von der anderen Seite begangen wird, können wir alles, was wir auf Grund des Schwurbündnisses versprochen haben, nicht als verbindlich erklären. Wir haben dies eigenst zu Eurer Kenntnisnahme aufgesetzt. Ende der Erklärung. Ehrfurchtsvoll übermittelt. (Übersetzung von Dagmar Thiele).

II. Chinesischer Universalismus gegen Staatengleichheit

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schaffen" unverhohlen solche universalistische Anspielungen enthielt, die sich der chinesische Kaiser versagt hatte111i, 116. Diese Liste von Fällen, in denen China auf die Durchsetzung seines universalistischen Weltbildes verzichtete, mag auf den ersten Blick imposant wirken und könnte zu der Annahme verleiten, der chinesische Universalismus sei in Wahrheit gar nicht so fest verwurzelt gewesen. Bei einer näheren überprüfung wird jedoch deutlich, daß solche Abmachungen und seien sie auch noch so detailliert gewesen, in den Augen der Chinesen bloß transitorischer Charakter zukam. Bereits der Hunnenherrscher, dem es während der Han-Dynastie als erstem mit Erfolg gelungen ist, den chinesischen Superioritätsanspruch zurückzudrängen, mußte die Erfahrung machen, daß sich die Chinesen nur widerwillig zu Konzessionen bequemten und auch da noch sämtliche Mittel anwandten, welche geeignet waren, das chinesische Nachgeben in seiner Wirkung abzuschwächen oder auszugleichen. - Die "Prinzession", die ihm vom chinesischen Hof mit großem Pomp übermittelt wurde, war eine entsprechend ausstaffierte Dienerin aus dem Palast, da es die Kaiserin nicht verwinden konnte, dem Barbaren ein Mädchen von Geblüt zu überlassen171 • Noch aufschlußreicher sind die chinesischen Berichte, welche die Verträge mit den Kitan und den Chin behandeln. Eine Art "doppelter Buchführung" der Chinesen wird offenbar, wenn man die mit den beiden anderen Staaten ausgetauschten Dokumente und die darin enthaltene Schilderung mit dem Bericht der eigenen chinesischen Annalen vergleicht. So weiß das Sung hui-yao zu berichten, die Kitan hätten 975 "zum Beweis ihres Treueverhältnisses" eine Gesandschaft an den chinesischen Hof geschickt118 und das Sung-shih vermerkt, die Kitan hätten im Jahre 1004 "um Frieden gebeten" 111. Andererseits wird von der chinesischen Geschichtsschreibung verschwiegen, daß der chinesische Kaiser die Kaiserinwitwe des Kitanreiches als Tante anzureden hatte180 • Um den Eindruck der in den zitierten Vertragswerken niedergelegten Gleichstellung des anderen Staates möglichst zu verwischen, befleißigten sich die Chinesen untereinander um so mehr einer den Vertragspartner herabsetzenden Terminologie. In internen chinesischen An17i

s. 174.

Mit dem Hinweis auf den nur einem Zentralherrscher zustehenden Strafvollzug an den Kitan sowie auf die durch Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit bedingte Ergreifung alles dessen, was unter dem Himmel ist, fielen weitere universalistische Anspielungen. - s. 174. 171 s. Wieger, op. cit., Bd. 1, S. 354 f. 178 s. Schwarz-Schilling, op. cit., S. 103. 179 s. ibd., S. 108. 180 s. ibd., S. 50. 116

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

weisungen figurierten die Kitan trotz ihrer Machtstellung als "Grenzvasallen"181, und die Chin wurden trotz des Umstandes, daß der chinesische Kaiser ihren Herrscher in offiziellen Schreiben als "Kaiser der Großen Chin" titulierte, von den Chinesen auf inoffizieller Ebene weiterhin als "lu", d. h. Sklaven bezeichnetl82 • Außerdem waren die Chinesen angelegentlich darum bemüht, den politisch als gleichberechtigt akzeptierten fremden Reichen wenigstens in Protokollfragen einen chinesischen Vorrang aufzuzwingen. Der chinesische Protokollchef ließ Kitan-Gesandte nur in nach chinesischer Mode nach rechts geknöpften Kleidern zur Audienz zu und wies ihnen an der Tafel einen niedrigeren Platz zu, als chinesischen Gouverneurenl83 • Schließlich zögerten die Chinesen auch nicht, wann immer der Zeitpunkt günstig war, von Abmachungen, die sie in Zeiten der Bedrängnis eingegangen waren, einseitig wieder abzurücken. Mit einem solchen Treuebruch verstießen die Chinesen zwar gegen ein wichtiges konfuzianisches Prinzip, hatten aber das Argument für sich, daß durch diese kleinere Störung der Harmonie eine größere - nämlich die des vom Himmel geforderten chinazentrischen Weltbildes - wieder behoben wurde. Im Lichte dieser chinesischen Betrachtungsweise ist es dann nicht weiter verwunderlich, daß unmittelbar nach der übersendung des kaiserlichen Schwurbriefes an den Hof der Kitan den Hof eine Eingabe eines chinesischen Truppenführers erreichte, der darin vorschlug, den arglosen Kitantruppen den Rückzug abzuschneiden, um sie aufzureibenl84 • Wenn es auch der chinesische Kaiser damals, wahrscheinlich vornehmlich aus Nützlichkeitserwägungen, ablehnte, die Feindseligkeiten erneut zu beginnen, schreckte man auf chinesischer Seite, als sich hundert Jahre später die Chance bot, der Rolle der Kitan als konkurrierendes Reich wirksam zu begegnen, vor einem Vertragsbruch nicht zurück. Mit der Reichsgrundung der Chin im Jahre 1115 wurden die seit dem Jahre 1005 den Kitan aufgrund des Vertrages geleisteten Zahlungen eingestellt. Darüber hinaus wurde überläufern der Kitan entgegen dem vertraglichen Verbot bereitwillig Asyl gewährt und schließlich als gravierendster Verstoß gegen die früheren Abmachungen mit den Chin ein Zweifrontenkrieg gegen die Kitan vereinbart185. Kein Wunder, daß die Chin ihrerseits durch den so demonstrierten Vertragsbruch Zweifel an der späteren Vertragstreue des Sung-Hofes ihnen gegenüber hegtenl88 • Vielleicht ist dies der Grund dafür, daß der 181 s. ibd., S. 114. 182 s. Thiele, op. cit., S.148. 183 s. Schwarz-Schilling, op. cit., S. 90 f. 184 s. ibd., S. 52, 134 f. 185 s. Thiele, op. cit., S. 28. 188 Vgl. Franke, op. cit., Bd.4, S.201.

H. Chinesischer Universalismus gegen Staatengleichheit

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Schwurbrief der Chin mit einer etwas knapp gehaltenen Formel der Selbstverfluchung für den Fall des Vertragsbruches schließt, an die sich dann ein Passus anschließt, der im chinesischen Gegenstück fehlt. In ihm sicherten sich die Chin mit nüchternen Worten vor einem offenbar von ihnen erwarteten chinesischen Vertragsbruch ab, indem sie für diesen Fall das Schwurbündnis und die darin enthalteten Abmachungen für unverbindlich erklärten187 • Tatsächlich kam es bald zu Differenzen zwischen bei den Vertragspartnern, in denen mangelnde chinesische Vertragstreue kein unwesentliche Rolle spielte188 • Später hätte von den ersten Kontakten mit Abordnungen europäischer Staaten eine ernste Gefahr für die chinesische Weltordnungsvorstellungen erwartet werden können. Die Chinesen konnten aber das Zusammentreffen mit Vertretern hoher fern vom kultivierten Einfluß des chinesischen Weltherrschers entstandenen Kulturen um so leichter verkraften, da die Europäer aus kommerziellen Gründen bereit waren, als Tributgesandtschaft aufzutreten und sich zur Bestätigung der weltumfassenden Herrschaft des chinesischen Kaisers vor diesem niederzuwerfen, wie es das chinesische Zeremoniell verlangte189 • Zwischen 1655 und 1795 kamen sechzehn der siebzehn westlichen Delegationen der chinesischen Aufforderung nach, den Kotau zu vollziehen190 • Die Niederländer sahen sich nicht einmal imstande, das chinesische Begehren, sie mögen den Kotau auch vor des Kaisers leerem Thron, dessen Siegeln und Briefen vollziehen, zurückzuweisen191 • Dazu kam noch, daß sich die westlichen Besucher am chinesischen Hof aus eigensüchtigen Interessen nach Kräften anschwärzten192 • All dies war kaum dazu geeignet, in s. Thiele, op. cit., S. 258. s. Franke, op. cit., Bd. 4, S. 207 ff. 189 Vgl. Carl Gützlaff, Geschichte des chinesischen Reiches, Bd.2, Quedlinburg und Leipzig 1836, S. 149 ff.; Gottlieb August Wimmer, Geschichte der geographischen Entdeckungsreisen zu Wasser und zu Lande, Bd.3, 2. Aufl., Wien 1838, S. 119 ff.; Hosea Ballou Morse, The International Relations of the Chinese Empire, Bd.l, Nachdruck, Taipei 1964, S. 42 ff.; welche die Kontakte der seit Beginn des 16. Jahrhunderts in China präsenten Portugiesen schildern. Zum Verhalten der auf die Portugiesen folgenden niederländischen Gesandten am chinesischen Hof s. Histoire Generale des Voyages, Bd.7, Haag 1749 (bei Pierre de Hondt), S.49 und 139. 190 s. Immanuel C. Y. Hsü, op. cit., S. 14. 191 s. Voyage de Pierre De Goyer et Jacob De Keyser, Ambassadeurs de la Compagnie Hollandoise des Indes-Orientales, vers l'Empereur de la Chine, in: Histoire Generale des Voyages, Bd.7, S.46. 192 So etwa die Intrigen der portugiesischen Jesuiten gegen die holländischen Delegierten. - s. ibd., S.43, C. Y. Chao, Foreign Advisers and the Diplomacy of the Manchu Empire, Taipei 1954, S. 4 f. - Die Holländer wurden als Piratenbande dargestellt, die vor der europäischen Küste bloß einige Inseln besetzt hielten. 187 188

6 Kaminski

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

den selbstbewußten Chinesen den Gedanken zu erzeugen, sie hätten es mit Vertretern gleichberechtigter Staaten zu tun. Dieser Eindruck wurde durch die damalige chinesische militärische Überlegenheit verstärkt, welche unerwünschten portugiesischen und niederländischen Übergriffen auf chinesisches Gebiet ein blutiges Ende bescherte193 • Den Russen, die von der Landseite her Zugang zum chinesischen Kaiserhof suchten, ging es kaum besser. Ivashko Petlin, der 1619 in die chinesische Hauptstadt kam, gelang es nicht, zum Kaiser vorgelassen zu werden. Er wurde von den chinesischen Behörden mit der Ermahnung zurückgeschickt, das nächste Mal in gehöriger Weise Tribut mitzubringen194 • Briefe des chinesischen Kaisers an den russischen Zaren begannen mit der Formel "Ich, der Bogdekhan schreibe von oben nach unten an den weißen Zaren", wodurch die Superiorität des chinesischen Herrschers zum Ausdruck gebracht werden sollte195 • Als russische Kosaken ab der Mitte des 17. Jahrhunderts begannen, im chinesisch kontrollierten Amurgebiet vorzudringen, geboten ihnen starke chinesische Truppenkonzentrationen HaIt198. Es kam zum Friedensschluß von Nertschinsk (1689), durch den das Amurgebiet dem russischen Zutritt verschlossen wurde1 97 •

All dies bestärkte die Chinesen in ihrer Meinung, bei den Neuankömmlingen haoole es sich um Angehörige von Staaten, die an Rang und Größe den chinesischen Tributstaaten ähnelten und auf die folgerichtig das altbewährte Tributsystem anzuwenden war. Die sich zunehmend verschiebenden Machtverhältnisse durch das Vordringen der westlichen Mächte in Ostasien wurde von China bis zur Mitte des 19. Jh. kaum zur Kenntnis genommen. Als die Engländer, welche später während des Opiumkrieges den Chinesen mit rauher Hand ihrer Illusion bezüglich ihrer Stärke berauben sollten, während des Krieges gegen Napoleon Macao vor einem französischen Angriff schützen wollten, wetterte der chinesische Kaiser in einem Reskript: "Der Krieg der Franzosen mit den Engländern ist eine Sache der draußen wohnenden Barbaren, mit welcher das Reich der Mitte nichts zu schaffen hat ... Wenn ihr vorgebt, aus Furcht, die Franzosen mögen die Portugiesen s. Wimmer, op. cit., S. 119 ff., Gützlaff, op. cit., S. 149 ff. Vgl. Mark Mancall, Russia and China - Their Diplomatie Relations to 1728. 195 s. Bogdan Krieger, Die ersten hundert Jahre russisch-chinesischer Politik, Berlin 1904, S. 26. 196 Vgl. Krieger, op. cit., S. 7 ff.; H. Cordier, Histoire des Relations de la Chine avec les Puissances Occidentales, Paris 1901, Bd.1, S.80; Tchao Tchun Tche'ou, Evolutions des Relations Diplomatiques de la Chine avec les Puissances (1587-1928), Paris 1931, S. 43 ff. Ken Shen Weigh, Russo-Chinese Diplomacy, Shanghai 1928, S. 6 ff. 197 Der Text in der französischen übersetzung von Peter Gerbillon : Martens-Samwer, N. R. G., Bd.17, Teil 2, S.173 ff. Der lateinische Text findet sich bei Cordier, op. cit., S. 81 ff. 193 194

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angreifen, ihr wäret herbeigeeilt, um ihnen zu helfen, so frage ich euch, kann es euch verborgen sein, daß die portugiesischen Barbaren im Reich der Mitte wohnen, und daß die Franzosen nicht wagen werden, sie anzuireifen und gefangenzunehmen, und so das Himmlische Reich frech zu beleidigen? ... Euer Volk hat seine Lehenspflicht gegen das Himmlische Reich anerkannt, und den üblichen Tribut geschickt, und ist achtungsvoll und gehorsam genannt worden. Jetzt aber seid ihr unwissend und wagt frech die Gesetze zu verletzen, ist das nicht höchst unverständig? ... Wenn ihr euch zu fürchten lernen, auf der stelle eure Truppen zurückziehen, und ohne einen Augenblick absegeln wollt, lassen Wir uns vielleicht nachsichtsvoll bewegen, euch eure Verbrechen zu verzeihen, und eurem Volk wieder, wie früher, zu gestatten, Handel zu treiben ...188." Noch während des Opiumkrieges, als die Engländer ihre militärische Stärke bereits nachdrücklich demonstriert hatten, wurde an den chinesischen Hof von hohen Beamten Vorschläge herangetragen, welche für den anhaltenden Glauben vieler Chinesen, ihre Weltordnung sei nach wie vor auch machtmäßig abgesichert, lebhaft Zeugnis ablegen. Einer sah vor, eine der englischen dreimal an Zahl und Stärke überlegene Flotte zu bauen, deren Aufgabe es gewesen wäre, alle englischen Schiffe auf ihrer Fahrt nach China abzufangen. Das nötige Material sollte durch Schlägerung der chinesischen Wälder gewonnen werden. In einem anderen Plan wurde geraten, das Übel der englischen übergriffe ein für alle Mal durch den Marsch eines dreihunderttausend Mann starken chinesischen Heeres über Rußland nach London zu beseitigen199. Genau so wenig wie das offen zur Schau getragene militärische Instrumentarium fremder Mächte am chinesischen Weltbild nicht zu rütteln vermochte, waren Mittel der geistigen Auseinandersetzung mit dem chinesischen Universalismus erfolgreich. China hat darauf entweder mit völliger Ablehnung oder der Sinisierung jener fremden Geistesströmungen reagiert, je nachdem, ob sich diese nach entsprechender Modifizierung für die Bedürfnisse des chinesischen Universalismus dienstbar machen ließen2°O. Letzteres galt für den Buddhismus. Den besonderen chinesischen Bedürfnissen entsprechend, verliehen im Jahre 629 die dankbaren buddhistischen Mönche ihrer Gönnerin, der Kaiserin Wu-hou, den Titel "das goldene Rad der Herrschaft drehender heiliger Götterkaiser"201. In ähnlicher Weise bedienten sich später die Kaiser der Mandschudynastie des Titels des Chakravartin, um ihre universalistische Herrschaft den buddhistischen Mongolen gegenüber zu legitimieren202 • Auch das Christentum wurde im Wege seiner Verbreitung 198 s. Gützlaff, Das Leben des Kaisers Taokuang, S. 127 f. 199 s. Gützlaff, Leben des Kaisers Taokuang, Leipzig 1852, S. 30 f. 200 Vgl. Gerd Kaminski, Chinas Stellung in der Staatengemeinschaft, in: China-Report (Wien), 415, 1972, S.38. 201 s. Franke, Geschichte des chinesischen Reiches, Bd.2, S.417. 202 s. David M. Farquhar, Origin's of the Manchu's Mongolian Policy, in: The Chinese World Order, S.201.

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

durch die Jesuiten in China vorerst keine Herausforderung des chinesischen Weltbildes, sondern schien mit diesem vereinbar. Matteo Rieci und seine Ordensbrüder, die ab dem 16. Jh. in China wirkten, waren peinlich bemüht, Kollisionen mit gefestigten chinesischen Traditionen zu vermeiden. Rieci, der von den chinesischen Behörden als Tributbringer angesehen und daher zu Peking im Gästehaus für ausländische Tributgesandtschaften untergebracht wurde203, legte sich sofort chinesische Gelehrtentracht ZU204 und gab sich mit Erfolg Mühe, nicht als Verbreiter eines neuen Glaubens, sondern als Gelehrter zu gelten. Seine in China verfaßten Werke, die den Chinesen das Christentum nahebringen sollten, wurden von ihnen vielfach als Interpretation und Fortentwicklung der kofuzianischen Klassiker empfunden206 • Rieci ging in jeder Hinsicht mit größter Behutsamkeit vor und scheute sich nicht, unter Korrektur der tatsächlichen geographischen Verhältnisse China im Zentrum der Meere und der anderen Staaten darzustellen, als er um die Herstellung einer Weltkarte gebeten wurde20 6 • Dieses einfühlsame Vorgehen der Jesuiten festigte ihre Position am chinesischen Hof, und vielleicht hätten sie später an vorsichtige Versuche denken können, das chinesische Weltbild zu korrigieren. Dazu sollte es aber nicht kommen, da China zunehmend auch von anderen Orden missioniert wurde, was die Stellung der Jesuiten nicht stärkte, sondern erschütterte. Die Dominikaner und Franziskaner teilten nicht die Geduld der Jesuiten und in ihrem Eifer zögerten sie nicht, geheiligte chinesische Tradition zu verurteilen. Indem sie sich gegen den von Rieci gestatteten Ahnenkult wandten, rüttelten sie am chinesischen Weltbild. Nach diesem waren die Opfer des chinesischen Kaisers, eine stellvertretend für die ganze Welt vorgenommene und der ganzen Welt zugute kommende Tätigkeit, durch welche die universalistische Konzeption des chinesischen Reiches unterstrichen wurde. Als nun ein Teil der Missionare öffentlich energisch gegen die Opfer und andere von Rieci geduldete Gebräuche der Ahnenverehrung auftrat, kam es unter den Orden und ihren Bekehrten zu langwierigen Streitigkeiten, die unter dem Namen Ritenstreit bekanntgeworden sind201 • Als in deren Verlauf 203 s. Erste Missionsreisen der Jesuiten nach China von 1579 bis zur ständigen Niederlassung und allseitigen Ausbreitung im Jahre 1609. Beschrieben von Nikolaus Tigault und in der Kürze mitgeteilt von Dr. GöschI, königI. Professor zu Aschaffenburg, in: Joachim Heinrich Jäck, Taschenbibliothek der wichtigsten und interessantesten Reisen durch China, 1. Teil, 3. Bändchen, Grätz 1832, S. 57 f. 204 s. ibd., S. 59. 206 VgI. Wolfgang Bauer, Chinas Vergangenheit als Trauma und Vorbild, Stuttgart 1968, S. 91. 206 s. Gösdll, op. cit., S. 18. 201 VgI. Paul K. T. Sih, Father Matteo Ricci and the Catholic Church in China, in: Chinese Culture, Bd.l, Nr.2, Okt.1957, S. 80 ff.; Günther Hamann,

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Ausländer, wie der päpstliche Legat Maillard de Tournon, auf chinesischem Boden für chinesische Untertanen ohne Konsultierung des Kaisers Dekrete erließen, mußte sich der chinesische Hof mit dieser Herausforderung auseinandersetzen. Der Versuch des christenfreundlichen Kaisers K'ang-hsi (1663-1722), die unerläßlich gewordene Unterdrückung des Christentums differenziert zu handhaben und die mit den Bedürfnissen des chinesischen Universalismus zu vereinbarende Version Riecis weiter zu dulden, scheiterte an der Unnachgiebigkeit Roms. Als später im Jahre 1742 Benedikt XIV den Ahnenkult endgültig verbot, verurteilte er gleichzeitig auch die christliche Mission in China zum Untergang. Im kaiserlichen Verbotsedikt wurde klargestellt, daß die christliche Religion an sich nicht schlecht sei, da sie ihre Gläubigen anhalte, tugendhaft zu leben. Die Unterdrückung sei allein darauf zurückzuführen, daß die fremden Missionare die Ahnenverehrung ohne Erlaubnis des kaiserlichen Hofes verboten hätten!08. Damit hatte sich wieder die chinesische Haltung bestätigt, die fremden geistigen Strömungen, welche das chinesische Weltbild in Gefahr brachten, nur die Anpassung an die chinesischen Bedürfnisse oder den Weg in die illegalität offen ließ. Später wurde von chinesischer Seite zugegeben, daß die Jesuiten in hervorragendem Maße geeignet gewesen wären, auf die späteren Beziehungen Chinas zu den westlichen Staaten bedeutend Einfluß zu nehmen209 . Es ist schwer zu sagen, was geschehen wäre, wenn die Jesuiten nach Festigung ihrer Position ihre Rücksichten auf d~n chinesischen Universalismus allmählich aufgegeben hätten. Jedenfalls entging China durch die Folgen des Ritenstreits einer Auseinandersetzung, welche an Heftigkeit den Auseinandersetzungen Chinas mit der westlichen Geisteswelt Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nachgestanden wäre. So aber konnte das Christentum dem chinesischen Universalismus ebensowenig anhaben, wie das vorher geschilderte militärische Vordringen der europäischen Mächte. Als man im 19. Jahrhundert versuchte, eine von der Geringschätzung der chinesischen Kultur geprägte Missionierung gemeinsam mit dem militärischen Instrumentarium gegen das chinesische Überlegenheitsgefühl einzusetzen, erwies sie sich als spröde Waffe210. Geistliche Forscher- und Gelehrtentätigkeit in China des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Österreich und Europa (Festschrift für Hugo Hantsch), GrazKöln 1965, S. 51 ff.; Heribert Franz Köck, Das Verhältnis Chinas zum Heiligen Stuhl, in: China-Report (Wien), Nr.3, 1972, S. 14. 208 s. Sih, loe. eit., S. 82. 209 Vgl. T'cheng Ki-tong, China und die Chinesen, Leipzig 1885, S. 134 f. 210 Vgl. Ku Hung-ming, Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen, Jena 1917, S. 20 ff.

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

Trotz ihrer Bedrängnis weigerten sich die Chinesen bis weit in das 19. Jahrhundert hinein, die durch das Vordringen westlicher Soldaten und westlicher Ideen veränderte Situation zur Kenntnis zu nehmen und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Sie vertrauten darauf, daß, wie schon dutzende Male vorher in der chinesischen Geschichte, der Ansturm der Barbaren wieder abflauen würde, um wieder der vom Himmel angeordneten unangefochteten Herrschaft des chinesischen Kaisers Platz zu machen. Bis dahin galt es, mit den unverschämten Barbaren und ihrer himmelschreienden Anmaßung von Forderungen nach Gleichberechtigung mit entsprechendem Geschick zu verfahren. Im Laufe der vorhergehenden Dynastien waren verschiedene Theorien entwickelt worden, welche die Zähmung der Barbaren zum Gegenstand hatten. Die "Knochen- und Stock-Politik" riet zu einem flexiblen Verfahren. Die Barbaren wurden mit Hunden verglichen211 : " ••• Gerade wie Hunde, wenn sie mit ihrem Schwanz wedeln, dann wirft man ihnen Knochen zu, wenn sie wild bellen, dann schlägt man sie mit Stöcken ... Wie kann man mit ihnen über krumm oder gerade oder über die Einhaltung des Rechtes argumentieren!l!?" Es gab auch die Theorien "Barbaren zum Schutz gegen Barbaren verwenden", bzw. "Barbaren gegen Barbaren kämpfen lassen"2111. Diese Theorien erwiesen sich jedoch nur teilweise geeignet, um die Fremden zur Räson zu bringen. Männer, die eine harte Linie verfochten, wie der kaiserliche Beauftragte Lin Tse-hsü, scheiterten. Noch im Jahre 1839 hatte dieser, dessen großes Anliegen es war, den für Chinas Volk und Wirtschaft höchst schädlichen Opiumimport durch englische Kaufleute214 an die englische Königin Viktoria ein im Befehlston gehaltenes Schreiben gerichtet, dessen letzter Absatz folgenden Wortlaut hat: "Unsere himmlische Dynastie regiert und überwacht die unzähligen Staaten und besitzt sicherlich unermeßliche geistige Erhabenheit. Und doch kann es der Kaiser nicht über sich bringen, Menschen hinzurichten (jene, welche gegen das strikte Opiumeinfuhrverbot verstoßen sollten), ohne zuerst zu versuchen, sie durch Belehrung zu bessern. Daher verkündet er eigens diese festgesetzten Regeln. Die Barbarenkaufleute aus eurem Land sind angehalten, unsere Vorschriften respektvoll zu befolgen und die Versorgung mit Opium auf Dauer zu unterbinden, wenn sie noch längere Zeit Handel treiben wollen. Sie dürfen auf keinen Fall die Effektivität des Gesetzes 211 Die Chinesen hatten bereits in ihrer ältesten überlieferung damit begonnen, die Namen von Barbarenstämmen mit Zeichen für verschiedene Tiere zu versehen. So wurde z. B. die Ti aus dem Norden mit dem Hundezeichen und die Man aus dem Süden mit dem Wurmzeichen geschrieben. 212 s. Lien Shang Yang, Historical Notes on the Chinese World Order, in: The Chinese World Order, S.3I. 213 s. ibd., S. 32. 214 Eine übersicht über die gewaltige Steigerung der Opiumeinfuhr nach China gibt Morse, op. cit., S. 207-211.

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mit ihrem Leben auf die Probe stellen. Sondert, oh König, die schlechten und lasterhaften von euren Leuten aus, bevor sie nach China kommen, um den Frieden eurer Nation sicherzustellen, um weiter die Aufrichtigkeit euer Höflichkeit und Unterwürfigkeit zu zeigen, damit die beiden Staaten sich gemeinsam des Segens des Friedens erfreuen. Welch Glück, welch Glück fürwahr! Nach Erhalt dieser Botschaft werdet ihr uns sofort eine prompte Antwort bezüglich der Details und den näheren Umständen eurer Unterbindung des Opiumhandels geben. Nehmt dies ja nicht leicht. Das obige war mitzuteilen" (Kaiserlicher Vermerk: Das ist richtig formuliert und recht umfassend)l!1G. Der Schock der im bald darauf folgenden Opiumkrieg erlittenen Niederlage, bewirkte einen Wechsel in der chinesischen Taktik, keineswegs aber ein Abgehen von den universalistischen Prinzipien. Abgesehen von einigen späteren Rückgrüfen auf einen harten Kurs bediente man sich seit damals einer konzilianteren Haltung, die aber nicht auf ein "Aufgeben", sondern bloß auf ein "Nachgeben" gerichtet war, das ebenfalls einer alten gegen nichteuropäische Barbaren entwickelten Methode entsprach. Die Politik des "Chi-mi" (der "lockeren Zügel") war bereits in der Han-Zeit entwickelt worden und verglich die Barbaren nicht mit Hunden, wohl aber mit dem Rindvieh. Ihrem Programm entsprach, obstinaten Barbaren mit Freundlichkeit und Nachsicht entgegenzukommen, ohne ihnen einen besonderen Zwang aufzuerlegenl!18. In ihrer Zielsetzung unterschied sie sich jedoch in keiner Weise von den anderen Verfahren, sondern verfolgte ebenfalls den Zweck, die Barbaren letztlich zur Anerkennung der vom Himmel geforderten Vorherrschaft des chinesischen Kaisers zu veranlassen. Zeugnis für die Ziele dieser Methode und damit für das bis weit ins 19. Jahrhundert unveränderte chinesische Festhalten an den Grundsätzen des Universalismus liefern Auszüge eines Memorandums des chinesischen Unterhändlers Ch'i-ying aus dem Jahre 1844, das sich mit der Behandlung der Barbaren beschäftigt: "Ch'i-ying präsentiert ein ergänzendes Memorandum mit weiterem Bezug auf die Behandlung der Barbarenprobleme der verschiedenen Staaten, seine Empfänge oder Gespräche mit den barbarischen Delegierten und seine soweit es die Umstände erlaubten über sie ausgeübte Kontrolle. - Euer Sklave hat bereits von Zeit zu Zeit Berichte und Memoranden vorgelegt ... Er ist eingedenk dessen, daß die englischen Barbaren schließlich im August 1842 zur Versöhnung gebracht wurden (Vertrag von Nanking, Anm. d. Verf.) und daß die amerikanischen und französischen Barbaren im Sommer und Herbst dieses Jahres ihren Spuren gefolgt sind (Vertrag von Wanghia mit den USA und Vertrag von Whampoa mit Frankreich, Anm. d. Verf.). Während der Periode der letzten drei Jahre hat sich das Barbarenproblem in vieler Hinsicht trügerisch gewandelt und hat keine einheitliche Ent215 Zitiert nach Ssu-yu Teng und John K. Fairbank, China Response to the West - A Documentary Survey 1839-1932, New York 1970, Doc. 1, S.27. 216 Vgl. Lien-Sheng Yang, op. cit., S.31-33.

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

wicklung hervorgebracht. Die Methoden, durch welche die Barbaren zu beschwichtigen und unter Kontrolle zu halten sind, mußten sich daher ebenfalls ändern. Selbstverständlich haben wir sie durch Aufrichtigkeit zu bändigen, aber es ist sogar notwendiger geworden, sie durch geschickte Methoden zu kontrollieren. Es gibt Zeiten, zu denen sie, wenn es möglich ist, anzuhalten, sind, unseren Direktiven zu folgen, jedoch ohne sie die Gründe verstehen zu lassen. Manchmal können wir alles enthüllen, damit sie nicht mißtrauisch werden, wodurch wir ihre rebellische Unruhe verscheuchen können. Manchmal haben wir sie mit Empfängen und Unterhaltungen bedacht, was von ihnen mit einem Gefühl der Anerkennung aufgenommen worden ist. Und in noch anderen Fällen haben wir ihnen in großzügiger Weise Vertrauen gezeigt und hielten es nicht für notwendig, uns mit ihnen tiefer in eingehende Debatten zu verstricken, wodurch es uns gelungen ist, ihre Hilfe in aktuellen Angelegenheiten zu erhalten. Dies rührt daher, daß die Barbaren außerhalb der Grenzen Chinas geboren werden und aufwachsen, so daß sie mit vielen Regeln des Regierungssystems der Himmlischen Dynastie nicht voll vertraut sind. Darüber hinaus ergehen sie sich oft in willkürlichen Auslegungen, und es ist schwierig, sie durch Mittel der Vernunft zu erleuchten. So zum Beispiel, wenn Kaiserliche Äußerungen (d. h. Edikte und Dekrete) herabgereicht werden, werden sie alle von den höchsten Beratern entgegengenommen und durchgeführt, aber die Barbaren respektieren sie, als seien sie von der Kaiserlichen Hand selbst geschrieben. Wenn man ihnen endgültig davon Kunde gibt, daß diese nicht vom Kaiserlichen Pinsel stammen, dann gibt es kein Mittel, ihr Vertrauen weiter aufrechtzuerhalten. Dieses ist somit etwas, was ihnen nicht enthüllt werden darf. Wenn sich die Barbaren treffen und essen, wird es ein Bankett genannt. Normalerweise versammeln sie zu einem großen Bankett eine große Anzahl von Leuten und essen und trinken zusammen um des reinen Vergnügens willen. Als Euer Sklave sich am Bogue, zu Makao und solchen Orten befand und verschiedene Barbaren mit einem Festmahl bewirtete, kamen ihre Häuptlinge, Führer und Unterführer, je nachdem zehn oder mehr, bis zu zwanzig oder dreißig Personen. Wenn Euer Sklave die stockhohen Häuser der Barbaren oder ihre Schiffe besuchte, saßen die Führer und andere in einem Kreis um ihn herum, konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf ihn und wetteiferten darin, ihm Speisen und Getränke zu bringen - er konnte nicht anders, als ihre Becher und Löffel mit ihnen zu teilen, um sich ihrer Herzen weiter sicher zu sein. Überdies schenken die Barbaren im allgemeinen ihren Frauen große Aufmerksamkeit. Wann immer sie einen Gast von Rang haben, kommt die Frau mit Sicherheit heraus, um ihn zu treffen. Zum Beispiel haben der amerikanische Anführer Parker und der französische Anführer Lagrene beide ihre ausländischen Frauen mit sich gebracht und zu Gelegenheit, wenn Eurer Sklave zu den stockhohen Häusern der Barbaren ging, um Arbeitsgespräche zu führen, kamen diese ausländischen Frauen herausgestürzt und entboten ihm ihren Gruß. Euer Sklave war bestürzt, und es war ihm nicht wohl dabei, während sie andererseits hoch geehrt und erfreut waren. Daher können in der Tat die Sitten der verschiedenen westlichen Staaten nicht nach dem Muster der Zeremonien des Mittleren Königsreiches reguliert werden. Wenn wir sie schroff zurechtweisen, wäre dies kein Weg, ihre Dummheit zu zerschmettern, und könnte bei ihnen das Aufkeimen von Mißtrauen und Abneigung fördern.

H. Chinesischer Universalismus gegen Staatengleichheit

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Außerdem sind die verschiedenen Barbaren gekommen, um mit uns in Frieden und Harmonie zu leben. Wir müssen ihnen auf irgendeine Art Unterhaltung und freundliche Aufnahme gewähren. Aus diesem Grunde hat Euer Sklave zu der Zeit, als mit den verschiedenen Staaten die Verträge diskutiert und hernach abgeschlossen wurden, den Provinzschatzmeister Huang En-t'ung stets angewiesen, den verschiedenen barbarischen Abgesandten in aller Klarheit zu sagen, daß chinesische hohe Beamte zur Zeit, wenn sie mit anderen Staaten öffentliche Angelegenheiten zu erledigen haben, auf keinen Fall die Grenzen überschreiten und ein persönliches Verhältnis eingehen können. Sollten sie es wünschen, uns aus Höflichkeit Geschenke zu überreichen, so könnten wir sie nur mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Sollten sie heimlich angenommen werden, so seien die Gegenmaßnahmen der Himmlischen Dynastie überaus streng. So ein Beamter würde nicht nur die fundamentalen Regierungsprinzipien verletzen, sondern er würde auch kaum der Strafe nach den Vorschriften des Reiches entgehen. Die betreffenden barbarischen Abgesandten hatten darauf hin Vernunft genug, um diesen Instruktionen Folge zu leisten. Aber zu Zeiten, in denen man sie zu Gesprächen empfing, hatten sie gelegentlich kleine Geschenke zu überreichen, etwa ausländische Weine oder Parfums. Der Wert dieser Dinge war sehr gering und die Absicht der Barbaren war völlig aufrichtig. Es wäre unpassend gewesen, ihnen vor ihren Augen die Geschenke zurückzuschleudern. Aber er (der Verfasser der Denkschrift) hat ihnen solche Gegenstände wie Schnupftabakdosen und schmucke Börsen, welche bei sich getragen werden können, zuteil werden lassen, ganz einfach, um das Prinzip aufrechtzuerhalten, daß, obwohl wenig empfangen wurde, viel zu geben ist ... Was diese verschiedenen Staaten betrifft, obwohl sie Herrscher haben - diese mögen männlich oder weiblich sein, für eine lange oder kurze Zeit regieren - ist doch alles weit außerhalb der Schranken jedes Systems von Regeln. Die englischen Barbaren werden z. B. von einer Frau regiert, die Amerikaner und Franzosen durch Männer, die englischen und französischen Herrscher regieren beide ihr Leben lang, während der Herrscher der amerikanischen Barbaren im Wege der Wahl durch seine Landsleute eingesetzt wird und einmal in vier Jahren ausgewechselt wird - wenn er seinen Posten verläßt, steht er an Rang dem einfachen Volke gleich. Die offiziellen Bezeichnungen, die sie sich selbst zugelegt haben, differieren ebenfalls. In China nehmen die meisten chinesischen Amtsbezeichnungen, um einen falschen Prunk zu entfalten und sich selbst zu rühmen, wie die selbstzufriedenen Yeh-Iang (jener Stamm, welcher den Abgesandten der Han-Dynastie fragte, welcher Staat größer sei, Yeh-Iang oder Han). Diese Handlungen erweisen vielleicht ihren Herrschern Respekt, haben mit uns aber nichts zu schaffen. Wenn wir ihnen durch Anwendung der zeremoniellen Formen, die für abhängige Stämme verwendet werden, Schranken auferlegen, würden sie sicherlich nicht willens sein, sich zu bescheiden und im Status von Annam oder Liu-ch'iu (Riu-kiu) zu verharren, da sie weder unseren Kalender akzeptieren noch ein Kaiserliches Investiturpatent erhalten. Wenn wir dieser Sorte von Leuten gegenüber, welche sich außerhalb der Grenzen der Zivilisation befinden, blind und unaufgeschlossen in ihren Formen der Anrede und der Zeremonien, uns an die angemessenen in den offiziellen Dokumenten enthaltenen Formen halten und sie nach der Position von übergeordnet und untergeordnet wägen, würden sie doch nicht

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

ablassen, ihre Ohren zu verschließen und sich taub zu stellen, wenn wir uns auch bereits Zungen und Hälse trocken geredet hätten. Es würde nicht nur kein Weg offenbleiben, sie zur Vernunft zu bringen, sondern dies würde außerdem sofort Reibereien entstehen lassen. In Wahrheit würde in den wichtigen Anliegen, sie zu zähmen und zu beschwichtigen kein Fortschritt erzielt werden. Mit ihnen über leere Namen zu streiten und keinen greifbaren Erfolg zu erzielen, wäre nicht so gut, wie über diese unwesentlichen Angelegenheiten hinwegzusehen und unseren größeren Plan durchzusetzen. Die verschiedenen oben angeführten Maßnahmen sind alles Methoden, welche sich auf eine genaue Erforschung des Barbarenproblems, eine Wertung der Notwendigkeiten der Zeit unter Einbeziehung eines gründlichen Urteils bezüglich der Wichtigkeit und Unwichtigkeit der Dringlichkeit und des Fehlens von Dringlichkeit stützen und als Notbehelfe und Abänderungen, die den Umständen entsprachen, anzuwenden waren. Entweder deshalb, weil die Angelegenheiten im Grunde genommen von wenig Wichtigkeit waren oder weil die Notwendigkeiten der Zeit zu drängend waren, hat es Euer Sklave nicht gewagt, jeweils besonders darüber Denkschriften einzureichen und sie einer nach der anderen Euer Heiligen Intelligenz aufzudrängen. Nun, da die Barbarenaffairen im großen und ganzen zu einem Ende gebracht worden sind, gibt er wie es angemessen ist, von allen auf einmal in einem ergänzenden Memorandum Kenntnis" (Kaiserlicher Vermerk: Sie können nur auf diese Art und Weise behandelt werden. Wir verstehen das vollkommen)!t7, !t8.

m.

Der Eintritt des chinesischen Reiches in den völkerrechtlichen Verband

1. ObJekflve Voraussetzungen - Das Vertragssystem und seine Folgen Die im Opiumkrieg gegen England und China erlittene Niederlage!t 9 bildete den Auftakt zur Herausbildung eines Systems von vertrag217 Zitiert nach Ssu-yu Teng und John K. Fairbank, China's Response to the West - A Documentary Survey 1839-1923, Doc.5, S.37--40. 218 Die in dem Memorandum vorgebrachten Vorschläge sind von rein konfuzianischem Geist und der reichhaltigen Praxis früherer Dynastien getragen. Bereits im Jahre 3 vor Christus maß Yang Hsiung bei der Erläuterung der Politik der "lockeren Zügel" der Unterhaltung und der im Verhältnis zu den erhaltenen Geschenken reicheren Beschenkung der Barbaren große Bedeutung zu. - Vgl. Lien Sheng Yang, loc. cit., S. 31 f. Für alle im Memorandum vorgeschlagenen Maßnahmen finden sich in früheren Dynastien Präzedenzfälle. Selbst das widerwillige Teilnehmen der chinesischen Beamten an fremdländischen Banketten in Anwesenheit von Frauen hat seinen Präzedenzfall in den Beziehungen der Chinesen zu den Kitan im 11. Jahrhundert n. Chr. Die Teilnahme an von der Kaiserinmutter der Kitan gegebenen Banketten, vor denen sie noch mit einer Mischung aus Pökellauge und Rinderjauche besprengt wurden, mag den chinesischen Beamten damals kaum angenehmer gewesen sein. - Vgl. Schwarz-Schilling, op. cit., S.152. 219 Zu Verlauf und Hintergründen des Opiumkrieges s. Lord Jocelyn, Secretaire militaire de la mission envoyee en Chine avec l'expedition, La Campagne de Chine ou Six Mois Avec L'Expedition Anglaise, Brüssel 1844; Morse, op. cit., Bd. 1, S. 256 ff.

III. Der Eintritt des chinesischen Reiches in den völkerr. Verband

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lichen Beziehungen zwischen China und den westlichen Mächten, welches letzteren wenigstens nach außen eine Gleichstellung mit dem chinesischen Reich bringen sollte. Der Vertrag von Nanking, der den Opiumkrieg beendete, brachte die Bestätigung der Ranggleichheit Englands mit dem chinesischen Reich. Er war darauf gerichtet, England von der Liste der Tributstaaten zu entfernen und seinen Souverän und seine Beamten auf die gleiche Stufe des chinesischen Herrschers und seiner Beamten zu bringen. Im Vertrag von Nanking wurden nicht nur beide Staaten als "groß" bezeichnet, sondern die Titel "Kaiser" und "Königin" in gleicher Größe aus dem Text hervorgehoben220; Es wurde bestimmt, daß die hohen Beamten beider Staaten direkt auf Basis völliger Gleichheit verkehren konnten221 • England konnte aufgrund des Vertrages in den von China geöffneten Häfen Konsuln bestellen, welche im Verkehr zwischen chinesischen Behörden und englischen Kaufleuten dazwischengeschaltet werden sollten:m!. Dieser Vertrag und der ihn ergänzende unter "General Regulations" bekanntgewordene Vertrag von 1843, der die Meistbegünstigungsklausel enthielt223 dienten den späteren Abkommen Chinas mit anderen westlichen Mächten als Muster. Als nächster Staat setzten die USA ihre Gleichstellung mit dem chinesischen Reich durch. Ein Brief des chinesischen Unterhändlers Ch'i-ying in dem der Name Chinas größer hervorgehoben wurde, als der der USA wurde von seinem amerikanischen Partner Cushing mit der Bemerkung retourniert, er sei im Glauben, daß seine Exzellenz "den offensichtlichen Anstand, sich nach den Formen nationaler Gleichheit zu richten, erkennen werden, dessen Beachtung zur Aufrechterhaltung von Frieden und Harmonie zwischen beiden Regierungen unerläßlich sei, deren gemeinsame Interessen es verlangen, daß eine die andere mit der Achtung behandle, die großen und mächtigen Staaten zukomme"!%4. Im später zu Wanghsia geschlossenen Vertrag (1844) wurde dementsprechend dem amerikanischen Präsidenten die gleiche Herauss. Morse, op. cit., Bd. 1, S. 310. s. Art. XI des Vertrages von Nanking, in: Martens, N. R. G. III, S.484; Herslet, China Treaties, Bd. I, S. 5. Zu beachten ist allerdings, daß zwischen der englischen und der chinesischen Version des Textes erhebliche Unterschiede bestehen. In der chinesischen Fassung fehlen die Stellen, welche den von China zu leistenden Schadenersatz und die Gleichheit mit England betreffen. - s. Tseng-tsai Wang, China's Resistanee and Adjustment to Modern Diplomatie Praetiees as Illustrated by Sino-British Relations 1839 bis 1861, in: Chinese Culture, Bd.l0, Nr.4, Dez. 1969, S.56. 222 Art.2. 223 Art. VIII, s. Martens, N. R. G., III, S.490; Hertslet, op. cit., Bd.l, S.ll. 224 s. Morse, op. eit., Bd.l, S.327; John W. Foster, "Ameriean Diplomaey in the Far Orient, Boston 1904, S. 85. 220 221

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

hebung im Text zuteil, wie dem chinesischen Kaiser225 • Der ebenfalls 1844 geschlossene französisch-chinesische Vertrag machte zum Zeichen der Gleichstellung des Bürgerkönigs Louis Philippe diesen zum Kaiser der Franzosen226 • Hatten die ersten Verträge die früher von China etablierte Monopolisierung des Handels zugunsten bestimmter Kaufleute sowie die nach westlicher Ansicht diskriminierende Behandlung der westlichen Staaten und ihrer Untertanen beseitigt227, welche sich nun unter dem Schutz ihrer Konsuln mit ihren Familien im Gebiete der Vertragshäfen frei bewegen und handeln konnten, begünstigt durch einen allgemeinen sehr niedrigen Zolltarif, so sollten die 1858 mit England und Frankreich zu Tientsin geschlossenen Verträge!28 ,229 eine weitere Festigung und den Ausbau der bereits errungenen Positionen mit sich bringen. Eine Schlüsselstellung kam dabei der Errichtung von diplomatischen Vertretungen in der chinesischen Hauptstadt zu. Seit dem Vertrag von Nanking hatte sich der chinesische Hof des Hilfsmittels bedient, alle Angelegenheiten mit den westlichen Ausländern über den kaiserlichen Beauftragten in Kanton, dem von der Hauptstadt am entferntesten gelegenen Vertragshafen, durchzuführen. So konnte man sich die Barbaren weit vom Leib halten, da sich sämtliche anderen Beamten unter Berufung auf ihre mangelnde Autorisierung den Kontakten mit den Fremden entziehen konnten2!lo. Da das englische Ersuchen um Vers. Martens, N. R. G., VII, S. 134; Hertslet, op. cit., Bd. 1, S. 385. s. Martens, N. R. G., VII, S.431; Hertslet, Bd.1, S.149. 227 Die in China Handel Treibenden hatten in älterer Zeit starke Unbequemlichkeiten auf sich nehmen müssen, die aus der starken Separierung von der einheimischen Bevölkerung, die ein Anliegen der chinesischen Behörden war, resultierten. Die Frauen der Fremden durften nur auf Macao wohnen, die Fremden selbst durften zwar gelegentlich auf das Festland, hatten dort aber keine Bewegungsfreiheit und mußten ihren Verkehr mit den chinesischen Behörden ausschließlich über die mit dem staatlichen Monopol betrauten Bürgschaftskaufleute abwickeln. Einer der Zwischenfälle, die sich aus dieser Situation entwickelten, ist in der Calcuttaer GouvernementsZeitung vom 13. Oktober 1825, nachzulesen bzw. im Anhang des 2. Bandes von Gützlaffs Geschichte des chinesischen Reiches, S.290-298. Vgl. auch J ohn King Fairbank, Trade and Diplomacy on the China Coast, Stanford 1969, S. 462-468. 228 s. Hertslet, Bd. I, S.16, 163; Martens, N. R. G., XVII, I, S.2. 229 Wie dem Vertrag von Nanking waren auch diesen Verträgen kriegerische Handlungen vorausgegangen. Diesmal wurden sie durch die Beschlagnahme des widerrechtlich unter britischer Flagge fahrenden chinesischen Küstenschiffes Arrow durch die chinesischen Zollbehörden ausgelöst. England schritt unter dem Prätext, seine Flagge sei beleidigt worden zum Kriege, dem sich Frankreich anschloß. 230 Der chinesische Text des Art. XI des Vertrages von Nanking enthält bezüglich der direkten Korrespondenz mit Beamten der Hauptstadt eine Kannbestimmung, während aus der englischen Version eine Bestimmung zwingenden Charakters herausgelesen werden könnte. - Vgl. Tseng-tsai Wang, loc. cit., S. 65. 225 226

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tragsrevision beim chinesischen Hof begreiflicherweise auf taube Ohren stieß, war für England der Streit um die Beschlagnahme eines widerrechtlich unter englischer Flagge fahrenden chinesischen Sch.muggelschiffes durch die chinesischen Zollbehörden ein willkommener Vorwand, um die begehrte Revision im Wege über einen neuerlich zu entfesselnden Krieg anzustreben231 • Nach schwierigen Verhandlungen232 setzten die chinesischen Unterhändler ihre Unterschriften unter den Vertrag, der China noch in weit größerem Maße als der Vertrag von Nanking die Ausrichtung seiner internationalen Beziehungen nach westlichen Bedürfnissen abverlangte. England wurde das Recht eingeräumt, einen ständigen diplomatischen Vertreter nach Peking zu entsenden233 (Art. 2), während sich Frankreich, Amerika und Rußland in ihren ebenfalls zu Tientsin abgeschlossenen Verträgen234 mit der Erlaubnis zur gelegentlichen Entsen231 Der britische Konsul in Kanton, Harry Parkes, welcher den Konflikt provozierte, gab damals in einem Schreiben an Freunde der Hoffnung Ausdruck, daß im Zuge dieser Auseinandersetzung das Problem der diplomatischen Vertretung in Peking gelöst werden könne. - s. Stanley LanePoole, The Life of Sir Harry Parkes, London 1894, Bd. I, S. 259, 262. 232 Die Chinesen setzten dem englischen Begehren härtesten Widerstand entgegen, so daß den englischen Vertretern jedes Mittel recht war, um zum gewünschten Erfolg zu kommen. Den hoch betagten chinesischen Unterhändlern wurden junge ungestüme Beamte entgegengestellt (Horatio Lay und Thomas Wade), welche die Aufgabe hatten, sie einzuschüchtern und zu demütigen. Ch'i Ying, damals bereits über siebzig, wurde von englischer Seite in brüsker Form mit seinem 1844 verfaßten Memorandum über die Zähmung der Barbaren konfrontiert, welches von den Engländern 1857 unter den von ihnen erbeuteten Akten des Vizekönigs von Kanton gefunden worden war. Am 11. Juni 1858 berichteten die drei kaiserlichen Beauftragten im Zustand größter Hilflosigkeit, daß die englischen Barbaren die alten Akten über die Behandlung der Barbaren gefunden hätten. So seien sie ihrer Kontrolltechniken beraubt worden und ihre Weisheit und ihr Mut seien am Ende. - s. Immanuel C. J. Hsü, op. cit., S.42. Trotz dieser taktischen Niederlage am Verhandlungstisch und trotz des von England und Frankreich ausgeübten militärischen Drucks sperrten sich die chinesischen Unterhändler verzweifelt gegen die Zulassung ausländischer Diplomaten in Peking. Sie waren ständig der Gefahr ausgesetzt, sich die Ungnade des chinesischen Kaisers zuzuziehen, der den von den Engländern für ihren Gesandten vorgeschlagenen Titel "Imperial Commissioner" als "nicht mit Worten beschreibend anstößig und widerwärtig" bezeichnet hatte. - s. Hsü, op. cit., S. 56. Außerdem liefen die einflußreichen Literaten gegen jede Konzession auf diesem Gebiet Sturm und einer ihrer prominenten Vertreter verglich derlei Entgegenkommen mit "Wölfe neben dem Bett halten und sich selbst Fischgräten inden Hals stecken". - s. Hsü, op. cit., S. 58. Schließlich gab der Kaiser widerwillig unter der Bedingung seine Zustimmung, daß der englische Gesandte entweder bloß gelegentlich seine Besuche in Peking machen solle oder für den Fall seines ständigen Aufenthaltes das chinesische Zeremoniell zu akzeptieren habe. - s. Hsü, op. cit., S. 68. Die Unterhändler, welche unter dem Eindruck der Drohung Lord Elgins standen, man würde sonst Peking angreifen, konnten diesen kaiserlichen Wunsch jedoch nicht durchsetzen. - s. Tsen-tsai Wang, loc. cit., S. 75, Art. 2. 233 s. Hertslet, Bd. I, S. 16.

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

dung von nicht ständigen diplomatischen Vertretern nach Peking begnügten. - Da jedoch die Verträge mit den genannten anderen Staaten die Meistbegünstigungsklausel enthielten, kamen im Wege über eine mißbräuchliche Auslegung dieser Klausel die genannten England gewährten Vergünstigungen auch ihnen zugute. Im englisch-chinesischen Vertrag wurde außerdem hervorgehoben, daß die Person der Gesandten, ihre Familie, ihr Haus und ihre Korrespondenz unverletzlich sein sollten (Art. 4). Der Gesandte wurde nur verpflichtet, dem chinesischen Kaiser dieselben Förmlichkeiten und Ehrenbezeugungen zu erweisen, wie sie zwischen unabhängigen und gleichberechtigten europäischen Staaten üblich waren (Art. 3). Er erhielt das Recht, mit den Staatsministern und hohen Provinzbeamten direkte Beziehungen zu unterhalten (Art. 5, 6, 8). Auch der Verkehr der chinesischen Behörden mit den Konsuln sollte auf der Basis völliger Gleichberechtigung erfolgen (Art. 7). Des weiteren wurden Fahrten in das Landesinnere gestattet (Art. 9) und die Möglichkeit zur christlichen Mission in China zugesichert (Art. 8). Der Austausch der Ratifikationsurkunden wurde von chinesischer Seite wegen der schweren Folgen der durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen hinausgezogen und wurde erst 1860 unter dem Druck der in Peking einmarschierten englischen und französisclien Truppen vorgenommen. Die zu Tientsin geschlossenen Verträge dienten in der Folge als Muster zum Abschluß weiterer Verträge oder der stillschweigenden Ausdehnung der darin enthaltenen Grundsätze auf den Verkehr mit Nichtvertragsstaaten235 • Über die in anderen Verträgen enthaltene Meistbegünstigungsklausel partizipierten später folgende Staaten: Preußen und die übrigen Staaten des deutschen Zollvereins, die Großherzogtümer Mecklenburg-Strelitz und Mecklenburg-Schwerin und die Freien Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg, Vertrag vom 2. September 1861 236a , Dänemark, Vertrag vom 23. Juli 186323e , Niederlande, Vertrag vom 6. Oktober 1863237 , Spanien, Vertrag vom 10. Oktober 1864238 , Belgien, Vertrag vom 2. November 1865239 , Italien, Vertrag vom 26. Oktober 1866240 , 234 s. Hertslet, Bd.1, S.163; Martens, N. R. G., XVII, I, S.2; Hertslet, Bd.1, S.397; Martens, N. R. G., XVI, II, S.128; Hertslet, Bd.1, S.311. 236 Vgl. Horse, Op. cit., Bd.2, S. 50 f. 236a Hertslet, Bd. 1, S.212; Martens, N. R. G., XIX, S. 168. 23e s. Hertslet, Bd. 1, S. 138. m s. ibd., S. 257. 238 s. ibd., S. 364. %39 s. ibd., S. 111. 240 s. Hertslet, Bd. 6, S. 32.

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Österreich-Ungarn, Vertrag vom 2. September 1869 241 , Japan, Vertrag vom 30. August 1871242 , Peru, Vertrag vom 26. Juni 1874243 , Brasilien, Vertrag vom 3. Oktober 1881 24 4, Portugal, Vertrag vom 1. Dezember 18872411 • Die durch die Verträge zu Tientsin erreichte Basis der Gleichberechtigung wurde durch die Bestimmungen der am 13. September 1876 zwischen England und China abgeschlossenen Chefoo-Konvention246 verbreitert, die in ihrem zweiten Teil, betitelt "Offizieller Verkehr", eine Einladung der chinesischen Minister an die ausländischen Gesandten vorsieht, um mit ihnen gemeinsam eine Codex der Etiquette aufzustellen, der geeignet wäre, sicherzustellen, daß die Angehörigen des ausländischen diplomatischen und konsularischen Korps in China dieselbe Achtung genössen, wie in anderen Staaten und wie sie auch chinesischen Vertretern im Ausland zuteil werden würde. Zur Komplettierung der Maßnahmen zur Ausrichtung der Regulierung der chinesischen internationalen Beziehungen nach westlichem Muster fehlten im Grunde nur mehr die Errichtung eines chinesischen Außenamtes und die Etablierung ständiger chinesischer Gesandtschaften in den wesentlichsten europäischen Staaten. Auch dies war nur mehr eine Frage der Zeit. Zuerst mußte sich China der Notwendigkeit der Schaffung eines eigenen Außenamtes beugen. Die chinesischen Hoffnungen, die ausländischen Gesandten würden ihren ständigen Aufenthalt in Peking bald langweilig und ermüdend finden247 , erfüllten sich nicht und die westlichen Vertreter in Peking, die rätseln mußten, welche von den hohen chinesischen Beamten ihre kompetenten Partner waren, verlangten immer dringlicher nach einer einheitlichen Regelung. Sie legten dar, daß, nachdem sie sich nunmehr in der Hauptstadt niedergelassen hatten, die Regulierung der auswärtigen Angelegenheiten durch einen Provinzbeamten an der Küste248 nicht zugemutet werden konnte. In einem Gespräch mit dem Prinzen Kung teilte der englische Gesandte Bruce seinen Entschluß mit, künftig nur mehr mit ihm oder mit s. Hertslet, Bd.1, S.265; Martens, N. R. G., II, S.392. s. Hertslet, Bd.1, S.240; Martens, N. R. G., III, S.502. 243 s. Hertslet, Bd.1, S.265; Martens, N. R. G., XXII, III, S.497. 244 s. Hertslet, Bd.1, S.121; Martens, N. R. G., XII, S.549. 246 s. Hertslet, Bd.1, S.274; Martens, N. R. G., XVIII, S.787. 246 s. Hertslet, Bd.1, S.72; Martens, N. R. G., XII, S.707. 247 Vgl. Immanuel C. Y. Hsü, op. cit., S. 107 f. 248 In der Tat war es die chinesische Absicht, durch die Etablierung eines kaiserlichen Beauftragten in Tientsin die Wirkung der Zulassung von ständigen diplomtischen Vertretern in der Hauptstadt abzuschwächen. - s. ibd. 241

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

dem "Außenminister in der Hauptstadt" zu korrespondieren249 • Die anderen Gesandten schlossen sich dem Wunsche nach Errichtung eines Organes für die Wahrnehmung der auswärtigen Beziehungen unter dem ständigen Vorsitz eines Verantwortlichen an. Bis dahin war für die westlichen Seemächte, welche als Tributstaaten klassifiziert wurden, das Ministerium der Riten zuständig, während für die Beziehungen zur Landmacht Rußland ähnlich wie für die Mongolen das Amt für die Vasallenstaaten (Li Fan Yüan) kompetent war. Wichtige Angelegenheiten wurden allerdings vom höchsten politischen Entscheidungsorgan, dem Großrat, getroffen. Nunmehr schlugen am 13. Jänner 1861 Prinz Kung, Kui Liang und Wen Hsiang die Errichtung eines "Amtes für die generelle Verwaltung der verschiedenen Staaten" (tsung-li ko-kuo shih-wu ya-men), welches zuständig sein sollte, vor26°. Der Kaiser stimmte ihren Vorschlägen für die Regulierung der auswärtigen Angelegenheiten grundsätzlich zu, ordnete aber Modifikationen an, die sein Gesicht wahren sollten. Am 20. Januar 1861 verkündete ein kaiserliches Edikt die Errichtung eines "Amtes für die generelle Verwaltung der Handelsangelegenheiten mit den verschiedenen Staaten" (Tsung-li ko-kuo t'ung-shang shih-wu ya-men - später abgekürzt Tsungli Yamen). Das Amt war rangmäßig den traditionellen Ministerien nicht gleichgestellt, sondern war funktionell noch immer ein Hilfsorgan des Ritenministeriums251 • Die politischen Einflußmöglichkeiten des Tsungli Yamen warfm nicht nur schon von seiner Organisation her sehr beschränkt, sondern wurden durch die Informationsverhältnisse weiter eingeengt. Wichtige Angelegenheiten wurden meist direkt dem Thron berichtet und das Yamen nur so weit informiert, als es die Mitglieder des Kronrates für richtig hielten. Es kam sogar vor, daß hohe Beamte in ihren Eingaben über Außenpolitik den Wunsch vermerkten, das Yamen nicht hinzuzuziehenl!51a. Dem Tsungli Yamen wurden in der Folge das Allgemeine Zollinspektorat und die Fremdsprachenschule angegliedert. Erst im Augenblick der durch die Folgen des Boxeraufstandes ausgelösten höchsten Bedrängnis fand man sich am chinesischen Hof bereit, diese Konzessionen zu erweitern. Am 24. Juli 1901 wandelte ein kaiserliches 249 s. Masataka Banno, China and the West 1858-1861 (The Origins of the Tsungli Yamen), Cambridge (Mass.) 1964, S.210. 250 s. ibd., S. 219. Zu dem vorher im Haupttext genannten Li-fan-yuan s. Herbert Müller, über die Natur des Völkerrechts und seine Quellen in China - Einleitende Bemerkungen zu einer Bearbeitung des Li-fan-yuanTse-li, in: Zeitschrift für Völkerrecht und Bundesstaatsrecht, Bd.3, 1909, S. 192-205, insbes. ab 20l. 251 s. ibd., S. 226. 251a s. S. M. Meng, The Tsungli Yamen: Its Organization and Function, Cambridge (Mass.), S. 47 f.

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Edikt das Tsungli Yamen in das Außenministerium (Waiwu Pu) um, das rangmäßig sogar über den anderen Ministerien stand252 , und diese Regelung wurde durch Art. 12 des Vertrages von Peking253 auch international verankert. Ähnlich langwierig gestaltete sich die Entsendung von chinesischen Gesandten ins Ausland. Man erblickte chinesischerseits darin nicht nur einen Akt der Unterwerfung254 , sondern befürchtete sogar, die chinesischen Gesandten könnten als Geiseln im Ausland zurückgehalten werden255 • China war nicht einmal bereit, zum Schutz seiner zahlreichen im Ausland lebenden Untertanen Konsuln zu entsenden. In dem nachstehend wiedergegebenen Gespräch Tan Ting-hsiangs, des Vizekönigs von Chihli, mit Kapitän Dupont, einem amerikanischen Delegierten, findet man die damaligen chinesischen Ansichten trefflich widergespiegelt: Vizekönig: Es ist nicht unser Brauch, Beamte über unsere Grenzen hinauszusenden. Dupont:

Aber euer Volk ist aus den entfernteren Küsten des Pazifiks sehr zahlreich, zählt einige zehntausend.

Vizekönig: Wenn der Kaiser über so viele Millionen regiert, was kümmert er sich da um die wenigen Verirrten, die in ein fremdes Land gezogen sind? Dupont:

Viele von diesen Leuten sind reich, da sie Gold in unseren Minen gesammelt haben. Es könnte sich auszahlen, sich aus diesem Grunde um sie zu kümmern.

Vizekönig: Der Reichtum des Kaisers ist unermeßlich. Warum sollte er sich da um jene seiner Untertanen kümmern, welche ihre Heimat verlassen haben oder um den Sand, welchen sie zusammengescharrt haben266 ? Von solchen Vorurteilen belastet war das chinesische Vorgehen in der Frage der Entsendung chinesischer Beamter ins Ausland außerordentlich zögernd und vorsichtig. Nach längeren Bemühungen gelang es schließlich dem in chinesischen Diensten stehenden Engländer Sir Robert Hart, Generalinspektor des chinesischen Seezollwesens, den s. Morse, op. cit., Bd. 3, S. 358. s. MacMurray, Treaties and Agreements with and concerning China, 1894-1919, S. 310 fi. 254 s. Immanuel C. Y. Hsü, op. cit., S.152. 255 s. ibd., S. 159. 156 s. W. A. P. Martin, A Cycle of Cathay; or China North and South, New York 1900, S. 160. 252

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

chinesischen Hof dazu zu überreden, ihn auf seiner sechsmonatigen Urlaubsreise nach England von einer chinesischen Abordnung begleiten zu lassen, welche sich dann selbst ein Bild von den Gebräuchen, der Tradition und des Charakters des englischen Volkes machen sollten257 • Die chinesische Regierung vermied es, der Abordnung durch die Bestellung hoher Beamter eine zu große Bedeutung zu verleihen, sondern begnügte sich, drei Studenten des Fremdspracheninstitutes, Teh Ming, Feng Yi und Yen Jui unter der Leitung des dreiundsechzigjährigen früheren höheren Beamten Pin Chun, der von seinem Sohn Kwang Ying begleitet wurde, zu entsenden25B • Man unterließ es auch, der Delegation diplomatischen Charakter zuzuerkennen. Trotz des privaten Charakters der Reise wurden die chinesischen Gäste an den Höfen Europas gut aufgenommen. Neben London wurden auch Paris, Brüssel, Haag, Kopenhagen, Stockholm, Petersburg, Berlin, Potsdam und Hamburg besucht. Die gewonnenen Erfahrungen hätten der baldigen Errichtung chinesischer diplomatischer Vertretungen im Ausland wichtige Impulse geben können, wenn Pin Chun, der Delegationsleiter, von Europa positiver beeindruckt gewesen wäre. So aber fand er fast alles barbarisch und widerwärtig und drang darauf, die Dauer seines Aufenthaltes in Europa abzukürzen259 • Sein Bericht unterstützte die Argumente der konservativen fremdenfeindlichen Kräfte am Hof zu Peking. Interessanterweise war es dann aber gerade ein eher konservatives Anliegen, welches 1868 zur Entsendung Anson Burlingames als mit allen Vollmachten ausgestatteten Gesandten Chinas nach den USA und nach Europa führte. Burlingame, der während seiner vorhergehenden Tätigkeit als amerikanischer Gesandter in Peking sich das Vertrauen des chinesischen Hofes erwerben konnte26°, sollte vor allem die westlichen Mächte überreden, China keine Reformen aufzuzwingen261 , 262. Es wurde 257 Vgl. Morse, op. cit., Bd.2, C. Y. Chao, Foreign Advisers and the Diplomacy of the Manchu Empire, Taipei 154, S. 24-26. 258 s. Chao, op. cit., S. 25 f. 259 s. Morse, op. cit., Bd. 2, S. 188. 260 Burlingame, Rechtsanwalt und Politiker, war von Präsident Lincoln als Belohnung für treue Parteidienste zum Gesandten in Wien und nach der ablehnenden Haltung der österreichischen Regierung (Burlingame war im Zuge seiner Wahlreden vehement für die italienische Irredenta eingetreten) 1861 zum Gesandten in Peking ernannt worden. Während seiner Amtstätigkeit in Peking hatte sich Burlingame des öfteren bei Friktionen Chinas mit anderen Staaten, insbesondere mit England, als Vermittler eingeschaltet und dadurch das Vertrauen des chinesischen Hofes gewinnen können. Als er auf dem Abschiedsbankett, das ihm am 12. Nov. 1867 in Peking gelegentlich seines Scheidens als amerikanischer Gesandter gegeben wurde, zum Ausdruck brachte, in künftigen Konflikten auf ihn zu zählen, wie auf einen chinesischen Gesandten. Das Tsungli Yamen, welches sich schon seit längerer Zeit die Frage prüfte, eine Delegation in das Ausland zu entsenden, beeflte sich, ihn beim Wort zu nehmen.

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ihm der rote Knopf als Zeichen des Ranges der höchsten Beamtenklasse verliehen und man stellte ihm mit dem Mandschu Chih-kang und dem Chinesen Sung Chia-hu zwei gleichberechtigte Bevollmächtigte aus der zweiten Beamtenklasse zur Seite. Die Delegation wurde außerdem noch von zwei europäischen und dreißig chinesischen Sekretären begleitet. Die Instruktionen, welche Burlingame vom Tsungli Yamen erhielt, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Die Verhandlungen zwischen China und den fremden Staaten sollten unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse beider Teile geführt werden.

2. Die chinesischen Bevollmächtigten sollten von den Vertragsrnächten mit den gleichen Ehren behandelt werden, wie deren eigene hohe Beamte. 3. Die Bevollmächtigten sollten bei keinem der ausländischen Souveräne um Audienz ansuchen, da die Protokollfragen noch nicht geklärt waren. 4. Chih Kang und Sung Chia-hu sollten über alles genau informiert werden. 5. Die endgültige Entscheidung über jedes Verhandlungsergebnis sollte dem Tsungli Yamen vorbehalten bleiben. 6. Die Dauer der Mission sollte ein Jahr nicht überschreiten. 7. Fragen geringerer Bedeutung sollten von Burlingarn mit seinen beiden Kollegen gemeinsam an Ort und Stelle entschieden werden. Bei wichtigeren Fragen war vorher das Tsungli Yamen gemeinsam zu konsultieren26:J. 261 Wen Hsiang faßte die Instruktionen Burlingames später folgendermaßen zusammen: "Die einzige Instruktion, welche wir unserem Gesandten mitgaben, war, den Westen davon abzuhalten, uns zu zwingen, Eisenbahnen und Telegraphen zu bauen, welche nur in dem Umfang wollen, sie sie unserer eigenen Initiative entspringen." - s. Henri Cordier, Histoire des Relations de la Chine avec les Puissances Occidentales, Bd. 1, Paris 1902, S.285; Morse, op. cit., Bd.2, S.191. 262 über die Hintergründe der Mission gab das Tsungli Yamen in einer Note an die ausländischen Gesandten in Peking wie folgt Aufschluß: "Seit vielen Jahren hat China die Absicht, Gesandte nach Europa zu schicken. Die Verzögerung in der Absendung dieser Delegation ist bloß auf die Schwierigkeit zurückzuführen, jemanden zu finden, der mit den fremden Bräuchen und Sprachen vertraut ist. Herr Burlingame, ein Mann, der sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzt, kennt nicht nur die Verhältnisse Chinas und der fremden Länder, sondern hat auch seine Bereitschaft, China beizustehen, zum Ausdruck gebracht. Er ist daher als bevollmächtigter Gesandter für Europa bestellt worden. Würde die Mission ausschließlich von Fremden durchgeführt werden, so hätten die Chinesen in Zukunft niemals eine Chance, selbständig zu handeln. Deshalb wurden Chih Kang und Sung Chia-hu ebenfalls bevollmächtigt ... " - s. Chao, op. cit., S.13. 263 s. ibd., S. 14.

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

Die Mission Burlingames mag angesichts des Erreichten trotz der kritischen Anmerkungen Morses, der ihn als wirklichkeitsfremden Idealisten bezeichnet264 , als recht erfolgreich angesehen werden. In den USA schloß er am 18. Juli 1868 in überschreitung seiner Befugnisse einen Vertrag, der von der chinesischen Regierung nachträglich saniert wurde, ab!85, der nicht nur betont, daß trotz gewisser Konzessionen des chinesischen Kaisers die Herrschaft des Kaisers über die von den Ausländern besiedelten Gebietsteile erhalten geblieben, sondern daß auch die chinesische Jurisdiktion so weit weiterbestehe, als sie nicht ausdrücklich überlassen worden sei. Des weiteren wurde jegliche Einmischung fremder Staaten in die inneren Angelegenheiten und die Verwaltung Chinas ausgeschlossen. In London gelang es Burlingame, den neuen Chef des Foreign Office, Lord Clarendon, zur Abgabe der Erklärung vom 28. Dezember 1868 zu bewegen, welche besagt, daß die britische Regierung China nicht zwingen würde, rascher vorwärtszuschreiten, als mit seiner Sicherheit und der angemessenen und vernünftigen Beachtung der Gefühle seiner Untertanen vereinbar sei und England jeden Versuch, China zur Annahme eines neuen Systems zu zwinge, mißbilligen würde2". Schließlich brachte er auch Bismarck dazu, sich am 16. Jänner 1870 für den Norddeutschen Bund der Erklärung Clarendons anzuschließen267 . Der Eindruck des Erfolges dieser Mission wurde allerdings etwas später durch das Wiederaufleben der fremdenfeindlichen Stömung in China abgeschwächt268 • Immerhin folgten die Reisen weiterer Delegationen (Entschuldigungsgesandtschaften nach Frankreich nach den Vorfällen von Tientsin im Jahre 1870 sowie Delegationen zum Studium des amerikanischen Erziehungswesens 1872, und zur Internationalen Weltausstellung in Wien, 1873). In der Zwischenzeit machten der japanischchinesische Zwischenfall um Formosa269 und der englisch-chinesische Konflikt um die Ermordung des englischen Konsulatsbeamten Margary, der sich trotz Warnungen in das von fremdenfeindlichen Eingeborenen bewohnte Yunnan begeben hatte, die chinesischen Behörden nachdrücklich auf die Vorteile ständiger Vertretungen im Ausland aufmerk264 s. Morse, op. cit., Bd. 2, S. 200. 285 Hertslet, Bd.l, S.410; Martens, N. R. G., XX, S.100. 266 s. Immanuel C. Y. Hsü, op. cit., S. 169. - Eine etwas andere Version überliefert Morse in Bd.2, S.197, wo es heißt: ... "That an unfriendly pressure shall not be applied inconsistent with the independence and the safety of China." 267 s. Hsü, op. cit., S.169; Morse, op. cit., Bd.2, S.198 f. 288 s. Hsü, op. cit., S. 171. 269 1874 landete eine japanische Strafexpedition auf Fonnosa als Reaktion auf die durch die eingeborenen Kopfjäger entstandenen Verluste an Menschenleben unter schtlfbrüchigen Japanern.

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sam. Der Vizekönig zu Tientsin, Li Hung-chang kommentierte den Zwischenfall um Formosa, indem er darauf hinwies, er habe schon vor drei Jahren den Vorschlag gemacht, in Japan einen ständigen Vertreter zu stationieren. Hätte man seinem Rat gefolgt, so hätte dieser die bevorstehende japanische Expedition nach Hause melden können und Peking wäre nicht davon vollkommen überrascht worden. Sir Robert Hart setzte im Zuge des Margary-Zwischenfalles einmal mehr sein persönliches Prestige ein, um die chinesischen hohen Beamten davon zu überzeugen, wie nützlich es wäre, die einseitige Berichterstattung des englischen Botschafters Wade überspringen und durch einen chinesischen Vertreter in London die britischen Behörden direkt informieren zu können!7O. Den letzten Anstoß gab schließlich ein im März 1875 von Hsüeh Fuch'eng eingereichtes Memorandum, in welchem die Zweckmäßigkeit der Einrichtungen des diplomatischen Verkehrs als Instrument der Außenpolitik besonders hervorgehoben wird. Der Autor beklagt, daß sich keine anständigen Männer dazu hergegeben hätten, die auswärtigen Angelegenheiten zu studieren, und die Chinesen seien daher im Falle von Auseinandersetzungen mit den fremden Mächten vollkommen hilflog!71. Li Hung-chang und sein Kollege Shen Pao als kaiserliche Beauftragte für den Handel in den nördlichen und südlichen Häfen unterstützten diese Ansichten, und es gelang, den Hof zur prinzipiellen Billigung der Entsendung von Diplomaten ins Ausland zu bewegen (30. Mai 1875). Der Bann war gebrochen. 1877 überreichte Kuo Sung-tao als erster chinesischer Gesandter in London sein Beglaubigungsschreiben und 1878 in Paris, wo er mitakkreditiert war. 1878 wurde Chen Lan-ping als chinesischer Gesandter für Washington und Madrid bestellt. 1877 wurde Liu Ksi-hung, welcher zuerst der Gesandtschaft in London zugeteilt war, als chinesischer Gesandter nach Berlin versetzt unter Mitakkreditierung in Wien und Haag. Im gleichen Jahr wurden Ho Ta-jen nach Tokio und Chung-how nach Petersburg geschickt. Damit waren im Grunde für die Mitgliedschaft eines kooperationswilligen und gleichberechtigten China im völkerrechtlichen Verband auch die letzten erforderlichen Voraussetzungen geschaffen worden. Wie jedoch im anschließenden Abschnitt gezeigt werden soll, waren zudem zuerst auf chinesischer und dann auf westlicher Seite starke subjektive Reserven zu überwinden.

Hsü, op. cit., S. 176-79. s. ibd., S. 175, s. auch S. M. Meng, op. cit., S. 76 ff.

270 S. 271

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

2. Subjektive Voraussetzungen - Die Neuordnung des chinesischen Weltbildes

Der vorhergehende Abschnitt hat gezeigt, wie China von den europäischen Mächten allmählich dazu gebracht wurde, sich in der Organisation seiner auswärtigen Beziehungen den westlichen Gepflogenheiten und Bedürfnissen anzupassen. Damit war jedoch der Eintritt in den völkerrechtlichen Verband noch nicht vollzogen, da einer endgültigen Mitwirkung Chinas als nicht mehr- aber auch nicht minderberechtigtes Mitglied zuerst Widerstände Chinas und, als sich diese im Laufe der Zeit abgeschwächt hatten, Widerstände der europäischen Mächte entgegenstanden. Der Abschluß der Verträge mit den europäischen Staaten, wodurch jenen von China fonnal Gleichberechtigung zugestanden wurde, war kein derart revolutionäres oder ungewohntes Ereignis, daß darob Weltbild und überlegenheitsgefühl der Chinesen von selbst zusammengestürzt wären. Vielmehr setzte China auch nach der Etablierung des

Vertragssystems, wenn auch mit abnehmender Stärke Signale, welche eine Fortdauer seiner Verteidigung des chinazentrischen universalistischen Weltbildes anzeigen sollten.

Wie schon früher im Verkehr mit den Kitan oder den Chin wurde den Europäern in den offiziellen chinesischen Dokumenten zwar Gleichheit zugestanden, für den chinesischen Hausgebrauch waren sie aber noch immer barbarisch und kulturlos271a . So wurden die Europäer in einem Memorandum des chinesischen Unterhändlers Kuei Liang als Barbaren bezeichnet, welche Hund und Schafen glichen. Die Erlaubnis, ständige Vertretungen in der chinesischen Hauptstadt zu errichten, würde dem chinesischen Reich vorübergehendes Atemholen erlauben, um sich künftig Pläne zu überlegen. Die Barbaren wollten in der Hauptstadt weilen, um sich Würde und Prestige zu verschaffen. Dies möge ihnen im Sinne einer behutsamen Beaufsichtigung gewährt werden272, 273. Der Hof folgte dieser Empfehlung war aber davon weit 271a s. Ernst von Hesse-Wartegg, op. cit., S. 103: "Freilich hat sich England im Vertrag von Tientsin 1858 ausdrücklich bedungen, daß kein englischer Beamter oder Untertan mit dem Wort Barbar bezeichnet werden dürfe, indessen wird dieses Wort doch noch immer, und zwar täglich, von den Chinesen gebraucht." 272 s. Hsü, op. cit., S. 56. 273 Diese Ansicht wurde vom chinesischen Kaiser geteilt, welcher in einem Edikt ausführte: " ... Die schädlichen Folgen der Inlandschiffahrt durch die Barbaren treten allmählich ein und wir haben noch reichlich Zeit, um uns Gegenmaßnahmen zu überlegen, während wir sie einstweilen behutsam zügeln." Wie man sich chinesischerseits das künftige Verhalten der Fremden in China vorstellte, zeigt ein offizieller Briefwechsel bezüglich des Wunsches des amerikanischen "Militärberaters" Ward, chinesischer Untertan zu wer-

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entfernt, diese Vertretungen im Lichte westlicher Gepflogenheiten zu sehen. Auf einer Konferenz am 23. Juni 1858, die sich mit dem Thema ausländischer Missionen in Peking beschäftigte, meinte Prinz Hui: "Wir werden sie nicht eine barbarische Mission etablieren lassen, sondern etwas wie den Vize-Direktor des Kaiserlichen Ministeriums für Astronomie in der Westlichen Halle der K'ang-hsi Periode oder wie die offiziellen Studenten der russischen Sprachschule. Sie schneiden ihr Haar, tragen unsere Kleider und sind nur ein paar Leute 274 ." Als sich später abzeichnete, daß die Fremden ihre Konzeption von Missionen in Peking durchsetzen würden, versuchte der entsetzte Kaiser alles, um sie wieder loszuwerden, selbst um den Preis einer vollständigen Befreiung der Fremden von den Zöllen275 . Und als dies ebenfalls nicht glückte, nahmen die Chinesen zu gewissen protokollarischen Praktiken Zuflucht, um ihr weiteres Beharren auf die Überlegenheit des chinesischen Kaisers anzuzeigen. Im Sinne dieser Aktionen verweigerte man den ausländischen Diplomaten die Audienz beim Kaiser. Als sich der amerikanische Delegierte Ward (1859-1860) um eine Audien7. hf'mühte. antwortete der chinesische Kaiser Hien-fung in unmißverständlicher Weise: "Was dieser Fremde meint, daß er den Großen Kaiser so respektiert wie so einen Präsidenten ist nichts weniger, als das Mittlere Königreich mit den barbarischen Stämmen auf eine Stufe zu stellen. So eine wilde Selbstüberheblichkeit kann nur so gewertet werden, daß sie einen zum Lachen bringt276, 276a." Schließlich wurde zwar mit kaiserlichem Edikt vom 14. Juni 1873 den Gesandten Audienz gewährt277 , doch wurden die Gesandten nicht ihrer den. Der Gouverneur von Kiangsu berichtete im Februar 1862: " ... Ward ist ein amerikanischer Stammesangehöriger ... Bis jetzt haben sich alle fremden Kaufleute, welche nicht unter der Kontrolle eines Konsuls standen, unter die Kontrolle der chinesischen Beamten gestellt. Ward hat schon im Amt eines Taotais und im amerikanischen Konsulat darum angesucht, als chinesischer Untertan eingetragen zu werden und sich zur chinesischen Art zu bekehren. Es scheint nicht angebracht, die Aufrichtigkeit seiner von ganzem Herzen gewünschten Zuwendung zur Zivilisation zurückzuweisen." Der Kaiser meinte dazu: "Ward hat sich als voll Bewunderung der chinesischen Art gegenüber erwiesen und ist aufrichtigen Herzens hilfreich und gehorsam und sicherlich wert, bewundert und geschätzt zu werden." s. John K. Fairbank, The Early Treaty System in th Chinese World Order, in: The Chinese World Order, S.271. 274 s. Hsü, op. cit., S. 61. 275 s. ibd., S. 71. 276 s. Mr. J. Ross Browne's Reply to an Adress Presented by the American and English Merchants of Shanghai vom 17. Juli 1869, in: Morse, Bd.2, Appendix C, S. 436. l!78a Zur damaligen chinesischen Haltung vgl. auch Toshio Ueda, Shina no kaikoko to kokusaih6 (Die Öffnung Chinas und das Völkerrecht), in: Toyo bunka kenkyu, Nr. 1, 1944, S. 32 ff. 277 s. Cordier, Histoire des Relations de la Chine avec les Puissances Occidentales, Bd. 1, Paris 1902, S.476, 484; Morse, op. cit., Bd.2, S.267. .-

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Stellung entsprechend als "Kin-chai Ta-chen", sondern bloß als "shih chen" (Boten) bezeichnet, welcher Ausdruck auch auf die Vertreter von Tributstaaten Anwendung fand. Auch sonst überließ das Edikt der Betonung der besonderen Stellung des chinesischen Kaisers breiten Raum: "Da das Tsungli Yamen vorgetragen hat, daß die fremden Boten, welche sich vorübergehend (es wurde der Ausdruck für den Aufenthalt von Durchreisenden und Kurieren gebraucht) in Peking aufhalten, flehentlich um eine Audienz gebeten hat, um ihre Beglaubigungsschreiben vorlegen zu können, ordnen wir hiermit an, daß diese ausländischen Boten, welche sich vorübergehend in Peking aufhalten und Briefe zu überreichen haben, zur Audienz zugelassen werden278 ." Dazu kam, daß, um eine Aufwertung der Fremden durch die Erlaubnis, im Bereich des kaiserlichen Palastes zu reiten oder Sänften zu benützen, zu vermeiden, die Audienz wohl innerhalb der verbotenen Stadt, aber außerhalb des eigentlichen Palastbereiches in einem Gartenpavillon abgehalten wurde, in dem gewöhnlich auch den Abgesandten von Tributstaaten Audienz gewährt wurde219 • Später versuchte man sich mit allerlei Ausflüchten von dieser lästigen Pflicht wieder ganz zu befreien. Als der französische Botschafter Lemaire die erreichte Großjährigkeit des Kaisers zum Anlaß nahm, um auf eine: kaiserliche Audienz zur Überreichung des Beglaubigungsschreibens zu drängen, antwortete das Tsungli Yamen am 22. November 1887, daß die Kaiserinwitwe dennoch noch immer Regierungsinstruktionen gebe und daß man es zur Zeit im Bereich der kaiserlichen Audienzen mit einem Provisorium zu tun habe. Wenn der Herr Gesandte ein Beglaubigungsschreiben zu überreichen habe, so würde es das Yamen gerne für ihn an den Thron weiterreichen280 • Erst ab dem Jahre 1890 wurde einmal jährlich Audienz gewährt, doch mußten die neu angekommenen Gesandten bis zur Neujahrsaudienz warten, um ihre Beglaubigungsschreiben überreichen zu dürfen. Als erster setzte der Gesandte Österreich-Ungarns, de Biegeleben, eine Durchbrechung dieses Grundsatzes durch, doch konnte er, der unter dem Zeitdruck der Abreise zur Ordnung wichtiger Angelegenheiten in Tokio stand, nicht verhindern, daß die Audienz, welche am 27. Oktober 1891 gewährt wurde, in einer noch unansehnlicheren Halle stattfand, als der von 1873281 • Es dauerte noch bis 1894 bis unter dem Eindruck des Ausbruches des Krieges gegen Japan der Hof bereit war, für den Neujahrsempfang einen würdigen Saal innerhalb des kaiserlichen Palasts zur Verfügung zu stellen282 • 278 279 280 281 282

s. s. s. s. s.

Morse, Bd. 2, S. 267 f. ibd., S. 269 f.

Cordier, op. cit., Bd. 3, S. 29. Cordier, Bd.3, S.187. ibd., S. 199 ff.

II!. Der Eintritt des chinesischen Reiches in den völkerr. Verband

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überaus signifikante Hinweise auf das chinesische Verständnis der Beziehungen zu den europäischen Mächten gibt das im Herbst 1880 datierte Vorwort zu der Dokumentensammlung der auswärtigen Beziehungen der T'ung-chih Periode (1862-1874): "Wir berücksichtigen respektvoll, daß, nachdem der T'ung-chih Kaiser auf den Thron kam und die Politik stabilisierte, wobei die Längsfäden ziviler und das Gewebe militärischer Natur war, die amphibischen Ungeheuer schnell hinweggescheucht wurden und seiner Majestät Ehrfurchtsgebietende Erhabenheit alles innerhalb des kaiserlichen Herrschaftsgebietes überwältigte. Ochsen und Pferde schliefen friedlich. Die Tugend seiner Majestät erstreckte sich auf ferne Orte. Aus diesem Grund kamen die verschiedenen Barbaren, für welche man mehr als einen Dolmetscher braucht, um regiert zu werden und andere klopfen an das verschlossene Tor und brachten zeremonielle Geschenke dar. Es gab unter ihnen keine, die von seiner Rechtschaffenheit nicht durchtränkt gewesen wären. Sie enthüllten ihre Aufrichtigkeit und unterwarfen sich ihm vollständig. Als sie durch das Tor traten suchten sie um Audienz an (wörtlich: "den Glanz des Drachen zu sehen"), nicht anders als der Hunnenkönig, der an den Hof der Han kam. Als sie schieden, wollten sie sich als Hilfstruppen an den Flügeln der kaiserlichen Garde anschließen, gerade so, wie die Uiguren den Tang beistanden. Sie vertrauten auf die Jadeaxt des Kaisers, um die Flüsse abzustecken, ihnen Grenzen zu übertragen und Grenzstreitigkeiten zu schlichten. Sie brachten Zinnober dar und wandten sich der Zivilisation zu. Sie gingen Verträge ein und erneuerten ihre Bündnisse mit uns. Wie konnten sie erkennen, daß die Kontrolle durch lose Zügel der kaiserlichen Anordnung völlig nach dem kaiserlichen Plane ausgeführt wurde? Als Instrument, durch das die Rede alle Staaten durchdringen möge, begann die Übersetzerschule in üblichen Sprachen zu unterrichten. Der Ruhm unserer klassischen Bücher fand überall Verbreitung. Seine Majestät verkündete seine Anordnungen, Boten ins Ausland zu entsenden. Um den Übungen der Soldaten zu nützen, wurden die Truppen im Gebrauch der Feuerwaffen geschult. Um schnelle Schiffe herzustellen, fingen die Arsenale an, Maschinen herzustellen. Die Zollabgaben der Kaufleute wurden festgesetzt und Berge erkletternd und über die Meere segelnd versammelten sie sich alle in China. Durch die Gnade des Kaisers und die Belohnungen, die ihnen zuteil wurden, kultivierten sie sich und lernten Eleganz und Etiquette. Die Inneren und die Äußeren (d. h. die Chinesen und die Fremden) formten eine Familie. Die Entfernten und die nahe Wohnenden wurden gleich behandelt. Wahrhaft ausgezeichnet war die kaiserliche Herrschaft ...283." 283 s. John K. Fairbank, The Early Treaty System in the Chinese World Order, S.265.

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

Dies schien Indiz genug zu sein, daß trotz der Schaffung objektiver Voraussetzungen zur Gleichstellung der anderen Staaten mit China im chinesischen Bewußtsein nicht jene Änderungen eingetreten waren, die geeignet gewesen wären, in der chinesischen Vorstellungswelt ein anderes Weltbild zu verankern. Dafür ist nur zum Teil ein bewußtes "nil admirari", wie es Otto Franke formuliert hat, verantwortlich zu machen. Das oben zitierte Vorwort beweist, wie leicht sich die aus dem Vertragssystem ergebenden Beziehungen zu den europäischen Mächten innerhalb des Schemas konfuzianisch-universalistischer Traditionen unterbringen und erklären ließen. John K. Fairbank weist zutreffend darauf hin, daß die Chinesen wohl den Text der Verträge sehen konnten, ohne aber das System zu erkennen, von dem dieser getragen wurde284. Es ist Fairbanks Ansicht zuzustimmen, daß in chinesischen Augen die Annahme der Verträge eine Fortsetzung der "Politik der lockeren Zügel" bedeutete. Wie man früher die Barbaren durch Befriedigung ihrer materiellen Interessen (vor allem durch Geschenke) zu besänftigen suchte, so kam man im 19. Jahrhundert in der gleichen Absicht ihren Handelsinteressen entgegen2B5 • Vertragsbestimmungen, wie die Meistbegünstigungsklausel, welche von den europäischen Mächten als wesentliche Begünstigung empfunden wurden, bedeuteten in chinesischen Augen etwas ganz anderes. - Als die USA und Frankreich nach dem Frieden von Nanking um die gleichen Privilegien baten, die den Briten eingeräumt worden waren, bat der chinesische Unterhändler I-Li-pu, man möge diesem Begehren nachgeben, denn es sei wegen der großen Ähnlichkeit der Barbaren ohnehin unmöglich sie zu unterscheiden. Eine ablehnende Haltung würde sie dazu bringen, unter britischer Flagge Handel zu treiben. Würde man aber ihrem Wunsch entsprechen, so wür2B4 s. ibd., S.262. Ein weiterer Beweis für Fairbanks Argumentation ist in dem mangelnden Verständnis zu erblicken, daß den chinesischen Behörden dem berühmten Brief von Lord Palmerstons vom 20. Februar 1840 entgegengebracht wurde. In diesem Brief (s. den vollen Wortlaut in Morse, Bd. I, S. Appendix A, S. 621 ff.) verlangte Lord Palmerston im Namen der beleidigten britischen Krone vom chinesischen Kaiser Wiedergutmachung und Genugtuung und forderte, eine künftige Behandlung englischer Untertanen auf Basis der Gleichberechtigung, rechtfertigte die britische militärische Intervention und gab schießlich der Hoffnung Ausdruck, der freundschaftliche Verkehr zwischen beiden Nationen möge so bald wie möglich wiederhergestellt werden. Die chinesischen Behörden gaben dem Brief die Auslegung, daß die Briten dem Kaiser eine Klage gegen den kaiserlichen Beauftragten Lin vortrügen. - Die Wendung in Palmerstons Brief .. demand satisfaction and regress" wurde mit .. den Kaiser bitten ein Unrecht abstellen und wiedergutmachen" übersetzt und der chinesische Kaiser glaubte, die ganze Angelegenheit lasse sich durch eine Bestrafung Lins aus der Welt schaffen. - Vgl. Chang Hsin-pao, Commissioner Lin and the Opium War, Cambridge (Mass.), S. 210. 2B5 s. Fairbank, The Early Treaty System in the Chinese World Order, S.261.

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den sie China und nicht England dankbar sein und außerdem die englischen Profite verringern, wodurch China kein Schaden entstündel!86. - Außerdem war die gleiche Behandlung aller Ausländer ein Beweis für die große Tugend und das Wohlwollen des chinesischen Zentralherrschers. Die Konsulargerichtsbarkeit erspare es wiederum den Chinesen, sich mit den Affairen der unzivilisierten Barbaren selbst abzugeben und entsprach im Grund chinesischen Traditionen bezüglich der Selbstverwaltung der im Land wohnenden Fremden, welche auf die T'ang-Dynastie zurückgehen287 . Aus all diesen Gründen konnte eine Revision des chinesischen Weltbildes nur sehr allmählich vollzogen werden. Die Audienz, welche dem zum Gesandten in England ernannten Cheng Chi-tse am 25. August 1878 von der Kaiserinwitwe gewährt wurde, gibt darüber Aufschluß, daß dem chinesischen Hof selbst die einfachsten Informationen über die europäischen Staaten unbekannt waren!88. Es galt daher bei den Anfangsgründen zu beginnen. Zuerst wurden vorsichtig die traditionellen geographischen Vorstellungen der Chinesen durch die Publizierung neuer Atlanten und Länderbeschreibungen korrigiert289 . Dann wurde von mutigen chinesischen Beobachtern auch die traditionelle chinesische Ansicht von der Machtverteilung in der Welt in Frage gestellt290. Dies führte dazu, daß für die hohen chinesischen Beamten die Versuchung stärker wurde, sich selbst von den Verhältnissen im Ausland ein Bild zu machen, was in der schon früher geschilderten verstärkten Entsendung von Delegationen seinen Niederschlag fand. Die ständigen chinesischen diplomatischen Vertreter im Ausland hatten Zeit und Muße zu intensiveren Beobachtungen. Der stockkonservative Kuo Sung-t'ao, welcher China in London vertrat, schrieb voll Verwunderung in sein Tagebuch die europäischen Barbaren hätten auf eine zweitausendjährige Zivilisation zurückzublicken und seien von den in der chinesischen Geschichte bekannten, vorübergehend mächtigen Stämmen total verschieden, was 286 s. Hsü, op. cit., S. 140. 287 s. Otto Franke, Zur Geschichte der Exterritorialität in China, Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1935, S. 903 ff.; Jisutso Kuwabara, On P'u Shou-keng, Memoirs of the Research Department of the Tokyo Bonko, Nr. 2, S. 45 ff. 288 Das Gespräch ist wiedergegeben in: Ssu-yu Teng und John K. Fairbank, China's Response to the West, Dok.28, S. 102. 289 s. Wei Yüan, Preface to the Illustrated Gazetteer of the Maritime Countries, in: Theodore de Bary (Hrsg.), Sources of Chinese Tradition, New York-London, 4. Aufl., 1963, S. 67 ff. sowie in: China's Response to the West, Dok.6, Hsü Chiyü's Acceptance of Western Geographie, 1848, S. 42 ff. s. dazu auch Kuo Hengyü, China und die ,Barbaren', Berlin 1967, S. 43 ff. 290 s. China's Response to the West, Dok.39, Writings of Wang T'ao, S. 137 ff.

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ihm bei den chinesischen Literaten die heftigsten Feindschaften eintrug281 • All dies unterstützte den Trend, das chinesische Weltbild zumindest soweit zu korrigieren, daß die überlegenheit der Fremden zumindest auf bestimmten Gebieten zur Kenntnis genommen wurde. Zwar beharrten die Chinesen vorerst noch auf der Meinung, daß die chinesischen Gebräuche und ihre traditionellen politischen Einrichtungen die besten wären, doch ließen sie es sich angelegen sein, jene fremden "Techniken", welche die Fremden so stark machten, zu erlernen. Daher schlugen Tseng Kuo-fan und Li Hung-chang in einem Memorandum des Jahres 1871 vor, daß fähige junge Chinesen ins Ausland geschickt werden mögen, um dort Militärwesen, Schiffahrtsverwaltung, Mathematik, Aufbau von Industrien und ähnliches zu lernen282 • In Ausführung dieser Pläne wurden zwischen 1872 und 1881 hundertzwanzig Studenten nach den USA entsendet und im Jahre 1876 dreißig Studenten nach England und Frankreich. Dabei stellte sich heraus, daß die intensivere Befassung mit dem Ausland sich nicht auf die von den chinesischen Beamten ausschließlich vorgesehene Aneignung der nützlichen Techniken beschränken ließ, sondern daß davon zwangsläufig auch eine Auseinandersetzung mit den eigenen geistigen Traditionen angeregt wurde, die nicht immer zu deren Gunsten ausfiel293• Zuerst waren es bloß die Manieren der Studenten, welche sich westlichen Gepflogenheiten anpaßten, und ihre vorerst noch zögernde Kritik beschränkte sich darauf, Fehler in einzelnen Bereichen der chinesischen Politik aufzuzeigen. So etwa erkannte der nach Frankreich geschickte Student Ma Chien-chung, daß die Überlegenheit des Westens nicht allein auf die Verwendung von Maschinen zurückzuführen war. In seinem Bericht aus 1877 schreibt er: "Wir wissen daher, daß der Reichtum der Leute aus dem Westen während der letzten hundert Jahre nicht nur von der Erfindung und Entwicklung von Maschinen herrührt, sondern sehr wesentlich von dem Schutz ihrer kaufmännischen Organisationen ... " und a. a. 0.: "Ich weile seit mehr als einem Jahr in Europa. Als ich zuerst hierherkam, dachte ich, daß Reichtum und Macht der europäischen Nationen ausschließlich auf ihrer hochstehenden Produktion und der strikten Disziplin der Truppen gegründet sind. Aber als ich ihre Gesetze und die vorhergehende Entwicklung studierte und ihre Schriften las, erkannte s. Hsü, op. cit., S. 188; vgl. dazu auch S. M. Meng, op. cit., S.76. s. China's Response to the West, Dok.23, S. 91 ff. 293 So war Wu Tzu-teng, der für die Studentenüberwachung an der chinesischen Mission in Washington zuständig war, so sehr davon überzeugt, daß die Studenten im Westen alle ihre chinesischen Traditionen vergessen hatten (hatten sie ihm doch den Kotau verweigert!), daß er 1881 daran ging, ein Memorandum zu verfassen, welches die Rückberufung der Studenten nach China vorschlug. - s. China's Response to the West, S.93. 291

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ich, daß ihr Streben nach Reichtum auf dem Schutz kommerzieller Interessen beruht ...294." Daraus folgerte sich, daß die großzügige chinesische Tarifpolitik, welche der großmütigen Haltung des Kaisers gegenüber den Barbaren im Sinne der traditionellen "Politik der lockeren Zügel" entsprach, China keine Vorteile, sondern erhebliche Nachteile brachte. Diese Erkenntnis kam aber zu spät, um China unmittelbaren Nutzen zu bringen. Wohl war in den Instruktionen Li Hungchangs, der im Jahre 1896 China bei der Inthronisierung Nikolaus Ir. zu vertreten hatte, die Anweisung erhalten, er möge sich bei den westlichen Mächten um eine Revision der Zolltarife bemühen, doch hatte die gezeigte Großzügigkeit China so sehr gefesselt, daß es keine Möglichkeit hatte, den Tarif ohne Zustimmung auch der kleinsten der Vertragsrnächte zu ändern295 • Mit der Zeit wurde es immer deutlicher, daß ein oberflächliches Lernen der westlichen Techniken für die Stärkung Chinas nicht ausreichte2 98 • Man erkannte, daß es nicht genügte, sich mit einzelnen Teilen der chinesischen Tradition kritisch auseinanderzusetzen, sondern, daß das gesamte System dieser Tradition zur Diskussion zu stellen war. Dies wurde deshalb immer dringlicher, je deutlicher die Europäer erkennen ließen, daß sie, nachdem sie den Chinesen die Anerkennung ihrer Gleichberechtigung abgerungen hatten, nun ihrerseits die Chinesen nicht als gleichberechtigte Partner akzeptieren wollten. Das Image Chinas hatte sich seit der China-Begeisterung des 17. und 18. J ahrhunderts drastisch geändert2'97. Hatten noch China-Bücher der Barockzeit, in ihrer Widmung an hochgestellte Persönlichkeiten den Wunsch zum Ausdruck gebracht, der so geehrte Fürst möge ebenso weise und erfolgreich regieren, wie die großen chinesischen Kaiser298 und hatten selbst s. ibd., Dok. 25, S. 95 f. s. Morse, Bd. 3, S. 102 f. 296 s. Wang T'ao, über die Reform: "... Der, welcher das Reich regiert, sollte Grundlagen schaffen und nicht nur die Oberfläche ausbessern ... Früher dachten wir, die Grundlagen unseres Reichtums und unserer Stärke ließen sich herstellen, wenn nur westliche Methoden respektiert oder übernommen würden und daß der Erfolg sofort herbeigeführt werden könne ... Nun haben wir in den Küstenprovinzen spezielle Fabriken erbaut, um Kanonen, Kugeln und Schiffe herzustellen. Junge Leute sind ausgewählt und zum Studium ins Ausland geschickt worden. Äußerlich gesehen sind die Anstrengungen wirklich gut und schön. Aber unglücklicherweise kopieren wir noch immer die Oberflächlichkeiten ihrer Methoden und erhalten so die Terminologie ohne die wahre Substanz ... ", in: China's Response to the West, Dok.39, S.138. 297 Vgl. Wolfgang Bauer, Chinas Vergangenheit als Trauma und Vorbild, Stuttgart 1968, S. 15. 298 s. die Widmung von M. Clere a. Son Altesse Imperiale Monseigneur le Grand Duc de Russie, welche seinem 1769 zu Soissons veröffentlichten Buch Yu le Grand et Confucius, Histoire Chinoise, vorangestellt ist: "Monseigneur, La Sensibilite et la Bienfaisanee sont l'Instinet naturel de l'homme: eert Instinet nait de la parite et des besoins eommuns entre les 294 295

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2. Abschn.: Historische Wurzeln heutiger chinesischer Positionen

zu Nüchternheit verpflichtete Werke wie das Reale Staats-Zeitungs- und Conversationslexikon aus dem Jahre 1717 den Chinesen immerhin Klugheit, Höflichkeit, Fleiß und Gelehrsamkeit zugebilligt299 , so gibt über die veränderte Einschätzung des chinesischen Volkes und seiner Kultur das schon einmal zitierte Schreiben des amerikanischen Botschafters Ross Brown vom 7. Juli 1869 Auskunft: " ... If the view I have taken be correct, it would not benefit China, if we were to relinquish all privileges extorted from her, and carry out the Comtist doctrine of ideal justice, withdraw steam navigation from the Yangtze and Peiho, refuse exterritorial protection to our citizens, forcibly prevent our missionaries from entering the country and preaching the Gospel, and resign all rights which may conflict with pagan superstition and Asiatic ignorance and conceit. I think therefore our duty is plain. We should do the best that can be done under such anomalous circumstances; treat China with the forbairance, consideration and respect due to a power sovereign in its political aspect, but posessing an organization incompatible with absolute equality. Believing our civilization to be superior to theirs we should endeavour to elevate the Chinese to our standard. But surely, that can never be done by an unqualified acceptance of their claim to the in-

dependance enjoyed by Christian States ... 300."

Das Schlagwort von der Gleichberechtigung aller Staaten, welches früher beim Kampf um die Verträge das Motto gewesen war, hatte nachdem das Gewünschte erreicht worden war, für die westlichen Mächte Etres raisonables. Mais faire du bein aux hommes avec discernement, avoir assez bonne opinion d'eux, pour leur donner des Moers et des Loix sages, regarder la Conquete de leurs comme le plus pre'cieux Tresor, c'est la Vertu et la noble Ambition des bons Princes. Yu le Grand, Monseigneur, se conduisit d'apres ces principes, d'ou depend la Felicite de ceux qui commandant, et de ceux qui obeissent: un Prince vertueux peut tout; son exemple est le Prototype des Moeurs de la Nation. Yu rendit le Chinois vertueux, et la conduite est le plus belle hommage qu'aucun Ugislateur ait rendu al la dignite de l'homme. C'est ce modele Auguste que j'ai l'honneur de presenter a VOIRE ALTESSE IMPERIALE. Les Sciences et les Arts ont couvert votre berceau de leurs plus beIles fleures; vos premiers Penchans ont Marque de la sensibilite pur les Malhaureux, votre Adolescence fait eclore des vertus qui seront utiles au bonheur de People; il m'est donc permis de croire, qu'apresavoir muri dans l'apprentissage de la Royaute, le premier et le meilleur Citoyen d'un Empire aussi vaste que celui de la Chine, deviemdra comme Yu, le pere de ses Sujets. Alors MONSEIGNEUR, la douceur de votre Regne servira d'exemple a quelques Princes amis des hommes. Je suis avec un tres-profond respect, MONSEIGNEUR DE VOTRE ALTESSE IMPERIALE. Le tres-humble et tres-obeissant serviteur, Clere. 299 s. Reales Staats-Zeitungs- und Conversationslexikon, 8. Auf!., Leipzig 1717, S.402. 300 s. Morse, Bd.2, Appendix C, S. 431 f.

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an Attraktion verloren, da sie sich stark genug wußten, ihre Interessen in China auch ohne Etablierung einer Basis der Gleichberechtigung zu verfolgen. Zunehmend präsentierten die westlichen Staaten ihre Ansprüche in Loslösung von restlicher Argumentation, indem sie von einer inferioren Partnerstellung Chinas ausgingen, die jede beliebige den jeweiligen Interessen der westlichen Mächte dienliche Aktion zuließ. Dies kommt in den Worten Sir R. Alcocks anläßlich der chinesischenglischen Verhandlungen im Jahre 1869 bezüglich einer Revision der Verträge (n" . Pressure indeed, there must be always here if anything is to be achieved for the advancement of foreign interests and commerce. In one way or another, however we may disguise it, our position in 'China has been created by force - naked physical force, any intelligent policy to improve or maintain that position must still look to force in same from, latent or expressed, for the results"301) ebenso zum Ausdruck wie in einem französischen Kommentar, dessen Tenor lautete, die traurige Tatsache, daß Macht schaffe, solle in aller ihrer Strenge in China angewandt werden, sonst könne man gleich aufgeben und nach Hause gehen302 . Im Lichte dieser Zielsetzungen war es nur ganz natürlich, daß die ausländischen Mächte in Wahrheit kein Interesse mehr hatten, China zu reformieren, wenn sie auch immer wieder betonten, die Anpassung an den westlichen Standard sei die Voraussetzung für die Aufnahme völlig gleichberechtigter Beziehungen. Daß sie die Heranführung Chinas an diesen Standard in der Tat nicht förderten, da sie glaubten, aus einem in einen Panzer hinderlicher Traditionen gezwängten China mehr Vorteil schlagen zu können, beweist die Haltung der westlichen Mächte während des Taiping-Aufstandes. Viele westliche Beobachter versprachen sich von der Durchsetzung der Taiping im ganzen Reich tiefgreifende Reformen und eine Annäherung an die christlichen Staaten. Dr. W. H. Medhurst drückte in zwei Briefen an den North China Herald vom 26. Dezember und 17. Dezember 1853 seine unverhohlene Bewunderung für die Aufständischen aus. Die fremdenfreundliche Haltung der Taiping und ihre Einladungen an Missionare, ihnen die Bibel zu erläutern, wurden unter den Vertretern westlicher Glaubensgemeinschaften in China sehr positiv aufgenommen303 . W. A. P. Martin, der die Chinesen später mit dem westlichen Völkerrecht bekanntmachte, schrieb in einem Brief an den North China Herald vom 7. Juni 1856, die übernahme des Christentums durch die Taiping sei der erste Schritt zu einer Westernisierung Chinas, das Mitglied der Familie der christs. ibd., S. 219. 302 s. Cordier, Bd. 1, S. 390. 303 Vgl. S. Y. Teng, The Taiping Rebellion and the Western Powers, Oxford 1971, 1971, S. 180, 183. 301

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lichen Nationen werden würde. Commodore Matthew Perry beschrieb in einem Brief vom 29. Dezember 1853 die Taipings als wohl organisierte Armee, welche tapfer für mehr liberale und aufgeklärte religiöse und politische Positionen kämpfeS° 4 • Trotzdem liehen die westlichen Mächte nach einer anfänglich abwartenden Haltung ihre Hilfe der Dynastie, deren Rück:schrittlichkeit sie konstant verurteilten305 , um auf diesem Wege von dem auf ihren Beistand angewiesenen Kaiser größere Zugeständnisse zu verlangen306 • Die Erlangung der gewünschten Zugeständnisse durch die Verträge von Tientsin und die darauf folgenden setzten jedoch dem weiteren Druck der fremden Mächte kein Ende, und es bedurfte nicht mehr der alarmierenden Diskussion im Rahmen einzelner europäischer Kabinette zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezüglich einer Aufteilung Chinas, die das Problem der gleichberechtigten Behandlung Chinas ein für alle Mal gelöst hätteS 07 , um den Chinesen deutlich zu machen, daß es höchste Zeit war, mit den letzten Resten veralteter Welt- und Reichsordnungsvorstellungen aufzuräumen. Das blinde Festhalten am Universalismus

hatte nicht die Vorherrschaft Chinas innerhalb der Staatengemeinschaft gesichert, sondern vielmehr jenen genützt, welche die Teilnahme China:; als gleichberechtigtes Mitglied verhindern wollten und eine völlige Unterwerfung anstrebten. Um diese Gefahr abzuwenden genügte es nicht mehr, die damals in China hoch im Kurs stehenden und vornehmlich von Chang Chih-tung (1837-1909) propagierten Prinzipien: "Chinesisches Wissen zur inneren Festigung, westliche Erfahrungen für den äußeren Gebrauch", anzuwenden308 • Die ersten öffentliche Aufrufe zu einer durchgreifenden Reform, welche ein nachhaltiges Echo hatten, stammten von Sun Yats. ibd., S. 223. s. ibd., S. 284 f.; Morse, Bd.2, S. 69 U. 306 s. Teng, op. cit., S. 237 ff.; Karl Marx vermerkte in einem für die New York Daily Tribune verfaßten Artikel vom 14. Juni 1853 sarkastisch, die Chinesen würden wie alle von revolutionären Zuckungen Befallene bereit sein, den Fremden alles zu verkaufen, was sie zur Hand hätten. - s. Dona Torr (Hrsg.), Marx on China, London' 1968, S.6. In konsequenter Weiterführung dieser Politik publizierte Frank J. Goodnow (berühmter amerikanischer Politologe und Berater des Präsidenten Yuan Shi-kai) im Jahre 1915 einen Artikel, daß die Rückkehr zur Monarchie für China das Beste wäre. s. Tang Tsou, Western concepts and China's Historical Experience, in: World Politics, Bd. 21, Juli 1969, Nr. 4, S. 675. 307 Vgl. die Große Politik der europäischen Kabinette 1871-1914, Bd.16, Berlin 1924, S. 4 f., 17; Bd.19, Berlin 1927, S.554. s. auch den signifikanten im Pariser .. Figaro" vom 14. Februar 1905 veröffentlichten Artikel .. Le Partage necessaire". 308 s. Kuo-chi Lee, Chang Chih-tungs Vorstellungen zur Modernisierung Chinas, in: Oriens Extremus, Jg.15, Heft 1, Juni 1968, S. 4 ff.; Morse, Bd.3, S. 136. Kuo Hengyü, op. cit., S. 54 ff. 304

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sen und K'ang Yu-wei und fielen in das Jahr 1894 bzw. 1895809 • K'ang Yu-wei (1858-1927) übte im Verein mit seiner Schule einen wesentlichen Einfluß auf die Beseitigung des universalistischen Weltbildes Chinas aus. In seiner 4. Denkschrift brachte er nachdrücklich zum Ausdruck, daß China nur ein Staat unter vielen sei. Da man früher nur von unterlegenen Barbarenvölkern umgeben gewesen, von denen Chinas Anspruch auf Vorherrschaft nie ernstlich angefochten worden sei, habe man sich nie auf einen Macht- und Existenzkampf nach außen vorbereitet. Diese Situation habe sich nun grundlegend gewandelt. Um sich auf den Existenzkampf mit ebenbürtigen oder sogar überlegenen Gegnern einzustellen, dürfe China die Welt nicht mehr als eine Einheit auffassen, sondern müsse im Kampf mit den übrigen Staaten Einheit und Selbständigkeit des Reiches wahren310• In seinem Ta T'ung Shu verwies er darauf, daß nunmehr der Globus vollständig bekannt sei und das was sich früher als Mittelstaat angesehen habe, nicht mehr als eine Ecke Asiens oder den achtzigsten Teil der Welt ausmache811 • Zwar hielt auch K'ang Yu-wei einen Weltstaat für die beste mögliche Organisationsform, da aus der chinesischen und europäischen Geschichte nachweisbar bei, daß eine Vielzahl von Staaten und das Fehlen einer kontrollierten obersten Instanz die Kriegsgefahr förderten312 , doch erwartete er die Verwirklichung seines an alten konfuzianischen Welteinheitsvorstellungen818 orientierten Ideals erst nach hundert Generationen, wobei er China keine Rolle als Machtfaktor, wohl aber bis zu einem gewissen Ausmaß als geistiger Wegweiser zubilligte81'. Nicht weniger deutlich als K'ang Yu-wei drückten sich die Angehörigen seiner Schule aus. Etwa Mai Meng-hua meinte: " ... China ist auf der großen Erde nur einer von 56 Staaten. Die Erde innerhalb des Sonnensystems nur einer von 249 Planeten .. .316." Festzuhalten ist allerdings, daß K'ang Yu-wei und seine Schule, was die innere Organisation Chinas betraf, in ihren Äußerungen weit zurückhaltender waren. Die göttliche Stellung des s. Morse, Bd. 3, S. 129. s. Wolfgang Franke, Die staatspolitischen Reformversuche K'ang Yuweis und seiner Schule. - Ein Beitrag zur geistigen Auseinandersetzung Chinas mit dem Abendlande, in: MSOS, IV, S.26. 311 s. Laurenee G. Thompson (Übers. und Herausgeber), Ta T'ungshu The One World Philosophy of K'ang Yu-wei, London 1958, S. 80. 812 s. ibd., S. 82. 818 s. Keishiro lriye, The Principles of International Law in the Light of Confucian Doctrine, Abschnitt 7, K'ang Yu-weis Theory of World Government, in: Reeueil des Cours, 1967, Bd.l, S. 54 U. m Vgl. K. C. Huang, Emergent Harmonism in Lüe, in: Chinese Culture, Bd.2, Nr.1, März 1959, S. 57 ff.; Fung Yu-Ian, A Short History of Chinese Philosophy, New York 1962, S.324; Helmut Wilhelm, Gesellschaft und Staat in China, Hamburg 1960, S. 86. 3UI s. ibd .. 309

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chinesischen Kaisers wurde von ihnen nur sehr verschleiert in Frage gestellt und die Regierung Chinas in der traditionellen Weise durch li und Gerechtigkeit den westlichen Regierungsmethoden entschieden vorgezogen316 • Später rückte K'ang Yu-wei von seinen reformerischen Bestrebungen ganz ab und wurde von den republikanischen Revolutionären wegen seiner kompromißlosen Verteidigung des Konfuzianismus als Staatsgrundlage eher als Hemmschuh für eine wahrhaft fortschrittliche Entwicklung empfunden317 • Der Verfasser der zweiten Denkschrift hingegen, Sun Yat-sen, (1866 bis 1925) zögerte nicht, auch die bisherige Organisation der inneren Angelegenheiten Chinas in Frage zu stellen und die Proklamierung der Republik anzustreben. In seinen programmatischen Schriften zur künftigen Regulierung der auswärtigen Beziehungen ging er von einem gleichberechtigten