Mimesis - Repräsentation - Imagination: Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts 9783110201826, 9783110177589

Untersucht werden literaturtheoretische Positionen von der Antike bis 1800. Vergessene historische Dimensionen werden fr

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German Pages 316 Year 2004

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Table of contents :
Frontmatter
INHALT
Zur Einleitung: Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart und die historischen Bestimmungen des Gegenstandes der Literatur
Literatur und Mimesis bei Platon
Was macht Dichtung zur Dichtung? Zur Interpretation des neunten Kapitels der Aristotelischen Poetik (1451 a36-b11)
Das Nibelungenlied und der Sagenstoff – Überlegungen zur Authentizität der Dichtung
„McDonalds ist einfach gut.“ Der neuzeitliche Niedergang des klassischen ‚beatitudo‘-Verständnisses – und seine aktuelle Unverzichtbarkeit
„Mit einem Füllhorn voller Erfindungen geht die Dichtung stets einher“. Anthropologische Poetik und Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio
Immanenz: Torquato Tassos Entdeckung eines ästhetischen Grundbegriffs
‚Exemplar vitae‘ – Der Gegenstand von Dichtung bei Aristoteles und seinen Interpreten im Cinquecento
Aporien in der Literaturtheorie der Frühen Neuzeit Francesco Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes und die Folgen
Chartæ Socraticæ. Lord Shaftesburys Plädoyer für eine dialogische Literatur
Der Begriff der Fiktion. Zur systematischen Bedeutung der Dichtungstheorie der Aufklärung
Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien. Zum Hintergrund und zur Entwicklung der Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Was ist Dichtung?
Backmatter
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Mimesis - Repräsentation - Imagination: Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
 9783110201826, 9783110177589

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Mimesis - Repräsentation - Imagination



Mimesis - Repräsentation - Imagination Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts

Herausgegeben von Jörg Schönert und Ulrike Zeuch

Walter de Gruyter · Berlin · New York

P Gedruckt auf säurefreiem Papier, E das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-017758-7 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.  Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin

VORWORT Am 11. und 12. März 2002 war in der Reihe der Arbeitsgespräche an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel das Thema „Was ist Literatur? Historische und systematische Perspektiven“ aufgerufen worden. Ulrike Zeuch hatte die Veranstaltung geplant, die wir dann gemeinsam realisiert haben. Der ‚Workshop‘ war darauf angelegt, die aktuellen Fragen zum Gegenstand der Literaturwissenschaft zu den Ursprüngen der Diskussionen bei Platon und Aristoteles zurückzulenken und den Folgen dieser literaturtheoretischen Vorgaben bis hin zur beginnenden Wirkungsmacht der Autonomie-Ästhetik um 1800 nachzugehen. Ein solcher Problem-Komplex lässt sich nur in einem interdisziplinären Gespräch von Vertretern der alt- und neusprachlichen Philologien, der Philosophie und Theologie erschließen. Der hier vorgelegte Band ist aus den Diskussionen in Wolfenbüttel hervorgegangen; er wurde durch zusätzliche Beiträge ergänzt. Ziel des Arbeitsgespräches war es, dichtungstheoretische Positionen von der Antike bis 1800 zu untersuchen, um (1) verschüttete oder vergessene historische Dimensionen freizulegen, denen die Literaturtheorie der Gegenwart noch verpflichtet sein könnte, und (2) nach Kriterien zu suchen, um die Kategorie ‚literarischer Text‘ genauer zu bestimmen. Gibt es einen für Literatur spezifischen Gegenstand, eine für Literatur spezifische Funktion, ein für Literatur spezifisches Verhältnis zur Wirklichkeit, eine für Literatur spezifische Relation zur Subjektivität? Besondere Aufmerksamkeit erhielt dabei der Zeitraum zwischen Früher Neuzeit und 1800; mit Recht gilt als ‚communis opinio‘, dass die Literaturtheorie seit der Frühen Neuzeit bis zur Romantik einem Nachahmungsbegriff verpflichtet ist, der sich in der Vormoderne konstituiert. Mit den Schlagworten ‚Mimesis‘, ‚Repräsentation‘ und ‚Imagination‘ sollen die unterschiedlichen Auszeichnungen von Literatur (im Sinne von ‚Dichtung‘) in ihrem Verhältnis zur ‚Erfahrungswirklichkeit‘ markiert werden. Die Reihenfolge der Begriffe verweist auf ihre Relevanz im geschichtlichen Prozess der literaturtheoretischen Diskussionen von Aristoteles bis zur Ästhetik der Kunstperiode, der Jahrzehnte zwischen 1790 und 1830. Als konkurrierende Akzentsetzungen sind sie bis heute in den literatur- und kunsttheoretischen Debatten präsent. Auf diese Konstellation bezieht sich der Beitrag von Maria Moog-Grünewald, der aus dem Öffentlichen Vortrag im Lessing-Haus hervorgeht, den sie im Rahmen des Arbeitsgespräches hielt.

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Vorwort

Die Herausgeber bedanken sich bei den Autoren dieses Bandes für die gute Zusammenarbeit bei der Drucklegung dieses Bandes. Regina Zimpel (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) sowie Nicole Purnhagen und Katharina Lütjens (Universität Hamburg) haben die Beiträge nach den formalen Vorgaben eingerichtet, durchgesehen, das Namenregister angelegt und die Druckvorlage erstellt. Ihnen sind wir in besonderer Weise dankbar verpflichtet. Der Herzog August Bibliothek danken wir für die Ausrichtung des Arbeitsgesprächs und dem Verlag Walter de Gruyter für die Aufnahme des Bandes in sein wissenschaftliches Programm. Hamburg und Wolfenbüttel, im März 2004 Jörg Schönert und Ulrike Zeuch

INHALT JÖRG SCHÖNERT · ULRIKE ZEUCH:

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

ULRIKE ZEUCH:

Einleitung. Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart und die historischen Bestimmungen des Gegenstandes der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

STEFAN BÜTTNER:

Literatur und Mimesis bei Platon . . . . . . . . . . . . . 31

ARBOGAST SCHMITT:

Was macht Dichtung zur Dichtung? Zur Interpretation des neunten Kapitels der Aristotelischen Poetik (1451a36-b11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

GÜNTER EIFLER:

Das Nibelungenlied und der Sagenstoff – Überlegungen zur Authentizität der Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . 97

ROCHUS LEONHARDT:

„McDonalds ist einfach gut.“ Der neuzeitliche Niedergang des klassischen ‚beatitudo‘-Verständnisses – und seine aktuelle Unverzichtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .117

RAINER STILLERS:

„Mit einem Füllhorn voller Erfindungen geht die Dichtung stets einher“. Anthropologische Poetik und Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .131

KATHARINA MÜNCHBERG:

Immanenz: Torquato Tassos Entdeckung eines ästhetischen Grundbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .151

BRIGITTE KAPPL:

‚Exemplar vitae‘ – Der Gegenstand von Dichtung bei Aristoteles und seinen Interpreten im Cinquecento . . . . . . . . . .167

ULRIKE ZEUCH:

Aporien in der Literaturtheorie der Frühen Neuzeit. Francesco Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .181

FRIEDRICH A. UEHLEIN:

Chartæ Socraticæ. Lord Shaftesburys Plädoyer für eine dialogische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .215

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Inhalt

GOTTFRIED GABRIEL:

Der Begriff der Fiktion – Zur systematischen Bedeutung der Dichtungstheorie der Aufklärung . . . . . . . . . . . . .231

LUTZ DANNEBERG:

Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien. Zum Hintergrund und zur Entwicklung der Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .241

MARIA MOOG-GRÜNEWALD: BIOGRAPHISCHE NOTIZEN PERSONENREGISTER

Was ist Dichtung? . . . . . . . . . . . . . . . .283

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .303

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .307

ULRIKE ZEUCH

Zur Einleitung: Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart und die historischen Bestimmungen des Gegenstandes der Literatur1 „Die Möglichkeit zu bestimmen, was überhaupt Literatur (im Unterschied zu Nicht-Literatur) ist, bildet – kaum notwendig, dies zu betonen – die Voraussetzung dafür, dass sich eine Literatur-Wissenschaft von den vielfältigen ‚Nichtliteratur-Wissenschaften‘ abhebt“, wie Monika Schmitz-Emans feststellt.2 Diese Möglichkeit aber wird spätestens seit 1970 von der Literaturwissenschaft selbst vehement bestritten. Insofern scheint es – anders als die in Parenthese gesetzte Feststellung von Schmitz-Emans nahe legt – doch notwendig, diese Selbstverständlichkeit zu betonen und auf der Bestimmung dessen, was Literatur überhaupt ist, zu bestehen. Evident ist jedenfalls, dass „dem Problem, was denn nun Literatur sei, in Permanenz auszuweichen [...], keine überzeugende Position“ ist, so Joachim Küpper in seiner Antrittsvorlesung zur Frage „Was ist Literatur?“3 Kriterienlosigkeit als Problem In den gegenwärtigen Diskussionen wird die Möglichkeit bestritten, Kriterien für eine Unterscheidung des literarischen Textes von Texten anderer Art zu nennen. Dem Mangel an Kriterien für eine Konturierung des Gegenstandes der Literaturwissenschaft will Wilfried Barner mit seinem Aufruf im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft von 1998 abhelfen.4 Die im Jahrbuch erschie1 2

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Für die kritische Lektüre und wertvolle Hinweise danke ich Stefan Büttner, Jörg Schönert und Friedrich Uehlein. Monika Schmitz-Emans: Lektüren und Kulturen. Aspekte des Dialogs zwischen Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft, in: Beate Burscher-Bechter u. Martin Sexl (Hg.): Theory Studies? Konturen komparatistischer Theoriebildung zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Innsbruck u.a. 2001 (Comparanda, Bd. 4), S. 245-269, hier S. 246. Joachim Küpper: Was ist Literatur?, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 45 (2001), S. 187-215, hier S. 187. Wilfried Barner: Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden?, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 457-462.

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Ulrike Zeuch

nenen Antworten auf Barners Frage nach dem Gegenstand der Literaturwissenschaft bestätigen aber lediglich die allgemein beklagte Kriterienlosigkeit oder „Unsicherheit der Literaturwissenschaft gegenüber ihrem eigenen Gegenstand“,5 da die herzugezogenen Bestimmungen für Literatur nicht spezifisch sind: „Sprachlichkeit“ oder sprachliche Textur6 gilt für alle Texte, Kunstcharakter7 oder die „paradoxe Struktur von (ästhetischer) Autonomie einerseits und Vieldeutigkeit andererseits“ auch für Werke anderer Künste.8 Während Barner durch seinen Aufruf signalisiert, dass er es für sinnvoll und deshalb für des Versuchs wert hält, nach Kriterien zu forschen, belassen es andere, wie Terry Eagleton und Jonathan Culler, von vornherein bei der relativistischen Position, Literatur sei das, was jemand als Literatur setze und was konsensfähig sei;9 diese Position kann aber ebenso wenig befriedigen, wenn es darum gehen soll, sicheres Wissen und nicht nur mehrheitsfähige Meinungen zu finden, die qua Meinungen im Unterschied zu wissenschaftlich begründetem Urteil kontingent sind. Der Anlass zur Klage über die Verflüchtigung des Gegenstandes ‚Literatur‘ bleibt bestehen. Diese Klage führte Benno von Wiese bereits 1970: Er fragt, ob das Ende der Literaturwissenschaft gekommen sei. Seine Antwort lautet ‚nein‘,10 und für ihn steht fest: „Der Gegenstand der neueren Germanistik kann nur Sprache und Literatur sein und zwar beide in ihrer wechselseitigen Beziehung gesehen“11 – eine nicht nur angesichts des gegenwärtigen Diskussionsstands zum Kanon-Begriff zu einfache Antwort;12 denn von Wiese setzt einen bestimmten Kanon, einen bestimmten Begriff von Literatur und die 5 6 7

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So Achim Geisenhanslüke: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zur Medienwissenschaft, Darmstadt 2003, S. 8. Eckehard Czucka: Gegenstand der Literaturwissenschaft? Drei Rückfragen, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 460-465, hier S. 465. Hartmut Böhme: Zur Gegenstandsfrage der Germanistik, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 476-485, hier S. 479; Böhme spricht zwar davon, dass Literatur „besondere Eigenschaften und Leistungen“ aufweise, dass es etwas für die Literatur Spezifisches gebe (ebd.), ohne eben dies aber näher zu spezifizieren. Wilhelm Vosskamp: Die Gegenstände der Literaturwissenschaft, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 503-507, hier S. 504. Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, aus dem Englischen von Elfi Bettinger u.a., Stuttgart 1988 (Sammlung Metzler, Bd. 246), S. 191; Jonathan Culler: Literary Theory. A Very Short Introduction, Oxford u. New York 1997, S. 22. Benno von Wiese: Der Gegenstandsschwund in der deutschen Literaturwissenschaft, in: ders.: Perspektiven I. Studien zur deutschen Literatur und Literaturwissenschaft, Berlin 1978, S. 68-78. Benno von Wiese: Ist die Literaturwissenschaft am Ende?, in: ders.: Perspektiven I (Anm. 10), S. 61-67, hier S. 67. Vgl. Maria Moog-Grünewald (Hg.): Kanon und Theorie, Heidelberg 1997 (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 3); Gerhard R. Kaiser u. Stefan Matuschek (Hg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie, Heidelberg 2001.

Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart

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Nationalsprachlichkeit als „vorgegeben“ (ebd.) voraus. Ein unbefragt vorausgesetzter Kanon verdeckt aber nur die Frage nach dem Gegenstand der Literaturwissenschaft, er ist keine Antwort auf sie. Gründe für die Kriterienlosigkeit Als Gründe für den Gegenstandsschwund, für die als bewusster Gewaltakt verstandene „Zertrümmerung der Literatur“ nennt Benno von Wiese die Absage an die autonome Individualität des Autors und die Engführung der Literatur auf die gesellschaftlich-aufklärerische Funktion (S. 83f.).13 Dass er in beiden Fällen etwas Richtiges erkannt hat, zeigt die in den 1970ern verstärkt einsetzende Diskussion zu Fragen wie dem Verschwinden bzw. dem Tod des Autors, der Intentionslosigkeit von Literatur, der Rekonstruktion des (eigentlichen) Sinns des literarischen Textes aus den dafür konstitutiven Kontexten sowie der Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die Funktion der Literatur – nicht nur die gesellschaftlich-aufklärerische Funktion im engeren Sinne.14 Ferner spielt auch die Frage nach den Rezeptionsbedingungen von Literatur eine wichtige Rolle. Signifikant für die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf gegenstandsirrelevante Fragen ist der Beitrag von Dietrich Harth und Gerhard vom Hofe in Erkenntnis der Literatur von 1982; in dem Kapitel „Kategorien der Gegenstandsbestimmung“ kommt der Gegenstand der Literatur als Gegenstand der Erkenntnis nicht vor.15 Die beiden Autoren führen als Kategorien der Gegenstandsbestimmung ‚Werk‘, ‚Text‘, ‚Form‘ und ‚Struktur‘ an; relevant für vorliegende Fragestellung sind die Kategorien ‚Werk‘ und ‚Text‘. Sowohl die Kategorie des Werks wie die des Textes wird von der Moderne her (die in diesem Fall um 1800 angesetzt wird) in den Blick genommen – also von einem Standpunkt aus, von dem aus der Gegenstand des literarischen Textes wie des

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Benno von Wiese: Der Schriftsteller und die Politik, in: ders.: Perspektiven I (Anm. 10), S. 79-108, hier S. 83. Geisenhanslüke: Literaturtheorie (Anm. 5), etwa sieht gerade darin die Stärke der Literaturtheorie, ja sogar eine „neue Form der Erkenntnis“, nämlich „die Funktion der Literatur im Diskurs ihrer Zeit zu bestimmen“ (S. 9; vgl. auch S. 144); er also teilt die Klage nicht, sondern begrüßt vielmehr den „Abschied von lange geglaubten Selbstverständlichkeiten über das Wesen der Literatur, ohne dass gleich eine substantielle neue Auffassung über die Literatur an ihre Stelle treten müsste“ (S. 9). – In diesem Sinne argumentiert bereits Friederike Hassauer (Textverluste. Eine Streitschrift, München 1992), nämlich den Verlust eines Sonderstatus’ der Literatur gegenüber anderen Texten (S. 45) als Gewinn zu werten, da dadurch erst der Blick für die „Multiplizität interessenabhängiger Modi des Umgangs mit Texten“ (S. 49) und für „multiple Instanzen der Sinnkonstitution“ (S. 61) frei werde. Dietrich Harth u. Gerhard vom Hofe: Unmaßgebliche Vorstellung einiger literaturtheoretischer Grundbegriffe, in: Dietrich Harth u.a. (Hg.): Erkenntnis der Literatur. Theorien, Konzepte, Methoden der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1982, S. 8-32, hier S. 18ff.

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Ulrike Zeuch

literarischen Werks in der Literaturtheorie bei der Frage, was einen literarischen Text ausmacht, keine entscheidende Rolle mehr spielt. Selbst Hegel, der in seiner Ästhetik die volle Lebendigkeit menschlicher Charaktere,16 das Substantielle der Inhalte und Zwecke (Teil 1, S. 98ff. und 262ff.) immer wieder thematisiert und zum Kriterium der Bewertung macht, spricht der romantischen Literatur eben diese Inhalte ab,17 wenn auch aus von ihm unterstellter geistesgeschichtlicher Entwicklungsnotwendigkeit. Goethes Faust, wegen der „Weite des Inhalts“ (Teil 3, S. 343) gelobt, gilt Hegel als Ausnahme innerhalb der Literatur seiner Zeit. Dass die moderne Literatur keine sachliche Bestimmtheit aufweise, wird von Harth und vom Hofe als unhintergehbares Faktum genommen; somit kommt das als historisch überwunden Geltende (weil dieser modernen Auffassung vorausliegend) im Lichte der bereits eingenommenen Perspektive nur als etwas Defizitäres in den Blick. Folglich wird auch das von diesem Vorbegriff Abweichende, die eigentliche Alterität im Sinne einer ernst zu nehmenden Alternative von eigener Berechtigung, nicht angesprochen. Die beiden Autoren nehmen sich zwar die „Rekonstruktion der Geschichte des Labyrinths [sc. der Literaturtheorien]“ (S. 30) vor, doch statt die eigene Perspektive kritisch zu überprüfen, werden zur communis opinio gewordene Vorurteile im Sinne eines defizitären ‚noch nicht‘ neuerlich bestätigt, etwa dass der Gedanke „einer Autonomie dichterischer Fiktion“ erst in der Neuzeit aufkomme, während davor, in Antike und Mittelalter, Literatur an „der Faktizität und einer als unveränderlich gedachten Natur“ orientiert gewesen sei und ein mit der „empirischen Lebenswirklichkeit vermittelbare[s]“ Abbild der Wirklichkeit geboten habe (S. 28); erst da die „Grenzen von Wirklichkeit und geistig reproduzierter Realität“ gesprengt seien, werde der „Werkcharakter der Kunst verabschiedet“ (S. 19), erst „seit dem Niedergang der normativen Poetiken“ (S. 20) sei die Erkenntnis gereift, dass „der bestimmte Text erst im Vollzug der Lektüre als einheitlicher und begrenzter Gegenstand entsteht“ (S. 21). Erst die „an der Erfahrung der Moderne geschulte Ästhetik“ habe den Blick für die Abhängigkeit der in der Vormoderne „als Einheit verstandene[n] ästhetische[n] Form [...] von der reflektierenden Urteilskraft des Anschauenden“ geöffnet. Die dieser Blickwende literarisch Rechnung tragende offene Form wird dabei unversehens im Unterschied zur „sinn- und einheitstiftenden Form“ als „Signatur der avancierten Literaturproduktion“ gewertet (S. 23). Erst der Poststrukturalismus habe die naive Annahme überwunden, dass Sprache dazu diene, Wirklichkeit „in der den Signifikaten anhaftenden Bedeutung zu spie16 17

Georg Wilhelm Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. 3 Teile, mit einer Einführung hg. von Rüdiger Bubner, Stuttgart 1971, Teil 1, S. 335ff. Zu Hegels Konzept der Kunst der Moderne vgl. Götz Braun: Norm und Geschichtlichkeit der Dichtung. Klassisch-romantische Ästhetik und moderne Literatur, Berlin u. New York 1983, S. 198ff.

Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart

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geln“ (S. 25).18 Dekonstruktion von Bedeutung, von Text- und Sprachstruktur werten die beiden Autoren folglich als „Spielarten des avancierten literarischen Sprachgebrauchs“ (S. 31). Dabei ist bereits im Futurismus der ‚parole in libertà‘ und in den Lautgedichten am Anfang des 20. Jahrhunderts eben dieser Gedanke bis ins Extrem getrieben worden. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Methodendiskussion statt Gegenstandsdiskussion An die Stelle des literarischen Textes tritt in den 1970ern die sozialgeschichtliche Kontextualisierung, die Berücksichtigung von Handlungszusammenhängen zwischen Literatur und Gesellschaft. Aber auch das sozialgeschichtliche Konzept – in den 70er Jahren als „Aufbruch aus der als betulich empfundenen ‚Interpretationskunst‘“ gewertet – gilt bereits Mitte der 1980er als erschöpft.19 Im Rückblick auf diese Hochzeit der Sozialgeschichte wird zum einen als Problem die (den sozialgeschichtlichen Ansatz allerdings sehr vereinfachende) Annahme genannt, Literatur spiegele bruchlos als konstant angenommene gesellschaftliche Verhältnisse wider,20 zum anderen wird bemängelt, dass „nicht alle Wissensformationen [...] von der Sozialgeschichte der Literatur in gleicher Weise beachtet“ würden; so sei das disziplinenspezifische Fachwissen bislang „nicht systematisch im Hinblick auf seine Bedeutung für die literarische Sinnverständigung untersucht worden“.21 Als Defizit des sozialgeschichtlichen Ansatzes wird mithin die zu eng definierte Grenze für die Einbettung

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Zu demselben Urteil kommt auch Geisenhanslüke: Literaturtheorie (Anm. 5): Erst durch die Absage des Poststrukturalismus an ein immer noch an Sinn und Substanz orientiertes Denken der traditionellen Hermeneutik (d.h. Schleiermacher bis Gadamer) sei die Literaturtheorie imstande, die „letztlich nicht aufhebbare Differenz zwischen Literatur und Wissen zu reflektieren“ (S. 8); die Unaufhebbarkeit der Differenz sei eine Tatsache, der man angemessen nur mit „Trauer um den Verlust des Wesens des Literarischen“ und zugleich der ironischen Distanzierung von „wissenschaftlichen Definitionsversuche[n] der Literatur“ (S. 9) begegnen könne. Martin Huber u. Gerhard Lauer: Neue Sozialgeschichte? Poetik, Kultur und Gesellschaft – zum Forschungsprogramm der Literaturwissenschaft, in: dies. (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, S. 1-12, hier S. 2. Klaus-Dieter Ertler: Die Sozialgeschichte der Literatur in systemtheoretischem Gewande: eine paradoxe Konfiguration?, in: Huber u. Lauer: Nach der Sozialgeschichte (Anm. 19), S. 191-202, hier S. 195. Friedrich Vollhardt: Von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft? Die literarischessayistischen Schriften des Mathematikers Felix Hausdorff (1868-1942): Vorläufige Bemerkungen in systematischer Absicht, in: Huber u. Lauer: Nach der Sozialgeschichte (Anm. 19), S. 551-573, hier S. 551.

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Ulrike Zeuch

des literarischen Textes in einen als relevant angesehenen Kontext oder Sinnzusammenhang gesehen. Schon Gerhard Sauder sieht zu Beginn der 1980er Jahre in seinen Überlegungen „Zur gegenwärtigen Lage der Germanistik“ für die Germanistik nur eine Chance,22 wenn sie die Kontexte der Sozialgeschichte („Gesellschaftsgeschichte, soziale Strukturen, Abläufe und Bewegungen“) erweitert, indem sie „Fragestellungen der Mentalitätsforschung“ wie etwa die Veränderung der Auffassungen von Liebe, Tod, Sexualität, Armut etc. integriert; kurz: wenn sich die Germanistik in eine „Kulturwissenschaft“ transformiert (S. 338).23 Doch die Transformation der Literaturwissenschaft in eine Kulturwissenschaft löst nicht das Problem, um das es geht. Dass der Gegenstand der Literaturwissenschaft die Literatur sei, so weit bleibt man sich einig. Nicht einig aber ist man sich in der Frage, was Literatur ist. Selbst nichttextliche Gegenstände wie Körper, Leiblichkeit und Gedächtnis werden literaturwissenschaftlich untersucht. Unhinterfragt bleibt bei alledem eine Prämisse, welche die Problemlösung erschwert: dass nämlich Offenheit (man könnte auch sagen: Vagheit) der Gegenstandsbeschreibung das probate Mittel sei, um den Fortgang „des Forschungsprozesses nicht zu blockieren“.24 Die Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, die Konstellation von Texten in Kontexten (neu) abzustecken, weiter zu fassen oder einzugrenzen. Wenn man aber nicht weiß bzw. nicht erkennen kann, was Literatur ist, lässt sich schwerlich entscheiden, was Kontext und was (literarischer) Text ist. Der eigentliche Anlass zur Klage bleibt auch ‚nach der Sozialgeschichte‘, nach der Erweiterung des Kontextes zugunsten eines noch weniger definierten, offeneren, nämlich des der Kultur, bestehen. So liegt es nahe, wie Terry Eagleton, im ständigen Wechsel der Methoden die Ursache für den Verlust des Gegenstandes zu sehen – auch dies keine neue Diagnose;25 schon von Wiese stellte sie.26 Dabei ist eher das Gegenteil der Fall: Erst der Mangel an Kriterien für eine Unterscheidung, was überhaupt Kontext sein kann, und damit der Mangel an Kriterien für eine Unterscheidung der Literatur von Nicht-Literatur, 22 23

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Gerhard Sauder: Fachgeschichte und Standortbestimmung, in: Harth u.a.: Erkenntnis der Literatur (Anm. 15), S. 321-343, hier S. 334ff. Diese Transformation für folgerichtig halten Johannes Anderegg und Edith Anna Kunz (Hg.): Kulturwissenschaften. Positionen und Perspektiven, Bielefeld 1999; Claudia Benthien u. Hans Rudolf Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek bei Hamburg 2002; auch Klaus-Dieter Ertler: Die Sozialgeschichte der Literatur (Anm. 20), sieht die „‚übermoderne‘ Ausformung in anthropologische, kulturhistorische, familien- und geschlechterhistorische Ramifikationen nicht als Verdrängung, sondern als fruchtbare Erweiterung des vielsagenden Schlüsselbegriffes ‘Sozialgeschichte‘“ (S. 194). Huber u. Lauer: Sozialgeschichte (Anm. 19), S. 11. Eagleton: Literaturtheorie (Anm. 9), S. 190f. Von Wiese: Gegenstandsschwund (Anm. 10), S. 71.

Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart

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erst der „Panfiktionalismus“,27 erst die „Instabilität von Textbedeutungen“,28 erst die Reduktion des Textes auf eine semantische Leerstelle, deren Sinn sich durch subjektlose, in jedem Fall der bewussten Kontrolle entzogene Instanzen der Produktion (Tod des Autors)29 wie der Rezeption zuallererst erzeugt, legt die Notwendigkeit neuer Methoden der Erschließung nahe.30 Gewiss ist die These der immer weiteren Kontextbehandlung der Literaturtheorie aufgrund eines theoretisch festgestellten Mangels an Gegenständen in der Literatur pointiert formuliert. Ein direkter wirkungsgeschichtlicher Nexus lässt sich wohl nicht nachweisen. Vielmehr sind die dafür bestimmenden Faktoren und deren Wechselwirkung komplex. So wird die Untersuchung der Kontexte in der Literaturwissenschaft nach 1945 nicht zuletzt von strukturalistischen Theorien (Psychoanalyse, Ethnologie) überhaupt forciert,31 und angesichts der historischen Situation nach 1945, dem Ende des ‚Dritten Reiches‘ und des Zweiten Weltkriegs, in der Situation des Kalten Krieges, liegt die Frage nach dem Einfluss gesellschaftlicher Systeme auf den Menschen und damit auch auf die Autoren nahe. Gemeinsam ist den Theorien jedoch die Tendenz, auf die Modi, Umstände und Kontexte zu achten statt auf die Gegenstände selbst. Dadurch gerät der Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Erkenntnis aus dem Blick. Vertreter des New Historicism wie Hayden White beziehen ernsthaft die Position, Text wie Kontext seien Ideologie, seien nichts anderes als Vorstellungen dessen, der sie erzeugt,32 und jeder Text als Zeugnis

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Gottfried Willems: Der Weg ins Offene als Sackgasse. Zur jüngsten Kanon-Debatte und zur Lage der Literaturwissenschaft, in: Kaiser u.a.: Begründungen und Funktionen des Kanons (Anm. 12), S. 217-267, hier S. 236. Willems spricht von „Tabuisierung des Bewusstseins und der Hermeneutik“ (S. 259); präziser müsste es heißen: ‚Tabuisierung rationalen Beurteilungsvermögens‘; zur Urteilsenthaltung in der Literaturtheorie seit 1966 vgl. Ulrike Zeuch: [...] die abstrakten Worte [...] zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze. Zum Verlust des Gegenstandes in der Literaturtheorie seit 1966, in: Euphorion 95, H. 1 (2001), S. 101-121. Paul de Man: Der Widerstand gegen die Theorie, in: Dorothee Kimmich u.a. (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 1996, S. 314-326, hier S. 325. Zum Autorbegriff vgl. Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart u.a. 2002 (Germanistische Symposien, Berichtsbände, Bd. 24); zur kritischen Auseinandersetzung mit der u.a. von Michel Foucault formulierten These vom Tod des Autors vgl. Fotis Jannidis (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999. Einen repräsentativen Überblick über die gegenwärtig diskutierten Methoden gibt neben der von Dorothee Kimmich u.a. herausgegebenen Textsammlung (Anm. 28) Julie Rivkin u.a. (Hg.): Literary Theory. An Anthology, Oxford 1998. Vgl. Geisenhanslüke: Literaturtheorie (Anm. 5), S. 75ff. Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, mit einer Einführung von Reinhart Koselleck, aus dem Amerikanischen von Brigitte Brinkmann-Siepmann u. Thomas Siepmann, Stuttgart 1986 (Sprache und Geschichte, Bd. 10), S. 91; ders.: The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore u. London ²1992, S. 187.

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der Mentalität einer Zeit sei gleich bedeutsam (das heißt in der Konsequenz: ein Zeitungstext sei nicht weniger bedeutsam als ein literarischer Text). Aus diesem Grund bedürfe es des ständigen Wechsels der Methoden. Zu Recht verleiht Willems seinem Befremden darüber Ausdruck, „wie in einem Milieu, in dem man ständig die Pluralität, die Vielstimmigkeit, die Differenz, das Andere, die Alterität hochleben lässt, an nichts so verbissen gearbeitet wird wie an der Einebnung aller Differenz“.33 Zwar erwägt Eagleton, ob es vielleicht der „Gegenstand und nicht die Methode [sei], die den Diskurs von anderen abhebt und eingrenzt“; aber auch er meint, dass man einen solchen nicht mehr habe.34 Die neuen Methoden der Erschließung selbst sind nicht darauf angelegt, dem Gegenstand der Literaturwissenschaft Kontur zu verleihen. In für die Nachkriegszeit bestimmenden hermeneutischen Ansätzen, etwa in der Rezeptionsästhetik von Hans-Robert Jauß, im Textbegriff des Poststrukturalismus oder im New Historicism gerät der literarische Text aus dem Blick. Verantwortlich dafür sind die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die (vorrationalen) Verstehensbedingungen seitens des Subjekts und der radikale Zweifel an der Möglichkeit, die sachliche Bestimmtheit eines Textes zu erkennen; begründet wird der Zweifel mit einem seit der Spätaufklärung immer wieder formulierten Mangel des Bewusstseins als der Instanz menschlicher Rationalität. Das Bewusstsein sei außerstande, über den zu beurteilenden Gegenstand, über seine tatsächliche Beschaffenheit und seine Individualität eine Aussage zu machen. Ist die Kritik am Bewusstsein als zentraler Instanz der Erkenntnis auch kein spezielles Problem der Literaturwissenschaft, so sind bestimmte Folgen dieses Problems durchaus als disziplinspezifisch anzusehen, etwa wenn ein literarischer Text unter Ausblendung des rationalen Urteiles erfasst werden soll.35 Die Problematik einer solchen hermeneutischen Prämisse für die Litera33 34 35

Willems: Kanon-Debatte (Anm. 27), S. 237. Eagleton: Literaturtheorie (Anm. 9), S. 191. Die Konsequenzen, die etwa Wilhelm Dilthey aus der Kritik an der Rationalität bzw. am Bewusstsein zieht, führen dazu, das Verstehen von Literatur als Teil der Zeugnisse des menschlichen Geistes einem anderen, einem vorbegrifflichen Vermögen zuzumuten. Hieraus leitet sich, um das Ziel der Geisteswissenschaft, nämlich die Selbstbesinnung des Menschen, zu erreichen, folgende Methode ab: das Erleben der anderen Person und ihrer Lebensäußerungen sowie die Vermittlung dieses Erlebnisses mit dem Verstehen seiner selbst, d.h. dem nacherlebenden Nachvollzug von Selbsterlebtem; vgl. Wilhelm Dilthey: Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, in: ders: Gesammelte Schriften, Bd. 7, 2., unveränd. Aufl. Leipzig 1958, S. 191-220. Arbogast Schmitt: Antike Bildung und moderne Wissenschaft. Von den ,artes liberales‘ zu den Geistes- und Naturwissenschaften der Gegenwart. Historisch-kritische Anmerkungen zu einer problematischen Entwicklung, in: Gymnasium 108 (2001), S. 311344, zeigt, dass Diltheys Erlebnis bereits im 17. Jahrhundert durch den bon sense und common sense, im 18. Jahrhundert durch den Geschmacksbegriff und die Urteilskraft sachlich vorbereitet ist (S. 323). Man könnte auch Herders Einfühlung oder Friedrich Schlegels Unverständlichkeit als Bedingung der Möglichkeit von Verstehen nennen. Willems: KanonDebatte (Anm. 27) bestätigt im Zusammenhang mit der Frage nach Prinzipien des Verste-

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turwissenschaft als Wissenschaft versteht sich von selbst. Die genannten hermeneutischen Ansätze nicht zwar nicht die einzigen: Textbezogene Methoden wie die des russischen Formalismus, des New Criticism, der werkimmanenten Interpretation und des Strukturalismus, die nach 1945 durchaus und sogar bedeutendes Gewicht haben, sind ihrem Anspruch nach auf die Untersuchung von Form, Stil, Bildlichkeit oder sprachlicher Struktur und deren Funktion gerichtet; sie setzen dabei implizit voraus, dass es sich bei den untersuchten Texten um literarische handelt.36 Form, Stil, Bildlichkeit oder Funktion von Sprachstrukturen sind jedoch keine hinreichenden Kriterien, um das Spezifische von Literatur im Unterschied zu anderen Künsten und anderen Texten zu benennen. Wäre der Kunstcharakter (Poetizität bzw. Literarizität)37 – also die formale Gestaltung oder die Wahl bestimmter Worte – das entscheidende Kriterium und bestünde die Funktion der Literatur ausschließlich in ihrer Differenzqualität gegenüber standardisierten Schreibweisen, dann würde jeder inhaltlich beliebige Text zur Literatur zählen, der diese formalen Bedingungen erfüllt. Die inhaltliche Bedeutung eines Textes aber erschließt sich mit Hilfe der genannten Methoden nicht – sie soll auch nicht erschlossen werden. So betont Roland Barthes als Vertreter des Strukturalismus, dass nicht der „Inhalt der Bedeutungen“, sondern die Art der Erzeugung von Bedeutung „Objekt des Strukturalismus“ sei.38 Während die textbezogenen Methoden der Literaturwissenschaft den literarischen Text als Gegenstand der Untersuchung immer noch voraussetzen, werden bei dem sozialhistorischen bzw. kulturwissenschaftlichen Ansatz, in der Gender- oder Alteritätsforschung, in der Verfahrensweise der Dekonstruktion und ähnliche Texte jeweils anderen Aspekten subsumiert, die den Gegenstand der Untersuchung bilden – das sind dann nicht-literarische Texte,39 im kulturwissenschaftlichen Ansatz sogar nicht-textliche Gegenstände. In der gesamten Diskussion kommt der Gegenstand der Literatur als Kriterium dafür, was Literatur ist, nicht vor – es sei denn im deskriptiven Nachvollzug dessen,

36 37 38 39

hens eines literarischen Textes die auch schon von anderen formulierte Einsicht, es sei „eine schwere methodische Hypothek der Hermeneutik von Dilthey bis Gadamer, dass sie die Problematik des Verstehens an ästhetischen Gegenständen entwickeln“ (S. 252). Vgl. hierzu Raman Selden u. Peter Widdowson: A Readers’ Guide to Contemporary Literary Theory, 1. Aufl. Lexington (Kentucky) 1993. Vgl. zur Problematik des Begriffs ‚Literarizität‘ Adrian Marino: Teoria della letteratura, Bologna 1994, S. 241ff. Roland Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit, in: Kimmich u.a.: Literaturtheorie (Anm. 28), S. 215-223, hier S. 221. Vgl. Jonathan Cullers Sammlung von Texten, die neben literaturtheoretischen Problemen auch solche anderer Disziplinen wie der Philosophie, Psychoanalyse, Architektur, Politik oder Ethik ,dekonstruieren‘: Deconstruction. Critical concepts in literary and cultural studies, 4 Bde., London u.a. 2003.

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was einmal Stoff bzw. Inhalt von Literatur gewesen ist bzw. noch ist. Wissenschaftlich erfasst werden die (unendlichen) Gegenstände der Literatur. Zusammengefasst werden sie – als Variationen ein und desselben „Hauptinhalts[s] der Dichtung“ – unter das „Menschliche“.40 Das Menschliche fungiert dabei als kleinster gemeinsamer Nenner aller empirisch eruierbaren Gegenstände der Literatur. Oder es werden unter einem bestimmten Aspekt ausgewählte Gegenstände – zum Beispiel ‚ewige‘, da unlösbare bzw. immer wiederkehrende Probleme der Menschheit – aufgelistet, wie beispielsweise von Rudolf Unger in seiner Literaturgeschichte als Problemgeschichte von 1924.41 Aber auch nach 1945 besteht die Suche nach „wahre[n] Invarianten der Weltliteratur“,42 nach bleibenden literarischen Themen fort. Als ‚Funktion‘ der Literatur kehrt die Gegenstandsbestimmung wieder: Literatur soll den Leser in Aporien führen und diese bewusst machen, so Walter Haug.43 Karl Eibl hält diese Funktionsbestimmung für zu eng, da sie nur für „einen bestimmten Typus von Literatur“ zutreffe, einen Typus, der „insbesondere seit dem 18. Jahrhundert besondere Bedeutung gewonnen“ habe.44 Statt Literatur auf die Funktion, in Aporien zu führen, zu beschränken, will Eibl Literatur generell auf Probleme bezogen wissen. Literatur biete dem Rezipienten „bestehende Problemlösungen“ an und / oder biete den Raum, über eine „neue, unbewältigte Problemsituation“ (S. 188) nachzudenken. Um nachdenken zu können, bedarf es eines Gegenstandes der Reflexion. Folglich bleibt Eibl nicht bei der Erweiterung der Funktionsbestimmung, sondern nennt auch einen solchen Gegenstand. Dieser Gegenstand ist aber nicht näher konturiert. Literatur reagiere „auf alle Umweltherausforderungen“; diese selbst seien „primär unspezifisch“ (S. 188); erst die Literatur als „Metainstanz“ (S. 189) deute sie als ein bestimmtes Problem. Zwar sieht Eibl im „Umweltbezug von Literatur“ (S. 189) einen Garanten für eine Reihe möglicher Referenzobjekte der Literatur; gedeutet aber werde diese Mannigfaltigkeit an Bezugsmöglichkeiten auf die Umwelt – so Eibl in Anlehnung an Luhmann – als ein und dasselbe Problem, an dem sich die Literatur seit 1750 abarbeite: „die basale sozialgeschichtliche Herausforderung“, die in den letzten „250 Jahren grundsätzlich dieselbe“ sei: das „Individualitätsproblem“ als „Leitproblematik“ (S. 189). Eibl reduziert damit die möglichen 40 41 42 43 44

Elisabeth Frenzel: Vom Inhalt der Literatur. Stoff - Motiv - Thema, Freiburg u.a. 1980, S. 24. Rudolf Unger: Literaturgeschichte als Problemgeschichte, in: ders.: Gesammelte Studien, Bd. 1, Darmstadt 1966, S. 137-170. Adrian Marino: Kritik der literarischen Begriffe, Cluj-Napoca 1976, S. 67; vgl. S. 64ff. zu den literarischen Konstanten allgemein. Walter Haug: Erwiderung auf die Erwiderung, in: DVjs 73 (1999), S. 69-121, hier S. 87. Karl Eibl: Autonomie und Funktion, Autopoesis und Kopplung. Ein Erklärungsangebot für ein literaturwissenschaftliches Methodenproblem mit einem Blick auf ein fachpolitisches Problem, in: Huber u. Lauer: Nach der Sozialgeschichte (Anm. 19), S. 175-190, hier: S. 182.

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Gegenstände der Literatur auf einen einzigen – so als gebe es seit 250 Jahren kein anderes Problem als das der Individualität und Autonomie,45 so als habe man vor 1750 in der Literatur dieses Problem weder behandelt noch über es nachgedacht –, und er hat, nicht anders als Haug, einen bestimmten Typus von Literatur vor Augen: die Literatur der Moderne oder gar einen Ausschnitt aus der Literatur der Moderne. Zwischenergebnis Aus dem bis hier Erörterten lässt sich der Schluss ziehen, dass der Gegenstand der Literatur, nicht als kleinster gemeinsamer und damit unspezifischer, weil alles integrieren müssender Nenner, sondern als normatives Kriterium im Sinne allgemeiner Geltung eine offene Frage ist. Nun sind verschiedene Möglichkeiten denkbar, sich zu dieser Offenheit zu verhalten. Entweder man folgt der bedingungslosen Historisierung und behandelt jede Antwort unmittelbar zu sich selbst als die an diesem oder jenem historischen Ort gegebene, ohne diese zu bewerten, ohne zu verschiedenen Zeiten gegebene Antworten miteinander in Beziehung zu setzen oder gar eine von ihnen als eine jenseits des historischen Kontextes gültige auszuzeichnen. Dann ist aber auch die Position, dass es keine Antwort auf die Frage, was Literatur ist, gebe, eine bloß historische und als solche auch zu behandeln. Oder man favorisiert bestimmte historische Festlegungen. Allerdings muss man dann imstande sein, Gründe dafür zu nennen. Erforderlich wäre dazu, sich zuallererst den historischen Reichtum der Argumentation zu erschließen und Probleme zu erkennen, die in der Geschichte der Literaturtheorie immer wiederkehren. Die verschiedenen, in der Vergangenheit gefundenen Lösungen dieser wiederkehrenden Probleme wären als Angebote zu begreifen und mit denen von heute zu konfrontieren. Die zweite Möglichkeit, sich zu dieser Offenheit zu verhalten, wird allerdings erschwert durch die Prämissen der Literaturtheorie hinsichtlich ihres Textbegriffs. Der historische Reichtum der Argumentation ist überdies nicht unmittelbar zugänglich; er ist verstellt durch wirkungsgeschichtliche Determinanten. Schließlich gilt ein derartiger Versuch als tabu und angesichts der „durchgreifende[n] Historisierung“46 als Kriterium für Wissenschaftlichkeit

45 46

Vgl. hierzu Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie, Frankfurt a.M. u.a. 1995, bes. S. 11-34. Zur „durchgreifende[n] Historisierung“ als Kriterium der Wissenschaftlichkeit vgl. Herbert Jaumann: Rezension zu Adrian Marino: The Biography of „The Idea of Literature“. From Antiquity to the Baroque, 1996, in: International Journal of the Classical Tradition 8 (2001/2), S. 130-134, hier S. 134.

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sogar als Rückschritt.47 Allein schon die Frage nach einem solchen normativ bestimmten Gegenstand wird als dogmatisch abgetan.48 Gleichwohl arbeiten die Methoden, die eine allgemeinverbindliche Bestimmbarkeit des (literarischen) Textes verneinen, durchaus mit Normen, aber es sind Normen, welche die Funktion von Literatur betreffen, nicht ihren Gegenstand.49 Diese Normen werden allerdings unbefragt als gültig vorausgesetzt, etwa dass es wesentlich zur Literatur gehöre, (formal-ästhetische wie moralischgesellschaftliche) Tabus zu brechen – so Hans-Robert Jauß in seiner Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft – oder der ‚realen‘, ‚normalen‘ Realität eine andere, alternative Version derselben Realität gegenüberzustellen – so Niklas Luhmann in Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst – oder an die Stelle des an Fakten überprüfbaren Wahren etwas ‚Wahrscheinendes‘ zu setzen – so Hans Blumenberg in Paradigmen zu einer Metaphorologie – oder zeit- bzw. gesellschaftsspezifische Bewusstseinshaltungen ablesbar zu machen – so Stephen Greenblatt in Grundzüge einer Poetik der Kultur. Alle vier Aspekte sind überdies Normen bzw. Funktionen, die bereits im 18. Jahrhundert – mit Lessing beginnend (Blumenberg bezieht sich explizit auf Lessing) – diskutiert werden. Dass der Gegenstand der Literatur als normative Bestimmung in der Diskussion auffallend abwesend ist, wird gerade bei denjenigen sehr deutlich, die gleichsam außerhalb der Norm explizit noch den Versuch unternehmen, zu bestimmen, was Literatur ist, und durch den Versuch allein den Bruch mit dem durch die ‚communis opinio‘ der Literaturtheorie diktierten Tabu provozieren. 47

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49

Geisenhanslüke: Literaturtheorie (Anm. 5), zufolge kann es „Letztbegründungen über das Wesen der Literatur [...] nicht geben“ (S. 8), da dieses Wesen selbst nicht existiere (S. 9); gleichwohl bescheinigt er der Literatur eine „ungebrochene Aktualität“, da sie sich dem „wissenschaftlichen Anspruch auf Letztbegründungen beharrlich“ verweigere (S. 146); in dieser Funktion sieht er eine Konstante der Literatur, also doch etwas, das bleibt, auch wenn man dieses für bleibend Gehaltene nicht mehr Substanz oder Wesen nennt bzw. nennen darf. Harth u. vom Hofe: Grundbegriffe (Anm. 15), S. 31: „eine das vermeintliche ,Ganze‘ erfassende Literaturtheorie [ist] nur als dogmatische denkbar“; ebenso vorsichtig, den Eindruck des Dogmatischen zu vermeiden, ist das Resümee von Martin Huber u. Gerhard Lauer (Anm. 19) formuliert; sie halten die Erweiterung des Gegenstandes ,Literatur‘ zum Text als Text oder zur Kultur einerseits und das Festhalten am Erprobten andererseits zwar für falsche Alternativen (S. 10); aber auch eine „Großtheorie, gleich um welches Zentralsignifikat auch immer gebildet“ (S. 11), sei ungeeignet, alle theoretischen wie methodischen Probleme zu integrieren; stattdessen plädieren sie für einen offenen Rahmen; als Grenzen dieses Rahmens und damit als für den literarischen Text relevante Kontexte werden „Fragen nach Poetik, Kultur, Gesellschaft und Wissenschaft“ (ebd.) genannt. Als allgemein gilt im Strukturalismus und Konstruktivismus die Funktion von Literatur; für Roland Barthes: Strukturalistische Tätigkeit (Anm. 38), besteht sie darin, materielle Ausgangsbasis für Neuschöpfung und Reflexion (S. 217), für die Herstellung neuer Bedeutung zu sein, für Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, in: Kimmich u.a.: Literaturtheorie (Anm. 28), S. 379-392, darin, „Weltkontingenz“ (S. 384) herzustellen und ein Kommunikationsprogramm zu liefern (S. 388).

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Versuche einer normativen Gegenstandsbestimmung Schmitz-Emans besteht darauf, dass die Identität der Literaturwissenschaft wesentlich davon abhängt, ob sie einen für sie selbst spezifischen Gegenstand anzugeben weiß. Schmitz-Emans sieht die Spezifik der Literatur im Unterschied zur Kultur darin, ‚individuell zu sein‘ (S. 253). Anders als die Kultur und deren Zeugnisse soll die Literatur die üblichen sozialen, symbolischen und sonstigen Ordnungen, Werte, Codes, Erklärungsmuster usf. aufheben (S. 257ff.); sie sei insofern von ihrer Grundtendenz her immer anti-ideologisch, gegen das Ganze einer Kultur gerichtet. Zwar bemerkt Schmitz-Emans durchaus, dass diese Unterscheidung ein Erbe der Autonomieästhetik ist (S. 257) und insofern keine generelle Bestimmung von Literatur sein kann. Aber sie selbst schließt sich diesem Urteil, dass Literatur generell anti-ideologisch sei, an (S. 265). Schmitz-Emans verkennt damit, dass es auch nach 1800, dem Kulminationspunkt der Autonomieästhetik, ideologische Literatur gibt, nicht zuletzt während des Faschismus und Kommunismus in Europa und des Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert; sie schließt Literatur, die ideologisches Denken abbildet, von vornherein als schlechte Literatur oder Nicht-Literatur aus; ideologische Literatur kann aber sehr wohl Falsches zum Vorschein bringen und damit auch einen Erkenntniswert haben. Ferner bleibt die Frage nach der Spezifik des Gegenstandes der Literaturwissenschaft unbeantwortet: Individuell, anti-ideologisch, unbegreifbar zu sein, nehmen auch andere Künste der Moderne für sich in Anspruch. Der Versuch aber, Literatur über ihre Funktion zu bestimmen, und zwar über die Funktion ‚Tabu-Bruch‘, ist, wie sie selbst konzediert, 200 Jahre alt. Implizit geht Schmitz-Emans von einem Literaturbegriff aus, der sich an einem der für die Literaturtheorie der Neuzeit zentralen Grundsätze orientiert: der Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit als Kriterium für Literatur. Dass die „Frage nach der Relation zwischen Literatur und Wirklichkeit bei der Bestimmung dessen, was Literatur, Dichtung, Poesie sei, stets seine Hauptrolle gespielt“ (S. 247) habe, trifft aber nur bedingt zu. Für die Poetik des Aristoteles etwa gilt sie nicht.50 Sie wird in der Poetik zwar thematisiert, spielt aber eine untergeordnete Rolle. Ob eine bestimmte Handlung bestimmter menschlicher Charaktere ihre Entsprechung in der Wirklichkeit hat oder imaginiert ist, gilt Aristoteles als sekundär gegenüber der Frage nach dem Gegenstand der Literatur: nach der Mimesis menschlicher Handlung.

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Bezeichnenderweise bezieht sich Uwe Japp zur Klärung des seiner Meinung nach für Literatur spezifischen Fiktionsbegriffs auf Horaz, nicht auf Aristoteles (Die literarische Fiktion, in: Carola Hilmes u. Dietrich Mathy [Hg.]: Die Dichter lügen, nicht. Über Erkenntnis, Literatur und Leser, Würzburg 1994, S. 47-58, hier S. 53ff.).

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Ebenso wie Schmitz-Emans setzt auch Joachim Küpper bei seiner Frage „Was ist Literatur?“ einen Begriff der Literatur voraus, der sich an der Unterscheidung zwischen Imagination und Realität orientiert, wobei Küpper im Unterschied zu Schmitz-Emans den Akzent auf die Rezeption durch den Leser legt: Literatur ist Literatur, wenn sie offen für die Imagination (sekundärer) fiktiver Welten ist und einlädt zu freier Assoziation. Küppers Antwort auf seine Frage „Was ist Literatur?“ lautet: „figurale Narrativität“.51 Unter ‚Narrativität‘ versteht Küpper einen Bericht einzelner Ereignisse, der Anfang, Mitte und Ende hat und durch eine Person, für die diese Ereignisse von Belang sind, eine Einheit bildet.52 Ausschließen will Küpper durch den Zusatz, dass die von einer Person erzählten Ereignisse für sie von Belang seien, wohl eine äußerliche Einheit im Sinne eines chronologischen Zusammenhangs, was unmittelbar einleuchtet. So verstandene Narrativität (‚Bericht einzelner Ereignisse, der Anfang, Mitte und Ende hat und durch eine Person, für die diese Ereignisse von Belang sind, eine Einheit bildet‘) findet sich jedoch auch in Texten, die nicht zur Belletristik gerechnet werden können, etwa im Interview, als Aussage eines Zeugen in einem Zeitungsartikel oder in einer Autobiografie. Auch ist es problematisch, die Spezifik des literarischen Textes in einer durch eine Person gestifteten Einheit von Erlebnissen zu sehen. Denn bloß dadurch, dass die Ereignisse für diese oder jene Person von Belang sind, hängen sie keineswegs auch sachlich zusammen. Figural sei Narrativität dadurch, dass das Berichtete „uneigentlich [...], rhetorisch“ gemeint sei (S. 195). Der Modus des Erzählens – rhetorisch – ist laut Küpper entscheidend, nicht das Objekt oder die Funktion (S. 196); mit Modus ist gemeint, dass die Rhetorisierung einen Raum freisetze, in dem „sich unsere begrifflich fixierte Reflexion, unser vorbegriffliches Nachdenken und unser assoziatives Divagieren [...] ergehen können“ (S. 197). Indem Küpper die Narrativität als figural bestimmt, nimmt er die von ihm genannte Bestimmung, was Literatur sei – eine Person berichtet über eine von ihr als Einheit aufgefasste Folge von Ereignissen – wieder zurück. Küpper sieht zum einen den Modus, der entgegen seiner Annahme doch eine Funktion hat, nämlich sekundäre Imaginationskräfte freizusetzen, zum anderen das vorbegriffliche Verstehen als konstitutiv für Literatur an. Leitend ist dabei die Vorstellung, dass die Qualität von Literatur gerade in der Vagheit, Offenheit (S. 196f.), 51 52

Küpper: Was ist Literatur (Anm. 3), S. 195. An dieser Stelle bezieht sich Küpper auf Aristoteles’ Poetik. Allerdings betrifft Küppers Bezugnahme nur einen Aspekt; denn laut Aristoteles garantieren eben nicht die Person oder der Charakter die Einheit, sondern die Handlung. Zu Aristoteles’ Position diesbezüglich Arbogast Schmitt: Teleologie und Geschichte bei Aristoteles oder Wie kommen nach Aristoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte?, in: Karlheinz Stierle u. Rainer Warning (Hg.): Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 16), S. 528-563.

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Code-Elastizität (S. 199) und Inexaktheit (S. 206) liege. Damit teilt Küpper zwei der für die Literaturtheorie der Gegenwart entscheidenden Prämissen: dass sich der sachliche Gehalt eines literarischen Textes erst im Vollzug der (immer wieder anderen) Rezeption konstituiere und dieser Gehalt im eigentlichen Sinne, das heißt rational und allgemein nachvollziehbar, nicht zu verstehen sei. Der Bericht einer Person soll Küpper zufolge aber eine zusätzliche Qualität haben, die ihn von historiographisch relevanten Texten unterscheide: Er soll etwas Allgemeines oder Philosophisches mitteilen. In welcher Hinsicht aber kann ein literarischer Text allgemeiner sein – das Philosophische einmal beiseite gelassen? Doch nur in der Hinsicht, dass nicht das historisch Einmalige und damit Beliebige, dessen Umstände und Umgebung jeweils andere sind, erzählt wird, sondern etwas, was über Zeitgebundenheit, Kontingenz, Authentizität und Singularität hinausgeht. Die Literaturtheorie seit der Antike – und zwar verstehe ich ‚Literaturtheorie‘ als den historisch unterschiedlichen Varianten übergeordneten allgemeinen Begriff, während Horst Turk ihn nur seit dem 20. Jahrhundert gelten lässt53 – hat unterschiedliche Antworten gegeben, worin dieses Allgemeine der Literatur im Unterschied zur Geschichtsschreibung bestehen könnte. Die Antworten reichen von der Darstellung sich aus einer bestimmten Situation ergebender Gefühle, Gedanken und Handlungen einer bestimmten Person, die Einsicht erlaubt in das einem Menschen von bestimmtem Charakter Mögliche (Aristoteles), über das von der Besonderheit eines einzelnen Menschen abstrahierende Ideal (Horaz, Scaliger) und die sinnliche Darstellung eines moralischen Lehrsatzes (Gottsched) bis zur Offenbarung des inneren Selbst eines Menschen, das zugleich mehr, nämlich die ganze Menschheit wirklich und in Wahrheit sein soll (Friedrich Schlegel), ja schließlich bis zur immer gleichen ‚conditio humana‘. Die historischen Antworten auf das, was das Allgemeine der Literatur sein kann, divergieren zu sehr voneinander, als dass man sich ohne weiteres insgesamt auf diese Tradition berufen oder direkt bei Aristoteles anknüpfen könnte, wie Küpper dies nahe legt; erschwert wird die Anknüpfung durch die Umformung des ‚Allgemein-Begriffs‘ im Nominalismus,54 die für den Begriff des Allgemeinen als Gegenstand der literarischen Mimesis weitreichende Konsequenzen hat.55 Dass die wirkungsgeschichtliche Vermitteltheit zentraler Aussa53 54

55

Im Unterschied zu Wirkungs-, Regel- und Gattungs-Poetiken, so Horst Turk: Einleitung, in: ders. (Hg.): Klassiker der Literaturtheorie. Von Boileau bis Barthes, München 1979, S. 7. Vgl. Arbogast Schmitt: Anschauung und Denken bei Duns Scotus. Über eine für die neuzeitliche Erkenntnistheorie folgenreiche Akzentverlagerung in der spätmittelalterlichen Aristoteles-Deutung, in: Enno Rudolph (Hg.), Die Renaissance und ihre Antike, Tübingen 1998 (Religion und Aufklärung, Bd. 1), S. 7-34. Vgl. Ulrike Zeuch: Das Allgemeine als Gegenstand der Literatur. Scaligers Begriff des Allgemeinen und seine stoischen Prämissen, in: Poetica 34 (2002), S. 99-124.

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gen der Poetik eine direkte Anknüpfung an Aristoteles erschwert, dafür gibt Küpper selbst ein Beispiel, da er ‚Einheit der Handlung‘ im Sinne einer durch die Einheit der Person verbürgten ‚Einheitlichkeit der Handlung‘ versteht – eine Lesart, die Francesco Robortellos In librum Aristotelis de arte poetica explicationes56 vorgeben und die sich aufgrund seines Kommentars als Interpretationsvorgabe seit der Frühen Neuzeit durchzusetzen beginnt, bei Aristoteles selbst aber keinen Anhaltspunkt hat. Während Schmitz-Emans die Spezifik der Literatur in etwas absolut Individuellem, im Vergleich mit der Gesamtkultur Ungewöhnlichem, von dieser Abweichendem sieht, hält Küpper das Spezifische der Literatur für etwas Allgemeines, ohne genauer zu sagen, was er damit meint. Diese beiden, kaum als gegensätzlicher denkbaren Positionen finden sich allerdings bereits, und zwar in paradoxer Zusammenfügung, schon in der Frühromantik, etwa bei Friedrich Schlegel im Gespräch über die Poesie.57 Das absolut Individuelle soll zugleich – und als absolut Individuelles – etwas höchst Allgemeines sein. Von Küpper u.a. her vertraute Bestimmungen wie Fiktionalität und Offenheit greift Gottfried Willems in seinem Bericht zur Lage der Literaturwissenschaft auf, fügt diesen aber weitere Bestimmungen hinzu. Als Spezifik der Literatur gilt Willems „die Fiktionalität der literarischen Rede“, der „Eigensinn des literarischen Textes“ und die „innere Vielfalt und Offenheit“ des literarischen Textes.58 Unter ‚Vielfalt‘ versteht Willems die Fülle an Motiven, Schauplätzen, Charakteren, Handlungsmotiven, Lebensentwürfen, Gesinnungen, Meinungen, Stimmungen, die Fülle an gedanklicher, imaginativer, sprachlicher Aktivität (S. 231). Weder Fiktionalität noch Eigensinn noch Offenheit sind jedoch spezifisch für Literatur; sie gelten auch für Werke anderer Künste, zudem für Literatur nicht generell: Nicht jede Literatur erzeugt einen nur ihr eigenen Sinn, ist per se fiktional und offen. Aber selbst angenommen, dass die Künste einiges miteinander gemeinsam hätten und Fiktionalität und Offenheit ihnen insgesamt wesentlich wären, würde es dennoch nicht genügen, durch das Mitzudenkende ‚in Sprache‘ oder gar ‚in Sprache besonderer Ausformung‘ die Bestimmung für Literatur zu spezifizieren. Die von Willems angeführten Momente innerer Vielfalt finden sich im Übrigen auch in anderen Texten, etwa der Autobiografie;59 in ihrem additiven Charakter lassen sie sich verstehen als 56

57 58 59

Francesco Robortello: In librum Aristotelis de arte poetica explicationes, München 1968 (ND der Ausgabe Florenz 1548) (Poetiken des Cinquecento, Bd. 8); vgl. Brigitte Kappl: Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento, Diss. Marburg 2001 (in Manuskriptform eingesehen). Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler u.a., Bd. 2, München u.a. 1967, S. 284-328. Willems: Kanon-Debatte (Anm. 27), S. 254. Willems rein quantitativ, als Fülle verstandene Vielfalt als Kriterium für Bedeutsamkeit und Interessantheit eines literarischen Textes kritisch zu erörtern, würde an dieser Stelle zu weit führen; für problematisch halte ich auch die unreflektierte Verwendung wertender Maßstäbe

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Elemente eines unbestimmten Allgemeinen, eines kleinsten gemeinsamen Nenners, die sich nicht anders als bei Frenzel subsumieren lassen unter die Kategorie ‚Menschliches‘. Erkennbar ist Willems, indem er dem literarischen Text eine Intentionalität, einen Eigensinn zugesteht, darum bemüht, diesen vor der Reduktion auf eine semantische Leerstelle zu bewahren. Allerdings kann er nicht plausibel machen, wo die Grenze des für Interpretationen offenen literarischen Textes gegenüber einer „unbegrenzte[n] Offenheit“ (S. 255) liegt. Ungeklärt bleibt, welche Grenzen des für die Fantasie des Lesers offenen Spielraums (S. 256) eines fiktionalen Textes gegenüber dem Bestimmten, „was einen Autor schreibend beschäftigt, wovon er schreibend Zeugnis ablegt“ (S. 255), unantastbar sind (S. 256). Willems hat der Auflösung dieser Grenzen durch Methoden, die den Eigensinn von Texten generell negieren, nichts entgegenzusetzen (S. 249). Dabei kann man Willems darin folgen, dass der von ihm dem literarischen Text unterstellte eigene Sinn als „unverfügbare Vorgabe“ zu begreifen, das heißt nicht beliebig interpretierbar ist; folgen kann man auch seinem Argument, dass selbst jemand, der generell den Eigensinn eines Textes negiert, sich gegen eine gesellschaftlich verpönte Auslegung seines eigenen Textes, etwa eine „faschistische Lektüre“ (S. 256), verwahren würde. Selbst dann kann man Willems folgen, wenn er sich gegen die „Festschreibung der Bedeutung“ wendet, wobei er unter ‚Bedeutung‘ im Unterschied zum Eigensinn eine Sinnzuschreibung, die Zuschreibung von Klassizität nach Maßgabe eines „Deutungskanons wie dem des nationalen Gedankens, des Ästhetischen, des Utopischen oder des Sozialkritischen“ (S. 236) versteht. Fraglich ist aber, ob die Individualität oder der Eigensinn, den Willems dem literarischen Text unterstellt (die ‚Stellungnahme‘, ‚Meinung‘, ‚Option‘, S. 260), durch die Rekonstruktion „einer dem Text immanenten Intentionalität aus dem je eigenen intentionalen Leben des Lesers“ (S. 253) erkannt oder gar auf seine „Konsistenz“ (S. 254) und Widersprüchlichkeit hin überprüft werden kann. Je nachdem, worauf ein verstehendes Subjekt seine Aufmerksamkeit richtet, wird es die Intentionalität eines Textes bei mangelnder Übereinstimmung der Lebenspraxis nicht rekonstruieren, schon gar nicht Widersprüche aufdecken können, zumal die Bedeutsamkeit eines literarischen Werkes Willems zufolge gerade im Reichtum an gegenstrebigen, ja widersprüchlichen Motiven bestehen soll (S. 231).

wie des Interessanten oder Bedeutsamen, beides Maßstäbe aus der Geschichte der Literaturtheorie.

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Das Skandalon ‚Norm‘ Die vorangegangenen Ausführungen mögen als Beleg dafür genügen, dass eine normative Bestimmung des Gegenstandes der Literatur selbst bei denen, welche explizit noch den Versuch unternehmen zu bestimmen, was Literatur sei, abwesend ist. In der Literaturkritik ist der Gegenstand zwar auch nach 1970 durchaus ein Thema, aber beiläufig und nicht systematisch, zudem bezogen auf einzelne Werke und nicht prinzipiell. So antwortet der Literaturkritiker Michael Maar auf die von ihm selbst gestellte Frage, warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte, dass Harry Potter wegen des ‚plots‘, wegen der Handlung lesenswert und „der Held dieser Bücher [...] weniger Harry Potter als vielmehr die Handlung“ sei.60 Maar meint, Nabokov hätte Harry Potter wegen der raffinierten Komposition der Handlung (S. 121) gemocht. Bemerkenswert ist sein Urteil, sieht man es im Kontext nicht des literaturkritischen, sondern des literaturtheoretischen Diskurses der Gegenwart, da Handlung als Gegenstand der Literatur in letzterem keine Rolle spielt. Die Normativität des von Maar genannten Kriteriums, der Handlung, wäre allerdings erst zu prüfen. Normativ zu argumentieren gilt aber nicht nur in der Literaturtheorie, sondern auch in der Literaturkritik als tabu. Beispielhaft dafür ist die Position Marcel Reich-Ranickis, des in der Literaturkritik Nachkriegsdeutschlands einflussreichsten und damit maßgeblichen Literaturkritikers. Reich-Ranicki bezeichnet in dem von Peter von Matt mit ihm geführten Interview61 ausschließlich subjektive Kriterien, das heißt eigentlich subjektive Reaktionen auf Literatur als Kriterien, nämlich Interesse (S. 30), Langeweile (S. 63) und Vergnügen (S. 64); die Existenz normativer Kriterien negiert er (S. 66). Dafür, dass ein Text überhaupt als literarischer zu erkennen ist, nennt Reich-Ranicki dann aber doch ein wohl nicht nur als Ausfluss subjektiver Befindlichkeit (vgl. 60

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Michael Maar: Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte, Berlin 2002, S. 37. Maar nennt als Kriterien einer gelungenen Gesamthandlung: Es zähle jede einzelne Handlung, jedes Wort, nichts dürfe überflüssig sein, keine losen Enden sollten übrig bleiben (S. 36). Es sollten Handlungen von psychologisch komplexen „lebendigen Individuen“, nicht von entpersönlichten Typen (S. 46) sein; jedes Individuum habe „eine kleine Wunde zu verstecken, eine Schwäche zu camouflieren“ (S. 49), selbst Harry sei kein stets „in sich ruhender Held“ (S. 50). Die Handlung sei sowohl der Realität entnommen als auch imaginiert, Reales und Imaginiertes seien dergestalt miteinander verschränkt, dass „das harte Licht der Wirklichkeit durch die rubinroten und giftgrünen Fenster dieser Fiktion [sc. von Harry Potter]“ (S. 57f.) falle. Nicht der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion sei für die Handlung bestimmend, sondern die Suche nach plausiblen Antworten auf die Frage nach dem ‚Warum‘? bestimmter Einzelhandlungen sowie die Einsicht in deren Ursache (S. 59) und in das Ausmaß der Schuld Einzelner (S. 63). Wenn Maar Kritik übt, dann daran, dass bestimmte Handlungen für bestimmte Charaktere nicht wahrscheinlich seien (S. 88f. und S. 112f.). Marcel Reich-Ranicki: Der doppelte Boden. Ein Gespräch mit Peter von Matt, Zürich 1992.

Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart

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aber S. 64) gemeintes Kriterium: Literatur habe seiner Meinung nach einen doppelten Boden (S. 31ff.); gemeint ist damit, dass Literatur neben einem unmittelbar erkennbaren, Realität abbildenden (beispielsweise autobiographischen) Inhalt noch einen zweiten, darüber hinausgehenden, fiktionalen habe (S. 32), und das Gesagte sinnbildlich für etwas anderes stehe. Dieses Kriterium relativiert Reich-Ranicki aber gleich wieder, da er auch Literatur ohne doppelten Boden nicht „von der Literatur ausschließen“ (S. 31) möchte. Wenn Reich-Ranicki sein Interesse an Literatur an die Bedingung knüpft, dass sie die „Probleme der Epoche am eigenen Beispiel“ zeige (S. 30), dann stellt er sich in die Tradition der Roman- und Epostheorie des 18. Jahrhunderts, ohne sich über deren Geschichtlichkeit Rechenschaft abzulegen. Nichterzählende Literatur bleibt ausgespart, und es bleibt offen, was für eine Epoche relevante Probleme sind und wie Reich-Ranicki ‚Epoche‘ definiert. Die Möglichkeit einer Gegenstandsbestimmung jedenfalls, gar die einer normativen Gegenstandsbestimmung schließt der Literaturkritiker kategorisch aus; dagegen macht er in der Literatur nach 1945 neben doppelten Böden lediglich Themen aus – wie etwa bei Uwe Johnson das „deutsch-deutsche Thema“ (S. 30). In poetologischen Äußerungen von Schriftstellern62 ist auch nach 1970 eine Gegenstandsbestimmung von Literatur durchaus präsent. So mangelt es in Uwe Johnsons Frankfurter Vorlesungen (um bei Johnson als Beispiel zu bleiben)63 nicht an diesbezüglichen Anhaltspunkten – etwa wenn er davon spricht, dass „ein erzählendes Buch ein Modell der Welt anbietet, Geschichten als Beispiele, die Welt in der Version des Verfassers, Lesern vorgelegt zum unterhaltsamen Vergleichen mit ihrer eigenen Version. Eine Art Information, in der Form von Erzählung, wahrscheinlich weit weniger wirklich als die regelrechte Nachricht“ (S. 327). Aber da gilt dasselbe wie für die Literaturkritik: Es sind individuelle, keine ungeprüft verallgemeinerbare Positionen, und im Fall von Johnson beziehen sich die poetologischen Überlegungen nicht anders als bei Reich-Ranicki ausschließlich auf erzählende Literatur. Das von Reich-Ranicki ausgesprochene Verdikt, Normen reichten an die Individualität einzelner literarischer Werke nicht heran, lässt aus seiner Sicht als die Erkenntnis leitende Methode nur übrig, die Beurteilungskriterien aus dem einzelnen Werk abzuleiten.64 Aber auch dieses Vorgehen ist problematisch: Gesetzt, man könnte sich auf jedes einzelne Werk absolut vorurteilsfrei einlassen, so fände man

62

63 64

Schmitz-Emans: Lektüren (Anm. 2), etwa hält die „Autorenpoetik“ für einen „intergrale[n] Bestandteil der Literaturtheorie“ (S. 265); allerdings zitiert sie als Beleg für ihre These nur Stimmen von Autoren (S. 266f.), die ihre eigene Position belegen, dass das Wesen der Literatur dadurch gekennzeichnet sei, bestehende Codes und Spielregeln zu brechen. Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, 1. Aufl. Frankfurt a.M. 1992 (edition suhrkamp, Bd. 1820). Reich-Ranicki: Gespräch (Anm. 61), S. 66.

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Ulrike Zeuch

doch nicht das Gesuchte. Entweder wäre man nicht mehr in der Lage, ein allgemeinverbindliches Urteil zu treffen, da dieses dann wie (dem Lord Chandos) „die abstrakten Worte [...] im Munde [zerfiele] wie modrige Pilze“,65 oder man käme nur zum kleinsten gemeinsamen Nenner. Was aber ist der gemeinsame Nenner zwischen einem Dada-Gedicht von Arp und dem Simplizissimus? Die Problematik der (angeblich rein) empirischen, beim Einzelnen ansetzenden Methode ist in der Literaturtheorie besonders evident: So meint Adrian Marino in der Kritik der literarischen Begriffe,66 Konstanten innerhalb der literaturtheoretischen Begriffe ausmachen zu können. Dabei stützt er sich auf die so ohne weiteres nicht akzeptierbare Voraussetzung: „Was richtig gedacht wurde und wird, wird auch über Jahrhunderte noch in identischen oder wesentlich identischen Termini gedacht werden“ (S. 75). Diese Konstanten sind, da sie allen „literarischen Definitionen gemeinsam“ sein sollen (S. 85), als solche abstrakt (so Marino wörtlich, S. 77). Mit Hilfe eines derartigen Verfahrens käme man aber weder dazu, historisch zurückliegende Bestimmungen des Gegenstandes der Literatur in ihrer Differenz voneinander zu erkennen; es ließe sich lediglich ganz allgemein sagen, dass sowohl Aristoteles als auch Horaz als auch Francesco Robortello als auch Goethe von einem Allgemeinen als Gegenstand der literarischen Mimesis sprechen. Noch ließe sich entscheiden, von welchen Zuschreibungen begrifflicher Bedeutung als Varianten, das heißt als Akzidentien, abzusehen wäre, um zur Invariante, zur Konstante, also zur Substanz, vorzustoßen. Auf besondere Weise stellt sich das Problem, wenn – wie im Fall der Frage nach dem Gegenstand der Literatur – die Bestimmungen derart heterogen, ja widersprüchlich sind, dass sich ein identischer bzw. konstant bleibender „Hauptkern“ (S. 80) nicht ausmachen lässt. Analog argumentiert Geisenhanslüke in seiner Einführung in die Literaturtheorie: Die Vielfalt der Methoden und der literaturtheoretischen Ansätze nach 1970 sei nicht als Konflikt, sondern „als sich ergänzende Bemühungen um die eine Sache: die Frage, was Literatur ist und wie ein Wissen von der Literatur sich legitimieren kann“ (S. 143), aufzufassen. Ein ‚Hauptkern‘ innerhalb der Literaturtheorien aber ist eben nicht auszumachen; als konstant lässt sich nur, wie Geisenhanslüke feststellt, die Aufgabe der Literaturtheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begreifen, ihren Gegenstand zu destruieren (S. 143) und sich kritisch gegen jeden noch bestehenden Ansatz „hermeneutischen Substanzdenken[s]“ (S. 14) zu verwahren.

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Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief, in: Sämtliche Werke 31 (Erfundene Gespräche und Briefe), hg. von Ellen Ritter, Frankfurt a. M. 1991, S. 45-55, hier S. 48f. Marino: Kritik (Anm. 42), S. 78ff.

Der literaturtheoretische Diskurs der Gegenwart

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Resümee Aus den im Vorangegangenen kurz referierten Positionen der Literaturtheorie zur Gegenstandsbestimmung der Literatur seit 1970 wird erkennbar, dass die Literaturtheorie der Gegenwart das „Labyrinth“67 der Geschichte der Literaturtheorie nicht überblickt und dass durch den eigenen Vorbegriff der Blick für manches verstellt bzw. manches einfach in Vergessenheit geraten ist, was ein möglicher Ansatzpunkt für eine Antwort auf die Frage nach dem Gegenstand der Literatur sein könnte. Nicht die „einseitige Orientierung an theoretischen Fragen“ ist demnach verantwortlich für die Antwortlosigkeit der Literaturtheorie,68 sondern deren Orientierung an bestimmten Begriffen der Gegenwart. Dass für vorliegende Frage eventuell relevante Antworten einfach vergessen worden sind, ist nicht weiter verwunderlich, da seit der Frühen Neuzeit das Selbstverständnis der (jeweils) neuen Zeit sich darüber definiert, die vorangegangene Zeit zu überbieten, in jedem Fall zu überwinden; aus dem Blick gerät, was bereits einmal an differenzierten Erkenntnissen geleistet worden ist. Der Zwerg vergisst nicht nur, dass er seinen Weitblick den Schultern verdankt, auf denen er stand, sondern er vergisst noch mehr, dass er überhaupt auf Schultern stand, das heißt er vergisst seine Voraussetzungen. Wer aber nicht auf Schultern steht, hat keinen Weitblick. In diesem Sinne vergessene Erkenntnisse sind Gegenstand der Beiträge vorliegenden Bandes. Absicht des Bandes ist es, anhand von Einzelstudien zu zentralen Aspekten der für die Literaturtheorie grundsätzlichen Frage nach dem Gegenstand der Literatur Antworten zu geben und diese Antworten zur Überprüfung auf ihre Plausibilität jenseits ihres historischen Zusammenhangs dem Leser zu übergeben. Die Antworten der Überprüfung zu übergeben heißt nicht, dass sich die Beiträgerinnen und Beiträger der Verantwortung entziehen wollten, selbst eine Antwort zu finden; die jeweils für plausibel oder auch für problematisch gehaltene Antwort geht aus der Textwahl, der Art der Darstellung und der Argumentation der einzelnen Beiträge erkennbar hervor. Vielmehr sind die Beiträge in der Absicht geschrieben, die Argumente für eine derartige Überprüfung bereitzustellen.

67 68

Harth u. vom Hofe: Grundbegriffe (Anm. 15), S. 30. Geisenhanslüke: Literaturtheorie (Anm. 5), S. 143, referiert diesen als den für den Gegenstandsverlust der Literaturwissenschaft üblicherweise als hauptverantwortlich geltenden Grund.

STEFAN BÜTTNER

Literatur und Mimesis bei Platon In der griechischen Literatur hat es vor Platon zahlreiche Reflexionen auf die Literatur selbst gegeben, angefangen mit der Darstellung von Sängern wie Phemios und Demodokos in den homerischen Epen über die selbstbewussten Äußerungen der frühen Lyriker, insbesondere Pindars, bis hin zu den in der jüngeren Forschung vermehrt herausgearbeiteten Befunden von Metatheatralizität in der Tragödie des 5. Jahrhunderts. Eine ausführliche theoretische Durchdringung dessen, was Literatur respektive Dichtung bedeuten könnte, begegnet uns in den erhaltenen Texten der Antike zum ersten Mal aber erst bei Platon. Dabei erhebt sich sogleich die Frage, inwieweit man bei den Aussagen in Platons Dialogen überhaupt von einer Theorie sprechen kann. Zum einen dürfen die Beiträge der Dialogpartner nur unter Einrechnung des jeweiligen Kontextes verortet, also nur vermittelt als Platons eigene Ansichten verbucht werden. Zum anderen scheint es – ringt man sich erst einmal durch, bestimmte, immer wiederkehrende Konzepte als Platonisch anzusehen – bei Platon so widersprüchliche Aussagen zu geben, dass sie nicht in ein System oder eine einheitliche Theorie zu zwingen sind. Ein Musterbeispiel dieser Widersprüchlichkeit kann man im Nebeneinander des Mimesis- und des Enthusiasmus-Konzeptes erblicken. Während die Kritik an der Dichtung im 10. Buch der Politeia den rationalistischen Maßstab anlege, Dichtung als sinnlich-widerspiegelnde und damit bloß partielle Erfassung der Welt prinzipiell abzulehnen, verstehe Platon im Ion oder im Phaidros den inspirierten Dichter als jemanden, der Gespür für das Sinnlich-Ästhetische habe und gerade dadurch den nach Regel und Schablone arbeitenden Verstandesdichter weit hinter sich lasse.1 1

Auf diesen vermeintlichen Widerspruch kann hier nicht näher eingegangen werden. Es sei nur angedeutet, dass er wohl mehr auf die bei der Interpretation angewendeten Kategorien als auf die Texte Platons zurückgeführt werden dürfte. So setzt diese Interpretation für Platon eine Psychologie voraus, in der die Seele in eine zwar vorbewusst-unkontrollierte, aber reiche Sinnlichkeit und einen zwar bewusst-reflektierenden, aber abstrakten, inhaltlich armen Verstand geteilt ist; aus den Attributen dieses Oppositionspaares Sinnlichkeit-Verstand kann man dann – durch verschiedene Akzentsetzungen innerhalb dieses Modells – entgegengesetzte Paare herauslösen (Betonung der methodischen Reflexion des Verstandes gegenüber der

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Doch selbst innerhalb dieser beiden Konzepte scheint es Unstimmigkeiten zu geben. So hat das Wort ‚Mimesis‘ schon in einem einzigen Dialog, der Politeia, eine häufig wechselnde Bedeutung, die bald einen Verbleib der Dichtung im Idealstaat zu erlauben, bald die Notwendigkeit der Verwerfung aller nur möglichen Kunst plausibel machen zu wollen scheint. In dieser Untersuchung soll vor allem diesem Grundbegriff der Mimesis noch einmal nachgegangen werden. Ein Denker wie Platon klammert sich natürlich nicht nur an ein einziges Wort, wenn er Allgemeines über die Dichtung sagen will. Daher ist damit nur ein Aspekt seiner Ansichten über die Dichtung erläutert. Andererseits ist dieser Begriff zentral für Platons Abgrenzung von Dichtung und Nicht-Dichtung. Zentral wurde das Mimesis-Konzept auch für die Geschichte der Literaturtheorie. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man sagt, dass in der abendländischen Poetik niemand ohne diesen Begriff auskommt, und sei es nur, um ihn als Folie zur Abgrenzung seiner eigenen Theorie zu nutzen und andere Elemente wie die Einbildungskraft oder das subjektive Erlebnis in den Vordergrund zu rücken. Die vieldeutige Verwendung des Terminus ‚Mimesis‘ bei Platon muss zudem kein Makel sein, schon gar nicht, wenn sie in nur kurzen Abständen erfolgt. Wenn es in der Philosophie heute beinahe schon zum guten Ton gehört, mit der Bedeutungsverschiebung einzelner Termini innerhalb eines Essays zu spielen, darf man dies auch Platons Dialogen zugestehen. Und vielleicht muss man es sogar. Es ist ja Sinn nahezu aller Dialoge Platons zu zeigen, dass es nicht auf das Wort als bestimmtes Lautzeichen ankommt, sondern auf das, was das Wort meint (man muss nur an die Definitionsreihen der Frühdialoge denken, in denen jede Definition ein gewisses Recht, aber meist nicht einen umfassenden Horizont hat). Ausgerechnet ein Wort nun, das die Medialität und die Vorläufigkeit der sinnlichen Welt und der Sprache selbst zum Thema hat – Mimesis – mit immer exakt derselben Bedeutung zu belegen, würde von einer philosophischen Humorlosigkeit zeugen, wie wir sie Platon nicht zuschreiben sollten. So soll im Folgenden gezeigt werden, wie Platon sich mit seinem Mimesis-Konzept vom traditionellen Verständnis von Dichtung löst (1.) und welche Implikationen der Mimesis-Begriff prinzipiell (2.), mit Blick auf die Dichtung allgemein (3.) und im viel zitierten 10. Buch der Politeia (4.) enthält. unkontrollierten Sinnlichkeit = Mimesiskonzept von Politeia 10; Betonung des Reichtums der Sinnlichkeit gegenüber der abstrakten Armut der Verstandesregel = Enthusiasmuskonzept). Die so durchgeführte Trennung von Sinnlichkeit und Verstand ist aber ein moderner, bewusstseinsphilosophischer Ansatz, der die Psychologie Platons nicht auch nur annähernd angemessen wiedergibt. Im Gegenteil, seine hausgemachten Probleme werden auf Platons Dichtungstheorie übertragen. Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dieser Thematik vgl. Verf.: Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen u. Basel 2000, bes. S. 1-130 und S. 255-365, sowie ders.: Psychologie und Poetik bei Platon, in: Antike und Abendland 47 (2001), S. 41-65.

Literatur und Mimesis bei Platon

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Platons Loslösung vom traditionellen Dichtungsbegriff Wenn Sokrates in der Politeia bzw. der Athener in den Nomoi sagt, die Dichtung, oder noch umfassender, das Chorlied mit Tanz oder die musischen Künste insgesamt (von denen die Dichtung nur eine Teilmenge ist) seien Darstellung (mímhsiß)2 von Menschen und Göttern, das heißt von deren Charakteren, Seelenzuständen und Handlungen,3 – und das heißt auch Darstellungen von Geschichten (mûqoi)4 – so wird damit eine erste Tendenz deutlich: Das Kriterium für Dichtung ist nicht mehr bloß formal die Verwendung eines bestimmten Metrums. Dichtung bestimmt sich nun vielmehr primär über den Inhalt, den Gegenstand der Darstellung. Selbstverständlich findet man bei Platon auch noch den traditionellen Poiesis-Begriff, der sich an das Versmaß bindet, aber nur an Stellen, an denen Platon die Gesprächsteilnehmer nicht grundsätzlich über Dichtung sprechen lässt; er folgt hier einfach dem allgemein üblichen Wortgebrauch.5 Dass das Metrum für Platon noch nicht einmal eine notwendige Bedingung von Dichtung ist, zeigt sich an den folgenden Passagen. Als Sokrates im 2. und 3. Buch der Politeia beginnt, die vorhandene Literatur im Hinblick auf deren Tauglichkeit zur Erziehung im Idealstaat zu sichten, nennt er die in Frage kommenden Texte nicht nur Dichtung (poíhsiß), sondern auch Geschichten (mûqoß) oder Reden (lógoß) und die Autoren entsprechend Dichter und Geschichtenerzähler (muqológoß, muqopoióß, logopoióß) und behandelt sie

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Zum Mimesis-Begriff bei Platon vgl. bes. Jonathan Tate: ‚Imitation‘ in Plato’s Republic, in: Classical Quarterly 22 (1928), S. 16-23; ders.: Plato and ‚Imitation‘, in: Classical Quarterly 26 (1932), S. 161-169; Hermann Koller: Die Mimesis in der Antike, Bern 1954, S. 15-68; Göran Sörbom: Mimesis and Art – Studies in the Origin and Early Development of an Aesthetic Vocabulary, Uppsala 1966, S. 99-175; Ulrike Zimbrich: Mimesis bei Platon – Untersuchungen zu Wortgebrauch, Theorie der dichterischen Darstellung und zur dialogischen Gestaltung bis zur Politeia, Frankfurt a.M. 1984; Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike, in: Verhandelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschapen, Afd. Letterkunde, N.R. 153 (1993), S. 43-65; und nun vor allem Stephen Halliwell: The Aesthetics of Mimesis, Princeton u. Oxford 2002, bes. S. 37-147. R. 603 c5-c10: Die Dichtung (mimhtikë) stellt Handlungen (práceiß) dar und das Glück und Unglück sowie die Lust und Unlust, die sich aus den Handlungen ergeben. Dasselbe ist gesagt in R. 392-403 passim (vgl. bes. 399 a5-c4), hier ist als Gegenstand auch häufiger der Charakter (Êqoß) genannt. Lg. 668 a6-a7: Die gesamte Musik inkl. Dichtung ist darstellend (mimhtikë); Lg. 655 d5, 798 d7-e3: Chorgesänge und Musik sind Darstellung von guten und schlechten Charakteren (mimëmata trópwn, mimëmata beltiónwn kai xeirónwn ˜nqrópwn); Lg. 812 b9-c8: Musik als Darstellung von seelischen Zuständen (páqh). Phd. 61 b4: Dichter müssen im Unterschied zu Philosophen Geschichten (mûqoi), keine rationalen Argumentationen (lógoi) hervorbringen. R. 377 d4-d6: Die Dichter fügen erfundene Geschichten zusammen (múqouß yeudeîß suntiqénteß). Zur Fiktivität der Dichtung vgl. unten S. 34ff. Vgl. z.B. Grg. 502 c5-c8, Smp. 205 b7-c8, Phdr. 258 d10, R. 387 b3-b4, Ly. 204 d3-d5.

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gleichberechtigt. Während der Gebrauch von poíhsiß im Zusammenhang mit Texten bei Platon (fast)6 immer Dichtung im Sinne von metrisch geformten Texten bezeichnet, ist die Verwendung der Termini mûqoß, lógoß und ihrer Derivate flexibel; sie können bei Platon Texte mit und ohne Metrum meinen.7 In der Politeia ist mit muqológoß in der Regel zwar einer der bekannten Dichter gemeint. Aber als Sokrates betont, dass ein Gott nur dargestellt werden darf als jemand, der gut und gerecht handelt, hält er fest, dass niemand Gegenteiliges hören oder sagen darf, weder Jung noch Alt, „weder jemand, der mit Metrum, noch jemand, der ohne Metrum Geschichten erzählt.“8 Dieser prinzipiellen Entkoppelung der untersuchten Texte vom Versmaß entspricht wohl auch die mehrfach auftretende, gedoppelte Formulierung „Dichter und Geschichtenerzähler“, wenn die untersuchten Autoren zusammenfassend genannt werden.9 Dass die Dichter im Vordergrund stehen, liegt an ihrer beherrschenden kulturellen Stellung in Athen und ganz Griechenland. Der Befund der Politeia bestätigt sich auch in Platons zweitem Staatsentwurf. Als der Athener über den Grammatikunterricht spricht und darüber, welche Texte dort zur Verfügung stehen, teilt er sie zunächst in die Texte ein, die (zur Lyra) gesungen werden und diejenigen, die nicht gesungen werden. Letztere „Lehrinhalte der Dichter“ (maqëmata poihtôn) seien wiederum zu unterteilen in diejenigen, die mit metrischen, und diejenigen, die ohne metrische Unterteilungen formuliert sind.10 Hier wird also sogar der Terminus poihtëß für einen – man kommt wohl nicht umhin zu sagen: literarischen – Text ohne Metrum gebraucht.11 6 7

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Zu den wenigen Ausnahmen siehe die Diskussion von Lg. 810 b4-c2 und 817 b1-d8 unten. Eine nützliche Zusammenstellung der Bedeutungsnuancen des Wortes mûqoß bei Platon jetzt bei Markus Janka: Semantik und Kontext: Mythos und Verwandtes im Corpus Platonicum, in: Markus Janka u. Christoph Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe, Darmstadt 2002, S. 2043 (wichtig dabei bes. S. 22-35 über die Verwendung des Terminus für die von den Gesprächspartnern vorgetragenen Positionen bzw. Geschichten, also indirekt auch für Platons Dialoge bzw. Partien derselben). R. 380 c1-c2 (mët’ ™n métrö mëte Áneu métrou muqologoûnta). Genauso R. 390 a1-a2: Die untersuchten Texte sind in Prosa oder als Dichtung (™n lógö Ç ™n poiësei) verfasst. R. 392 a13-b6: Dichter und Geschichtenerzähler (poihtaì kaì logopoioí) sagen oft das Falsche über die Menschen. Sie sollten das Gegenteil singen und erzählen (Ádein te kaì muqologeîn). R. 394 b9-c1: Eine der drei Darstellungsweisen – Berichten, dramatisches Darstellen und die Mischung aus beidem – kommt in jeder Art von Dichtung und Erzählung (poíhsiß te kaì muqología) vor. R. 398 a8-b1: Der ‚Allesnachahmer‘ ist aus dem Staat auszuweisen, der strengere und weniger dem Lustprinzip frönende Dichter und Erzähler ist hingegen beizubehalten (poihtçß kaì muqológoß). Es ist schwer einzusehen, warum sich Platon hier mehrfach eines puren Pleonasmus bedienen sollte. Bei dem Nebeneinander von Singen und Geschichten Erzählen könnte man freilich auch an eine Gegenüberstellung von gesungener und rezitierter Dichtung denken. Und des Rhythmus und der Harmonie entbehren, wie hinzugefügt wird (Lg. 810 b4-c2). Im Gegensatz dazu nimmt Aristoteles für sich in Anspruch, als erster das Gebiet der Literatur mit und ohne Metrum als poíhsiß bezeichnet zu haben (Po. 1447 b9).

Literatur und Mimesis bei Platon

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Auch wenn Platon seine Aussagen über Texte zumeist auf die traditionelle, metrische Dichtung bezieht, sei im Folgenden erlaubt, zur Beschreibung seiner Ansichten außer auf die Ausdrücke ‚Dichtung‘ und ‚Dichtungstheorie‘ auch auf die Wörter ‚Literatur‘ und ‚Literaturtheorie‘ zurückzugreifen. Dadurch wird man der über die Dichtung hinausgehenden Dimension von Platons Aussagen besser gerecht. In diesem Begriff von Literatur ist eine Einschränkung dadurch enthalten, dass Platon als Gegenstände von Literatur Menschen und Götter sowie ihre Handlungen und Charaktere angibt; dass Literatur einen Gegenstand hat und welcher das ist, steht für ihn also außer Frage. Dass Platon in seinen Ausführungen zur Dichtung über die traditionelle Dichtung hinausschreitet, wird vor allem dann deutlich, wenn er Dialogfiguren über die eigene Rede oder die eigenen Gespräche reflektieren lässt, also gewissermaßen über sich selbst als Schriftsteller spricht; denn er selbst ist es ja, der den Figuren das Leben und ihre Reden einhaucht. Im 7. Buch der Nomoi – kurz nach der Frage, was im Grammatikunterricht gelesen werden soll und mitten in einer weiteren Diskussion um Dichtung und Musik, die für den Staat von Nutzen ist – setzt sich der Athener mit den Tragödiendichtern auseinander. Sie verstünden sich als Autoren, die nicht lächerliche, sondern ernste, hohe Charaktere darstellten und nennten sich daher ernste Dichter (spoudaîoi poihtaí). Diese Tragiker bieten sich dann – fiktiv – als Staatsdichter dem gesetzgebenden Gremium an, das folgende, ebenfalls fiktive Antwort gibt: Beste Fremdlinge, wir sind selbst Dichter [poihtaí] einer Tragödie, und zwar, soweit es geht, der schönsten und besten zugleich: Denn die ganze Staatsverfassung ist in ihrer Zusammenstellung die Darstellung des schönsten und besten Lebens [mímësiß toû kallístou kaí ˜rístou bíou], was wir daher die eigentliche, wahrste Tragödie nennen. Dichter seid also ihr, Dichter (poihtaí) sind aber auch wir, über dieselben Themen, und wir sind für euch Rivalen und Gegenspieler um das schönste Drama (˜ntagwnistaì toû kallístou drámatoß).12

Schon kurz vorher hatte der Athener das Gespräch der drei Gesetzgeber als eine Art Dichtung bezeichnet und die Reden und ihre Inhalte als Gradmesser für gute Schullektüre vorgeschlagen.13 Das geht über eine bloße Analogie in der Verwendung des Wortes ‚Dichtung‘ weit hinaus. Die Gesprächspartner – und damit, wie man wohl vermuten darf, auch Platon selbst – halten sich für Dichter (genauer gesagt, wegen des Gegenstandes ihrer Gespräche, sogar für 12

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Lg. 817 b1-b8 (übersetzt durch den Verfasser). Diese Stelle kann als Musterbeispiel der Selbstaussagen Platons über seine Dialogdichtung gelten. Zur Interpretation der wichtigsten dieser Stellen siehe Konrad Gaiser: Platone come scrittore filosofico, Neapel 1984; Joachim Dalfen: Polis und Poiesis, München 1974, S. 313-325. Lg. 811 c6 – 812 a1: Neben den Reden in den Nomoi werden als Vorbild für die Schullektüre alle Schriften empfohlen, die „mit diesen Reden in Übereinstimmung sind (˜delfà toútwn tôn lógwn).“ Man geht wohl nicht zu weit, wenn man darunter die Dialoge Platons insgesamt versteht.

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tragische Dichter); und zwar deswegen, weil sie gute menschliche Lebensweisen darstellen. Dass diese Lebensweisen eher statisch als Entwicklungstypologien der Bürger mitsamt deren Rahmenbedingungen in Szene gesetzt werden, fällt dabei offenbar nicht entscheidend ins Gewicht.14 Deutlich wird dadurch, dass Platon seine Dialoge gemeinsam mit der traditionellen Dichtung als etwas Einheitliches und Untersuchenswertes versteht, das sich nicht am formalen Kriterium des Versmaßes festmacht, sondern an der Darstellung, der Mimesis von Menschen und Göttern. Seine allgemeinen Aussagen zu dieser Textsorte sind daher mehr eine Literatur- als eine Dichtungstheorie. Da der Begriff ‚Mimesis‘ bei dieser für die Antike neuen Abgrenzung so wichtig ist, sollen nun dessen wesentlichen Nuancen im Corpus Platonicum umrissen werden, auch dort, wo sie über die Bezeichnung des rein Literarischen hinausgehen (Vollständigkeit kann hier nicht angestrebt werden). Danach soll die Betrachtung wieder auf Mimesis als Bezeichnung von Literatur eingeschränkt (3.) und zuletzt die spezielle und immer wieder zitierte Verwendung des Wortes im 10. Buch der Politeia untersucht werden (4.). Bild und Mimesis Wenn man verstehen will, was bei Platon Mimesis allgemein bedeutet, so ist es empfehlenswert, auch den Begriff des Bildes (eÍdwlon, eœkýn) mit zu berücksichtigen. Denn Mimesis wird in seinen verschiedenen Ausprägungen immer wieder auch als Erzeugung von (Ab-)Bildern (eœdwlopoiía, ˜peikasía) bezeichnet.15 Im Dialog Sophistes löst die Frage, was ein Bild ist, eine breite Diskussion über Sein und Nicht-Sein und deren mögliche Verflechtungen aus. Bildhaftigkeit (und damit auch Mimesis) ist dadurch thematisch in einem zentralen Gebiet der platonischen Philosophie positioniert – der Frage nach den intelligiblen Voraussetzungen der Welt und deren Verflechtungen untereinander (sumplokç eœdôn). Als allgemeine Definition für „Bild“ gibt Theaitetos an, dass es etwas Verfertigtes ist, das seinem Vorbild (dem „Wahren“) ähnlich ist, indem es so beschaffen ist wie dieses, zugleich aber 14

15

Auch die Politeia wird in dieser statischen Weise als beste Dichtung verstanden, siehe hier in Abschnitt 3. Dass Platon die Differenz indes klar ist, zeigt sich in Ti. 19 b3-20 c3, wo Sokrates die Schilderung des Staatsentwurfes in der Politeia als schön, aber undynamisch beurteilt und von den Gesprächspartnern als Gegengabe erbittet, diesen Staat auch in Aktion zu zeigen. Kritias will Sokrates den Gefallen tun und der nach ihm benannte Dialog hat mit dem Kampf von Urathen gegen Atlantis auch genau dieses handlungsforcierende, epische Thema. Am eindeutigsten formuliert ist dies in Sph. 265 b1, wo Mimesis (hier ganz frei von irgendwelchen Konnotationen gebraucht) als „eine bestimmte Art von Hervorbringen, und zwar die von Bildern“ (mímhsiß poíhsiß tíß ™stin, eÍdýlwn méntoi) definiert wird. Siehe aber auch R. 599 d3, 601 b9, 605 c3 (für den kritisierten Mimeten), Criti. 107 b5-d5, Lg. 668 b9-c2 (Zusammenrückung von mímhsiß und ˜peikasía).

Literatur und Mimesis bei Platon

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auch davon verschieden.16 Durch die Nachfrage, ob das Bild als Nicht-Wahres auch nicht-seiend sei, ergibt sich die Präzisierung, dass ein Bild zwar nicht wirklich das ist, wovon es ein Bild ist, dass es aber wirklich ein Bild vom Vorbild ist, also auch nicht reines Nicht-Sein.17 Anders-Sein als Art des NichtSeins ist also eine notwendige Bedingung von Bildhaftigkeit. Ein Bild, das sich in nichts von seinem Vorbild unterscheidet, ist in Wirklichkeit kein Bild, sondern das Vorbild selber.18 „Ähnliches“ wiederum bestimmt sich als etwas, das etwas Selbes (wie ein Anderes) als Eigenschaft oder Merkmal besitzt.19 Mimesis ist somit, im abstraktesten Sinn, die Bezeichnung für die Herstellung einer solchen Ähnlichkeit (ein Abstraktum, das Platon, wie das Folgende zeigen soll, freilich in sehr verschiedenen Weisen konkretisiert). Das Besondere an Platons Verwendung des Bild- und Mimesis-Begriffes ist nun, dass er unter Bild nicht ausschließlich etwas versteht, das in den wahrnehmbaren Bereich gehört. So werden im Höhlengleichnis die Gestirne und die Sonne außerhalb der Höhle auf dem Wasser gespiegelt und diese Reflexionen ausdrücklich Abbilder (eÍdwla) genannt. Im Zusammenspiel mit dem Liniengleichnis lässt sich das nur so verstehen, dass wir damit etwas vor uns haben, das zum intelligiblen Teil der Welt gehört, also in den Bereich des nur Denkbaren, Nicht-Wahrnehmbaren, das zugleich aber in dessen unteren Abschnitt fällt, also in den Teil des Denkbaren, den Platon als dianoetischen dem noetischen Bereich unterordnet. Vermutlich sind damit die mathematischen Sachverhalte gemeint, zum Beispiel die Inhalte von Arithmetik und Geometrie.20 Was das im Einzelnen bedeuten könnte, mag in den Diskussionen über die Verflechtung der Ideen im Sophistes und in der zweiten Hypothesis des Parmenides angedeutet sein. Dort wird unter anderem untersucht, welche Begriffe beim Denken immer schon vorausgesetzt sind (Einheit, Sein, Identität, Verschiedenheit usw.) und was diese Begriffe wiederum implizieren; denkbare Gruppierungen dieser Begriffe, als reine Vielheiten betrachtet, implizieren zum Beispiel bestimmte Vielheit 16

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Sph. 240 a7-a8: „eÍdwlon Àn faîmen eÎnai plën ge tò pròs t˜lhqinòn ˜fwmoiwménon ‚teron toioûton“. Zur Ähnlichkeit vgl. auch Lg. 667 c10ff.: Alle abbildenden Künste sind Hervorbringung von Ähnlichem (tôn ¦moíwn ™rgasíä), Sph. 266 d7: Die Abbildungskunst ist das Erzeugen von Ähnlichem (tò ¦moiwmátwn génnhma), R. 377 e1-e3: Ziel des Abbildens ist es, „†moia“ zu erstellen, und 395 c5: das Nachahmen ist ein „¦moioûn“ (hier: ein ‚mimeîsqai‘, bei dem man sich einem anderen in Rede und Bewegung angleicht). Sph. 240 b11-b13: „o¬k Òn Ára o¬k Óntwß ™stìn Óntwß ºn légomen eœkóna“. Das stellt Sokrates in Cra. 432 b5-d3 klar. So Parmenides im gleichnamigen Dialog innerhalb der Diskussion über die Voraussetzungen des Denkens und die Relation dieser Voraussetzungen zueinander, Prm. 139 e8: „tò ta¬tón pou peponqòß †moion“, vgl. auch Prm. 140 a7-b1. Vgl. die Auflösung des Höhlengleichnisses nach der Explikation der mathematischen Wissenschaften in R. 532 b6-d1 und Konrad Gaiser: Platons Zusammenschau der mathematischen Wissenschaften, in: Antike und Abendland 32 (1986), S. 95.

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wie das Zweifache und das Dreifache, das Geradmalige und das Ungeradmalige und somit überhaupt alle natürlichen Zahlen. Auf dieses – hier nicht näher ausführbare – Abhängigkeitsverhältnis der Zahlen von höheren Denkvoraussetzungen dürfte auch Aristoteles’ Aussage zielen, nach Platons Lehre entstünden die Ideen bzw. die Zahlen durch Teilhabe am Einen, wobei Teilhabe (méqeciß) und Mimesis (mímhsiß) bedeutungsgleich seien.21 Um der Deutlichkeit willen sei ein einfaches Beispiel gewählt: Der Zahl 4 kommt zum Beispiel das Doppeltsein zu. Das Doppeltsein meint etwas wie „Eine Einheit sein, die aus der Zusammensetzung einer bestimmten Einheit mit sich selbst entsteht“. Sofern die 4 eine Zusammensetzung der 2 mit sich selbst ist, erfüllt sie diese Bedingung, hat als vom Doppeltsein Verschiedenes das Doppeltsein doch an sich. Sie ist aber nicht das Doppeltsein selbst, da sie nicht immer und nur doppelt, sondern auch die Hälfte von 8, ein Viertel von 16, eine Zahl usw. ist. Die Zahl 4 ist zugleich nur eine Instanz des Doppeltseins, das Bedingung der Möglichkeit alles Doppelten – also beispielsweise auch der Zahlen 2, 6, 8, 10 usw. ist. Das Doppeltsein als Bedingung alles Doppelten ist zugleich auch dessen Hervorbringer. Diese sachliche Genealogie berechtigt Platon dazu zu sagen, die 4 sei ein Abbild des Doppeltseins.22 Man kann sich natürlich fragen, was diese mathematischen Beispiele mit unserer Frage nach Dichtung und Literatur zu tun haben. Zum einen wird dadurch deutlicher, was der Mimesis-Begriff bei Platon allgemein, in allen seinen Anwendungen, bedeutet, zum anderen wird die Stoßrichtung klarer, von der her es zu den verschiedenen Bewertungen der Mimesis kommt. Während bei den mathematischen Inhalten Ausgangs- und Endpunkte im Denkbaren liegen, gibt es auch Mimesis von Intelligiblem im Wahrnehmbaren – etwa die Darstellung von Charakteren in den Handlungen der Dichtung – sowie die Nachahmung von Wahrnehmbarem in Wahrnehmbarem, zum Beispiel das möglichst naturgetreue Abbild eines Körpers auf der Leinwand oder auf einer Photographie, oder eben das in Politeia 10 gebrandmarkte Herumrennen mit einem Spiegel. Je mehr Vor- bzw. Abbild in das Wahrnehmbare rücken, desto höher ist, so Platon, die Gefahr, dass erstens etwas abgebildet wird, das nicht von Interesse und Gewinn für den Rezipienten ist (Warum soll ich das Spiegelbild eines Körpers anschauen, wenn ich den Körper auch direkt sehen kann? Gibt es nicht interessantere Aspekte an diesem Objekt als seine Form und Farbe?), dass zweitens die Möglichkeit zu einer falschen Abbildung besteht (die etwa bei der 4 als Abbild des Doppeltseins ganz ausgeschlossen ist). Bevor wir zu 21 22

Arist. Metaph. 987 b10-b13 und b20-b22. Als beliebig herausgegriffene Beispiele für den Terminus ‚Mimesis‘ als Abhängigkeitsverhältnis in der Mathematik in der Nachfolge Platons s. Procl. in Euc. 4,24-5,2 und Dam. Pr. §195 (II,76,8 ed. Ruelle).

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den Bildern, die im Bereich des Wahrnehmbaren liegen, und damit auch zur Literatur kommen, seien neben den mathematischen Bildern kurz noch zwei andere von Platon erwähnte Arten von Mimesis genannt, bei denen das Produkt im Intelligiblen verbleibt: Gegen Ende seines Exkurses über die musische Erziehung in der Politeia spricht Sokrates davon, dass man die Abbilder (eœkóneß) der Ideen der Besonnenheit, der Tapferkeit, des Freimutes usw. im Kleinen wie im Großen nicht geringschätzen dürfe. Als Beispiele solcher Abbilder nennt er dann unter anderem schöne Charakterzüge der Seele (™n tñ yuxñ kalà Ëqh).23 Ganz ähnlich wird im 6. Buch der Politeia dem Philosophen und Staatslenker die Fähigkeit zugesprochen, sowohl die Charaktere der Bürger (˜nqrýpwn Ëqh) als auch seinen eigenen Charakter nach dem Vorbild der Ideen zu bilden; letzteres wird mit der Formulierung „Nachahmen und möglichst ähnlich machen“ (mimeîsqai te kaì †ti málista ˜fomoioûsqai) ausgedrückt.24 Bezeichnenderweise wird diese politische und pädagogische Aufgabe des Regenten „schönste Zeichnung“ (kallísth grafë) genannt und sogar beschrieben, wie der Philosoph, indem er bald auf die Ideen der Gerechtigkeit, Besonnenheit usw. schaut, sich bald den empirisch antreffbaren Bürgern zuwendet, versucht, mit Hilfe seiner intelligiblen Palette den Menschen die besten Charakterzüge einzumalen.25 Neben dieser mikrokosmischen Mimesis, die eine gute Einzelseele zum Ergebnis hat, führt Platon im Timaios das makrokosmische Pendant an, die Erzeugung der Welt durch den demiurgischen Schöpfergott, den Hervorbringer und Vater des Alls (poihtçß kaì patçr toû pantòß). Die Welt wird dabei als Abbild (eœkýn) des Intelligiblen bezeichnet.26 Der prominente und leitende Teil der Welt ist aber die nicht wahrnehmbare (˜óratoß) Weltseele, deren Erzeugung aus drei der schon genannten Denkprinzipien (Sein, Identität, Verschiedenheit) abgeleitet wird.27 Wie der Weltschöpfer die Weltseele und die dazugehörigen Körper schafft, so erzeugen die Dichter, wenn sie kreativ und nicht bloß oberflächlich schreiben, ihre Charaktere und die dazugehörigen (wahrnehmbaren) Handlungen.28 Diese Produkte von Mimesis, die im wahrnehmbaren Bereich liegen, sollen im Folgenden betrachtet werden.

23 24 25 26 27 28

R. 402 b9-d5, in 401 a8 fällt dafür auch der Ausdruck mimëmata. R. 500 c5. R. 500 d10 – 501 c3. Ti. 28 c2-29 b2. Ti. 34 b10-37 c5. Aus Smp. 209 a1-e4 kann man Vergleichbares als Platons Meinung erschließen. Dort werden die Schriftsteller gemeinsam mit anderen „Demiurgen“ zu denjenigen gerechnet, die viele schöne Werke hervorbringen, die ihre Rezipienten mit Gerechtigkeit und Besonnenheit füllen können. Sie werden „erfinderisch“ (e©retikoí) genannt, was man mit „kreativ“ wiedergeben kann, solange man darunter keine autonome Art von geistiger Schöpfung versteht, wie sie etwa das 18. Jahrhundert für den Künstler anzunehmen beginnt.

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Einordnung der Dichtung als Mimesis Die allgemeinste Verwendung des Terminus ‚Mimesis‘ für das Hervorbringen von Bildhaftem im wahrnehmbaren Bereich finden wir im Sophistes. Hier wird jede Art von Hervorbringen in eigentliches Hervorbringen – dem Bauen eines Hauses, der Erzeugung von Obst und Gemüse usw. – und in das Hervorbringen von Bildern (eœdwlopoiikë, mímhsiß) unterteilt. Bei der Abbildungskunst gibt es keinerlei Einschränkung des Mediums, entsprechend werden als Produkte Statuen und Gemälde, aber auch jede Art von nachahmender Bewegung, Handlung und Rede genannt (da dort der Sophist vom Philosophen unterschieden werden soll, sind Handlung und Rede auch nicht auf dichterische Darstellung eingeschränkt).29 Auf Künstler im modernen Sinn und Artefaktehersteller bezogen ist der Begriff ‚Mimesis‘, ähnlich wie im Sophistes, auch im 2. und 3. Buch der Politeia, wo unter die Mimeten (mimhtaí) – ohne negative Konnotation – Maler, Musiker, Dichter, Rhapsoden, Schauspieler, Tänzer, Schmuckhersteller, Sticker, Architekten und andere gezählt werden können.30 Eine Unterart dieser Abbildungskunst erhält, wieder in beiden Dialogen, ebenfalls den Namen ‚Mimesis‘. Sie wird als jegliches Nachahmen bestimmt, das als Medium den eigenen Körper zur Hilfe nimmt; im Sonderfall der Dichtung ist damit die Darstellungsweise des Dramas gemeint.31 Dichtung und Literatur allgemein, nicht nur die dramatische, sind nun Abbildung im Medium der Sprache. Die Sprache allein ist aber kein Kriterium, das zur Bestimmung hinreicht. Hier sorgen erst die zu Beginn genannten spezifischen Gegenstände der Literatur (Charakter, Handlung usw.) für Klarheit. Diese Texte können zudem von Rhythmus, Melodie und Tanz begleitet sein.32 Von Mimesis kann Platon hier wegen der Korrelation von Charakter und Handlung sprechen.33 So ist diese einzelne gerechte Handlung – wenn man etwa, um ein Beispiel aus dem 1. Buch der Politeia aufzugreifen, einem Bekannten ein von ihm hinterlegtes Schwert auf seine Aufforderung hin zurück29

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Sph. 235 c8-236 c8, 267 a1-c7. Einen ähnlich weiten Sinn umfasst Mimesis in Cra. 423 al425 b4, wo bei der Suche nach der Bestimmung, was für eine Art von Mimesis das Benennen durch Worte ist, symbolische Gesten, Klang- und Bewegungsimitationen, Musik, Malerei und Redekunst als Mimesis bezeichnet werden. R. 373 b5-c1, 401 a1-a9. Sph. 267 a7-a8, vgl. R. 393 c5-c6, 397 b1, Cra. 423 c11-d10. Unterscheidungen hierzu finden sich besonders in R. 398 b7-d9 sowie in der Untersuchung der bezüglich der Mittel komplexesten musischen Darstellung, des Chores als vom Tanz und Instrumenten begleiteten Liedes, im 2. Buch der Nomoi (653 c7-673 d9, bes. 653 e3-654 b5, 669 b5-670 a2, 672 e1-673 b1). Besonders deutlich wird dies in R. 400 c7-e4: Aus dem Charakter (Êqoß), so Sokrates, folgen erst die sprachlichen Äußerungen, von denen wiederum die Wahl von Rhythmus (ÿuqmóß), Melodie (¡rmonía) und Körperhaltung (sxêma), etwa beim Tanz, abhängig ist.

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gibt – zwar eine Ausdrucksmöglichkeit dieses gerechten Charakters des Sokrates, aber nicht die einzige (wie die 4 eine, aber nicht die einzige Instanz des Doppeltseins ist). Unter anderen Umständen, zum Beispiel bei einem wahnsinnig gewordenen Pfandgeber, wäre dieselbe Handlung wegen der Gefahr für die Allgemeinheit sogar ungerecht (wie die 4 in Hinsicht auf die 2 zwar ein Doppeltes, in Hinsicht auf die 8 zugleich aber auch ein Halbes ist). Die Mimesis des Dichters besteht also nicht zum Mindesten in dem Wissen des Dichters darum, wie dieser bestimmte Charakter in dieser speziellen Situation agieren dürfte. Inwieweit Mimesis zur Zeit Platons bereits ein kunsttheoretischer Ausdruck war oder es durch ihn erst wurde, ist nicht völlig klar. Dass das Wort für künstlerische Betätigungen und Produkte gebräuchlich war, ist hingegen deutlich belegbar.34 Bei seiner Beschreibung, was Literatur und Kunst überhaupt leisten soll, gibt Platon auch Maßstäbe an die Hand, die das Erzeugen von Bildern vom eigentlichen Hervorbringen unterscheiden. Denn die Produkte beider Künste können identisch sein – ein Haus kann gebaut sein, um es als Schutz vor Wind und Regen zu nutzen, es kann zugleich aber auch ein Repräsentationsobjekt sein, zum Beispiel um den Einfluss einer Familie, eines Staatsoberhauptes oder einer Religion deutlich zu machen. Ziel der musischen Künste ist es nun, nach Platon, die Menschen zur Liebe zum Schönen, Guten und Gerechten zu führen, und zwar dadurch, dass schon die jungen Menschen die Instanzen des Schönen (das heißt vor allem der verschiedenen seelischen Tugenden) immer wieder als schön erkennen und sehr genau bemerken (gnwrízein, ¤cútata aœsqánesqai),35 um für die spätere, rationale Begründung ihres (Vor-)Urteils vorbereitet zu sein. Dabei fordert Platon nicht nur, in der Kunst die Darstellung verschiedenster guter Charaktere in den Vordergrund zu stellen, sondern sogar, Häuser und Geräte aller Art (primär Produkte eigentlichen Hervorbringens) so zu gestalten, dass ihre Wohlgeformtheit gleichzeitig als ein Verweis auf das Schöne fungieren kann.36 Allgemein formuliert liegt eigentliches Hervorbringen also dann vor, wenn jemand etwas herstellt oder tut um dessen selbst willen, dagegen abbildendes Hervorbringen dann, wenn jemand etwas herstellt oder tut um der Erkennbarkeit der Ähnlichkeit des Hergestellten oder Getanen mit etwas Anderem wil-

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Lg. 668 b9-c3: „Dies dürfte bei der musischen Kunst gewiss jeder zugeben, dass alle ihre Erzeugnisse (poiëmata) Nachahmung und Abbildung (mimhsíß te kaì ˜peikasía) sind. Würden sich darin nicht alle Dichter, Zuhörer und Schauspieler einig sein?“ – „Ja, sehr.“ – Zu den Bedeutungen vom Wort ‚Mimesis‘ (und verwandten Ausdrücken) vor Platon vgl. Koller: Mimesis (Anm. 2); Sörbom: Mimesis and Art (Anm. 2), S. 41-77; Gerald F. Else: ‚Imitation‘ in the Fifth Century, in: Classical Philology 53 (1958), S. 73-90; Halliwell: Aesthetics (Anm. 2), S. 15-22. R. 401 e3, 402 c5. R. 401 a1-d3.

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len. Ein Abbild ist demnach immer ein Abbild von etwas für jemanden – und sei es nur für den Abbildenden selbst.37 Denkt man diesen Gedanken weiter, so müsste Platon zwischen potentiellen Bildern – etwa der Spiegelung der Landschaft in einem einsamen Waldsee, die von niemandem bemerkt wird – und aktualen Bildern unterscheiden – wenn etwa ein Wanderer an diesen Waldsee gelangt. Im Grunde kann dann jeder Gegenstand zum Bild werden. So ist ein von einem Obstbauern (eigentlich) produzierter Apfel zunächst kein Bild. Er kann aber, wenn seine Ähnlichkeit zum Beispiel zur Erdkugel bemerkt wird, zu einem Bild für die Erde werden (in dieser Hinsicht dürfte Platon also auch keine Probleme mit dem Kunstcharakter von Ready-mades haben). An dieser Unterscheidung von potentiellem und aktualem Bild wird bereits dasjenige Kriterium deutlich, das für Platons Bewertung von Literatur und Mimesis von entscheidender Bedeutung ist: Ein Bild hat für ihn den inhärenten Auftrag, Erkenntnisse des Bildners an den Rezipienten zu vermitteln. Mit Blick auf einen Staatsentwurf und die charakterliche Formung der Bürger ergeben sich aus diesem Bildbegriff mindestens zwei für eine Bewertung wichtige Fragestellungen: Was soll dargestellt werden (Wahrnehmbares, Triviales, Intelligibles)? Und: Wie wird es richtig dargestellt? Mit diesen Fragen geht ein weiteres Bewertungskriterium einher, das für Platon nicht von den Fragen nach dem Erkenntnisgehalt der Literatur getrennt werden kann. Für ihn ist jede Form des Erkennens – angefangen bei dem Wahrnehmen von Qualitäten wie ‚gelb‘ oder ‚rund‘ über die Gegenstandswahrnehmung und das imaginierende Vorstellen bis hin zum Urteilen und Denken – mit einer je spezifischen Lust und Unlust verbunden; umgekehrt gibt es für ihn keinen Affekt, der nicht das Resultat eines komplexen Zusammenspieles von Erkenntnisleistungen ist.38 Das aber bedeutet, dass jede Darstellung über ihren jeweiligen Erkenntnischarakter zugleich auch emotionale Komponenten mittransportiert, und das wiederum heißt, dass es demgemäß im Grunde keine künstlerische Darstellung gibt, die nicht auch eine (wie immer geartete) ethische Relevanz hat, nach der Platon dann auch fragt.39 37

38 39

Die Intentionalität des platonischen Bildbegriffes wird auch im Vergleich der bildenden Kunst mit der Musik in Lg. 668 b8 – 669 b8 deutlich. Ein guter Beurteiler von Kunst, so der Athener dort, müsse über drei Kriterien verfügen: er muss wissen, wovon das Bild ein Abbild ist, ob es richtig abgebildet und ob es einen (ethisch) guten Inhalt hat. Der erste Punkt wird umschrieben als Kenntnis darüber, „was das Kunstwerk intendiert“ (tí pote boúletai). Zu diesen Aspekten der Psychologie Platons vgl. ausführlich Verf.: Literaturtheorie (Anm. 1), S. 18-130. Besonders deutlich macht dies der Athener in Lg. 653 b1-c4 klar: Die Erziehung (paideía) ist eine lebenslange Aufgabe der Kultivierung von Lust und Unlust hin zur Lust am Gerechten, dadurch, dass man die Erkenntnisfähigkeit, den „Blick“ für richtige und falsche Verhaltensweisen schärft; allerdings selten und erst spät durch Belehrung, in der Regel vielmehr durch

Literatur und Mimesis bei Platon

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Ein völlig autonomes Feld der Kunst kann es für Platon also nicht geben – allerdings nicht aufgrund eines sinnesfeindlichen, ethischen Rigorismus, sondern aufgrund von erkenntnistheoretischen und psychologischen Erwägungen, die bei der Betrachtung der Platonischen Kunsttheorie gebührend in Betracht gezogen werden müssen, um sie angemessen würdigen zu können. Dagegen wird Platons Mimesis-Begriff nur allzu häufig auf seine Verwendung im 10. Buch der Politeia eingeengt, das heißt auf eine Mimesis, die Vorbild und Abbild im wahrnehmbaren Bereich sucht. Diese Art von Mimesis macht im Corpus Platonicum, wie vielleicht schon deutlich werden konnte, aber nur einen kleinen Teil des Spektrums aus, für das Platon den Terminus ‚Mimesis‘ verwendet. Dass die Interpretation, Platon verwerfe mit seinen Betrachtungen im Schlussbuch seines Staatsentwurfes jede nur mögliche Kunst, zudem bei genauer Betrachtung des Textes keinen Bestand hat, soll der nächste Abschnitt (4.) zeigen. Zuvor sollen jedoch einige Beispiele, gerade auch aus der Politeia, angeführt werden, in denen Platon auf das positive Potential hinweist, das Kunst und Literatur für das kulturelle Leben und sogar für das Leben in (s)einem Idealstaat haben können. Die Bücher 2 und 3 der Politeia beschäftigen sich ja deswegen so intensiv mit der musischen Erziehung und damit mit Literatur und Dichtung,40 weil sie das ethische Fundament bildet, auf dem das ganze Staatsleben und auch die Fortbildung der Wächter zu den Philosophenherrschern basiert. Die musische Erziehung ist – wenn sie gemäß Platons Maßstäben gut eingerichtet ist – für die Staatenlenker sogar Garant der bestehenden Ordnung, ein ‚Bollwerk‘ (fulaktërion) gegen Verschlechterungen.41 Schon von daher wäre eine Ausschließung jeder Kunst aus dem Staat, auch als Gedankenexperiment, ein absurder Gedanke. In Übereinstimmung damit wird auch der Einsatz von Kunst im Staatsentwurf der Nomoi geregelt (vor allem 2. und 7. Buch). Noch stärker als in der Politeia betont Platon hier, dass die Bürger jeden Alters auf die richtigen Gesänge und Tänze (die mehrfach als Mimesis bezeichnet werden) zur Wahrung einer guten Seelenverfassung angewiesen sind, und schlägt daher Chöre für verschiedene Altersstufen vor. Sie sollen sich beständig im Singen

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Kunst, bei der man unvermerkt, durch das sympathetische Miterleben des Schicksals anderer, den guten Charakteren anverwandelt werden soll (vgl. auch R. 395 b8-d3, 401 b1-d3). Die musischen Künste bedeuten immer zugleich auch Dichtung, da nach Platon die den Charakter darstellende Rede das Primat vor den anderen Mitteln haben soll (R. 400 c7-e4, siehe Anm. 33), er verbittet sich sogar pure Instrumentalmusik (Lg. 669 b5-670 a3). Vgl. R. 423 e4-425 a7, wo die grundlegende Bedeutung der musischen Erziehung noch einmal zusammengefasst wird. Ebenso R. 522 a4-b1 im Rückgriff auf 401 d4-402 a6: Die musische Bildung formt durch Gewöhnung eine Wohlgestimmtheit der Seele, die dadurch dem Guten und Richtigen befreundet ist, das sie erst später mit der Vernunft als solche erkennen kann. Dass nicht die Anwesenheit von Kunst überhaupt, sondern die Veränderung von guter zu schlechter Kunst zu einem Verfall der betroffenen Gesellschaften führt, betont Platon immer wieder (R. 424 b3-c7, Lg. 656 d1-657 c2, 700 a3-701 d5, 797 a7-800 b3).

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von Liedern üben. Als Beispiel dieser ausführlichen Würdigung der Rolle der Musik für den Staat sei nur ein kurzer Ausschnitt zitiert:42 ATHENER: Stimmen wir nun über das vorhin Gesagte überein? KLEINIAS: Worüber? ATHENER: Daß es nötig ist, daß jeder, Erwachsener und Kind, Freier und Sklave, Frau und Mann und überhaupt die ganze Stadt nicht aufhören, der ganzen Stadt Gesänge über das vorzutragen, was wir eben durchgegangen sind,43 und zwar so, daß es sich immer wieder wandelt und große Vielfalt ermöglicht, so daß den Sängern eine Unersättlichkeit nach und Lust an den Hymnen entsteht. KLEINIAS: Wie könnte man nicht zugestehen, daß dies so gemacht werden muß?44

Auch wenn Platons Argumentationen in der Politeia von einem kritischen Impetus getragen sind und nur selten ein lobendes Wort über Homer und andere traditionelle Dichter verlieren,45 so stellt Platon doch ein Gegenmodell von guter Literatur vor. Wie wir an R. 500f. gesehen haben, vergleicht Platon den Philosophenherrscher mit einem Maler, der sich bei seiner „schönsten Zeichnung“ nach dem richtet, was Ideen wie Gerechtigkeit oder Besonnenheit ausmacht,46 und die Seelen der Menschen und den Staat möglichst gut einrichtet. Diese Art von Mimesis wird auch schon im 5. Buch der Politeia thematisiert. Glaukon fährt dort dem Sokrates in die Parade und fragt ihn, ob die gerechten Menschen und der gute Staat, den Sokrates entworfen hat, überhaupt Wirklichkeit werden könnten. Sokrates wehrt diesen Einwurf ab, indem er sagt, die Suche nach einem völlig gerechten Menschen (˜nçr ¦ teléwß díkaioß) – und wie er beschaffen sein dürfte, wenn es ihn gebe (oˆoß Àn eÍh genómenoß) – sei die Suche nach einem an der Gerechtigkeit selbst orientierten Ideal, die mit dem Ziel stattfinde zu prüfen, ob dieser gerechte Mensch glücklich oder unglücklich sei. Ob es diesen Menschen empirisch nachweisbar je geben werde, sei für die Richtigkeit der Prüfung zunächst einmal gar nicht relevant. Sokrates vergleicht sich und seine Schilderung vom guten Menschen und Staat mit einem Maler, der den schönsten Menschen malt (parádeigma oˆon Àn eÍh) und damit ein guter Maler bleibt, auch wenn er nicht zeigen kann, dass ein solcher Mensch existiert. 42

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Zur Diskussion der Musik in den Nomoi siehe vor allem Lg. 652 b1-673 d9, 796 e4-802 e11, 809 e2-817 e4. Eine ausführliche Würdigung von Platons Äußerungen zu Musik und Dichtung in den Nomoi findet sich bei Helene Harth: Dichtung und Arete – Untersuchungen zur Bedeutung der musischen Erziehung bei Plato, Frankfurt a.M. 1967, S. 142-209. Nämlich, dass der Gute glücklich, der Schlechte unglücklich ist. Lg. 665 b10-c9. Selbst in der Politeia gibt es aber affirmative Urteile: R. 383 a7-a8, 389 e4-e11, 390 d1-d6. Vor dieser Passage siehe 329 b6-c5, 331 a3-a10, 363 a7-e4, danach 404 b10-c9, 466 c2-c3, 468 c10-e3, 468 e8 - 469 a3, 501 b5-b7. Das meint keine irrationale ‚Schau der Ideen‘, sondern bedeutet z.B., dass er über die Vermögen der Seele, die Arten des menschlichen Erkennens, Fühlens und Wollens genaue Auskunft geben und diese Erkenntnisse erzieherisch anwenden können muss.

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Sokrates betont sogar, dass man durch künstlerische Mittel, hier die Sprache (tþ logþ), den Kern der Sache (˜lëqeia) noch viel besser treffen könne als durch die Tat (tþ Érgö), bei der empirische Hindernisse im Weg stehen. Die Dialogpartner haben also mit dem Mittel der Rede einen Menschen bzw. einen Staat dargestellt, wie es ihn empirisch gar nicht gibt. Wie der Philosophenherrscher waren sie mimetisch tätig, mit Orientierung an den Ideen der Gerechtigkeit, Besonnenheit usw. Da sie aber das abbildende Mittel der Sprache statt der eigentlichen Handlung verwenden, bringen sie keinen Menschen und keinen Staat, sondern eine sprachliche Darstellung derselben hervor, das heißt, nach dem Platonischen Verständnis von Dichtung und Literatur, dass sie dichterisch tätig sind.47 Noch viel mehr gilt das für Platon selbst, der diese Dialogfiguren über ihr eigenes Gespräch urteilen lässt. Schon in der Politeia, nicht erst in den Nomoi, zeigt sich Platon also davon überzeugt, der bessere Dichter zu sein. Er erfüllt seiner Ansicht nach seine eigenen Kriterien am besten, da er sich bei der Mimesis am intelligiblen Vorbild orientiert und dies im Wahrnehmbaren angemessen darstellt. Es wird hier mehr als deutlich, dass Platon nicht nur eine Mimesis kennt, die sich nach bereits empirisch Vorhandenem richtet, sondern auch eine, die Menschen darstellen kann, die es nicht nur nicht gibt, sondern die sogar nur mit Mühe realisierbar sind. Ob bei dem Vergleich auf der Ebene des Malers der Mensch mit dem schönsten Körper gemeint ist oder eine subtilere Schönheit, ist für die Deutung auf der Ebene der Unterredenden gleichgültig; hier sind in jedem Fall die schönsten Charaktere gemeint. Besonders interessant ist die Art und Weise, wie Sokrates das Produkt umschreibt – Ziel der Darstellung ist der gerechteste bzw. schönste Mensch, „wie beschaffen er sein könnte.“ Dieselbe Formulierung finden wir in Kapitel 9 der Aristotelischen Poetik, um die Literatur von der Geschichtsschreibung abzugrenzen. Während der Geschichtsschreiber Geschehenes mit all seinen Kontingenzen berichte (tà genómena), schildere der Dichter, was (aus einer bestimmten Charakterhaltung heraus)48 geschehen könnte (oˆa Àn génoito).49 47

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So spricht Sokrates in R. 501 e4 von einem „Staatsentwurf, den wir mit dem Mittel der Rede als Geschichte vorgestellt haben“ (muqologoûmen lógö, genauso, mit Verweis auf die Politeia oder alle Dialoge Phdr. 276 e1-e3). Dass Sokrates in R. 378 e7-379 a4, wo Homer und die anderen dafür gerügt werden, die Götter falsch darzustellen, sagt, er und die Gesprächspartner müssten keine eigene angemessene Dichtung vorweisen, da sie „im Moment“ (™n tþ parónti) keine Dichter seien, sondern Staatsgründer, kann diese Aussage nicht anfechten. Die Genannten sind keine eigentlichen Staatsgründer, sondern stellen den Staat nur mit der Rede dar. Hierin („im Moment“) heben sie sich von der traditionellen Dichtung dadurch ab, dass es ihnen um die „Frage nach einem Kriterium für die Beurteilung der Mythen“ geht. – Günter Figal: Die Wahrheit und die schöne Täuschung – Zum Verhältnis von Dichtung und Philosophie im Platonischen Denken, in: Philosophisches Jahrbuch 107 (2000), S. 301-315. Denn: Die Dichtung schildere mit dem, was geschehen könnte, eher ein Allgemeines; das bestehe aber darin, dass ein ganz bestimmter Charakter in einer bestimmten Situation seinem

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Noch Plotin steht in der Tradition dieser Formulierung, wenn er schreibt, der Zeus des Phidias sei nicht nach einem sinnlich-historischen Vorbild entworfen, sondern danach, wie beschaffen Zeus wohl aussehen dürfte (oˆoß Àn génoito), wenn er wahrnehmbar wäre.50 Das alles zeigt, dass Platon nur zu genau weiß, dass Kunst kein bloßes Abbild der Realität sein muss, sondern dass ihr sehr oft Fiktivität zukommt. Das wird in der Politeia auch durch den Gebrauch des Wortes yeûdoß (Lüge, Trug) und seiner Derivate deutlich. So werden die Werke der Dichter bald als yeûdoß im Sinne falscher, unangemessener Dichtung bezeichnet, bald bedeutet dasselbe Wort aber auch das Darstellen von Erfundenem, Fiktivem.51 Auch bei seinen Gleichnissen ist sich Platon der Fiktivität bewusst. Einmal lässt er Sokrates sogar ausdrücklich sagen, er erfinde ein ungewöhnliches Bild, weil es in der Welt nichts gebe, was sich für einen Vergleich eigne. Diese Art, Vergleiche zu machen, vergleicht er selbst wiederum mit der Tätigkeit von Malern, die aus verschiedenen Elementen Fabelwesen zusammenstellen; dabei kommt als Beispiel auch der für solche Mischwesen sprichwörtliche „Bockhirsch“ (tragélafoß) zu Ehren.52 Zu Beginn des Dialoges Theaitetos wird sogar die kreative Leistung, die man zum Verfassen dieses Dialoges braucht, selbst thematisiert.53 In der Fiktion des Dialoges wird die Unterhaltung des Sokrates mit dem Theaitetos nämlich – als ein von Eukleides verfasstes Schriftstück – von einem Diener vorgelesen. Im Vorspann berichtet Eukleides einem Freund, Sokrates habe ihm von diesem Gespräch erzählt und auf Anfrage immer wieder Details nachgetragen. Aus den Berichten (dihgëseiß) habe er dann ein dramatisches Gespräch (dialegómenon) gestaltet. Man kann also auch daher davon ausgehen, dass Platon um die Fiktivität seiner Dialoge wusste und sie bewusst einsetzte.54

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Charakter gemäß agiere (tþ poíö tà poîa Átta sumbaínei légein Ç práttein). Der genaue Sinn des Kapitelanfanges ist hochumstritten. Vgl. dazu besonders Arbogast Schmitt: Teleologie und Geschichte bei Aristoteles, Oder: Wie kommen nach Aristoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte?, in: Poetik und Hermeneutik 16 (1996), S. 528-563. Arist. Po. 1451 b4-b5. Enn. 5,8,1. Vgl. z.B. R. 377 d8 und e7, 382 c6-d3 mit 389 b7-c7 und 414 b8-415 d2 (edle Lüge). Die Fiktivität der Dichtung so festzuhalten, hat im Grunde seit Homer Tradition, siehe Miriam Carlisle: Homeric Fictions: Pseudo-Words in Homer, in: Nine Essays on Homer, ed. by Miriam Carlisle and Olga Levaniouk, Lanham 1999, S. 55-91. Vgl. dazu besonders Christopher Gill: Plato on Falsehood – not Fiction, in: Christopher Gill u. Peter Wiseman (Hg.): Lies and Fiction in the Ancient World, Exeter 1993, S. 38-87 (vgl. auch Anm. 56). R. 488 a4-a7, vgl. auch R. 515 a4 (das Höhlengleichnis als „unmögliches Bild“, eœkõn Átopoß). Vgl. die Analyse der Textebenen bei Hartmut Westermann: Die Intention des Dichters und die Zwecke der Interpreten – Zu Theorie und Praxis der Dichterauslegung in den platonischen Dialogen, Berlin u. New York 2002, S. 26-29. Natürlich ist die Aussage des Eukleides immer noch keine Aussage Platons, wir können aber, genau wie bei den Aussagen des Sokrates und des Atheners über die Gespräche in der Poli-

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Es ist also so, dass Platon nicht nur Fiktivität kennt, sondern auch deren Nutzen anerkennt. Nur über Fiktion ist die Literatur, die Platon für seinen Staat wünscht, überhaupt erreichbar. Wie noch genauer zu zeigen ist, grenzt er demgegenüber in Politeia 10 eine nur an der empirischen Realität orientierte Literatur ab; das heißt aber, dass bei ihm bereits die Aristotelische Trennung von historischer und dichterischer Wahrheit formuliert ist. Sogar die Wertung der Historie als unphilosophisch (bei Aristoteles) und der veristischen Kunst als trivial (bei Platon) hat vergleichbare Züge. Man hat versucht, aus den oben genannten Formulierungen des Aristoteles im 9. Kapitel der Poetik eine „Entdeckung der Fiktionalität“ zu erschließen, die über die hier für Platon erwiesene gewusste und gewollte Fiktivität dadurch hinausgeht, dass sie die Wahrheit der Dichtung von Bezugsfeldern außerhalb von ihr abkoppelt, zum Beispiel nicht nur von der historischen und physikalischen Wahrheit, sondern auch dergestalt, dass die Werke der Dichter nicht mehr auf „die von ihnen ausgehende Verhaltenssteuerung hin überprüft“ werden;55 das heißt, auf ethische oder auch metaphysische Implikationen der Dichtung. Eine solche Prüfung gibt es bei Platon zweifellos. Die Behauptung, dass es diesen Bezug bei Aristoteles nicht mehr gibt, sollte man aufgrund der Herkunft der Aristotelischen Formulierungen aus dem Platonischen Kontext (und nicht nur deshalb)56 nochmals überprüfen.

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teia und den Nomoi, davon ausgehen, dass Platon hier über seine eigenen Schriften urteilt. Alles andere würde die Dialoge nicht nur zum Spiel machen – dass sie das in gewisser Weise sind, wird aus der Schriftkritik im Phaidros deutlich –, sondern zum völlig unverbindlichen Spiel. Vgl. vor allem die ihr Anliegen präzise beschreibende Arbeit von Wolfgang Rösler: Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, in: Poetica 12 (1980), S. 283-319, bes. S. 308312 (Zitat S. 308; noch weiter geht Michael Franz: Von Gorgias bis Lukrez – Antike Ästhetik und Poetik als vergleichende Zeichentheorie, Berlin 1999, S. 128-141, der schon in Gorgias den Entdecker der Fiktionalität sieht). Meine unterschiedliche Verwendung der Wörter ‚Fiktivität‘ und ‚Fiktionalität‘ dient lediglich der Verdeutlichung des Gemeinten an genau dieser Stelle und lehnt sich nicht an eine spezielle Theorie an. Eine Übersicht über die gängigen Theorien zur Fiktionalität und einen Versuch eines neuen, integrativen Modells auf sprachhandlungstheoretischer Basis (mit dem mein Gebrauch der Wörter hier keine Übereinstimmung sucht) bietet jetzt Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, Berlin 2001. Aristoteles fordert wie Platon immer wieder (und gerade im 9. Kapitel der Poetik), die Charaktere sollten in der Dichtung ihrer Beschaffenheit gemäß handelnd und so ins Glück oder Unglück geratend geschildert werden, das heißt, es wird ein Bezug der Handlung zur charakterlichen Vorgabe ebenso eingefordert wie die ethische Stimmigkeit des Handlungsverlaufs. Auch das Unglück der tragischen Person wird als Konsequenz aus deren charakterbedingter Fehlhandlung angesehen, wobei nur der zu hohe Grad des Unglücks unser Mitleid hervorrufe. In der Politik (bes. 7,17 und 8,5-7) spricht sich Aristoteles im Rahmen der Jugenderziehung dafür aus, die jungen Menschen nur einer Auswahl von Literatur und musischen Mitteln auszusetzen, da sie sonst geschädigt würden; auch ihm muss also zugesprochen werden, dass er Kunst auf Verhaltenssteuerung prüfen will (auch die Katharsis der Poetik ist – bei aller Unabgeschlossenheit der Forschungsdiskussion darüber – wahrscheinlich unter diese Katego-

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Für Platon gilt es festzuhalten, dass selbst die Politeia voll ist von Äußerungen, die der dichterischen Mimesis ihr Recht zugestehen und Dichtung sogar für staatstragend halten. Platon müht sich zudem, die Möglichkeit einer die traditionelle Dichtung übertreffenden, weil auf philosophischer Erkenntnis basierenden Literatur, deren Autor über das Geschriebene rational Rechenschaft ablegen kann, nicht nur zu postulieren, sondern diese Literatur als von ihm bereits geschriebene aufzuweisen. Es ist also nicht nur der viel zitierte Kampf zwischen Dichtung und Philosophie, der hier geführt wird, sondern auch der zwischen traditioneller und neuer, philosophischer Dialogdichtung. Bei einem solchen Kampf muss der Gegner von seinen schlechten Seiten gezeigt werden, wenn man den Zuhörer aufrütteln will. Genau dies tut Platon im 10. Buch der Politeia, in dem er mit aller Schärfe gegen Homer und die ihm folgenden Tragiker vorgeht. Dass es hierbei nicht um eine Verwerfung jeder nur möglichen Dichtung oder gar Kunst geht, erhellt schon aus der Art von Mimesis, die dort angegriffen wird: Bei ihr liegen Vorbild und Abbild definitionsgemäß im Bereich des Wahrnehmbaren. Die von Platon bis dahin vorgestellten positiven Aspekte einer auf Intelligibles verweisenden Mimesis sind somit nicht in Frage gestellt. Es lohnt jedoch, sich mit der Dichtungskritik in Politeia 10 ein wenig genauer zu befassen, da man meines Erachtens auch textimmanent zeigen kann, dass es sich hier nicht um eine allgemeine Bestimmung von Literatur und daher auch nicht, wie Nietzsche meinte, um das Werk des „größten Kunstfeindes“ handelt, „den Europa bisher hervorgebracht hat.“57

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rie zu rechnen). Die für die Gegenstände der Literatur in der Poetik verwendete Begrifflichkeit – Charakter (Êqoß, diánoia), Handlung (prâciß), Affekt (páqoß), Glück (e¬daimonía) usw. – ist zudem an die ausführlichen Äußerungen der Aristotelischen Ethiken rückgebunden (vgl. die systematische Aufarbeitung bei Viviana Cessi: Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt a.M. 1987). – Autonomie und die Fiktionalität von Literatur (im von Rösler genannten Sinn) haben somit vermutlich weder in Platons noch in Aristoteles’ Literaturtheorie einen Platz. Dasselbe gilt für die literarkritischen Äußerungen Xenophons in Cyr. 2,2, der nach Michael Reichel: Eine übersehene Reaktion auf Platons Dichterkritik, in: Hans-Christian Günther u. Antonios Rengakos (Hg.): Beiträge zur antiken Philosophie, Stuttgart 1997, S. 105, der erste antike Autor gewesen sein soll, der fiktionales Erzählen gerechtfertigt habe. Wie Reichel (ebd. S. 103) richtig anmerkt, sollen nach Xenophon die Geschichten die Zuhörer zum Guten anspornen; also wird auch hier nach der Verhaltenssteuerung, die durch die Fiktion bewirkt wird, gefragt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Untersuchung von Gill: Plato on Falsehood (Anm. 51), S. 38-87, der (bes. S. 81-87) zu bedenken gibt, ob nicht der Begriff der Fiktionalität (bei ihm „fiction“), der auf der erst in der Neuzeit so strikt formulierten Voraussetzung eines gänzlich partikulären oder autonomen schreibenden Subjekts beruht, das von externen Bezugssystemen unberührt bleibt, auf antike Literatur prinzipiell nicht angewendet werden sollte, so dass Platons Haltung sich in dieser Hinsicht nicht vom antiken Denken über Literatur überhaupt unterscheide. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: Werke, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin 1968, VI.2, S. 420.

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Mimesis in Politeia 10 Zu Beginn des 10. Buches der Politeia rekurriert Sokrates ausdrücklich auf die Dichterkritik der Bücher 2 und 3, die für die Erziehung nur einen Teil der Dichtung zulässt. Die Einschränkungen bestehen dort in Regeln für die Darstellung der Inhalte, für die Darstellungsweisen und für die Darstellungsmittel. So sollen die Götter und Dämonen in der Literatur als gute Wesen und Verursacher von Gutem, als wahr und unwandelbar auftreten. Für die Menschen wird festgesetzt, dass sie, sofern sie gerecht sind, ein glückliches, sofern sie ungerecht sind, ein unglückliches Geschick haben sollten. Den Beweis für die Richtigkeit dieser Regeln meint Sokrates zwischen der Betrachtung der Dichter im 3. Buch der Politeia und dem Neueinsatz im 10. Buch erbracht zu haben. Gerade erst im 9. Buch war der Gerechte auf Basis der inzwischen erarbeiteten Psychologie mit dem Ungerechten verglichen worden, mit eben diesem Ergebnis. Das motiviert auch den Neueinsatz in Buch 10: Was vorher nur als Vermutung geäußert worden war, kann nun mit größerer Sicherheit behauptet werden.58 Bei den Darstellungsweisen gilt in Politeia 2 und 3, dass dramatische Darstellungen – wegen ihrer vermuteten direkt anverwandelnden Wirkung – auf die Verkörperung guter Charaktere eingegrenzt sind. Ähnlich ist die Verwendung von zusätzlichen musischen Mittel geregelt: Gemäß den Lehren des Musikwissenschaftlers Damon werden bestimmte Melodien und Rhythmen ausgewählt, weil sie mit bestimmten seelischen Zuständen wie Mut und Besonnenheit korreliert sein sollen. Sokrates sagt nun zu Beginn von Buch 10, diese Regelungen zur Dichtkunst seien völlig richtig gewesen. Er fasst die Bestimmungen in dem Ausspruch zusammen, von der Dichtung dürfe nichts aufgenommen werden, sofern sie mimetisch sei (†sh mimhtikë). Kurz danach fordert er zu einer Untersuchung von Mimesis im Allgemeinen auf (mímhsiß †lwß), da nicht klar genug sei, worum es sich bei ihr eigentlich handele. In der darauf folgenden Betrachtung bestimmt er Mimesis als etwas, das sich nur nach Empirischem richte – als würde jemand mit einem Spiegel durch die Welt laufen –, spricht den wichtigsten Dichtern diese Mimesis zu und lehnt deren Produkte für den Staat ab. Viele Interpreten halten dies, da für Platon Dichtung ja immer Mimesis sei, für ein Verdikt jeder nur möglichen Dichtung und letztlich sogar jeder Kunst.59 So plausibel diese Interpretation auf den ersten Blick klingen mag, so viele Probleme wirft sie bei genauerer Betrachtung auf. Folgendes sollte bei der Deutung berücksichtigt werden: 58 59

Vgl. die Vor- und Rückverweise in R. 392 a3-b7 und 603 d9-e1. Zuletzt z.B. Julia Annas: Platon, in: Iring Fetscher und Herfried Münkler (Hg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd.1, München u. Zürich 1988, S. 383; Andreas Schubert: Platon: Der Staat, Paderborn u.a. 1995, S. 158-164; Wolfgang Kersting: Platons „Staat“, Darmstadt 1999, S. 304-314.

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1. Die Aussage in R. 595 a5, Dichtung solle ausgeschlossen werden, sofern sie mimetisch sei, hat eindeutig einen die Fülle aller möglichen Dichtung einschränkenden Charakter,60 ohne dass an der Stelle schon gesagt ist, was hier eigentlich mit Mimesis genau gemeint ist. Diesen Mangel bemerkt Sokrates sogleich und schiebt zur Erklärung die Maler-Dichter-Analogie nach. Dass die Kritik nicht den Abbildcharakter der Kunst als solchen treffen soll, wird dadurch bestätigt, dass am Ende der Argumentation zur Dichtung, genau wie am Anfang, zustimmend auf die Ergebnisse der Bücher 2 und 3 Bezug genommen und bestimmter Dichtung ein Platz im Staat eingeräumt wird;61 sie sei nämlich aufzunehmen („poiësewß paradektéon eœß pólin“, 607 a4-a5 vs. „tò mhdamñ paradéxesqai a¬têß“, 595 a5), sofern sie Hymnen auf die Götter und Lobgesänge auf gute Menschen hervorbringe („†son mónon ‰mnouß qeoîß kaì ™nkýmia toîß ˜gaqoîß“, 607 a3-a4 vs. „†sh mimhtikë“, 595 a5). An strukturell wichtigen Stellen des 10. Buches wird also mit gleicher Wortwahl und gleicher Grammatik dasselbe zum Ausdruck gebracht, wobei zu Beginn gesagt wird, inwiefern die Dichtung auszuschließen, am Schluss, inwiefern sie aufzunehmen ist. Beide Abschnitte nehmen affirmativ Bezug auf die früheren Ergebnisse; die am Schluss genannten Götter und guten Menschen sind eine aus der vorplatonischen Kunstbetrachtung übernommene Kurzformel für das in Buch 2 und 3 ausgearbeitete Programm der Dichtung, das gute Charaktere favorisiert.62 Dieser klare Textbefund wird immer wieder ignoriert bzw. marginalisiert. Der Einwand, Platon gebe die Ergebnisse der früheren Bücher nicht präzise genug wieder, um die Kritik mit der Untersuchung der „Mimesis allgemein“ auf eine neue, radikal breitere Basis zu stellen,63 muss sich die Frage gefallen lassen, wie dies nicht nur mit dem Beginn, sondern auch mit dem durch die 60 61

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So schon Procl. in R. 1,197,18-19. R. 595 a1-a5-607 b1-b3: „Dies soll uns zur Verteidigung gesagt sein, die wir uns daran wiedererinnerten [sc. zu Beginn von Buch 10], daß wir die Dichtung damals [sc. in Buch 3] zu Recht aus der Stadt fortschickten, wenn sie so beschaffen war [sc. wenn sie der „Lustmuse“ gewidmet war, der im Ausweisungsfazit des dritten Buchs in R. 398 a8 explizit der nicht einschmeichelnde Dichter als erlaubter Kontrahent gegenübergestellt ist]“. Die Bedeutung dieses Argumentationsrahmens heben – zu Recht, wie ich meine – hervor z.B. Giovanni R.F. Ferrari: Plato and Poetry, in: George A. Kennedy (Hg.): The Cambridge History of Literary Criticism, Vol. I, Cambridge 1989, S. 124-125 und Susan B. Levin: The Ancient Quarrel Between Philosophy and Poetry revisited – Plato and the Greek Literary Tradition, Oxford 2001, S. 153f. Die Formel stammt aus der pythagoreischen Musiktheorie, die damit sogar die gesamte alte Dichtung zusammenfasste, wie Koller: Mimesis (Anm. 2), S. 177-183, anhand zahlreicher Belege aus Plutarch, Quintilian, Athenaios, Diogenes Laertios u.a. zeigen konnte. Vgl. z.B. William C. Greene: Plato’s View of Poetry, in: Harvard Studies in Classical Philology 29 (1918), S. 54: „[sc. Plato] makes an inaccurat statement about the conclusion reached in the earlier discussion of art“, und Stephen Halliwell: Plato: Republic 10, Warminster 1988, S. 106: „In fact, Socrates’ summary of bk. 3’s conclusions is only approximate“.

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parallelisierten Formulierungen deutlich markierten Schluss der Argumentation des Sokrates zusammenpasst. Es würde bedeuten, dass Platon Sokrates in R. 595 auf die alten Ergebnisse rekurrieren und dies in R. 596-606 – mit der Verwerfung aller nur möglichen Dichtung – vergessen oder vertuschen lässt, um ihn in R. 607 in einer doppelten Volte wieder behaupten zu lassen, er stimme nun doch mit den früher verfassten Regeln zur Dichtung überein. Ein zweiter Einwand versucht, die in R. 607 zugelassenen Hymnen und Enkomien für unwichtig zu erklären, weil sie nur didaktisch bzw. für spezielle Anlässe verfertigt seien.64 Aber zum einen wären sie dann nichtsdestoweniger abbildende Kunst wie die übrige Dichtung auch und dürften nicht zugelassen werden. Zum anderen wird alle Dichtung unter „didaktischer“ Hinsicht untersucht, so dass es keine Sonderklasse von Dichtung gibt, die daher von der Überprüfung auszunehmen sei (zudem wird gerade der Vater der antiken didaktischen Poesie – wenn man denn schon das Lehrgedicht als Gattung abtrennen will –, nämlich Hesiod, im 2. und 3. Buch gemeinsam mit Homer auf seine Tauglichkeit geprüft). Außerdem darf man nicht so tun, als seien rezitierte oder gesungene Hymnen und Enkomien eine Randerscheinung. Sie nahmen in der frühgriechischen Dichtung eine herausragende Stellung ein und waren auch im Tagesgeschäft des 5. Jahrhunderts, in dem der Dialog spielt, noch von großer kultischer und damit politischer Bedeutung.65 Platon will die formende Kraft des Gesanges und des Tanzes für die Stabilität des Idealstaates geradezu wieder verstärkt nutzbar machen.66 Es handelt 64

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Vgl. z.B. Julia Annas: An Introduction to Plato’s Republic, Oxford 1981, S. 344; Alexander Nehamas: Plato on Imitation in Republic 10, in: Julius Moravcsik u. Philip Temko (Hg.), Plato on Beauty, Wisdom, and the Arts, Totowa 1982, S. 69; Morris H. Partee: Plato’s Poetics, Salt Lake City 1981, S. 107; Jens Timmermann: Platon, in: Julian Nida-Rümelin u. Monika Betzler (Hg.): Ästhetik und Kunstphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1998, S. 637. Man muss nur an den Wettkampf der 20 Dithyramben-Chöre – also von Chören, die Hymnen auf Dionysos singen – bei den Großen Dionysien denken. Dort eröffneten, noch vor Beginn der Dramen, 1000 ausgewählte Bürger (20 Chöre à 50 Mann) den Wettbewerb im Theater, in dem die gesamte politisch relevante Bevölkerung versammelt war. Hymnen blieben als Preislieder der jeweiligen Götter selbstverständlich Bestandteil jeder Götterfeier (Dithyramben z.B. wurden an den Dionysien bis ins 2. nachchristliche Jahrhundert gesungen). Chorlieder für sich müssen nicht als überholt gelten, nur weil sie (auch) in die artifiziell höher stehende Tragödie integriert wurden. Er beschwert sich über den Verfall bzw. die Vermischung der verschiedenen Lied- und Tanzformen (bes. Lg. 700-701). In der Tat nimmt die politische Bedeutung dieser Musikformen ab dem Ende des 5. Jahrhunderts ab und macht einem eher der Unterhaltung dienenden Virtuosentum Platz (vgl. für das Beispiel des Dithyrambos Bernhard Zimmermann: Dithyrambos – Geschichte einer Gattung, Göttingen 1992, S. 117-147). Platon kritisiert die neue Musik und will die alte wiederbeleben, daher auch Platons Auseinandersetzung mit den musischen Darstellungsmitteln in R. 399-403. Zur Wichtigkeit des Gesanges für den Staat siehe auch die oben zitierte Textstelle aus den Nomoi, die besagt, alle Bürger sollten ständig singend und tanzend gute Charaktere darstellen (wobei diese Tätigkeit vielfach als Mimesis

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sich bei den Hymnen und Enkomien also nicht um eine vernachlässigbare Ausnahme von einem eigentlich radikalen Dichtungsverbot. 2. Bei der Besprechung der Wirkung der Dichtung wird sogar im 10. Buch der Politeia ein guter von einem schlechten Dichter unterschieden (R. 604 e1605 a7). Der gute Dichter habe die Aufgabe, einen vernünftigen und ruhigen Charakter, der immer mit sich im Einklang steht, darzustellen. Diese Aufgabe sei nicht leicht (oúte ÿådion mimësasqai) – das heißt aber auch, dass sie möglich ist. Der „mimetische Dichter“ (mimhtikòß poihtëß)67 dagegen verlege sich auf die leicht darzustellenden, weil alltäglichen, wechselhaften, von Leidenschaften übermäßig getriebenen Charaktere. So wird das Vorgehen des guten Dichters im 10. Buch der Politeia durch die Entgegensetzung zum schlechten Dichter genauso charakterisiert, wie der oben beschriebene Zeichner der schönsten Zeichnung bzw. die fiktiven Gründer des Staates und Erzieher der gerechtesten Menschen (in R. 472 c4-473 b3 und R. 500 b8-501 c3) im Verhältnis zum Spiegel-Maler beschrieben werden. Auch diese Charakter-Zeichner kopieren nicht die empirische Wirklichkeit, sondern richten sich beim Entwerfen des schönsten Charakters nach den Ideen der Tugenden. Im Grunde schließt schon die Beschreibung dieses besten Zeichners in Buch 5 und 6 aus, Platon könne jede Kunst nur für eine sklavische Kopie der empirischen Welt halten. Die Inhalte der guten Dichtung von Politeia 10 (der mit sich in Einklang stehende Charakter, das heißt einer, bei dem sich die drei Seelenteile in Harmonie befinden, der gerecht ist) stimmen wieder mit der Forderung am Schluss der Dichterkritik überein, Dichtung, die gute Charaktere darstelle, sei aufzunehmen.

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bezeichnet wird). – Neben der exponierten Stellung und dem Rückbezug von R. 607 zum Beginn der Argumentation in Buch 10 und zu Buch 2 und 3 spricht für die Wichtigkeit von Hymnen und Enkomien auch Platons breiterer Sprachgebrauch in der Politeia und in anderen Dialogen. ‚Enkomion‘ kann bei Platon einen Lobpreis großer Taten in metrischer Rede (Homer als Enkomiendichter in La. 191 b2, Prt. 326 a2, R. 599 b7, Min. 319 c1ff.) oder sogar in Prosa (R. 358 d2, Ti. 19 d2, 21 a3, Smp. 198 c5-199 b5 passim u.ö.) bedeuten. ‚Hymnos‘ meint bei Platon ebenfalls Verehrung einer göttlichen bzw. guten menschlichen Lebensweise (Mx. 239 b8, R. 468 d9, Tht. 176 a1), die auch in Prosa ausgeführt werden kann (Phdr. 265 c1, Smp. 193 c8-d1, vgl. dazu auch Levin: Ancient Quarrel [Anm. 61], S. 159-162). Zum ohnehin breiten Bedeutungsfeld der Termini ‚Hymnos‘ und ‚Enkomion‘ in der griechischen Literatur überhaupt vgl. Hans Färber: Die Lyrik in der Kunsttheorie der Antike, München 1936, S. 28-31 und S. 35-36; A.E. Harvey: The Classification of Greek Lyric Poetry, in: Classical Quarterly 5 (1955), S. 162-164 und S. 174f. Diese Formulierung in R. 605 a2 ist eigentlich ein zusätzliches Argument dafür, dass die im 10. Buch untersuchte Mimesis nicht einfach die Kunst des Abbildens insgesamt meint: Die Bezeichnung „mimetischer Dichter“ ist nur dann verständlich, wenn es auch einen nichtmimetischen Dichter gibt, der dem schlechten Dichter an dieser Textstelle ja auch gleich zur Seite gestellt wird. Die Formulierung kehrt in R. 605 b7 wieder, zudem spricht Sokrates zweimal über die inkriminierte Mimesis einschränkend als „so beschaffene Dichtung“ (R. 607 b3 und e7), eine Formulierung, die ebenfalls die Möglichkeit anderer Dichtung voraussetzt.

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3. Der Staat, den Platon entwirft, ist ohne musische Vorbildung überhaupt nicht möglich, da selbst diejenigen, die zu Philosophen ausgebildet werden sollen, nach Platons Planung ein durch Erziehung gebildetes solides charakterliches Fundament mitbringen müssen. Die Erziehung besteht aber in Gymnastik und Musik, wobei vor allem letztere für die charakterliche Ausbildung verantwortlich ist. Der wichtigste Teil der Musik ist die Dichtung. Würde die Dichtung wegen ihres Abbildcharakters entfernt, so fehlte mit der seelischen Erziehung die Grundlage für den ganzen Staatsentwurf.68 4. Platon hat bereits durchgängig vorausgesetzt, dass die Dichter Mimesis betreiben;69 er musste diese vermutlich ohnehin allgemein anerkannte Tatsache70 gar nicht beweisen; „eine tautologische Darlegung, dass die ‚Nachahmung‘ des ‚nachahmenden Künstlers‘ tatsächlich nur ‚Nachahmung‘ sei, hätte für das zeitgenössische Publikum kaum eine überraschende Einsicht enthalten, und 20 Oxfordseiten wären auch ziemlich viel Aufwand, um etwas klarzumachen, das die Zeitgenossen ohnehin schon gewusst hätten.“71 Platons Argumente verfolgen eine andere Stoßrichtung. Nicht die Abbildhaftigkeit jeder nur möglichen Kunst an sich will er angreifen (und damit seinen ganzen auf musischer Erziehung basierenden Staatsentwurf über den Haufen werfen), sondern die traditionelle Dichtung will er attackieren, insbesondere, wie er gleich am Anfang sagt und fünfmal wiederholt, die Tragiker und ihren Anführer Homer,72 weil sie sich bei ihren Darstellungen von Charakte68

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Bisweilen wird dagegen eingewendet, Platon habe durch die Untersuchungen in den zwischen den Büchern 3 und 10 liegenden Büchern neue psychologische und ontologische Argumente gegen die Dichtung gefunden, die eine veränderte Sicht zur Folge gehabt hätten (z.B. Halliwell: Plato [Anm. 63], S. 5-6, Timmermann: Platon [Anm. 64], S. 636-637). Abgesehen davon, dass Platon im 10. Buch affirmativ auf die Bestimmungen der Bücher 2 und 3 rekurriert, betont er aber genau nach den Passagen, die in Buch 4 (Psychologie) und 7 (Ontologie) angeblich die Grundlage für ein härteres Vorgehen gegen die Dichtung bilden, die weiterhin gültige Wichtigkeit der musischen Erziehung für den Staat (R. 441 e8-442 a3, 522 a3-b1, 537 e1-539 d7 sowie 546 d6-d8 und 548 c1-c2). Dazu, dass sogar die mathematische und dialektische Erziehung der Philosophen keine rein intellektualistische ist, sondern die vorangegangene ethische Ausbildung sowohl voraus- als auch auf höherer Stufe fortsetzt, vgl. jetzt ausführlich Myles F. Burnyeat: Plato on Why Mathematics is Good for the Soul, in: Timothy Smiley (Hg.): Mathematics and Necessity, Proceedings of the British Academy 103 (2000), S. 1-81. Vgl. bes. R. 373 b5-b7, 400 c7-401 a9 (Terminus mimëmata in 401 a8). Weitere Belege bei Halliwell: Aesthetics (Anm. 2), S. 51 Anm. 35. Siehe Anm. 34 mit dazugehöriger Textpassage. Kardaun: Mimesisbegriff (Anm. 2), S. 65. R. 595 b10-c2, 597 e6, 598 d7-d8, 602 b8-b9, 605 c11, 607 a2-a3. Die Zusammenstellung von Homer und den Tragikern ist für die antike Literarkritik kein Problem. Nach Aristoteles haben sie den Gegenstand (Handlung von überdurchschnittlich guten Charakteren) ebenso gemeinsam wie die von ihnen ausgelösten Affekte (bes. Poetik Kap. 4-5, 23-24). Die Wirkung der Affekte auf den Rezipienten ist aber einer der wichtigen Gründe, warum Platon Homer und die Tragiker gemeinsam angreift.

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ren, mit denen man sich als Zuschauer oder Leser gerne identifiziert und die somit eine gewisse Vorbildfunktion besitzen, primär auf die Empirie bzw. den ‚Common Sense‘ beziehen. In der Empirie findet sich häufig eine Kultur der Klage und des Selbstmitleids, die Platon (im Gegensatz zu Aristoteles) auch und gerade in ihrer anziehenden künstlerischen Bearbeitung für höchst abträglich hält. Wenn Achill, der Tapferste aller Griechen, sich bei der Klage um Patroklos weinend im Dreck wälzt, scheint ihm das nicht die angemessenste Antwort auf ein existentielles Problem zu sein; auch wenn eine solch heftige Reaktion ihm üblich und verständlich scheint.73 Greift man Textstellen wie R. 600 e4-e5 heraus,74 wo gesagt wird, nun sei erwiesen, „daß von Homer angefangen alle Dichter Nachahmer von Abbildern der Tugend [das heißt, von empirischen Erscheinungen] gewesen sind“, so beweist dies lediglich, dass – in einer breiten Attacke – die gesamte bisherige Tradition der Dichtung angegriffen wird, nicht jedoch jede nur mögliche Dichtung; genau wie es im 2. und 3. Buch der Fall ist, wo bereits neben Homer auch Hesiod „und die übrigen Dichter“ als Ziel der Kritik angegeben sind, ohne dass alle nur mögliche Dichtung angegangen wird. Nirgendwo im 10. Buch spricht Sokrates davon, jede nur mögliche Dichtung angreifen zu wollen. Dass viele Interpreten dennoch nicht von dieser Sichtweise abgehen, liegt vor allem an der Formulierung des Sokrates in R. 595 c7 (und ähnlich 603 a11), nun „Mimesis im allgemeinen“ (†lwß) bestimmen zu wollen. Man darf diese Formulierung jedoch nicht aus ihrem Kontext lösen: Nach Sokrates’ Aussage, die Dichtung sei auszuschließen, sofern sie mimetisch sei (R. 595 a5), subsumiert er unter diese Mimesis Homer, die Tragiker und „alle anderen Mimeten“ (R. 595 b4, b10-c2). Wenn er daraufhin fragt, was „Mimesis allgemein“ bedeutet, weil er es selbst noch nicht recht weiß, so zeigt er damit an, dass er mit dem Wort ‚Mimesis‘ (und seinen Derivaten) hier keine der bisher verwendeten und problemlos verstandenen Bedeutungen verknüpfen will, das heißt weder den Mimesis-Begriff, der als dramatische Darstellungsweise extra definiert worden war,75 noch den allgemeinen, breiten Mimesis-Begriff, der jede künst73

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R. 603 e3-e6: Selbst der Tüchtige wird in einer solchen Lage trauern, aber er wird dabei das rechte Maß einhalten (metriásei). Dies, wie auch R. 431 c5-c7 und 586 d4-587 a2, zeigt, dass Platon in der Politeia keine stoische Apathie, sondern eine Metriopathie einfordert. Sie ist bereits Ziel der Erziehung der Jugendlichen, die nicht keine, sondern die richtigen Affekte und deren implizite ethische Prämissen einüben sollen. R. 377 d4-d5. Weitere Stellen, die eine Einschränkung der Kritik auf Homer und die Tragiker unwahrscheinlich machen, siehe bei Christopher Janaway: Images of Excellence – Plato’s Critique of the Arts, Oxford 1995, S. 126-127. R. 393 c5-c5. Diese Vermutung scheint auf den ersten Blick besonders gut zu passen, weil die dramatische Darstellung ebenfalls nur einen Teil von Dichtung überhaupt umfasst und unter anderem durch das Wort mimhtikóß bezeichnet wurde, so dass die Formulierung †sh mimhtikë in 595 a5 vollständig abgedeckt zu sein scheint (zuletzt Kardaun: Mimesisbegriff [Anm. 2], S. 63, Anm. 154). Dagegen sprechen folgende Argumente: (1) Im 10. Buch der Po-

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lerische Abbildung mit wahrnehmbarem Ergebnis meint und den er in Buch 2 und 3 vielfach, ohne ihn erläutern zu müssen, benutzt hat.76 Vielmehr meint er damit die Mimesis, über die er von R. 595 a5 an geredet hat, nämlich eine, die die in Platons Augen bedenkliche Produktionsweise von Homer, den Tragikern und allen anderen schon in Buch 2 und 3 kritisierten Autoren als Einheit umfasst, nicht aber die abbildende Kunst überhaupt. Die einheitliche, die einzelnen kritisierten Inhalte verklammernde Etikettierung dieser Produktionsweise als Mimesis zu Beginn des 10. Buches ist in der Tat neu, und daher braucht sie auch eine eigene Erklärung. So kann Sokrates die früheren Regelungen nicht nur durch die Lehre von den drei Seelenteilen untermauern („Der Gerechte ist glücklich“ usw.), sondern auch durch die Differenzierung der Erkenntnisvermögen in den Büchern 5 bis 7 von produktionsästhetischer Seite her neu legitimieren. Einer der wichtigsten erkenntnistheoretischen Unterschiede, den Platon dort herausarbeitet, ist der zwischen Meinung und Wissen. Dieser Unterschied, wie Platon ihn formuliert, ist für die Interpretation so wesentlich, dass er im Folgenden kurz umrissen werden muss, bevor mit der Deutung von Politeia 10 fortgefahren werden kann.77 Platon macht die Differenz von Wissen (™pistëmh) und Meinen (dóca) am Beispiel der Philosophen einerseits und der „Schau- und Hörlustigen“ und „Meinungsfreunde“ (filódocoi) andererseits klar. Die „Meinungsfreunde“

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liteia sagt Sokrates, der Begriff Mimesis müsse erst noch geklärt werden (R. 595 c7-c8). Dieser Begriff ist zwar ein Oberbegriff, der neben der Dichtung auch die bildende Kunst umfasst, Ziel seiner Einführung ist aber die Definition von dichterischer Mimesis. Diese neue, langwierig durchgeführte Definition wäre aber völlig überflüssig, wenn es sich um die dramatische Darstellungsweise handelte, die im 3. Buch als Vortragsweise genau definiert worden war. Zudem hat die Maler-Dichter-Analogie nichts mit der Frage nach der dramatischen Dichtungsweise zu tun. (2) Unter die mimhtikoí werden im 3. Buch auch die Rhapsoden gerechnet, die nicht ausschließlich dramatisch darstellen (R. 395 a8). (3) Ein Bürger des Staates verhält sich dann richtig, wenn er bei der Ausübung von Musik im Handeln und Reden rechtschaffene Charaktere zum Ausdruck bringt (R. 396 c5-e2). Diese dramatische Darstellungsweise soll zwar in der Gesamtdichtung einen kleineren Raum einnehmen, sie wird aber keineswegs ausgeschlossen. Das bestätigt auch das Fazit der gesamten Passage in R. 398 a8-b2. Wenn Sokrates in R. 595 a1-a5 und 607 b1-b3 bekräftigt, dieselbe Dichtung zu verurteilen wie in den Büchern 2 und 3, so bedeutet das, dass die dramatische Darstellungsweise auch im 10. Buch nicht ausgeschlossen wird und nicht mit der dort genannten Mimesis gleichzusetzen ist. (4) Die im 10. Buch zugelassenen Hymnen und Enkomien sind Dichtungsarten, in denen nicht selten direkte Rede als dramatische Darstellungsweise vorkommt; also ist sie nicht ausgeschlossen. Hymnen und Enkomien werden zudem oft mit dem dramatischen Vortragsmittel des Tanzes verknüpft (vgl. Lg. 801 e1ff.). – Der dramatische Mimesis-Begriff aus dem 3. Buch ist also nicht mit dem Mimesis-Begriff des 10. Buches identisch. Vgl. Anm. 69. Siehe dazu vor allem R. 475 d1-480 a13. Dass Platon im 10. Buch der Politeia dieselbe Dichtung kritisiert wie in den Büchern 2 und 3, nun aber den Fokus auf die Erkenntnishaltung der Dichter richtet, betont auch Levin: Ancient Quarrel (Anm. 61), S. 150-167.

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streben ebenso wie die Philosophen nach dem Schönen, aber auf andere Weise. Sie betrachten das Schöne, das Gerechte, das Gute usw. nicht als eine bestimmte Einheit (¹n ‚kaston) und geben sich daher keinen rationalen Diskursen hin, sondern lieben die vielen Ausformungen des Schönen – die einzelnen schönen Dinge – und begehren sie zu hören und zu sehen. Dabei lieben sie nicht nur das unmittelbar wahrnehmbare Schöne (Töne, Farben, Formen), sondern auch das Schöne, das sich in Handlungen manifestiert.78 Das produzierende Gegenstück zu dieser Rezipienten-Gruppe bilden die Künstler und Politiker (eœt’ ™n grafikñ eÍt’ ™n mousikñ eÍte dç ™n politikñ), die sich im Darstellen und Handeln auf die allgemeinen Ansichten der Masse (oœ polloí) stützen und dabei keine Rechenschaft über die von ihnen verwendeten Kriterien von schön und hässlich, gut und schlecht, gerecht und ungerecht geben können (lógon didónai).79 Sie haben dieselbe Erkenntnishaltung wie ihre Klientel. Meinung zielt nun auf das zwischen Sein und Nichtsein Liegende, das heißt auf etwas, das in einer Hinsicht eine Bestimmung x besitzt, in einer anderen Hinsicht aber nicht. So ist, um unser altes Beispiel heranzuziehen (das auch Platons Beispiel in diesem Abschnitt ist), die Zahl 4 in einer Hinsicht (bezüglich der Zahl 2) das Doppelte, in anderer Hinsicht (bezüglich aller Zahlen außer der 2) ein Nichtdoppeltes. Die Meinenden stehen nun immer in der Gefahr, den Repräsentanten einer Sache mit der Sache selbst in eins zu setzen. So ist es zwar völlig richtig, die Zahl 4 ein Doppeltes zu nennen, die Merkmale dieser Zahl geben jedoch kein zureichendes Kriterium für das Doppeltsein ab: Die 4 hat ja auch das HälfteSein, das Zahl-Sein usw. an sich, Merkmale, die dem Doppeltsein nicht zukommen. Der einheitliche Sachverhalt des Doppeltseins selbst hingegen ist keine Zahl, sondern etwas, wonach man sich bei der Prädizierung der Zahlen richtet. Diesen gleich bleibenden, intelligiblen Sachverhalt des Doppelten versuchen die Philosophen diskursiv zu beschreiben, während die Meinenden sein Vorhandensein verleugnen. Im ethischen Bereich gilt dasselbe. So kann man (um ein Problem aus dem Anfangsbuch der Politeia und dessen Lösung in Buch 9 zu wählen) als Meinender zu der Ansicht kommen, ein Tyrann, der sich ohne Rücksicht auf die Bürger bereichert, sei glücklich. Geht man, wie Platon mit seiner Dreiteilung der Seele, davon aus, dass es neben der Lust am Sinnlichen auch Lust an einer berechtigten Achtung durch die Mitmenschen und eine Lust am Denken gibt, die höher stehen als die Sinneslust, kann man dem Meinenden seinen typischen Denkfehler vorwerfen: Natürlich wird auch der glückliche Mensch die notwendigen körperbezogenen Begierden befriedigen, dabei wird er es aber 78 79

R. 476 a4-b8. Vgl. R. 493 c10-494 a5.

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nicht bewenden lassen; der Tyrann hingegen bedient die körperbezogenen Begierden, aber vor allem die nicht-notwendigen, die wie ein Fass ohne Boden nie völlig gestillt werden können, die höheren Lüste strebt er nicht an oder muss sie sich fingieren, etwa bei der Achtung durch Schmeichler und Höflinge. Der Tyrann ist also in Wirklichkeit gar nicht glücklich, dies ist nur die Meinung der Masse und des ‚Common Sense‘. Nun wieder zurück zum Text des 10. Buches und Vergleich zwischen Maler und Dichter in R. 596a-601b: Meine These ist, dass die „Mimesis im Allgemeinen“, die Sokrates dort untersuchen will, die traditionellen Dichter, vor allem Homer und die Tragiker, dergestalt als Einheit umfasst, dass diese Dichter alle, im Unterschied zum Philosophen, nur mit der Erkenntnishaltung der Meinung dichten, daher nur allzu oft unreflektiert den Ansichten der Masse folgen und so falsche Darstellungen hervorbringen. Dieses Zusammenfassen der früher vorgetragenen inhaltlichen Einzelkritiken zu einer Kritik an der Erkenntnishaltung der Dichter bei der Produktion ihrer Werke war nur durch die nach Buch 2 und 3 folgende Differenzierung der Erkenntnisvermögen möglich geworden. Diese Deutung lässt sich auch mit dem Text nach R. 596a vereinbaren. Im Folgenden wird um der Klarheit willen der Gebrauch des im 10. Buch der Politeia definierten und inkriminierten Terminus ‚Mimesis‘ durch Anführungszeichen markiert, um ihn von anderen, wertungsneutralen Verwendungen abzugrenzen. Man muss dafür nicht (wie Tate) einen außergewöhnlichen, etwa nur für diesen Abschnitt erfundenen negativen Gebrauch des Wortes ‚Mimesis‘ im 10. Buch der Politeia annehmen. Die Abwertung kommt vielmehr daher, dass sowohl Ausgangs- als auch Endpunkt der Mimesis nun im Wahrnehmbaren angenommen werden und dass dabei zusätzlich von einer verzerrten Wiedergabe des Vorbildes ausgegangen wird. Am besten sieht man die Abhängigkeit der Wortbedeutung vom Darstellungsobjekt und dessen perspektivisch verzerrter Wiedergabe in R. 598 b3b4, wo gefragt wird, ob der kopierende Maler „die ‚Mimesis‘ einer Erscheinung oder die Mimesis der Wahrheit“ vollziehe, was durch ein Wort ausgedrückt wird (fantásmatoß Ç ˜lhqeíaß oÛsa mímhsiß).80 Zur Erklärung der ‚Mimesis‘ und als Analogie zum ‚mimetischen‘ Schriftsteller wird ab R. 596c der ‚mimetische‘ Maler eingeführt. Im Gegensatz zu

80

Hieran sieht man, dass Platon dem Leser zutraut, im 10. Buch zwischen dem dort auch auftretenden weiten Gebrauch von Mimesis und dem hier eigens definierten Gebrauch von ‚Mimesis‘ zu unterscheiden; genauso war die spezielle Bedeutung von Mimesis als dramatischer Vortragsweise im 3. Buch ohne viel Aufhebens parallel zum weiten Mimesis-Begriff verwendet worden. Platon spielt gerne mit dem verschiedenen Gebrauch von Wörtern, und bei dem Wort ‚Mimesis‘, das er oft mit Kategorien wie „Verwandeln“ oder „Täuschen“ verknüpft, bietet sich das in besonderer Weise an. Zur Abhängigkeit der Bedeutung des Wortes ‚Mimesis‘ vom Darstellungsobjekt vgl. Kardaun: Mimesisbegriff (Anm. 2), S. 56-57, 63-65; Levin: Ancient Quarrel (Anm. 61), S. 158.

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seinem Kollegen in Buch 5 und 6 orientiert er sich nicht an einem Konzept davon, wie ein möglichst schöner Körper aussehen könnte, sondern am direkt Wahrnehmbaren, sogar im elementarsten Sinn, indem er wie ein Spiegel Farben und Formen der existierenden Dinge wiedergibt. Die Wiedergabe ist dabei aufgrund der Zweidimensionalität der Malerei nicht nur eine Übertragung bestimmter Eigenschaften des dreidimensionalen Vorbilds in ein anderes Material, sondern notwendigerweise auch eine verzerrte, weil einer Dimension beraubte, Darstellung.81 Die Wirkung dieser Darstellung ist, dass Kinder und törichte Menschen sie aus einer bestimmten Perspektive für die dreidimensionale Wirklichkeit halten. Diese letzte Aussage hat immer wieder dazu verleitet zu glauben, Platon kritisiere auch bei der Dichtung, dass sie Illusionen von Wirklichkeit hervorbringe. Gegenstand der ‚mimetischen‘ Dichtung sind, wie Sokrates bei seiner eigenen Erklärung der Analogie sagt, nicht Farben und Formen, sondern, wie bei jeder Dichtung, handelnde Menschen, die durch ihre Handlungen glücklich oder unglücklich sind.82 Platon prüft nun bei der Dichtung immer wieder, mit welcher Erkenntnishaltung die Dichter sie hervorgebracht haben, und nicht, ob die Dichtung mit der Realität identisch ist oder identisch zu scheinen versucht (im Grunde zeigt schon die Aussage, dass nur die Toren die gemalten Bilder für die Wirklichkeit halten, dass die ‚mimetische‘ Malerei nicht wegen ihres möglichen Illusionscharakters verurteilt werden soll – für die meisten Zuschauer bewirkt sie diese Illusion offenbar gar nicht).83 Die traditionellen Dichter, so Platon, dichten aus der Erkenntnishaltung der Meinung. Zwar kann ein Meinender auch richtige Meinungen haben, diesen Aspekt klammert Platon im 10. Buch der Politeia aber aus84 und konzen81

82 83

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R. 598 a1-b5. Vgl. damit auch die Unterteilung in Sph. 235 c8-236 c8 von abbildender Kunst (mímhsiß) in Kunst, die alle Dimensionen korrekt wiedergibt (eœkastikë), wie die Kleinplastik, und Kunst, die so die Dimensionen verzerrt, dass sie die Perspektive des Betrachters mit einbezieht (fantastikë), wie bei den Kolossalstatuen und in der Malerei prinzipiell. Es ist sicher kein Zufall, dass Platon bei der ‚mimetischen‘ Malerei in der Politeia das Abbildungsobjekt mehrfach als das perspektivisch Erscheinende (fántasma, fainómenon) bezeichnet (auch wenn die Unterteilung im Sophistes auf anderes abzielt). R. 603 c4-c9. In der Übertragung der Analogie und Prüfung der Dichter in der Passage R. 598 d7-601 b8 wird die Erkenntnishaltung an folgenden zehn Stellen mit Ausdrücken des Wissens thematisiert: R. 598 e1.e4, 599 a2.a4.b3.d4, 600 c5.e6., 601 a1.a6. Selbst dort, wo Sokrates einwendet, wenn die Dichter ein Wissen von der Tugend hätten, dann hätten sie schöne Taten statt Abbildungen von Taten zurückgelassen (R. 599 b3-b7), ist dieses Argument nicht als prinzipielle Kritik an der Abbildhaftigkeit von Kunst, sondern nur als Mittel eingeführt, um durch das Fehlen der Taten oder von Schülern die ‚Unwissenheit‘ der Dichter zu beweisen. Dass die Kritik an der ‚Mimesis‘ nicht Kritik an Illusionierung meinen kann, zeigt die konsequente Analyse des Textabschnittes bei Janaway (Anm. 74), S. 120-123 und 136-140. Dazu bedient auch er sich mitunter sophistischer Beweisführungen. So muss die ohnehin dunkle Biographie Homers a maiore dafür herhalten, dass die Dichter insgesamt kein Wissen

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triert sich auf falsche Meinungen und, wie er es nennt, das Nicht-Wissen über gut und schlecht. Die Dichter stellten alles so dar, wie es der Masse (o¥ polloí) und den Nicht-Wissenden richtig erscheine (faínesqai).85 Das gilt für die Darstellung bestimmter Künste, für die Dichter keine Fachleute sind – noch heute genügt es, uns einen Mann in weißem Kittel zu zeigen, der beruhigend und mit einigen Fremdwörtern auf einen im Bett liegenden Menschen einredet, um uns in einer TV-Serie zu suggerieren, einen Krankenhausarzt vor uns zu haben. Der Regisseur hat dabei wohl nur selten darüber nachgedacht, ob der Kittel weiß sein muss, warum Kittel getragen werden und welche, ob der Arzt in dieser Situation überhaupt etwas sagt, was für den Patienten sinnvoll ist, wie ein guter Arzt beschaffen sein muss; er will in der Szenerie des Krankenhauses ja Zuschauer unterhalten und nicht die Leistungen eines Arztes zeigen. Das gilt besonders auch für Fragen, wann jemand gut oder gerecht ist bzw. glücklich oder unglücklich, wo die Dichter dem täglichen Geschehen und den allgemein verbreiteten, auf kurzsichtige Empirie gestützten Ansichten folgen. Das beginnt für Platon bereits, wenn sich ein Herrscher wie Achill ebenso aufbrausend in der Wut wie kläglich in der Trauer zeigt. Aggression und Selbstmitleid sind Gefühle, die man allerorten erleben kann, und es gefällt uns, sie am großen Achill zu beobachten – nicht zuletzt, weil damit unser eigenes Verhalten, wenn es ähnlich ausfällt, legitimiert wird. Dieser Sog zum selbstgefälligen Affekt, der ins eigene Affektrepertoire übernommen wird, weil ihn ein Vorbild auch hat, ist die Wirkung der Dichtung, die Platon so sehr fürchtet. Auch für diesen Aspekt der Dichtung braucht sich der Dichter keine Gedanken darüber zu machen, was der Mensch eigentlich ist, welche Erkenntnis-, Gefühls- und Strebemöglichkeiten er hat, was demnach Zorn oder Trauer ist, in welchem Maße diese Affekte nützlich sind, wie ein guter Charakter beschaffen sein und sich in der Handlung äußern kann. Das alles braucht der Dichter nicht, er will unterhalten, indem er starke Gefühlsschwankungen hervorruft.86

85 86

haben, weil sie es sonst praktisch angewendet hätten. Dabei hat Sokrates bei seiner Aufzählung derer, die mit Kenntnis über gut und schlecht gewirkt hätten, selbst einen Dichter genannt, nämlich Solon (R. 599 e3), den er andernorts als das größte dichterische Talent Griechenlands bezeichnet, der, hätte er sich ganz aufs Dichten verlegt, alle anderen übertroffen hätte (Ti. 21 c4-d3). Geradezu komisch – und offenkundig übertrieben – wird es, wenn Sokrates als Kriterium für das Wissen um die Tugenden den Erfolg bei einem weiten Schülerkreis und erfolgreiche Lehrer wie Protagoras und Prodikos hervorhebt; schließlich wird deren Anspruch, wirkliches Wissen an die Schüler vermitteln zu können, in früheren Dialogen wie dem Protagoras oder dem Gorgias klar desavouiert. Eine Palinodie zu dieser Passage bietet Smp. 209 a1-e4, wo Homer und Hesiod als Kundige der politischen Tugenden den in der Politeia als Exempeln genannten Gesetzgebern Lykurg und Solon an die Seite gesetzt werden. R. 602 b1-b4. So jedenfalls Platons Argument. Aristoteles setzt, etwa bei der Bewertung der tragischen Affekte, natürlich ganz andere Schwerpunkte.

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Die nach Platon in der Dichtung oft implizierten falschen ethischen Maximen werden von den normalen Lesern für bare Münze genommen und die dargestellten Charaktere für gute oder akzeptable Menschen gehalten, genauso wie naive Menschen die Gegenstände auf einem naturgetreu gestalteten Gemälde für wirklich existent halten.87 Platons Kritik an der ‚Mimesis‘ in Politeia 10 richtet sich demnach nicht prinzipiell gegen die Eigenart aller Dichtung und Literatur, ein Abbild zu sein oder das Mittel der Illusion zu nutzen. Platon macht in Buch 10 nicht den Versuch einer Definition dessen, was Literatur und ihr Gegenstand prinzipiell ist, sondern fährt eine zugespitzte Attacke gegen die traditionelle Dichtung, deren Darstellungen seiner Meinung nach leicht erzielbar, empirieorientiert, oberflächlich und dadurch von der Erkenntnishaltung der falschen Meinung über ethische Grundfragen geprägt sind.88 Ergebnis Platon ist in neuzeitlichen Poetiken gerne als Kronzeuge gebraucht worden. So wird sein Enthusiasmuskonzept für Ansätze fruchtbar gemacht, die der Überbetonung von Kunstregeln mit dem Akzentuieren von eher intuitiven Vermö87

88

Dass dies der Vergleichspunkt zwischen Maler und Dichter ist, wird schon aus dem argumentativen Dreischritt in R. 598 b6-e2 deutlich, wo erst das Beispiel des ‚mimetischen‘ Malers gegeben wird, der nicht-wissend ist und doch die Naiven täuscht, dann eine Induktion zur Erkenntnishaltung und Wirkung des ‚Mimeten‘ im Allgemeinen formuliert wird und schließlich die Deduktion zum ‚mimetischen‘ Dichter Homer gemacht wird: Homer scheint für viele Menschen nicht nur über alle Künste Bescheid zu wissen, sondern auch über Tugend und Schlechtigkeit im menschlichen und göttlichen Bereich. Vgl. dazu die Analysen der Dichterkritik in der Politeia und die Aufarbeitung der Zeugnisse zur Malerei im Platonischen Werk bei Stephen Halliwell: The Republic’s Two Critiques of Poetry, in: Otfried Höffe (Hg.): Platon – Politeia, Berlin 1997, S. 313-332, sowie ders.: Aesthetics (Anm. 2), S. 118-147, bes. S. 133-142. Die Ergebnisse (Platon hat ein differenziertes Bild von der Malerei, erkennt sie als Darstellung von Charakteren an, kennt gerade bei der Dichtung eine Vielzahl von Verwendungen des Terminus Mimesis, die über das Verständnis eines bloßen Kopierens hinausgehen; Mimesis ist nicht einfach ein technischer Ausdruck, sondern hat immer auch ethische Implikationen) stehen ganz im Einklang mit der hier vorgelegten Interpretation. Halliwell sieht in der Formulierung von R. 595 c7 (Untersuchung der „Mimesis im Allgemeinen“) aber eine Ausweitung der Untersuchung auf alle nur mögliche Kunst. Diese sei in einem rhetorisch provokativen und satirischen Ton gehalten, so dass der aufmerksame Leser sie durchschauen und mit Sokrates’ Aussage in R. 607 d-e, dass Gegenargumente der Dichterfreunde gegen die prinzipielle Verwerfung ihrer Kunst gerne entgegengenommen würden, verknüpfen müsse. Wenn Halliwells Annahme zutrifft, hätte der Leser einen sehr sprunghaften Sokrates vor Augen. Platons Plan für die Dichterkritik liefe dann nämlich folgendermaßen: Er lässt Sokrates von zugelassener Dichtung im Staat sprechen (595 a) – er lässt ihn (in absichtlicher Schwäche des Argumentes) jede mögliche Dichtung verwerfen (596-606) – er lässt ihn von zugelassener Dichtung im Staat sprechen (607 a) – er lässt ihn von der Rechtfertigung der Dichtung sprechen, so als ob er vorher jede mögliche Dichtung verworfen hätte (607 d-e) – ein eher unwahrscheinliches Szenario.

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gen wie dem ‚bon goût‘, der Phantasie, der Urteilskraft, dem Genie etc. entgegentreten. Häufiger werden aber seine Ausführungen in der Politeia, und besonders in deren 10. Buch, als Negativbeispiel rationalistischer Kunstauffassung einer der Sinnlichkeit der Kunst mehr Rechte einräumenden Position gegenübergestellt. Auch uns erscheint die harsche Kritik an Homer und den Tragikern oft befremdlich, aus vielerlei Gründen. So ist uns aus der eigenen geschichtlichen Erfahrung jeder Gedanke unangenehm, der mit zensurhafter Einschränkung oder Manipulation der öffentlichen Meinung verwandt ist. Zwar sehen wir heute in der möglichen Wirkung von Massenmedien wie Fernsehen, Film, Internet, Videospielen usw. ganz ähnliche Gefahren wie Platon beim Rezipieren der griechischen Dichtung, die alten Autoren nehmen für uns aber eher die entgegengesetzte Rolle ein: Wären wir doch als Hüter alteuropäischer Kultur oder zumindest als Freunde niveauvoller Unterhaltung froh, wenn mehr Menschen Homer lesen oder Dramenaufführungen besuchen würden, anstatt den Fernseher einzuschalten. Vor allem scheint uns aber die Kritik im Schlussbuch der Politeia befremdlich, weil sie, angeblich, die Kunst aus ethischen und metaphysischen Gründen prinzipiell verwirft. Die vorangegangenen Ausführungen haben dagegen, wie ich hoffe, gezeigt, dass es Platon mit der Kritik an der ‚Mimesis‘ im 10. Buch der Politeia weder um eine Definition dessen geht, was Kunst und Literatur überhaupt ist, noch um eine Verbannung von jeglicher Kunst aus dem Idealstaat, die ganz im Gegenteil die Basis der Erziehung aller Bürger und damit auch der den Staat lenkenden Philosophen darstellt. Auch für Platons Zeitgenossen waren Homer und die Tragiker wichtiges Bildungsgut und unterhaltsam, sie waren aber zudem Autoren, die man in den wichtigsten ethischen und religiösen Fragestellungen mit für maßgeblich hielt. Homer galt mit Hesiod als derjenige, der den Griechen ihre Götter gegeben hatte, mit ihm lernte man lesen und schreiben, er galt als weiser Ratgeber für alle Lebenslagen, kurz: er hatte noch im 4. Jahrhundert, gemeinsam mit anderen Formen von Literatur, einen für uns kaum nachvollziehbaren Einfluss auf das politische und kulturelle Leben. Wenn Platon seinen eigenen Weltentwurf präsentieren wollte, musste er geradezu ihnen gegenüber deutlich Stellung beziehen. Er tut dies mit dem Anspruch, Allgemeingültiges über das Spezifische von Dichtung zu sagen. Dichtung und Nicht-Dichtung werden nicht mehr durch formale Kriterien wie etwa das Versmaß voneinander unterschieden; daher kann man bei ihm auch von einer Literaturtheorie sprechen. Entscheidend wird nun, dass es sich um eine Darstellung von Charakteren, deren Befinden, Handlungen und Handlungsgelingen oder -scheitern mit dem Mittel der Sprache handelt. Der für ‚Darstellung‘ verwendete Terminus ‚Mimesis‘ hat bei Platon einen ganzen Strauß möglicher Bedeutungen. In der Kunst meint Mimesis das Hervorbringen von etwas einem Vorbild Ähnlichen mit dem Ziel, dass das

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Vorbild vom Betrachter in seiner Qualität erkannt und der Betrachter entsprechend emotional bewegt werden soll. Inhalt dieser Darstellungen soll primär das Schöne, das heißt die je spezifische Bestimmtheit einer Sache sein, das heißt in der Dichtung, nicht irgendwelche gerade in der Empirie aufgelesenen, typischen Verhaltensweisen von Menschen, sondern ein guter Charakter. Ähnlichkeit mit dem Vorbild wird für Platon in der Dichtung in zweierlei Weise erreicht, nämlich dadurch, dass zum einen die Qualität der Handlungen den geschilderten Charakteren entsprechen soll – Sokrates wird zum Beispiel von Platon selbst als besonnen, beharrlich, tapfer, weise usw. handelnder Mensch dargestellt, wie es zu seinem Charakter passt – und dadurch dass zum anderen der Handlungserfolg oder -misserfolg dem handlungsauslösenden Charakterzug entsprechen soll – soweit Sokrates weise ist, kann er bei Platon auch in den Rededuellen mit den Sophisten und Rhetoren als Sieger vom Platz gehen; prinzipiell soll ein Mensch, sofern er gut handelt, als glücklich, sofern schlecht, als unglücklich dargestellt werden. Wann jemand besonnen, tapfer, weise usw. ist, bestimmt Platon durch eine umfassende Psychologie und sichert seine Poetik auf diese Weise systematisch ab. Diese Psychologie hilft ihm auch bei der Beschreibung der Wirkung der Dichtung. Dass es in der empirischen Welt nicht immer so gerecht zugeht, wie er es für die Dichtung fordert, weiß natürlich auch Platon. Er hält die Welt aber ungeachtet ihrer einzelnen Kontingenzen für nach guten Prinzipien geordnet. Es ist seiner Ansicht nach daher eine anspruchsvolle und vornehme Aufgabe, das Tagesgeschehen auf diese Prinzipien hin zu analysieren und in der Dichtung die oben genannten Korrelationen umzusetzen. Die dafür nötige Fiktivität der Dichtung wird von Platon ausdrücklich gebilligt, sie ist sogar notwendig, um gute Charaktere darzustellen. An einer Fiktionalität im engen Sinn, das heißt einer, die keiner externen Wahrheitskriterien bedarf, kann ihm hingegen nicht gelegen sein. Die inhaltlichen Anforderungen an gute Dichtung kann für Platon nur der Philosoph mit seinem Wissen über die Struktur der Welt und der Seele angemessen erfüllen. Platon lässt wenig Zweifel daran aufkommen, dass er meint, mit seinen Dialogen diesen Anspruch wesentlich besser eingelöst zu haben als die herkömmliche Dichtung. Dieser erkennt er des Öfteren zu, das Richtige zu treffen – ihre Charakterisierung als enthusiastisch ist in diesem Zusammenhang nicht als ausschließlich ironische Belobigung, sondern als die Beschreibung einer Sonderbegabung für bestimmte Themenbereiche zu verstehen –, aber dergestalt, dass er diesen Dichtern abspricht, rationale Rechenschaft über ihre Aussagen ablegen zu können. Sie besitzen nur – in diesem Fall: richtige – Meinungen über wesentliche ethische Sachverhalte. Daher stehen sie vielfach in Gefahr, nicht an diesen richtigen Meinungen festzuhalten, vor allem dadurch, dass sie die Empirie und die daraus gebildeten Ansichten der ‚Vielen‘ (‚der Tyrann lebt glücklich‘ usw.) nicht kritisch analysieren, sondern sie mehr

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oder minder direkt in ihre Darstellungen übernehmen. Nur für diese Dichtung gebraucht Platon den ‚Mimesis‘-Begriff des 10. Buchs der Politeia, der seine negative Konnotation aus dem nur oberflächlichen Erkennen des Gegenstandes der Darstellung zieht; und nur darauf zielt die Kritik, nicht aber auf die Frage, ob Dichtung prinzipiell Abbildcharakter hat oder Illusionen hervorrufen will. Nicht nur in diesem Punkt hat Aristoteles die Gedanken Platons in seiner Poetik weitergeführt; wenn er dort im 9. Kapitel die Dichtung von einer eher der Empirie verpflichteten Geschichtsschreibung absondert, steht Platons Unterscheidung von guter und schlechter Dichtung im Hintergrund. Vielmehr hat er auch die Einteilung der Grundlagen der Poetik in den ersten drei Kapiteln – zu den Gegenständen, Mitteln und Vortragsweisen der Dichtung – weitgehend von Platon übernommen. Dass Aristoteles’ Poetik als das Werk, das auf die abendländische Poetik und die Beantwortung der Frage „Was ist Literatur?“ sicher über weite Strecken den größten Einfluss gehabt hat, mit Platons Äußerungen zur Dichtung eng verzahnt ist, hat man schon immer gesehen, dabei allerdings den Fokus auf die Unterschiede und die vermeintlich polemische Auseinandersetzung gerichtet. Unterschiede gibt es gewiss – vor allem bei der Bewertung der Wirkung der tragischen Affekte auf den Zuschauer –, man sollte sich dadurch aber nicht den Blick auf die Gemeinsamkeiten gerade in den grundlegenden Bestimmungen von Literatur verstellen, die auch Platon als einen der Väter der abendländischen Literaturtheorie erscheinen lassen.

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Was macht Dichtung zur Dichtung? Zur Interpretation des neunten Kapitels der Aristotelischen Poetik (1451 a36-b11) Hermeneutische Vorüberlegungen1 Wie in vielen seiner Schriften führt Aristoteles auch in der Poetik den Grundbegriff, von dem her er den Gegenstand dieser Disziplin zu bestimmen sucht, in einem noch unspezifischen, formalen Gebrauch ein, um ihn schrittweise zu präzisieren. Dichterisches Tun ist, so beginnt das erste Kapitel, grundsätzlich ein Nachahmen (1447 a13-16) und hat dadurch nicht nur mit anderen Künsten eine elementare Gemeinsamkeit, sondern mit vielen Betätigungsmöglichkeiten des Menschen überhaupt (1448 b3-9). Dieses Gemeinsame ergibt sich aus einer formalen Analyse dessen, was überhaupt einen Nachahmungsakt zu einem Nachahmungsakt macht. Eine Nachahmung ist nicht eine Sache oder Tätigkeit selbst, sondern ein Akt, der etwas in etwas auf eine bestimmte Weise darstellt (1447 a16-18). Zu jeder Form der Nachahmung gehört also irgendeine Art von Gegenstand, den sie nachahmt, gehören Medien, in denen sie dies tut, gehört eine bestimmte Art und Weise, wie sie das tut. Als Beispiel nennt Aristoteles die Tanzkunst, deren Gegenstand Charakterhaltungen, Gefühle und Handlungen (ƒqh, páqh, práceiß) seien, die sie im Medium der Körperbewegung auf bestimmte Weise zum Ausdruck bringt (1447 a26-29). Diese formale Einführung des Begriffs der Nachahmung durch Aristoteles macht bereits deutlich, dass die bloße Bestimmung ‚Kunst ist Nachahmung‘ den Künsten weder einen bestimmten Gegenstand, etwa die ‚Wirklichkeit‘, noch ein bestimmtes Medium noch eine bestimmte Weise des ‚Nachahmens‘, etwa die direkte Kopie eines gegebenen Vorbilds, zuschreibt. Die Selbstverständlichkeit, mit der Aristoteles alle Künste als Formen der Nachahmung ausgibt, hat ihren Grund vielmehr darin, dass er den relationalen Aspekt, der zu jedem Kunstwerk gehört, ins Auge fasst. Ein Bild von Sokrates oder die 1

Ich gebe im Folgenden nur eine kurze Skizze von historischen und sachlichen Zusammenhängen, die ich ausführlich in einem Kommentar zur aristotelischen Poetik, der in der (von Hellmut Flashar herausgegebenen) Reihe Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung voraussichtlich Darmstadt 2004 erscheinen wird, zu belegen und begründen versuche.

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poetische Darstellung eines trauernden Menschen ist nicht Sokrates oder der Trauernde selbst, sondern Sokrates oder der Trauernde in einem bestimmten Medium auf eine bestimmte Weise. Im weiteren Fortgang der Poetik analysiert Aristoteles die für die Dichtung spezifischen Medien (Kap. 1), ihre möglichen Gegenstände (Kap. 2) und ihre Darstellungsmodi (Kap. 3). Die größte Bedeutung für die Differenzierung der verschiedenen möglichen Arten von Dichtung wie für deren Qualität misst er dem Gegenstand zu, den ein Dichter, wie er betont, sowohl (in der Tradition oder in der [historischen] Wirklichkeit) finden als auch erfinden kann (1451 b18-29). Das Gewicht, das er auf die richtige Wahl des Gegenstands legt, macht von einem weiteren Aspekt her deutlich, dass es voreilig ist, seiner Poetik deshalb, weil sie zu Recht als eine Nachahmungspoetik verstanden werden kann, pauschal ‚die Natur‘ (als Inbegriff der vom Menschen nicht geschaffenen, sondern ihm vorgegebenen Wirklichkeit) als ‚den‘ Gegenstand, an dem sich Dichtung orientieren solle, zuzuordnen. Aristoteles selbst erklärt vielmehr den handelnden Menschen zum eigentlichen Gegenstand von Dichtung (Kap. 2)2 und entwickelt von diesem Ausgangspunkt aus schrittweise die Bedeutung, die ein prägnanter Begriff von Handlung für die Gestaltungsprinzipien von Dichtung hat. Höhepunkt und Zentrum der Analyse des für eine poetische Nachahmung eigentümlichen Gegenstands ist, wie schon die ersten Kommentatoren der Poetik in der Renaissance gesehen haben, das 9. Kapitel mit seiner Unterscheidung der Dichtung von der Geschichtsschreibung. Aristoteles erlaubt sich allerdings bei der Beschreibung dieser Unterscheidung eine verkürzte Ausdrucksweise, die für seine ersten Hörer und Leser kaum missverständlich sein konnte, die aber im geschichtlichen Horizont der Renaissance beinahe zwingend missverstanden werden musste. Aristoteles sagt nämlich, die Dichtung stelle (mehr) etwas Allgemeines dar, die Geschichtsschreibung dagegen das Einzelne, ‚das, was Alkibiades getan und erlebt hat‘ (1451 b5-11).

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Diese Bestimmung des Gegenstands dichterischer ‚Nachahmung‘ macht auch klar, dass es nicht nötig ist, gegen den Gebrauch des Begriffs der Nachahmung zur Beschreibung dessen, was Aristoteles ‚wirklich‘ gemeint hat, zu polemisieren. (So mit besonderer Schärfe und vielen geschichtlichen Beispielen einer vorgeblich falschen Aristoteles-Auslegung bei Jürgen H. Petersen: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München 2000). Aristoteles legt gewiss keinen allzu großen Wert auf den Gebrauch genau eines bestimmten Wortes, sondern betont, dass es immer zuerst auf den gemeinten Sinn ankomme (siehe z.B. Metaphysik 1030 b27f.); gerade beim Handeln aber gibt es einen Gebrauch von ‚nachahmen‘, der keineswegs eine sklavische Kopie, sondern ein eigenes, kreatives Tun meint, das sich aber an etwas anderem orientiert. In der Helena des Euripides z.B. wird eine Person gebeten: ‚ahme die gerechte Art deines Vaters nach‘. Gemeint ist dabei: ‚orientiere dich an denselben Prinzipien wie dein Vater‘, nicht: ‚tue genau dasselbe, was er getan hat‘.

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Für Aristoteles ist – ich werde später darauf noch etwas genauer eingehen – ein Einzelnes immer eine in bestimmter Weise eingeschränkte Verkörperung eines Allgemeinen. Ein einzelnes Dreieck, zum Beispiel ein gleichseitiges Dreieck im Sand, ist eine (und nur eine) Möglichkeit, wie etwas Dreieck sein kann, und hat zudem noch eine Materie, den Sand, an sich, durch den dieses einzelne Dreieck Akzidenzien hat, die mit seinem Dreiecksein überhaupt nichts zu tun haben. An diesem einzelnen Dreieck kann man daher unterscheiden zwischen seinen allgemeinen Aspekten, die ausmachen, dass es ein Dreieck und ein Dreieck von einer ganz bestimmten Eigenheit ist, und dem Dreieck in seiner konkreten Einzelheit. In dieser Einzelheit ist es über das hinaus, was es als (ein einzelnes) bestimmtes Dreieck ist – von mehr oder weniger beliebigen Aspekten bestimmt, die über es als Dreieck nichts aussagen, die also, wenn man sie in eine Beschreibung dieses Dreiecks mit einbezöge, die Beschreibung verwirrend und konfus machen würden. Wenn man wissen will, was ‚dies hier‘ für ein Dreieck ist, hat man kein Erkenntnisinteresse an den Eigenschaften, die ‚dies hier‘ als Sand hat.3 Diese Unterscheidbarkeit beruht auf der Voraussetzung, dass man die vielen Möglichkeiten, wie etwas Dreieck sein kann – das ist die Sache ‚Dreieck‘ in ihrer nur begreifbaren Allgemeinheit –, abgrenzen kann gegen eine einzelne Möglichkeit, wie etwas ein bestimmtes Dreieck ist, und dieses wiederum von der Darstellung seiner Bestimmtheit in einer bestimmten Materie, etwa dem Sand. Dieses Verständnis des Allgemeinen als eines Inbegriffs bestimmt unterscheidbarer und damit erkennbarer Möglichkeiten war allerdings bereits vom Nominalismus des späten Mittelalters radikal in Frage gestellt worden. Als allgemein wird seither nur noch anerkannt, was vielen Einzelnen gemeinsam ist und irgendwie aus ihnen herausgelöst, von ihnen ‚abstrahiert‘ werden kann. Von diesem ‚Herausgelösten‘ kann man dann fragen, ob es nur ein Produkt des Denkens ist – das ist die Position des Nominalismus, die sich in Neuzeit und Moderne weitgehend durchgesetzt hat –, oder ob es auch den einzelnen Dingen immanent sei – diese Position gilt jetzt als aristotelisch – oder ihnen sogar als eine transzendente Wesenheit vorgeordnet sei – diese Variante hält man jetzt für platonisch.4 3

4

Vgl. dazu u.a. Aristoteles: Zweite Analytiken, Buch 2, Kap. 4, 5 und 24. Zur Unterscheidung verschiedener Allgemeinbegriffe bei Aristoteles vgl. Verf.: Die Moderne und Platon, Stuttgart u. Weimar 2003, S. 315- 324 u. 407-417, sowie ders.: Das Universalienproblem bei Aristoteles und seinen spätantiken Kommentatoren, in: Raif Georges Khoury (Hg.): Averroes (1126-1198) oder der Triumph des Rationalismus, Heidelberg 2002, S. 59-86. Vgl. Verf.: Die Moderne und Platon (Anm. 3), S. 19-35; ders.: Anschauung und Denken bei Duns Scotus. Über eine für die neuzeitliche Erkenntnistheorie folgenreiche Akzentverlagerung in der spätmittelalterlichen Aristoteles-Deutung, in: Enno Rudolph (Hg.): Die Renaissance und ihre Antike, Bd.1: Die Renaissance als erste Aufklärung, Tübingen 1998, S. 17-34.

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Auch wenn die erkenntnistheoretischen Einzelheiten, die zu dieser (Um-) Formulierung des Universalienproblems geführt haben, in der Kommentierung der Poetik oder in der Ausarbeitung eigener Literaturtheorien in der Renaissance keine Rolle spielen, das wichtigste Ergebnis dieser Neuformulierung des Universalienproblems – die unmittelbare Hinwendung zu den sinnlich erfahrbaren Einzeldingen und die Überzeugung, alles allgemeine Wissen über sie könne nur aus der möglichst direkten, auf Sinneswahrnehmung und Empfindung gegründeten Bekanntschaft mit ihnen selbst gewonnen werden – liefert für so gut wie alle Versuche, ein neues Verständnis von Dichtung und Dichtungstheorie zu gewinnen, die leitende Vorgabe. Die unmittelbare Folge ist ein neues, gegenüber Aristoteles eingeschränktes Nachahmungsverständnis. Aristoteles versteht die Künste deshalb generell als Nachahmungen, weil ein Gegenstand der Kunst nie dieser Gegenstand selbst sein will, sondern immer dieser Gegenstand in einem auf ihn verweisenden Medium. Deshalb spielt es für die Frage, ob etwas eine Nachahmung ist, keine Rolle, ob der Gegenstand erfunden oder aus der ‚Wirklichkeit‘ aufgenommen ist; Bedeutung gewinnt der Gegenstand für Aristoteles erst bei der Frage nach den Qualitätskriterien von Kunst. Weder einfach dadurch, dass es eine Fiktion ist, noch dadurch, dass es irgendeine Wirklichkeit abbildet, hat etwas schon einen Kunstcharakter. Diesen muss es erst gewinnen, indem die Fiktion oder die Abbildung bestimmten Kriterien, um deren Ermittlung sich Aristoteles intensiv bemüht, genügt. Indem sich die frühe Neuzeit aber von der (vorgeblichen) mittelalterlichen Verachtung der Welt löst und sich den Dingen der Welt zuwendet, gewinnen diese den Charakter, die wahren Dinge zu sein – das, was eine Katze, ein Pferd ‚wirklich‘ ist im Unterschied zu den spekulativen Begriffskonstrukten einer Katzheit, einer Pferdheit, usw. Fast keiner der ersten Poetik-Kommentatoren versäumt es, die (empirisch faktische) Wirklichkeit mit der Wahrheit gleichzusetzen: Das, was wirklich geschehen ist oder geschieht, ist das Wahre, die vom Dichter erfundene Welt ist eine fiktive Scheinwelt.5 Trotz der Tatsache, dass die Poetik-Kommentatoren der Renaissance – im Unterschied zu einem sogar in einschlägiger Forschung immer noch verbreiteten Missverständnis – von der ersten Stunde an die Aufgabe der Dichtung in der Erfindung einer fiktiven Welt (‚inventio‘, ‚fingere‘) gesehen haben, gerät die Dichtung durch diese Gleichsetzung in eine Abhängigkeit von dieser ‚wahren‘ Welt und erhält auf diese indirekte Weise in der Tat den Charakter einer Nachahmung im Sinn einer Repräsentation oder Darstellung dieser wirklichen 5

Vgl. z.B. Robortello: Explicationes in librum Aristotelis, qui inscribitur De Poetica, München 1968 (ND der Ausgabe 1548), S. 2, 30, 79 und 86f. Siehe dazu Brigitte Kappl: Die Poetiken in der Dichtungstheorie des Cinquecento, Kap. Dichtung und Realität, Francesco Robortello; erscheint voraussichtlich Berlin u. New York 2004. Vgl. auch dies.: ‚Exemplar vitae‘ – Der Gegenstand von Dichtung bei Aristoteles und seinen Interpreten im Cinquecento, in diesem Band, S. 167-180.

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Welt. Denn die Einzeldinge, die zum Allgemeinen nur durch ihre Gemeinsamkeiten mit anderen Dingen eine Beziehung haben, gleichgültig, ob diese Gemeinsamkeit tatsächlich vorhanden ist oder nur von einem Subjekt so gesehen wird, sind für sich selbst eben deshalb absolut singulär und ineffabel: Sie lassen sich, so wie sie sind, nicht an andere vermitteln und sind in ihrer Einzelheit nicht erkennbar: Alle Dinge, die wir empfinden, sind einzelne Dinge. Daher sieht ein jeder, daß die anschauenden Urteile, oder die Sätze, die aus der Erfahrung fließen, nur einzelne, oder höchstens besondre Wahrheiten in sich halten können, die allgemeinen Sätze hergegen können niemals aus der Erfahrung allein fließen. 6

So formuliert zum Beispiel Gottsched diese auch im 18. Jahrhundert noch unveränderte Grundüberzeugung. Wenn Dichtung daher überhaupt Aussprechbares, Verstehbares, Vermittelbares darstellen will, kann sie nicht einfach wiedergeben, ‚was Alkibiades getan und erlebt hat‘, sie kann sich nicht auf das beschränken, was der kluge Odysseus als eine einmalige, individuelle, historische Person getan hat, sondern muss ihn unter den Aspekten betrachten, die er mit vielen oder möglichst allen Klugen oder noch besser mit der Klugheit selbst gemeinsam hat.7 Der Blick auf diese vermeintliche Aufgabenstellung, die Aristoteles der Dichtung als Dichtung (im Unterschied zur bloß Fakten wiedergebenden Geschichtsschreibung) zugewiesen zu haben scheint, hat viele Interpreten der Poetik von der Renaissance bis in die Gegenwart so sehr gefangen genommen, dass fast alle erwogenen Deutungsvorschläge für die Interpretation des Aristotelschen Nachahmungskonzepts um die Möglichkeit, gerade diese Problemstellung zu bewältigen, kreisen. Die Lösungsvorschläge, die mit dieser Zielsetzung gemacht werden, sind so zahlreich und vielfältig, dass es bis heute keine Einigkeit auch nur über die Grundaussagen der Poetik gibt. Die Schuld an diesem oft beklagten Zustand wird – auch in diesem Punkt schon von den allerersten Poetik-Kommentatoren der Neuzeit – Aristoteles selbst zugeschrieben. Seine Poetik sei ‚dunkel‘, fragmentarisch, zu wenig ausgearbeitet, nur ein Skizzenheft für seine Vorlesungen, sei ein Produkt mehrerer nicht harmonisierter Überarbeitungen. Nicht von allen, aber von einer sehr großen Zahl von Interpreten wird nicht beachtet, dass allein dadurch die vorgebliche Unübersehbarkeit der Deutungen erheblich an Überschaubarkeit gewonnen hätte, wenn man die Lösungsvorschläge der Vorgänger zur Kenntnis genommen hätte. Gerade von vielen ganz neuen, gegenwärtigen Interpretationsansätzen kann man zeigen, dass sie – in oft nur geringfügiger Variation oder auch nur in anderer Formulierung – nicht nur im 6 7

Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit, 1. theoretischer Teil, Frankfurt a.M. 1965 (ND der Ausgabe Leipzig 1733), S. 69. Vgl. z.B. Robortello: Explicationes (Anm. 5), S. 91.

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19. oder 18. Jahrhundert, sondern schon im 16. Jahrhundert vorgedacht waren.8 Tatsächlich lassen sich die meisten in der geschichtlichen Entwicklung entfalteten und zum Teil heute noch diskutierten Kontroversen auf die Möglichkeiten zurückführen, die sich aus dem in der Renaissance formulierten Verhältnis des (poetisch) Allgemeinen zum (historisch) Einzelnen ergeben. Wenn das Allgemeine (einfach) das vielen Einzelnen Gemeinsame ist, kann man dieses Allgemeine beispielsweise in einer progressiven Begriffsbildung suchen, indem man etwa viele einander mehr oder weniger gleiche Dinge auf etwas absolut Gleiches, viele mehr oder weniger kluge oder tapfere Menschen auf die vollkommene Klugheit oder Tapferkeit selbst zurückführt. Man kann auch weniger spekulativ vorgehen und, dem antiken Vorbild des Zeuxis folgend, aus vielen schönen Frauen die schlechthin schöne Frau zusammensetzen. Man kann dem Vorrang des empirisch Einzelnen noch mehr Recht einräumen: Wenn man die Annahme, die empirische Welt sei als solche eine absolut vollkommene Verwirklichung von Regel und Ordnung, in den Vordergrund stellt und daraus die unmittelbare Konsequenz zieht, dass sich das Allgemeine an dem, was in dieser vielfältigen Vollkommenheit immer wiederkehrt und gleich bleibt, unmittelbar ablesen lässt, dann wird man sich auf das Exemplarische, Typische, Wiederkehrende, bei vielen immer wieder Gleiche stützen, auf das, was sich in Regel und Gesetz fassen lässt, oder auch, wenn man die Geschichtlichkeit des menschlichen Denkens noch mehr berücksichtigt, auf das, was den einzelnen Verhaltensweisen der Menschen einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten geschichtlichen Situation als allgemeine Maximen und Muster ihres Verhaltens zu Grunde liegt. Man braucht nur einen kleinen Schritt über diese Position hinauszugehen und den Aspekt, dass diese Gemeinsamkeiten immer so sind, wie sie von bestimmten Subjekten gesehen werden, mit einzubeziehen und man hat eine ‚Wende zur Subjektivität‘ vollzogen. Das Allgemeine wird dann als das, was den meisten Menschen oder den Menschen einer bestimmten Gesellschaft so zu sein scheint, verstanden. Diesen Schritt hat ausdrücklich und nachdrücklich 8

Ein Beispiel ist etwa Gerrit Kloss: Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit im 9. Kapitel der Aristotelischen Poetik, in: Rheinisches Museum 146 (2003), S. 161-182, der in einer durchaus scharfsinnigen Interpretation zu dem Ergebnis kommt, Aristoteles verpflichte den Dichter nicht darauf, bestimmte Regeln einer empirischen oder idealen Wirklichkeit einzuhalten, sondern lediglich eine plausibel motivierte, in sich stimmige Ereignisfolge zu konzipieren. Die gleiche These kann man z.B. schon bei Jacopo Mazzoni: Della difesa della Comedia di Dante, Cesena 1587, Introduttione § 46, oder bei Faustino Summo: Discorsi poetici, München 1969 (ND der Ausgabe Padua 1600), 46r nachlesen. Andreas Kablitz: Dichtung und Wahrheit – Zur Legitimität der Fiktion in der Poetologie des Cinquecento, in: Klaus W. Hempfer (Hg.): Ritterepik der Renaissance, Stuttgart 1989, S. 77- 122, hier: S. 101-103, sieht hier zum ersten Mal eine der Aristotelischen Intention wirklich gerecht werdende Auslegung erreicht, der er auch selbst zustimmt. In der Aristotelischen Poetik werde „die Legitimität der Fiktion durch die Struktur des Dargestellten gesichert“ (ebd., S. 99).

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schon die Renaissance gemacht,9 und es dürfte kaum schwer zu sehen sein, dass es, wenn dieser Schritt einmal getan ist, auch wieder nur einen kleinen Schritt braucht, um das, was den meisten so zu sein scheint, nicht mehr als die ‚Wirklichkeit‘ aufzufassen, sondern nur noch als das, was man vielen oder einzelnen als glaubwürdig darstellen kann. Dieses Glaubwürdige kann viele – psychologisch begründete – Ursachen haben, es kann auch rein in der inneren Konsistenz und Logik einer Darstellung gesucht und in diesem Sinn auch als etwas rein Ästhetisches verstanden werden. Auch die subjektiven Zugangsweisen zu dem von der Dichtung gesuchten Allgemeinen sind in der Entwicklung seit der Renaissance immer wieder anders beurteilt worden, sie bewegen sich aber fast durchweg zwischen zwei Polen: Entweder man ermittelt das Allgemeine auf rationale Weise, indem man, gestützt auf die bewusste Beobachtung des Gemeinsamen, Regel und Gesetz (und damit auch Symmetrie, Harmonie, Proportion oder überhaupt Form, Gestalt usw.) in den Erscheinungsformen des Einzelnen aufweist, oder man stützt sich auf unmittelbare Erfahrungsweisen, auf Schau, Intuition, Gefühl, Genie und dergleichen, um in dem auf diese Weise Erfühlten oder Erschauten Regel und Gesetz – in zunehmend subjektivierterer Form, als bestimmte Modi des Bewusstseins (sc. und nicht mehr als Erscheinungsweisen der objektiven Welt) – zu finden. Alle diese Varianten mit ihren möglichen Mischformen und Extremen aufzuzählen ist hier nicht möglich; die angeführten Beispiele genügen aber sicher, um zu belegen, dass sich viele der in der Geschichte entwickelten oder in der Forschung vorgeschlagenen Interpretationen trotz ihrer scheinbaren Pluralität um wenige Grundmöglichkeiten gruppieren lassen, die ihrerseits alle aus einer einzigen Aufgabenstellung abgeleitet sind. Diese aus einer vermeintlichen radikalen Entgegensetzung des Einzelnen und des Allgemeinen bei Aristoteles erschlossene Aufgabenstellung hat aber die Perspektive der Forschung in nicht unerheblicher Weise eingeschränkt. Gerade das 9. Kapitel der Poetik macht eine Reihe eindeutiger und kaum ambivalent deutbarer Aussagen, die mit allen eben erwähnten Deutungen nicht vereinbar sind. Noch evidenter wird der Abstand des Aristotelischen Nachahmungsverständnisses von seinen modernen Rezeptionsweisen, wenn man die Poetik nicht einfach aus ihr selbst zu verstehen sucht, sondern – der Praxis der antiken und mittelalterlichen Kommentatoren folgend – die systematischen Voraussetzungen der einzelnen Lehrstücke aus anderen Disziplinen bei Aristoteles, auf die Aristoteles sogar häufig selbst verweist, zur Erklärung mit 9

Vgl. z.B. Robortello: Explicationes (Anm. 5), S. 87f.; Giovambattista Giraldi Cinzio: Scritti critici, hg. von Camillo Guerrieri Crocetti, Mailand 1973, S. 76; Giovanni Antonio Viperano: De poetica libri tres (1579), München 1967, S. 47; weitere Belege siehe den Beitrag von Brigitte Kappl in diesem Band.

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einbezieht. In diesem Sinn möchte ich im Folgenden eine möglichst eng am Text sich bewegende Interpretation vorlegen, eine Interpretation, die sich aber nicht einfach auf die wenigen Sätze des ersten, grundlegenden Abschnitts des 9. Kapitels beschränkt, sondern diejenigen Texte zur Erklärung mit benutzt, die die von Aristoteles gebrauchten Begriffe und die dargelegten Zusammenhänge aus den in anderen Disziplinen von Aristoteles bereits ausgeführten Lehrinhalten erklären.10 Ich beginne mit einer thesenhaften Zusammenfassung der vorgelegten Interpretation und schließe eine eingehende, begründende Texterklärung an. These Aristoteles formuliert im 9. Kapitel das zentrale Formprinzip, durch das sich Dichtung von einer prosaischen Wiedergabe der Wirklichkeit, wie sie ist, unterscheidet. Thema der Kapitel 7-9 ist die Frage, wie eine dichterische Darstellung Einheit gewinnt. Das Kapitel 8 schließt aus, dass diese Einheit durch eine bloße Wiedergabe der Wirklichkeit zu Stande kommen könnte, auch dann, wenn man sich auf einen einzelnen Gegenstand, zum Beispiel auf eine Person beschränkt. Auch das, was eine Person tut oder erlebt, kann unbestimmbar vieles sein (1451 a16-22). Nur durch die Konzentration auf eine Handlung im strengen Sinn, die aus einer charakterlich bestimmten Entscheidung hervorgeht, kann die Beliebigkeit und Konfusion der Wirklichkeit vermieden und eine Darstellung erreicht werden, in der jeder Handlungsschritt seine notwendige Stelle in einem einheitlichen Ganzen einnimmt (1451 a2235). Auf diesem Ergebnis aufbauend bestimmt das 9. Kapitel ‚das Werk‘ (Érgon) des Dichters, das heißt das, was das Poetische an einer dichterischen ‚Nachahmung‘ ausmacht. Das, was in einer dichterischen Nachahmung dargestellt wird, soll nicht einfach etwas sein, was wirklich geschehen ist, sondern das, was geschehen müsste und möglich ist (1451 a36-38). Dabei soll die Nachahmung, also die konkret dargestellte Handlung, so sein, wie sie geschehen müsste, das heißt, wie sie – wahrscheinlich oder notwendig – im Einzelnen durchgeführt werden müsste, wenn sie dem, was einem bestimmten Charakter 10

Ich stütze mich im Folgenden zum Teil auf (oft verkürzte) Auszüge aus dem oben erwähnten (Anm. 1) Kommentar zur Aristotelischen Poetik. Vgl. zur selben Thematik – unter verschiedenen Aspekten auch Verf.: Teleologie und Geschichte bei Aristoteles. Wie kommen nach Aristoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte?, in: Rainer Warning u. Karlheinz Stierle (Hg.): Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1995 (Poetik und Hermeneutik.15), S. 528-563; Verf.: Mimesis bei Aristoteles und in den Poetikkommentaren und Poetiken der Renaissance, in: Gerhard Neumann u. Andreas Kablitz (Hg.): Mimesis und Simulation, Festschrift Rainer Warning, München 1998, S. 17-53; Verf.: Die Literatur und ihr Gegenstand in der Poetik des Aristoteles, in: Thomas Buchheim u.a. (Hg.): Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Hamburg 2003, S. 184-219.

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möglich ist, gemäß sein soll (1451 b5-11). Zur Erläuterung dieser noch abstrakt unbestimmt formulierten Aufgabenstellung erinnert Aristoteles zunächst noch einmal daran, dass ein Prosatext nicht durch formale Gestaltungsmittel zur Poesie gemacht werden kann; auch ein versifizierter Herodot wäre Geschichtsschreibung, nicht Dichtung. Der Unterschied ergebe sich aus der Konzentration auf das, was geschehen müsste, das heißt auf das, was einem Menschen von bestimmtem Charakter mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zu sagen oder zu tun zukommt. Durch diese Motivierung des einzelnen Handelns in den allgemeinen Vorlieben und Abneigungen eines Charakters sei die Dichtung philosophischer – weil allgemeiner – als die Wiedergabe geschichtlicher Einzelfakten (1451 a39-b11). ‚Das, was geschehen müsste‘, ist also das, was ein bestimmter Charakter mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit in einer bestimmten Situation tun müsste, wenn er sich, das heißt wenn er das, was ihm als diesem bestimmten Charakter möglich ist, in einer einzelnen Handlung verwirklichen würde. Eine dichterische Darstellung macht die einzelnen Handlungen eines Menschen verstehbar, weil diese seine allgemeinen charakterlichen Tendenzen zum Ausdruck bringen, das heißt im Medium der Sprache und in dramatischer Darstellungsweise ‚nachahmen‘. Durch die Orientierung an der inneren Form eines Charakters gewinnen auch die einzelnen Handlungen Zusammenhang, Ordnung und Form. Prosaisch und (mehr oder weniger) formlos ist die Geschichtsschreibung, weil sie dieses Auswahlprinzip nicht konsequent anwenden kann, sondern jedes Einzelne wiedergeben muss, wie es durch Zufall oder Absicht zu Stande gekommen ist. Vorläufige Bestimmung des Gegenstands der Dichtung Der erste Satz des Kapitels macht zunächst eine Aussage über den Gegenstand von Dichtung. Nicht einfach das, was geschieht oder geschehen ist, das heißt nicht die empirische Wirklichkeit als Ganze (mit ihrer Mischung aus Zufall, Regelmäßigkeit und Notwendigkeit)11 ist Gegenstand der Dichtung, sondern nur ein Geschehen, das so ist, „wie es geschehen müsste (oder könnte) und möglich ist“: „o…a ˜n genoito kai ta dunatá“. O…oß bedeutet ‚so beschaffen, wie‘. Aristoteles stellt dem Dichter also die Aufgabe, ein Geschehen, das eine ganz bestimmte Qualität hat, zu konzipieren. Er soll eine einzelne Handlung so erfinden oder auch finden, dass sie genau die Beschaffenheit hat, die sie (wahrscheinlich oder notwendig) haben müsste, wenn sie (diese Ergänzung bringt die präzisierende Wiederholung des Anfangssatzes in 51 b8f.) rein und nur Ausdruck bestimmter Charakterhaltungen ist. 11

Vgl. z.B. Aristoteles: De generatione et corruptione 333 b7.

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Die Tätigkeit des Dichters beschreibt Aristoteles hier einfach als légein (sagen). Es ist aber aus dem engeren und weiteren Kontext zu erschließen, dass légein an dieser Stelle einfach ein Synonym für poieîn (dichten) oder mimeîsqai (nachahmen) ist. Es ist auch von der Sache her klar. Denn der Dichter könnte ja auch eine Kopie der Wirklichkeit nur im Medium der Sprache auf der Bühne darstellen, und das heißt, nicht als sie selbst, sondern nur in einer Wiedergabe in etwas anderem, eben als eine ‚Nachahmung‘. Wenn das, was der Dichter ‚sagt‘, eine Nachahmung ist, dann heißt das also, dass er eine konkrete einzelne Handlung darstellt, die aber nicht einfach für sich selbst steht, sondern etwas nach-ahmt, also an etwas Maß nimmt, was nicht schon in ihr selbst liegt. Dass dieses Maß nicht die vorgegebene, äußere Wirklichkeit sein soll, sagt Aristoteles deutlich. Was aber meint er mit ‚wie es geschehen müsste und möglich ist‘? Da ‚das, was geschieht‘ genau das ist, was in der Wirklichkeit sich vollzieht, enthält das o…a Àn génoito eine Vorgabe oder Maßgabe, der dieser wirkliche Vollzug gemäß sein oder gemacht werden soll. Im Unterschied zu dem, was man gewöhnlich für Nachahmung hält, scheint Aristoteles zu verlangen, dass man beim Nachahmen gerade nicht wiedergibt, was man ‚in der Wirklichkeit‘ vor sich hat, sondern dass der Dichter ‚seine‘ Wirklichkeit, die er in seiner Dichtung schafft, nicht durch das Hinblicken auf die äußere Realität gestaltet und formt, sondern indem er Maß nimmt an etwas, wonach sich auch eine in wirklichem Vollzug vorgeführte Handlung richten müsste oder könnte. Dieses Maß ist nach der Erklärung, die das 9. Kapitel gibt, der Charakter eines Menschen. Denn Aristoteles unterscheidet ‚das Mögliche‘, das der Dichter darstellt, von den Einzelfakten, zum Beispiel von all dem, was Alkibiades getan oder erlebt hat, durch eine Einschränkung. Der Dichter soll sich bei seiner Auswahl an folgender Frage orientieren: „Einem Menschen von welcher Beschaffenheit kommt es mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zu, etwas genau dieser Beschaffenheit Gemäßes zu sagen oder zu tun?“ Probleme der Übersetzung Zunächst eine kurze Begründung der Übersetzung. Die wörtliche Formulierung bei Aristoteles lautet: „Es besteht das Allgemeine aber darin: dem Wiebeschaffenen kommt in bestimmter Weise Wiebeschaffenes zu sagen oder zu tun zu gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen“ (1451 b8f.). Die präpositionale Wendung „gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen“ könnte man, und so denken viele Übersetzer und vor allem viele Interpreten, für eine genauere Erklärung des Objekts der Infinitive oder auch der Infinitive ‚sagen‘ oder ‚tun‘ selbst halten, man kann sie aber auch als adverbielle Erklärung des

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Prädikats ‚[es] kommt zu‘ verstehen. Daraus ergeben sich drei Verständnismöglichkeiten des Satzes: (1) ‚Das Wiebeschaffene‘, das ein Dichter einen Menschen sagen oder tun lässt, soll gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen sein, das heißt ein Dichter soll einen Charakter nur mit solchen Eigenschaften ausstatten, die den Forderungen der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit genügen. (2) Das Reden und Tun der Figuren einer Dichtung soll ein Reden oder Tun sein, das Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit hat. Nur solche Worte und Taten, die den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit entsprechen, sollten vom Dichter ausgewählt werden. So übersetzt beispielsweise Olof Gigon: „Das Allgemeine besteht darin, darzustellen, was für Dinge Menschen von bestimmter Art reden oder tun nach Angemessenheit oder Notwendigkeit.“12 Ihr Reden und Tun also soll den Forderungen der Angemessenheit und Notwendigkeit gehorchen. Beiden Übersetzungsmöglichkeiten gemeinsam ist, dass die Formel ‚gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen‘ die Erklärung für das enthalten müsste, was Aristoteles für das Dichterische an einer Handlungsdarstellung hält: Die Eigenschaften eines Menschen und/oder sein Reden und Tun sollen so sein, dass sie nicht nur auf irgendwelche Einzelzüge oder Einzeltaten dieses individuellen Menschen zutreffen, sondern sie sollen zu Menschen von einer bestimmten Art gehören, deren Verhalten dem entspricht, was zumeist oder sogar notwendig eintritt. Denn das Wahrscheinliche ist nach Aristoteles das, von dem man weiß, dass es meistens geschieht; zum Notwendigen gehört sogar, dass es immer geschieht.13 Diese beiden Übersetzungsweisen bilden die Voraussetzung für diejenige Deutung des Allgemeinen der Dichtung, die die Neuzeit seit den ersten Renaissance-Kommentaren so oft gesucht hat. (3) Von der grammatikalischen Konstruktion des Satzes her gleich möglich, ja plausibler ist die Beziehung des Präpositionalausdrucks ‚gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen‘ auf das Prädikat, dem er dann als Adverbiale zugeordnet ist. Das würde bedeuten, dass die Erklärung „mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit“ das Prädikat „zukommen“ präzisiert. Es soll das, was ein bestimmter Charakter sagt oder tut, diesem „mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zukommen“. Eine wörtliche Übersetzung, die aber in der Wortstellung die Satzlogik deutlicher zum Ausdruck bringt, müsste also lauten: „Einem Wiebeschaffenen kommt es mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zu, in bestimmter Weise Wiebeschaffenes zu sagen oder zu tun.“ Dieser Sinn ist auch von der Sache her gefordert. Denn der Unterschied, auf den die Aristotelische Argumentation mit Nachdruck zielt, ist ja, dass ein Dichter nicht alles, was ein Herakles, ein Theseus oder ein Alkibiades tut oder 12 13

Vgl. Olof Gigon: Aristoteles. Vom Himmel – Von der Seele – Von der Dichtkunst, übers. und eingel. von Olof Gigon, Zürich 1950, S. 403f. Vgl. z.B. Aristoteles: Erste Analytiken 70 a5ff.; Metaphysik 1010 b28; 1015 a34; 1072 b12.

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erlebt, wiedergeben soll, sondern ausschließlich das, was einem Herakles, Theseus oder Alkibiades zu sagen oder zu tun zukommt, das heißt was für sie eigentümlich ist (Kap. 8). Diese Forderung formuliert Aristoteles im 15. Kapitel ganz unzweideutig: auch bei der Zusammenstellung der Handlungen muss man immer das Notwendige oder Wahrscheinliche suchen. Es muss notwendig oder wahrscheinlich sein, dass ein Mensch von bestimmter Art genau dieser Art Gemäßes sagt oder tut (1454 a3336).

Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit sind also Forderungen an das Verhältnis, in dem das, was ein Dichter eine Person sagen oder tun lässt, zu dem Charakter steht, dem ein Dichter diese Worte und Taten zuschreibt. Aristoteles fordert nicht, dass ein Dichter seine Personen nur Wahrscheinliches oder gar Notwendiges tun lassen solle, also etwa, dass er jemanden, dessen Herz von einem Schwert durchbohrt wurde, sterben lässt,14 während es nicht zulässig wäre, jemanden, wie etwa Thomas Mann dies darstellt, an einem kranken Zahn sterben zu lassen. Das, was Aristoteles fordert, ist vielmehr, dass alles das, was man eine Person sagen oder tun lässt, als Äußerungsformen einer bestimmten Charakterverfassung verstanden werden kann. Wenn Achill heftig und unerweichlich gegen Agamemnon zürnt, sich aber von Priamos leicht und versöhnlich von seinem übergroßen Zorn auf Hektor abbringen lässt, dann ist es Aufgabe eines Dichters, wahrscheinlich zu machen oder es sogar als notwendig erscheinen zu lassen, dass es tatsächlich ein und derselbe Achill mit seiner bestimmten Art von Charakter ist, zu dem beides passt. Wenn man von diesem Ergebnis her auf den Eingangssatz des Kapitels zurückblickt, der ja in noch abstrakt unbestimmter Form dieselbe Forderung aufstellt, dann dürfte klar sein, dass auch hier die gewohnte Übersetzung nicht möglich ist. Halliwell zum Beispiel schlägt – immer noch im Sinn der Renaissance-Kommentare – vor: „the poet’s task is to speak [...] of the kind of events which could occur, and are possible by the standards of probability or necessity.“15 Ähnlich, noch deutlicher in der Aussage, hatte auch Fuhrmann 1976 übersetzt: „Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, [...] was geschehen könnte, das heißt das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.“16 Die Wendung ‚gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen‘ wird hier also ihrer Satzfunktion nach als Attribut zu dem ‚Möglichen‘ verstanden: Es soll ein dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen gemäßes Mögliches sein, so wie dann in der präzisierenden Wiederholung dieses Satzes 14

15 16

Vgl. z.B. Lodovico Castelvetro: Poetica d’ Aristotele Vulgarizzata e Sposta, hg. von Werther Romani, Vol. I und II, Roma u. Bari 1978-79, Vol. I, S. 249-251; vgl. dazu auch den Beitrag von Brigitte Kappl in diesem Band. Vgl. Stephen Halliwell: The „Poetics“ of Aristotle. Translation and Commentary, London 1987, S. 40. Vgl. Manfred Fuhrmann: Aristoteles, Poetik, eingel., übers. und erl., München 1976, S. 58.

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(1451b8f.) die Eigenschaften (das ‚Wiebeschaffene‘ eines ‚Wiebeschaffenen‘) nicht individuelle, sondern den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit folgende Eigenschaften sein sollen. Die Vermutung, die zu dieser Übersetzung führt, ist, dass für Aristoteles die Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Grund dafür sind, dass etwas möglich, und zwar eine mögliche Realisation ist. Die Wendung ‚nach dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen‘ wäre dann die eigentliche Sachexplikation des ‚Möglichen‘. Was eine solche Übersetzung Aristoteles unterstellt, muss man fast absurd nennen. Denn Aristoteles, der über eine hoch differenzierte Modallogik verfügt, soll hier behaupten, man müsse etwas darstellen, was nach den Regeln des Wahrscheinlichen oder Notwendigen möglich ist. ‚Möglich‘ (als Modalprädikat, das heißt als Begriff, der in Beziehung gesetzt werden kann mit den Begriffen ‚notwendig‘ und ‚wahrscheinlich‘) ist nach Aristoteles, ‚was auch anders sein kann‘, ‚notwendig‘ ist genau das, bei dem dies ausgeschlossen ist.17 Wenn es (nur) möglich ist, an einem kranken Zahn zu sterben, dann ist es nicht notwendig und oft nicht einmal wahrscheinlich, dass man an dieser Krankheit tatsächlich stirbt, sondern man kann dann diesen Verlust auch überleben. Zu fordern, man solle ein mögliches Geschehen gemäß seiner Notwendigkeit darstellen, ist widersinnig. Denn es hat ja gerade keine derartige Notwendigkeit an sich. Man kann ‚das, was auch anders sein kann‘ nicht ‚gemäß der Unmöglichkeit, anders zu sein‘ darstellen. Die Bestimmung „gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen“ kann also auch im ersten Satz dieses Kapitels nicht als eine (modal)attributive Erklärung zu dem ‚Möglichen‘, das der Dichter darstellen soll, verstanden werden, sondern als genauere Erklärung der dichterischen Tätigkeit: Das, was der Dichter ‚sagt‘, das heißt die Nachahmung, die er konzipiert, soll nicht irgendein Geschehen wiedergeben, sondern ein Handeln von besonderer Art, es soll mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit genau so sein, „wie es geschehen müsste und [für einen Menschen von bestimmter Art] möglich ist“. Eine korrekte Übersetzung des ersten Satzes muss also lauten: „Aufgrund des Gesagten ist evident, dass es nicht Aufgabe des Dichters ist, zu sagen, was geschehen ist, sondern eine wahrscheinliche oder notwendige Darstellung von dem zu geben, was geschehen müsste und möglich ist.“ Der Charakter als etwas ‚Mögliches‘ und ‚Allgemeines‘ Aus den Überlegungen zur Übersetzung ergibt sich bereits, dass der Zusammenhang zwischen Charakter und Handlung die zentrale Forderung ist, die Aristoteles an eine Dichtung stellt, und dass er von ihrer Erfüllung auch die 17

Vgl. Anm. 12.

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einheitliche Gestaltung eines Dichtwerks abhängig glaubt. Es gibt aber noch eine ganze Reihe von Aussagen, die wegen der prägnanten Kürze, in der Aristoteles sich ausdrückt, einer ausführlicheren Kommentierung bedürfen. Dass Aristoteles unter der ‚bestimmten Beschaffenheit‘ eines Menschen seinen Charakter versteht, braucht keine Begründung, denn das sagt er im 6. Kapitel selbst ausdrücklich: „gehandelt wird von Handelnden, die notwendigerweise auf Grund ihres Charakters und ihrer Erkenntnishaltung eine bestimmte Beschaffenheit haben“ (1449 b36-39), und ähnlich, wenig später noch einmal: „auf Grund unseres Charakters haben wir eine bestimmte Beschaffenheit“ (1450 a19). (Bei dem, was wir einheitlich mit dem Begriff ‚Charakter‘ belegen, unterscheidet Aristoteles zwischen Verhaltensformen, die mehr auf Übung und Gewöhnung – Êqoß – beruhen, und solchen, die durch Belehrung und Denken erworben werden – diánoia. Erst Êqoß und diánoia zusammen machen das aus, was etwa unserem Charakterbegriff entspricht.)18 Warum und in welchem Sinn aber spricht er einem Reden und Handeln, das genauso ist, wie es einem bestimmten Charakter zukommt, eine Art Allgemeinheit zu? Die Antwort muss zunächst durch eine genauere Berücksichtigung dessen, was Aristoteles unter einem Charakter begreift, gesucht werden. Dass Aristoteles einen Charakterbegriff hat, der sich von den meisten Vorstellungen von Charakter, die die Neuzeit entwickelt hat, unterscheidet, ist oft gesagt worden. Zuletzt hat Halliwell die wesentlichen Differenzen gut herausgearbeitet.19 Eine Charaktervorstellung, für die Charakter das sein muss, was allem, was ein bestimmter Mensch fühlt und tut, zu Grunde liegt und ihn in allem zu etwas eigentümlich Individuellem macht,20 kennt Aristoteles nicht. Von seinen Voraussetzungen her fehlt derartigen Charakterbegriffen die Möglichkeit, zwischen den Aspekten, unter denen ein Mensch einen individuellen Charakter hat, und den Aspekten, unter denen er auf Äußeres mehr oder weniger passiv reagiert und in unselbständiger Weise allgemeinen Tendenzen, Konventionen, Klischees usw. folgt, zu unterscheiden. Entscheidend für Aristoteles ist vielmehr, dass ein Charakter aus der Art und Weise entsteht, wie ein Mensch seine Vermögen, die ihm als Mensch überhaupt und als Mensch mit einer bestimmten natürlichen Formung dieser Anlagen zur Verfügung stehen, ausgebildet hat.21 Charakter hat man nicht 18 19

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Vgl. u.a. Aristoteles: Nikomachische Ethik, I, 13. Vgl. Stephen Halliwell: Aristotle’s Poetics. A Study of Philosophical Criticism, London 1986, S. 149f., 151 und 154-156. Zur Kritik an Halliwells Reduktion des aristotelischen Charakterbegriffs auf allgemeine Handlungsmuster vgl. Verf.: Die Literatur und ihr Gegenstand (Anm. 10), S. 194ff. Dazu, dass dieser umfassende, jede Einzelheit eines individuellen Lebens einschließende Charakterbegriff aus einer Übertragung des stoischen Schicksalsbegriffs auf das einzelne Individuum entstanden ist, vgl. Verf.: Die Literatur und ihr Gegenstand (Anm. 10), S. 200f. Vgl. u.a. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1103 a14-26; 1111 b5ff.; vgl. dazu Eckart Schütrumpf: Die Bedeutung des Wortes ‚ethos‘ in der Poetik des Aristoteles, München 1970,

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bereits, weil man bestimmte Vermögen hat – Aristoteles denkt dabei vor allem an die psychischen Vermögen: Wahrnehmung, Vorstellung, Meinung, rationales Urteilen, intellektives Einsehen, aber auch an die mit diesen Erkenntnisaktivitäten verbundenen Formen der Lust- und Unlusterfahrung und die aus beiden entstehenden Strebeformen der Begierde, des Eifers und des vernünftigen Willens22 –, Charakter wird aus diesen Vermögen erst, wenn sie durch Übung, Gewöhnung, Belehrung und selbständiges Begreifen in einen festen Habitus (in eine ‚ciß) überführt sind. Auch für diesen Habitus verwendet Aristoteles den Begriff der Dynamis (Möglichkeit, Vermögen), ja er ist für ihn erst Dynamis im eigentlichen Sinn. In seiner Psychologie erläutert er den Unterschied zwischen einer Dynamis, die nur eine Möglichkeit ist, und einer Dynamis, die ein ausgebildetes Vermögen darstellt.23 Der Mensch, so führt er dort aus, hat zum Beispiel von seiner Natur her die Möglichkeit, Wissen zu erwerben. Diese Möglichkeit bedeutet aber nicht, dass er bei jeder Wissen erfordernden Gelegenheit über die Fähigkeit, dieses Wissen einzusetzen, es zu ‚verwirklichen‘, verfügt. Ein solches Vorgehen steht ihm erst zu Gebote, wenn er die Möglichkeit, Wissen zu erlangen, zu einer wirklichen Fähigkeit entwickelt hat. Dieser Besitz steht ihm dann als das Vermögen, jederzeit das vorhandene Wissen anzuwenden, zur Verfügung. Wer etwa eine bestimmte Sprache erlernt hat, kann, wenn nichts Äußeres (zum Beispiel Krankheit oder Rausch) ihn daran hindert, jederzeit einzelne Äußerungen in dieser Sprache verstehen; er verfügt grundsätzlich, allgemein über die Fähigkeit, sein Wissen in beliebigen Einzelfällen zu aktualisieren. Wer Griechisch kann, bei dem ist es in Bezug auf sein Wissen notwendig und in Bezug auf mögliche Behinderungen der Aktualisierung dieses Wissens wahrscheinlich, dass er einen bestimmten griechischen Satz verstehen kann. Will man zeigen, dass jemand die griechische Sprache beherrscht, kann man dies auf zweierlei Weise: Man kann es abstrakt benennen: ‚dieser Mensch

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S. 1-46; zum Aristotelischen Begriff des Charakters vgl. auch Jakob Wisse: Ethos and Pathos from Aristotle to Cicero, Amsterdam 1989, der allerdings die bedeutende Umformung des Aristotelischen Charakterbegriffs im Hellenismus nicht genau genug herausarbeitet. Zur Genese des Handelns aus dem Zusammenwirken dieser Vermögen vgl. Viviana Cessi: Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt a.M. 1987, S. 127-183. Vgl. u.a. Aristoteles: De anima, II, 5; vgl. dazu Wolfgang Bernard: Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles, Baden-Baden 1988, S. 54-68). In der Neuzeit ist es vor allem Shaftesbury, der sich an diese Aristotelische Dynamis-Konzeption anschließt und dadurch in der Tat dem bei Aristoteles Gemeinten oft sehr nahe kommt, ohne dass er aber eine spezifisch neuzeitliche, und das heißt auch: neostoische Position aufgäbe. Vgl. dazu die subtilen Ausführungen bei Friedrich A. Uehlein in diesem Band, S. 215-229. Für die Bestimmung des Verhältnisses zu Aristoteles wichtig wäre die Klärung der Frage, wie weit Shaftesbury die poseidonische Konzeption einer dúnamiß zwtikë (frg. 78,65; 310,65 Theiler), einer Lebenskraft, direkt oder indirekt mit rezipiert hat.

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beherrscht das Griechische‘. Diese Art der Beschreibung bleibt eine bloße, inhaltsleere, nicht nachprüfbare Behauptung, selbst wenn man sie mit vielen Worten ausschmückt: ‚vollendet, frei, fließend, wunderbar‘. Man kann diesen Menschen aber auch in bestimmten Situationen vorführen, in denen er beliebiges Gesprochenes oder Geschriebenes versteht und darüber spricht. Dann weiß man wirklich, dass er Griechisch kann und hat davon zugleich konkrete Vorstellungen. Diese letztere Art der Darstellung eines Könnens ist die, die Aristoteles bevorzugt (siehe Kap. 24) und bei der Darstellung des Handelns eines Charakters angewendet wissen will. Aber auch bei den ethischen Charaktereigenschaften gilt dieselbe Unterscheidung zwischen den beiden Formen des ‚Möglichen‘. Wer etwa nicht nur hin und wieder einmal tapfer ist, sondern wer Tapferkeit als eine feste Charaktereigenschaft besitzt, der muss das allgemeine Vermögen des Menschen, dass er zwischen zu Fürchtendem und nicht zu Fürchtendem unterscheiden kann, durch Gewöhnung und eigenes Begreifen so ausgebildet haben, dass er weiß, welcher Gefahr er standhalten kann und welcher nicht. Und es müssen auch die mit dem jeweiligen ‚Wissen‘ verbundenen Formen der Lust und Unlust und das aus ihnen sich ergebende Streben oder Meiden in ihm zu einer festen Erfahrungshaltung ‚zusammengewachsen‘ sein, dann erst ist Tapferkeit ein wirklicher Zug seines Charakters und Tapferkeit eine dúnamiß in ihm, die er jederzeit ihr gemäß entfalten kann.24 Das heißt: Dann kann er grundsätzlich immer tapfer handeln und wird dieses bestimmte Vermögen normalerweise auch mit Notwendigkeit oder, weil er durch etwas Äußeres daran gehindert werden könnte, mit Wahrscheinlichkeit verwirklichen und wird nur in wenigen Situationen aus anderen in seinem Charakter angelegten (Fehl-)Tendenzen einmal in kontingenter Weise davon abweichen. Diese verwirklichte Form des ‚Möglichen‘ in einem Charakter erlaubt ein sinnvolles Verständnis der Verbindung des Möglichen mit einer Form des Allgemeinen, die Aristoteles herstellt. Ein tapferer Soldat etwa hat sich in vielen Kampferfahrungen ein ‚Auge der Seele‘ (wie Aristoteles sagt)25 erworben, das ihn befähigt, kognitiv und emotional richtig zu erfassen, worin die Gefährlichkeit eines Gegners besteht und wie man ihr begegnen kann. ‚Auge der Seele‘ ist also eine Metapher für eine Art Summe konkreten Erfahrungswissens. Dieses Erfahrungswissen steht dem Tapferen genauso allgemein zur Verfügung wie die allgemeine Beherrschung einer Sprache dem, der sie gründlich gelernt hat. Wenn er in einer einzelnen Kampfsituation handelt, wird er daher nicht unkontrolliert, beliebig und unvorhersehbar reagieren, sondern er wird sich im Einzelfall so verhalten, wie es seiner Tapferkeit im Allgemeinen entspricht. 24 25

Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1115 a6ff. Vgl. ebd. 1144 a29.

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Charakter und Handlung Das Verhältnis von Charakter und Handlung ist von dem Charakterverständnis her, wie es Aristoteles ausdrücklich lehrt, auch ein Verhältnis eines Allgemeinen zu einem Einzelnen – eben das Verhältnis allgemeiner charakterlicher Haltungen, allgemeiner Tendenzen, Bestimmtes vorzuziehen oder zu meiden, zu ihrer je einzelnen Realisierung. Wer die allgemeine Tendenz hat, Süßes vorzuziehen, wird in einer konkreten Wahlsituation zwischen Honig und Olive, dann, wenn ihn nichts hindert, zum Beispiel keine Rücksicht auf die Gesundheit oder kein zu hoher Preis, sich für den Honig entscheiden.26 Eine solche allgemeine Tendenz sieht man nicht, man kann sie, sofern sie allgemein ist, überhaupt nicht in einer konkret einzelnen Form darstellen. Man kann aber ein Handeln auswählen oder erfinden, das von ihr geprägt ist, indem man in konkreten Situationen zeigt, wie ein Mensch diesen allgemeinen Tendenzen gemäß handelt, das heißt sich für das entscheidet, was ihnen entspricht, und das ablehnt, was ihnen entgegensteht. Dadurch wird dieses Handeln aus seinen allgemeinen Gründen erkennbar. Es ‚umfasst sie mit‘ (1450 a21f.), wie Aristoteles sich ausdrückt, und gewinnt dadurch auch selbst den Charakter von etwas Allgemeinem, das der Beliebigkeit des je zufällig Faktischen entnommen ist. Dies ist ein besonders wichtiges Argument dafür, dass ‚das Mögliche‘, in dem Aristoteles den Gegenstand der Dichtung im Unterschied zu einer prosaischen Wiedergabe der (in seinen Augen immer aus Ordnung und Konfusion bestehenden) Wirklichkeit sieht, nicht einfach eine ‚mögliche Wirklichkeit‘ ist (das heißt eine zwar erfundene, aber den wahrscheinlichen und notwendigen Gesetzen der Wirklichkeit entsprechende Fiktion); ja, man kann prägnant sagen, dass das, was sich aus der Realisierung oder Aktualisierung allgemeiner charakterlicher Tendenzen in einem bestimmten Einzelfall ergibt, überhaupt erst das ist, was nach Aristoteles eine Handlung ist. Die Grundaussage, die Aristoteles seit dem 2. Kapitel immer wieder – und auch im 9. Kapitel – über die spezifische Tätigkeit des Dichters macht, ist aber, dass sie Handlungen nachahmt (im 9. Kap. 1451 a27-29). Der eigentliche Gegenstand dichterischer Nachahmungen sind Handlungen. Wenn Aristoteles im 9. Kapitel den Gegenstand, mit dem sich die Dichtung befasst, genauer zu bestimmen unternimmt und ihn als das beschreibt, was geschehen müsste und möglich ist, dann müssen mit diesem Möglichen, das ein Dichter ‚sagen‘ – das heißt zum Gegenstand seiner Nachahmungen machen soll – einzelne menschliche Handlungen gemeint sein. 26

Zum Zusammenwirken allgemeiner und einzelner Handlungsprämissen (mit ihren möglichen Fehltendenzen) vgl. u.a. die Analyse der Unbeherrschtheit im 7. Buch der Nikomachischen Ethik 1146 b35-1147 a7; vgl. dazu Cessi: Erkennen und Handeln (Anm. 22), S. 234-249; vgl. auch Anthony Kenny: The Practical Syllogism and Incontinence, in: Phronesis 11 (1966), S. 163-184.

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Denn nicht alles, was ein Mensch, zum Beispiel Alkibiades, sagt oder tut, ist für Aristoteles auch schon ein Handeln. Zum Handeln wird etwas erst, wenn etwas tatsächlich ein eigenes, selbständiges Tun eines Menschen ist. Das kann es nur sein, wenn es aus ihm selbst kommt (wenn er selbst Prinzip seines Handelns, ˜rxë prácewß, ist)27, wenn er bereits Charakter hat, und das heißt, wenn er zu eigenen Entscheidungen fähig ist: Der ursächliche Grund (˜rxë) des Handelns ist die Entscheidung [...], der Ursprung der Entscheidung aber sind Streben und Denken. Daher gibt es keine Entscheidung ohne Einsicht und (rationales) Urteil und ohne feste Charakterhaltungen. Denn gelingendes Handeln und sein Gegenteil kann es ohne Verstand und feste Charakterhaltung beim Handeln nicht geben.28

Aristoteles sagt sogar prägnant: „Handeln und sich Entscheiden sind ein und dasselbe“ (Metaph. 1025 b24 ) und betont damit nachdrücklich, dass Handeln für ihn wesentlich ein inneres Tun ist: „Prinzip des Handelns ist der Handelnde“ (ebd. 23). Deshalb grenzt er das Handeln (práttein) in präziser Differenzierung von einem Machen (poieîn)29 ab. Wenn Medea ein Gift mischt, um ihre Rivalin zu töten und sich dadurch Genugtuung für ihre Entehrung durch Jason zu verschaffen, dann ist das Anfertigen des Giftes ein Machen. Es muss, wenn es erfolgreich sein soll, bestimmten Regeln und Gesetzen folgen, die man zum Beispiel aus der Kenntnis bestimmter Eigenschaften bestimmter natürlicher Essenzen gewinnen kann. Diese Regeln und Gesetze sind aber nicht dieselben und werden auch nicht auf die gleiche Weise ermittelt wie die, die Medea bei ihrem Handeln beobachten will und muss. Denn diese Ordnung ihres Tuns richtet sich nach dem, wofür sie sich entschieden hat. Sie will Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht, und alles, was sie mit diesem Ziel ‚macht‘, ist nur dann und nur dadurch ein Handeln, dass es diesem Ziel dient. Dieses Ziel ist nur erreicht, wenn die erstrebte innere Befriedigung erreicht ist – und es kann verfehlt werden, selbst wenn alles äußere Machen erfolgreich war. Dieser innerliche Charakter des Handelns bei Aristoteles wird in der Forschung wie in der allgemeinen Aristoteles-Rezeption viel zu wenig beachtet und muss in seiner besonderen Kontur daher erst noch ermittelt und gegen das moderne Vorurteil, Innerlichkeit sei der Antike insgesamt noch unbekannt gewesen, abgegrenzt werden. Dadurch, dass Aristoteles die selbständige, (das heißt die von einem Charakter, der bereits grundsätzlich mit Verstand über sich verfügt, getätigte) Entscheidung als die wesentliche Bedingung des Handelns aufdeckt, kann er einen konkreten, vom Dichter wie von seinem Leser gut nachvollziehbaren 27 28 29

Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1112 b31f. Ebd. 1139 a31-35. Zur Unterscheidung von Machen und Handeln (poiein, prattein) bei Aristoteles vgl. Nikomachische Ethik 1140 a11ff.; Metaphysik 1025 b18-25.

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Vorschlag machen, was man aus der Gesamtwirklichkeit dessen, was einzelne historische Personen tun oder erleben, auswählen muss, um sie genau unter dem Aspekt, unter dem sie handeln, darzustellen oder zu verstehen: „Der Charakter wird erkennbar an dem, wofür jemand sich entscheidet“ (Kap. 6, 1450 b8f.), das heißt „wenn das, was er sagt oder tut, offenbar macht, was er vorzieht [oder meidet]“ (Kap.15, 1454 a17-19). Wenn Homer Achill darstellt, dann schildert er solche Handlungen, an denen man erkennt, was ein Charakter wie Achill vorzieht oder ablehnt: wie er sich lieber vom Kampf zurückzieht, als Agamemnon zu töten, wie er die Herolde, die seine Geliebte zu Agamemnon bringen sollen, mit Wohlwollen behandelt, statt die Boten für die Botschaft büßen zu lassen, wie er die Bittgesandtschaft trotz inzwischen heftiger Gegentendenzen in ihm selbst abweist, wie er Priamos‘ Bitte erfüllt und sich nicht von seinem Hass auf Hektor verblenden lässt. An jeder dieser Handlungen und insbesondere aus der Summe aller dieser auf ein und dieselbe Mitte bezogenen Handlungen wird deutlich, was für ein Charakter Achill ist.30 Diese Möglichkeit, sich ganz auf die Handlungen zu beschränken, die allgemeine Charaktertendenzen eines Menschen verwirklichen, hat der Historiker nicht. Auch er wird versuchen, so viel wie möglich auf das aktive Wollen, Planen, Handeln der an geschichtlichen Ereignissen beteiligten Personen zurückzuführen, aber er muss auch das aufnehmen und zum Teil seines Urteils machen, was auf Ursachen, die außerhalb jeder subjektiven Verantwortlichkeit liegen, zurückgeht. Man braucht nur an die große Rolle des Zufalls zu denken, die Thukydides immer wieder in den ‚wirklichen Geschehnissen‘ aufspürt und in sein geschichtliches Urteil einbezieht,31 um zu ermessen, in welchem Ausmaß eine Darstellung der Wirklichkeit, wie sie vorgefunden wird, etwas in sich Disparates werden muss, das, sofern es um die Erklärung menschlichen Handelns in der Geschichte geht, immer nur so viel Konsequenz und Zusammengehörigkeit aufweisen kann, wie dieses Handeln nicht von vielen möglichen anderen Bedingungen überformt oder ganz außer Kraft gesetzt wird. ‚Allgemeines‘ und ‚Einzelnes‘ in Dichtung und Geschichtsschreibung Eine Beachtung des genauen Sinns, in dem Aristoteles Dichtung und Geschichtsschreibung unterscheidet, kann auch dazu beitragen zu verstehen, wie er die Aufgabe der Dichtung als Darstellung eines Allgemeinen bestimmen, 30 31

Vgl. dazu Verf.: Homer, Ilias – ein Meisterwerk der Literatur?, in: Reinhard Brandt (Hg.): Meisterwerke der Literatur von Homer bis Musil, Leipzig 2001, S. 9-52. Vgl. Ernst Heitsch: Geschichte und Situationen bei Thukydides, Stuttgart u. Leipzig 1996.

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dieses Allgemeine aber zugleich als die Beschaffenheit der Handlungen des Charakters eines Menschen – das heißt offenbar: eines Individuums – auslegen kann.32 Obwohl Aristoteles sehr verkürzt sagt, die Dichtung stelle eher etwas Allgemeines, die Geschichtsschreibung das Einzelne, „das, was Alkibiades getan oder erlebt hat“, dar, dürfte aus dem bisher verfolgten Zusammenhang schon klar sein, dass der Gegensatz, den er im Auge hat, nicht der uns gewohnte Gegensatz zwischen der abstrakten Allgemeinheit von Begriffen und der absoluten Singularität der Einzeldinge oder Einzelfakten sein kann. Das Problematische einer solchen Auslegung ist nicht allein, dass Aristoteles dann die Leistung der Historiker auf das bloße Sammeln und Ordnen von Fakten beschränkt gesehen hätte33 (eine Reduktion, die weder Herodot noch Thukydides gerecht würde),34 sondern auch, dass Aristoteles dann weder mit dem unmittelbaren Kontext in Übereinstimmung bliebe noch gar mit seinen fest und wiederholt vorgetragenen Lehrmeinungen über das Verhältnis des Allgemeinen und Einzelnen. Aristoteles gibt ja eine ausdrückliche Kritik, warum er die Darstellung der Einzelheiten des Lebens einer Person (oder auch die Ereignisse in einem bestimmten Zeitraum) nicht für ‚allgemein‘ hält. Diese Kritik lautet nicht: ‚weil eine solche Darstellung nichts als eine Aneinanderreihung von einzelnen Fakten wäre‘, sondern: ‚weil ein Einzelner unbestimmt Vieles tut oder erlebt, von dem nicht alles zur Einheit einer Handlung gehört‘ (1451 a16-19). Aristoteles schließt also gar nicht aus, dass auch in der Geschichte das Allgemeine eines Handelns gefunden werden kann, im Gegenteil, er betont ausdrücklich, dass nichts daran hindere, dass auch in der Geschichte bisweilen Handlungen vorkommen, die in seinem Sinn allgemein, das heißt wahrscheinlicher Ausdruck allgemeiner charakterlicher Tendenzen sein können (1451 b30-32). Dieses Allgemeine findet man in der Geschichte lediglich nicht einfach vor, sondern muss es durch Abgrenzung gegenüber dem, was nicht dazugehört, weil es nicht zur Einheit einer Handlung beiträgt, ermitteln. Geschichte und Dichtung unterscheiden sich also nicht dadurch, dass die eine nur Einzelnes (im modernen Sinn des Wortes), die andere nur Allgemeines darstellt, sondern dadurch, dass die eine Einzelnes und Allgemeines in unbestimmter Mischung enthält, während die andere sich ganz und ausschließlich auf die Verwirklichungsfor32

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Zum Individualitätsverständnis in der Antike von Homer bis Aristoteles vgl. Verf.: Individualität als Faktum menschlicher Existenz oder als sittliche Aufgabe? Über eine Grunddifferenz im Individualitätsverständnis von Antike und Moderne, in: Christof Gestrich (Hg.): Die Aktualität der Antike. Das ethische Gedächtnis des Abendlandes, Berlin 2002, S. 95-128. Dies ist z.B. die These von Renate Zoepfel: Historia und Geschichte bei Aristoteles, Heidelberg 1975 (Abhandlungen der Heidelberger Akadademie der Wiss., Phil.-hist.-Klasse, Bd. 2). Zu dieser Klage vgl. z.B. Werner Söffing: Deskriptive und normative Bestimmungen in der Poetik des Aristoteles, Amsterdam 1981, S. 115-117.

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men allgemeiner charakterlicher Möglichkeiten konzentrieren kann. Die Dichtung beschränkt sich darauf, wie ein bestimmter Charakter sich in Worten und Taten in einer einzelnen geschichtlichen Handlung verwirklichen würde. Dass Aristoteles sich nicht so genau ausdrückt, sondern sich auf den bloßen Gegensatz ‚(mehr) allgemein, (mehr) einzeln‘ beschränken kann, liegt daran, dass es ein absolutes Einzelnes, wie es viele moderne Poetik-Interpreten unterstellen, für ihn gar nicht gibt. Diese Unterstellung ist allerdings in gewissem Sinn erstaunlich. Denn wenn es ein auch in der gegenwärtigen Forschung kaum umstrittenes Lehrstück bei Aristoteles gibt, dann ist es die Lehre, dass das Allgemeine dem Einzelnen immanent sei (und nicht, wie angeblich bei Platon, ein idealer Gegenstand in der Transzendenz). Ein Einzelgegenstand (oder eine Einzelperson) ist bei Aristoteles also immer in bestimmter Hinsicht zugleich die Verkörperung von Allgemeinem, es ist, wie Aristoteles (mit Platon) sagt, ein súqeton, ein Kompositum aus Materie und eÎdoß. Von einem Einzelnen, wie es in der empirischen Wirklichkeit wahrgenommen und beobachtet werden kann, zu reden, heißt immer, von einem Kompositum, einer Mischung aus Allgemeinem und Einzelnem zu reden. Begrifflich kann man aber an einem solchen immer gemischten Einzelnen unterscheiden zwischen den Aspekten, unter denen es wesentlich es selbst ist – das ist sein allgemeines Eidos: „das wesentliche Sein einer Sache ist das, von dem her etwas ‚es selbst‘ genannt wird“35 –, und solchen Aspekten, die ihm nur zufällig, beiläufig zukommen. Diese Unterscheidung nicht in Bezug auf die rein theoretische Erkenntnis des Eidos einer Sache, sondern in Bezug auf die allgemeinen Gründe des Handelns zu leisten ist Sache der Dichtung: ‚in welchen Handlungen äußert sich eine Person als sie selbst und in welchen ist sie (mehr oder weniger) fremdbestimmt? ‘. Warum befriedigt die Darstellung individuellen Handelns ein allgemeines Erkenntnisinteresse? Noch etwas tiefer muss man in die Aristotelische Analyse des Verhältnisses von Einzelnem und Allgemeinem eindringen, wenn man erklärbar machen will, wie Aristoteles das Handeln individuell bestimmter Charaktere zum Gegenstand der Dichtung machen und dennoch überzeugt sein kann, die Dichtung befriedige ein allgemeines Erkenntnisinteresse. Das Verhältnis der charakterlichen Motive und der durch den Charakter motivierten Handlungen mag für Aristoteles ein Verhältnis eines Allgemeinen zu einem Einzelnen sein, dieses Verhältnis ist eben deshalb ein Verhältnis innerhalb der inneren und äußeren Aktivitäten eines Individuums. Wie kann man als Zuschauer oder Leser einer 35

Vgl. dazu u.a. das 4. Kapitel des siebten Buches der Metaphysik, das Zitat dort: 1029 b13f.

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solchen Darstellung individuellen Handelns eine Ähnlichkeit mit sich selbst, wie es das 13. Kapitel behauptet, erkennen, und wie kann dieses ‚individuelle Allgemeine‘ Gefühle und Einsichten vermitteln, die für viele gültig sind? Dass auch diese (für die Erklärung des Begriffes der tragischen Affekte ‚Mitleid‘ und ‚Furcht‘ entscheidende) Fragestellung eine moderne Überspitzung ist, dürfte aus dem bisher Gesagten bereits klar sein. Natürlich ist auch ein individueller Mensch für Aristoteles nichts absolut Einzelnes, sondern er ist eine besondere Form der Mischung aus Allgemeinem und Einzelnem. Einem historisch und sachlich angemessenen Verständnis des Allgemeinen, und nicht zuletzt des Allgemeinen in der Poetik, steht allerdings die lange, durch den Nominalismus des späten Mittelalters grundgelegte Gewohnheit entgegen, das Allgemeine für etwas Abstraktes zu halten. Allgemein soll das sein, was bei vielen Einzelerfahrungen gleich bleibt. Für die Poetik bedeutet dies, dass man das Allgemeine in gemeinsamen Strukturen, in allgemein verbreiteten und anerkannten Verhaltensmustern, in dem, was für bestimmte Personengruppen – Alte, Junge, Verliebte, Herren, Diener usw. – typisch ist, oder in dem, was ein Ideal ist, nach dem sich alle richten können, und dergleichen sucht.36 Aristoteles aber sucht – und das passt auch zu dem, was er zur Charakterbildung sagt – das Allgemeine in dem, „was etwas kann und leistet“. Alles wird in seinem Wesen „durch sein Vermögen und dessen Aktualisierung“37 erkannt, lautet seine prägnante Formulierung. Aristoteles folgt in dieser Auffassung Platon, der immer wieder darauf hinweist, dass man auf die dúnamiß oder die ™nérgeia von etwas hinblicken müsse, wenn man erfassen wolle, was es ist.38 Das gilt auch bei so einfachen Gegenständen wie einer Hippe zum Beschneiden der Weinstöcke oder einem 36

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In dieser Frage gibt es eine viel zu wenig beachtete Konstanz der Auslegung von der Renaissance bis in die Gegenwart. Zur Renaissance vgl. den Beitrag von Brigitte Kappl in diesem Band; für die Position von Lessing oder Schiller vgl. beispielsweise Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 91. und 95. Stück; dazu Eun-Ae Kim: Lessings Tragödientheorie im Licht der neueren Aristoteles-Forschung, Würzburg 2002, S. 137ff. – zu Schiller vgl. Verf.: Zur Aristoteles-Rezeption in Schillers Theorie des Tragischen, in: Bernhard Zimmermann (Hg.): Antike Dramentheorien und ihre Rezeption, Stuttgart 1992 (Drama. Beiträge zum antiken Drama und seiner Rezeption, Bd. 1), S. 191-213; zu einer gegenwärtigen Position vgl. etwa Stephen Halliwell: Aristotle’s Poetics (Anm. 19). Vgl. Aristoteles: Politik 1253 a23; vgl. auch Meteorologica 390 a10-15; Metaphysik 1049 b29ff.; De anima 403 a29ff.; 412 a19-b9. Vgl. dazu Verf.: Die Moderne und Platon (Anm. 3), S. 333ff. und 400ff. Die neuere Aristotelesforschung hat diesen funktionalen Aspekt des Allgemeinen bei Aristoteles gesehen und neu bewertet, tendiert aber zu einer weitgehenden Adaption an Formen des gegenwärtigen (u.a. amerikanischen) Funktionalismus, vgl. u.a. Christopher Shields: The First Functionalist, in: John-Christian Smith (Hg.): Historical Foundations of Cognitive Science, Dordrecht u.a. 1990, S. 19-34. Vgl. u.a. Politeia 352 d8-353 d12; 477 c1-d6; vgl. dazu Verf.: Der Philosoph als Maler – der Maler als Philosoph. Zur Relevanz der platonischen Kunsttheorie, in: Gottfried Boehm (Hg.): Homo Pictor, Leipzig 2001 (Colloquia Raurica, VII), S. 32-54.

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Weberschiffchen. Wenn man wissen will, was ein Weberschiffchen ist, kann man sich weder auf die Materialien, aus denen ein Weberschiffchen gemacht ist, noch auf die Struktur und Form, in die diese Materialien gebracht sind, festlegen, denn beides könnte von einem erfindungsreichen Handwerker immer wieder geändert werden. Das, worauf man achten muss, ist vielmehr, was dieses Gerät kann und leistet: Es trennt Kette und Einschlag beim Webevorgang. Wer auf dieses Érgon (Werk) des Weberschiffchens achtet, wird bei jedem und sei es noch so verschieden gebauten Weberschiffchen erkennen können, dass es tatsächlich ein Weberschiffchen ist, er trifft damit also das wirklich Allgemeine in jedem Weberschiffchen. Diese Orientierung an Vermögen und ‚Werk‘ von etwas bei dem Versuch, das allgemeine Wesen von etwas zu begreifen, gilt, wie auch die Poetik vielfach deutlich macht, gerade für die Erkenntnis des allgemeinen Wesens des Menschen. Der Mensch ist dadurch Mensch und von den anderen Lebewesen unterschieden, dass er außer den Vermögen der Wahrnehmung, der Erinnerung und Vorstellung auch noch den lógoß, das heißt die Vermögen des (rationalen) Meinens, des rationalen Urteils und der intellektiven Einsicht hat. Diese Vermögen bilden zusammen mit den unmittelbar mit ihnen gegebenen Lustund Unlusterfahrungen und den aus bestimmten Kombinationen entstehenden Formen des Strebens die Grundausstattung, die jedem Menschen zukommt. Auch die Weise, diese Vermögen auszubilden und aus Fähigkeiten Fertigkeiten zu machen, ist grundsätzlich bei jedem Menschen gleich, denn sie hat ihr Kriterium in der richtigen Übung der Vermögen selbst. Wer sein Vermögen zu hören nicht nur wie ein Tier schärfen, sondern zur Unterscheidungsfähigkeit musikalischer Proportionen erziehen möchte, muss die im Hören als einem Unterscheiden von Tönen, das heißt von geordneter Schwingung, liegende Rationalität reflexiv erfassen und sein Hörvermögen dieser Rationalität und Mathematizität gemäß erziehen. In diesem Sinn sind nicht nur bestimmte Vermögen, sondern auch die Weisen ihrer Ausbildung zu festem Habitus allen Menschen grundsätzlich gemeinsam. Das gilt auch für die Charakterbildung. Denn Charakter bildend wird die Aktivierung eines Vermögens durch die mit ihr verbundene Lustoder Unlusterfahrung. Der Bereich von Lust und Unlust ist nach Aristoteles ja der Bereich des Moralischen; den stoisch-neuzeitlichen Pflichtbegriff als Grundlage der Moral teilt Aristoteles nicht, da für ihn durch die Bindung der Lust an die verschiedenen psychischen Aktivitäten Lust nicht auf sinnliche oder irrationale Gefühle eingeschränkt ist, sondern so viele Differenzen aufweist, wie es unterschiedliche psychische Aktivitäten gibt.39 39

Vgl. zum Zusammenhang von Lust und Moral Aristoteles: Nikomachische Ethik 1105 a13f.: „Sittlichkeit gibt es dort, wo es Lust und Unlust gibt.“ Vgl. dazu Verf.: Aristoteles und die Moral der Tragödie, in: Anton Bierl u. Peter von Moellendorff (Hg.): Orchestra. Drama. Mythos, Bühne. Festschrift Hellmut Flashar, Stuttgart u. Leipzig 1994, S. 331-345; vgl. zur Bin-

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Die Unterschiede beginnen mit dem Anteil, den jeder Mensch auf Grund seiner unterschiedlichen materiellen Konstitution an der natürlichen Basis dieser Vermögen hat, sie beginnen aber vor allem mit der unterschiedlichen Betätigung dieser Vermögen. Auch dabei gibt es noch einmal einen grundsätzlichen Unterschied: Man kann seine Vermögen mehr oder weniger beliebig und willkürlich, mehr reagierend als agierend betätigen, man kann sie aber auch durch Übung, Gewöhnung, Belehrung und Begreifen in einen ihren inneren Potenzen gemäßen optimierten Zustand bringen.40 Nur dies Letztere führt zu einer Ausbildung fester charakterlicher Haltungen; und nur durch diese Haltungen wird das Verhalten eines Menschen überhaupt ein Handeln und aus diesem Handeln verstehbar und beurteilbar. Immer wieder andere beliebige Reaktionen lassen dagegen nicht nur kein Urteil zu, sie sind als immer wieder neue Mischungen möglicher Verhaltensweisen ohne innere Form. Solch beliebige Mischungen sind zwar etwas jeweils Singuläres; Individualität als eine bestimmte Beschaffenheit, durch die sich ein Mensch vom anderen unterscheidet, kann durch sie aber nicht zu Stande kommen. Es ist daher ein Missverständnis des Begriffs von Individualität bei Aristoteles, wenn man Individualität einfach für eine Mischung von Eigenschaften hält, die in dieser besonderen Form ihresgleichen nicht hat. Erst wenn die verschiedenen Vermögen ihrer inneren Rationalität, dem ¤rqòß lógoß,41 gemäß gebildet und aufeinander bezogen sind, entsteht eine Mischung, die zu einer Einheit geformt ist und deshalb das Prädikat ‚individuell‘ beanspruchen kann. Diese Mischung hat aber nicht nur den Vorzug, dass sie ihre Form festen, grundsätzlichen Haltungen verdankt, aus denen das einzelne Handeln eines Menschen seine erkennbare Begründung erhält, sie macht auch die allgemeinen Haltungen eines Individuums selbst verständlich und gegen andere, ähnliche oder verschiedene Mischungen anderer Individuen abgrenzbar. Grund dafür ist, dass sowohl die Elemente dieser Mischungen allgemein sind als auch die Methoden ihrer Formierung. Die individuellen Unterschiede ergeben sich aus dem Ausmaß, in dem die Elemente, das heißt die Grundvermögen, zur Verfügung stehen und bis zu dem sie entwickelt und ausgebildet sind. Diese Unterschiede können aus dem Allgemeinen, das heißt, aus einer Kenntnis der

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dung der Lust an die seelische Aktivität und die Unterscheidung der Lüste nach diesen Aktivitäten u.a. die Lustkapitel der Nikomachischen Ethik VII, Kapitel 12-14; X, Kapitel 1-5; 7; vgl. dazu Frido Ricken: Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, Göttingen 1976 und Verf.: Die Moderne und Platon (Anm. 3), S. 341-380. Ein Mensch, der diesen Zustand erreicht, heißt bei Aristoteles spoudaîoß (tüchtig) im Sinn der erreichten Vollendung der eigenen Anlagen. Zu diesem für die Poetik grundlegenden Begriff (siehe Kap. 2) vgl. auch Nikomachische Ethik 1098 a9ff.; Eudemische Ethik 1219 b22ff.; vgl. auch Platon: Gesetze 757a; 814c; Phaidros 243c; vgl. dazu Schütrumpf: Die Bedeutung des Wortes (Anm. 21). Zur Bedeutung des ¤rqòß lógoß für die sittliche Bildung des Menschen bei Aristoteles vgl. u.a. die Kapitel II, 6; VI, 1 und VI,13 der Nikomachischen Ethik. – Siehe dazu Richard Bosley u.a. (Hg.): Aristotle, Virtue and the Mean, Edmonton 1995.

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besonderen Natur der einzelnen Vermögen wie der Methoden ihrer Bildung, ermittelt werden, sie sind ja je verschieden gruppierte Teilaspekte daraus. Es ist wie bei Gesundheit und Krankheit, die bei jedem Menschen individuell verschieden sind und die doch vom Arzt mit allgemeinen Kenntnissen über die Funktion der verschiedenen Organe und ihrer möglichen Interaktion individuell behandelt werden können. Die Aristotelische Aussage, dass Dichtung etwas Allgemeines darstelle, und die unmittelbar daran angeschlossene Erklärung, dieses Allgemeine bestehe darin, dass in einer Dichtung genau das dargestellt werde, was einem Menschen mit bestimmtem Charakter mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit zukomme, muss also nicht als ein Widerspruch aufgefasst werden. Der Charakter eines Menschen ist für Aristoteles nichts Ineffables. Ineffabel in dem Sinn, dass etwas weder dem erkennenden Denken noch der sprachlichen Vermittlung zugänglich ist, kann für Aristoteles nur das sein, was an einem Menschen nicht charakterlich bestimmt, sondern tatsächlich absolut singulär ist. Der gebildete Charakter ist dagegen genau das, was an einem Menschen begreiflich ist und was ausmacht, dass man sein Handeln und Fühlen verstehen kann: Er macht einerseits das einzelne Handeln eines Menschen verständlich als Ausdruck nicht beliebig immer wieder anderer, sondern fester Neigungen und Abneigungen, er macht aber andererseits auch diese Neigungen und Abneigungen als besondere Formen allgemeiner menschlicher Möglichkeiten verständlich und macht es so möglich, dass verschiedene Individuen aneinander (kognitiv und emotional) Anteil nehmen können. Vom Charakter geprägtes Handeln als Formprinzip der Dichtung. Ein platonisches Erbe in der Aristotelischen Dichtungstheorie Das, was Dichtung und Literatur nachahmen, ist für Aristoteles nicht eine vorgegebene, äußere Wirklichkeit mit den in ihr sich ereignenden Geschehnissen, sondern charakterlich motiviertes Handeln. Das bedeutet, dass Dichtung auch nicht Charaktere als solche darstellt. Das wäre nach Aristoteles gar nicht möglich, da ein Charakter etwas Allgemeines und Mögliches ist. Charakterhaltungen allgemein zu beschreiben, wie es viele auktoriale Erzähler tun, ist nach Aristoteles unpoetisch (siehe Kap. 24, 1460 a5-11). Daraus darf aber nicht abgeleitet werden, Aristoteles halte eine charakterliche Motivierung des Handelns, eine Herleitung des Handelns aus dem Charakter, für überflüssig. Die allgemeinen Züge eines Charakters sind sehr wohl das Maß, an dem ein Dichter sich bei der Konzeption seiner Handlungen orientieren soll, er stellt sie lediglich nicht als solche dar, sondern in einer einzelnen Handlung, die sich nach dem Charakter richtet und dadurch an der Allgemeinheit des Charakters teilhat.

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Aristoteles vertritt mit dieser Lehre eine interessante Mittelposition zwischen einem oberflächlichen Empirismus und einer schwärmerisch das Empirische überfliegenden Spekulation. Aristoteles ordnet ja einerseits den Charakter der gegebenen Wirklichkeit mit all dem, was der Dichter an Tun und Treiben in ihr durch Beobachtung feststellen kann, vor. Nicht an solchen Beobachtungen und den allgemeinen Erfahrungserkenntnissen, die er daraus bilden kann, soll der Dichter Maß nehmen, sondern an dem, was einem Charakter im Allgemeinen möglich ist. Die von ihm komponierte wirkliche Handlung erhält ihre poetische Qualität allein durch diese Orientierung. Andererseits verlangt Aristoteles nirgends, der Dichter solle ideale Figuren erfinden: den idealen König, den idealen Krieger, die Klugheit oder Weisheit in Person und dergleichen, sondern es sind, wie er immer wieder sagt, handelnde Menschen, deren Nachahmung Dichtung ausmacht. Außerdem ist, wenn man verfolgt, wie Aristoteles die Bildung eines Charakters beschreibt, deutlich, dass Charaktere für ihn erst durch Erfahrung entstehen; es gibt keinen a priori dem Menschen zur Verfügung stehenden Charakter. Die Lösung dieser scheinbaren Zweideutigkeit ergibt sich aus der Aristotelischen Unterscheidung von Vermögen (dúnamiß) und Verwirklichung (™nérgeia). Auch wenn erst der wirkliche, verwirklichte Charakter empirisch in Erscheinung tritt – er ist ja nicht vom Himmel gefallen, sondern hat sich aus der Betätigung der Vermögen, die ein Mensch hat, entwickelt –, hat der Mensch auch zu diesen Vermögen einen empirischen, das heißt von ihm selbst konkret und im Hier und Jetzt nachprüfbaren Zugang. Sie sind ja genau das, was er in die Tat umsetzt, wenn er was auch immer tut, das heißt, sie werden ihm zugänglich, wenn er sich bei seinem Tun reflexiv vergewissert, warum er das kann, was er kann. Es macht aber einen großen Unterschied, ob man fertige Charaktere beobachtet und sein Verständnis von Charakteren durch Sammeln und Ordnen von Eigenschaften, die man auf diese Weise an vielen Charakteren vorfindet, erwirbt – das wäre von Aristoteles her gesehen mehr ein Begaffen als ein Begreifen und jedenfalls eine Reduktion individueller Charaktere auf Muster oder Typen –, oder ob man die verschiedenen psychischen Aktionsmöglichkeiten eines Menschen kennt, durch die er in vielfältig möglichen Kombinationen bestimmte Haltungen ausbildet. Die Frage, wie diese dem charakterlichen ‚Können‘ eines Menschen folgende Handlungsdarstellung in der Lage ist, das zentrale Anliegen der Kapitel 7-9, den Aufweis, wie eine dichterische Darstellung Form und Einheit gewinnt, im einzelnen zu erfüllen, braucht eine eigene Untersuchung. Die grundsätzliche Lösung, die Aristoteles im Auge hat, kann aber über das bisher Besprochene hinaus eine Bestätigung erhalten, wenn man die Platonische Herkunft dieses Lösungsansatzes mitberücksichtigt.42 Platon lehnt ja nicht nur im 42

Vgl. dazu den Beitrag von Stefan Büttner in diesem Band, S. 31-63, und ders.: Die Literatur-

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10. Buch seiner Politeia eine Dichtung, die die vorgegebene Wirklichkeit einfach im Sinn einer Kopie nachahmt, scharf ab, vergleicht das Verfahren eines solchen Dichters oder Künstlers mit dem Herumtragen eines Spiegels und nennt das Produkt solcher ‚Künstler‘ wegen der Konfusionen, in denen es ein Handeln oder eine Sache wiedergibt, ein drittes nach der Wahrheit, er benutzt auch – und sogar mehrfach – zur Beschreibung einer wirklich künstlerischen Form der Nachahmung die gleiche auffällige Formulierung, mit der Aristoteles das eigentliche ‚Werk‘ eines Dichters charakterisiert. Aristoteles sagt ja, dass der Dichter darstellen solle, „wie etwas wohl geschehen müsste“ („oˆa Àn génoito“). Dieser für den unvorbereiteten Leser nicht leicht zu deutende Potentialis war vermutlich für die ersten, akademisch gebildeten Hörer oder Leser der Poetik eine prägnante Erinnerung an das, was Platon zu dieser Frage gesagt hatte, so dass für sie von Anfang an klar war, dass es Aristoteles um etwas Allgemeines und insbesondere um die Allgemeinheit eines Charakters geht und darum, wie dieses Allgemeine konkret verwirklicht werden kann. Platon vergleicht an einer Stelle die Aufgabe derer, die eine gute Staatsverfassung entwerfen wollen, mit dem Verfahren eines Malers, der ein bestimmtes Bild möglichst gut malen möchte und deshalb bald auf das, was bestimmte Charakterhaltungen für sich selbst sind, bald darauf, wie diese in konkreten Charakteren verwirklicht werden, blickt und auf diese Weise sein Bild so lange verbessert, bis er die menschlichen Charakterzüge ihren allgemeinen Vorbildern möglichst ähnlich gemacht hat. „Das würde wohl“, so stellt Sokrates‘ Gesprächspartner fest, „das schönste Bild werden“ („kallísth grafç Àn génoito“, 501 b-c). In ähnlichem Sinn beschreibt Platon auch das Anliegen seines eigenen Staatsentwurfs als Versuch, von einem wirklich gerechten Menschen zu zeigen, „als ein Wiebeschaffener er wohl wirklich in Erscheinung treten würde“ (472 d).43 Das Entscheidende für den Vergleich mit Aristoteles ist, dass auch Platon eine an der Oberfläche der äußeren Wirklichkeit haftende Nachahmung von einer Form der Nachahmung von etwas, das nur sein könnte, unterscheidet und darin offenbar auch das Besondere einer wirklich künstlerischen Leistung sieht, dass sie eine bestimmte konkrete Wirklichkeit erfindet, die in ihrer Gestaltung einem allgemein Möglichen möglichst ähnlich ist. Wie Aristoteles drückt er dieses Ähnlichsein eines Wirklichen mit einem Möglichen, an dem es sich orientiert, als ein „Sobeschaffen-Werden, wie“ aus. Plotin, der auf beide, auf Platon und Aristoteles zurückgreift, gründet auf dieses Nachahmungskonzept eine ausdrückliche Verteidigung der nachahmenden Künste:

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theorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen u. Basel 2000. Vgl. dazu Verf.: Der Philosoph als Maler (Anm. 38), und ders.: Mythos und Vernunft bei Platon, in: Markus Janka u. Christian Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe, Darmstadt 2002, S. 290-310.

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Arbogast Schmitt Wenn einer die Künste verachtet, weil sie bei ihrem Schaffen die Natur nachahmen, so muss erstens gesagt werden, dass auch die Natur anderes nachahmt, dann muss man wissen, dass sie nicht einfach das, was man beobachten kann, nachahmen, sondern zurückgehen auf die begreifbaren Möglichkeiten, aus denen heraus auch die Natur [schafft]44. [...] So hat auch Phidias seinen Zeus nicht mit Blick auf irgendein wahrnehmbares Vorbild geschaffen, sondern er hat ihn genommen, ‚wie (‚als ein Wiebeschaffener‘) er wirklich sein würde‘ (oˆa Àn génoito), wenn Zeus vor unseren Augen erscheinen wollte (Enneade V,8,1,32-40).

Aristoteles beschränkt bei seiner Beschreibung der Aufgabe der Dichtung das Verhältnis zwischen einem Begreifbaren, Intelligiblen und seiner Verwirklichung auf eine niedrigere, empirischere Ebene, eben auf die allgemeinen, für sich selbst nur begreifbaren, nicht beobachtbaren Charaktertendenzen eines Menschen und auf die Art und Weise, wie diese zu einer bestimmenden Motivierung einzelner Handlungen werden können. Es gibt aber auch bei ihm die Spannung zwischen dem Allgemeinen in sich selbst und einer verwirklichten Einzelform, die nie völlig identisch mit dem, was sie nachahmt, werden kann. In der Berücksichtigung dieser Spannung dürfte der Sinn der oft missverstandenen Formel ‚gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen‘ liegen. Es kann auch ein Mensch, der souverän über einen gut ausgebildeten Charakter verfügt, nicht immer und nicht in jeder Hinsicht diesem Charakter gemäß handeln, so dass das, was er sagt oder tut, sich nicht in allem notwendig aus seinem Charakter ergibt, sondern nur so, ‚wie man weiß, dass es meistens geschieht‘ (z.B. Analytica Priora 70 a5ff.), das heißt, wie es wahrscheinlich ist. Aus der Beachtung dieser Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen Charakter und Handlung aber ergeben sich alle wesentlichen Formaspekte einer Dichtung. Der Zusammenhang und die Ordnung der einzelnen Handlungselemente zum Beispiel kommen dann nicht aus einer immanenten Geschehenslogik (die dem weiteren modernen Handlungsbegriff entsprechend oft als ‚Handlungslogik‘ bezeichnet wird), sondern aus der Beziehung der einzelnen Handlungsschritte auf ihr charakterliches Motiv. Wenn ein Schiff mit gutem Wind fährt, dann folgt, dass es schnell fährt, wenn es schnell fährt, kommt man bald am Ziel an, wenn man bald am Ziel ankommt, versäumt man eine Verabredung nicht usw. – diese Art von Logik hat mit dem, 44

Es ist gerade die Immanentisierung dieser allgemeinen lógoi in der Renaissance, die die eigentliche Wende zu einem neuen Nachahmungskonzept bringt. Die Welt, auch die natürliche Welt, richtet sich – auch nach Plotin – nur mehr oder weniger nach allgemein begreifbaren Möglichkeiten, in der Kunsttheorie der Renaissance aber herrscht die Vorstellung vor, die geschaffene Welt sei nichts weniger als eine Selbstexplikation Gottes. Eine solche Welt kann nur als sie selbst nachgeahmt, dargestellt oder illusioniert werden. Dichtung ist auf ihre Wiedergabe verpflichtet, die mehr oder weniger auf die äußere Gestalt oder auf eine in die Tiefe dringende Erfühlung konzentriert sein kann. Vgl. dazu die Nachweise und Erläuterungen bei Thomas Leinkauf: Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert. Seine philosophische Bedeutung und Hinweise auf sein Verhältnis zur Theorie von Poesie und Kunst, in: Heinrich F. Plett: Renaissance-Poetik – Renaissance Poetics, Berlin u. New York 1994, S. 53-74.

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was Aristoteles mit der sústasiß tôn pragmátwn als der Ordnung der Handlungsteile ‚gemäß dem Wahrscheinlichen oder Notwendigen‘ meint, nichts zu tun – und genauso wenig mit der ‚Handlungslogik‘, die man in den griechischen Tragödien feststellen kann. Wenn beispielsweise Medea in der Medea des Euripides Jason in einer Szene als den verkommensten aller Männer beschimpft, in einer nächsten Szene dagegen seine Weitsicht und Klugheit bewundert, so ergibt sich das zweite in keiner Weise aus dem ersten Geschehen, der Zusammenhang, und zwar der konsequente, plausible Zusammenhang in der völlig richtigen Reihenfolge der Schritte ergibt sich aus der inneren, charakterlichen Motivation des Handelns der Medea: Sie verachtet diesen Menschen, will sich aber an ihm rächen und muss ihn deshalb täuschen. Aber nicht nur die Folge und Zuordnung der Handlungsteile zueinander, auch die Gestaltung der Sprache hat nach Aristoteles nichts mit allgemeinen Formgesetzen oder dergleichen zu tun. Warum spricht zum Beispiel Antigone anders als Ismene, Kreon anders als der Wächter, der das Grab des Polyneikes bewachen soll? Die Antwort auf derartige Fragen hat Platon in klassischer Formulierung gegeben, sie zeigt zugleich, dass Aristoteles auch in der Ablehnung des sophistischen Dichtungsverständnisses, für das Dichtung vor allem die ornamentale Formung beliebiger Inhalte ist, einem platonischen Konzept folgt: der Stil der Darstellung (trópoß têß lécewß) und die sprachliche Form, folgen die nicht dem Charakter? ... Dem Stil der Darstellung aber folgt das Übrige? [...] Die schöne Form der Rede (e¬-logía) also, das klare Maß (e¬¡rmostía), die Durchgestaltetheit (e¬-sxhmosúnh) und die gelungene Rhythmisierung (e¬-ruqmía), alles folgt einer charakterlich gut und schön gebildeten Gesinnung (diánoia [Denkhaltung], (Staat 400 d6ff.).

Aristoteles unterscheidet sich von Platon darin, dass er nicht mit gleicher Strenge Charaktere, die nicht ganz vollkommen dargestellt sind, aus dem Leben einer Staatsgemeinschaft ausschließt; er steht aber keineswegs in einem Gegensatz und schon gar nicht in einem affektiven Gegensatz zu Platon, sondern mildert dessen Anforderungen in nur geringfügiger Weise: Auch für ihn ist die Darstellung des Handelns von Menschen, die spoudaîoi, das heißt von möglichst gut gebildetem Charakter sind, wie sie in Epos und Tragödie gesucht werde, die bessere Form der Dichtung, und die Dichter dieser Dichtungsarten gelten ihm als die besseren Dichter, und er nennt es ausdrücklich als die erste Grundbedingung einer guten Charakterdarstellung, dass die dargestellten Charaktere selbst gut seien (Kap. 15) . Gerade diese Forderung macht aber noch einmal deutlich und verweist zugleich auf den eigentlichen Grund, warum Aristoteles der Dichtung einen bestimmten Gegenstand ‚vorschreibt‘ und zu seiner Nachahmung anhält. Das, was Aristoteles als mögliche Dichtung, ja als Kunst überhaupt ausschließt, ist das in jeder Hinsicht Beliebige, das keine inhaltliche Form hat und deshalb

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auch durch keine äußere Form irgendeine Aussage gewinnen könnte, die in ihrer inhaltlichen Konturiertheit verstanden werden könnte. Wenn man Aristoteles einmal zugesteht, dass der Mensch mit seinen unendlichen Handlungsmöglichkeiten das eigentliche Thema der Dichtung ist – die Begründung dafür bräuchte, obwohl sie von der Sache her nahe liegt, eine eigene Rechtfertigung – , dann ist von seinem Handlungsbegriff her klar, dass es ihm um alles das geht, was ein Mensch wirklich aus sich heraus, das heißt selbständig und kraft eigener Entscheidung tun kann. (Da Aristoteles’ Handlungsbegriff ausdrücklich auf einen inneren Gegenstand, auf das in der Entscheidung erstrebte oder gemiedene Gut gerichtet ist, schließt das, was Aristoteles ‚Handeln‘ nennt, auch die lyrische Aussage ein, auch in ihr äußert sich ein Charakter in einer bestimmten Intention.) Dieses Auswahlprinzip möglicher ‚Nachahmung‘ orientiert sich, wie er deutlich genug ausführt, gerade nicht an irgendwelchen vorgegebenen Wirklichkeiten oder deren wahrscheinlichen Regeln, nicht an Verhaltensmustern, typischen Zügen, Normen oder Idealen usw. Dass Aristoteles die Wahrscheinlichkeit dessen, was möglicherweise realisiert werden könnte, nicht sucht, kann auch ein Blick auf die Beispiele aus den Tragödien und Komödien seiner Zeit lehren, auf die Aristoteles sich vielfach zur Erläuterung seiner Ansichten stützt. Wie wahrscheinlich ist es, dass es einen Menschen wie den Homerischen Odysseus gibt, dass man eine Geschichte wie die des Ödipus erlebt? Welche Realisierungschancen soll man dem Handeln der Personen der (heute sogenannten ‚Alten‘) Komödie geben, von dem Aristoteles sagt, an ihm sei zuerst deutlich geworden, dass ein Dichter erst fragen müsse, was ein Mensch von bestimmter Art wahrscheinlich oder notwendig sagen oder tun müsse, bevor man ihn durch einen Namen als eine einzelne dichterische Figur ausweist (1451 b11-15)? Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand sich ein Wolkenkuckucksheim einrichten, oder dass eine junge Athenerin alle Frauen Griechenlands zur Verweigerung gegenüber ihren Männern bewegen könnte wie in den Wolken oder der Lysistrate des Aristophanes? Unter allen diesen Aspekten kann die Aristotelische Poetik nicht als eine Nachahmungspoetik im traditionellen Sinn gelten. Auch in Bezug auf die Frage, ob Dichtung Nachahmung (als Wiedergabe von etwas Vorgegebenem) oder freie Schöpfung ist, hält Aristoteles eine Mitte ein, die Beachtung verdient. Denn es ist für ihn einerseits keine Frage, dass ein Dichter ‚seine‘ Wirklichkeit erfinden kann, auch wenn diese nie real war oder nie realisiert werden könnte. Andererseits kann es für ihn – und vielleicht mit gutem Grund – keine völlig willkürliche und beliebige Erfindung und Kreativität geben, die dann den Anspruch erhebt, Kunst zu sein. Die Wirklichkeit, die ein Dichter erfindet, soll in seinem Sinn (keine mögliche Wirklichkeit, sondern) etwas Mögliches sein, das heißt etwas, das dem Menschen aufgrund dessen, was er als Mensch von sich aus kann, möglich ist. Das, was ein Mensch von sich aus kann, zeigt sich daran, dass er Charakter hat, das heißt, dass er nicht immer wieder anderes

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vorzieht oder meidet, nicht beliebiger Spielball beliebiger Einflüsse ist, sondern äußeren und inneren Einflüssen mit ausgebildeten Haltungen entgegentritt. In diesem Sinn ist tatsächlich nicht nur einfach ‚Charakter‘, sondern ein guter Charakter – und das heißt für Aristoteles: ein Mensch, der seine ihm eigenen Vermögen nicht hat verkommen lassen, sondern sie ihren Potenzen entsprechend ausgebildet hat – der eigentliche Gegenstand von Dichtung.

GÜNTER EIFLER

Das Nibelungenlied und der Sagenstoff – Überlegungen zur Authentizität der Dichtung Mit dem höfischen Roman und der Heldenepik erreicht die deutschsprachige Erzählkunst um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert einen ersten, erstaunlichen Höhepunkt. Die beiden epischen Großformen unterscheiden sich aber durch eine Reihe auffälliger Merkmale voneinander. Unter diesen ist zweifelsohne das Stoffgebiet, aus dem der Inhalt der einzelnen Werke entnommen wurde, am wichtigsten. Die Dichter der höfischen Romane beziehen ihre Stoffe, eigenen Angaben zufolge, aus der bereits schriftliterarisch adaptierten ‚matière de Bretagne‘. Stoffgebiet der Heldenepik ist dagegen die Welt heimischer, bis in die germanische Völkerwanderungszeit zurückreichender Sagen. Als stoffliche Quelle hat man sich demnach nicht näher bestimmbare mündliche Überlieferung vorzustellen, aus der die durchweg anonym bleibenden Verfasser schöpfen. Dichtung und Sagen Die Entstehung heldenepischer Dichtung auf der Grundlage von Sagen, die für uns nur indirekt erschließbar sind, sowie die gleichfalls schwer abschätzbaren Auswirkungen des Übergangs mündlicher Dichtung in buchepische Gestalt haben die literarische Beurteilung namentlich des Nibelungenlieds, das als prominentester Vertreter deutscher Heldenepik anzusehen ist, seit seiner Wiederentdeckung bis heute in besonderer Weise erschwert. Mit einer Eingangsstrophe, die nur in zwei der Haupthandschriften (A und C) überliefert ist, kennzeichnet der Erzähler (oder der Redaktor) sein Vorhaben ausdrücklich als heldenepische Dichtung. Die Bezug auf die „alten mæren, die uns geseit [gesagt] sint“, lässt eine Erzählung aus dem Stoffgebiet mündlich tradierter Sage erwarten, und solche Sagen berichten von berühmten Personen, „von helden lobebæren“ und ihren Taten, „von küener recken strîten“ (Str. 1).1 Da bereits die nächste Strophe den Schauplatz ‚in Burgonden‘ und den Namen ‚Kriemhilt‘ erwähnt, war für den zeitgenössischen Zuhörer und ist auch für den heutigen Leser klar, dass es sich um Nibelungen-Sagen handelt. Was das jedoch für die beginnende Erzählung bedeutet, wissen wir nicht. Wir haben von Nibelungen-Sagen keine unmittelbare Kenntnis, und es ist, von groben 1

Das Nibelungenlied wird zitiert nach der Ausgabe von Karl Bartsch, hg. von Helmut de Boor u. Roswitha Wisniewski, Wiesbaden 221996 (Strophenangaben in Klammern nach dem Zitat).

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Umrissen abgesehen, auch nicht feststellbar, welche Ausformungen der Sagen dem Primärpublikum bekannt waren. Alles, was wir von Nibelungen-Sagen zu wissen meinen, ist aus Dichtungen erschlossen, die zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten aufgezeichnet wurden. Die wichtigsten Textzeugen, aus denen wir die Sagenquelle rekonstruieren, sind das Nibelungenlied selbst, das Anfang des 16. Jahrhunderts überlieferte Lied vom Hürnen Seyfried sowie einige Passagen aus Heldenepen, die dem Umkreis der Dietrichepik zugehören. Daneben steht die inhaltsreiche nordische Überlieferung mit einer Reihe von Eddaliedern, der Snorra-Edda, der Völsungensaga und der Thidrekssaga. Das sind der Form und dem Geiste nach sehr verschiedene Zeugnisse. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass sie alle – ganz oder teilweise – an einer gemeinsamen stofflichen Basis teilhaben. Zu dieser gehört eine Kerngruppe namentlich identifizierter Personen, die in einigermaßen gleichen Relationen zueinander stehen: Siegfried, die burgundischen Könige mit Gunther an der Spitze – Anzahl und Namen seiner Brüder schwanken in den verschiedenen Quellen –, Kriemhilt, die Schwester der Könige, Hagen und der Hunnenkönig Etzel. Diese stoffliche Basis schließt weiterhin Handlungsabläufe ein, deren Grundzüge zum Teil bis in Einzelheiten übereinstimmen: die so genannten Jung-Siegfried-Abenteuer mit Drachenkampf und Hortgewinn, die Verbindung Siegfrieds mit der burgundischen Königsfamilie, der zu Gunsten Gunthers an Prünhilt begangene Werbungsbetrug, die Doppelhochzeit von Siegfried mit Kriemhilt und von Gunther mit Prünhilt, die Aufdeckung des Betrugs durch einen Streit der beiden Frauen, die Beschuldigung Siegfrieds, der darauf begründete Rachebeschluss und die Tötung Siegfrieds, den Untergang der burgundischen Königsfamilie, die Verheiratung Kriemhilts mit Etzel, die verräterische Einladung der Königsbrüder an den Hof Etzels sowie den Ausbruch der Feindseligkeiten und die Tötung Hagens und Gunthers. So verschieden in jeder Hinsicht Edda-Lied, Saga und Nibelungenlied voneinander sind, an der stofflichen Basis, an dem Personeninventar und dem Handlungsgerüst wurden keine wesentlichen Änderungen vorgenommen. Damit stellt sich die Frage: Was hat diese Stoffgebundenheit für die literarische Beurteilung der am Ende des Tradierungsprozesses stehenden Dichtwerke zu bedeuten? Hatten deren Verfasser über das bloße Nacherzählen des Sagenstoffes hinaus noch Gestaltungsspielräume? Konnten, ja durften sie von den zu ihren Lebzeiten wohl noch verbreiteten mündlichen Sagen abweichen, ohne sich dem Vorwurf der Traditionsfälschung auszusetzen? Hatten sie sich nicht „dem vorgegebenen Stoff mit seinem Traditionspotential und seinem Anspruch auf Verbindlichkeit als Vorzeitkunde zu beugen, ihn als eine objektive

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Größe zu nehmen?“2 Das Problem des Verhältnisses von Sagenstoff, Tradierungsweisen des Stoffes und der uns im Nibelungenlied entgegentretenden manifesten Dichtung stand und steht bei den Forschungen zu diesem bedeutendsten mittelhochdeutschen Heldenepos beharrlich im Vordergrund und die Antworten haben seine literarische Beurteilung und Interpretation je nach Sichtweise fundamental geprägt. Noch in einer jüngeren Einführung heißt es: „Ohne eine [...] Vorstellung (wie die Vorgeschichte des ‚Nibelungenliedes‘ verlaufen sein könnte) ist jeder verloren, der das Werk verstehen will.“3 Das bedeutet doch nichts anderes, als dass eine in jedem Fall hypothetisch bleibende Rekonstruktion der Textgenese unentbehrliche Voraussetzung für die Annäherung an das Nibelungenlied wäre. Gründlicher Umgang mit der aus dem Hochmittelalter überlieferten Dichtung führt jedoch zu einem gegenteiligen Schluss: Das Verständnis des Nibelungenliedes erschließt sich dann auf ungezwungene Weise, wenn man lesend (oder noch besser dem Epensänger zuhörend)4 die Faszination des Erzählten auf sich einwirken lässt. Als unkommentierten Vortrag zum Zuhören haben wir uns ja auch die Wirkung auf das zeitgenössische Publikum zu denken. Verstrickung in die Fragen der Entstehung kann da nur ablenken. Die erzählerische Durchsichtigkeit des Nibelungenlieds wird im Folgenden unter drei Aspekten aufgewiesen, (1) dass das Textgeschehen aus einer homogenen feudalhöfischen Perspektive berichtet wird, (2) dass das Handeln der Dichtungsfiguren und die Konflikte, in die sie sich verwickeln, einer in diese Perspektive eingebetteten nachvollziehbaren Logik folgen und (3) dass, ohne Rezeptionslenkung durch ein explizites ‚fabula docet‘, dennoch in den berichteten Geschehnissen und der Zeichnung der Figuren die Gründe sichtbar werden, die zum Scheitern aller Vorhaben und zu dem katastrophalen Ende führen. Diese drei Aspekte werden wegen ihres inneren Zusammenhangs nicht im Sinne einer Gliederung getrennt voneinander betrachtet. Das macht Nähe zum Text erforderlich, hat aber auch den Vorteil, dass die Interpretation kontrollierbar bleibt. Wer ist Siegfried? Die Siegfried-Figur und die Siegfriedhandlung im ersten Teil des Nibelungenlieds gaben und geben den philologischen Kritikern des Dichters in besonderem Maße Anlass, seine Fähigkeit bzw. seine Möglichkeiten zu einheitlicher 2 3 4

Vgl. Joachim Heinzle: Das Nibelungenlied, München u. Zürich 1987, S. 64. Ebd., S. 32. Einen bemerkenswerten Versuch, die Strophen des Nibelungenliedes im so genannten „Hildebrandston“, begleitet von Drehleier und Schoßharfe sanglich vorzutragen, macht der Wiener Bariton Dr. Eberhard Kummer. PAN 15005/6, 2 LPs., Wien 1983, auf CD, Preiser Records LC 0992 Stereo 93415.

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Figurengestaltung und Herstellung einer befriedigenden Handlungslogik zu bestreiten. Ist Siegfried wirklich eine zwiegestaltige Erscheinung („Hier der niederrheinische Jungkönig [...]; dort ein mit nebelhafter Ferne verbundener, überstarker Abenteurer“)?5 Siegfried wird den Zuhörern in der zweiten Aventiure des Nibelungenliedes vorgestellt. Das geschieht nicht in einer ‚descriptio‘, die von der Aufzählung äußerer Eigenschaften über seelische Eigenschaften der Reihe nach weiterschreitet zum kontinuierlichen Bericht über die Jugendjahre. Die zeitliche und sachliche Ordnung der Angaben wechselt vom rahmenhaften Überblick, der weit in die Zukunft vorgreift, zu detaillierten Vorgangsschilderungen. – Als erstes werden genannt Siegfrieds Heimat „in Niderlanden“, seine königliche Abkunft, die Namen der Eltern und die am Niederrhein gelegene Stammburg „ze Santen“ (20). Schon die nächste Strophe (21) eilt nach Erwähnung des Namens ‚Sîvrit‘ voraus zu einem späteren, offensichtlich kennzeichnenden Lebensabschnitt, während dessen der junge Ritter im Vertrauen auf seine Stärke viele Länder aufsuchte, um seine Tapferkeit an den dort Herrschenden zu messen („er versuochte vil der rîche durch ellenthaften muot“). Es ist für die weitsichtige Disposition des Dichters sehr wichtig festzuhalten, dass diese hier noch nicht näher bestimmten ritterlichen Bewährungsproben schon in Zusammenhang gebracht werden mit Siegfrieds späterem Auftreten bei den Rittern in Burgund („hey waz er sneller degene sît zen Burgonden vant“ [21]). Ohne genauere Zeitangaben sind auf die Jugend Siegfrieds alsdann die allgemeinen Mitteilungen bezogen, in welch erstaunlichem Ausmaß sein Ruf (êre) zunahm, wie gut er aussah und dass die Frauen ihn später liebenswert fanden (22). Erwähnt wird des Weiteren die sorgfältige Erziehung, die man dem Heranwachsenden angedeihen ließ mit dem Ergebnis, dass man in ihm die wahren Eigenschaften eines Herrn erkannte (23). Eine längere Strophensequenz (24-42) verengt dann den Blick auf den zeitlich präzisierten Vorgang der ritterlichen Initiation: Der Erzähler berichtet die Schwertleite Siegfrieds mit allem feudalhöfischen Zeremoniell: Feierliche Messe, Turnier, Festmahl, Unterhaltung durch fahrendes Volk, die Neuvergabe der Lehen aus der Hand des jungen Fürsten, die großzügige Beschenkung der mit Siegfried zum Ritter geschlagenen Knappen. – Das alles könnte sich am Hofe des Königs Artus nicht anders abspielen. Diese Vorstellung Siegfrieds macht deutlich, dass es die unverkennbare Absicht des Dichters ist, die Sagenfigur in seinem Werk als ein besonders ausgezeichnetes Mitglied der höfisch-ritterlichen Gesellschaft zu interpretieren. Indem er den ersten zusammenhängenden Erzählabschnitt über Siegfried der Schwertleite widmet, rückt er den Helden, wie auch immer die umlaufenden 5

Hugo Moser: Studien zur deutschen Dichtung des Mittelalters und der Romantik. Kleine Schriften II, Berlin 1984, S. 47.

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Sagen ihn geschildert haben mögen, entschieden in den Zeithorizont seines Publikums. Die literarischen Beschreibungen der Ritterpromotion kamen im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts auf,6 und auch der Vorgang selbst war im Bewusstsein der Zeitgenossen; erinnert sei an den Mainzer Hoftag von 1184, auf dem die Söhne Barbarossas das Schwert als Zeichen der Ritterwürde empfingen. Die zweite Aventiure schließt wieder mit einer bemerkenswerten Strophe (43); es heißt dort, dass Siegfried nicht Landesherr werden will, solange seine Eltern noch leben, dass er vielmehr die Absicht hat, die Schutzpflicht des Herren gegen alle unrechtmäßigen Gewaltakte im Lande zu erfüllen. Das erinnert an den bereits in der zweiten Strophe gegebenen Ausblick auf seine im Einzelnen nicht berichteten ritterlichen Bewährungsproben (22). Erneut werden also Zeit und Art künftiger Taten exponiert – zu denken ist hier an die Kämpfe beim Erwerb des Nibelungenhorts und gegen einen Drachen, worüber Hagen später berichten wird. Auch damit wird der ritterlich-höfische Horizont eher unterstrichen als verlassen. Dem höfischen Roman ist es ja ebenso durchaus geläufig, die ordnungsbedrohenden Elemente in Gestalt von Drachen, Riesen und Zwergen darzustellen. Gleichzeitig wird mit dem nachdrücklichen Hinweis auf die Ritterpflicht, rechtswidrige Gewalt zu unterdrücken, unmissverständlich vorausgedeutet auf die später von Siegfried gegenüber Gunther geltend gemachte Herrschaftslegitimation, dass der König fähig sein müsse, Friede und Recht im Lande zu sichern. Man sieht, dass der Dichter seine Gestalt in feudalaristokratischen Lebensformen gesehen wissen will, wie er sie mit Zügen ausstattet, die ihre künftigen Handlungen erklären, und wie er auf die Zusammenhänge der Handlungen achtet. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man der Fortsetzung des Erzählgeschehens in der dritten Aventiure folgt. Sie wird zeigen, wie sich das erwähnte „versuochen der rîche“ (21), also der Machtvergleich mit anderen Fürsten, konkret abspielt. Zuvor sei aber noch ein Blick auf die für das Gesamtpersonal des Nibelungenlieds charakteristischen Eigenschaften und Wertorientierungen geworfen. Wegen der Offensichtlichkeit kann auf Einzelnachweise verzichtet werden: Die Männer wie die Frauen im Nibelungenlied verfügen über ein ausgeprägtes Selbstgefühl, sie sind stolz, geltungsbedürftig und machtbewusst. Bestimmend für ihr Dasein sind hochadlige Geburt, Herrschaft, Macht, Reichtum und Ansehen. Der Dichter hebt das nicht kommentierend hervor, sondern zeigt es in Reden und im Verhalten der Figuren. Auch in dieser generellen Kennzeichnung der Personen bekundet sich, dass seine Stoffinterpretation auf die mentale Verfassung der Menschen seiner Zeit zielt. Genau so stellen sie sich nämlich in 6

Vgl. dazu Joachim Bumke: Höfische Kultur – Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, Bd. 1, München 1986, S. 318ff.

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der Sicht der zeitgenössischen Lehrdichtung dar. In einer höfischen Erziehungslehre aus dem Jahr 1215 diskutiert Thomasin von Zerclaere die leitenden Werte des Adels und ordnet jedem ein sittliches Gegensatzpaar zu. Der Wert der ‚hêrschaft‘ bricht sich in dem sittlichen Gegensatz von ‚diumuot‘ und ‚übermuot‘; der Wert von ‚rîchtuom‘ in demjenigen von ‚milte‘ und ‚erge‘; ‚maht‘ (im Sinne von ‚Stärke’) kann mit ‚senfte‘ tugendhaft, mit ‚zorn‘ lasterhaft gebraucht werden; über den Wert von ‚name‘ (im Sinne von ‚Ruf’, ‚êre’) entscheidet, ob er auf ‚wârheit‘ beruht oder auf ‚ruom‘ (im Sinne von ‚Prahlerei’); ‚adel‘ ist sittlich durch ‚nît‘, dass ein anderer höher stehen könnte, gefährdet; ‚gelust‘ (im Sinne von ‚Begierde’) schließlich führt die sittlichen Korrelate ‚unreht tuon‘ und ‚reht tuon‘ mit sich (5947ff.).7 Es ist gerade die Ambivalenz dieser (Güter-)Werte zwischen lasterhaftem und tugendhaftem, zwischen bösem und gutem Gebrauch, die Thomasins Analyse im Hinblick auf das Nibelungenlied so interessant macht. Man könnte es von dieser Grundlage aus nach zeitgenössischen Kriterien ethisch interpretieren: die Ambivalenz aller Werte ist ja charakteristisch für diese Dichtung. Siegfrieds Werbungsentschluss Siegfried hört von Kriemhilts unvergleichlicher Schönheit und von dem Stolz, mit dem sie alle Männer abweist (44-46). Ein so hohes, schwer zu erringendes Liebesziel (hôhe minne) fordert ihn heraus. Sein Entschluss ist rasch gefasst: „sô wil ich Kriemhilden nemen“ (48). Der Text gibt auch das Motiv der ehrgeizigen Partnerwahl zu erkennen: „Kein Kaiser“, so begründet Siegfried seine Entscheidung gegenüber den abratenden Verwandten, „kann je so mächtig sein [...], dass Kriemhilt nicht als Frau für ihn angemessen wäre“ (49). Das wirft Licht auf seine Selbsteinschätzung. Und diese Selbsteinschätzung wird im Fortgang des Geschehens immer deutlicher. Die Eltern sind bestürzt über die Wahl ihres Sohnes. Die Brautwerbung beim Wormser Hof ist ein gefährliches, lebensbedrohendes Unternehmen. Man kennt in Xanten „Gunthern und sîne man“ (51), man weiß, dass der König und seine Vasallen sich ganz oben dünken, besonders einer, Hagen, „kan mit übermüete der hôchverte pflegen“ (54). Siegfried lässt sich von der ‚übermüete‘ der Wormser nicht schrecken, er setzt seine Selbstgewissheit dagegen: „Was ich bei ihnen nicht im Guten erbitte, das werde ich durch Mannhaftigkeit erreichen. Ich traue mir zu, ihnen ‚liute unde lant abzuzwingen‘“ (55). Brautwerbung durch Gewalt, durch Krieg – passt das zur höfischen Kultur? – In höfischen Dichtungen der Zeit begegnen durchaus vergleichbare Konstellationen. So zum Beispiel im Parzival, wo Clamidê 7

Heinrich Rückert (Hg.): Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria, mit einer Einleitung von Friedrich Neumann, Berlin 1965.

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Krieg gegen Pelrapeire führt, um Condwiramurs zur Frau zu gewinnen (Parz. 194,12-195,1); genauso will ein Herzog in Hartmanns Gregorius der in seiner Nachbarschaft herrschenden Fürstin durch Verwüstung ihres Landes und Belagerung ihrer Hauptstadt abdringen, dass sie ihn heiratet (Greg. 899-922; 1842-1846; 1999-2022). Siegfrieds Vater findet dann auch nichts Befremdliches an der Gewaltstrategie des Sohnes und ist bereit, dessen Werbung durch Heeresaufgebot zu unterstützen (57). Siegfried lehnt das ab; er sei allein Manns genug, sein Ziel zu erreichen (59). Sein späteres Handeln in Worms wird den hier geäußerten Plänen genau entsprechen. Wichtig ist aber noch ein Zweites: Dass Siegfried auf jegliche Hilfe bei seiner Werbung verzichtet, exponiert bereits hier den für alles weitere Geschehen entscheidenden Gegensatz zu Gunther, der für seine Werbung um Prünhilt ausdrücklich auf Hilfe, und zwar auf die Hilfe Siegfrieds angewiesen war. Die Genauigkeit, mit der der Dichter Handlungsführung und Konfliktbildung überblickt, tritt in solchen Verbindungslinien zwischen Früherem und Späterem eindrücklich zu Tage. In Begleitung von elf Rittern, deren Repräsentationsaufwand Adel, Macht und Reichtum demonstriert, trifft Siegfried am Hof Gunthers ein (71ff.). Hagen wird zur Identifikation der Fremden herbeigerufen. Einer unter ihnen fällt ihm besonders auf. Nach der Art seines Auftretens vermutet er, dass es sich um Siegfried handelt (82ff.). Über den aber weiß er wichtige Dinge, „niuwemære“ (87), zu berichten. Nibelungen-Hort und Drache Der Bericht Hagens ist nun von höchstem Interesse für den Umgang des Dichters mit dem Sagenstoff. Hortgewinn und Drachentötung sind, wie wir aus der nordischen Überlieferung und auch aus dem Hürnen Seyfried wissen, offenbar Kernbestand reich ausgestalteter Jung-Siegfried-Sagen. Der Dichter des Nibelungenlieds vermeidet im eigenen Erzählzusammenhang die Entfaltung dieser Erlebnisse Siegfrieds. Er lässt lediglich die Fakten durch Hagen vortragen. Aber auch dabei achtet er noch darauf, dass sie mit der Existenz des feudaladligen Königssohns kompatibel bleiben. Der Hort fällt Siegfried nach den Worten Hagens zu, als er von den Königssöhnen Schilbung und Nibelung gebeten wird, ihren Erbstreit zu schlichten. Die Teilung misslingt. Man gerät in Zorn. Es kommt zur bewaffneten Auseinandersetzung, in deren Verlauf Siegfried die beiden Könige erschlägt. Ihre Helfer, zwölf Riesen, tötet er ebenso, überwindet den Zwerg Alberich, nimmt ihm die Tarnkappe ab und wird schließlich zum Herrn der nibelungischen Ritter, Burgen, Territorien sowie des Nibelungenhorts. – Dies alles und dazu noch die nur kurz erwähnte Tötung des Drachens berichtet Hagen wie eine ritterliche ‚aventiure‘ (88-100). Hier ist daran zu

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erinnern, dass der Dichter die Eingliederung dieser Taten in Siegfrieds Leben lange vor der Ankunft in Worms vorsorglich berücksichtigt hatte. Der Sagenstoff ist in der Neugestaltung voll adaptiert. Sie verleiht aber darüber hinaus den aus der Sage stammenden Zügen, also der exorbitanten Kampfstärke Siegfrieds, seiner beim Bad im Drachenblut erworbenen Unverwundbarkeit und dem Hort in der aktuellen Situation am Wormser Hof einen neuen funktionalen Sinn, der die folgenden Ereignisse genau begreiflich macht. Hagen beschließt nämlich seinen Bericht mit den folgenreichen Worten: „Wir suln den herren enpfâhen deste baz, daz wir iht verdienen des jungen recken haz“ (101), – der Mann, von dem man in Xanten sagte, dass er „mit übermüete der hochverte pflege“, gibt jetzt die Devise aus: Man muss diesem Ankömmling unbedingt entgegenkommen und darf ihm keinen Anlass zu feindlichem Verhalten geben. Es ist die für Hagen typische Reaktion, seine Ratschläge und sein Verhalten vom nüchternen Blick auf die Realitäten leiten zu lassen, und Realität ist, dass jede Auseinandersetzung mit dem überstarken, unverwundbaren Siegfried nur zur Niederlage führen könnte. Die Provokation Schon vor der Abreise nach Worms hatte Siegfried sich für seine Werbung auf eine Gewaltstrategie festgelegt. Es ist selbstverständlich für ihn, dass der Weg zu einer Königstochter vom Range Kriemhilts über den Beweis der eigenen Macht und Königswürde führt, und das heißt auch über den vollen Beweis eigener Herrschaftslegitimation. Deshalb liegt es in der Handlungslogik seines Plans, den Machtvergleich mit König Gunther im Wettstreit um das ritterliche Kriterium der Herrschaftslegitimation zu suchen. Die Herausforderung lautet also: Wer von uns beiden Königen ist in der Lage, durch seine persönliche Tapferkeit dem Land den Frieden zu sichern? Siegfried lässt dieses Kriterium ausdrücklich auch bezüglich der eigenen Erblande gelten (113), und es ist wiederum daran zu erinnern, dass er schon in Xanten das väterliche Königserbe nur unter der Bedingung antreten wollte, die Herrschaft zuvor durch die Sicherung von Friede und Recht persönlich verdient zu haben (43). Die Position, die er vertritt, ist demnach: Der Erbanspruch gilt, aber ohne die Idoneität der Königsperson fehlt der Herrschaft der feste Grund. Man braucht sich im Nibelungenlied nicht lange umzusehen, um auf die vergleichbare Herausforderung der Wormser Herrschaft durch die Dänen und Sachsen zu stoßen. Die Könige Liudegêr und Liudegast lassen durch ihre Boten Fehde ansagen und bedrohen den Frieden der burgundischen Lande und Städte (139ff.). Im politischen Vorstellungsbereich des Liedes stellen derartige Fehdeansagen nichts Befremdliches dar. Es ist also unbegründet, im Verhalten Siegfrieds den usurpatorischen Auftritt eines landlosen Recken zu sehen, der als unbewältig-

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tes Relikt der Sage störend in dem neuen höfisch-ritterlichen Kontext stehen geblieben sein soll.8 – Die Verknüpfung der Brautwerbung mit der durch Tapferkeit erwiesenen Herrschaftslegitimation ist im Übrigen auch dem höfischen Roman nicht fremd. Als Beispiel sei nur die Ehe zwischen Laudine und Iwein erwähnt. Nach grundloser Aggression tötet Iwein den legitimen König Askalon. Seiner Witwe wird wenig später von Lunete, ihrer engsten Vertrauten, geraten, dem Liebeswerben Iweins nachzugeben, da Iwein durch die Besiegung Askalons bewiesen habe, dass er der bessere Ritter und folglich der geeignetere König und Verteidiger des Landes sei (Iwein, 1959-1970). Die Reaktion des Wormser Kronrats auf Siegfrieds Herausforderung ist nach Hagens Bericht über den Ankömmling völlig klar. Nicht eine neue Qualität überlegener höfischer Diplomatie, sondern die bare Unterlegenheit bestimmt das Handeln Gunthers. An einer Abwiegelungsstrategie führt kein Weg vorbei. Es ist Gernôt, der die Wende einleitet. Er bremst den trotzig aufbrausenden Ortwin von Metz und schlägt friedliche Töne an: „Es ist rühmlicher für uns“, sagt er, „Siegfried zum Freund zu haben“ (120). Selbstbewusste (übermüete) Reden verbietet er seinen Leuten (123). – Diese unerwartete Nachgiebigkeit besänftigt Siegfried. Gunthers Worte „allez daz wir hân, [...] daz sî iu undertân, und sî mit iu geteilet“ (127) kann er als Demutsgeste werten; der politische Weg für seine Werbung ist damit frei. Er willigt in das Freundschaftsangebot ein, bleibt als Gast am Wormser Hof, in der Nähe Kriemhilts, aber nun weiß er nicht, wie er an sie herankommen soll (136). Allmählich gleitet er in eine Abhängigkeit von der Königsfamilie (137). Ungewollte Dienstrolle Es ist eine Meisterleistung feudalhöfischer Adaptation des Stoffes, wie der Nibelungenlieddichter im weiteren Handlungsverlauf das Konfliktthema der gesellschaftlichen Rangordnung am Wormser Hof aufkommen lässt, wie er die unterschiedlichen Interessen Gunthers und Siegfrieds miteinander verflicht – das Interesse Gunthers, diesen starken Verbündeten dauernd bei sich zu haben, und das Interesse Siegfrieds, in Kriemhilts Nähe zu bleiben. Der Krieg gegen Sachsen und Dänen bietet beiden Seiten eine gern ergriffene Gelegenheit, sich den eigenen Zielen zu nähern. Hagen schlägt vor, Siegfrieds Waffenhilfe gegen die Feinde in Anspruch zu nehmen (151), und Siegfried steht zur Verfügung, wie man es von einem treuen Vasallen nur erwarten könnte: „iu sol mit triuwen dienen immer Sîvrides hant“ (161). Das sind gefährliche Worte, in 8

Die scheinbare Widersprüchlichkeit der Siegfried-Figur hat die Forschung immer wieder irritiert. Entsprechende Literaturnachweise bei Otfried Ehrismann: Das Nibelungenlied – Epoche – Werk – Wirkung, München 1987, S. 117.

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denen Freundschaft und Rechtsverhältnis zusammenfließen. Siegfrieds Tapferkeit beschert den Burgunden einen glänzenden Sieg. Nach den Kampfhandlungen denkt Siegfried daran, Worms zu verlassen, aber Gunther bittet ihn zu bleiben. Nur wegen der Königsschwester folgt Siegfried der Bitte. Der Erzähler nennt dieses Motiv ausdrücklich, und ebenso nennt er das Motiv der Königsfamilie: „die heten daz gesehen, waz von sînen kreften in dem strîte was gescehen“ (258f.). Und natürlich hat man in Worms bemerkt, was mit Siegfried los ist: Gunther „was daz wol erkant, wie rehte herzenlîche der helt von Niderlant sîne swester trûte“ (272). Man kann über eine lange Textstrecke hin genau verfolgen, wie Kriemhilt als Verlockung für Siegfried instrumentalisiert wird. Ihr gegenüber gebraucht Siegfried dann, als er sie endlich sehen darf, Worte, die einer faktischen Unterordnung gegenüber den Königen gleichkommen: „Ich sol in immer dienen [...] und enwil mîn houbet nimmer ê gelegen, ich enwerbe nâch ir willen, sol ich mîn leben hân.“ Seine reservatio mentalis: – „daz ist nâch iuwern hulden, mîn frou kriemhilt, getân“ (304) hat keine Außenwirkung. Der Dichter macht Siegfrieds Abhängigkeit von seiner Liebe zu Kriemhilt und damit den eigentlichen Grund aller kommenden Konflikte nachdrücklich deutlich. Sowohl die einheitsgebende Konstante der Person als auch die daraus hervorgehende Logik ihrer Entscheidungen und Handlungen kommen erzählerisch überzeugend zum Ausdruck. Dabei kann mitten im Geschehen und noch lange vor seiner äußersten Eskalation auf das in solchen Voraussetzungen begründete Ende vorausgeblickt werden. Die letzte Strophe der 5. Aventiure (324) lautet: „Wegen ihrer [sc. Kriemhilts] unvergleichlichen Schönheit blieb Siegfried in Worms. Mit den verschiedensten Unterhaltungen vertrieb man sich die Zeit, nur die Liebe zu ihr bedrängte ihn, daran litt er immerzu. Aus diesem Grunde fand der Tapfere später in jammervoller Weise den Tod“. – Es ist unbegreiflich, wie angesichts solcher erzählerischer Durchsichtigkeit die Einheit der Figuren und die Konsistenz der Konfliktbildung immer wieder bestritten werden können. Der Betrug Die soeben zitierte Strophe steht an der Schwelle zu den Handlungen, von denen es kein Zurück mehr geben wird. Kein Zurück mehr – nicht weil ein Verhängnis, ein Schicksal oder, noch schlimmer, der bloße Zwang des Sagenstoffs das Geschehen diktierte, sondern weil die handelnden Personen sich so entscheiden, wie sie sich entscheiden, und weil sie glauben, ihre Ziele mit den von ihnen gewählten Mitteln sicher zu erreichen. Eine fatale Entscheidung steht am Anfang der weiteren Begebenheiten. In Worms verbreitet sich die Kunde von einer unvergleichlich schönen Königin, die über außergewöhnliche Kraft verfügt. Sie macht ihre Liebe davon abhängig, dass man sie im Kampfe

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überwindet (326). Es geht wieder um ‚hôhe minne‘, um ein Liebesziel, das nur um den Preis schwerster Tapferkeitsproben zu erlangen ist. Diese Konstellation ist eine Wiederholung. Siegfried befand sich in derselben Lage, als er sich für die gefährliche Werbung um Kriemhilt entschied. Gunther entschließt sich, um Prünhilt zu werben. Siegfried weiß Bescheid über die näheren Umstände des Wagnisses; er rät dringend ab. Wie schon im Falle des Sachsenkrieges schlägt Hagen vor, auf Siegfrieds Hilfe zu bauen. Zwei Wünsche, die jeweils aus eigenem Vermögen unerfüllbar sind, können scheinbar in gegenseitigem Einvernehmen Wirklichkeit werden. In dieser Zuversicht beschließen Siegfried und Gunther ihren Handel: „Hilfst du mir“, fragt Gunther Siegfried, „die Liebe Prünhilts zu erringen?“ Und Siegfried antwortet: „Gibst du mir deine Schwester, dann will ich es tun“ (332f.). Eine irreversible gegenseitige Abhängigkeit der beiden Männer nimmt hier ihren Ausgang. Beide sind sich darüber im Klaren und befestigen durch Eide, wozu sie sich verpflichtet haben. Es liegt in der Konsequenz dieses Handels, dass Prünhilt betrogen werden muss. – Das weckt bei den Beteiligten keine moralischen Bedenken, und auch der Erzähler gibt keinen moralischen Kommentar. Er bleibt in der Haltung des objektiv Berichtenden, lenkt die Rezeption nicht und überlässt das Urteil dem Rezipienten. Wie die Dinge liegen, kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass Siegfried die größere Verantwortung trägt, denn er allein ist zur Durchführung des Betrugs befähigt. Er ist im Besitz der Tarnkappe. Er ersinnt den Plan, wie man zu Werke gehen soll. In diesem Plan setzt sich nun auf eigentümliche Weise fort, was sich im Verhältnis Siegfrieds zum Wormser Hof schon länger angebahnt hatte, nämlich seine schleichende Unterordnung unter Gunthers königlichen Vorrang. Das ist deshalb eigentümlich, weil ein solches Verhältnis bis dahin keinesfalls dem Willen Siegfrieds und schon gar nicht den Tatsachen entsprach. Wie ist das möglich? – In Sichtweite der Burg Prünhilts und kurz vor Beginn des gefährlichen Täuschungsmanövers schwört Siegfried seine Begleiter – Gunther, Hagen und Dancwart – ein, zusammenzuhalten und mit einer Sprache zu sprechen. Er gibt die folgende Sprachregelung aus: „Wenn wir Prünhilt im Kreis ihrer Leute sehen, dann sollt ihr [...] nur dies eine aussagen, Gunther sei mein Herr, und ich sei sein Vasall“ (386). Siegfried hält es in diesem Augenblick jedoch für notwendig, gegenüber den Komplizen noch eine Erklärung nachzuschieben. An Gunther gewandt sagt er: „Glaub mir, ich lasse mich auf diese Vereinbarung nicht in erster Linie aus Liebe zu dir ein, sondern um deiner Schwester, des schönen Mädchens willen; diu ist mir sam mîn sêle und sô mîn selbes lîp. Ich will daz gerne dienen, daz si werde mîn wîp“ (388). Nachdrücklicher kann das zentrale Motiv, das Siegfried auch bei der bevorstehenden heiklen Handlung, dem Betrug an Prünhilt, leitet, nicht ausgedrückt werden. – Einer Begründung bedürftig ist aber auch die offensichtlich nicht selbstverständliche Einwilligung der Begleiter, bei einer so schwerwiegenden

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Fälschung der ständischen Hierarchie mitzuwirken. Der Erzähler fährt nämlich in der folgenden Strophe fort: „[seine Begleiter] waren bereit, das Versprechen zu erfüllen, das er ihnen abverlangte“ – und er kommentiert diese Bereitschaft mit den Worten: „durch ir übermüete unterließ es keiner von ihnen, alles zu sagen, was Siegfried wollte; das kam ihnen zu Gute, als der König Gunther der schönen Prünhilt gegenüberstand“. Der kritische Unterton ist hier keinesfalls zu überhören. Der Erzähler hat wie immer die langfristigen Folgen der Zustimmung zum Betrug im Auge. ‚Übermüete‘ bedeutet, dass die Akteure, die nur auf den momentanen Erfolg ihres Vorhabens fixiert sind, genau diese Folgen, nämlich die Gefahren der Standesfälschung nicht bedenken. Der Kommentar des Erzählers ist also so zu verstehen, dass er das zustimmende Verhalten der Begleiter Siegfrieds als leichtfertig kritisiert. – Dem Interpreten stellt sich hier aber noch eine weitere Frage. Nämlich: warum Siegfried überhaupt auf die Idee der Vasallenfiktion verfällt, um Prünhilt zu täuschen. Darüber erfahren wir in der besprochenen Stelle noch nichts. Um die Frage zu beantworten, ist es erhellend, einen Blick auf den Sagenstoff zu werfen. Für diesen ist der folgende Zusammenhang konstitutiv: Gunther will Prünhilt zur Frau, ist aber unfähig, die dafür notwendige Freierprobe zu bestehen. Dazu ist niemand außer Siegfried in der Lage. Damit Gunther zu seinem Ziel gelangt, muss also Siegfried an seiner Stelle handeln. Diese „Stellvertretung“ darf von Prünhilt keinesfalls bemerkt werden. Die älteren nordischen Überlieferungen lösen dieses Problem, indem Siegfried und Gunther die Gestalt tauschen. Im Nibelungenlied bedient Siegfried sich der Tarnkappe. Folge des Betrugs ist auch im Sagenstoff, dass das Rangverhältnis beider Männer verfälscht wird: Gunther, der de facto Schwächere, erscheint als der Überlegene; Siegfrieds Ausnahmeleistung bleibt verborgen. Weiterhin ist für den Sagenstoff wesentlich, dass der Betrug durch einen Rangstreit der beiden Frauen herauskommt. Man muss das nicht wissen, um den Erzählgang des Nibelungenlieds zu verstehen. Aber vor dem Hintergrund des im Sagenstoff vorgegebenen Strukturmusters erkennt man wieder sehr gut, auf welche Weise und mit welcher umsichtigen Konsequenz der Dichter seine zeitgenössische Perspektive bei der Behandlung des Stoffes einbringt. Die im Stoff strukturell vorgegebene, scheinbare Werterhöhung, die Gunther nur der Leistung Siegfrieds verdankt, interpretiert er erzählerisch in rechtlichen Kategorien der Feudalgesellschaft als den Vorrang des Königs gegenüber seinem Vasallen. Siegfried hat auch gute Gründe, sich gegenüber Prünhilt durch eindeutige Symbolhandlungen und ebenso eindeutige Aussagen als Gunthers Vasall auszugeben. Er muss dem Eindruck entgegenwirken, dass er selbst der Brautwerber ist. Das zeigt sich bei der Ankunft der Wormser Werbungsdelegation in Prünhilts Burg. Siegfried sticht offensichtlich durch seine Erscheinung so sehr von seinen Begleitern ab, dass er von einem Ritter der Königin, obwohl der keinen der Ankömmlinge

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kennt, ohne Umschweife als der berühmte Siegfried identifiziert wird (411). Darauf kann Prünhilt sich einen Reim machen: „Wenn der starke Siegfried ins Land gekommen ist, um meine Liebe zu erringen, dann geht es ihm ans Leben“ (416). Siegfried ist es dann auch, den sie als ersten begrüßt (419). Nur vermöge der Rangfälschung gelingt es, Gunther als den wahren Werber zu präsentieren. Es ist festzuhalten: Siegfrieds Täuschungsstrategie erweist sich in der gegebenen Situation als ebenso notwendiges wie geeignetes Mittel, um momentan zum Ziel zu gelangen. Aber diese Täuschung ist von solcher Art, dass sie nicht auf den Augenblick ihres nützlichen Einsatzes zu begrenzen ist. Die scheinbare Nachordnung Siegfrieds gegenüber Gunther kann ja nur als Ausdruck eines dauerhaften Rechtsverhältnisses vorgeschoben werden. Wenn es gelang, Prünhilt für den Augenblick damit zu täuschen, dann musste diese Täuschung entgegen den tatsächlichen Gegebenheiten auch in alle Zukunft aufrechterhalten werden. So entsteht eine unentrinnbare Bindung an die Lüge. Darin liegt der gefährliche, nicht mehr aus der Welt zu schaffende Zündstoff des Betrugsmanövers. Der Dichter hat mit dieser Interpretation des im Stoff vorgegebenen Betrugsgeschehens die Leitlinien für die Handlungslogik gewonnen, die den Fortgang bis zur Tötung Siegfrieds beherrschen und vorantreiben. Die Entwicklung ist umso erregender, als sie der gesellschaftlichen Ein- und Unterordnung Siegfrieds, die vorher nicht mehr als ein Nebeneffekt seiner Verliebtheit war, nun, als Folge des planvollen Handelns bei der Prünhilt-Werbung, den Schein objektiver Tatsächlichkeit verleiht. Noch einmal sei unterstrichen, dass die Akteure sich durch klar motivierte persönliche Entscheidungen in diese Lage versetzt haben und dass die damit dramatisch fortschreitende Verengung ihrer Handlungsspielräume nur aus ihrem eigenen Tun hervorgeht. Verstrickung Es kommt, wie es kommen muss. Nach der Rückkehr nach Worms werden die edlen Fürsten von den Folgen ihres Handels rasch eingeholt. Siegfried erinnert Gunther an den Eid, demzufolge er Kriemhilt als Lohn für die Werbungshilfe erhalten soll. In dieser Situation ist von der Vasallenrolle nichts mehr zu spüren. Bei der Vereinbarung, sich gegenseitig zu helfen, waren beide Männer ja auch gleichrangige Partner und Siegfried noch dazu der stärkere. Entsprechend deutlich ist seine Forderung: „Wo sind die Eide hingekommen? Euer Unternehmen hat mich große Mühe gekostet“ (608). Gunther ist loyal und löst ohne Umschweife ein, was er zugesichert hat. Aber die Situation gerät außer Kontrolle, als man Kriemhilt in den Saal führt und der König die Verlobung seiner Schwester mit Siegfried formgerecht vollzieht (611ff.). Prünhilt bricht in Trä-

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nen aus. Sie begreift nicht den königlichen Auftritt Siegfrieds mit seinem Gefolge, sie begreift nicht die Ehrung, die Gunther ihm angedeihen lässt (617), sie ist fassungslos darüber, dass die Königsschwester durch die Ehe mit einem Mann niederen Ranges „sol [...] alsô verderbet sîn“ (620). Diese Reaktion Prünhilts hätte man voraussehen können. Aber die Männer hatten bei der Vorbereitung des Betrugs nicht so weit gedacht. Die Konsequenzen ihres früheren Tuns entgleiten nun ihren Händen. Die Situation eskaliert: Prünhilt droht Gunther mit Verweigerung des ehelichen Beilagers, wenn er ihr nicht sagt, wieso Kriemhilt die Geliebte Siegfrieds ist (622). Die ausweichenden Auskünfte des Königs stellen sie nicht zufrieden, und sie macht ihre Drohung wahr. Die schlimme Brautnacht Gunthers dürfte zu den bekanntesten Szenen des Nibelungenlieds gehören. Sie steht im Zeichen der unbeantworteten Frage nach der Verbindung zwischen Siegfried und Kriemhilt. Diese beiden – der Nibelungendichter ist ein Meister des Kontrastes – verbringen zur gleichen Zeit eine glückliche Nacht miteinander. Die strikte Parallelführung der beiden Paare seit den jeweiligen Werbungsentscheidungen verdeutlicht die unterschiedliche Charakterisierung der Figuren und den aus ihrer Gegensätzlichkeit heranreifenden Konflikt. – Das Gunther in der Nacht widerfahrende Unglück darf nicht als burleske Szene missverstanden werden. Unter veränderten Umständen steht wie seinerzeit bei Siegfrieds Ankunft in Worms erneut die Tragfähigkeit des Fundaments, auf das Gunther seine königliche Existenz gegründet hatte, auf dem Spiel, diesmal wegen der nur mit fremder Hilfe ermöglichten ehrgeizigen Ehe. Es droht, an den Tag zu kommen, dass nicht er die Freierprobe bestanden hat, dass er nicht der zu Prünhilt passende Mann ist. Das Ruchbarwerden des Betrugs wäre vernichtend für ihn. Die Verstrickung, in die Gunther sich begeben hat, zwingt ihn, sich wieder um Hilfe bittend an Siegfried zu wenden. Er weiß, dass er sich damit vollends in dessen Hand begibt. Im Vertrauen auf Siegfrieds großmütiges Wohlwollen – „ûf genâde“, sagt der Text! – klagt er ihm sein Leid (650). Siegfried ist zur Fortsetzung des Betrugs bereit. Er wird Gunther ‚tougenlîchen‘, geheim, mit der Tarnkappe zur Seite stehen, „daz sich mîner liste mac niemen wol verstên“ (653). – Auch jetzt kommt es nur darauf an, das richtige Mittel zur Krisenbewältigung zu finden. Weder die Handelnden noch der Erzähler halten sich mit moralischer Bewertung des Geschehens auf.

Ring und Gürtel Wieder gelingt der Plan. Prünhilt wird erneut das Opfer des Betruges. Aber so glatt, wie Gunther es sich erhofft hatte, ist die Lösung diesmal nicht. Siegfried tut etwas, das man nicht ohne weiteres versteht. Unbemerkt zieht er der über-

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wundenen Prünhilt einen goldenen Ring vom Finger und nimmt ihr außerdem den Gürtel weg, mit dem sie in der Nacht zuvor Gunther gebunden und jetzt, in dieser Nacht, Siegfried vergeblich zu binden versucht hatte, – wieder wird die höchst bezeichnende Kontrastierung der beiden Männer deutlich. Der Erzähler unterstreicht das Außergewöhnliche an Siegfrieds Verhalten. Er schaltet sich ein mit der tastenden Vermutung „ine weiz, ob er daz tæte durch sînen hôhen muot“ (680). Dabei bleibt es, obwohl der Vorgang folgenreich ist. Präzise wird der Bericht wieder mit der Angabe darüber, was Siegfried mit den beiden symbolträchtigen ‚Beutestücken’ macht. Er gab Ring und Gürtel seiner Frau Kriemhilt, allerdings nicht unmittelbar, nachdem er von dem Gewaltakt an Prünhilt zu ihr zurückkam. „Lange verbarg er vor ihr, was er ihr mitgebracht hatte (daz er ir hete brâht), bis sie in seinem Lande die Krone trug. Was er ihr schuldig war, das enthielt er ihr nicht vor“ (684). Die Aussage des Erzählers, den Grund für Siegfrieds Tun nicht zu wissen, stellt gewissermaßen dem Zuhörer anheim, sich darüber Gedanken zu machen. Sie werden aber durch die Andeutung, es sei möglicherweise „durch sînen hôhen muot“ geschehen, auf eine zum Gesamtbild der Siegfried-Figur passende Fährte gelenkt: Nimmt Siegfried Ring und Gürtel der Frau Gunthers, die er für diesen zweimal erobert hat, als Beweisstücke seiner wahren Überlegenheit mit? Ist der ‚hôhe muot‘ also der Stolz des Stärkeren, der Kriemhilt zeigen will, dass er Gunther überragt, oder ist er die Leichtfertigkeit, die zu dem Glauben führt, dass in Xanten, weit weg von Worms, das zuvor gehütete Geheimnis („er hal si vil lange“ [684]) gelüftet werden kann, weil hier und jetzt keine Gefahr mehr davon ausgeht? Der Epiker gibt darüber keine bestimmte Auskunft: niemand, auch er nicht, sieht in das Herz der Menschen. – Aber der später von Kriemhilt im Streit mit Prünhilt so nachdrücklich reklamierte Vorrang Siegfrieds vor Gunther und die Tatsache, dass sie Ring und Gürtel Prünhilts im Reisegepäck mitführt, würden zu diesem durch den Dichter nahe gelegten Erklärungsversuch gut passen. Die Psyche offenbart sich im Epos in Handlungen und Verhalten, sie ist nicht Gegenstand direkter Darstellung. Siegfried muss sterben Zehn Jahre vergehen, während derer Kriemhilt und Siegfried in Xanten, Gunther und Prünhilt in Worms weit voneinander getrennt leben. Aber die Ruhe täuscht. Prünhilts Gedanken kommen nicht los von der ohne befriedigende Antwort gebliebenen Frage nach dem sozialen Status Siegfrieds. Sie muss ihn für Gunthers Vasallen halten, muss von der dadurch gegebenen ständischen Minderung Kriemhilts ausgehen und wundert sich mit Recht darüber, dass Siegfried „uns nu vil lange lützel dienste getân [hât]“ (724). Sie beklagt sich bei Gunther über die ausbleibenden Dienstleistungen, doch der hat es leicht,

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seinen Verzicht mit der großen Entfernung zwischen Xanten und Worms zu erklären. Da versucht sie es mit List auf sanftem Wege. Sie regt eine Festeinladung der Verwandten an und hat damit Erfolg bei dem arglosen König. Alles lässt sich freundlich an, allein Prünhilt empfängt die Gäste mit dem Hintergedanken, die Ungereimtheiten um Siegfrieds Vasallität zu beseitigen (803). Beim abendlichen Turnier kommt es zu dem berühmten Streit der Königinnen. Er spitzt sich schnell auf den für Angehörige der Feudalaristokratie entscheidenden Punkt zu, welcher der beiden Männer der Mächtigste, der Vornehmste, der Glänzendste ist. Der für Prünhilt bei der Werbung Gunthers erweckte Schein, dass Siegfried Gunthers Vasall ist, prallt auf Kriemhilts Kenntnis der wahren Verhältnisse. Sie muss sich durch die behauptete Herabsetzung Siegfrieds in ihrem Standesbewusstsein verletzt fühlen und will Prünhilt durch öffentliche Rangprobe vor Augen führen: „ich bin adelvrî“ (828). Auf den Stufen des Münsters gibt Kriemhilt der Auseinandersetzung dann vor der versammelten Hofgesellschaft eine ganz unerwartete Wendung. Sie schmäht Prünhilt mit der Enthüllung, die Geliebte Siegfrieds gewesen zu sein, und sagt, es sei Siegfried gewesen, „der dir den magetuom an gewan“ (840). Das Zentrum der persönlichen Ehre des Wormser Königspaars ist damit getroffen. Prünhilt sieht sich in die Defensive gedrängt. Ihre Aufforderung, Kriemhilt solle diese ungeheuerliche Anschuldigung beweisen, endet in einem Fiasko: Triumphierend hält Kriemhilt ihr die (vermeintlichen) Beweisstücke Ring und Gürtel entgegen: „ich erziuge ez mit dem gürtel [...], jâ wart mîn Sîfrit dîn man“ (849). Schon während des Streites geht es Prünhilt durch den Kopf, Siegfried zu töten, wenn er die Quelle der Behauptungen Kriemhilts ist (845). Die mehr als halbherzige Bereinigung der skandalösen Situation seitens der Männer verschafft ihr keine Klarheit und hinterlässt auch unter Gunthers Leuten großen Unmut (871). Hagen nimmt sich der tief verletzten Königin an; er schwört ihr, an Siegfried Rache zu nehmen (864). Er sieht deutlicher als alle anderen die von Siegfried und Kriemhilt ausgehende tödliche Bedrohung der burgundischen Königsmacht: Das Gerücht einer Beziehung Siegfrieds zu Prünhilt muss die Erbfolge in der Herrschaft in Verruf bringen (867), das ungeklärte Rangverhältnis zwischen Siegfried und Gunther, an dessen Zustandekommen Hagen selbst beteiligt war, hatte im öffentlichen Streit der Königinnen seine Gefährlichkeit bewiesen, und mit Siegfrieds Tod wüchse Gunther die Herrschaft über das Land vieler Könige zu. Die Situation ist gründlich verfahren. Ihre Voraussetzungen liegen in dem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis, das Gunther und Siegfried im Interesse ihrer Brautwerbungen eingegangen waren, in dem Betrug, auf den beide Könige sich einließen, um Prünhilt zu gewinnen, in der unzulänglichen und leichtfertigen Ausführung dieses Betruges und in der dadurch verursachten Verunklärung der Macht- und Rangverhältnisse. All das ließ sich nicht mehr ungeschehen machen. Es blieb nur die Flucht nach vorn:

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Die Beseitigung des Mitwissers und Machtkonkurrenten erschien als geeignetes Mittel, die Schatten der Vergangenheit endgültig zu bannen. Hagen übernimmt die Ausführung. Sein Macht- und Ordnungskalkül gewinnt die Oberhand. Mit Bedenken halten sich, Giselher ausgenommen, die hochadligen Fürsten nicht lange auf. Was man will, das tut man, und man vertraut darauf, das Geschehen in der Hand zu haben. Anders als bei den früheren Entscheidungen, von denen das Lied erzählt, mischt sich bei dem Tötungsplan der Erzähler mit eigener Wertung ein: „Es war übele, dass der König Hagens Vorschlag folgte“ (876). Noch deutlicher als den Plan selbst verurteilt er anschließend die Art, wie die Tötung Siegfrieds vorbereitet und durchgeführt wird. Aber sein Urteil ist deutlich situations- und aktionsbezogen. Eine nachhaltige moralische Verurteilung der beteiligten Personen leitet er nicht daraus ab. Weg in die Katastrophe Die Handlungsspielräume für den weiteren Gang der Geschehnisse sind mit der Tötung Siegfrieds abgesteckt. Die Täter hoffen, durch ihre Tat wieder Herr der Situation und ihrer künftigen Entscheidungen geworden zu sein. Wie schon beim Werbungsbetrug täuschen sie sich aufs Neue. Wiederum ist die innere Dynamik der unvorhergesehenen Folgen stärker. Die mit der Tötung des Königsgatten und des geliebten Mannes verursachte Entehrung, Entmachtung und Verletzung Kriemhilts sind so tief und einschneidend, dass der Gedanke an Rache und Genugtuung sie nicht mehr loslässt. Hagen und Gunther sind fortan ihre Todfeinde. Das bleibt auch während der Zeit der Trauer, die vorerst eine Zeit der Ohnmacht ist, ein durchgehaltenes und der Gestalt unverwechselbare Einheit verleihendes Motiv. Es braucht hier nicht mehr genauer nachgezeichnet zu werden, wie Kriemhilt in der Brautwerbung Etzels um sie die Möglichkeit erkennt, die Mittel für ihre Rache in die Hand zu bekommen. Der Entscheidungsprozess fällt ihr, die durch dreizehnjährige Trauer um Siegfried seelisch fast vernichtet ist, nicht leicht. Schritt für Schritt stellt der Erzähler dar, wie ihr Rachebedürfnis obsiegt. Vollends die Selbstverpflichtung Rüdigers, der neuen Herrin bedingungslos zur Verfügung zu stehen, scheint Kriemhilt den Weg zu ihrem Racheziel zu ebnen, dem einzigen Ziel, das in ihrem Leben noch von Belang ist. Auch sie hält sich nicht mehr mit moralischen Überlegungen auf. Klug baut sie ihre Macht und ihren Einfluss am Hof Etzels aus, bis sie sich ihrer Sache gewiss wähnt. Listig fädelt sie die Einladung ihrer Brüder und Hagens ein. Aber auch Kriemhilt verrechnet sich. Die Helfer, auf die sie zählte, verweigern sich ihrem Rachevorhaben, teils aus Loyalität gegenüber den Burgunden, teils aus Furcht vor ihnen. Die unmittelbare Begegnung mit Hagen steigert ihren Hass ins Unermessliche. Unter dem Antrieb ihres Vernichtungswillens entgleitet

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während der hin- und herwogenden Kämpfe das Geschehen immer mehr ihren Händen. Als von Freund und Feind nur noch Gunther, Hagen, Dietrich, Hildebrant und Etzel am Leben sind, tötet sie Gunther und Hagen eigenhändig und fällt dann selbst durch das Schwert des von ihrer Raserei entsetzten Hildebrant. Schluss Die Nachzeichnung des im Nibelungenlied berichteten Geschehens lässt keinen Zweifel zu: Vom Anfang bis zum Ende wird eine kohärente Abfolge von Handlungen erzählt. Sie entspringen durchweg aus zielgerichteten und klar motivierten Entscheidungen der agierenden Personen. Die Entscheidungen zeitigen Konsequenzen, an die die Handelnden bei der Verfolgung ihrer Ziele nicht gedacht hatten und die eine Umkehr nicht mehr erlauben. So werden die Spielräume des Handelns immer enger. Schritt für Schritt verselbständigt sich die nicht mehr beherrschbare Dynamik des Geschehens, bis sie schließlich in die Katastrophe führt. Das alles folgt einer unentrinnbaren Logik. Diese kommt zum Ausdruck in den die ganze Erzählung begleitenden Vorausdeutungen des Dichters auf das furchtbare Ende. Personen, Handlungen und Geschehnisse werden unzweideutig aus feudaladliger Perspektive dargestellt und begreiflich gemacht. Am Anfang steht die lichtvolle Inszenierung höfischer Pracht an den Herrschaftssitzen in Xanten und Worms. Höfische Kultur wird zelebriert durch Feste, Empfänge, luxuriöse Bekleidung und durch die Demonstration feiner Gesittung. Die Frauen strahlen durch Schönheit, die Männer imponieren durch Stärke, die sich in Turnieren und ernsten Kämpfen spektakulär beweist. Dies alles ist keine bloße Äußerlichkeit, kein bloßer Verputz, keine ‚Verritterung‘, die ein archaisches und barbarisches Geschehen notdürftig überdeckt, wie man gesagt hat.9 Es ist der homogene Rahmen, in dem sich die Probleme entwickeln. In dieser Kultur und bei diesen Menschen ist alles auf Außenwirkung, auf ‚êre‘ angelegt; und ‚êre‘ ist Ausdruck der Bewunderung, Ausdruck der Geltung, die man in den Augen der Mitwelt besitzt. Das ist gemeint, wenn das feudalhöfische Dasein als ein Leben ‚in disen hôhen êren‘ auf die knappste Formel gebracht ist. Die Ausrichtung des höfischen Daseins nach außen, das ihm wesentlich innewohnende Geltungsbedürfnis, ja die Geltungskonkurrenz, zu der es antreibt, – darin liegt zugleich seine tiefe Gefährdung. Nichts deutet jedoch darauf hin, dass diese Gefährdung allein und ohne das freie Zutun der Menschen schon mit Notwendigkeit in die Katastrophe führt, also in der Perspektive des 9

Vgl. dazu unter vielen gleichlautenden Stimmen Andreas Heusler: Nibelungensage und Nibelungenlied – Die Stoffgeschichte des deutschen Heldenepos, Dortmund 21922, S.108f.; Max Wehrli: Geschichte der deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1980, S. 398.

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Nibelungenlieds höfische Kultur als Inbegriff von „Spielregeln für den Untergang“ dargestellt ist.10 So ist diese Dichtung nicht zu lesen. Wohl aber führt sie den Zeitgenossen vor Augen, wie hervorragende Männer und Frauen der feudaladligen Gesellschaft durch ihr eigenes Verschulden, ungewollt natürlich und infolge ihrer Selbstgewissheit scheitern können. Vom positiv verstandenen ‚hôhen muot‘, den die Dichtung zustimmend feiert, von der standesspezifischen mentalen Verfassung der ‚übermüete‘ ist der Weg zur gefährlichen Selbstüberschätzung sehr kurz. Die Ambivalenz dieser Eigenschaften im Text offenbart den kritischen Übergang von Tugend zum Laster, ohne dass diese Begriffe ausdrücklich bemüht werden. Das darin gleichwohl enthaltene moralische Problem unterscheidet sich nicht grundsätzlich von demjenigen der Personen des höfischen Romans. Auch ein Iwein, ein Erec, ein Parzival geraten durch ihr Verhalten in diese gesellschaftsspezifische Schuld des Ritters, der nur auf sich, auf seine ‚êre‘ oder Liebe bedacht ist, der Steigerung und Feier des eigenen Selbst im Höchstwert der Anerkennung durch die Artusgesellschaft zu erringen sucht. Aber sie erfahren in ihrer dadurch ausgelösten Krise ihre Periagoge, bekommen dank der Einsicht in ihre Verfehlung eine zweite Chance. Siegfried, Gunther, Kriemhilt und Hagen bleibt diese zweite Chance versagt, – versagt nicht von einem unbegreiflichen Schicksal, sondern weil sie handeln, wie sie handeln, nicht Herr der Folgen ihres Tuns und im Falle Kriemhilts auch nicht mehr Herr ihrer selbst sind. In dem teilnehmenden Bericht über das selbstverschuldete Scheitern der feudaladligen Menschen des Nibelungenlieds ist, auch ohne dass es durch Kommentare des Erzählers ausdrücklich betont wird, der moralische Sinn dieser Dichtung zu erblicken. Sie endet angesichts eines tragischen Geschehens im Gestus der Klage: „Diu vil michel êre was dâ gelegen tôt. Die liute heten alle jâmer unde nôt“, und sie sieht die skeptische Menschheitserfahrung bestätigt, dass „ie diu liebe leide z’aller jungeste gît“ (2378). Es ist die Absicht der vorstehenden Ausführungen, diesen Sinn des Nibelungenlieds aufzuzeigen. Wenn das ohne „werkfremde Sinnunterstellung“11 gelungen wäre, dann hätten sie ihr Ziel erreicht, nämlich darzutun, dass das hochmittelalterliche Nibelungenlied eine große und authentische Dichtung ist, die mit Recht zur Weltliteratur gerechnet wird.

10 11

Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang – Neue Lektüren des „Nibelungenliedes“, Tübingen 1998. Heinzle: Das Nibelungenlied (Anm. 2), S. 92.

ROCHUS LEONHARDT

„McDonalds ist einfach gut.“ Der neuzeitliche Niedergang des klassischen ‚beatitudo‘-Verständnisses – und seine aktuelle Unverzichtbarkeit Wenn in der Themenformulierung vom klassischen ‚beatitudo‘-Verständnis die Rede ist, so ist damit in erster Linie an die Lehre des Thomas von Aquin vom Glück bzw. der Glückseligkeit als dem Letztziel (finis ultimus) des menschlichen Lebens gedacht.1 Von paradigmatischer Bedeutung für die europäische Geistesgeschichte – und deshalb von klassischem Rang – ist dieser Ansatz deshalb, weil er den anspruchsvollen Versuch darstellt, die philosophische Tradition des Nachdenkens über das Glück in Gestalt der aristotelischen ‚eudaimonia‘-Lehre mit der christlichen Perspektive zu verbinden. Klärungsbedürftig sind auch die Wörter ‚Niedergang‘ und ‚Unverzichtbarkeit‘. Zunächst: die Formulierung meint nicht die Unverzichtbarkeit des Niedergangs der klassischen ‚beatitudo‘-Lehre, sondern – ganz im Gegenteil – die Unverzichtbarkeit dieser Lehre. Allerdings soll weder durch den Hinweis auf die Klassizität des thomanischen Ansatzes noch durch die Behauptung ihrer Unverzichtbarkeit die nostalgische Verklärung einer nicht nur rund 750 Jahre alten, sondern durch die Repristinationsversuche des Neuthomismus zusätzlich ins Gerede gekommenen Lehre angezeigt werden – auch wenn im Fall des Thomas von Aquin die Versuchung einer Idealisierung vielleicht besonders nahe liegt. Dies zeigen zum Beispiel einige Formulierungen von Josef Pieper. Pieper hat im Hinblick auf das 13. Jahrhundert im Allgemeinen und das Werk des Thomas von Aquin im besonderen von einem „Augenblick“ gesprochen, in dem „so etwas wie Einklang und ‚klassische Fülle‘ erreicht worden“ sei; und dieser Augenblick, so Pieper weiter, „scheint, obwohl er natürlich vergangen ist und auf keine Weise noch einmal herbeigeführt werden kann, in der Erinnerung der abendländischen Christenheit mit Recht fortzuleben als etwas Paradigmatisches und Musterhaftes, als eine Art Modell-Vorstellung, als eine Norm, die, freilich unter veränderten Bedingungen und also auf neue Weise, ‚eigentlich‘ sollte erfüllt werden, wenn es mit rechten, glücklichen Dingen zugeht. Nun, in diesen kurzen geschichtlichen Augenblick fällt 1

Vgl. dazu Rochus Leonhardt: Glück als Vollendung des Menschseins – Die beatitudo-Lehre des Thomas von Aquin im Horizont des Eudämonismus-Problems, Berlin u. New York 1998 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 68).

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das Werk des Thomas von Aquin. Vielleicht kann man sagen, sein Werk verkörpere diesen Augenblick.“2 Im Folgenden geht es nicht darum, die thomanische ‚beatitudo‘-Lehre im Sinne Piepers als eine Art Modell-Vorstellung bzw. als eine Norm schlechthin zu begreifen oder gar darum, Wege zur gegenwärtigen Erfüllung dieser Norm aufzuweisen; vielmehr ist zu zeigen, dass sich auch aktuell nicht sinnvoll von Glück sprechen lässt, ohne auf die im Werk Thomas von Aquins paradigmatisch manifestierte ‚alteuropäische‘ Tradition Bezug zu nehmen – nota bene: auf sie Bezug zu nehmen, nicht: sie zu übernehmen. Dass eine solche Bezugnahme für ein sachgerechtes Nachdenken über das menschliche Glück auch gegenwärtig hilfreich, ja sogar unvermeidlich ist, soll im dritten Teil deutlich werden. Zuvor ist allerdings erstens zu zeigen, welche Probleme bzw. Aporien sich aus der Verabschiedung des klassischen ‚beatitudo‘-Verständnisses in der Neuzeit ergeben. Und zweitens sind die entscheidenden Konturen der mit Recht als klassisch geltenden Lehre des Thomas von Aquin zu skizzieren. Verabschiedung des klassischen ‚beatitudo‘-Verständnisses in der Neuzeit und ihre Folgen Aus Friedrich Nietzsches Götzen-Dämmerung (1888) stammt die Formulierung „Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das.“3 Wie ernst dieser Aphorismus allerdings zu nehmen ist, kann dahingestellt bleiben; das Zitat soll hier nur als Indiz für eine spezifisch deutsche Aversion oder wenigstens für eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Auffassung vom Streben nach Glück als Grundlage menschlicher Moral dienen, wie sie etwa dem englischen Utilitarismus zu Grunde liegt. In diesem Sinne formuliert Nietzsche an anderer Stelle: „Man sehe sich zum Beispiel die unermüdlichen unvermeidlichen englischen Utilitarier an, wie sie plump und ehrenwert in den Fußstapfen Benthams daherwandeln [...] Zuletzt wollen sie alle, dass die englische Moralität recht bekomme: insofern gerade damit der Menschheit, oder dem ‚allgemeinen Nutzen‘ oder ‚dem Glück der Meisten‘, nein! dem Glücke Englands am besten gedient wird; sie möchten mit allen Kräften sich beweisen, dass das Streben nach englischem Glück [...] zugleich auch der rechte Pfad der Tugend sei, ja dass, so viel Tugend es bisher in der Welt gegeben hat, es eben in einem solchen Streben bestanden habe.“4 Sucht man nach den tiefe2 3

4

Josef Pieper: Thomas von Aquin – Leben und Werk, München 1959, S. 16f. Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert (1888), in: ders.: Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, München 1954, Bd. 2, S. 939-1033, hier S. 944. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse (1886), in: ders.: Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, München 1954, Bd. 2, S. 692.

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ren Wurzeln dieser deutschen Zurückhaltung in Sachen Glück, so ist man zum einen auf die Reformation im 16. Jahrhundert, speziell auf die Theologie Luthers, zum anderen auf die Aufklärung im 18. Jahrhundert, insbesondere auf die Moralphilosophie Kants, verwiesen. Beide haben auf unterschiedliche Weise, aber mit vergleichbarem Nachdruck den antiken und mittelalterlichen ‚common sense‘ aufgekündigt, wonach das Letztziel des menschlichen Lebens im durch tugendhafte Handlungen erreichbaren Glück besteht. Und beide haben durch diese Aufkündigung des genannten ‚common sense‘ auf ihre je eigene Weise zur Verabschiedung des klassischen ‚beatitudo‘-Verständnisses, konkret: zur Ausblendung des klassischen ‚beatitudo‘-Begriffs aus dem ethischen Diskurs, beigetragen. Ausblenden des klassischen ‚beatitudo‘-Begriffs aus dem ethischen Diskurs Martin Luthers theologisch motivierte Diskreditierung der Scholastik und des mittelalterlichen Aristotelismus5 hat sich auch auf die tradierte Lehre von der ‚beatitudo‘ ausgewirkt. Diese Konstellation soll hier an zwei Punkten verdeutlicht werden. (1) Das Streben nach Glück(seligkeit) als dem Letztziel menschlichen Handelns, das als jenseitige Gottesgemeinschaft vorgestellt wurde, bringt nach Luther keineswegs eine natürliche Orientiertheit des Geschöpfes, sondern die sündige Selbstbezogenheit des Menschen zum Ausdruck. Wer Gott wirklich liebt, der verlangt nämlich gerade nicht nach der Vollendung des eigenen Lebens, er wird sich selbst vielmehr hassen: „Diligere deum est seipsum odisse et praeter deum nihil novisse.“6 Deshalb gilt diejenige Liebe als die stärkste, die sich im Selbsthass zu Gunsten des Geliebten manifestiert: „Est enim hec dilectio [...] fortissima et extrema, ubi per summi in seipsum odii signum summam ostendit dilectionem in alterum.“7 Nach Karl Holl, einem der wichtigsten Vertreter der sogenannten LutherRenaissance nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Deutschland, war Luther der Erste, der die Differenz zwischen dem Glücksstreben des Menschen (das auf sündhafter Selbstbezogenheit beruht) und der wahrhaft christlichen Moral (die in der Hingabe an Gott und den nächsten besteht) hinreichend deutlich 5

6

7

Vgl. dazu jetzt Theodor Dieter: Der junge Luther und Aristoteles – Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, Berlin u. New York 2001 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 105). Martin Luther: Disputatio contra scholasticam theologiam (1517), These 95, in: ders.: Werke – Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883ff., Bd. 1, S. 228 (Weimarer Ausgabe, künftig zitiert: WA). Ders.: Diui Pauli apostoli ad Romanos epistola (Die Vorlesung über den Römerbrief 1515/16), WA, Bd. 56, S. 390.

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expliziert hat: „Niemand hat vor ihm [sc. Luther] den Gegensatz zwischen Sittlichkeit und Glücksverlangen so klar herausgearbeitet.“8 (2) Die Rechtfertigungslehre Luthers, das Herzstück der reformatorischen Theologie, bringt die Erkenntnis zum Ausdruck, dass der Mensch zur Erlangung seines Heils von sich aus nichts beitragen kann, sondern dass die dafür vorauszusetzende Annahme des Menschen durch Gott, eben seine Rechtfertigung, ausschließlich als ungeschuldeter Akt göttlicher Gnade gedacht werden muss (sola gratia), die in Jesus Christus offenbar geworden ist. Daraus ergibt sich ein spezifisches Verständnis christlicher Sittlichkeit. Moralischtugendhaftes Handeln kann nämlich, wenn der für Luthers Theologie zentrale Grundsatz von der Alleinwirksamkeit Gottes bei der Begnadung des Menschen gewahrt bleiben soll, keinesfalls als Beitrag zur Erlangung des Heils verstanden werden. Der in der tradierten ‚beatitudo‘-Lehre zentrale Gedanke, nach dem die in der Gottesgemeinschaft bestehende Glückseligkeit durch tugendhafte Handlungen des Menschen erreicht werden müsse, steht deshalb der Rechtfertigungslehre diametral entgegen: „Denn das kan das gnaden reich nicht leiden, das wir Got geben, verdienen oder bezalen wolten mit unseren wercken, Sondern ist die grossest lesterung und abgötterey und nichts anders denn Gott verleugnen und spotten dazu [...] Denn wer mit wercken will verdienen und gewinnen, der denckt freilich nichts umb sonst odder aus gnaden zu entpfahen, Sondern wil mit Gott hantieren und rosteusschen.“9 Dass Immanuel Kant die ethischen Relevanz des menschlichen Glücksstrebens bestreitet, wurzelt letztlich in seiner erkenntnistheoretischen Voraussetzung, nach der die von uns wahrgenommenen Gegenstände nicht die Dinge an sich sind, sondern nur als deren Erscheinungen gelten können. Der Mensch ist nun ein ‚Bürger zweier Welten‘. Aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Welt der Erscheinungen (als ‚phaenomenon‘) ist sein Handeln restlos der Naturkausalität unterworfen. Nur aufgrund seiner Zugehörigkeit zur intelligiblen Welt (als ‚nooumenon‘) kommen ihm Freiheit und damit Sittlichkeit zu. Deshalb aber kann nichts, was mit der Sinnenwelt in Zusammenhang steht, zur Grundlegung der Ethik taugen. Der Gedanke des menschlichen Glücks gilt Kant nun grundsätzlich als empirisch bedingt, und deshalb gibt, wer dem menschlichen Glücksstreben ethische Relevanz zuerkennt, den Gedanken der Sittlichkeit letztlich preis. Das Wesen des Sittlichen besteht deshalb nach Kant darin, dass 8

9

Karl Holl: Der Neubau der Sittlichkeit (1919), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I (Luther), Tübingen 1927, S. 155-287, hier: S. 205. Eine zeitgenössische Fortschreibung dieser rechtfertigungstheologisch motivierten Kritik an einer Glücksethik liegt vor bei Gunda Schneider-Flume: Leben ist kostbar – Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 2002. Eine positive Anknüpfung an den Glücksbegriff aus evangelisch-theologischer Perspektive unternimmt Jörg Lauster: Gott und das Glück. Das Schicksal des guten Lebens im Christentum, Gütersloh 2004. Martin Luther: Der 117. Psalm ausgelegt (1530), WA, Bd. 31/I, S. 252.

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reine Vernunft für sich allein praktisch wird, dass sie also ihre Handlungsgrundsätze unabhängig von allen der Sinnenwelt verhafteten Beweggründen formuliert. Für die sittliche Selbsterfahrung des Menschen ist nämlich gerade das Bewusstsein der Freiheit als der Unabhängigkeit von sinnlichen Antrieben konstitutiv: Man darf nur das Urtheil zergliedern, welches die Menschen über die Gesetzmäßigkeit ihrer Handlungen fällen: so wird man jederzeit finden, daß, was auch die Neigung dazwischen sprechen mag, ihre Vernunft dennoch, unbestechlich und durch sich selbst gezwungen, die Maxime des Willens bei einer Handlung jederzeit an den reinen Willen halte, d.i. an sich selbst, indem sie sich als a priori praktisch betrachtet.10

Das Einbeziehen des Glücksgedankens zerstört dagegen sittliches Handeln, da, was Glück bedeuten kann, nur unter Rekurs auf die Sinnenwelt zu konkretisieren ist: Wenn „Eudämonie (das Glückseligkeitsprincip) statt der Eleutheronomie (des Freiheitsprincips der inneren Gesetzgebung) zum Grundsatze aufgestellt wird, so ist die Folge davon Euthanasie (der sanfte Tod) aller Moral.“11 Etablierung eines verkürzten Glücksbegriffs Es hat sich gezeigt: Wo sittliches Handeln im menschlichen Verlangen nach Glückseligkeit wurzelt, da wird nach Kant wie nach Luther Sittlichkeit letztlich zerstört. Angesichts dieser Kritik an der ethischen Relevanz des menschlichen Glücksstrebens war eine unbefangene Anknüpfung an die klassische ‚beatitudo‘-Lehre nicht mehr ohne weiteres möglich. Falsch wäre es aber zu sagen, damit sei das Glück als Thema neuzeitlichen Denkens überhaupt diskreditiert oder gar erledigt gewesen. Man muss fast sagen: Das Gegenteil ist richtig. Es scheint so, als stelle der Satz ‚Alle Menschen wollen glücklich sein‘ seine Triftigkeit gerade angesichts der recht weitgehenden Ausblendung des klassischen ‚beatitudo‘-Begriffs aus dem philosophisch- wie theologischethischen Diskurs immer deutlicher unter Beweis.12 10 11

12

Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (1788), Akademie-Textausgabe, Bd. 5, S. 32. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten (1797), Akademie-Textausgabe, Bd. 6, S. 378. Bezüglich der kritischen Haltung Kants gegenüber der normativen Relevanz des Glücksbegriffs für die philosophische Ethik ist zwar schon seit längerer Zeit eine Revision im Gange. Trotzdem sah sich Dieter Thomä noch 1996 „[z]ur Verteidigung des Glücks gegen die Gebildeten unter seinen Verächtern“ genötigt; in: Neue Rundschau 107 (1996), S. 134-142. Einige Beispiele: Der ‚Klassiker‘ von Mihaly Csikszentmihalyi: Flow – Das Geheimnis des Glücks ist im Jahr 2001 bereits in 9. Auflage erschienen. Auf der Bestsellerliste des Spiegels standen im Jahre 2002 mehrere Titel zum Thema ‚Glück‘ jeweils über längere Zeit auf Platz 1 (Dalai Lama: Der Weg zum Glück – Sinn im Leben finden, Freiburg i. Br. 2002; Stefan Klein: Die Glücksformel – Oder: Wie die guten Gefühle entstehen, Reinbek bei Hamburg

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Die Abkopplung der neuzeitlichen Reflexion über das Glück von der ‚alteuropäischen’ Tradition führte und führt allerdings sowohl im Alltagsverständnis als auch im philosophischen Diskurs zur Etablierung eines verkürzten Glücksbegriffs, dessen Aporien meines Erachtens durch einen Rückbezug auf die klassische Lehrform überwunden werden könnten. Dieser verkürzte Glücksbegriff soll im folgenden anhand zweier Beispiele dargestellt werden. (1: Die Reduktion von Glück auf Wohlgefühl) Am Anfang des 11. Kapitels seines berühmten Leviathan (1651) hat Thomas Hobbes die Existenz jenes Letztziels des menschlichen Lebens, von dem, wie er sagt, „in den Schriften der alten Philosophen die Rede ist“, ausdrücklich bestritten. Was wir ‚Glückseligkeit‘ nennen, ist im Grunde nur „ein ständiges Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zu einem anderen“: „Felicity is a continual progress of the desire from one object to another.“13 Es entspricht dieser Auffassung des Glücks als nie letztlich befriedigtem, sondern immer nur vorübergehend gesättigtem Verlangen, wenn, etwa in Illustrierten und Nachrichtenmagazinen, das Glück als ein ‚Gefühl‘ beschrieben wird, das durch bestimmte Mechanismen zeitweilig erzeugt werden kann (vgl. Der Spiegel, Nr. 53/1996). Folgerichtig konnte sich unter dem Namen ‚Happyologie‘ eine ‚empirische Glücksforschung‘ etablieren, die vorwiegend neurobiologisch interessiert ist. Es entspricht diesem Ansatz, dass eine 3sat-Sendung vom 2. Dezember 1999 mit dem Titel Glück ist Chemie die Frage nach dem Glück zu einer Frage der Hormone erklärte, eine Diagnose – von der es zum Glück auf Rezept (vgl. Focus, Nr. 16/1994) nur noch ein unbedeutender Schritt ist. Nicht auf der neurobiologischen, aber jedenfalls auf der biologischen Ebene ist auch der Werbeslogan „McDonalds ist einfach gut“ angesiedelt. Übersetzte man das ‚einfach gut‘ ins Lateinische, käme man wohl auf ‚bonum simpliciter‘, ein traditionell mit dem ‚summum bonum hominis‘, also der ‚beatitudo‘ in Verbindung gebrachter Begriff. Das

13

2002). Schließlich hat das Institut für Demoskopie Allensbach aufgrund einer im Februar 2002 durchgeführten Umfrage festgestellt, dass 68% der Befragten den Sinn des Lebens in erster Linie darin erblicken, glücklich zu sein und viel Freude zu haben; 1974 waren es noch 20% weniger (genaueres unter http://www.ifd-allensbach.de/pdf/prd_0206.pdf). Thomas Hobbes: Leviathan, ore The Matter, Forme & Power of a Common-Wealth Ecclesiasticall and Civill (1651), dt.: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. und übers. von Iring Fetscher, Frankfurt a.M. 1966, Neuausgabe 1984, S. 75.

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Besondere an diesem Slogan ist, dass er einerseits (wenn auch eher implizit und vielleicht sogar unbewusst) die Präsenz des klassischen ‚beatitudo‘Begriffs signalisiert und dass er andererseits die dem älteren ‚summum bonum‘ eigene Unüberbietbarkeit mit der unvermeidlich stets vorübergehenden Sättigung durch bestimmte Nahrungsmittel verbindet. Die Reduktion des Glücks auf ein wie auch immer stimuliertes und jedenfalls zeitlich begrenztes Wohlgefühl führt aber sofort zur Destruktion des Glücksbegriffs überhaupt. Dies hat vor einigen Jahren Karl Heinz Bohrer vorgeführt. Jeder Moment glückhafter Erfüllung ist nach Bohrer ein bereits gegenwärtig vorübergehender Moment und insofern jedenfalls virtuell schon zu Ende, bevor er begonnen hat. Es ist offensichtlich, dass diese Einschätzung, die Bohrer dann zur Suche nach „Möglichkeiten einer nihilistischen Ethik“14 geführt hat, auf einer Verengung des Glücksbegriffs auf die Ekstase des Augenblicks beruht – eben auf der Reduktion des Glücks auf Wohlgefühl. (2: Die Trennung von Glück und Identität) Mit dem Hinweis auf Karl Heinz Bohrer ist bereits der Schritt vom Alltagsverständnis zum philosophischen Diskurs vollzogen. Einen der wichtigsten größeren Beiträge aus diesem Bereich hat 1992 der Tübinger Philosoph Hans Krämer vorgelegt.15 Krämer zielt zunächst – in Abgrenzung zu dem von ihm diagnostizierten Monopolanspruch der Sollensethik Kantischer Prägung – auf die „Reetablierung und zeitgemäße Erneuerung des Typus der Strebens-, Selbst- und Glücksethik.“16 Diese ist aber ausdrücklich nicht am antik-mittelalterlichen Vorbild orientiert; die ältere Ethik ist nach Krämer „nicht wiederholbar [...], weil sie in den Sturz der älteren Ontologie und Teleologie hineingezogen worden ist. [...] Wir können deshalb nicht einfach zu Platon, Aristoteles, Thomas, Epikur oder den Stoikern und ihren modernen 14

15

16

Karl Heinz Bohrer: Möglichkeiten einer nihilistischen Ethik (I), in: Merkur 51 (1997), S. 119; ders.: Poetischer Nihilismus und Philosophie – Möglichkeiten einer nihilistischen Ethik (II), in: Merkur 51 (1997), S. 406-421. Hans Krämer: Integrative Ethik, Frankfurt a.M. 1992; vgl. auch ders.: Replik – Die „Integrative Ethik“ in der Diskussion, in: Martin Endreß (Hg.): Zur Grundlegung einer integrativen Ethik – Für Hans Krämer, Frankfurt a.M. 1994, S. 205-249; ders.: Integrative Ethik, in: Joachim Schummer (Hg.): Glück und Ethik, Würzburg 1998, S. 94-107. Vgl. zur kritischen Analyse Rochus Leonhardt: Paradigmenwechsel in der Philosophischen Ethik? – Eine kritische Würdigung des Entwurfs von Hans Krämer, in: Theologie und Philosophie 73 (1998), S. 415-428. Hans Krämer: Integrative Ethik (Anm. 15), S. 122.

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Nachfolgern zurückkehren.“17 Bei der Darstellung seines eigenen Ansatzes ist Krämer sichtlich darum bemüht, die neuzeitliche Verabschiedung teleologischen Denkens radikal ernst zu nehmen. So proklamiert er: „Die Vorstellung vom eudämonischen Lebensziel als einem starren, inflexiblen Optimum und Perfektissimum wird durch einen prinzipiellen Infinitismus ersetzt.“18 Dementsprechend geht Krämer von einer prinzipiellen „Mannigfaltigkeit möglicher Lebensziele, Güterhierarchien und Wertordnungen“ aus.19 Diese postteleologisch bedingte Erweiterung des Zielspektrums bricht vor allem mit der Voraussetzung, daß das Leben unter einem einheitlichen Plan stehen und in sich konsistent und konsequent sein müsse. [...] Die jüngere Moderne neigt stattdessen zunehmend zu einem Polyzentrismus, ja einem dissoluten, pluralistischen Antistil des Lebens, bis hin zur Entgrenzung und Aufhebung der Identität. Die Einheitlichkeit des Lebensplans und die hierarchische Ordnung der Ziele ist also nicht mehr als oberste Lebensregel aufzufassen.20

Die von Krämer im Namen des postmodernen Pluralismus geforderte Abkopplung der Idee des guten Lebens von der Einheit der Biographie zugunsten einer Entgrenzung und Aufhebung der Identität ist nicht nur deshalb problematisch, weil auch hier ein verkürzter Glücksbegriff im Hintergrund steht; sondern diese – übrigens höchst contraintuitive – Forderung führt auch die Idee des guten Lebens und damit den Glücksbegriff überhaupt ad absurdum, denn in Bezug worauf, wenn nicht im Hinblick auf das Ganze eines Lebens, nennen wir jemanden glücklich? ‚beatitudo‘-Lehre des Thomas von Aquin Die Bedeutung der thomanischen ‚beatitudo-Lehre beruht vor allem darauf, dass sie den Versuch darstellt, die – erst seit dem 12. Jahrhundert im Abendland überhaupt bekannte – Ethik des heidnischen Philosophen Aristoteles mit der christlichen Lehre von der eschatologischen Gottesschau als der jenseitigen Vollendung des menschlichen Lebens zu verbinden.21 Der thomanische Ansatz kann folgendermaßen charakterisiert werden: Einerseits muss die aristotelische ‚eudaimonia‘, die sich natürlich nur auf dieses irdische Leben bezieht, von der ‚beatitudo‘, die die Christen nach diesem Leben erwarten, unterschieden werden; es gibt keine Identität. Andererseits besteht auch kein Gegensatz; denn 17 18 19 20 21

Ebd., S. 127. Ebd., S. 128. Ebd., S. 130. Ebd., S. 188f. Vgl. zum historischen Bezugsrahmen Rochus Leonhardt: Glück als Vollendung des Menschseins (Anm. 1), S. 61-96.

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das irdische Glück, Thomas von Aquin nennt es ‚beatitudo imperfecta‘, ist eine Art Beginn der wirklichen ‚beatitudo‘, eine allerdings notorisch defiziente Vorform. Das wohl bedeutendste Ergebnis dieses Ansatzes dürfte darin bestehen, dass die antike Lehre vom gelingenden Leben in die christliche Ethik integriert wurde. Im Folgenden sind lediglich zwei besonders wichtige Aspekte der thomanischen Lehre darzustellen. Zugleich soll gezeigt werden, dass Thomas von Aquin seine Argumentation streng rational aufgebaut hat, das heißt dass er – soweit es die hier zu erörternden Aspekte betrifft – auf der Ebene der natürlichen Vernunft und nicht hinsichtlich göttlicher Offenbarung argumentiert. Einzigkeit des Letztziels Im 4. Artikel der ersten ‚quaestio‘ des zweiten Teils der Summa Theologiae stellt Thomas von Aquin die Frage, ob es ein Letztziel für das menschliche Leben gibt. Zur Begründung seiner Auffassung, dass es ein solches Letztziel geben muss, beruft er sich auf die Ablehnung eines ‚regressus in infinitum‘, wie sie Aristoteles etwa in seiner Metaphysik und in seiner Physik dargestellt und begründet hat. Auf diese Weise gewinnt Thomas das entscheidende Argument für seinen Beweis der Existenz eines Letztziels des menschlichen Lebens. Denn, so stellt er fest, in beiden Ordnungen, die im Bereich der Zielsetzungen existieren – in der der Absichten (intentiones) und der der Ausführungen (executiones) – muss es ein ‚primum‘ geben. Als dieser unverzichtbare Ursprung gilt nach Thomas von Aquin im ‚ordo intentionis‘ der ‚finis ultimus‘ und im ‚ordo executionis‘ das erste derjenigen Dinge, die sich auf diesen beziehen. Denn ließen sich nicht alle Handlungsabsichten auf einen ersten Ursprung zurückführen, würde gar nichts angestrebt werden, gäbe es also keinerlei ‚appetitus‘ auf irgendetwas hin. Und wenn nicht alle Ausführungen auf ein ‚primum‘ zurückgehen würden, könnte gar keine Handlung beginnen. Es ist grundsätzlich und in jeder Hinsicht unmöglich, bei der Zielwahl ins Unendliche fortzuschreiten. Bei allen Dingen nämlich, die untereinander in einer Zielordnung stehen, müssen, wenn das erste Ziel wegfällt, die darauf bezogenen [Ziele ebenfalls] wegfallen. Deshalb beweist der Philosoph, dass es nicht möglich ist, bei den Bewegungsursachen ins Unendliche fortzuschreiten [Phys VIII 5: 256 a4-21]. […] Im Bereich der Zielsetzungen gibt es aber eine zweifache Ordnung: eine der Absicht (ordo intentionis) und eine der Ausführung (ordo executionis), und in beiden muss es ein Erstes geben. Denn das Erste in der Ordnung der Absicht ist gleichsam der die Neigung (appetitus) bewegende Ursprung (principium). Daher würde, bei Wegfall des Ursprungs, die Neigung von nichts bewegt werden. Der Ursprung in der Ordnung der Ausführung aber ist das, womit die Tätigkeit (operatio) beginnt. Daher würde, bei Wegfall des Ursprungs, niemand beginnen, irgendetwas zu tun. – Der Ursprung der Neigung aber ist das Letztziel (finis ultimus); der

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Rochus Leonhardt Ursprung der Ausführung aber ist der Beginn der Dinge [sc. Handlungen], die sich auf das Ziel richten. So ist es also in keine Hinsicht möglich, ins Unendliche fortzuschreiten. Denn wenn es kein Letztziel gäbe, könnte nichts erstrebt werden, keine Handlung (actio) könnte beendet werden, und die Neigung keines Wirkenden (agens) könnte zur Ruhe kommen. Wenn es aber bei den Dingen, die sich auf das Ziel richten, kein Erstes gäbe, könnte niemand anfangen, etwas zu tun; es würde auch keine Überlegung zum Ende kommen, sondern endlos fortgesetzt werden.22

In den nächsten Artikeln zieht Thomas von Aquin aus der in 1,4 erwiesenen Existenz eines ‚ultimus finis humanae vitae‘ verschiedene Konsequenzen. Zunächst (Artikel 5) stellt er fest, dass sich ein Mensch unmöglich zugleich zu mehreren Dingen wie zu einem Letztziel verhalten kann. Es folgt aus dieser Behauptung einer formalen Gemeinsamkeit aller Willensakte, dass auch jedes einzelne Wollen auf den ‚finis ultimus‘ ausgerichtet ist. Folglich stellt Thomas von Aquin in Artikel 6 heraus, dass der Mensch alle von ihm erstrebten Einzelziele letztlich um des ‚finis ultimus‘ willen verfolgt: Ein angestrebtes ‚bonum imperfectum‘ wird gewollt als etwas, das zum ‚bonum perfectum‘ hin tendiert, da es letztlich der ‚finis ultimus‘ als ‚primum appetibile‘ ist, der die Neigung zu den ‚secunda appetibilia‘ ermöglicht und strukturiert. Notwendig erstrebt der Mensch alles, was er erstrebt, um des Letztziels willen. Das erhellt aus zwei Gründen. Erstens: weil der Mensch alles unter dem Gesichtspunkt des Guten erstrebt. Was nämlich nicht als vollendetes Gut, also als Letztziel, erstrebt wird, muss als etwas zum vollendeten Gut hin Tendierendes erstrebt werden, weil der Anfang von etwas immer auf dessen Abschluss ausgerichtet ist, wie es sowohl bei Naturdingen als auch bei Artefakten offensichtlich ist. Und von daher ist jeder Vollendungsbeginn (inchoatio perfectionis) ausgerichtet auf die abgeschlossene Vollendung (perfectio consummata), die durch das Letztziel [sc. durch dessen Erreichen] erfolgt. Zweitens: weil sich das Letztziel beim Anregen der Neigung (in movendo appetitum) so verhält, wie sich bei anderen Bewegungen das Erstbewegende (primum movens) verhält. Es ist aber klar, dass die bewegenden Zweitursachen (causae secundae) nur insofern bewegen, als sie vom Erstbeweger bewegt werden. Daher regt [auch] das Zweiterstrebte [sc. das, was nicht als vollendetes Gut erstrebt wird] die Neigung nur an im Sinne einer Hinordnung auf das Ersterstrebte, welches das Letztziel ist.23

Irdische Unerreichbarkeit des Letztziels Es wurde schon erwähnt, dass nach Thomas von Aquin die Vollform des Glücks erst nach diesem Leben erreichbar ist. Zwar folgt er mit dieser Einsicht der christlichen Tradition, die das Thema der ‚beatitudo‘ gewöhnlich in der Eschatologie verhandelte. Zugleich aber, und das gehört zweifellos zu den 22 23

Thomas von Aquin: Summa Theologiae Ia-IIae 1,4 corp. art (vom Verf. übersetzt). Ebd., Ia-IIae 1,6 corp. art (vom Verf. übersetzt).

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interessantesten Aspekten der thomanischen Lehre, hat er die These von der Unvollendbarkeit des irdischen Glücks auch als Pointe der aristotelischen Ethik verstanden. So hat er sich etwa in seinem Kommentar zur Nikomachischen Ethik um den Nachweis bemüht, dass der aristotelische Glücksbegriff für eine Bezugnahme und eine Weiterführung seitens der christlichen Theologie offen und geeignet ist. Nach der Interpretation des Thomas von Aquin hat nämlich Aristoteles selbst bereits eine Differenz zwischen seinem ‚eudaimonia‘-Begriff und der Realisierbarkeit dieser ‚eudaimonia‘ unter den Bedingungen dieses Lebens gespürt.24 Diese Differenz zwischen dem Begriff einer ‚felicitas perfecta‘ und dem unter den Bedingungen der ‚conditio humana‘ erreichbaren Glück nimmt Thomas von Aquin in der Summa contra Gentiles zum Anlass, die Frage zu stellen, ob die perfekte Glückseligkeit überhaupt erreichbar ist. In der Nikomachischen Ethik habe Aristoteles das dem Menschen erreichbare Glück auf eine ‚felicitas modo humano‘ reduziert. Diese Reduktion hält Thomas von Aquin jedoch für unangemessen: Das natürliche Verlangen nach einer alles irdisch erreichbare Glück transzendierenden ‚felicitas perfecta‘ kann nicht ins Leere gehen. Denn, so Thomas von Aquin, Aristoteles sagt selbst, die Natur tue nichts umsonst. Entscheidend ist hier, dass Thomas von Aquin seine Kritik an der ‚eudaimonia‘-Lehre des Aristoteles unter Berufung auf Aristoteles selbst begründet: Das vom Philosophen formulierte ‚Ökonomieprinzip‘ (Gottes und) der Natur widerspricht der in der Nikomachischen Ethik vollzogenen Reduktion des menschlich erreichbaren Glücks. – Könnte der Mensch die Vollform des Glücks nicht erreichen, wäre sein unbestreitbares Begehren danach vergeblich (frustra). Thomas von Aquins Gedankengang lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: (1) Das vollendete Glück muss erreichbar sein (andernfalls wäre das menschliche Verlangen vergeblich, was unmöglich ist). (2) Das vollendete Glück ist in diesem Leben unerreichbar (denn zu finden ist es nur in der Erkenntnis Gottes, die irdisch jedoch nur höchst unvollkommen möglich ist). (3) Das vollendete Glück muss nach diesem Leben erreichbar sein: Wenn also jemand das Glück (felicitas) erreicht, erreicht er zugleich Dauerhaftigkeit und Ruhe. […] In diesem Leben gibt es aber keine Dauerhaftigkeit: Jeden nämlich, als wie glücklich er auch gelten mag, können Krankheit und Unglück treffen, durch die er an dem Vollzug gehindert wird, in dem das Glück besteht, welcher dies auch sei. Unmöglich ist das natürliche Begehren (desiderium naturale) [sc. des Menschen 24

Vgl. zu den Einzelheiten Rochus Leonhardt: Glück als Vollendung des Menschseins (Anm. 1), S. 125-153.

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Rochus Leonhardt nach dem Glück] vergeblich: Die Natur tut nämlich nichts umsonst [Aristoteles. De caelo I 4: 271 a33]. Es wäre aber ein vergebliches Begehren der Natur, wenn es niemals erfüllt werden könnte. Also ist das natürliche Begehren des Menschen erfüllbar. – Aber nicht in diesem Leben, wie gezeigt wurde. Notwendigerweise muss es also nach diesem Leben erfüllt werden. Das höchste Glück des Menschen (felicitas ultima hominis) tritt also nach diesem Leben ein.25

Anknüpfend an diese Hinweise zur ‚beatitudo‘-Lehre des Thomas von Aquin ist abschließend kurz zu skizzieren, was von dieser mittelalterlichen Theorie in die zeitgenössische Diskussion über Glück oder gelingendes Leben eingebracht werden kann. Relevanz des klassischen ‚beatitudo‘-Begriffs für eine sachgemäße Theorie gelingenden Lebens Thomas von Aquins Behauptung der Einzigkeit des Letztziels des menschlichen Lebens bringt in noch heute nachvollziehbarer Weise die Erfahrung zum Ausdruck, dass so etwas wie ein konsistenter Lebensentwurf (auch gegenwärtig) als notwendige Bedingung dafür anzusehen ist, dass der Mensch ein authentisch-selbstbestimmtes und mithin ein glückliches Leben führen kann. Entgegen Krämers Hinweis auf die spezifisch moderne Möglichkeit einer Dissolution unserer Identität erinnert Thomas von Aquin mit Recht daran, dass wir Menschen unsere personale Identität und damit die Einheit unserer Biographie gar nicht aufheben können. Wir können viele verschiedene Dinge tun, wir können uns dabei auch gravierend ändern, aber auch als noch so gravierend Geänderte sind wir kein Anderer. Im Gegenteil – gerade wenn wir uns geändert haben, beziehen wir doch unseren neuen Zustand retrospektiv auf den vorigen, indem wir etwa feststellen, dass es uns jetzt besser oder auch schlechter geht, dass die Veränderung also positive oder auch negative Folgen hat. Unsere personale Identität, mit der wir uns demnach selbst permanent behaften und mit der wir bekanntlich auch von anderen immer wieder behaftet werden, ‚erzwingt‘ also gleichsam die Einheit unserer Biographie. Man muss sogar sagen, dass das Lebensglück des Einzelnen letztlich davon abhängt, ob und inwieweit er rückblickend sein Leben als eine irgendwie konsistente Einheit begreifen kann – ein Umstand, den bereits Aristoteles in der Nikomachischen Ethik reflektiert hat.26 Diesen Gedanken hat zwar auch Krämer ausdrücklich formuliert,27 er steht bei ihm aber seltsam unverbunden neben der oben zitierten Behauptung eines (post)modern unvermeidlichen Polyzentrismus

25 26 27

Thomas von Aquin: Summa contra Gentiles III 48 (vom Verf. übersetzt). Vgl. I 11; 1101 a 15-17. Vgl. Hans Krämer: Integrative Ethik (Anm. 15), S. 157-168, bes. S. 159f.

„McDonalds ist einfach gut“

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humaner Lebensorientierung, der seines Erachtens aus dem zeitgenössischen Wertepluralismus folgt. Dabei ist doch, damit der Wertepluralismus nicht zu einem Pluralismus der Beliebigkeit verkommt, die Vergewisserung einer Gesamtperspektive, an der sich das eigene Leben orientiert, notwendig.28 Wenn gerade von der Unverzichtbarkeit eines konsistenten Lebensentwurfs die Rede war, so ist allerdings an die Problematik zu erinnern, die sich aus der Verwendung des Wortes ‚Lebensentwurf‘ ergibt: Wir stehen ja nicht vor unserem Leben wie vor neu erschlossenem Bauland, auf dem wir ein auf einem bereitliegenden Plan entworfenes Gebäude errichten könnten; vielmehr sind Bauherr und Gebäude gewissermaßen eins, weil wir unserem Leben im Vollzug nicht gegenüberstehen.29 Dennoch – und deshalb macht das Wort ‚Lebensentwurf‘ durchaus auch Sinn – gibt es ein solches ‚Gegenüberstehen‘. Nicht im Vollzug des Lebens, wohl aber im bilanzierenden Rückblick, sei er auf bestimmte Lebensabschnitte bezogen oder auf die Biographie insgesamt, stehen wir uns sozusagen selbst gegenüber. Hier ist nun, wie schon gesagt, das Sichtbarwerden einer gewissen Konsistenz unverzichtbar, wenn unser Leben als ein gelungenes bilanzierbar sein soll. Die Formulierung ‚Unverfügbarkeit des Glücks‘, mit der hier der zweite Relevanzpunkt des klassischen ‚beatitudo‘-Verständnisses benannt ist, verweist dagegen gerade darauf, dass wir unser Leben als ein ganzes eben nicht in der Hand haben und entspricht damit der thomanischen Lehre von der irdischen Unerreichbarkeit der ‚beatitudo perfecta‘. Deutlich wird der Zusammenhang anhand der bekannten Erfahrung, dass wir zwar einzelne Glücksgüter, nicht aber das Glück selbst intendieren können. Für den aristotelischen ‚eudaimonia‘-Begriff ebenso wie für das thomanische ‚beatitudo‘-Verständnis gilt nämlich, dass das Glück nicht als ein Einzelgut neben anderen verstanden wird. Es ist vielmehr das ‚Worumwillen‘ für die Wahl aller Einzelgüter, der 28

29

Vgl. dazu Rochus Leonhardt: Kompaß im Pluralismus – Der Monotheismus gibt dem Menschen Orientierungshilfe, in: Evangelische Kommentare 2 (2000), S. 41-43. Mit dem Stichwort ‚Pluralismus der Beliebigkeit‘ wird hier angeknüpft an Eilert Herms: Pluralismus aus Prinzip (1991), in: ders.: Kirche in der Welt – Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen im vereinigten Deutschland, Tübingen 1995, S. 467-485, hier: S. 477-479: „Auf der Ebene des sozialen Gesamtsystems ist das grundlegende Merkmal des Pluralismus der Beliebigkeit die programmatische Privatisierung aller Fragen der ethisch-orientierenden Überzeugung [...] Im Zusammenhang des Persönlichkeitssystems entspricht ihr [dieser Privatisierung, R.L.] das Ungewißwerden der jeweils eigenen Lebensperspektive. [...] [Daraus folgt schließlich:] Die zunehmende weltanschaulich-ethische Ungewißheit und Verunsicherung einer zunehmenden Anzahl von einzelnen vergrößert ständig denjenigen Bevölkerungsanteil, der nur noch zur Anpassung an beliebige Trends fähig ist, wenn diese nur mit einem eindrucksvollen Dominanzgestus auftreten. Die Möglichkeiten einer manipulativen Formierung von öffentlicher Meinung – und zwar gerade in Grundsatzfragen – nehmen zu.“ Hier liegt die Wurzel jener „Antinomien des Glücks“, die Robert Spaemann herausgearbeitet hat: Glück und Wohlwollen – Versuch über Ethik (1989), Stuttgart 21990, S. 85ff.

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Rochus Leonhardt

Maßstab für diese Wahl, der seinerseits nicht noch einmal an etwas anderem gemessen werden kann. ‚Eudaimonia/beatitudo‘ fungiert als streng formales Regulativ menschlichen Handelns, als „Begriff kriteriologisch begründender Reflexion.“30 Sie ist deshalb einerseits etwas, was jeder zwingend wollen muss – das, „was niemand umhin kann zu wollen.“31 Und sie ist andererseits erstrebenswerter als alle Einzelgüter, da sie in eine ganz andere Kategorie gehört – Glück ist „nicht als Summand in einer Reihe mit anderen Gütern denkbar.“32 – Man kann eben nicht sagen, „Ich wünsche mir dies und jenes und dazu noch Glück“ oder „Ich wäre zufrieden mit Glück, wünsche mir darüber hinaus aber noch dies und jenes.“33 Es ist offensichtlich, dass diese Dimension des Glücksbegriffs nicht nur in den oben herangezogenen Äußerungen von Luther und Kant, sondern auch bei Krämer nicht präsent, für ein sachgerechtes Nachdenken über gelingendes Leben aber unverzichtbar ist. Denn nur diese Unterscheidung zwischen dem Glück schlechthin und verschiedenen Glücksgütern erlaubt es, etwa die Erfahrung von Enttäuschungen trotz erreichter Strebensziele oder die Änderung von Zielpräferenzen nachvollziehbar zu erklären. Die sowohl alte als auch unüberbietbar aktuelle Einsicht in die Unverfügbarkeit des Glücks kann daher auch als säkulare Reformulierung der Lehre des Thomas von Aquin gelesen werden, nach der das vollendete Glück erst nach diesem Leben erreichbar ist – und wir dafür der göttlichen Gnade bedürfen.

30

31 32

33

Klaus Jacobi: Aristoteles’ Einführung des Begriffs eudaimonia im I. Buch der Nikomachischen Ethik – Eine Antwort auf einige neuere Inkonsistenzkritiken, in: Philosophisches Jahrbuch 86 (1978), S. 300-325, hier: S. 320. Vgl. Robert Spaemann: Die Zweideutigkeit des Glücks, in: ders. u.a. (Hg.): Zweckmäßigkeit und menschliches Glück, Bamberg 1994, S. 15-34, hier: S. 16. Klaus Jacobi: Einführung des Begriffs (Anm. 30), S. 318. Damit wird die Intention des Aristoteles präzise zum Ausdruck gebracht, der gesagt hatte, Glück sei „erstrebenswerter [...] als alle anderen Güter zusammen, also nicht auf eine Linie mit den anderen gereiht“ (‚me synarithmoumenen‘: Nikomachische Ethik I 5; 1097b 16f). Vgl. nochmals Klaus Jacobi: Einführung des Begriffs (Anm. 30), S. 318.

RAINER STILLERS

„Mit einem Füllhorn voller Erfindungen geht die Dichtung stets einher“. Anthropologische Poetik und Bildlichkeit bei Giovanni Boccaccio Amplissima quidem fingendi est area, et pleno semper fictionum cornu poesis incedit.1

I Im folgenden Beitrag versuche ich, die Poetik der italienischen Frührenaissance in einer Perspektive zu zeigen, die bisher vernachlässigt wird. Die Poetik dieser Zeit – ich denke dabei an Trecento und frühes Quattrocento – wird gern als ‚theologische Poetik‘ gekennzeichnet – ein Begriff, der durchaus einen ihrer wesentlichen Argumentationsstränge trifft. Unter ‚theologischer Poetik‘ ist eine Legitimation der Dichtung zu verstehen, nach der diese auf einen göttlichen Ursprung oder göttliches Einwirken zurückgeführt und dichterische Texte von ihren Mitteln und ihren Zielen her in Analogie zu biblischen Texten gesehen werden. Zur literarhistorischen Phase der ‚theologischen Poetik‘ werden theoretische Positionen von Mussato über Petrarca und Boccaccio bis hin zu Salutati gerechnet.2 Die bei diesen Autoren entwickelten Argumente wirken aber in vielfältiger Weise über das Quattrocento hinaus bis in das Cinquecento nach, sind also auch noch in den beiden nachfolgenden Phasen der Renaissancepoetik zu finden: in der humanistischen Poetik, die vor allem das 15. Jahrhundert bestimmt,3 und in der Zeit der systematischen Poetik, die von der 1 2

3

Giovanni Boccaccio: Genealogie deorum gentilium, a cura di Vittorio Zaccaria, in: ders.: Tutte le opere, a cura di Vittore Branca, vol. VII/VIII, Milano 1998, S. 1450-52. Grundlegend hierzu noch immer August Buck: Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance, Tübingen 1952 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie, Bd. 94), Kap. III, 2: „Die Verteidigung der Poesie“, S. 67-87; von den umfangreicheren Studien sei verwiesen auf Giorgio Ronconi: Le origini delle dispute umanistiche sulla poesia (Mussato e Petrarca), Roma 1976 (Strumenti di ricerca, Bd. 11) und Claudio Mésoniat: Poetica theologia – La “Lucula Noctis“ di Giovanni Dominici e le dispute letterarie tra ’300 e‚’400, Roma 1984 (Uomini e dottrine, Bd. 27). Vgl. zu diesem Zeitraum u.a. Concetta Carestia Greenfield: Humanist and Scholastic Poetics, 1250-1500, Lewisburg u.a. 1981.

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Horaz- und Aristoteles-Rezeption geprägt ist und sich von Bartolommeo della Fonte an durch das ganze 16. Jahrhundert zieht.4 Was nun die erste Phase der Renaissancepoetik betrifft, so sollen im Folgenden zwei Aspekte herausgestellt werden, die in der bisherigen Forschung zu wenig Beachtung gefunden haben. 1. Ich möchte zeigen, dass neben der dominierenden ‚theologischen‘ Poetik hiervon divergierende Argumentationen auszumachen sind, die ich als ‚anthropologisch‘ bezeichne. Ich wähle diesen Begriff, weil in den Argumenten, die dargestellt werden sollen, der Bezug der Dichtung auf einen göttlichen Ursprung und ihre Vergleichbarkeit mit der Theologie in Konkurrenz zu einer Auffassung treten, nach der Dichtung ihren Ursprung im Menschen, in seinem Erkenntniswillen und in seinen Bedürfnissen hat und deshalb als etwas vom Menschen für Menschen Gemachtes gesehen wird. Die Beobachtungen werden sich auf die theoretischen Schriften Boccaccios konzentrieren, den Trattatello in laude di Dante, die Esposizioni sopra la Comedia und die Genealogie deorum gentilium.5 Boccaccio ist nicht der Einzige in seiner Zeit, der eine solche ‚anthropologische‘ Richtung propagiert; er vertritt sie aber – verglichen mit seinen Vorgängern, Zeitgenossen und auch Nachfolgern – mit einem Nachdruck und einer systematischen Differenziertheit, die in dieser Epoche ihresgleichen sucht. 2. Im Zusammenhang hiermit soll sodann gezeigt werden, dass diese Ansätze zu einer anthropologischen Poetik bei Boccaccio eng mit einer zweiten zentralen Überzeugung verknüpft sind: Die Bildhaftigkeit von Dichtung, das heißt der visuelle, imaginative Charakter ihrer Darstellungsweise ist nicht ein beiläufiges, sondern ein essentielles, konstitutives Merkmal, das die Dichtung an den menschlichen Erkenntniswillen und sein Erkenntnisbedürfnis bindet. Man mag an dieser Stelle einwenden, dass es in der ‚theologischen Poetik‘ ohnehin in hohem Maße um die Allegorie als bildhafte Rede geht, weil die Analogie zwischen Theologie und Poetik weitgehend über die figurative Rede als ‚tertium comparationis‘ hergestellt wird. Trotzdem lohnt es sich, die Perspektiven zu beachten, unter denen die Allegorie als bildhafte Rede beurteilt und argumentativ eingesetzt werden kann. Die Struktur der Allegorie besteht in der Koppelung einer bildhaft-anschaulichen Darstellung an einen im Allgemeinen nicht anschaulichen, abstrakten Sinn; dabei kann man die Relation der 4

5

Standardwerke zu dieser Phase der italienischen Renaissance sind weiterhin Bernard Weinberg: A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance, 2 Bde., Chicago 1961, und Baxter Hathaway: The Age of Criticism – The Late Renaissance in Italy, Ithaca u. NewYork 1962. Obwohl ‚genealogie‘ ursprünglich wohl als Genitiv zu ‚libri‘ zu verstehen ist (Genealogie deorum gentilium libri XV) folge ich dem Usus, den Titelbegriff als Plural zu lesen; auch der Herausgeber der neuesten kritischen Edition in der Gesamtausgabe von Boccaccios Werken (Anm. 1), Vittorio Zaccaria, hat sich für diese Lesart entschieden.

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beiden Komponenten als semiotische Verweisung bestimmen: „aut aliud verbis aliud sensu ostendit“ – mit dieser Formel charakterisiert bereits Quintilian die Allegorie.6 Nun kann man eben diese Verweisung des bildhaften Substrats auf den ‚höheren‘, ‚eigentlichen‘ Sinn betonen. Eine solche Perspektive drückt sich exemplarisch in Dantes Bestimmung der Allegorese im Convivio aus. Wenn der allegorische Sinn eine „veritade ascosa sotto bella menzogna“ ist,7 dann bedeutet eben die „Wahrheit“ des allegorischen Sinns das Ziel und Zentrum der dichterischen Darstellung, während der Litteralsinn eben nur einen ‚falschen‘ Sinn, eine „menzogna“, wenngleich eine „schöne“ Lüge darstellt. Diese Blickrichtung ist vorrangig in der Diskussion um die theologische Poetik im Spiel, denn dabei geht es um den Nachweis, dass die Funktion der Dichtung sich eben nicht in den fiktionalen Bildern erschöpft, sondern ihren eigentlichen Wert erst aus einem anderen, zum Beispiel moralischen oder epistemologischen Sinn gewinnt, für den das bildhafte Substrat als transparentes, verweisendes Zeichen fungiert. Unter einem anderen Vorzeichen erscheint die Allegorie jedoch, wenn nach dem Nutzen des bildhaften Substrats selbst, nach seiner Legitimität, seiner Wirkung gefragt wird. Der Blick geht hierbei umgekehrt vom abstrakten Sinn dichterischer Texte auf das bildhafte Verfahren zurück, das diesen Sinn vermittelt – und damit auf die spezifische Leistung, den Eigenwert dieses Verfahrens, das dadurch eine gewisse Opazität gewinnt. II Nun wird man in Boccaccios poetologischen Schriften vergeblich nach Passagen suchen, in denen explizit und ausführlich die Bildhaftigkeit der Dichtung, die ‚imagines‘ oder die ‚immagini‘, thematisiert oder gar problematisiert würden. Selbst wenn wir hier die an sich grundlegende Tatsache ausklammern müssen, dass die Visualität ohnehin eine prägende Bedeutung in der abendländischen Kultur besitzt,8 können wir davon ausgehen, dass die bildhafte Rede fiktionaler Literatur im späten Mittelalter, somit auch zu Boccaccios Zeit, so selbstverständlich war, dass er sie nicht hervorzuheben brauchte. Wolfgang 6 7 8

Institutio oratoria, VIII, 6, 44. Hervorhebung des Autors. Dante Alighieri: Convivio II, I, 3. Le opere di Dante, testo critico della Società Dantesca Italiana, a cura di Michele Barbi […], Firenze 1960, S. 167. Stellvertretend sei verwiesen auf die Sammelbände Visual Culture, ed. by Chris Jenks, London u. New York 1995 sowie Olaf Breidbach u. Karl Clausberg (Hg.): Video ergo sum – Repräsentation nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften, Hamburg 1999. Zur Visualität speziell in der Literatur vgl. Manfred Schmeling u. Monika SchmitzEmans (Hg.): Das visuelle Gedächtnis der Literatur, Würzburg 1999 (Saarbrücker Beiträge zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft, Bd. 8).

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Harms und Klaus Speckenbach dokumentieren dies exemplarisch mit ihrem Sammelband zur „bildhaften Rede“.9 Aber auch Horst Wenzels umfassende Studie Hören und Sehen, Schrift und Bild zeigt, wie präsent in mittelalterlicher Literatur und Kultur die Nähe, Verschränkung, ja Austauschbarkeit von Text und Bild sind, so dass man geradezu von einer mittelalterlichen „Poetik der Visualität“ sprechen kann.10 In Bezug auf Boccaccio muss auch an die herausragende Rolle erinnert werden, die die Visualität bei Dante besitzt11 – neben Ovid ohne Zweifel der herausragende Referenzautor für Boccaccio.12 Es gibt weitere Gründe, die den selbstverständlichen Stellenwert des Bildhaften in Boccaccios Zeit nahe legen. So scheint mir die mittelalterliche Rezeption der aristotelischen Poetik ein geeignetes Indiz zu liefern. Deren genauere Erforschung stellt allerdings immer noch ein dringliches Desiderat dar. Wenn immer wieder vermutet wird, die mittelalterlichen Versionen der aristotelischen Poetik seien wenig bekannt und daher in ihrer Wirkung unbedeutend gewesen,13 dann spricht dagegen, dass sich so unterschiedliche Autoritäten wie Thomas von Aquin oder Petrarca auf sie berufen.14 Es ist in jedem Fall signifikativ, dass die von Hermannus Alemannus übertragene Averroës-Paraphrase das zentrale Mimesis-Konzept in Richtung auf eine grundsätzliche Bildhaftigkeit von Dichtung verschiebt, wenn sie die nachahmende Funktion, die hier meistens ‚repraesentatio‘ heißt, mit einer imaginativen Form dichterischer 9 10 11 12 13 14

Wolfgang Harms u. Klaus Speckenbach (Hg.): Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit – Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, Tübingen 1992. Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild – Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995. Willi Hirdt: Wie Dante das Jenseits erfährt – Zur Erkenntnistheorie des Dichters der Göttlichen Komödie, Bonn 1989. Vgl. Robert Hollander: Boccaccio’s Two Venuses, New York 1977, S. 6. Vgl. Paul Klopsch: Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1980, S. 40f. Thomas von Aquin verweist in der Quaestio „De causa delectationis“ der Summa theologiae in dem Artikel „Utrum admiratio sit causa delectationis“ (II, I, q. 32, a. 8) auf die aristotelische Poetik, um die Freude des Menschen an nachahmenden Darstellungen, deren Erkennen immer ein Vergleichen impliziert, zu belegen: „gaudet enim anima in collatione unius ad alterum, quia conferre unum alteri est proprius et connaturalis actus rationis, ut Philosophus dicit in sua Poetica“ (Summa theologiae, hg. von Petrus Caramello, pars prima et prima secundae, Torino 1952, S. 157). Die gemeinte Aristoteles-Stelle ist Poetik 1448b. – Petrarca zieht die Poetik des Aristoteles im 3. Buch der Invectivae contra medicum, das eine polemische Verteidigung der Dichtung enthält, heran. Mit dem Hinweis darauf, dass ein bedeutender und unangefochtener Philosoph wie Aristoteles eine Abhandlung zur Dichtung verfasst und darin außerdem den Dichter Homer kommentiert habe, will er den philosophischen Rang der Dichtung belegen: „Quod nisi ita esset, nunquam Aristotiles [...] librum de poetica edidisset [...]. Nunquam aut Homerum poetam Aristotiles idem exposuisset, aut Cicero transtulisset“. Francesco Petrarca: Invective contra medicum, edizione critica a cura di Pier Giorgio Ricci, appendice di aggiornamento a cura di Bortolo Martinelli, Roma 1978 (Storia e letteratura, Bd. 32), S. 64.

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Rede verknüpft. So folgt – um nur ein prägnantes Beispiel zu nennen – auf die Bestimmung der ‚poetria‘ als einer der ‚artes repraesentativae‘, die sich im dritten Absatz der Averroës-Poetik findet, im nächsten Satz die Feststellung: „Et sermones poetici sermones sunt imaginativi.“15 Soviel zum Hintergrund, den man bei Boccaccio voraussetzen darf. Dass Boccaccio selbst die Dichtung als ein wesensmäßig bildhaftes Medium versteht, lässt sich sowohl anhand expliziter Äußerungen, u.a. in den Genealogie deorum gentilium, als auch anhand der impliziten Poetik einiger seiner narrativen Werke zeigen. Zunächst zur expliziten Poetik. Die Bedeutung der Genealogie, und zwar weit über das 14. Jahrhundert hinaus, beruht nicht zuletzt darauf, dass Boccaccio zwei gleichermaßen neuartige Absichten miteinander verknüpft: eine umfassende Beschreibung und Deutung der zu seiner Zeit bekannten antiken Mythen mit einer gegliederten poetologischen Systematik. Die beiden letzten Bücher des Werks (XIV und XV) sind nicht nur das umfassendste und vollständigste dichtungstheoretische Kompendium unter Boccaccios Schriften, sondern auch in der europäischen Frührenaissance.16 Das Grundanliegen dieses Werks besteht gerade darin, die Dichtung zugleich mit den Mythen zu rechtfertigen. Dichter, so lautet eine Grundansicht Boccaccios, sind Erfinder von Fiktionen, sie sind „fabularum compositores“.17 Dies ist zwar nicht ihr eigentliches Ziel, aber nähme man ihnen die Freiheit des Fingierens, dann würde sich ihre Aufgabe in nichts auflösen: „si auferatur eis vagandi per omne fictionis genus licentia, eorum officium omnino resolvetur in

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17

Aristoteles latinus, XXXIII, De arte poetica, ed. Laurentius Minio-Paluello, Leiden 1968, S. 42. Die Verteidigung der Dichtung in den Büchern XIV und XV ist in der Forschung oft dargestellt worden, so dass hier ein Hinweis auf die wichtigste Literatur genügen kann: Charles G. Osgood: Boccaccio on Poetry – Being the Preface and the Fourteenth and Fifteenth Books of Boccaccio’s ‚Genealogia Deorum Gentilium‘, with introductory essay and commentary, Princeton 1930; Guido Martellotti: La difesa della poesia nel Boccaccio e un giudizio su Lucano, in: Studi sul Boccaccio 4 (1967), S. 265-279; Ermanno Scuderi: Boccaccio e la difesa della poesia, in: Orpheus 15 (1968), S. 183-199; August Buck: Boccaccios Verteidigung der Dichtung in den ‚Genealogie deorum‘, in: Gilbert Tournoy (Hg.): Boccaccio in Europe – Proceedings of the Boccaccio Conference, Louvain, December 1975, Leuven 1977, S. 53-65; Brigitte Hege: Boccaccios Apologie der heidnischen Dichtung in den ‚Genealogie deorum gentilium‘, Buch XIV, Text, Übersetzung, Kommentar und Abhandlung, Tübingen 1997; prägnante Analysen von Boccaccios Auffassung vom Zusammenhang der Dichtung mit den Mythen bringen Bodo Guthmüller: Bersuire und Boccaccio. Der Mythos zwischen Theologie und Poetik, in: ders.: Studien zur antiken Mythologie in der italienischen Renaissance, Weinheim 1986, S. 21-33, und Sebastian Neumeister: Boccaccios Literaturbegriff (‚Genealogie deorum gentilium‘ XIV), in: Ute Ecker u. Clemens Zintzen (Hg.): Saeculum tamquam aureum – Internationales Symposion zur italienischen Renaissance des 14.-16. Jahrhunderts am 17./18. September 1996 in Mainz, Hildesheim 1997, S. 233-243. Boccaccio: Genealogie (Anm. 1), S. 1410-12.

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nihilum.“18 Mythen aber sind die dichterischen Stoffe, das heißt erfundenen Fiktionen par excellence. Die Begriffe Mythos („fabula“)19 und Fiktion (fictio, figmentum) begegnen immer wieder als synonym beziehungsweise austauschbar, so zum Beispiel, wenn Boccaccio eine Definition Isidors zitiert: „Fabula est exemplaris seu demonstrativa sub figmento locutio“,20 oder wenn der theologische Begriff der „figura“ sowohl mit „fabula“ als auch mit „fictio“ gleichgesetzt wird.21 Mythen sind aus der Imagination der Dichter hervorgegangen und verweisen somit auf die wesensmäßige imaginative Komponente der Dichtung. Allein dieser konzeptuelle Zusammenhang von Mythographie und Poetik in den Genealogie deorum gentilium zeigt, dass Boccaccio nicht von den Mythen zu einem abstrakten Sinn wegführen will, den er aus ihnen herleitet, sondern umgekehrt den Blick auf die Mythen als Inventar bildhaftanschaulicher Figuren und Geschichten hinzulenken beabsichtigt. Dass Boccaccio hierbei ‚fabulae‘ und ‚fictiones‘ als bildhaft versteht, zeigt sich in der erwähnten Gleichsetzung der Begriffe mit dem theologischen Begriff der ‚figura‘. Noch deutlicher macht er seine Auffassung, indem er die grundlegende Fiktionalität von Dichtung (und deren Legitimität) durch Beispiele bildhafter Darstellungen vor Augen führt. Im 14. Kapitel des XIV. Buchs betont er die Notwendigkeit eines weiten Spielraums der Fiktion („Amplissima quidem fingendi est area, et pleno semper fictionum cornu poesis incedit“),22 um dann Beispiele dieser ‚Fülle‘ von Möglichkeiten der fingierenden, das heißt verbildlichenden Einkleidung vorzuführen. So seien Jupiter als Feuer, Adler oder Mensch, Gott als Sonne, Feuer, Löwe, Schlange, Lamm, Wurm oder Stein, die Kirche als Frau, Wagen, Schiff, Arche, Haus oder Tempel dargestellt worden.23 Liegt hier der Akzent auf der bildhaften Darstellung, so betont Boccaccio an anderer Stelle, dass die Fiktionen aus der – ihrerseits bildhaften – mentalen Vorstellung des Dichters hervorgehen. Das charakteristische Tun des Dichters, so heißt es im 7. Kapitel des XIV. Buchs, liege nämlich darin, das geistig Erdachte („inventiones excogitare“) mit Hilfe rhetorischer Verfahren in eine fiktionale Darstellungsform („velamentum fabulosum“) zu bringen:

18 19

20 21 22 23

Ebd., S. 1438; der Herausgeber der kritischen Edition, Vittorio Zaccaria übersetzt – sinngemäß wohl richtig – „omne fictionis genus“ mit „ogni genere d’immaginazione“. Zum Begriff ‚fabula‘ bzw. ‚favola‘ (= Mythos) vgl. auch Michael Thimann: Lügenhafte Bilder – Ovids „favole“ und das Historienbild in der italienischen Renaissance, Göttingen 2002 (Rekonstruktion der Künste, Bd. 6), unter anderem S. 21ff. Boccaccio: Genealogie (Anm. 1), S. 1412. Ebd., S. 1414: „quod poeta fabulam aut fictionem nuncupat, figuram nostri theologi vocavere.“ Ebd., S. 1450-52. Vgl. ebd., S. 1452-54.

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peregrinas et inauditas inventiones excogitare, meditatas ordine certo componere, ornare compositum inusitato quodam verborum atque sententiarum contextu, velamento fabuloso atque decenti veritatem contegere.24

Um keinen Zweifel an seinem Verständnis der Fiktion als bildhafter Erfindung zu lassen, bringt Boccaccio im Anschluss an diese Definition Beispiele, die ihrerseits das Prinzip der Anschaulichkeit vor Augen führen: Preterea, si exquirat inventio, reges armare, in bella deducere, e navalibus classes emictere, celum, terras et equora describere, virgines sertis et floribus insignire, actum hominum pro qualitatibus designare.25

Und ganz ähnlich formuliert Boccaccio noch einmal im 17. Kapitel, dass der Dichter das mental Konzipierte nicht in philosophischer, argumentativer, sondern in fiktional-bildhafter Form darstellen müsse: „poeta, quod meditando concepit, sub velamento fictionis, silogismis omnino amotis, quanto artificiosus potest, abscondit.“26 Wie erwähnt führt Boccaccio die essentielle Bildhaftigkeit der Dichtung – vielleicht noch prägnanter als in der theoretischen Darlegung – auch über die implizite Poetik einiger seiner narrativen Werke vor. Dabei ist zu betonen, dass die Werke, die hier vor allem zu erwähnen sind – nämlich Teseida, Ameto und Amorosa visione –, chronologisch vor den theoretischen Äußerungen Boccaccios entstanden. Sie könnten daher erklären, warum der Autor in den poetologischen Schriften die Bildhaftigkeit der Dichtung nicht mehr ausdrücklich analysiert; er hat ihr ‚Funktionieren‘ als Dichter ja bereits mehrfach vor Augen geführt. Beim Teseida – um 1339-1341 entstanden – handelt es sich um das erste Epos in italienischer Sprache. Boccaccio versucht hier, die Tradition der volkssprachlichen Ritterepik mit einer Nachahmung der antiken Heldenepik zu verbinden. Den Handlungsrahmen bildet – daher rührt der Titel – die Herrschaft des Theseus über Athen. Im Mittelpunkt stehen jedoch die beiden Thebaner Arcita und Palemone, die um die Amazone Emilia werben. In poetologischer Hinsicht ist vor allem das elfte der insgesamt zwölf Bücher interessant. Im Gefolge eines Wettkampfs der Protagonisten um Emilia kommt Arcita ums Leben; sein ehemaliger Freund und Rivale errichtet zu seinem Gedenken einen Tempel, der in der Manier des Junotempels der Aeneis im Innern ausgemalt ist. In Form eines Zyklus von Wandmalereien wird hier die gesamte bis dahin berichtete Geschichte des Epos wiederholt. Was Boccaccio zuvor durch textuelles Erzählen vermittelt hatte, erscheint nun noch einmal in anderer Form, als Ekphrasis, das heißt als Narration durch Bilder. Der Autor fordert den Leser dadurch auf, 24 25 26

Ebd., S. 1398; ‚excogitare‘ bzw. ‚meditatas‘ übersetzt Vittorio Zaccaria mit „immaginare“ bzw. „immaginate“, was der Sache nach wohl wiederum zutrifft. Ebd. Ebd., S. 1468.

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sich das Geschehen noch einmal vor seinem inneren Auge zu vergegenwärtigen, und lenkt die Aufmerksamkeit auf den imaginativen Anteil von Darstellung und Rezeption des Textes. Eine andere Form der Bildhaftigkeit macht Boccaccio im Ameto, einem 1341-1342 verfassten Prosimetrum, bewusst. Der Text erzählt von dem unkultivierten Jäger Ameto, der sieben Nymphen begegnet, die als Verkörperungen der vier Kardinal- und drei theologischen Tugenden verstanden werden können. Während die äußere Schönheit dieser Nymphen den Protagonisten zunächst erotisch anzieht, gelangt er allmählich zu der Erkenntnis, dass die Betrachtung der körperlichen Schönheit ihn zur moralischen Qualität der Nymphen führt. Die Tatsache, dass Ameto zunächst ganz im Bann der Faszination des Visuellen steht, macht Boccaccio hier zur Bedingung für eine moralische Entwicklung. Zugleich erweist sich – auf poetologischer Ebene – der Text selbst als eine allegorische Einkleidung des bildhaften Verfahrens der Literatur: Ameto ist gewissermaßen als eine Allegorie des Lesers zu verstehen.27 Das kurioseste und schlagkräftigste der drei Beispiele ist jedoch die Amorosa visione, ein Epos in Terzinen, das wie der Ameto um 1341-1342 entstanden ist. Der Erzähler berichtet hier von einer Traumvision, in der er von einer „donna gentile“ durch ein Schloss und dessen Lustgarten geführt wird. Der weitaus größte Teil des Werks umfasst die Beschreibung der Säle des Schlosses, die mit allegorischen Wandmalereien ausgestattet sind. Diese Malereien dienen zwar – als Teil der erlebten Vision – der moralisch-allegorischen Erkenntnis des Protagonisten. Unter poetologischem Aspekt betrachtet unterstreichen sie aber darüber hinaus nicht nur den visuellen Charakter der Traumbilder, sondern den des Textes beziehungsweise der Literatur schlechthin. Denn was der Träumende anschaut, sind größtenteils aus der Literatur bekannte, vor allem mythologische Gestalten und Geschichten. Auch hier wird der Text zu einer Allegorie der Bildhaftigkeit von Dichtung; das Schauen des Protagonisten ist eine Allegorie der imaginativen Textrezeption.28 Diese drei Beispiele zeigen, dass für Boccaccio die Bildhaftigkeit fiktionaler Texte in der Tat eine übergreifende Qualität darstellt, unter die verschiedene rhetorische und poetische Verfahren subsumiert werden können, unter anderem Allegorie, Ekphrasis und Anschaulichkeit (enargeia, evidentia). Sie zeigen aber auch, dass immer mehrere Verfahren zusammenwirken, so dass es 27

28

Vgl. hierzu meinen Beitrag: Ametos Verwandlung: Poetik der Bildlichkeit in Boccaccios Comedia delle ninfe fiorentine (1341-1342), in: Peter Kuon und Barbara Marx (Hg.): Metamorphosen – Akten der Tagung des Deutschen Italianistenverbands, Dresden, 8.-10. November 2001 (im Druck). Vgl. hierzu meinen Beitrag L’„Amorosa visione“ e la poetica della visualità, in: Michelangelo Picone (Hg.): Autori e lettori di Boccaccio – Atti del Convegno internazionale di Certaldo (20-22 settembre 2001), Firenze 2002, S. 327-342.

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für unsere Zwecke ratsam ist, ihre Gemeinsamkeit – eben die imaginativ-bildhafte Seite der Produktion und Rezeption fiktionaler Texte – in den Vordergrund zu stellen. III Bevor ich nun zu einer genaueren Betrachtung von Boccaccios Poetik übergehe, erscheint es mir sinnvoll, wenigstens skizzenhaft an die frühhumanistische Vorgeschichte zu erinnern, die ich eingangs mit dem Schlagwort ‚theologische Poetik‘ angesprochen habe. Der Hintergrund dieser oft polemisch vorgetragenen Poetik, die im frühen 14. Jahrhundert ihren Anfang nimmt, ist bekannt.29 Es ging darum, der Poetik (beziehungsweise Dichtung), die in mittelalterlichen Systemen der ‚Artes‘ oder ‚Scientiae‘ meist einen unbedeutenden, nicht genau definierten Standort hatte, einen Rang zu geben, der sie neben die anerkannten Wissenschaften stellte; und es ging gleichzeitig darum, sie gegenüber der scholastischen Geringschätzung zu verteidigen. Die bekannteste theologische Kritik an der Dichtung, speziell ihrer Bildhaftigkeit, findet sich im Kommentar des Thomas von Aquin zu den Sentenzen des Petrus Lombardus. Thomas von Aquin setzt hier die bildhafte Rede der Poesie radikal von derjenigen der Bibel ab, indem er folgendermaßen argumentiert: Die Gegenstände, von denen die biblischen Texte reden und die auf offenbarter Wahrheit beruhen, übersteigen die menschliche Ratio. Daher müsse diese „per sensibilium similitudines“ an die Wahrheitserkenntnis herangeführt werden (manuducatur): Quia etiam ista principia non sunt proportionata humanae rationi secundum statum viae, quae ex sensibilibus consuevit accipere, ideo oportet ut ad eorum cognitionem per sensibilium similitudines manuducatur: unde oportet modum istius scientiae esse metaphoricum, sive symbolicum, vel parabolicum.30

Die Dichtung dagegen habe unter allen „Wissenschaften“ den geringsten Wahrheitsgehalt, deshalb weiche sie im höchsten Maß von der Theologie ab: „Sed Poetica, quae minimum continet veritatis, maxime differt ab ista scientia, quae est verissima.“31 Sie gehöre zu den „scientiae“, die wegen ihres Mangels an Wahrheit vom Verstand nicht begriffen werden können, so dass hier die bildhafte Rede dazu diene, die Ratio zu verführen – „seducatur“ ist das mit Bedacht gegen das „manuducatur“ der biblischen Bildhaftigkeit gesetzte Verb: 29 30 31

Vgl. hierzu u.a. die in Anm. 2 und Anm. 3 erwähnten Darstellungen. Thomas von Aquin: Commentum in quatuor libros sententiarum magistri Petri Lombardi, vol. I, Parma 1856, S. 8f. Ebd., S. 8.

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„poetica scientia est de his quae propter defectum veritatis non possunt a ratione capi; unde oportet quod quasi quibusdam similitudinibus ratio seducatur“.32 Seit Albertino Mussato ging es den Frühhumanisten darum, diese extreme Wahrheitsferne der Dichtung zu widerlegen, indem sie etwa behaupteten, Dichtung sei eine ‚zweite Theologie‘: „Illa igitur nobis stat contemplanda poesis / altera que quondam theologia fuit“,33 schreibt Mussato in seiner VII. Versepistel, und ähnlich in der XVIII.: „pur fuit a primis ars ista theologa mundi / principiis, manet ipsa tamen divinaque semper subiectumque bonum“.34 Auch die Dichtung vermittle von ihrem Ursprung her Wahrheit, und sie tue dies mit sprachlichen Darstellungsformen, derer sich auch die biblischen Autoren bedienten. Gemeint ist hierbei vor allem die figurative Darstellung. Geradezu topisch ist im Zusammenhang solcher Argumentationen auch die auf einem Missverständnis des Textes beruhende Berufung auf Aristoteles, der im ersten Buch der Metaphysik behaupte, die ersten „theologesantes“ seien Dichter gewesen.35 Die aus solchen Grundpositionen herrührenden polemischen Debatten wiederholen sich mehrfach bis ins 15. Jahrhundert hinein und finden in der Auseinandersetzung zwischen dem Humanisten Coluccio Salutati und dem Kleriker Giovanni Dominici ihre breiteste Entfaltung.36 Das Postulat einer Vergleichbarkeit von Poetik und Theologie bzw. dichterischer und sakraler Rede hat jedoch niemand gleichermaßen kühn zugespitzt wie Boccaccio – und zwar in der 1351 entstandenen Erstfassung des Trattatello in laude di Dante. Boccaccio greift dort auf die – wiederum seit Mussato gängige – Anschauung einer indirekten göttlichen Offenbarung vor der Offenbarung durch die Bibel zurück. Der Hl. Geist habe seine Wahrheit zunächst durch die Stim32 33

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Ebd., S. 9. Mussato, Ep. VII, 21f.; zitierte Ausgabe: Enzo Cecchini: Le epistole metriche del Mussato sulla poesia, in: Tradizione classica e letteratura umanistica – Per Alessandro Perosa, a cura di Roberto Cardini […], vol. 1, Roma 1985, S. 95-119; hier: S. 116. Mussato, Ep. XVII, 83-85; ebd., S. 112. Vgl. z.B. Petrarca : Familiares X, 4: „illic de Deo deque divinis, hic de diis hominibusque tractatur, unde et apud Aristotilem primos theologizantes poetas legimus.“ Francesco Petrarca: Le Familiari, a cura di Ugo Dotti, vol. I/2, Urbino 1974, S. 1091. – Die gemeinte Passage findet sich im I. Buch, 3. Kap. der aristotelischen Metaphysik (938b 27): „Manche meinen auch, dass die Alten, welche lange vor unserer Generation und zuerst über die göttlichen Dinge geforscht haben (die ersten Theologen), ebenso über die Natur gedacht hätten; denn den Okeanos und die Tethys machten sie zu Erzeugern der Entstehung und den Eid der Götter zum Wasser, das bei den Dichtern Styx heißt“. Aristoteles: Metaphysik, Bücher I-VI, Griechisch-Deutsch, übers. von Hermann Bonitz, hg. von Horst Seidl, Hamburg 21982 (Philosophische Bibliothek, Bd. 307), S. 19. – Aristoteles zielt mit seiner Beobachtung vermutlich gerade nicht auf eine Aufwertung der metaphysisch spekulativen Dichter ab, sondern auf eine Abwertung ihrer Bemühungen als vorwissenschaftlich. Vgl. hierzu auch Greenfield: Humanist and Scholastic Poetics (Anm. 3), S. 45ff. Vgl. Mésoniat: Poetica theologia (Anm. 2).

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men von Menschen geäußert, die er unter einem Schleier habe reden lassen, bevor er später, in den biblischen Schriften, die Wahrheit ohne jeden Schleier offenbart habe. Insofern – so fährt Boccaccio fort – verführen die Dichter nicht anders als der Hl. Geist, ja sie ahmten ihn geradezu nach, wenn auch sie sich unter einem Schleier, nämlich der Hülle von Fiktionen artikulierten. Biblische und dichterische Texte unterschieden sich zwar im Zweck, stimmten aber in der Redeweise, im „modo del trattare“37 bzw. der „forma dell’operare“38 überein. Wer demnach die Darstellungsform der Dichtung, ihre fiktional-bildhafte Rede kritisiere, der tadle damit auch den Heiligen Geist. „Dunque bene appare,“ – so die pointierteste Passage – „non solamente la poesì essere teologia, ma ancora la teologia essere poesia.“39 IV Boccaccio spitzt zwar die Analogie von Poetik und Theologie hier am kühnsten zu, er ist in der Frührenaissance aber auch derjenige, der – vielleicht gerade aufgrund seiner ebenso pointierten wie elaborierten Argumentation – die Aporien dieser Analogie am deutlichsten erkennt. Bezeichnenderweise wird er die soeben zitierte Formulierung sowohl in den beiden späteren Redaktionen des Trattatello, als auch in den anderen poetologischen Schriften zurücknehmen. So werden Dichtung und Theologie (das heißt Bibel) in der dritten Redaktion des Trattatello nicht mehr als vom Verfahren her identisch, sondern nur noch als vergleichbar bezeichnet: „credo che è chiaro la teologia e la poesia nel modo del nascondere i suoi concetti con simile passo procedere, e però potersi dire simiglianti.“40 Gleichzeitig – und das scheint mir noch bedeutsamer zu sein – schafft Boccaccio in allen seinen poetologischen Schriften, auch schon in der ersten Redaktion des Trattatello, durch alternative Argumente ein Gegengewicht zur theologischen Poetik. Diese hatte ja in der Tat eine fundamentale Schwäche, die auch den kontinuierlichen Widerspruch der Gegner erklärt: Wenn Dichtung den sakralen Texten vergleichbar ist, diese aber – was niemand in dieser Epoche bezweifelte – die Wahrheit bereits in ihrer höchsten Form vermitteln, dann ist die Dichtung als „altera theologia“, das heißt als ein möglicher Erkenntnisweg, redundant. Ich möchte im Folgenden auf zwei Felder der Argumentation bei Boccaccio eingehen, in denen insofern ein Neuansatz zu sehen ist, als sie den Eigenwert der Dichtung gegenüber anderen Disziplinen, Künsten oder 37 38 39 40

Giovanni Boccaccio: Trattatello in laude di Dante, a cura di Pier Giorgio Ricci, in: ders.: Tutte le opere, a cura di Vittore Branca, vol. 3, Milano 1974, S. 437-496; hier: S. 472. Ebd., S. 474. Ebd., S. 475. Ebd., S. 519f.

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Wissensbereichen hervortreten lassen: 1. Boccaccio bindet das Literaturverständnis stärker an den Menschen, das heißt er bezieht Voraussetzungen und Wirkungen der Dichtung auf menschliche Fähigkeiten und Interessen; 2. er begründet im Zusammenhang hiermit die bildhafte Fiktion als charakteristische Darstellungsform, die die Dichtung wesensmäßig von anderen menschlichen Disziplinen abhebt. Besonders ausgeprägt begegnet der Übergang von der theologischen zur anthropologischen Poetik in einer mehrfach wiederkehrenden Erzählung vom Ursprung der Dichtung aus dem menschlichen Streben nach Erkenntnis. Boccaccio betont, er übernehme sie von seinem geistigen „padre e maestro“ Petrarca;41 tatsächlich geht sie im Kern auf Isidor zurück, der sich seinerseits auf Varro und Sueton beruft.42 Boccaccio hatte eine offensichtliche Vorliebe für diese Ursprungstheorie; er bringt sie mit leichten Variationen in allen theoretischen Schriften.43 Da jeder Mensch von Natur aus die Wahrheit zu erkennen begehre – so berichtet Boccaccio im Trattatello in laude di Dante –, hätten auch die Menschen in einer archaischen Zeit – „[l]a prima gente ne’ primi secoli“44 –, obwohl noch roh und unzivilisiert, die Welt beobachtet und wahrgenommen, dass diese nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten geordnet sei.45 Daraus leiteten sie als Urheberin dieser Ordnung eine höhere Kraft ab, der keine andere überlegen sei („sì come potenzia da niuna altra potenziata“) und der sie den Namen „Gottheit“ („divinità“ bzw. „deità“)46 gegeben hätten. Zur Verehrung dieser Instanz richteten sie einen Kult ein; man baute Tempel, setzte Priester ein und bildete Statuen zur Darstellung der göttlichen Instanz. Insbesondere schuf man eine Sprache, die jedem alltäglichen oder öffentlichen Reden überlegen war – eine kunstvolle Redeweise, die ‚artificiosa‘, ‚esquisita‘ und ‚nuova‘ war und die man ‚poetisch‘ genannt habe. Diejenigen, die diese Sprache benutzten, hießen entsprechend ‚poeti‘.

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Es handelt sich um Petrarcas Brief an seinen Bruder, Familiares X, 4. „Poetae unde sint dicti, sic ait Tranquillus (de poet. 2): ‚Cum primum homines exuta feritate rationem vitae habere coepissent, seque ac deos suos nosse, cultum modicum ac sermonem necessarium commenti sibi, utriusque magnificentiam ad religionem deorum suorum excogitaverunt. Igitur ut templa illis domibus pulchriora, et simulacra corporibus ampliora faciebant, ita eloquio etiam quasi augustiore honorandos putaverunt, laudesque eorum et verbis inlustrioribus et iucundioribus numeris extulerunt. Id genus quia forma quadam efficitur, quae ʌȠȚȩIJȘȢ dicitur, poema vocitatum est, eiusque fictores poetae.‘“ Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originvm libri XX, ed. W. M. Lindsay, 2 Bde., Oxford 1962, Bd. 1, VIII, VII, 1-2. Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 469f.; Esposizioni sopra la Comedia di Dante, a cura di Giorgio Padoan, in: G. B.: Tutte le opere, a cura di Vittore Branca, vol. 6, S. 35; Genealogie deorum (Anm. 1), Buch XIV, Kap. 8, S. 1404-6. Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 469. Boccaccio greift hier zweifellos auf den Anfang von Aristoteles’ Metaphysik zurück. Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 469.

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Natürlich sind wir mit dieser Legende doch wieder bei der theologischen Poetik: Dichtung hat einen letztlich theologischen Ursprung. Worauf es jedoch ankommt, ist die Perspektive, in der Boccaccio diese Legende erzählt. Dieser spezifische Blickwinkel wird besonders deutlich, wenn man den Text des Trattatello mit dessen direkter Vorlage, Petrarcas Brief an seinen Bruder Gherardo, vergleicht. Boccaccio erweitert die rund 17 Zeilen umfassende Ursprungserzählung Petrarcas auf rund 45 Zeilen, also fast den dreifachen Umfang; diese Erweiterung beruht zu einem Teil auf einer ‚amplificatio‘ durch Steigerung der Anschaulichkeit, das heißt der rhetorischen Qualität der ‚evidentia‘. Stärker noch resultiert sie aber daraus, dass Boccaccio einige signifikante Aspekte anders akzentuiert als Petrarca oder Neues hinzufügt. Petrarcas Gedankengang führt zügig zu der Hauptfrage nach dem Ursprung dichterischer Rede und des Begriffs ‚poeta‘ hin, während Boccaccio sich ausführlicher mit dem Weg dorthin befasst, dadurch aber auch gerade die Entstehung von Dichtung in einem anderen Licht erscheinen lässt. So stellt Petrarca, am Anfang der Ursprungserzählung, die bloße Einsicht der archaischen Menschen in die Existenz einer höchsten Macht fest;47 Boccaccio betont demgegenüber die von den Menschen ausgehenden Beobachtungen und Überlegungen, die zu dieser Einsicht führten. Die Einsicht erscheint dadurch, mehr als bei Petrarca, als metaphysische Hypothese: La quale [prima gente] veggendo il cielo muoversi con ordinata legge continuo, e le cose terrene avere certo ordine e diverse operazioni in diversi tempi, pensarono di necessità dovere essere alcuna cosa, dalla quale tutte queste cose procedessero, e che tutte l’altre ordinasse, sì come superiore potenzia da niuna altra potenziata.48

Sodann beschränkt sich Petrarca, wenn es um die Entstehung der Gottesverehrung geht, wiederum auf eine bündige Formulierung;49 Boccaccio hingegen hebt an der entsprechenden Stelle erneut die menschliche Projektion hervor: man habe für die höchste Macht die Bezeichnung „divinità“ oder „deità“ gewählt und man habe sich vorgestellt (!), dass diese in außergewöhnlicher Weise zu verehren sei: s’immaginarono quella, la quale ‚divinità‘ ovvero ‚deità‘ nominarono, con ogni cultivazione, con ogni onore e con più che umano servigio esser da venerare.50

Den Bau von Tempeln und die Herstellung von Bildnissen als Teil der Instauration eines Kults hält Petrarca wiederum in wenigen Worten fest,51 während 47 48 49 50 51

„cogitare cepissent esse superiorem aliquam potestatem per quam mortalia regerentur“. Francesco Petrarca: Fam. X, 4, 3; zitiert nach der Ausgabe Le Familiari (Anm. 35), S. 1093. Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 469. „dignum rati sunt illam [potestatem] omni plusquam humano obsequio et cultu augustiore venerari“ (Petrarca: Le Familiari [Anm. 35], S. 1093). Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 469; Hervorhebung des Autors. „Itaque et edes amplissimas meditati sunt, que templa dixerunt, […] et magnificas statuas“. Petrarca: Le Familiari (Anm. 35), S. 1093.

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Boccaccio erneut die Urteile der Menschen hervorhebt, die diesen Erfindungen zugrunde lagen, und vor allem darauf insistiert, dass die Einrichtung eines Kults auf menschlicher Vorstellung beruhte und daher die Bildnisse, die man von der Gottheit anfertigte, der Repräsentation des Imaginierten dienten: „in rappresentamento della imaginata essenzia divina, fecero in varie forme magnifiche statue“.52 Die Erfindung einer dichterischen, ursprünglich kultischen Sprache, die der Zielpunkt dieser Entwicklung ist, markiert Boccaccio so deutlich als Menschenwerk – und zwar signifikant anders als Petrarca –, dass die Dichtung kaum mehr in den Verdacht gerät, es handle sich um die Sprache der geoffenbarten Religion. Bezeichnend ist des Weiteren die Fortsetzung, die Boccaccio der Ursprungserzählung gibt; sie mutet auf den ersten Blick wie eine Degeneration der ursprünglichen Erhabenheit der Dichtung an, dient aber dazu, die Säkularisierung der Dichtung zu begründen. Durch eine Vervielfachung der Gottheiten wird das Göttliche zunächst auf alle den Menschen nützlichen Dinge übertragen, so dass diese zum Gegenstand von Dichtung werden können. Einen weiteren Schritt stellt die Entstehung von Herrschaft dar, in deren Folge Herrscher auf eine solche Weise verehrt werden, dass sie den Menschen wie Götter erscheinen und gleichfalls zum dichterischen Gegenstand werden. Man erkennt unschwer hinter diesem Abriss der Zivilisations- und Dichtungsgeschichte eine Theorie sowohl der Entstehung heidnischer polytheistischer Mythologie als auch die Absicht, ein säkularisiertes Verständnis mythologischer Dichtung herzuleiten. In der Tat – und das ist ein nächster wesentlicher Punkt in Boccaccios Ansätzen zu einer anthropologischen Poetik – vollzieht Boccaccio einen für die poetische Allegorie entscheidenden Schritt, der sich in seinem Verständnis der heidnischen Mythologie zeigt. Seine Mythendeutung unterscheidet sich grundsätzlich von der gängigen spätmittelalterlichen, aber auch noch von gleichzeitig – etwa von Pierre Bersuire (Petrus Berchorius) in seinem Reductorium morale – praktizierter Mythenallegorese.53 Mythen sind von Dichtern erfundene Geschichten, sie sind dichterische Fiktionen, die keine christlich-religiösen Inhalte ausdrücken. Sie dienen vielmehr dazu, naturphilosophische, moralische oder historische Erkenntnisse zu vermitteln: „gli alti effetti della natura, le moralità e i gloriosi fatti degli uomini“, wie es in einer der Versionen des Trattatello heißt.54 52 53

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Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 469. Vgl. hierzu Guthmüller: Bersuire und Boccaccio (Anm. 16); ders.: Concezioni del mito antico intorno al 1500, in: ders.: Mito, poesia, arte – Saggi sulla tradizione ovidiana nel Rinascimento, Roma 1997, S. 37-64, und auch S. 44ff. (Bersuire) sowie S. 51ff. (Boccaccio). Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 521. – Im XV. Buch, 8. Kap. der Genealogie heißt es entsprechend, die hervorragenden Dichter verbergen unter den Fiktionen „naturalia [...] atque

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V Mit diesem Schritt ist die Konkurrenz von Poetik und Theologie entschärft, denn Dichtung dient nun ausdrücklich anderen Inhalten als sakrale Texte. Dennoch entsteht mit dieser Behauptung ein neues Rechtfertigungs- bzw. Abgrenzungsproblem, denn nun gerät die Dichtung in die Gefahr, gegenüber anderen Disziplinen, nämlich Philosophie und Historiographie, redundant zu sein. Hier gewinnt nun, mehr noch als in den bisherigen Argumentationen, die Bildhaftigkeit von Fiktionen ein besonders großes Gewicht in Boccaccios Überlegungen. Als charakteristische Darstellungsform, die die Dichtung essentiell von anderen menschlichen Disziplinen abhebt, wird sie zum ausschlaggebenden Argument für die Legitimation der Dichtung. Im letzten Teil dieses Beitrags geht es deshalb um solche Argumente, die mehr als die bereits dargestellten – und als Voraussetzungen gleichwohl unübergehbaren Gesichtspunkte – auf die Frage antworten: Was ist die spezifische Leistung von Dichtung bzw. Literatur? Nicht zufällig findet sich eine wichtige Überlegung hierzu in einem zentralen Kapitel der Genealogie mit dem Titel „Quid sit poesis, unde dicta, et quod eius officium“ (XIV, 7). Das Kapitel bringt grundlegende Definitionen der Dichtung und der Dichter, u.a. auch ihrer Abgrenzungen nach außen hin. So räumt Boccaccio am Ende des Kapitels ein, dass es bildhafte Fiktionen, die er zuvor dem „officium“ der Dichter, der „fabularum compositores“ zugeschlagen hatte, auch in anderen Disziplinen gebe. Auch die Rhetorik benötige die Erfindung, die „inventiones“, und daher scheine die Poesie im Grunde in der Rhetorik aufzugehen. Aber: „verum apud integumenta fictionum nulle sunt rethorice partes“; sie hat mit der besonderen verhüllenden Form dichterischer Erfindungen nichts zu tun; „mera poesis est, quicquid sub velamento componimus“.55 Das bedeutet, dass die Verwendung von Fiktionen wohl auch außerhalb der Dichtung begegnet, aber dort kein essentielles Element ist, während sie in der Dichtung unabdingbar ist, weil sie per definitionem deren Wesen ausmacht. Auch von der Philosophie versucht Boccaccio die Dichtung abzugrenzen, und zwar in einem Kapitel, das sich mit dem alten Vorwurf auseinandersetzt, die Dichter seien Affen der Philosophen, das heißt sie leisteten nichts Eigenständiges im Vergleich zur Philosophie. Boccaccio räumt nicht nur ein, dass

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moralia et virorum illustrium gesta et non nunquam, que ad suos deos spectare videntur“ [Boccaccio: Genealogie (Anm. 1), S. 1546]. – Ähnlich hatte schon Petrarca in der Rede anlässlich seiner Dichterkrönung formuliert: „si tempus non deforet [...], possem facile demonstrare poetas, sub velamine figmentorum, nunc fisica, nunc moralia, nunc hystorias comprehendisse“ (Carlo Godi: La “Collatio laureationis“ del Petrarca, in: Italia medioevale e umanistica 13 [1970], S. 1-27; hier: S. 20f.). Boccaccio: Genealogie (Anm. 1), S. 1403.

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die Dichter in der Tat ausschließlich solche Inhalte vermittelten, die mit der Philosophie übereinstimmten; er hebt dies sogar als eine besondere Auszeichnung der Dichter hervor. Dennoch seien die Wege der Dichter und der Philosophen zur Erkenntnis grundsätzlich verschieden. Während der Philosoph alles Unwahre verwerfen und die Wahrheit offen darlegen müsse – daher schmucklose Prosa schreibe – arbeite der Dichter mit Fiktionen, die der kunstvollen Einkleidung der Inhalte dienten. Boccaccio nutzt dieses Thema auf überraschende Weise auch dazu, die allegorische Poetik, die hier natürlich vorrangig im Spiel ist, mit einer mimetischen zu verknüpfen. Die Dichter sind für ihn zwar keine Nachahmer der Philosophen, stattdessen aber Nachahmer der Natur, denn sie messen sich in ihrer Kunst an allem, was die Natur hervorbringt – und nun folgt eine lange Aufzählung, die deutlich macht, dass die bildhafte Seite der Dichtung, in der die Vielfalt der Wirklichkeit durch das Medium der Schrift anschaulich wird, nicht in der dienenden Funktion für die Allegorie aufgeht, sondern einen ästhetischen, nämlich mimetisch-illusionserzeugenden Eigenwert hat: Quod si intuerint velint isti [gemeint sind diejenigen, die die Dichter als „simiae naturae“ kritisieren], videbunt formas, mores, sermones et actus quorumcunque animantium, celi syderumque meatus, ventorum fragores et impetus, flammarum crepitus, sonoros undarum rumores, montium celsitudines et nemorum umbras atque discursus fluminum adeo apte descriptos, ut ea ipsa parvis in licterulis carminum inesse arbitrentur.56

Warum aber – diese Frage ist noch immer offen – sollen die dichterischen Bilder überhaupt sinnvoll sein, wenn man das, was Dichter sagen, auch anders ausdrücken kann? Boccaccio greift, um dies zu beantworten, auf eine Begründung zurück, die man als die ‚anthropologischste‘ und zugleich die ‚boccacceskeste‘ bezeichnen kann. Sie bezieht ihre Stärke gewissermaßen daraus, dass sie nicht mehr hintergehbar ist, denn sie beruft sich auf die Beobachtung der Vielfalt der menschlichen Natur. Boccaccio verwendet das Argument in zweierlei Hinsicht: in Bezug auf den Dichter und in Bezug auf den Leser. Hinsichtlich des Dichters begegnet es in der prägnantesten Weise bereits im ersten Buch der Genealogie, und zwar im dritten Kapitel. Boccaccio hat dort mythographische Zeugnisse über Litigius zusammengetragen, den Sohn des Demogorgon, den er für den Weltschöpfer und Vater aller Götter hält. Anschließend daran wendet er sich an seinen Adressaten, den König von Zypern, und unterstellt diesem eine Frage, die die Frage jedes Lesers sein könnte: Die mythologische Geschichte, die man soeben gelesen hat, mutet den modernen Leser lächerlich an. Warum verwenden die Dichter derartige Geschichten? Können sie ihre Inhalte nicht anders vermitteln? 56

Ebd., S. 1468.

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Habes, rex inclite, ridiculam fabulam, verum eo ventum est ubi oportunum sit a veritate amovere fictionis corticem, sed prius respondendum est persepe dicentibus: ‚Quid poete Dei opera vel nature vel hominum hoc sub fabularum velamine tradidere? Non erat eis modus alter?‘57

Gewiss gibt es andere Wege, räumt Boccaccio sofort ein. Doch wie alle Menschen ein anderes Aussehen haben, so unterscheiden sie sich auch in ihren Entscheidungen und Urteilen (in den „animorum iudicia“). So habe Achilles die Waffen der Muße vorgezogen, Ägisth den Müßiggang den Waffen, Platon die Philosophie allen anderen Tätigkeiten; Phidias habe sich dafür entschieden, mit dem Meißel Statuen zu bilden, Apelles dafür, mit dem Pinsel Bilder zu malen. Und entsprechend erfreue sich der Dichter eben daran, die Wahrheit in Fabeln einzukleiden. In der scheinbar zufälligen Aufzählung steckt offensichtlich ein System: Tugend kontrastiert mit Untugend, die ‚vita activa‘ mit der ‚vita contemplativa‘, nicht-künstlerisches Tun mit künstlerischem. Zudem wird die Dichtung als eine unter zahlreichen Möglichkeiten menschlicher Tätigkeit einerseits aus ihrem Absolutheitsanspruch, den die theologische Poetik für sie beanspruchte, herausgelöst; ihr soll aber andererseits versteckt eine gewisse Überlegenheit zugesprochen werden, da die drei ersten Beispiele – mythologische Gestalten bzw. Philosophie – als Gegenstände der Dichtung verstanden werden können, während die künstlerischen Beispiele als Hinweis auf die Bildhaftigkeit zu verstehen sind, die Dichtung, Bildhauerei und Malerei miteinander verbindet. Auf eine ähnliche Argumentation greift Boccaccio auch im Kommentar zu Dantes Commedia zurück. Hier stellt sich die Verschiedenheit menschlicher Begabungen sogar als gottgewollt dar. Die Menschheit – das ist von der Schöpfung so vorgesehen – kann ihrem umfassenden Zweck nur gerecht werden, wenn die vielfältigen sich ihr stellenden Aufgaben (die „offici“) gewissermaßen ‚arbeitsteilig‘ getragen werden. Deshalb hat die Natur für jeden Menschen eine spezifische Begabung vorgesehen, und es entspricht wiederum der Natur, der individuellen Begabung zu folgen. Dafür zieht Boccaccio an dieser Stelle natürlich – er erläutert ja Dantes Werk – Dante selbst als Beispiel heran; im letzten Buch der Genealogie, in dem Boccaccio von seiner eigenen Berufung zum Dichter spricht, wird er dasselbe Recht für sich beanspruchen. Wenn an diesen Stellen die Produktion von Dichtung aus der natürlichen Vielfalt menschlicher Neigungen abgeleitet wird, dann beansprucht Boccaccio eine entsprechende Begründung immer wieder auch für die Rezeption. In diesen Zusammenhang gehört eine besonders interessante Passage aus dem Trattatello, in der Boccaccio das Argument der Verschiedenheit der „ingegni“ mit der Abgrenzung der Dichtung von anderen Disziplinen verknüpft. Auf die Frage, ob die spezifische Darstellungsweise der Dichtung nun nützlich oder 57

Ebd., S. 82.

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nutzlos sei, folgt die Feststellung, dass die Verschiedenheit der menschlichen „ingegni“ auch verschiedene Arten, Lehren zu vermitteln, erfordere. So gebe es Menschen, die keine syllogistische Beweisführung, jedoch eine Überzeugungsrede verständen und umgekehrt. Und ebenso gebe es Menschen, die schon vor dem Wort „Philosophie“ zurückschreckten, die aber mit Vergnügen zu den „favole“ der Dichter griffen, gerade weil sie dahinter keine Philosophie vermuteten. Trotzdem seien gerade unter diesen viele, die von der Neuartigkeit der fiktiven Geschichte angezogen und auf diesem Wege zu Wahrheitssuchern und Freunden der Philosophie würden. Sono altri, li quali solo il nome della filosofia, non che la dottrina, spaventa, e che con sommo diletto alle lezioni delle favole correranno, non estimando sotto quella alcuna particella di filosofia potersi nascondere [...]. Di questi cotali – non è dubbio – già assai, dalla novità delle favole mossi, divennero investigatori della verità e domestici della filosofia.58

Noch deutlicher stellt Boccaccio an anderer Stelle des Trattatello die spezifische Erkenntnischance heraus, die die bildhaften Fiktionen der Dichtung dem Leser bieten: Dichter erfinden ihre Geschichten, um durch deren Schönheit, also den ästhetischen Reiz, bei jenen Menschen Interesse zu wecken, die weder die philosophischen Beweisführungen noch die Überzeugungsrede anziehen konnten. Auch in Bezug auf diese Stelle ist hervorzuheben, dass Boccaccio damit keine Werteskala der aufgezählten Erkenntniswege postuliert: e perciò favole fecero, più che altra coperta, perché la bellezza di quelle attraesse coloro, li quali né le dimostrazioni filosofiche, né le persuasioni avevano potuto a sé tirare.59

Hinter solchen Äußerungen steht eine Überzeugung von der doppelten Kodierung dichterischer Texte, die ursprünglich aus der Bibelexegese stammt. Ich denke dabei an den Vergleich des Bibeltextes mit einem zugleich tiefen und seichten Gewässer, den Gregor der Große in seinem Kommentar zum Buch Job als Bild für die hermeneutische Unerschöpflichkeit des Sinns heranzieht. Das Wort Gottes, so schreibt er in dem Widmungsbrief zu diesem Kommentar, diene wie ein Geheimnis den Weisen zur Übung (des Geistes) und gleichzeitig den Einfältigen zur Stärkung; was es offen darlegt (im Litteralsinn), ernähre die Kleinen, was es insgeheim bewahrt (im allegorischen Sinn), erhebe die großen Geister zur Bewunderung. Deshalb sei es wie ein zugleich seichter und tiefer Fluss, durch den das Lamm waten und der Elefant schwimmen könne.60 58 59 60

Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 521f. Ebd., S. 475. „Diuinus etenim sermo sicut mysteriis prudentes exerciet, sic plerumque superficie simplices refouet. Habet in publico unde paruulos nutriat, seruat in secreto unde mentes sublimium in admiratione suspendat. Quasi quidam quippe est fluuius, ut ita dixerim, planus et altus, in quo et agnus ambulet et elephas natet“, (Sancti Gregorii Magni Moralia in Iob – Libri I-X, hg. von Marcus Adriaen, Turnhout 1979 [Corpus Christianorum. Series Latina, Bd. 143], S. 6).

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Wenn Boccaccio diesen Vergleich von den biblischen auf profane Texte überträgt,61 so impliziert er damit zweierlei: eine erneute Rechtfertigung der bildhaften Fiktion zum einen und eine daraus resultierende didaktische Potenz dichterischer Werke zum anderen. Aufschlussreich ist nämlich der Kontext, in dem bei Gregor der von Boccaccio zitierte Passus steht. Der Autor warnt dort davor, bei der Exegese der Bibel allzu schnell vom Wortsinn zur Allegorie weiterzugehen; man beraube sich wichtiger Erkenntnisse – in diesem Fall moralischer Art –, die der Litteralsinn enthalte.62 Nun hatte der Litteralsinn biblischer Texte insofern einen grundsätzlich anderen Stellenwert als der poetischer Texte, als er historische Wahrheit beanspruchen konnte. Umso kühner ist es, wenn Boccaccio mit dem Gregor-Zitat den Eigenwert des Wortsinns implizit auch für dichterische Texte postuliert. Da diese als Fiktionen aber nicht historisch wahr sind, kann Boccaccio nur auf die Bildhaftigkeit der dichterischen Erfindung abzielen. Doch nicht nur der Eigenwert des Bildhaften folgt aus dem Gregor-Zitat, sondern auch – wie erwähnt – ein weiterführender didaktischer Wert. Wenn Dichtung mit ihren Fiktionen den ungelehrten und mit ihrem philosophischen Sinn den gelehrten Leser anzusprechen vermag, dann bietet sie dem ungelehrten Leser geradezu die Chance einer geistigen Entwicklung, einer Steigerung seiner Erkenntnisfähigkeit. Ja, man möchte fast etwas anachronistisch behaupten, Boccaccio spreche der Dichtung einen emanzipatorischen Wert zu. Der ästhetische Reiz der Bildlichkeit öffnet denjenigen einen mittelbaren Zugang zur Erkenntnis, denen die wissenschaftlichgelehrten Wege dorthin verwehrt sind. In jedem Fall treffen sich hier Boccaccios theoretische Postulate mit der impliziten Poetik der narrativen Texte, von denen weiter oben die Rede war. Weder im Ameto noch in der Amorosa visione wählt Boccaccio geistig oder moralisch herausragende Protagonisten; in dem einen Text handelt es sich um einen unkultivierten, im anderen um einen Menschen, dessen Geist – mit der biblischen Formel gesprochen – zwar willig, dessen Fleisch aber schwach ist. Beide gelangen jedoch zu einem moralischen bzw. einem Erkenntnisfortschritt, gerade weil sie sich der ästhetischen Attraktion durch das Schauen und durch die Bilder hingeben. So tritt Boccaccio schon in diesen narrativen Texten für eine nachdrückliche Aufwertung der Bildhaftigkeit ein, für die er in den späteren poetologischen Texten, wie hier gezeigt werden konnte, die theoretische Begründung liefern sollte.

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Vgl. Boccaccio: Trattatello (Anm. 37), S. 472. Boccaccio greift auf dasselbe Zitat noch einmal in seinem Dante-Kommentar zurück, und zwar in der allegorischen Erläuterung von Inferno I; vgl. Esposizioni sopra la Comedia (Anm. 43), S. 58. Gregor zitiert Job 31, 16-20 und bemerkt: „Quae uidelicet si ad allegoriae sensum uiolenter inflectimus, cuncta eius misericordiae facta uacuamus“, (Moralia in Iob [Anm. 60], S. 6).

KATHARINA MÜNCHBERG

Immanenz: Torquato Tassos Entdeckung eines ästhetischen Grundbegriffs I Kaum ein anderer Begriff ist in der Literaturwissenschaft so vehement umstritten wie der Begriff der ‚ästhetischen Immanenz‘. Der Gedanke, dass Literatur, bildende Kunst oder Musik einen immanenten Sinn- und Erfahrungsraum eröffnen, der sich durch eine konstitutive Differenz von der Lebenswelt abhebt, konnte sich nie dem ihm entgegengebrachten Zweifels entziehen, dass hier eine prekäre Unterscheidung von Kunstwerk und Nicht-Kunstwerk zu Grunde liege. Immanenz scheint eine tautologische Kategorie zu sein: Ein Kunstwerk ‚ist‘ ein Kunstwerk, weil es das Kunstwerk ‚gibt‘. Die substantialistische Einheit des Kunstwerks, die durch die Evidenz der ästhetischen Erfahrung angezeigt wird, gilt als entscheidendes Kennzeichen der Immanenz: Croce definiert in seiner Estetica das Kunstwerk durch eine innere Konsistenz, in welcher der betrachtende Geist im Akt ästhetischer Erfahrung zu einer (hegelianisch gedachten) Synthese komme.1 Warren und Wellek proklamieren eine ‚innere Form‘ des literarischen Werkes, die sich in dessen semantischen, syntaktischen und phonischen Sprach-Schichten („system of strata“) als Einheit in der Vielheit ausprägt.2 Blumenberg erklärt die Immanenz des literarischen Werkes durch die Vieldeutigkeit und „Oppositionsqualität der poetischen Sprache“, die sich mit einer „positive[n] formale[n] Determination“ verbinde,3 und spricht von einer „Konsistenz des Inkonsistenten, Wahrschein1

2 3

Croce beschreibt die Immanenz des Kunstwerkes durch dessen Ablösung vom lebensweltlichen Bezugsrahmen: „l’opera d’arte è sempre interna; e quella che si chiama esterna non è più opera d’arte“. Seine Forderung nach der Unhintergehbarkeit ästhetischer Erfahrung, die den Immanenz-Begriff ergänzt, geht letztlich auf eine idealistische Subjekt-Theorie zurück. Das Kunstwerk ist für ihn Ausdruck innerer Bewusstseinsakte. (Benedetto Croce: Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale. Bari 1941, S. 56f.). René Wellek u. Austin Warren: Theory of Literature. New York 31942, S. 27. Zum Begriff der ‚inneren Form‘, der dem Neuplatonismus entlehnt ist, vgl. ebd., S. 151. Hans Blumenberg: Sprachsituation und immanente Poetik, in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt a.M. 2001, S. 120-135, hier: S. 133.

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lichkeit aus Unwahrscheinlichem“.4 Staiger, der die Einheit des literarischen Werkes im Stil verwirklicht sieht, fordert gleichzeitig ein subjektives SichVersenken in das Werk.5 Am eindringlichsten hat Peter Szondi das Problem, das aus der Immanenz des literarischen Werkes für die Literaturtheorie erwächst, formuliert: „Es scheint das Dilemma der Literaturwissenschaft zu sein, dass sie nur in solcher Versenkung das Kunstwerk als Kunstwerk zu begreifen vermag“.6 Immanenz setzt also die Differenz von Kunstwerk und Nicht-Kunstwerk voraus sowie die verdichtete Identität eines Sprach-Raums, dessen vielfältiger Einheit und einheitlicher Vielfalt der Interpret sich nur in einer rückhaltlos subjektiven Erfahrung anzunähern vermag. Die Probleme einer solchen substantialistischen Bestimmung von Immanenz treten aber dort hervor, wo der Begriff der Repräsentation ins Spiel kommt. Muss das immanente Kunstwerk, das seine raison d’être ‚in‘ sich hat, sich nicht der Funktion verweigern, Ausdruck ‚von‘ etwas zu sein? Wie bestimmt sich die Relation von Immanenz und Repräsentation? In seinem Buch Die Struktur literarischer Texte hat Jurij Lotman versucht, die Immanenz ästhetischer (das heißt: bildlicher, musikalischer und literarischer) Texte aus ihrer semiotischen Struktur zu erklären. Das ästhetische Werk als begrenzter (‚geschlossener‘) Text differenziere sich von anderen unbegrenzten (‚offenen‘) Texten der kulturellen Rede durch das „Prinzip einer immanenten Kopplung von Ausdruck und Inhalt“.7 Jeder literarische Text steht damit für Lotman im Zeichen einer verdichteten ‚Sinnsättigung‘.8 Der ästhetische Text (als Kunstwerk) unterscheidet sich von nicht-ästhetischen Texten (als Nicht-Kunstwerken) durch seine ‚äußere‘ Grenze, welche der ‚inneren‘ Verdichtung, ja konträren Korrelation der Strukturebenen entspringt. Für Lotman schließt die Immanenz des ästhetischen Textes jedoch prinzipiell die Möglichkeit der Repräsentation ein. Repräsentation bedeutet nach Lotman keine Nachahmung von Wirklichkeit, sondern deren Modellierung. Als ‚sekundäres modellbildendes System‘ baut der Text ein ‚Sujet‘ auf, das einem ‚sujetlosen‘ Text überlagert ist, dem primäre semantische Felder zugrunde 4 5 6 7 8

Ebd., S. 135. Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Zürich 1955, S. 14 und S. 19. Peter Szondi: Zur Erkenntnisproblematik in der Literaturwissenschaft, in: Die Neue Rundschau 73 (1962), S. 146-165, hier: S. 157. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, übers. von Rolf-Dietrich Keil, München 2 1982, S. 40. „Der Text hat die Eigenschaft, begrenzt zu sein. In dieser Beziehung steht er einerseits in Opposition zu allen materiellen Zeichen, die ihm nicht angehören [...]. Andererseits steht er in Opposition zu allen Strukturen, die nicht über das Merkmal Grenze verfügen, also sowohl der Struktur der natürlichen Sprache als auch der Unbegrenztheit (‚Offenheit‘) ihrer RedeTexte“ (ebd., S. 84).

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liegen, deren dichotomische Ordnung ‚ereignishaft‘ überschritten wird.9 Eine solche ‚Weltmodellierung‘ kommt nach Lotman jedem Text zu. Daher kann Lotman sagen, dass auch der begrenzte ästhetische Text ein Modell der unbegrenzten Welt ist.10 Begriffen als semiotische ‚Weltmodellierung‘ (das heißt: als Konstruktion einer konsistenten Welt aus der inkonsistenten Semantik des allgemeinen Diskurses) ist Repräsentation kein Gegenpart, sondern das Generationsfeld der Immanenz. Die Profilierung der ‚thematischen‘ Figur in der Repräsentation erlaubt die Verdichtung der ‚formalen‘ Figur des Werkes in der Immanenz. Verdichtung ist der Ausdruck des Werkes im Werk selbst. Dadurch grenzt sich das Werk gegen die Repräsentation ab, in der es sich ausdrückt, indem es zugleich den Anspruch der Repräsentation, eine Welt darzustellen, zurücknimmt oder zumindest umbiegt auf das Sich-Selbst-Setzen des Werkes. Anders als die substantialistische steht die semiotische Definition der Immanenz damit aber vor einem neuen Problem: dem der ‚Dialektik zwischen Grenze und Verdichtung‘. Indem das Werk sich nach außen abgrenzt, verdichtet es sich nach innen. Doch die Verdichtung ist nicht weniger die Bedingung dafür, dass es überhaupt eine äußere Grenze gibt. Lotman vermag die Prämisse der geschlossenen Struktur des Kunstwerkes nur aufrechtzuerhalten, wenn sie das offene Ereignis der semantischen Grenzüberschreitung impliziert. Mündet die Theorie der Immanenz dann aber nicht in einer Aporie? Es ist erstaunlich und faszinierend zu sehen, dass diese Aporie kein genuines Problem der Moderne ist. Die Denkform von Verdichtung und Grenze, von Innen und Außen wird seit alters her an das Kunstwerk herangetragen. Unausgesprochen regiert sie bereits die platonische Theorie der Kunst als eines ontologischen Abbildes eines Urbildes und geht in der Poetik des Aristoteles in den Begriff der Mimesis über, der weniger die Nachahmung der ‚äußeren‘ Wirklichkeit als vielmehr die ‚innere‘ Logik der fiktionalen Handlungswelt bezeichnet. Mit Beginn der Aristoteles-Rezeption in der italienischen Spätrenaissance wird die Literaturtheorie erstmals eine eigene poetologische Sprache für die Denkform der Immanenz finden. Es ist Torquato Tasso, der in seiner neuen Ästhetik und Poetik – verborgen im Schatten des Aristoteles – die Immanenz der Literatur zu denken beginnt. Im Folgenden wird Tassos Poetik der Immanenz vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Aristoteles dargestellt. Ausgehend von dem bestimmenden Motiv der ‚diskordanten Konkordanz‘, das Tasso aus dem Neuplatonismus entlehnt, wird dann Tassos Epos Gerusalemme liberata mit Blick auf die Dialektik zwischen Vielheit und Einheit, Materialität und Form, Ordnungslosem und Ordnung untersucht. Tassos Poetik ist die Folie, vor der das 9 10

Ebd., S. 332. Ebd., S. 301.

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Problem der Immanenz, das sich in der modernen Literatur-Theorie zur Aporie erweitert, seine geschichtlichen Voraussetzungen preisgibt. Kann man sich des Begriffs der Immanenz bedienen, als hätte er keine Geschichte? Muss man nicht zuerst fragen, woher er kommt? Ist Immanenz nicht eine Denkform, deren Herkunft und Geschichte vergessen sind? II In seinen Discorsi dell’arte poetica (1587 veröffentlicht) nennt Torquato Tasso drei Momente, die für die epische Dichtung („poema eroico“) notwendig sind: die Materie („materia“), die Form („forma“) und das rhetorische Ornament.11 „Formare la materia“ heißt für Tasso die Zauberformel, mit der sich das Kunstwerk bestimmen lässt. Offenkundig ist Tassos Literaturtheorie vom Gedanken einer Synthese beherrscht, welche die metaphysische Opposition von Materie und Form aufhebt und sie in die poetische Einheit des Kunstwerks überführt. Zwischen Materie und Form entfaltet sich eine spannungsgeladene Dialektik: Tasso erklärt, dass zwar die „materia nuda“ eine Disposition zur Form hat, doch erst durch die Kunst jene Form verliehen bekommt, aus der die Einheit des poetischen Werkes hervorgeht. Die Materie (oder auch der thematische Stoff) muss eine Reihe von Voraussetzungen erfüllen, um für die Form der epischen Dichtung geeignet zu sein: Der Stoff muss aus der Geschichte entnommen sein („l’autorità dell’istoria“), er hat die christliche Religion zum Inhalt („la verità della religione“), zugleich aber muss er der Imagination einen Freiraum lassen („la licenza del fingere“) und über eine heroische Aura verfügen („la qualità de’ tempi accomodati e la grandezza de gli avvenimenti“).12 Prinzip und Motor der poetischen Synthese aber ist die Mimesis („imitazione“). Tasso versteht unter „imitazione“ eine poetische Basiskategorie, die sich wiederum in Erzählung („narrazione“) und dramatische Darstellung („rappresentazione“) untergliedert. Entscheidendes Differenzkriterium ist die Anwesenheit des Dichters im epischen Erzählen und seine Abwesenheit in der dramatischen Repräsentation.13 Es ist unverkennbar, dass Tasso sich hier auf die Aristotelische Poetik bezieht: Schon Aristoteles bestimmt die Nachahmung („mímhsiß“) als Grundprinzip aller literarischer Gattungen und unterscheidet dafür zwei Darstellungsweisen der Nachahmung: das mittelbare Erzählen oder das unmittelbare Auftreten von Figuren, die als Stellvertreter der dargestellten Handelnden fungieren.14 So konform Tassos Nachahmungs-Begriff mit dem 11 12 13 14

Torquato Tasso: Discorsi dell’arte poetica, in: ders.: Prose, a cura di Ettore Mazzali, Milano u. Napoli 1959, S. 349-410, hier: S. 349. Ebd., S. 362. Ebd., S. 359. Aristoteles: Poetik, 1448 a21-24.

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Aristotelischen Begriff der Mimesis auf den ersten Blick erscheinen mag, er verschiebt und zerrüttet doch auf eigentümliche Weise die Koordinaten des Aristotelischen Systems – bedingt geradezu dessen Erosion. Was bedeutet die zweifache Semantik von „imitazione“ und „rappresentazione“? Warum ist die epische Dichtung zwar Nachahmung, nicht aber Darstellung (Repräsentation)? Ist die An- oder Abwesenheit einer medialen Instanz wirklich das entscheidende Kriterium für diese eigentümliche Differenz? Tasso hat den aristotelischen Begriff der Mimesis aufgegriffen, erweitert und umbesetzt, indem er zugleich ein mehr neuplatonisches als platonisches Modell der Mimesis restituiert hat. Erinnert sei zunächst an das, was Aristoteles in der Poetik unter Mimesis versteht: die Nachahmung von Handlung („práceoß“). Da die Handlungen vielgestaltig und diffus sind, in der Dichtung aber modellhaft gestaltet werden sollen, bedarf es des Mythos’ als Generator von Ordnung („práceoß ¦ mûqoß £ mímhsiß“); der Mythos, so sagt Aristoteles auch, ist die logische Zusammensetzung der Geschehnisse („súnqesin tôn pragmátwn“).15 Aristoteles kann darum fordern, dass die Nachahmung auf eine einzige und ganze Handlung („tò †lon“) bezogen sein soll.16 Genau durch diese strukturale und konzeptuelle Modellierung von Handlung („mûqoß“) bestimmt sich Dichtung – nicht durch ihre prosodische und rhetorische (Sprach-)Figur. Unter dem Deckmantel der Nachahmung bringt Aristoteles somit das imaginative Potential der Dichtung ins Spiel. Denn das Wesentliche der Dichtung ist es, auch das wirklich Geschehene ‚poetisch‘ darzustellen („poieîn“). Die Kategorie der Nachahmung löst sich damit von der ‚Wirklichkeit‘ des Dargestellten und öffnet sich der imaginativ-potentialen Dimension der Darstellung im Sinne poetischer Wahrscheinlichkeit.17 Wenngleich Tasso den Aristotelischen Nachahmungs-Begriff übernimmt, so indiziert dessen Verknüpfung mit der Denkfigur von Materie und Form doch den verborgenen Neuansatz von Tassos Poetik. Auch diese Verknüpfung hat ihre historische Genealogie. Platon spricht von der Darstellung („mímhsiß“) im Sinne einer Nachahmung, die nicht die eine (Wesens-)Form („eÎdoß“) erfasst, sondern nur die Schattenbilder der materialen Erscheinungen („eÌdwlon“, „fainómena“).18 Im platonischen Sinne ist die Form (oder das Urbild) der Darstellung (oder Nachahmung) entzogen. Anders hingegen bei Plotin: Der Begriff ‚Mimesis‘ bezeichnet für ihn die Partizipation an der Form („eÎdoß“) – was bedeutet, dass die gestaltlose Materie („‰le“) ‚in‘ der Form gestalthaft wird.19 Die geformte Materie hat an der Form (oder dem Einen) teil im Sinne der Immanenz: Die Materie (das Viele) trägt die Form (das Eine) in 15 16 17 18 19

Ebd., 1450 a4-6. Ebd., 1451 a30-36. Ebd., 1451 b6-8. Platon: Politeia, 598b. Plotin: Schriften, gr.-dt., übers. von Richard Harder, Hamburg 1956, I 6, 12.

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sich. Damit sind die Künste selbst im ‚geistigen‘ Besitz der ‚wesenhaften‘ Schönheit: sie sind autonom, das heißt unabhängig von einem sinnlich-körperlichen Modell, weil sie an der (Wesens-) Form partizipieren.20 Im Neuplatonismus bedeutet Mimesis also Partizipation an der Form oder Immanenz: Das Sein ist in allen Seienden anwesend und begreift alle Seienden in sich. Es ist ein univokes Sein: ‚Ein‘ Sein, das sich durch seinen immanenten Ausdruck als ‚Eines‘ in der diffusen Materie expliziert.21 Tassos Nachahmungs-Begriff ist Resultat und Residuum dieses Denkens der Immanenz. Nicht als Darstellung, nicht als Repräsentation einer entzogenen Präsenz bestimmt Tasso die poetische Nachahmung, sondern als Immanenz. Im Zuge dieser Depotenzierung der Repräsentation als eines ‚Verweisens-auf-Anderes‘, muss und kann Tasso die Dichtung durch eine intrinsische Kategorie bestimmen: Es ist die Einheit der Handlung („unità della favola“), die Materie und Form zu ‚einem‘ Werk-Ganzen verbindet. Wieder knüpft Tasso an den Aristotelischen Begriff der Handlung („mûqoß“) an. Auch Tasso versteht die „favola“ als eine logische und in sich konsistente Handlungs-Struktur, die nach immanenten Gesetzen organisiert ist: „intiera è quella favola che in se stesso ogni cosa contiene ch’a la sua intelligenza è necessaria“.22 Doch wieder wird dieser Begriff bei Tasso verschoben und erhält eine essentialistische Konnotation. Denn Tasso bezeichnet die „favola“ als Wesensform („forma essenziale“) des epischen Werks: „la favola è la forma essenziale del poema“.23 Aristoteles hingegen spricht vom „mûqoß“ als Fundament („˜rxç“) und Seele („yuxç“) der Tragödie.24 „Est igitur principium, ac uelut anima Tragoediae, fabula“, so heißt es bei Robortello.25 Tassos Begriff der „favola“ hat nichts mit der Repräsentation im Sinne einer Darstellung von etwas, das außerhalb des poetischen Werks liegt, zu tun. Er bezieht sich auf die Nachahmung als ein ‚inneres Sich-Setzen‘ des Werks selbst. Wie aber kann es eine ‚Selbstsetzung‘ der Nachahmung geben? Heißt Nachahmung nicht gerade, dass das Kunstwerk sich auf das Außen, das Andere und Fremde bezieht? 20 21 22 23 24 25

Plotin: Schriften, V 8, 1. Deleuze hat das Problem des ‚immanenten Ausdrucks‘ herausgearbeitet – vgl. Gilles Deleuze: Spinoza et le problème de l’expression, Paris 1968, S. 157-159. Tasso: Discorsi dell’arte poetica (Anm. 11), S. 369. Ebd., S. 374. Aristoteles: Poetik, 1450 a40-41. Francesco Robortello: In librum aristotelis de arte poetica explicationes, München 1968 (Florenz 1548), S. 63. Mit der essentiellen Bindung der ‚favola‘ an die Nachahmung geht Tasso über Robortellos Mimesis-Begriff hinaus, in welchem es zu einer Gleichsetzung von Mimesis und Nachahmung des Wirklichen kommt. Vgl. Arbogast Schmitt: Mimesis bei Aristoteles und in den Poetikkommentaren der Renaissance – Zum Wandel des Gedankens der Nachahmung der Natur in der frühen Neuzeit, in: Andreas Kablitz u. Gerhard Neumann (Hg.): Mimesis und Simulation, Freiburg 1998, S. 17-52, hier: S. 44.

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Nochmals muss man sich dem Begriff der Nachahmung in einer weiteren Querverbindung widmen, um die weit gefächerte Bedeutungs-Valenz zu erkennen, die er in Tassos Literatur-Theorie annimmt: der Koppelung von Nachahmung („imitazione“) und Wahrscheinlichem („verisimile“). Auch der Begriff des „verisimile“ ist bei Tasso essentialistisch aufgeladen. Tasso spricht davon, dass das „verisimile“ mehr noch als der ‚äußere‘ rhetorische Redeschmuck dem Wesen („essenza“) der Dichtung intrinsisch ist und das poetische Werk vollkommen durchzieht: La poesia non è in sua natura altro che imitazione [...] e l’imitazione non può essere discompagnata dal verisimile, però che tanto significa imitare, quanto far simile: non può dunque parte alcuna di poesia esser separata dal verisimile; ed in somma il verisimile non è una di quelle condizioni richieste nella poesia a maggior sua bellezza ed ornamento, ma è propria ed intrinseca dell’essenza sua.26

Tassos Bestimmung des „verisimile“ bezieht sich auf die literaturtheoretische Diskussion der Zeit, die durch die Rezeption der Aristotelischen Poetik geprägt ist.27 Obgleich für Tasso das „verisimile“ – hierin Aristoteles folgend – die Funktion hat, das (geschichtlich) Partikuläre zu einem (philosophisch) Allgemeinen zu erheben, so mündet seine Argumentation nicht darin, die Repräsentation dieses Allgemeinen (sei es als typisches Handlungsmuster, sei es als exemplarischer Fall) zum Inbegriff der Bestimmung der Literatur zu machen. Es geht Tasso auch hier um die Frage nach der Immanenz des Ästhetischen, die zwar über den gängigen Gedanken des „verisimile“ beantwortet, doch mit Entschiedenheit in einer neuen Metaphysik der Kunst verankert wird. Einen signifikanten Ausdruck hat dies in Tassos Forderung gefunden, das „verisimile“ müsse mit dem „maraviglioso“ grundsätzlich vereinbar sein – eine Forderung, die Tasso mit einer hybriden Überlagerung von aristotelischen und christlichen Denkfiguren begründet. Denn die Unwahrscheinlichkeit des „maraviglioso“ lässt sich über seinen Ursprung aus der ‚übernatürlichen‘ Wahrheit der christlichen Heilsgeschichte („vera istoria“) wiederum als (zumindest metaphysische) Wahrscheinlichkeit verbürgen.28 Diese Verknüpfung von „verisimile“ und „verità“ zeigt an, wie die aristotelischen Begriffe im Rahmen der christlichen Metaphysik so verschoben und depotenziert werden, dass sie zu Bausteinen für eine neue ästhetische Metaphysik geraten. „La poesia non è altro che imitare“ – Wenn Tasso die Nachahmung zu einer poetischen Fundierungskategorie macht, so schließt dies also weit mehr als 26 27 28

Tasso: Discorsi dell’arte poetica (Anm. 11), S. 354-355. Vgl. Bernard Weinberg: A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance, Chicago 1961. Torquato Tasso: Discorsi del poema eroico, in: ders.: Prose, S. 538. Zum Wahrheitsanspruch, den Tasso mit der Kategorie des „verisimile“ verbindet, vgl. Andreas Kablitz: Dichtung und Wahrheit – Zur Legitimität der Fiktion in der Poetologie des Cinquecento, in: Klaus W. Hempfer (Hg.): Ritterepik der Renaissance, Stuttgart 1989, S. 77-122, bes. S. 108-111.

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bei Aristoteles und dem Aristotelismus des Secondo Cinquecento einen essentialistischen Dichtungsbegriff ein. Nachahmung ist für Tasso Teilhabe am Sein. In letzter Konsequenz bedeutet Tassos Nachahmungs-Begriff zwar eine quasi-moderne Option für das Ästhetische als Ästhetisches unabhängig von der Darstellungsfunktion des Kunstwerks, doch resultiert er aus einer Denkform, die in allen ihren Zügen ein neuplatonisches Profil trägt: Die Immanenz des Kunstwerks (gegeben in der Einheit von Materie und Form) ist ein ‚immanenter Ausdruck‘ des Seins. Tassos Literaturtheorie wird von einem ganz bestimmten Ort aus formuliert: Es ist die Überkreuzung der aristotelischen Poetik und der neuplatonischen Metaphysik. Aus dieser Überkreuzung entspringt eine hybride poetologische Kategorie, die zutiefst von unlösbaren Widersprüchen durchzogen ist: die Immanenz des Ästhetischen. Aporie, Widerstreit und Widerspruch scheinen Tassos Entdeckung der Immanenz zu begleiten. Sie haben ihren Gipfelpunkt und exponierten Ausdruck in Tassos Formel der diskordanten Konkordanz („discorde concordia“). Tasso bezeichnet damit die Inklusion des Vielen ‚im‘ Einen, der pluralen Motiv-, Themen-, und Erzähl-Stränge ‚in‘ der Form des epischen Werkes. Damit erscheint die Struktur des Epos’ als analoges Modell der Struktur des Kosmos’, in dem sich Materie und Form, Vieles und Eines in einer heterogenen Synthese zusammenfinden: uno è il mondo che tante e sì diverse cose nel suo grembo rinchiude, una la forma e l’essenza sua, uno il modo dal quale sono le sue parti con discorde concordia insieme congiunte [...] così parimente giudico che da eccellente poeta (il quale non per altro divino è detto se non perché, al supremo Artefice nelle sue operazioni assomigliandosi, della sua divinità viene a partecipare) un poema formar si possa nel quale, quasi in un picciolo mondo, qui si leggano ordinanze d’eserciti, qui battaglie terrestri e navali, [...] qui tempeste, qui incendii, qui prodigii.29

Diese Analogie von Dichtung und Welt gibt Tassos Begriff der Nachahmung eine letzte neuplatonische Facette: Ihre Relevanz liegt in der Gleichsetzung von Natur und Kunst unter dem Aspekt der schöpferischen Hervorbringung. In dem Dialog Il Ficino overo del arte lässt Tasso den Neuplatoniker Ficino die paradoxe Formel aussprechen, dass die Natur die Kunst nachahme: „La natura può imitar l’arte, ma non ogni arte, ma la divina solamente“.30 Dies bedeutet mehr als die provokante Reversion des tradierten literarischen Mimesis-Begriffs. Es bedeutet die Depotenzierung und Demontierung der metaphysischen Opposition von Transzendenz und Immanenz. Es ist die Formel einer radikalen Immanenz, in der sich das Sein in der Vielzahl der differenten Seienden produziert. Sie führt zu dem Horizont einer prä-aristotelischen Metaphysik zurück 29 30

Tasso: Discorsi dell’arte poetica (Anm. 11), S. 387. Torquato Tasso: Il Ficino overo de l’arte, in: ders.: Dialoghi, edizione critica a cura di Ezio Raimondi, Firenze 1958, S. 891-912, S. 898.

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– zu dem Gedanken eines in den Welt-Phänomenen erscheinenden Seins, der nun für das Kunstwerk in Anspruch genommen wird. Ist das Kunstwerk aber Immanenz in diesem radikalisierten Sinne, so ist es nicht nur Einheit, sondern auch ein unendlicher Spielraum der Pluralität und der Differenzen. III Die Verschiebung und Subversion, welche die Aristotelischen Grundbegriffe in Tassos Literaturtheorie erfahren, werden allerdings erst auf der Ebene ihrer literarischen Reflexion ganz erkennbar: in dem Epos Gerusalemme liberata. Bereits Tassos pseudo-aristotelisches Postulat der (Handlungs-)Einheit erweist sich hier als problematisch. Karlheinz Stierle hat gezeigt, dass Tassos Erneuerung des Epos’ zwar eine Gegenbewegung zum ‚verwilderten‘ Erzählen des rinascimentalen Romanzo darstellt, doch dessen Pluralität und Heterogenität einschließt.31 Tassos (offizielle) Poetik der Einheit öffnet sich in der Gerusalemme liberata der Dialektik von Einheit und Vielheit.32 Die poetologische Konstruktion der Opposition von Epos und Romanzo, die Tasso in seinen literaturtheoretischen Schriften proklamiert, und die poetische Dekonstruktion 31

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Zu der grundlegenden These, dass die Pluralität des Romanzo als hybride, in sich widersprüchliche Gattungssynthese von (auf kollektive Erfahrung bezogener) ‚chanson de geste‘ und (auf individuelle Erfahrung bezogenem) ‚romanz‘ zu begreifen sei, die das Ziel verfolge, neue fiktionale und narrative Möglichkeiten des Erzählens zu gewinnen, vgl. Karlheinz Stierle: Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeiten, in: Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, Heidelberg 1980 (Begleitreihe zum GRLMA 1), S. 253-313, hier: S. 258. Mit Blick auf Tassos Gerusalemme liberata hat Stierle ferner gezeigt, wie Theorie des Epos und Werkstruktur in der „immanente[n] Theorie des Werks“ ineinander greifen (Karlheinz Stierle: Erschütterte und bewahrte Identität – Zur Neubegründung der epischen Form in Tassos „Gerusalemme liberata“, in: Susanne Knaller (Hg.): Das Epos in der Romania, Festschrift für Dieter Kremers, Tübingen 1986, S. 383-414, hier: S. 394): „So wird, was auf der Ebene der narrativen Struktur als ein Verhältnis von narrativer Linearität und narrativer Digression, von epischer Einheit und romanesker Vielfalt beschreibbar ist, auf der Ebene des Werks zur Darstellung von Erscheinungsformen der gefährdeten und der geretteten Identität, in denen sich gefährdetes und gerettetes Epos spiegeln“ (ebd., S. 395). Inwieweit Tasso sein Einheits-Postulat in der Gerusalemme liberata einlöst, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Die These einer Reduktion des Vielen auf das Eine im Zuge einer repressiven konterreformistischen Tendenz vertritt Sergio Zatti: L’uniforme cristiano e il multiforme pagano nella „Gerusalemme liberata“, in: Belfagor 31 (1976), S. 387-413. Zur These der Subordination des Vielen unter eine ideologische (ethische) Einheit vgl. Georges Güntert: L’Epos dell’ideologia regnante e il romanzo delle passioni – Saggio sulla „Gerusalemme Liberata“, Pisa 1989, S. 62. Mit Blick auf Tassos Poetik generell spricht Gerhard Regn von manieristischen Tendenzen, die den „Normen des rinascimentalen Klassizismus“ unterstellt sind (Tasso und der Manierismus in: Romanistisches Jahrbuch 38 [1987], S. 99129, hier: S. 125).

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dieser Opposition stehen in einem Korrespondenzverhältnis. Die Debatte um Epos und Romanzo bezeichnet bei Tasso mehr und anderes als eine rein gattungstheoretische Reflexion: Sie indiziert die ‚ästhetische Dialektik des Kunstwerks‘, die paradoxen und heterogenen Synthesen, die sich im Feld seiner Immanenz entfalten. Pluralität ist in der Gerusalemme liberata allgegenwärtig; in den abbrechenden und immer neu sich verknüpfenden Handlungssequenzen, die mit der Figur des Rinaldo verbunden sind, hat dies einen besonderen Ausdruck gefunden.33 Rinaldo, der jüngste und wagemutigste der Ritter aus Goffredos christlichem Heer, betritt nach einer langen Irrfahrt im 16. Gesang die heidnische Zauberwelt der Armida auf den glückseligen Inseln („Isole fortunate“). Die Perspektivierung dieser Zauberwelt geschieht durch die beiden christlichen Ritter Carlo und Ubaldo, die Rinaldo zum Heer Goffredos zurückbringen sollen. Nachdem Carlo und Ubaldo in den Garten im Innern des labyrinthischen Palastes der Armida eingedrungen sind, bietet sich ihnen ein ebenso reizendes wie erschreckendes Schauspiel: Inmitten einer poetisch-magischen Naturszenerie, in der die Bäume gleichzeitig Früchte und Blüten tragen und ein Papagei in menschlicher Sprache ein Liebeslied singt, erblicken sie Rinaldo – die geliebte Armida umschlungen haltend –, der im Taumel des vollkommenen Liebesglücks seine christlich-kriegerischen Pflichten vergessen hat. Dieses Bild der Liebenden stellt eine poetisch-philosophische Metapher der Immanenz dar. Denn wie Armida sich in dem Spiegel, den ihr Rinaldo hinhält, selbst betrachtet, so spiegelt sich Rinaldo in den Augen der Geliebten: ella del vetro a sé fa specchio, ed egli gli occhi di lei sereni a sé fa spegli.34

Armida wiederum kann in der von Liebe entflammten Gestalt Rinaldos ihre Schönheit ablesen: la forma lor, la meraviglia a pieno piú che il cristallo tuo mostra il mio seno (XVI, 21, 7-8).

Rinaldo versichert ihr, dass ihre Schönheit so übergroß ist, dass sie kein Spiegelbild zu fassen vermag, sondern allein im Kosmos, im Himmel und den Sternen, angemessen widerstrahlen kann:

33

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Zur Rinaldo-Handlung als Rekurs auf die Welt des ‚romanzo‘ und ihrer komplexen Rückbindung an das ‚poema eroico‘ vgl. Gerhard Regn: Schicksale des fahrenden Ritters – Torquato Tasso und der Strukturwandel der Versepik in der italienischen Spätrenaissance, in: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels, Tübingen 1991, S. 4568, hier: S. 48. Torquato Tasso: Gerusalemme liberata, a cura di Lanfranco Caretti, Milano 1979, XVI, 20, 7f. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe zitiert.

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Non può specchio ritrar sí dolce imago, né in picciol vetro è un paradiso accolto: specchio t’è degno il cielo, e ne le stelle puoi riguardar le tue sembianze belle (XVI, 22, 5-8).

Die Schönheit ist der Liebenden, dem Geliebten und dem Kosmos immanent. Tasso spielt hier mit der zweifachen Semantik des Schönen: als Metapher der ontologischen und ästhetischen Immanenz. Es ist in der Forschung wiederholt auf die poetisch-poetologische Selbstreflexivität dieser Szene hingewiesen worden.35 Denn Armidas Zauberwelt ist explizit eine Welt der Kunst und des künstlichen Scheins. Sie ist das Simulacrum eines ursprünglichen Paradieses,36 das den Inbegriff allen Glücks als entgrenzte Sinnlichkeit und als Taumel vor der körperlichen Schönheit erfahrbar macht – und damit jenen Vorwurf gegenüber der Kunst reproduziert, der ihr seit alters her gemacht wurde: Sie sei bloß Schein, nicht Anwesenheit des Seins. Doch dieses singuläre Motiv des ästhetischen Scheins ist nicht von einer zweiten Motivik zu lösen, die das Ganze des Werkes durchzieht: dem Sein der historischen Wirklichkeit. Auch Carlo und Ubaldo halten Rinaldo einen Spiegel vor: das Schild des Zauberers von Ascona. Wenn der Spiegel Armidas als selbstreflexive Metapher für das Wahrscheinliche („verisimile“) ästhetischer Schönheit verstanden werden kann, so ist das Schild eine Metapher für die Wahrheit („verità“) christlicher Historie. Als Rinaldo sich darin betrachtet, wird er beim Anblick seiner unritterlichen, verweiblichten Gestalt von Reue ergriffen und verlässt die Geliebte. Der Zauber Armidas ist nun gebrochen. Er ist in dem Moment gebrochen, in dem die Immanenz des Schönen als Schein bezogen auf die Immanenz des Schönen als Sein wird. So muss Armidas Zauberreich letztlich zerfallen, doch nur, um im Reich der Kreuzzüge neu und gewandelt aufzuleben. Die Liebesidylle erweist sich damit als eine singuläre Episode, die in das Sinnganze des Epos integriert ist und ihm doch widerstreitet. Aus dieser defigurativen Konfiguration von singulärer Episode und epischem Ganzen, von Diskontinuität und narrativer Kontinuität entspringt die differentielle Immanenz des Werkes. Die Figur des Rinaldo ist wie keine andere Figur der Gerusalemme liberata ein Beispiel für die Wiederholung und Varianz der Opposition von Täuschung und Enthüllung, von Maskierung und Demaskierung, von Schein und 35

36

Vgl. Jo Ann Cavallo: Armida – La funzione della donna-maga nell’epica tassiana, in: Torquato Tasso e la cultura estense, a cura di Gianni Venturi, Firenze 1999, 3 Bde., Bd. 1, S. 99114, zum Spiegelmotiv vgl. im selben Band Gianni Venturi: Armida come un paesaggio, S. 203-217. Zum Thema von Simulation und Dissimulation in dieser Szene vgl. Sergio Zatti: L’ombra del Tasso – Epica e romanzo nel Cinquecento, Milano 1996, S. 139.

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Sein. Aus Zorn und Scham darüber, dass Rinaldo sie verlassen hat, fasst Armida im 17. Gesang den Entschluss, im Heer der Heiden gegen die Christen zu kämpfen. Sie begibt sich im Glanz ihrer Waffen und eines großen Gefolges nach Gaza, wo der ägyptische König ein großes völkerreiches Heer um sich gesammelt hat. Unterdessen sind Rinaldo und seine Gefährten dem Bann der glückseligen Inseln entronnen und haben bei Einbruch der Nacht das Gestade Palästinas erreicht, wo sie der Zauberer von Ascona erwartet. In seinen Grußworten erinnert er Rinaldo an seinen historischen Auftrag. Die Sünden, die Rinaldo begangen hat – den zorngeleiteten Totschlag an dem christlichen Ritter Gernando und die Preisgabe der Vernunft an die Sinneslust –, soll er durch seine Bewährung im Kampf und durch den von Gott ihm vorbestimmten Ruhm auslöschen. Der folgende 18. Gesang ist dem Aufbruch Rinaldos vom Heerlager Goffredos und dem Brechen des Zauberbanns gewidmet, der über dem Wald liegt, in dem die Christen das Holz für ihre Kriegsgeräte schlagen. Allein verlässt Rinaldo im Morgengrauen das Heerlager, um den Ölberg zu besteigen. Rinaldos tiefer Demut im Gebet entspricht die gewaltige Schönheit der aufgehenden Sonne, deren rötliches Licht sich auf seiner Rüstung und an den umgebenden Hügeln spiegelt. Benetzt vom Tau des Himmels erglänzt Rinaldos aschenfarbenes Gewand plötzlich in hellem, reinen Weiß: La rugiada del ciel su le sue spoglie cade, che parean cenere al colore, a sí l’asperge che ’l pallor ne toglie e induce in esse un lucido candore (XVIII, 16, 1-4).

Die innere Verwandlung Rinaldos wird hier nicht nur durch ein äußeres (sichtbares) Zeichen – der Veränderung seiner Kleidung – verdeutlicht. Es ist dies zugleich eine Reminiszenz an die Transfiguration Christi auf dem Berg Tabor, wie sie das Matthäus-Evangelium erzählt.37 Die Veränderung des Gewandes steht dabei für die unsichtbare, innere „glorificatio Christi“. Wenn sich Tasso an dieser Stelle auf eine christologische Bedeutungsschicht bezieht, so wird diese jedoch im literarischen Text keineswegs ausgespielt, sondern ist diesem in ‚allegorischer‘ Opazität impliziert.38 Die christliche, transzendente Bedeutung ist in den Episoden gleichsam eingeschlossen, ohne deren singulären, punktuellen und intensiven Charakter zu sprengen. In der Gerusalemme liberata entfaltet sich die epische Einheit in episodischer Dynamik. Daher kann Tasso die Beschreibung von Rinaldos Reue und 37 38

Mt.17,1. Im Zuge der konterreformistischen Zensur, legitimiert Tasso die Obskurität des poetischen Textes über dessen allegorische Struktur. Vgl. Torquato Tasso: Giudicio sovra la „Gerusalemme“ riformata, a cura di Claudio Gigante, Rom 2000, S. 18.

Immanenz: Torquato Tassos Entdeckung eines ästhetischen Grundbegriffs

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Buße unmittelbar in die romaneske Darstellung seines Eindringens in den Zauberwald überführen. Diese Szene ist intertextuell so aufgeladen, dass ihr ästhetisch-artifizieller Charakter herausgestellt wird.39 Schon als Rinaldo sich dem Wald nähert, hört er eine harmonische Melodie erklingen, in der viele einzelne Stimmen – von Wind, Gewässern, Vögeln, Menschen und Instrumenten – zusammenklingen. Eingedrungen in das Dickicht des Waldes, dessen Artifizialität an Armidas Zauberreich erinnert, stößt er auf einen wunderlichen Myrtenbaum, der die anderen Bäume überragt. Plötzlich beginnt sich der Myrtenbaum zu öffnen und entlässt das Scheinbild der geliebten Armida: „donna mostrò ch’assomigliava a pieno / nel falso aspetto angelica beltade“ (XVIII, 30, 5-6). Wie in Armidas Zauberreich verbirgt auch hier die zum ästhetischen Schein gewandelte Materie die ‚immanente Form‘ dämonischer Geister. Doch Rinaldo lässt sich diesmal nicht betören. Er greift zum Schwert, um den Myrtenbaum zu fällen. Als der Baum gefällt ist, löst sich der Zauber, und der Wald kehrt in seinen Naturzustand zurück. Im Getümmel der Schlacht um Jerusalem kommt es im Schlussgesang zu einem letzten Zusammentreffen von Armida und Rinaldo und zu einer prekären, eigenartig offenen Lösung des vorangegangenen Konflikts zwischen individuellem Liebesglück und geschichtlichem Auftrag. Rinaldo tritt inmitten des feindlichen Heeres Armida entgegen. Schon legt sie einen Pfeil auf den Bogen, um Rinaldo zu töten. Doch an Rinaldos Rüstung prallen die zu sanft gesendeten Pfeile ab. Nachdem die heidnischen Truppen besiegt sind, nimmt Rinaldo die Verfolgung der flüchtenden Armida auf, bis er sie in einem dunklen Tal einholt und umarmend festhält. Armida ist von einem tiefen inneren Zwiespalt zerrissen. Schmerz und Freude über die Anwesenheit des Geliebten, Zorn und Liebe, Furcht und Glück fallen in ‚einem‘ konträren Moment zusammen. Doch Rinaldo schwört ihr ritterlichen Beistand und bittet sie um ihre Konversion zum Christentum. Diese Schlussszene ist so oft als ‚Happy End‘ verstanden worden, dass man vergisst, wie unpräzise und voller utopischer Zukunftsmusik sie ist. Die prekäre Balance zwischen Heidentum und Christentum, Magie und Wirklichkeit, Liebeswahn und Kriegsgewalt wird auch hier noch in der Schwebe gehalten. Das zweideutige Ende der Rinaldo-Handlung ist ein letztes Beispiel und poetisches Bild für das verborgene Erzählprinzip der Gerusalemme liberata: die Immanenz. Im Vielen ist das Eine expliziert, das Eine wiederum impliziert das Viele. Diese Dialektik von Vielem und Einem vollzieht sich in pluralen, episodischen Synthesen, die sich der ‚einen‘ Synthese des Werkes als Ganzem einzeichnen, sie erschüttern und aufbrechen. Die geschlossene Struktur der 39

Auf Lukians Pharsalia als Hypotext der Zauberwald-Episode hat Vincenzo di Benedetto hingewiesen (Gerusalemme liberata XVIII – tra storia e invenzione, in: Belfagor 42 [1987], S. 570-580, hier: S. 575).

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Gerusalemme liberata öffnet sich in ihrem Innern einer strukturlosen Dynamik. Die Struktur wird zum Ereignis, zur ästhetischen Setzung des Kunstwerks, das die Unbedingtheit dieser Setzung zugleich widerruft. IV Tassos Gerusalemme liberata erzählt vom Sieg des Christentums über das Heidentum, des Epos’ über den Romanzo, des Einen über das Viele. Doch diese hierarchische Opposition wird immer wieder durchbrochen. Tassos Erneuerung des Epos’ stellt keine Restitution einer ideologischen Ordnung des Einen dar, die im Bann ihres unwiederbringlichen Verlustes nochmals aufgerufen und im Medium der Kunst erneut inszeniert würde. Sie bedeutet im Gegenteil eine Öffnung auf das Viele, Singuläre und Differente. Im Feld des Ästhetischen reflektiert die Gerusalemme liberata somit jene theoretische Figur, die Tasso im Feld des neuplatonischen Denkens entdeckte: die der diskordanten Konkordanz. Es ist die Formel der Immanenz, unter welche die Kategorien von Einheit und Vielheit ‚gemeinsam‘ fallen, ohne ihre ‚konträre Spannung‘ zu verlieren. Dass Immanenz von einer metaphysischen zu einer ästhetischen (Denk-) Figur wird, geschieht nicht zufällig in einer Epoche, in der die wieder entdeckte Aristotelische Poetik die Folie für das neue Reflexiv-Werden der Literatur bildete. Das Paradigma der Repräsentation, das für die mittelalterliche und nachmittelalterliche Literatur gültig war und diese unter das Zeichen des ‚Sich-Darstellens‘ eines transzendenten Sinns stellte, der im Grunde undarstellbar bleiben musste, wird abgelöst durch das Paradigma einer neu verstandenen, ästhetisch besetzten Repräsentation. Bereits in Ariosts Orlando furioso, jenem großartigen, vielschichtigen und verwirrenden Romanzo, ist es nicht mehr ein transzendenter Sinn, sondern sind es die Verknüpfungen des Imaginären, die zum Ariadnefaden in den labyrinthischen Verzweigungen der Erzählung werden. Bei Ariost fügt sich die Vielfalt der Erzählmomente durch das Imaginäre zu einer poetischen Synthese. Doch erst Tassos Restriktion der Pluralität des Romanzo und die Rückbindung des Imaginären an die Einheit des epischen Gedichts erlaubt die Entdeckung der Immanenz als eines Grundbegriffs und einer Grundfigur des Ästhetischen. Erst Tassos so restaurativ erscheinendes Epos agiert das doppelte Profil der Immanenz aus: ihr Innen und ihr Außen, ihren imaginär besetzten Schein und ihr ästhetisches Sein. In der modernen Literaturtheorie sind die geschichtlichen Spuren dieser Entdeckung nicht mehr sichtbar. Dennoch kehren die Probleme wieder, die bereits Tasso zur unruhevollen Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Poetik trieben und die er nicht anders zu lösen vermochte als mit einer zwei-

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deutigen Umbesetzung ihrer Begriffe. Jenseits ihres historischen Kontextes – des unausgesprochenen Streites zwischen Aristotelischer Dichtungslehre und Neuplatonischer Seinslehre – sind Tassos Literatur-Theorie und ihre literarische Reflexion in der Gerusalemme liberata ein leitendes Beispiel für die Fragen, die sich bei einem ‚überhistorischen‘ Blick auf die Literatur stellen. ‚Immanenz‘ ist ein Begriff, der in der literaturtheoretischen Debatte des 20. Jahrhunderts – sei es im substantialistischen (Croce und Staiger), sei es im formalistisch-strukturalistischen (Lotman) Lager – mit einer Reihe von fragwürdigen Prämissen belegt wird. Bedeutet Immanenz die Selbst-Setzung des Kunstwerks? Wie aber kann das Kunstwerk sich selbst setzen? Schließt nicht eine solche Setzung zugleich eine setzungslose Dialektik ein, eine Bewegung zwischen These und Anti-These, zwischen Werk und Wirklichkeit, zwischen Form und Materie? Und kann die Synthese aus diesen Gegensätzen nicht nur eine aporetische Synthese sein, eine unmögliche Synthese, die an ihren metaphysischen Grund-Oppositionen scheitern muss? Im gegenläufigen Spiel von Setzung und ihrer dialektischen Aushöhlung erweist sich das ästhetische Werk (erweist sich Tassos Werk) als ein Ereignis. Was heißt Ereignis? Es ist das Aufscheinen eines potentiellen Sinns, vorhanden in den Relationen der Zeichen, der sich dennoch nie aktualisiert. Es ist die Eröffnung einer potentiellen Form, die sich in der Materialität der Sprache herauskristallisiert und doch nie eine definitive Gestalt annimmt. Das Ereignis ist ein unendliches Übergehen, Überschreiten und Durchkreuzen der Grenzen, in denen es sich vollzieht. Es ist nicht der Sinn und nicht das Zeichen, nicht die Form und nicht die Materie, sondern deren Ineinander-Greifen: Es ist die dialektische Bewegung der Immanenz. Über seine Grenzen von Innen und Außen hinweg ermöglicht das Kunstwerk das Ereignis der Immanenz. Der Tiefenhorizont der Potentialität, in welchem sich das Ereignis der Immanenz abspielt, lässt sich mit den Mitteln der strukturalen Analyse weder beschreiben noch erkennen. Er entzieht sich dem Theorie-Paradigma der Struktur. Zwar hat das Kunstwerk die Möglichkeit, seine strukturelle Oberfläche offen zu legen, doch durchschlägt es sie zugleich und muss seiner inneren Verdichtung Raum geben, die potentiell bleibt und allein in einer endlosen Reihe ‚imaginärer Synthesen‘ hervortritt.40 Das Kunstwerk – in seiner verdichteten, poetischen Potentialität – öffnet sich einer strukturlosen Bewegung, die zwischen den singulären Elementen, den poetischen Bildern und Figuren hinund hergeht, ohne eine Konfiguration aufzuzeichnen, die nicht auch Defiguration ist, ohne eine Zentrierung zu produzieren, die nicht auch Dezentrierung 40

Zum Imaginären als Korrelat der ästhetischen Immanenz vgl. Karlheinz Stierle: Die Absolutheit des Ästhetischen und seine Geschichtlichkeit, in: ders.: Ästhetische Rationalität – Kunstwerk und Werkbegriff, München 1997, S. 42-64, hier: S. 53.

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ist. Je mehr das Ereignis der Immanenz sich aber in der Tiefe der ästhetischen Potentialität abspielt, desto weniger kann es durch eine andere, fremde Ordnung der Sprache oder des Seins erfasst werden. Immanenz, ein Residuum der Metaphysik, ist sich im Feld der ästhetischen Theorie fremd. Dennoch ist Immanenz eine Kategorie, die wie keine andere das Ästhetische bezeichnet. Sie ist es deshalb, weil hier der unausgesprochene Impetus ästhetischer Werke – ein Kunstwerk als Kunstwerk zu sein – als dessen Selbstwiderspruch (nicht als dessen Selbstreflexion) und dessen Möglichkeit (nicht dessen Wirklichkeit) in den Blick der Theorie tritt.

BRIGITTE KAPPL

‚Exemplar vitae‘ – Der Gegenstand von Dichtung bei Aristoteles und seinen Interpreten im Cinquecento Es dürfte kaum eine Epoche der europäischen Geistesgeschichte geben, in der die Frage, wie Literatur zu bestimmen sei, so virulent gewesen ist wie im 16. Jahrhundert in Italien, und nicht zu Unrecht ist das Cinquecento deshalb als „Age of Criticism“ bezeichnet worden.1 Die Literaturtheorie dieser Zeit beeindruckt nicht nur durch ihren bloßen Umfang – das Verzeichnis der Primärliteratur in Weinbergs Standardwerk The History of literary criticism in the Italian Renaissance füllt 42 Seiten –, sondern auch durch die inhaltliche Breite und Intensität der Diskussion, was ihr eine durchschlagende Wirkung auf die Folgezeit beschert hat: Die gesamte europäische Poetik bis ins 18. Jahrhundert, insbesondere die Doctrine classique in Frankreich, ist ihr verpflichtet, und selbst in gegenläufigen Bewegungen wie der Genieästhetik lebt sie als Feindbild fort. Der strahlende Leitstern in der weit verzweigten Diskussion des Secondo Cinquecento ist die Poetik des Aristoteles – selbst Scaliger, der in seinen einflussreichen Poetices libri septem Aristoteles häufig kritisiert, tituliert den griechischen Philosophen als „imperator noster, omnium bonarum artium dictator perpetuus“.2 Zwischen 1548 und 1575 entstehen fünf große Kommentare zur Poetik des Aristoteles,3 daneben eine Fülle von eigenständigen Traktaten, die mehr oder weniger stark auf sie rekurrieren. Dass die Rezeption des Aristotelestextes mit einer tief greifenden Veränderung in zentralen Aspekten der Theorie einhergeht, kann mittlerweile als ‚communis opinio‘ der Forschung gelten; die Beschreibung dieser Verände1 2 3

So der Titel einer wichtigen Monographie zum Thema: Baxter Hathaway: The Age of Criticism: The Late Renaissance in Italy, Ithaca, New York 1962. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem, Neudruck der Ausgabe von 1561, eingel. von August Buck, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 359. Francesco Robortello: Explicationes in Librum Aristotelis, qui inscribitur De Poetica (1548), München 1968, Vincenzo Maggi u. Bartolomeo Lombardi: In Aristotelis Librum De Poetica Communes Explanationes (1550), München 1969, Pietro Vettori: Commentarii in Primum Librum Aristotelis de Arte Poetarum (1560), München 1967, Lodovico Castelvetro: Poetica d´ Aristotele Vulgarizzata e Sposta, hg. von Werther Romani, 2 Bde., Roma u. Bari 1978f., Alessandro Piccolomini: Annotationi nel libro della Poetica d´Aristotele, Vinegia 1575.

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rung bedarf jedoch der Präzisierung, weil sie ihrerseits auf einem einseitigen Aristotelesverständnis beruht. Aristoteles wird nämlich in der Regel als Exponent einer ‚ästhetischen‘ Dichtungskonzeption vereinnahmt, die dem literarischen Werk einen autonomen Status zubilligt und allein nach den internen Strukturmerkmalen des ästhetischen Gebildes fragt. Demgegenüber binde die Theorie des Cinquecento die Dichtung an ihr äußerliche Kriterien, indem sie ihr eine moralische Zwecksetzung aufoktroyiere und sie auf rational erfassbare Regeln festlege. Rhetorisierung, Rationalisierung, Moralisierung – so lautet die Diagnose, mit der die Literaturtheorie der Renaissance meist sofort als unheilbarer Patient ins Sterbezimmer abgeschoben wird.4 Tatsächlich müsste aber nach diesen Kriterien Aristoteles selbst ein ähnliches Verdikt treffen.5 Denn auch seine Poetik ist um die Formulierung rational fassbarer Kriterien für den dichterischen Produktionsprozess bemüht. Dass ferner Kunst grundsätzlich von ethischer Relevanz ist, kommt nicht nur im achten Buch der Aristotelischen Politik zum Ausdruck; auch in der Poetik wird eine ethische Dimension von Dichtung deutlich: Gegenstand von Dichtung ist das Handeln von Menschen, das zu Glück oder Unglück führt, und erst der erkennende Mitvollzug der Handlung auf Seiten der Zuschauer löst die entsprechenden Emotionen aus. Die emotionale Wirkung der Dichtung beruht also auf einer bestimmten Art von Erkenntnis, die sich auf ethisch relevante Gegenstände bezieht. Und schließlich erklärt Aristoteles die Dichtung auch nicht zu einer ‚ontologiefreien Zone‘. Auch wenn der Dichter sich nicht an einer äußeren Wahrscheinlichkeit oder an den Bedürfnissen des Publikums orientiert, schafft er doch mitnichten eine autonome Welt, die von den Gesetzen der Realität unabhängig wäre. Denn wenn er versucht, einen Charakter in seinen Äußerungen und Handlungen möglichst prägnant herauszuarbeiten, so dass in einer Szene zum Vorschein kommt, wes Geistes Kind einer ist – eben dies ist bei Aristoteles die Aufgabe des Dichters –, geht er gerade dem faktischen Handeln der Menschen auf den Grund; er entführt den Leser nicht in eine andere, schönere Welt, sondern erschließt ihm seine eigene. 4

5

Vgl. z.B. Daniel Javitch: The assimilation of Aristotle´s Poetics in sixteenth-century Italy, in: The Cambridge History of Literary Criticism, hg. von Glyn Norton, Cambridge 1999, S. 5365, hier: S. 56 und S. 58, August Buck: Dichtungslehren der Renaissance und des Barock, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 9, hg. von August Buck, Frankfurt a.M. 1972, S. 28-65, hier: S. 42f. und S. 45, Bernard Weinberg: A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance, 2 Bde., Chicago 1961, Bd. 1, S. 350-352, ebenso Danilo AguzziBarbagli: Humanism and Poetics, in: Renaissance Humanism. Foundations, Forms, and Legacy, hg. von Albert Rabil Jr., Bd. 3: Humanism and the Disciplines, Philadelphia 1988, S. 85169, hier: S. 108 und S. 112f. In der Tat schätzt z.B. Galvano della Volpe die Aristotelische Poetik als rationalistische Theorie (gegenüber idealistisch-romantischen Ansätzen) ein – er wertet dies allerdings positiv, vgl. Galvano della Volpe: Poetica del Cinquecento, Bari 1954, S. 20-25.

Der Gegenstand von Dichtung bei Aristoteles und seinen Interpreten

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Es ist deshalb nicht statthaft, die Entwicklung der Poetik von Aristoteles hin zu seinen Renaissance-Kommentatoren auf den Gegensatz Autonomie – Außenbezug, ästhetisch – ethisch oder ähnliches zu reduzieren. Im Folgenden soll nun versucht werden, einige Aspekte des Wandels unter Verzicht auf diese oben genannten Kategorien zu beschreiben. Im Mittelpunkt wird dabei die Frage nach dem Gegenstand der Dichtung und nach ihrem Verhältnis zur Realität stehen. Dazu soll zunächst die aristotelische Position skizziert6 und dann vor diesem Hintergrund einige charakteristische Konturen der Renaissancedeutung sichtbar gemacht werden.7 Am Anfang der Poetik bezeichnet Aristoteles die spezifische Leistung (dúnamiß) der Dichtung als Nachahmung (mímhsiß),8 und zwar, wie es im zweiten Kapitel heißt, als Nachahmung menschlichen Handelns.9 Für die Frage, welchen Sinn der Begriff Mimesis in der Poetik hat, ist das vierte Kapitel grundlegend. Aristoteles nennt dort folgende Ursachen für die Entstehung der Dichtung: Der Mensch sei mehr als alle anderen Lebewesen zur Mimesis befähigt, und auch die Kinder lernten zunächst durch Mimesis. Außerdem freuten sich die Menschen über Nachgeahmtes (mimëmata). Und diese Freude deutet Aristoteles als Freude am Lernen. So betrachteten wir sogar die treffende Darstellung von Dingen, vor denen wir in der Realität Abscheu empfänden, mit einer gewissen Lust, weil wir mit Hilfe der Darstellung die Sache besonders gut erkennen könnten.10 Gelungene Mimesis vermittelt also Erkenntnis. Grundsätzlich erkennt man eine Sache dann, wenn man weiß, was immer und nur zu genau dieser Sache gehört, das heißt wenn man ihre sachliche Bestimmtheit (eÎdoß) erkennt. Für den Dichter, dessen Gegenstand menschliches Handeln ist, bedeutet das: Er muss Handeln so darstellen, dass es durchsichtig wird auf sein Bestimmtsein hin. Seine Bestimmtheit erhält das Handeln aber nach Aristoteles dadurch, dass es Äußerung eines in bestimmter Weise profilierten Charakter ist und dass sich in ihm zeigt, was ein Mensch vorzieht oder meidet. Im Unterschied zum Philosophen beschäftigt sich der Dichter nicht mit den charakterlichen Prämissen als solchen und der Frage, inwiefern sie Ausformungen menschlicher Seelenvermögen im Allgemeinen sind, sondern er zeichnet konkrete Handlungsverläufe. Aber er tut dies in der Weise, dass die 6

7

8 9 10

In meiner Skizze folge ich der Aristoteles-Interpretation von Arbogast Schmitt: Die Literatur und ihr Gegenstand in der Poetik des Aristoteles, in: Thomas Buchheim u.a. (Hg.): Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Hamburg 2003, S. 184-219. Zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit den Poetikkommentaren des Cinquecento, die auch die Hamartia- und Katharsisproblematik einbezieht, siehe Verf.: Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento, Diss. Marburg 2001. Aristoteles: Poetik, 1447 a8-16. Ebd., 1448 a1. Vgl. 1449b 24 und 36f. Ebd., 1448 b4-17.

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Handlung aus den charakterlichen Anlagen der Agierenden heraus verständlich werden; nur ein solches Handeln ist bei Aristoteles im eigentlichen Sinne menschliches Handeln.11 Der skizzierte Zusammenhang von Charakter und Handlung ist von fundamentaler Bedeutung für das Aristotelische Dichtungsverständnis. Erst von dieser Basis aus gewinnen die Begriffe, die Aristoteles im wichtigen neunten Kapitel der Poetik zur Bestimmung der Aufgabe des Dichters gebraucht, ihren Sinn. „Nicht das zu sagen, was geschehen ist, ist die spezifische Aufgabe (Érgon) des Dichters“, heißt es dort, „sondern das, was geschehen könnte, und das Mögliche, wie es wahrscheinlich oder notwendig ist.“12 Aus diesem Grund sei die Dichtung auch „philosophischer“ als die Geschichtsschreibung; denn mehr als diese stelle sie ein „Allgemeines“ (kaqólou) dar.13 Und dieses Allgemeine bestehe darin, dass „es dem in bestimmter Weise Beschaffenen zukommt, in bestimmter Weise zu reden oder zu handeln, wie es wahrscheinlich oder notwendig ist.“14 Schon die Formulierung dieses Satzes weist darauf hin, dass „Wahrscheinlichkeit“ und „Notwendigkeit“ das Verhältnis zwischen einem Charakter und seinen Handlungen beschreiben, nicht etwa eine statistischen Erhebungen oder Naturgesetzen gehorchende Abfolgen äußerer Ereignisse. Gleiches gilt für den Begriff des Möglichen: Er sagt in diesem Kontext nicht aus, dass ein Ereignis keinem der Naturgesetze zuwiderläuft und deshalb im Bereich des überhaupt Möglichen liegt, sondern bezeichnet das einem bestimmten Charakter Mögliche.15 Ein Charakter lässt sich ja beschreiben als ein relativ stabiles, komplexes System von Vorlieben und Abneigungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens durch Übung, Erfahrung, Bildung usw. erworben hat.16 Diese allgemeinen Handlungstendenzen stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen sich die Einzelhandlungen realisieren können. Das Profil eines Charakters eröffnet so die für ein Individuum spezifischen Handlungsmöglichkeiten – und es macht zugleich ein konkretes Handeln in einer gegebenen Situation wahrscheinlich oder sogar notwendig. Wer sich zum Beispiel über Jahre hinweg eine Neigung zu süßen Speisen angeeignet hat, wird im Café eher zur Sachertorte greifen als zu den Käsehäppchen, es sei denn, andere Prämissen, beispielsweise diejenige, nicht als Schlemmer gelten zu wollen, stehen dagegen. Es wird im neunten Kapitel folglich nicht das historisch Faktische als Gegenstand der Geschichtsschreibung der möglichen und damit plausiblen Fik11 12 13 14 15 16

Zu diesem prägnanten Handlungsbegriff vgl. Schmitt: Die Literatur und ihr Gegenstand (Anm. 6), S. 202ff. Aristoteles: Poetik, 1451 a36-38. Ebd., 1451 b5-7. Ebd., 1451 b8f. Vgl. Schmitt: Die Literatur und ihr Gegenstand (Anm. 6), S. 205ff. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1103 a14-26.

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tion der Dichtung gegenübergestellt. Der Dichter darf durchaus, wie Aristoteles wenig später ausdrücklich sagt, tatsächlich Geschehenes aufgreifen, vorausgesetzt, es genügt den genannten Anforderungen.17 Die Darstellung von Handlung, die die Handlung als Äußerung eines Charakters begreifbar macht, ist insofern zugleich die Darstellung eines Allgemeinen, als das charakterliche Profil selbst etwas Allgemeines gegenüber den konkreten Handlungen ist:18 Derselbe Habitus ‚Tapferkeit‘ kann sich in vielen verschiedenen, ja sogar gegensätzlichen Einzelhandlungen verwirklichen. Es kann Zeichen von Tapferkeit sein, vor einem Feind standzuhalten; es kann aber auch Zeichen von Tapferkeit sein, die Flucht zu ergreifen, zum Beispiel wenn ein Panzer auf mich zurollt und ich nicht James Bond heiße. Dennoch ist es derselbe, klar unterscheidbare Habitus, der in all diesen Handlungen wirksam ist. Im Hinblick auf die Renaissancekommentare gilt es dabei festzuhalten, dass Aristoteles nirgends andeutet, „der in bestimmter Weise Beschaffene“ sei ein Typus, etwa der typische Sklave, oder ein Ideal. Das Gebot der Wahrscheinlichkeit erfordert nicht die Konformität mit einem Standard, sondern die Plausibilität einer Handlung als Handlung genau dieses Individuums. Und wenn Aristoteles der Dichtung im Vergleich zur Geschichtsschreibung das Prädikat ‚philosophischer‘ zuerkennt, dann nicht deshalb, weil ihre Figuren Inkarnationen ‚der‘ Tapferkeit oder ‚der‘ Klugheit schlechthin seien, sondern deshalb, weil in ihr das offen gelegt wird, was das konkrete Handeln eines Individuums zu dem macht, was es ist.19 In der Vermittlung einer so gearteten Erkenntnis besteht das Proprium der Dichtung; weder die subjektiv überzeugende Gestaltung einer möglichen Fiktion noch formalästhetische Kriterien wie die Verwendung einer besonderen Sprache sind geeignet, diese Eigenart zu beschreiben: „Der Dichter ist Dichter kraft Mimesis“.20 1548 erschienen die Explicationes zur Aristotelischen Poetik von Francesco Robortello. Als der erste neuzeitliche Kommentar des Textes setzten die Explicationes den Maßstab für die weitere Diskussion. Robortello stellt an den Beginn seiner Erklärungen eine Systematik aller Künste, die sich der Sprache bedienen, geordnet nach ihrem Verhältnis zur Wahrheit. Auf dem letzten Platz in dieser Liste, die angeführt wird von der Beweiskunst, rangiert die Dichtkunst; ihr Gegenstand, so Robortello, ist das Falsche oder Märchenhafte („falsum seu fabulosum“).21 Dichtung ist erfundene, falsche, ja lügnerische Rede („oratio ficta et fabulosa / falsa seu fabulosa et mendaciorum plena“).22 Während die Geschichtsschreibung wahre Handlungen (actiones verae) wiedergibt, 17 18 19 20 21 22

Aristoteles: Poetik, 1451 b29-32. Vgl. Schmitt: Die Literatur und ihr Gegenstand (Anm. 6), S. 193f. Ebd., S. 191f. Aristoteles: Poetik, 1451 b27-29. Robortello: Explicationes (Anm. 3) , S. 1. Ebd., S. 2.

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so Robortello in seinem Kommentar zum neunten Kapitel, entfernt sich der Dichter von dieser Wahrheit des Faktischen, er erfindet: ‚confingit‘ (bzw. erfindet hinzu).23 Die Leistung des Dichters besteht folgerichtig darin, auf angemessene Weise zu lügen („mendacia apte confingere“)24. Mit diesem Eröffnungszug sind für den Rest der Partie bereits die entscheidenden Züge vorgezeichnet. Denn mit der Bestimmung der Dichtung als Sprache, die Unwahres zum Ausdruck bringt, tritt sofort das Problem der Legitimität und der Glaubwürdigkeit solcher Lügen auf den Plan. Auf angemessene Weise lügen muss deshalb heißen: so lügen, dass das Erfundene glaubhaft ist. Obwohl also das Fiktive das eigentliche Metier des Dichters ist, darf er nicht munter ‚drauflosphantasieren‘ und Kühe durch die Landschaft fliegen lassen. Nicht jede Art von Fiktion ist dem Dichter gestattet, sondern nur diejenige, die Glauben beanspruchen kann.25 Glaubwürdig wiederum ist das, was nicht dem empirisch Gegebenen entspricht, genau dann, wenn es diesem empirisch Gegebenen ähnelt. Man befindet sich also in der paradoxen Situation, dass einerseits die Abweichung vom Faktischen zum Wesen der Dichtung erklärt wird, andererseits diese Abweichung legitimiert werden muss durch eine möglichst große Ähnlichkeit mit dem Faktischen. Besonders deutlich tritt dieser Ansatz im Kommentar des Lodovico Castelvetro hervor, der in erster Auflage 1570 in Wien herausgegeben wurde. Dichtung und Geschichtsschreibung unterscheiden sich dadurch, dass diese ihren Gegenstand vorfindet, jene ihn erst erschafft.26 Dennoch bleibt das Geschaffene strikt auf die ihm zugrunde liegende empirische Wirklichkeit bezogen: Dichtung ist in den Worten Castelvetros nichts anderes als Abbild der Historie („similitudine o rassomiglianza dell´istoria“).27 Es ist nicht schwer zu erraten, welche Bedeutung in diesem Kontext die von Aristoteles gebrauchten Begriffe ‚Mögliches‘, ‚Wahrscheinliches‘ und ‚Notwendiges‘ erhalten. Während sie bei Aristoteles, wie gesehen, in der Poetik das Verhältnis zwischen einem bestimmten Charakter und seinen Äußerungen beschreiben, werden sie jetzt zu Kriterien gelungener, weil glaubwürdiger Fiktion. Das Erfundene muss wahrscheinlich oder notwendig sein (damit ist es zugleich möglich), das heißt dem entsprechen, was in der Regel geschieht oder von den Naturgesetzen erzwungen ist. Wer am Kopf verwundet wird, stirbt in der Regel, wer am Herzen verwundet wird, stirbt notwendig, so

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24 25 26 27

Ebd., S. 86f. Vgl. S. 96f.: „poietes est, qui poiei, idest fingit. Quatenus igitur fingit in rebus verisque actionibus vel ipsas augens vel exornans ex versimili, neque narrans sicuti sese habent, ex hoc satis patet esse poetam.“ Ebd., S. 2. Ebd., S. 2 und S. 87. Castelvetro: Poetica (Anm. 3), Bd. 1, S. 44 und S. 94; vgl. auch S. 240 und S. 289. Ebd., S. 46; vgl. S. 13f.

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das Beispiel bei Castelvetro.28 Weil Dichtung sich gegenüber der Geschichtsschreibung durch ihre Fiktivität definiert, müssen die von ihr dargestellten Handlungen zumindest möglich sein. Die so verstandene Möglichkeit (possibilità) avanciert bei Castelvetro folglich zum Wesensmerkmal des Plots.29 Ein Ergebnis dieser Verpflichtung der Dichter auf Wahrscheinlichkeit im Ablauf des Geschehens ist unter anderem die berühmt-berüchtigte Lehre von den drei Einheiten – der Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung –, wie sie zuerst von Castelvetro formuliert worden ist. Obwohl Aristoteles nur von der Einheit der Handlung spricht – und auch dies nicht im Sinne einer wahrscheinlichen Geschehensfolge,30 geistert diese Trinität fortan als aristotelische Vorschrift durch die Literaturtheorie.31 Da die Bühnenhandlung für reale Handlung steht, dürfen Aufführungsdauer und Echtzeit Castelvetro zufolge nicht auseinander fallen; der Ort ist durch die Dimensionen der Bühne abgesteckt.32 Erst daraus folgt die Einheit der Handlung.33 Auch bei anderen Autoren findet sich der Hinweis, der Bühnendichter solle plötzliche Ortswechsel und Zeitsprünge vermeiden, um die Glaubwürdigkeit zu gewährleisten.34 Bezogen auf das Handeln von Charakteren heißt Wahrscheinlichkeit die Übereinstimmung mit typischen Verhaltensmustern bestimmter Personenklassen. Dass Dido Selbstmord begeht, ist zum Beispiel in den Augen Robortellos wahrscheinlich, weil sitzen gelassene Frauen eben in aller Regel zu Radikallösungen neigen.35 Sklaven sind grundsätzlich betrügerisch, alte Männer geizig etc. In der wohl berühmtesten Poetik des Cinquecento, den bereits erwähnten Poetices libri septem des Julius Caesar Scaliger, findet sich folgende Charakteristik der Frau an sich: „Die Frau ist unzuverlässig, mißtrauisch, wankelmütig, hinterhältig, heuchlerisch, abergläubisch. Wenn sie über Macht verfügt, wird sie unerträglich [...] Sie wagt alles, aber nicht aus Tapferkeit und richtiger Einschätzung der Situation, sondern aus Wahn und verkehrtem Urteil heraus“ usw. Scaliger kennt freilich auch weibliche Tugend: Keuschheit und Schamge28 29

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Ebd., S. 251. Sie ist die „sostanzia della favola“, ebd., S. 247. Die unter anderen von Robortello und Castelvetro bezogene Position, Gegenstand der Dichtung sei das Falsche bzw. Fiktive, bleibt nicht unwidersprochen. Aber auch die Autoren, die die Alternative faktisch – fiktiv ablehnen, wie Piccolomini oder Tasso, sind peinlich auf Wahrscheinlichkeit im erläuterten Sinne bedacht. Vgl. Schmitt: Die Literatur und ihr Gegenstand (Anm. 6), S. 203f. Zur Geschichte der drei Einheiten vgl. Max Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchungen über die Theorie der Tragödie, Frankfurt a.M. 1940, S. 286-308. Castelvetro: Poetica (Anm. 3), S. 148f. und S. 220f. Ebd., S. 240f. Vgl. Maggi u. Lombardi: In Aristotelis Librum (Anm. 3), S. 94; Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem, hg. von Luc Deitz, Bd. 2 , Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 28 und S. 30. Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 83.

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fühl, im Haushalt Sorgfalt, Fleiß, Sparsamkeit. Vergil habe sich bei der Zeichnung der Frauen an dieses Schema gehalten und sich somit auch in diesem Punkt als das Maß aller Dinge in Sachen Dichtung erwiesen.36 Es ist die aus der Antike stammende Lehre vom Decorum, dem Angemessenen, die hier in ‚poetologisches Kleingeld‘ umgemünzt wird. In die Poetik des Cinquecento findet sie Eingang vor allem durch Horaz, dessen Ars poetica immer wieder zur Erklärung des schwierigen Aristotelestextes herangezogen wird.37 Gleich zu Beginn wird dort die zentrale Rolle des Decorum begründet, wenn es heißt, der Dichter habe zwar die Lizenz zum Fingieren, aber nicht in der Weise, dass er Tiger mit Lämmern paaren dürfe.38 An späterer Stelle schreibt Horaz, der Dichter müsse die charakteristischen Merkmale jeder Altersstufe beachten, und liefert eine Reihe von Beispielen, wie Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Alte sich typischerweise geben. Ebenso müssten Stand, Beruf und Herkunft berücksichtigt werden.39 In der Renaissance wird das solchermaßen bei Horaz Angelegte zu einem Regelwerk weiterentwickelt. So liefert Castelvetro, der eine ausgeprägte Schwäche für Systematik hat, eine umfassende Liste von Kategorien (Geschlecht, Alter, soziale Stellung etc.), mit denen je bestimmte Merkmale identifiziert werden und durch deren Mischung jede beliebige Figur erzeugt werden könne.40 In diesen Zusammenhang wird nun auch die Aussage des Aristoteles einbezogen, die Dichtung stelle etwas Allgemeines dar und sei deshalb philosophischer als die Historiographie. Vettori und Castelvetro identifizieren die dem Decorum entsprechenden Verhaltensmuster unmittelbar mit dem ‚katholou‘ der Poetik: Sofern es sich um typische Verhaltensweisen handelt, sind sie auch allgemein zu nennen, weil sie auf viele zutreffen können.41 Die meisten Theoretiker gehen allerdings noch einen Schritt weiter. So erklärt Robortello, einem humanistischen Topos folgend, Dichtung habe eine positive moralische Wirkung, weil sie Exempel guten und schlechten Handelns statuiere und so die Rezipienten zur Tugend ansporne bzw. vom Laster abschrecke.42 Der Dichter ist deshalb gehalten, seine Charaktere zum Guten (oder zum Schlechten) hin zu stilisieren. Im Gegensatz zum Geschichtsschreiber, der zum Beispiel von einem real existierenden König berichtet, lässt der Dichter den idealen König 36 37

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Scaliger: Poetices (Anm. 34), S. 180-190. Der ‚Entdeckung‘ der Aristotelischen Poetik ging eine intensive Beschäftigung mit der Ars Poetica des Horaz voraus. Sie bildete, neben der rhetorischen Theorie, die Basis, von der ausgehend der ‚neue‘ Text interpretiert wurde. Dazu grundlegend Marvin T. Herrick: The Fusion of Horatian and Aristotelian Literary Criticism, 1531-1555, Urbana 1946. Horaz: Ars poetica, vv. 1-13. Ebd., vv. 154-178 und 114-118. Auch entsprechende Passagen aus der Rhetorik des Aristoteles (II 12-17) werden hierher importiert, vgl. Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 168. Castelvetro: Poetica (Anm. 3), Bd. 1, S. 422f. Vettori: Comentarii (Anm. 3), S. 94; Castelvetro: Poetica (Anm. 3), Bd. 1, S. 250. Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 3.

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auftreten.43 Die Formulierung „was geschehen könnte“ (oˆa Àn génoito), die Aristoteles im neunten Kapitel verwendet, wird unter der Feder Robortellos kurzerhand zu „was geschehen sollte“ / „wie es hätte getan werden müssen“ („[res] quales fieri oportet / ut geri debuerint“).44 Kurz darauf heißt es, der Dichter solle „auf etwas Allgemeines und Gemeinsames schauen, wenn beispielsweise das kluge Handeln des Odysseus dargestellt werden soll, so darf man nicht in Betracht ziehen, was für ein Mensch Odysseus ist, sondern man muss unter Vernachlässigung der besonderen Umstände zu einem Allgemeinen übergehen und die Figur so bilden, wie die Philosophen einen in jeder Hinsicht vollkommen Klugen zu beschreiben pflegen.“45 Was nach Aristoteles Aufgabe des Dichters wäre: einen individuellen Charakter in für ihn spezifischen Äußerungen zu zeigen, wird von Robortello zum Geschäft des Geschichtsschreibers erklärt. Dieser schaue dort, wo er nicht unmittelbar das Faktische wiedergebe, nämlich in der Komposition der Reden, darauf, dass er nicht von der Natur desjenigen abweiche, von dem er berichtet.46 Der Dichter dagegen strebt bei Robortello ein von allem Besonderen isoliertes abstraktes Ideal an.47 Wenn Robortello vom Dichter verlangt, er müsse auf ein Allgemeines bzw. auf eine Idee schauen, so steht hier nicht nur Platons Sophistes, den Robortello ausdrücklich nennt, sondern auch eine Formulierung aus der Ars poetica im Hintergrund. Auch Horaz fordert, „auf ein Idealbild des Lebens und des Verhaltens zu schauen“ („respicere exemplar vitae morumque“).48 Die Erwartung, der Dichter könne und solle Idealbilder zum Ausdruck bringen, ist Allgemeingut in der Dichtungstheorie des Cinquecento. Allenthalben wird darauf verwiesen, dass Odysseus die vollkommene Verkörperung der Klugheit sei und in Achill die Idee der Tapferkeit Gestalt gewonnen habe.49 In Aeneas sieht Scaliger gar das Bild des perfekten Menschen überhaupt: „habemus igitur 43 44 45

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Ebd., S. 87. Ebd., S. 86. „[R]espicere ad generale quoddam et commune, ut si sit effingendus prudens in rebus agendis Ulysses, non qualis ipse sit esse considerandum, sed relicta circumstantia transeundum ad universale et effingendum esse, qualis prudens callidusque ab omni parte absolutus describi solet a philosophis. Hinc Plato in Sophista de pictoribus ait, oportere illos semper ad ideam respicere et pulchriora omnia pingere quam sint“ (ebd., S. 91). „Historia [...] ita tamen confingit, ut non discedat a natura eorum hominum, quorum effingit sermones et circa quos versatur“ (ebd.). Zum Begriff des Allgemeinen bei Robortello und Scaliger vgl. Ulrike Zeuch: Das Allgemeine als Gegenstand der Literatur – Scaligers Begriff des Allgemeinen und seine stoischen Prämissen, in: Poetica 34 (2002), S. 99-124. Horaz: Ars poetica, vv.312-318. Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 181; Maggi u. Lombardi: In Aristotelis librum (Anm. 3), S. 175. Dabei wird es nötig, die problematischen Züge von Achills Charakter ‚wegzuerklären‘. Vgl. die Bemühungen im „Discorso“ des Giason Denores in: Trattati di Retorica e Poetica del Cinquecento, hg. von Bernard Weinberg, 4 Bde., Bari 1970-1974, Bd. 3, S. 373419, hier: S. 383f.

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uno in Aenea tamquam ideam illam Socraticam cuiuscumque personae.“50 Auf dieser Basis wird der Dichtung von vielen Theoretikern eine besondere Dignität zugesprochen. Sofern sie die Ideen selbst zur Anschauung bringt, ist sie nicht nur philosophischer als die Geschichtsschreibung, sondern, da sie es in sehr anschaulicher und mitreißender Form tut, noch höher zu bewerten als die Philosophie, die mit ihren trockenen Beweisgängen die Herzen kalt lässt.51 Wenn man von diesem Punkt aus auf das von den Renaissancetheoretikern so oft beschworene Wahrscheinlichkeitsgebot zurückblickt, scheint sich hier ein gewisser Widerspruch aufzutun. War eben davon die Rede, die Dichtung müsse der Wahrscheinlichkeit Genüge tun, das heißt sich an dem orientieren, was in der Regel so zu sein pflegt, so soll Dichtung nun Ausdruck eines Ideals sein – und Ideale sind bekanntlich in dieser Welt eher selten. Einige Autoren benennen dieses Problem und führen es einer Lösung zu, die aufschlussreich ist dafür, wie die Autoren ‚Realität‘ verstehen. Alessandro Piccolomini setzt im Proömium seines Poetikkommentars von 1575 die Begriffe ‚Wahrscheinliches‘ und ‚Allgemeines‘ (im Sinne des Idealen) mit der Begründung gleich, dass die empirische Natur selbst auf Vollkommenheit hin angelegt ist, de facto aber nur selten das in ihr Angelegte verwirklicht.52 Was jetzt nur selten der Fall ist, wäre in einer optimalen Welt die Regel und damit wahrscheinlich.53 In demselben Sinn schreibt Scaliger zum Verhältnis zwischen Kunst und Natur: Die Natur enthält die Vollkommenheit in ihrem ganzen Umfang, aber sie kann sie aufgrund diverser störender Einflüsse nicht verwirklichen. Das Kunstwerk ist aus diesem Grund der Natur voraus. Während es dieser nicht gelingt, in einem Individuum alle Vorzüge zu vereinen (eine Frau hat vielleicht den perfekt geformten Mund, aber dafür eine ‚Knollennase‘), ist der Dichter in der Lage, die „disiecta membra“ der Vollkommenheit in einer einzigen Figur zu versammeln.54 Pomponio Torelli findet in seinem Traktat über die Lyrik am Ausgang des Jahrhunderts die vielleicht pointierteste Formulierung: Wer ein Ideal formt, 50

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Scaliger: Poetices (Anm. 34), S. 176. Vgl. ebd., S. 140, wo Aeneas das Prädikat „perfectissimus“ erhält. Ähnlich Torquato Tasso: Discorsi dell´Arte Poetica e del Poema Eroico, hg. von Luigi Poma, Bari 1964, S.155ff. So schon Bartolommeo della Fonte in seiner Poetik (1490/92), siehe Charles Trinkaus: The Unknown Quattrocento Poetics of Bartolommeo della Fonte, in: Studies in the Renaissance 13 (1966) S. 40-122, S. 101, Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 3f. und besonders Antonio Sebastiano Minturno: De poeta (1559), München 1970, S. 12f., S. 38f. und S. 44. Es klingt hier der antike Topos von der magischen Kraft der Poesie an. Für die Renaissance sind insbesondere Ciceros Enkomion auf die Rhetorik zu Ungunsten der Philosophie aus De oratore maßgeblich – die Gedanken werden einfach von der Redekunst auf die Dichtung übertragen – sowie Horazens Lob der Dichtung in seiner Ars poetica. Piccolomini: Annotationi (Anm. 3), Proemio [S. 5]. Ebd., S. 154. Scaliger: Poetices (Anm. 34), S. 310.

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ahmt die Natur mehr nach als einer, der das faktisch Gegebene nachbildet. „Denn am meisten ahmt der die Natur nach, der sich am meisten an ihre Intention angleicht, die in nichts anderem besteht als in der Vollkommenheit.“55 Die Natur kommt nur in wenigen Fällen zu ihrem Ziel und damit zu sich selbst – ein Beispiel für diesen seltenen Fall irdischer Vollkommenheit ist nach Torellis Auffassung die Liebe zwischen Petrarca und seiner Laura gewesen;56 die Kunst dagegen entpuppt sich, da sie die Natur zu ihrem Ziel kommen lässt, als die natürlichste Natur. Sowohl der mürrische, geizige, pessimistische Alte als auch der perfekte Held Aeneas können so als wahrscheinliche Charaktere gelten – der Alte aus der Perspektive der Außenseite der Natur (natura naturata), Aeneas aus der Perspektive ihrer Innenseite (natura naturans). In beiden Fällen freilich bildet die empirische Natur das Richtmaß. Im einen Fall wird das empirisch Gegebene zu einem Durchschnittswert abstrahiert, im anderen Fall aus dem empirisch Gegebenen das ihm immanente Ideal extrahiert. Was der Dichter zum Ausdruck bringt, liegt im Existenten – ein für allemal kodifiziert – bereits vor, auch wenn es an der Oberfläche nicht vollständig sichtbar wird, sondern allein dem Blick des Dichters zugänglich ist. Aus der dargelegten Konzeption von Dichtung als Fiktion, die wahrscheinlich ist und das im Einzelnen verborgene Ideal zur Anschauung bringt, ergeben sich nun charakteristische Folgen und Probleme. So gilt plötzlich die Komödie als privilegierte Form von Dichtung, weil sie im Gegensatz zu Epos und Tragödie ihren Stoff gänzlich erfindet und ihre Charaktere am reinsten das Decorum verkörpern. Es irritiert die Renaissanceinterpreten, dass Aristoteles dem Dichter ausdrücklich erlaubt, auch historische Stoffe aufzugreifen.57 Der Unterschied zum Geschichtsschreiber scheint hier zu verschwinden. Man tröstet sich deshalb mit dem Argument, der Dichter habe in der Ausgestaltung der ‚Episodia‘ noch genügend Spielraum, sein schöpferisches Ingenium unter Beweis zu stellen.58 Da die Tragödie den Zuschauer außerdem zu unangenehmen Affekten bewegen solle, sei sie in besonderem Maße auf eine glaubwürdige Basis angewiesen, und da ihr Personal sich beispielsweise aus Königen rekrutiere, erfundene Könige aber als unglaubwürdig erscheinen würden, sei der Dichter geradezu gezwungen, historische Figuren aufzugreifen.59 Ebenso 55

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Vgl. Pomponio Torelli: Trattato della poesia lirica [1594], in: Weinberg (Hg.): Trattati di Retorica (Anm. 49), Bd. 4, S. 237-317, hier S. 289f.: „Questo provo perché si vien a immitar l´Idea, ch´è più naturale che la particolar materia, e molto più immita la natura chi più all´intenzion di quella s´accosta, ch´altro non è che la perfezione“. Ebd., S. 304f. Aristoteles: Poetik, 1451 b29-32. Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 86, S.89f. und S. 96f., Castelvetro: Poetica (Anm. 3), Bd. 1, S. 101f., vgl. auch ebd., S. 286. Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 93; Vettori: Commentarii (Anm. 3), S. 96; Piccolomini: Annotationi (Anm. 3), S. 141-152.; Tasso: Discorsi (Anm. 50), S. 4f.

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wird es zum Problem, dass das antike Epos von extrem unwahrscheinlichen Dingen wie Zyklopen, Sirenen oder in Nymphen verwandelten Schiffen bevölkert wird und derlei Staunen Erregendes auch nach Meinung der Renaissancekritiker ein wesentliches Ingrediens der Dichtung darstellt. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff wird deshalb erweitert durch Bezugnahme auf die Disposition des Publikums. Wahrscheinlich sei, was einem bestimmten Publikum wahrscheinlich erscheint. Da aber dem Weltbild der Leute Fabelwesen und göttliche Handlungen, die jedes menschliche Maß übersteigen, nicht fremd seien, dürfe der Dichter Derartiges in sein Werk aufnehmen.60 Die am weitesten reichenden Konsequenzen zieht der Glaube nach sich, die Natur selbst gebe in dem, was sie ihrem Innersten nach ist, ein für alle Zeiten gültiges Ideal vor, das sich in Regeln fassen lässt.61 Nach Aristoteles gliche das dem Versuch, beispielsweise einen Mahagonitisch mit einer Beinhöhe von 70 cm und einer Tischplatte der Größe 60 x 150 cm zum idealen Tisch zu erklären und sämtliche Möbelhäuser auf den Verkauf dieses Modells zu verpflichten. Nichts anderes unternimmt die Renaissancepoetik, wenn sie festschreibt, dass zum Beispiel eine Frau nicht tapfer sein darf oder dass Königstöchter ihre Wäsche nicht eigenhändig waschen dürfen (wie es Nausikaa in der Odyssee tut),62 und die Befolgung derartiger Regeln zur obersten Pflicht des Dichters erklärt.63 Abgesehen davon, dass damit der Dichter in seinem ureigensten Gebiet entmündigt wird, ändern sich auch die Charakteristika der literarischen Gattungen. Das wird nicht nur beim Epos deutlich, das nunmehr vor allem der Heldenschau dient, sondern auch bei der Tragödie. Wenn es bei Aristoteles das Ziel der Tragödie ist zu zeigen, wie ein sittlich guter, doch nicht vollkommener Mensch durch ein Fehlverhalten (¡martía), das er selbst zu verantworten hat, auch wenn es verzeihlich ist, in übergroßes Unglück gerät, so macht dies eine differenzierte Charakterdarstellung notwendig. Der tragische Held ist weder ein Tugendbold, der durch blindes Wüten des Schicksals oder einen unvorhersehbaren Lapsus zu Fall kommt, noch ein Verbrecher, den seine Missetaten ins

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Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 87f.; Maggi u. Lombardi: In Aristotelis librum (Anm. 3), S. 267f.; Giovambattista Giraldi Cinzio: Scritti critici, hg. von Camillo Guerrieri Crocetti, Mailand 1973, S. 76; Giovanni Antonio Viperano: De poetica libri tres (1579), München 1967, S. 47; Tasso: Discorsi (Anm. 50), S. 6-8. Zu dem hier implizierten Realitätsverständnis im Vergleich zu Aristoteles vgl. Arbogast Schmitt: Mimesis bei Aristoteles und in den Poetikkommentaren der Renaissance, in: Mimesis und Simulation, hg. von Andreas Kablitz u. Gerhard Neumann, München 1998, S. 1753. So Giraldi: Scritti critici (Anm. 60), S. 52; Tasso: Discorsi (Anm. 50), S. 32f. An diesem Punkt zeigen sich deshalb schon im Cinquecento selbst Auflösungstendenzen hin zu einer Historisierung des Decorum, vgl. Giraldi: Scritti critici (Anm. 60), S.77; Viperano: De poetica (Anm. 60), S. 52; Tasso: Discorsi (Anm. 50), S. 29-33 und S. 132-134.

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wohlverdiente Verderben stürzen, sondern ein „mittlerer“ Charakter.64 Der Raum, den Aristoteles hier für eine Charakterdarstellung, die ihr Augenmerk auf innerseelische Konflikte richtet, eröffnet, wird im Cinquecento mit der Forderung nach Idealisierung beziehungsweise Typisierung der Figuren verschlossen. So hält zwar Robortello noch am Begriff des mittleren Charakters fest; den Fehltritt des tragischen Helden jedoch siedelt er ganz und gar außerhalb des Charakters an. Der Agierende ist lediglich objektiv schuldig, sofern er sich tatsächlich vergangen hat, aber subjektiv unschuldig, da er ohne schlechte Absicht gehandelt hat. Ödipus hat zwar seinen Vater erschlagen, aber er wusste nicht, dass es sein Vater war.65 In der real existierenden griechischen Tragödie sieht Robortello ohnehin fast ausschließlich tadellose Charaktere oder Verbrecher (wie Aigisthos und Klytaimnestra) am Werk.66 Castelvetro zieht nur die Konsequenzen, wenn er erklärt, eine Tragödie könne auch ohne Hamartia auskommen.67 Und Minturno lässt in seinem monumentalen Werk De poeta den Hauptredner im einzelnen darlegen, dass selbst die Passion Christi, der ja nun als sittlich vollkommener Charakter par excellence gelten darf, ein geeigneter Gegenstand für eine Tragödie sein könne, da sie genug Schrecken und Mitleid erregende Ereignisse zu bieten habe.68 Der bei Aristoteles grundlegende Zusammenhang zwischen Charakter und Handlung ist hier völlig zerrissen. Mit der Schrift des Aristoteles haben wir eine Poetik vor uns, die die spezifische Leistung des Dichters und die Herausforderung an ihn darin erblickt, aus der Fülle der Möglichkeiten, wie die verschiedenen dem Menschen eigentümlichen Seelenvermögen ausgebildet sein können, einen individuellen Charakter zu formen, der die Anforderungen der jeweiligen Dichtungsgattung erfüllt, und die für diesen Charakter kennzeichnenden Handlungen so zu gestalten, dass offenbar wird, warum dieser Mensch als der, der er ist, Erfolg hat oder scheitert. In der Deutung des Cinquecento – um das abschließend so pointiert zu formulieren – wird daraus ein Konzept von Dichtung, in dem sich die Darstellung von Charakteren in der Anwendung von der Natur selbst vorgegebener idealer Schemata erschöpft; es handelt sich also um eine Nachahmungspoetik im gebräuchlichen pejorativen Sinn. Das Ingenium des Dichters sucht Zuflucht in anderen Bereichen: bei der Anschaulichkeit, der sprachlichen Finesse, der delikaten Versöhnung des Wunderbaren mit dem Wahrscheinlichen. Die Aristotelesdeutungen, die das Cinquecento hinterlassen hat, entpuppen sich so als eine Neubegründung der Poetik, an deren Aporien die Folgezeit 64 65 66 67 68

Aristoteles: Poetik, 1452 b34-53 a 12. Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 130f. Vgl. Maggi u. Lombardi: In Aristotelis librum (Anm. 3), S. 154, Giraldi: Explicationes (Anm. 60), S. 182. Robortello: Explicationes (Anm. 3), S. 133. Castelvetro: Poetica (Anm. 3), Bd. 1, S. 361. Minturno: De poeta (Anm. 51), S. 183f.

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dann laboriert – und damit nicht genug: Wer die Renaissancekommentare mit Poetik-Interpretationen des späten 20. Jahrhunderts vergleicht, dürfte mehr als ein Déjà-vu erleben, etwa wenn er liest, die Dichtung stelle nicht Individuen dar, sondern Typen von Menschen und standardisierte Verhaltensmuster.69 Die Beschäftigung mit den Anfängen der neuzeitlichen Poetik-Kommentierung ist deshalb kein selbstvergessenes Kramen im Kuriositätenkabinett der Geistesgeschichte, sondern bietet vielfältigen Anlass, sich über den eigenen Standpunkt klar zu werden.

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Vgl. beispielsweise Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike, Darmstadt 1992, S. 31f. und John M. Armstrong: Aristotle on the Philosophical Nature of Poetry, in: Classical Quarterly 48 (1998) S. 447-455.

ULRIKE ZEUCH

Aporien in der Literaturtheorie der Frühen Neuzeit1 Francesco Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes und die Folgen Die Poetik des Aristoteles ist neben der Ars poetica des Horaz der wichtigste literaturtheoretische Text für die Formulierung literaturtheoretischer Grundpositionen in der Frühen Neuzeit. Das gilt für die Bestimmung des Gegenstandes der Literatur, für die Bestimmung des Verhältnisses des in der Literatur dargestellten Gegenstandes zur Wirklichkeit, die für die Erzeugung eines literarischen Werkes erforderliche Disposition, Fertigkeit oder ‚ars‘ des Dichters, für den Zweck von Literatur sowie für die beim Rezipienten zu erzielende Wirkung. Die Poetik ist dabei nicht nur verbindliche Autorität, sondern dient ebenso als Ausgangspunkt für die Profilierung eigener Positionen. Die auslegende Kommentierung der Poetik, die Bezugnahme auf bestimmte Positionen der Poetik und deren Integration in die eigene poetologische Argumentation, die Bezugnahme ohne Namensnennung sowie die inhaltliche Umdeutung bei gleich bleibender Begrifflichkeit in wesentlichen Punkten sind einige der Aspekte der eminent fruchtbaren Wirkungsgeschichte der Poetik in der Neuzeit. Wenn es im Folgenden um Aporien in der Literaturtheorie der Frühen Neuzeit geht, dann hinsichtlich einer für die Theorie zentralen Frage – derjenigen nach dem Gegenstand der Literatur. Meine Ausführungen gelten dem Nachweis, dass sich die Aporien aus der Umdeutung der Poetik des Aristoteles in den für diese Frage relevanten Stellen ergeben. Sie sind aber nicht nur Teil der Wirkungsgeschichte der Poetik, sondern – was für die Literaturtheorie der Neuzeit insgesamt viel entscheidender ist – für die Weiterentwicklung der allgemeinen Theorie grundlegende Vorgaben, ohne dass dies von den Literaturtheoretikern selbst gesehen würde, und zwar weder, wenn sie sich auf Aristoteles positiv beziehen, noch, wenn sie sich gegen ihn absetzen und neu positionieren. Dass grundlegende Vorgaben hinsichtlich der Gegenstandsbestimmung der Literatur, die der Umdeutung der Poetik des Aristoteles in den hierfür zentralen Aspekten geschuldet sind, als solche nicht erkannt werden, liegt zum 1

Für Anregungen und wertvolle Hinweise danke ich Markus Schmitz.

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Ulrike Zeuch

einen, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe, an den stoischen Prämissen des Allgemeinbegriffs seit der Frühen Neuzeit,2 zum anderen an bewusstseinsphilosophischen Prämissen der Literaturtheorie seit dem 17. Jahrhundert.3 Verstärkt wird diese Tendenz durch den immer wieder formulierten endgültigen Abschied von der Poetik des Aristoteles als eines für die Literaturtheorie nicht (mehr) relevanten Textes – mit der Begründung, eine normative Poetik sei nicht mehr zeitgemäß, der Mimesisbegriff, verstanden als Wiedergabe von real Gegebenem, obsolet und die Einheit des Subjekts in seiner Verantwortlichkeit für seine Gedanken, Gefühle und Handlungen passé.4 Gleichwohl bezieht sich Joachim Küpper bei seiner Frage „Was ist Literatur?“ erst jüngst, nämlich 2001, explizit auf Aristoteles5 und misst der Poetik eine wesentliche Bedeutung für die Beantwortung dieser Frage bei. Und in der Forschung zu einzelnen Autoren selbst des 20. Jahrhunderts wird bei dem Versuch, deren Intention literaturtheoretisch zu fundieren, auf Aristoteles’ Poetik verwiesen – wenn auch mit der Einschränkung, dass sie nur für solche Gattungen gelte, die literarisch ‚traditionell‘ seien (gemeint ist die von einem Subjekt erzählte Lebensgeschichte).6 Eben diese Frage, was der Gegenstand

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Verf.: Das Allgemeine als Gegenstand der Literatur. Scaligers Begriff des Allgemeinen und seine stoischen Prämissen, in: Poetica 34 (2002), S. 99-124. Verf.: Bewußtseinsphilosophische Prämissen der Literaturtheorie vor 1800. Am Beispiel von Gottscheds ‚Versuch einer Critischen Dichtkunst‘ und deren Folgen, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 46 (2001), S. 53-75. Bezeichnenderweise kommt in Dietrich Harth u.a. (Hg.): Erkenntnis der Literatur. Theorien, Konzepte, Methoden der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1982, der Aspekt, dass Literatur Einsicht in menschliches Handeln und dessen Ursache, den Charakter des handelnden Subjekts, vermitteln kann, überhaupt nicht vor. Zum Mimesisbegriff des Aristoteles heißt es lediglich, der Dichter habe gemäß der Poetik „nach Maßgabe der Faktizität und einer als unveränderlich gedachten Natur zu gestalten“ (S. 28). Dass es sich bei diesem Urteil um das Ergebnis einer frühneuzeitlichen Rezeption handelt, erhellt sich, so hoffe ich, aus dem Folgenden. Joachim Küpper: Was ist Literatur?, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 45 (2001), S. 187-215. Hille Haker: Moralische Identität. Literarische Lebensgeschichten als Medium ethischer Reflexion. Mit einer Interpretation der Jahrestage von Uwe Johnson, Tübingen u. Basel 1998, S. 167, Anm.7; Haker begründet dies wie folgt: „Literarische Lebensgeschichten stellen die Geschichte von Menschen über einen gewissen Zeitraum dar. Ihr Gelingen hängt – zumindest nach der aristotelischen Poetik, die in bezug auf die fiktiv-biographische Gattung nichts an Aktualität eingebüßt hat – an der Wahrscheinlichkeit und der Notwendigkeit des Geschehens“ (S. 167). Haker deutet Aristoteles’ Rede vom Wahrscheinlichen bzw. Notwendigen folgendermaßen: „die Lebensgeschichte muß, um plausibel zu sein, das Bild eines Menschen zeichnen, das einem Menschenleben möglichst angemessen ist; dies erscheint als ein Leben, das sowohl auf zufälligen Ereignissen wie individueller Lebensplanung beruht, ein Leben, in dem Zwänge, Verletzlichkeiten und Widersprüche neben autonomer Souveränität und Konsistenz bestehen können“ (ebd.). Dass Haker hier Aristoteles frei bzw. auf John-

Robortellos In librum Aristotelis De arte poetica explicationes

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der Literatur ist, und damit die Frage, wie eines der möglichen Spezifika literarischer Texte diese gegenüber Texten sonstiger Art unterscheidet, beschäftigt die gegenwärtige Literaturtheorie seit 1980 intensiv; ihre Nichtbeantwortbarkeit wird sogar als Zeichen für die Krise des Faches Literaturwissenschaft gewertet.7 Mithin handelt es sich dabei um eine Frage, die weder obsolet noch nebensächlich ist. Wenn es im Folgenden um diese Frage geht, dann im Lichte der Auseinandersetzung mit bestimmten Passagen der Poetik des Aristoteles in der Frühen Neuzeit. Zwar ist die Möglichkeit einer epochalen Abgrenzung ‚Frühe Neuzeit‘ von Germanisten erst jüngst wieder in Zweifel gezogen worden: die Frühe Neuzeit sei zu heterogen, um sie auf eine Tendenz innerhalb der Literatur reduzieren zu können; die Einheitlichkeit der Epoche sei ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts.8 Die genannten Gründe für den Zweifel mögen in Bezug auf literarische Werke der Frühen Neuzeit berechtigt sein. In Bezug auf die Theorie jedoch lässt sich, wie ich zu zeigen versuchen werde, eine einheitliche Tendenz erkennen. Der für die Rezeption der Poetik in der Frühen Neuzeit erste zentrale Text ist der Kommentar von Francesco Robortello In librum Aristotelis De arte poetica explicationes.9 Robortello stellt in seinem Kommentar entscheidende Weichen für die Interpretation der in Bezug auf die oben angesprochene Frage zentralen Stellen in der Poetik des Aristoteles; zur Poetik selbst sei verwiesen auf die Forschungen von Arbogast Schmitt.10 Mein Anliegen ist es zu zeigen, (1) worin die von Robortello vorgenommenen Umdeutungen bestehen und (2) dass Robortellos Umdeutungen zu Widersprüchen hinsichtlich der Bestimmung des Gegenstandes der Literatur und damit zu einer für die Literaturtheorie problematischen Inkonsistenz führen, ohne dass diese Inkonsistenz von ihm selbst gesehen würde. Ferner möchte ich (3) anhand einiger Beispiele nachweisen, dass Robortellos Umdeutungen für die Literaturtheorie bis 1800 be-

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son zugeschnitten auslegt, wird im Folgenden deutlich (s.u.); denn Aristoteles geht es gerade nicht um die Darstellung des Kontingenten, sondern um etwas Allgemeines. Vgl. Wilfried Barner: Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden?, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 457-462, und die sich an seine Frage im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 und 43 anschließende Diskussion. Peter Strohschneider u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Epochen, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49 (2002), Heft 3; vgl. ebd. die Beiträge von Christian Kiening: Zwischen Mittelalter und Neuzeit. Aspekte der Epochenschwellenkonzeption, S. 264-277, und Wolfgang Harms: Zur Festlegung von Epochensignaturen aus literaturwissenschaftlicher Sicht. Konkurrenzen von Heterogenem im Zeitraum der Frühen Neuzeit, S. 278-293. Francesco Robortello: In librum Aristotelis de arte poetica explicationes, München 1968 (Poetiken des Cinquecento, Bd. 8), (ND der Ausgabe Florenz 1548). Arbogast Schmitt: Die Literatur und ihr Gegenstand in der Poetik des Aristoteles, in: Thomas Buchheim u.a. (Hg.): Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Hamburg 2003, S. 184-219.

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stimmend sind und die Literaturtheorie sich an den Folgen abmüht, da die Widersprüche immanent nicht auflösbar sind. Der letzte Abschnitt (4) gilt Überlegungen, wie ein Ausweg aus den Aporien der Theorie aussehen könnte. Robortellos Umdeutungen Aristoteles bestimmt in der Poetik,11 dass der Dichter in der Tragödie menschliche Handlungen nachahme (Poetik 1451 b29) und diese Nachahmung im Unterschied zur Geschichtsschreibung etwas Allgemeines (1451 b5-7) und damit Philosophischeres mitteile. Die Tragödie nennt Aristoteles deswegen, weil er meint, sie habe zu seiner Zeit als Gattung die in ihr liegenden Möglichkeiten bereits voll entwickelt (1449 a14-15) und das Ziel, um das es ihm hier geht, am besten verwirklicht: nämlich im Sinne angewandter Ethik, die zur praktischen Philosophie zählt, mit Hilfe der Darstellung bestimmter Handlungen einzelner Menschen von bestimmter charakterlicher Beschaffenheit einsichtig zu machen, welche Charaktertendenzen zu welchem ethisch relevanten Verhalten und damit auch Fehlverhalten führen. Aristoteles will damit nicht den Schluss nahe legen, es gebe abgesehen von menschlicher Handlung keinen anderen Gegenstand der Literatur. Er lässt lediglich die Mimesis anderer Gegenstände wie zum Beispiel diejenigen der Natur – etwa in der Lyrik – oder diejenigen der Götter – etwa in den Götterhymnen – aus dem genannten Grund unberücksichtigt und konzentriert sich auf die nähere Bestimmung dessen, was unter Handlung und deren Wirkung zu verstehen ist. Das heißt aber: An erster Stelle steht für Aristoteles das Ziel, auf vermittelte Weise (durch die eine bestimmte Handlung darstellende und zugleich angenehme, das heißt ästhetisch ansprechende Mimesis), den Leser bzw. Zuschauer Einsicht gewinnen zu lassen in ethisch relevantes Verhalten einzelner Menschen, ohne dass dieser selbst die – in der Tragödie zumindest zum größten Teil – leidvolle Erfahrung machen muss. Diesem bestimmten Ziel genügt von den Künsten, die Aristoteles zu Beginn der Poetik nennt und denen allen Nachahmung menschlicher Handlung gemeinsam ist, am meisten die Literatur und innerhalb derselben am meisten die Tragödie. Das in der Poetik gemeinte Allgemeine der Tragödie bedeutet, dass ein in seinem charakterlichen Habitus bestimmter Mensch in einer bestimmten Situation auf bestimmte Weise handelt – etwa dass ein zu übermäßigem Zorn Neigender, wenn er sich in seiner Ehre verletzt fühlt, auch übermäßig zornig handelt (1451 b8-10). Es ist ein konkret Allgemeines; nicht Handlung als solche

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Aristoteles: De arte poetica liber, hg. von Rudolf Kassel, Oxford 1965.

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ist gemeint, sondern eine bestimmte Handlung einer bestimmten Person in einer bestimmten Situation (1449 b36-1450 a1).12 Allgemein ist die Handlung insofern, als es weder um bloß zufällige oder nebensächliche Handlungen oder historisch einmalige Handlung geht, deren Umgebung und Umstände jeweils andere sind; mit ‚allgemein‘ ist auch nicht der kleinste gemeinsame Nenner von für den Menschen üblichen Handlungen wie Schlafen oder Essen gemeint (zumal diese Handlungen auch von anderen Lebewesen ausgeführt werden) oder Kochen und ein Handwerk Verrichten. Diese Aktivitäten sind nach Aristoteles Sache der Geschichtsschreibung (1451 b6-7, 1459 a21-24). Gegenstand der Nachahmung ist laut Aristoteles, was sich aus dem aus anfänglich vorhandenen Anlagen ausgebildeten Charakter (Habitus) eines einzelnen Menschen mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit als Handlung in einer bestimmten Situation ergibt (1454 a33-36).13 Da es nicht um den einzelnen Menschen in seiner Prägung durch bestimmte Umstände und als Subjekt beliebiger Tätigkeiten geht, sondern um einzelne wichtige Handlungen als unabdingbare Elemente einer Gesamthandlung, stellen sie eine bestimmte Möglichkeit von menschlichem Handeln allgemein dar.14 Auf welche Weise deutet Robortello Aristoteles’ Bestimmung des Gegenstandes der Literatur um? Auf den ersten Blick könnte man annehmen, er treffe Aristoteles’ Intention, da er sich in seinem Kommentar zur Poetik, indem er den Text auslegt, wie dieser selbst auf die Nachahmung menschlicher Handlung und deren Bedeutung konzentriert. In der Einleitung zu seinen Explicationes betont Robortello aber, nicht allein menschliches Handeln, sondern alle Dinge könnten Gegenstand literarischer Mimesis sein: „Nam poetice loquitur de iis tantum rebus, aut quae sunt, aut quae esse possunt. Aut quae vetus est

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Arbogast Schmitt: Mimesis bei Aristoteles und in den Poetikkommentaren der Renaissance. Zum Wandel des Gedankens von der Nachahmung der Natur in der frühen Neuzeit, in: Andreas Kablitz u. Gerhard Neumann (Hg.): Mimesis und Simulation, Freiburg i.Br. 1998 (Rombach Litterae, Bd. 52), S. 17-53, hier: S. 31ff. Siehe dagegen die Fehldeutung von Jürgen H. Petersen: Mimesis – Imitatio – Nachahmung, München 2000, S. 49, dass laut Aristoteles der dargestellte Gegenstand „das eigentliche Wesen der Dichtung [...] nicht [tangiere], was [nicht] nur abermals jede Nachahmungstheorie ins Abseits stellt, sondern uns auch deutlich macht, dass es um die Darstellungsart geht, wenn mit dem Begriff der Mimesis das Poetische vom Nicht-Poetischen unterschieden werden soll“. Dabei bezeichnet das Wahrscheinliche und Notwendige, wie Viviana Cessi: Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt a.M. 1987 (Beiträge zur klassischen Philologie, Bd. 180), S. 264, darlegt, „den kausalen Zusammenhang zwischen der charakterlichen Verfassung des Handelnden und der aus ihr folgenden Handlung“. Zum Begriff des Möglichen im Zusammenhang mit dem menschlichen Charakter vgl. Arbogast Schmitt: Teleologie und Geschichte bei Aristoteles oder Wie kommen nach Aristoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte?, in: Karlheinz Stierle u. Rainer Warning (Hg.): Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 16), S. 528-563, hier: S. 531ff.

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apud homines opinio, esse“ (Explicationes, S. 2). Damit zielt Robortello anders als Aristoteles auf eine universale Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Literatur ab. Indem Robortello meint, alles könne Gegenstand literarischer Mimesis sein, schließt er sich einer Position an, die schon Horaz in der Ars poetica vertritt: Der Dichter könne sich jeden Stoff erwählen, den kunstfertig in Worte zu fassen er sich zutraue: „sumite materiam vestris, qui scribitis, aequam / viribus et versate diu, quid ferre recusent, / quid valeant umeri“ (Ars poetica, Ze. 38-40).15 Robortello fügt präzisierend hinzu, es gehe um die „repraesentationem, descriptionem, & imitationem omnium actionum humanarum; omnium motionum; omnium rerum tum animatarum, tum inanimatarum“ (Explicationes, S. 2). Robortellos Formulierung ist reich an Implikationen; zunächst gilt es zu klären, was Robortello mit „repraesentatio“ meint, der die ‚descriptio‘ bzw. ‚imitatio‘ folgt. In der Einleitung zu den Explicationes, der die Formulierung entnommen ist, thematisiert Robortello direkt im Anschluss an die Behandlung der Aufgabe der Literatur (nämlich ‚repraesentare‘) die Fragen, durch welches Medium die ‚repraesentatio‘ erfolge und wie das Denken zu seinen Gegenständen komme. Robortello gibt als Antworten, dass die ‚repraesentatio‘ durch das Wort erfolge und dass das Denken (oder die ‚cogitatio‘) seine Gegenstände bzw. genauer die Bilder (imagines) derselben von außen empfange. Dann verknüpft er die beiden Antworten im Sinne einer Kausalfolge dahingehend, dass das Wort alle die Bilder zum Ausdruck bringe, die das Denken empfangen habe. Robortello begreift den Vorgang der Vergegenwärtigung als rezeptiv („rerum imagines cogitatio recipit“, Explicationes, S. 2). Dass mit diesem rezeptiven Vorgang tatsächlich alles bildlich bzw. in der menschlichen Vorstellung präsent sein soll, was an Dingen in der Welt nur vorstellbar ist, wird aus Robortellos Äußerung ersichtlich, mittels der Sprache, die sich auf die im Denken gegebenen ‚imagines‘ bezieht, könne man alle Dinge ‚repraesentare‘. Allerdings wird die Gültigkeit dieser Aussage eingeschränkt bzw. präzisiert: Mit ‚alle Dinge‘ ist gemeint: alle Dinge, die dem Auge wahrnehmbar sind. Es wäre im Sinne der aristotelischen Wahrnehmungstheorie zu präzisieren: spezifisch für das Auge die primäre Qualität, eine bestimmte Farbe, sowie die sekundären Qualitäten, Ruhe, Bewegung, Zahl, Gestalt und Größe, die von mehreren bzw. allen Sinnen gleichermaßen wahrgenommen werden, im Falle des Auges farbiges Ruhendes, farbiges Bewegtes, Farbiges von bestimmter Zahl, Gestalt oder Größe.16

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Q. Flaccius Horaz: Opera, hg. von Friedrich Klingner, 6. Aufl. Leipzig 1982. Wolfgang Bernard: Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles. Versuch einer Bestimmung der spontanen Erkenntnisleistung der Wahrnehmung bei Aristoteles in Abgrenzung gegen die rezeptive Auslegung der Sinnlichkeit bei Descartes und Kant, Baden-

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Zwar meint Robortello, in diesem Sinne – da an der äußeren Erscheinung orientiert – konsequent, dass die Sprache nicht die innere Haltung oder Gesinnung, sei es eine tugendhafte oder lasterhafte, sondern lediglich die äußeren Handlungen, welche in diesen ihre Ursache hätten, ‚repraesentare‘ könne; denn der Charakter selbst sei verborgen und der optischen Wahrnehmung nicht zugänglich (Explicationes, S. 2). Robortello nennt zudem weitere Quellen der Erkenntnis: nämlich neben dem optisch Wahrnehmbaren wie Gesichtsausdruck und Gesten auch Akustisches wie Stimme, Aussprache und Tonlage. Demnach meint ‚repraesentatio‘ sowohl die Vorstellung von einer Sache im Denken aufgrund von Wahrnehmungsmomenten wie Akustischem und Optischem als auch die neuerliche Versinnbildlichung von Vorgestelltem für eine sekundäre Wahrnehmung durch den Rezipienten. Aristoteles zufolge ist aber selbst eine äußere Handlung in dem Sinne, dass ihre Ursache – der Charakter – verborgen ist, nicht Gegenstand der Wahrnehmung. Das, was Auge und Ohr wahrnehmen, sind etwa die (Gesichts-)Farbe rot oder blass, der hohe oder tiefe Ton der Stimme. Aus diesen Wahrnehmungsmomenten kann das Denken auf bestimmte Gemütsverfassungen und Handlungen schließen: etwa aus der Rötung des Gesichts auf Zorn, aus der hohen Stimme auf seelische Erregtheit usf.; die Wahrnehmung selbst leistet dies nicht.17 Wenn aber das Denken, wie Robortello meint, lediglich Informationen der Wahrnehmung von außen empfängt und von sich aus abgesehen von diesem rezeptiven Akt keine Eigenleistung vollzieht, wie kommt das Denken dann dazu, die Bedeutung von Gesten, von Körperbewegungen, von Gesichtszügen oder gar von Worten zu verstehen? Ja, mehr noch, wie kommt es dazu, aus dem, was gesagt wird, auf eine innere Haltung oder Gesinnung zu schließen? Von diesen spricht Robortello aber in seinen Kommentaren zu Textpassagen der aristotelischen Poetik (Explicationes, S. 67ff. zu ‚mores‘ und ‚sententia‘; auch S. 174ff.). Wäre das Denken auf den – ihm von Robortello unterstellten – rein rezeptiven Akt beschränkt, würden derartige Schlüsse nicht möglich sein; denn das Denken hätte abgesehen von dem in der Vorstellung Gegebenen keinen weiteren Inhalt. Robortello folgt mit seiner Annahme der Rezeptivität der Wahrnehmung der stoischen Typosislehre; signifikant für diese ist die Umdeutung der Wachsmetapher aus Aristoteles’ De anima im Sinne materieller Impression.18

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Baden 1988 (Saecula spiritalia, Bd. 19), S. 87ff.; Verf.: Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen 2000 (communicatio, Bd. 22), S. 60f. Bernard: Rezeptivität und Spontaneität (Anm. 16), S. 69ff., zur akzidentellen Wahrnehmung vgl. ebd., S. 75ff. Zur stoischen Auslegung des von Aristoteles in De anima 429 b29, 429 b30, 430 a1 und 430 a2 mit der Wachsmetapher Gemeinten Malte Hossenfelder: Stoa, Epikureismus und Skepsis, München 1985 (Die Philosophie der Antike, Bd. 3), S. 70. Siehe ferner Leen Spruit: Species

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Die stoische Typosislehre hat ihre sachliche Entsprechung in Positionen der spätmittelalterlichen Wahrnehmungstheorie, etwa der des Johannes Duns Scotus’. Duns Scotus wandelt die ‚species‘-Theorie, wie sie sich bei Thomas von Aquin in seiner Auslegung der aristotelischen Schrift De anima findet, in eine Repräsentationstheorie um. Im Denken liegen dieser Theorie zufolge Bilder vor (diese werden im Denken repräsentiert), mit oder in denen ein äußerer Gegenstand abgebildet und in der Seele gegenständlich nachgebildet wird.19 Laut Thomas von Aquin und Aristoteles hingegen ist die Wahrnehmung ein Akt zwar unmittelbaren, aber aktiven Erkennens, indem das Wahrnehmungsvermögen eine Unterscheidungsleistung erbringt, die Bestimmtheit von Wahrnehmbarem aus dem Unbestimmten herauslöst und dieses Wahrnehmbare im Lichte der ‚species‘, etwa der der Farbe, als eine bestimmte Verwirklichung, etwa rot, erkennt20 (Analyt. Post. 87 b28-30). 21 Dass Robortello der stoischen Typosislehre folgt, hat Konsequenzen für seine Bestimmung des Gegenstandes der Literatur. Zwar stimmt er dahingehend mit Aristoteles überein, dass die ‚phantasia‘ oder ‚imaginatio‘ die Vorstellung eines einzelnen äußeren Objektes ohne Anwesenheit des Gegenstandes ist. Während Aristoteles zufolge aber das Denken das Wesen einer Sache begreift (wovon die ‚phantasia‘ immer nur eine einzelne Instanz bietet und darüber hinaus vieles, was nicht zur Sache selbst gehört), müsste für Robor-

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intelligibilis. From Perception to Knowledge, Bd. 1, Leiden u.a. 1994, zur stoischen Typosislehre S. 54ff., und ebd., S. 56, Anm. 109: „With the Stoics, the metaphor of the impression on a waxtablet, interpreted as fact, becomes the basis of a philosophical psychology. In Aristotle, the metaphor of the waxseal was meant to highlight also the immaterial aspects of sense perception, because the wax takes on the form of the seal without its matter“; zur Typosislehre des Stoikers Zenon aus Kition siehe Peter Steinmetz: Die Stoa, in: Helmut Flashar (Hg.): Die hellenistische Philosophie, Basel 1994 (Die Philosophie der Antike, Bd. 4), S. 491-716, hier: S. 528ff.; zur Typosislehre Epikurs siehe Michael Erler: Epikur – Die Schule Epikurs – Lukrez, in: Die hellenistische Philosophie (ebd.), S. 29-490, hier: S. 147-149, sowie Hossenfelder (siehe oben), S. 125ff. Die Übernahme der stoischen Typosislehre durch Robortello halte ich als Ursache für seine Forderung, Literatur solle Realität repräsentieren im Sinne von abbilden und beschreiben, für wahrscheinlicher als Petersens Annahme (Mimesis [Anm. 12]), S. 265, dass sie Ausdruck eines „tief veränderten Lebensgefühls [sei], das die Welt nicht mehr als irdisches Jammertal und Bewährungsplatz für die Annahme im Himmel, sondern als den Inbegriff sinnlicher Schönheit verstand“. Denn dieses historische und insofern für die Frühe Neuzeit, so Petersen, spezifische Lebensgefühl wäre zugleich die Ursache für Horaz’ Begriff der ‚imitatio‘ in der Ars poetica, der, wie Petersen selbst sagt, auch „Nachahmung [...] von Wirklichkeit“ (ebd., S. 72) meint. Zu Duns Scotus siehe Spruit: Species intelligibilies (Anm. 18), Bd. 1, S. 257ff.: „the species presenting the object to the intellect is viewed [sc. by Duns Scotus] as impressed“ (S. 266). Zur Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung laut Aristoteles siehe Bernard: Rezeptivität und Spontaneität (Anm. 16), S. 49ff.; zu Thomas von Aquin siehe Verf.: Umkehr der Sinneshierarchie (Anm. 16), S. 43ff. Aristoteles: Zweite Analytiken, mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar von Horst Seidl, Würzburg 1987 (Elementa-Texte, Bd. 1).

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tello der Anfang der Erkenntnis – das im Denken aufgrund von Wahrnehmung Vorgestellte – konsequenterweise eigentlich auch bereits das Ende sein. Damit käme man jedoch nicht weit. So nimmt Robortello an, dass in der Vorstellung mehr als bloß der einzelne äußere Gegenstand, nämlich alle die Bestimmungen gegenwärtig seien, die zur Bestimmtheit einer Sache gehören; wie dies jedoch zustande komme, wisse er nicht. Tatsache aber sei, dass durch die Sinne gleichsam die Sache selbst gezeigt werde: „repraesentatio enim [...] coniungit, nescio quo modo, cum cogitatione, & phantasia hominum imaginem rei, quae repraesentatur; & agitur quasi rem ipsam cum sensu“ (Explicationes, S. 3). Grundlage für diese Auffassung ist die bei Duns Scotus nachweisbare und für die Nachfolgezeit wirkungsmächtige Wesensverwandtschaft mit der stoischen Erkenntnistheorie.22 Im Gegensatz zu der immer wieder behaupteten Entdeckung der autonomen Subjektivität profiliert Duns Scotus die ‚phantasía kataleptiké‘ als das eigentliche die Welt erfassende oder eher rezipierende Vermögen, wodurch die reine Verstandestätigkeit nur noch als nachgeordnete Instanz verstanden wird, die sich auf ein bereits Gegebenes bezieht, um dieses formal abstrakt zu verknüpfen. In der Vorstellung soll demzufolge bereits die Sache selbst, das Einzelne in seinen ihm wesenhaft zukommenden Beschaffenheiten erfasst sein, so dass dem Denken lediglich die Aufgabe zukommt, das bereits sinnlich Wahrgenommene und dann Vorgestellte sich neuerlich und in einem nachgeordneten Akt auf abstraktere Weise vorzustellen.23 Der zentralen Bedeutung der sinnlichen Vorstellung allgemein als Konstituens des Gegenstandes – und speziell als Konstituens des Gegenstandes der Literatur – entspricht die zentrale Rolle der ‚phantasia‘ innerhalb der menschlichen Erkenntnisvermögen in der Frühen Neuzeit. Marsilio Ficino ist hierbei wegweisend.24 Die ‚phantasia‘ wird bei ihm zu einem quasi intellektuellen Vermögen. Ficino zufolge soll bereits diese und nicht erst der ‚intellectus‘ erkennen können, was die Sache selbst jenseits ihrer akzidentellen Bestim-

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Arbogast Schmitt: Anschauung und Denken bei Duns Scotus. Über eine für die neuzeitliche Erkenntnistheorie folgenreiche Akzentverlagerung in der spätmittelalterlichen AristotelesDeutung, in: Enno Rudolph (Hg.): Die Renaissance und ihre Antike, Tübingen 1998 (Religion und Aufklärung, Bd. 1), S. 7-34. Spruit: Species intelligibilis (Anm. 18), Bd. 1, S. 262, bezeichnet die Leistung der abstrahierenden Vorstellung, wie Duns Scotus sie versteht, als „the intellectual grasp of the universal nature of the sensual realm“; dieses Allgemeine kann durch den Intellekt erfasst werden, „when it is appropiately represented“ (ebd.); angemessen repräsentiert wird das Allgemeine, denn die species „is present in every singular thing“ (S. 263). Verf.: Sensus communis, imaginatio und sensorium commune im 17. Jahrhundert, in: Hans Adler, in Verbindung mit Ulrike Zeuch (Hg.): Synästhesie. Interferenz – Transfer – Synthese der Sinne, Würzburg 2002, S. 167-184.

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mungen ist.25 Die ‚phantasia‘ gilt Ficino als dasjenige Vermögen, welches alle nur möglichen Gegenstände der Erkenntnis bereits erfasst hat und auf dessen Einsicht der ‚intellectus‘ sich lediglich in einem reflexiven und noch weitergehend von Singularitäten abstrahierendem Akt bezieht.26 Nach Ficino werden die von ihm selbst noch vorgenommenen Unterscheidungen zwischen ‚imaginatio‘ als Reservoir der ‚sinnlichen‘ Data und der ‚phantasia‘ als, so Ficino, Reservoir der ‚rationalen‘ Einsichten eingeebnet zugunsten eines Vermögens, welches unterschiedslos alles in der Vorstellung Gegebene – vorzugsweise aber das durch die Wahrnehmung der Vorstellung Gegebene – speichert.27 Zwar betont auch Aristoteles die Bedeutung der Wahrnehmung am Anfang des Erkenntnisprozesses (Analyt. Post. 100 a10-14). Wenn jemand blutüberströmt auf der Bühne liegt, dann kann die Wahrnehmung von roter Farbe, welche als Blut zunächst eines Lebewesens, dann eines Menschen, dann eines bestimmten Menschen erkannt wird, als Gegenstand der Vorstellung zum Ausgangspunkt für die Überlegung werden, wie es zu diesem furchtbaren Blutvergießen gekommen ist, ob dieses verdient ist oder nicht und wie dieses möglicherweise hätte verhindert werden können. Aber dies sind alles Akte des Denkens, die mit der Wahrnehmung oder gar dem Gegebensein von wahrnehmbaren Gegenständen in der Vorstellung nichts mehr zu tun haben bzw. von der Wahrnehmung lediglich veranlasst sind.28 Da für Robortello ‚repraesentatio‘ die Vergegenwärtigung wie die Versinnbildlichung von Wahrnehmungsmomenten meint, hat die ‚descriptio‘ bzw. ‚imitatio‘ auch keinen anderen Inhalt. Die Beschreibung und die Nachahmung haben sich an das in diesem Sinne in der Vorstellung Gegebene zu halten – so die Theorie. Dass sich dies in der Praxis nicht durchhalten lässt, wird bereits bei Robortello selbst deutlich, etwa wenn er sagt, dass Literatur vorbildhaftes Verhalten darstellen soll (Explicationes, S. 67ff. u. 174ff.). Weil Robortello der Literatur eine allumfassende Funktion – nämlich die Vergegenwärtigung von allem, ‚was ist‘ – zubilligen will, betont er, dass Literatur alles bildlich wiederzugeben, zu beschreiben und nachzuahmen imstande sei. Es geht ihm

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Vgl. zum geistesgeschichtlichen Kontext die Sammelbände von Danielle Lories u. Laura Rizzerio (Hg.): De la phantasia à l’imagination, Dudley (Mass.) 2003 (Collection d’études classiques, Bd. 17); Jörn Steigerwald u. Daniela Watzke (Hg.): Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit. Über Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830), Würzburg 2003. Marsilius Ficino: Theologia platonica de immortalitate animorum, Paris 1559, fol. 106 r: „Imaginatio neque substantiam rei suspicatur quidem, sed rei superficiem, exterioremque picturam phantasia substantiam saltem auguratur, dum pronunciat. Obvius ille, homo aliquis est, et Plato“; siehe dazu Verf.: Sensus communis (Anm. 24), S. 170ff. Verf.: Sensus communis (Anm. 24), S. 175ff. Vgl. Bernard: Rezeptivität und Spontaneität (Anm. 16), zur akzidentellen Wahrnehmung S. 75ff.

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also in der Einleitung zu den Explicationes nicht um die Spezifik des Gegenstandes literarischer Mimesis. Das wird auch an der Aufzählung der Gegenstände, die es nachzuahmen gilt, deutlich: Neben der Nachahmung menschlicher Handlung nennt Robortello Bewegung. Bezieht er sich hierbei nicht auf die Bewegung von Körpern, sondern auf Bewegung als innerseelischen Vorgang, ist damit die Nachahmung von Affekten gemeint, wie Robortello sie dann auch nennt: Weinen, Lachen, Zorn und Wut (Explicationes, S. 3). In diesem Punkt folgt Robortello ebenfalls Horaz, ohne sich die Frage nach der sinnlichen Darstellbarkeit derartiger innerer Vorgänge zu stellen. Die Forderung, Einsicht in die Beschaffenheit seelischer Zustände durch die Beschreibung des Körpers zu vermitteln, findet noch ihren Niederschlag in Diskussionen des 18. Jahrhunderts über die Lesbarkeit der Seele. Indem Robortello Nachahmung von Handlung gleichwertig mit Nachahmung von Bewegung behandelt, bereitet er sachlich die Verlagerung der Aufmerksamkeit von ‚Handlung‘ zu Bewegung als innerseelischem Vorgang vor (die im Zusammenhang mit dem Menschen und seinem Handeln steht, insofern sie bildlich wiedergegeben werden kann); in der Folge führt die Verlagerung der Aufmerksamkeit von Handlung zu Bewegung zu der Forderung, vorrangig innerseelische Bewegung sprachlich der Vorstellung des Lesers zu präsentieren, wie etwa bei Johann Christoph Gottsched (dazu genauer im Folgenden). Schließlich bedeutet Robortellos Forderung an den Dichter, etwas so darzustellen, dass es bildlich und damit sinnlich vorstellbar sei, eine Ausweitung auf alle Gegenstände, insofern sie in diesem Sinne beschreibbar sind; durch die Wahl des Begriffes ‚describere‘ wird deutlich, dass Mimesis gegenstandsgetreue Wiedergabe meint und die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung vorzuliegen haben, um den äußeren Gegenstand so wiedergeben zu können, ‚wie er ist‘. Vorausgesetzt ist bei dem ‚wie er ist‘, dass (wie bereits im Zusammenhang mit Duns Scotus gesagt) in der sinnlichen Wahrnehmung auf irgendeine Weise sämtliche Bestimmungen erfasst sind, die das Wesen des Gegenstandes und Objekts der Mimesis ausmachen. Durch Wahrnehmung aber etwas Allgemeines zu erfassen, hält Aristoteles für ausgeschlossen, da sich seiner Meinung nach Wahrnehmung immer auf einzelne Gegenstände im Hier und Jetzt richtet; das Allgemeine tue dies hingegen nicht, denn sonst wäre es kein Allgemeines (Analyt. Post. 87 b28-33; 88 a1-2). Robortellos Explicationes der Poetik des Aristoteles sind – das lässt sich an dieser Stelle bereits sagen – ein für die Literaturtheorie der Neuzeit wichtiges Zeugnis für die Erweiterung des Gegenstandsbereichs literarischer Mimesis, und zwar der Erweiterung des Gegenstandsbereichs in einer bestimmten Hinsicht: in Hinsicht auf einzelne, wahrnehmbare bzw. aufgrund von Wahrnehmung vorstellbare und in diesem Sinne beschreibbare Phänomene. Doch das ist nicht die einzige, für die Nachfolgezeit wichtige Umdeutung. Es gibt

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noch eine zweite, folgenreichere. Robortello erweitert nämlich nicht nur den Gegenstandsbereich der literarischen Mimesis. Er engt ihn auch ein: Der Dichter stelle keine Handlung, sondern vielmehr das Subjekt einer Handlung, den Handelnden, dar – und zwar abgelöst von kontingenten Umständen und Situationen. Dieses Subjekt aber ist nicht irgendwer, kein beliebiges Subjekt, sondern ein ethisch vorbildhafter, „prudens [...] Ulysses“ bzw. der „prudens, callidusque“ Odysseus (Explicationes, S. 91) oder „pius Teucer“, das heißt Aeneas (S. 175). Mit diesen Eigenschaften ‚pius‘ oder ‚prudens‘ sind keine einzelnen Eigenschaften beliebiger Charaktere, sondern mit ihnen ist eine allgemeine Eigenschaft, das heißt eigentlich die Verbindung von Frömmigkeit und Klugheit, gemeint, und Odysseus und Aeneas gelten ihm als die sinnlich wahrnehmbare und in diesem Sinne repräsentierbare Verkörperung dieser Eigenschaften, ohne dass Robortello deren Darstellbarkeit auf eine den Sinnen zugängliche Weise problematisieren würde. Da es sich dabei um Eigenschaften handelt, die in jeder Lebenslage die Handlung bestimmen und sich insofern als konstant erweisen, ist statt von Handlung in einer bestimmten Situation präziser von genereller Haltung zu sprechen – und zwar von einer Grundhaltung, welche eine gemäß der jeweiligen Eigenschaft vorbildhafte Person durchgängig bestimmt. Die Person bzw. ihre Haltung wird damit zum einheitlichen ‚Ermöglichungsgrund‘ für sämtliche Handlungen, sowohl für spezifische wie für unspezifische, zufällige, nebensächliche, beiläufige, beliebige. Die Ursachenforschung wird damit erheblich versimplifiziert: Jede Handlung ist Ausdruck ein und derselben Haltung; an jeder Handlung lässt sich in sinnlicher Vergegenwärtigung unmittelbar begreifen, was Frömmigkeit bzw. Klugheit ist, da sich alles im Lichte der einen, einheitlichen, widerspruchsfreien Haltung vollziehen soll. Die Allgemeinheit der Literatur besteht für Robortello in der Darstellung dieser allgemeinen Eigenschaft; die Person selbst als Träger der sie durchgängig, das heißt konstant bestimmenden Eigenschaft ist letztlich austauschbar. Aristoteles hält in Bezug auf sein Ziel, auf vermittelte Weise durch die bestimmte Handlung darstellende Mimesis den Leser bzw. Zuschauer Einsicht gewinnen zu lassen in ethisch relevante Handlungen einzelner Menschen, die charakterliche Beschaffenheit als Stoff der Literatur für sekundär, hingegen eine bestimmte Handlung für primär (Poetik 1450 a20-23).29 Stoff der Literatur ist keine Charakterstudie in dem Sinne, dass in der Literatur die einzelnen,

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Insofern ist Stefan Trappens Urteil, dass Aristoteles’ Gegenstand der Literatur „lediglich auf die ethische Qualität der nachgeahmten ‚handelnden Menschen‘ bezogen“ sei, nicht präzise – Stefan Trappen: Dialektischer und Klassischer Gattungsbegriff bei Opitz. Ein übersehener Zusammenhang zwischen Aristoteles, Scaliger und der deutschen Barockpoetik, in: Thomas Borgstedt u.a. (Hg.): Martin Opitz (1597-1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt, Tübingen 2002, S. 88-98, hier S. 95f.

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durchaus heterogenen Eigenschaften eines komplexen Charakters aufgezählt würden, etwa dass Ödipus (in mancher Hinsicht) zwar durchaus klug ist, aber zugleich zu übermäßigem Zorn und deshalb zu voreiligen Schlüssen neigt. Bei Robortello ist dies nicht nur umgekehrt, also die Person primär, die Handlung sekundär, sondern die Handlung selbst ist auf eine für die Literaturtheorie der Nachfolgezeit entscheidende Weise abstrakt-allgemein gehalten. Aufgrund des von Robortello diesem so verstandenen Allgemeinen zugesprochenen Status’ scheint es nicht nötig, nach der sachlichen Bestimmtheit dieses zunächst lediglich generischen Allgemeinen weiter zu forschen. Auch eine Erkenntnisleistung des Rezipienten ist nicht nötig. Dieser weiß bereits, was ihn erwartet und dass dieses immer dasselbe ist: die sinnliche Darstellung einer Haltung, wie auch immer diese in der Praxis aussehen und realisiert sein mag. Da die Konstanz der Eigenschaft eine Bedingung dafür ist, dass sie in diesem Sinne allgemein ist, sind Handlungsalternativen nicht zulässig und nicht vorgesehen. Es gibt keine Abweichung, keinen Zufall. Die allgemeinen Eigenschaften wie ‚pius‘ oder ‚prudens‘ müssen folglich gemäß dem Notwendigen dargestellt sein: „debent tunc personarum mores exprimi a poeta, secundum necessarium“ (S. 175); sie disponieren nur zu einem, und zwar zu dem immer gleichen Verhalten. Robortello reduziert den Gegenstand der Literatur von der Mannigfaltigkeit komplexer und damit individueller, zudem weder ganz guter noch ganz schlechter, mithin mittlerer Charaktere als Ursache bestimmter Handlung in einer bestimmten Situation auf ein generisches, abstraktes Allgemeines. Aus der komplexen Einheit von bestimmtem Charakter, bestimmter Situation und bestimmter Handlung wird ein immer gleiches Verhalten, das, da es in jeder Situation richtig sein soll, als generelle Haltung zu bezeichnen ist. Aus der Wahrscheinlichkeit bzw. Notwendigkeit, mit der eine bestimmte Handlung aufgrund bestimmter charakterlicher Anlagen eines Menschen in einer bestimmten Situation anzunehmen ist, wird eine abstrakte Norm. Aristoteles’ konkret Allgemeines, welches einen Charakter von bestimmtem Habitus als ‚Ermöglichungsgrund‘ für eine bestimmte Handlung in einer bestimmten Situation meint, wird reduziert auf die Zuschreibung einer abstrakten Eigenschaft. Scaliger wird von der bei Robortello immer noch implizierten Bestimmtheit der einzelnen Eigenschaften abstrahieren, um zu einem der Frömmigkeit und der Klugheit gemeinsamen Nenner zu kommen: der Tugendhaftigkeit selbst. Sie gilt es zu repräsentieren.30 Wie das geschehen soll, an diesem

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Verf.: Das Allgemeine (Anm. 2), S. 113ff. Ein Abstraktum zu versinnbildlichen, dies wird zur Aufgabe der neuzeitlichen Allegorie; vgl. Peter-André Alt: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen 1995 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 131). Zu den stoischen Implikationen dieses Allegoriebegriffs vgl. Wolfgang Bernard: Spätantike Dichtungstheorien. Untersuchungen zu Proklos, Herakleitos und Plutarch, Stuttgart 1990 (Beiträge zur Altertumskunde, Bd. 3).

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Problem arbeitet sich die Literaturtheorie in der Nachfolge ab; denn dass die Tugendhaftigkeit so weit reichende Bedingungen erfüllen könnte, wird spätestens im 18. Jahrhundert zweifelhaft. Was an deren Stelle tritt, wird im Folgenden thematisiert. Doch zunächst werden die Widersprüche, die sich aus Robortellos Umdeutungen ergeben, betrachtet. Widersprüche Indem Robortello einerseits den Gegenstandsbereich der literarischen Mimesis auf alle menschlichen Handlungen, alles Beseelte und Unbeseelte, alles Bewegte und Unbewegte erweitert, ihn aber andererseits auf eine abstrakte Verhaltensnorm, wie sie in einem Menschen anschaulich werden soll, einengt, begibt er sich in einen theoretischen Widerspruch, den er selbst nicht sieht: in den Widerspruch nämlich, einerseits empirisch erfahrbares Einzelnes, andererseits ein aus der Wirklichkeit nicht ableitbares Allgemeines als Gegenstand der Literatur zu postulieren. Als Verfahren zur Gewinnung eines solchen Allgemeinen gibt Robortello die analytische Methode an, die induktiv schließe. Oder genauer: Robortello unterstellt Aristoteles, nach dieser Methode zu Beginn seiner Poetik zu verfahren, um zum Allgemeinen oder ‚universale‘, das heißt zu demjenigen zu gelangen, was das Wesen von Literatur ausmacht: „Vult Aristoteles investigare definitionem artis poeticae, utitur methodo resolvente“ (S. 6). Aristoteles selbst geht jedoch nicht einmal im ersten Schritt, am Anfang der Poetik, nach dem ‚methodus resolvens‘ – das heißt der analytischen Methode – vor, die, so Robortello, fortschreite vom Einzelnen zum Einen, Allgemeinen, zu allem Gemeinsamen („a singularibus, ad unum universale commune omnibus“, S. 5); auch sind für Aristoteteles Induktion und analytische Methode zwei verschiedene Verfahren, die auch einen unterschiedlichen Gegenstand haben, während Robortello den Unterschied zwischen theoretischer Analysis und Induktion nivelliert (zu den Gründen im Folgenden). Aristoteles zufolge schließt die Induktion etwas Allgemeines aus Einzelnem. Das durch die Induktion gewonnene Allgemeine ist allerdings generisch und damit abstrakt allgemein (Analyt. Post. 100 a2 ff.; 100 b1ff.), etwa die Aussage, dass alle Menschen Lebewesen sind. Damit ist über den Menschen als Menschen, das heißt darüber, was den Menschen im Unterschied zu den übrigen Lebewesen wesensmäßig ausmacht, noch nicht viel gesagt. Aufgabe der theoretischen analytischen Methode (im Unterschied zur praktischen) hingegen ist das Schließen von der Wirkung auf die Ursache bzw. innerhalb des Syllogismus vom Schluss auf die Prämissen (78 a22ff.). Auch die Bestimmung des Menschen als ‚animal rationale‘ ist abstrakt allgemein, wenn man nicht

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weiß, was es für die theoretische Erkenntnis wie für die praktische Lebensführung des Menschen bedeutet, ein mit ‚ratio‘ begabtes Wesen zu sein. Anders also als die Induktion allein verhilft die analytische Methode zur Einsicht in die sachliche Bestimmtheit des auf diese Weise gefundenen Allgemeinen bzw. der Prämisse. Aristoteles bestimmt zu Beginn der Poetik Mimesis zunächst als das allen Künsten Gemeinsame; man könnte meinen, das sei ein aufgrund von Induktion gewonnenes, generisches, abstrakt Allgemeines, dessen Bestimmung folglich nicht hinreichend ist, um das Spezifische der Literatur und damit das zu erkennen, was ihr Wesen ausmacht. Aristoteles bleibt dabei aber nicht stehen. Seine an die erste Bestimmung anknüpfenden weiteren Überlegungen folgen ebenfalls nicht, wie Robortello meint, der analytischen Methode; vielmehr geht Aristoteles deduktiv synthetisch vor: Er setzt schrittweise die Bestimmungen zusammen, indem er sie von dem ableitet, was das Ziel ist: nämlich auf vermittelte und zugleich ästhetisch ansprechende Weise durch die eine bestimmte Handlung darstellende Mimesis den Leser bzw. Zuschauer Einsicht gewinnen zu lassen in ethisch relevante Handlung einzelner Menschen und deren Ursache in einem bestimmten Charakter. Neben der Bestimmung, dass alle Kunst Mimesis, und zwar Mimesis menschlicher Handlung sei (Poetik 1447 a28), nennt Aristoteles ferner, dass Literatur im Unterschied etwa zur Geschichtsschreibung Mimesis eines konkret Allgemeinen sei, dass die Handlung in bestimmter Weise beschaffen sein müsse (etwa dass Handlung nicht durch einen auktorialen Erzähler berichtet werde, sondern sich vor den Augen der Zuschauer bzw. des Lesers vollziehe), dass jede Teilhandlung notwendig auf die Gesamthandlung bezogen und nicht beliebig sei, dass sie nicht eine für eine Person beiläufige Handlung, sondern das der Wahrscheinlichkeit bzw. der Notwendigkeit nach aus einem Charakter als Ursache Resultierende, dass die Ursache der Handlung, der Charakter, ein mittlerer sei. Zudem solle die Handlung beim Rezipienten durch eine auf die Handlung bezogene Erkenntnis bestimmte Affekte auslösen: Furcht, dass es einem ebenso ergehen könnte, Mitleid wegen des im Verhältnis zur Verfehlung übermäßigen Leides des Handelnden. Des Weiteren sei es wichtig, dass die sprachliche Gestaltung zur jeweiligen Handlung passe usf. Sämtliche Bestimmungen sind erst am Ende der Poetik beisammen. Zwar setzt Aristoteles’ Bestimmung des Gegenstandes der Literatur in der Poetik Induktionsschlüsse voraus (das Verfahren legt Aristoteles in der Analyt. Post. 97 b15 ff. am Beispiel dar, wie man vorgehe, wenn man klären wolle, was Großmut sei):31 Ohne jemals verschiedene Künste wie Tanz, Musik und 31

Zum Unterschied zwischen wissenschaftlicher und topischer Induktion, der darauf beruht, dass die Allgemeinaussagen der topischen Induktion Aristoteles zufolge prinzipiell widerlegbar sind, während die der wissenschaftlichen Induktion, die in den Analytika posteriora ver-

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Drama gesehen, ohne jemals Literatur gelesen oder gehört zu haben, wäre eine theoretische Bestimmung dessen, was deren Wesen ausmacht, nicht möglich; und Aristoteles selbst nennt eine Reihe literarischer Beispiele, deren Kenntnisse er voraussetzt und die er selbst kennt. Er wird an sich die Wirkung verschiedener literarischer Werke beobachtet und sich beispielsweise gefragt haben, warum die Epen Homers und die sophokleischen Tragödien auf ihn eine im Vergleich mit anderen literarischen Werken besondere Wirkung haben, welcher Art diese Wirkung ist, was deren Ursachen sind und ob Homers und Sophokles’ Werke nur auf ihn so wirken und auf andere nicht, oder ob diese Wirkung allgemein von diesen Werken aufgrund deren spezifischer Beschaffenheit ausgeht. Ohne das Einzelne als Ausgangspunkt für die theoretische Bestimmung des Gegenstandes der Literatur wäre diese ohne Anhaltspunkt. Gleichwohl ist bei der Untersuchung, die vom Einzelnen ausgeht, immer schon etwas vorausgesetzt, in dessen Licht das Einzelne beurteilt wird; das Einzelne selbst, und seien es die Epen Homers, kann nicht dasjenige sein, von dem abgeleitet werden kann, was Literatur selbst ist. Nur ist das Vorausgesetzte etwas, das zunächst in seiner inhaltlichen Bestimmtheit erkannt werden muss; und das zu erkennen, leistet nicht die Induktion, sondern die analytische Methode. Wenn Robortello schreibt, von Homer leite sich alle Literatur ab („a quo [sc. Homero] omnis poetice derivata est“, Explicationes, S. 2), dann kann er sich dabei auf das seit der Antike geläufige Urteil, Homer sei das Paradigma für Literatur, beziehen. Würde Aristoteles nicht von einem Vorausgesetzten, das heißt in diesem Fall dem Ziel der Darstellung von ethisch relevanter Handlung menschlicher Charaktere von bestimmtem Habitus, her argumentieren, sondern vielmehr alles, was als Literatur gilt, sammeln und dann das diesen Texten Gemeinsame als kleinsten Nenner erschließen, dann käme er etwa zu dem üblichen, aber – wie er meint – zu pauschalen Schluss, der Vers sei es, der Literatur von NichtLiteratur unterscheide (Poetik 1447 b13-16). In jedem Fall könnte er das antike Lehrgedicht, welches Medizinisches oder Naturwissenschaftliches thematisiert, aber in Verse gefasst ist, von dem, was Literatur seiner Meinung nach darstellen soll, nicht so entschieden ausschließen. Aristoteles setzt, indem er synthetisch deduziert, was Gegenstand der Literatur ist, bereits ein Ergebnis seiner aus der Methode der theoretischen Analysis gewonnenen Einsichten voraus; er geht insofern undidaktisch vor, als er nicht zeigt, wie er zu diesem Ergebnis gekommen ist.

handelt wird, bei der Erkenntnis des wissenschaftlichen Allegemeinen zwar hilft, es aber nicht qua Induktion erschließt, siehe Markus Schmitz: Analysis und Analytizität (in Manuskriptform eingesehen).

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Noch in anderer Hinsicht stützt sich Aristoteles auf induktive Syllogismen als für die Erkenntnis allgemein bedeutsames Verfahren. Aristoteles vertritt die Position, dass der Zuschauer bzw. Zuhörer oder Leser der Tragödie, dadurch dass ihm eine bestimmte menschliche Handlung in einer bestimmten Situation dargestellt wird, erkennt, wie der Charakter beschaffen ist, der die Ursache für diese und keine andere Handlung ist. Für das Verfahren des Erkennens steht der Begriff ‚syllogízesthai‘ (Poetik 1448 b16); von einer einzelnen, bestimmten Handlung in einer bestimmten Situation wird auf die Ursache dieser bestimmten Handlung, also auf den Charakter von bestimmtem Habitus, geschlossen. Um es mit einem Beispiel zu verdeutlichen, das bereits in die syllogistische Form gefasst ist, wobei der induktive Schluss in der oberen Prämisse enthalten ist: Jemanden, bloß weil er den Weg versperrt, zu erschlagen, ist Ausdruck übermäßigen Zorns. Ödipus erschlägt jemanden, weil er ihm den Weg versperrt. Also handelt Ödipus aus übermäßigem Zorn.

Mit demselben induktiven Syllogismus gelangt man auch zur Bewertung dieser Handlung: Im Übermaß zornig zu handeln ist Unrecht. Ödipus handelt im Übermaß zornig. Also handelt Ödipus unrecht.

Jeder, der induktive Syllogismen anwendet, muss sich fragen, ob die erste, durch Induktion gewonnene Prämisse zutrifft und allgemein einsichtig ist; denn andernfalls ist der Schluss verfehlt. Das gilt auch für die Bestimmung des Gegenstandes der Literatur, welche Aristoteles in der Poetik nennt: Sie ist keine subjektive Setzung oder erschlossen aus der allgemeinen zeitgenössischen Überzeugung, sondern es gilt, sie rational auf ihre Richtigkeit und Allgemeingültigkeit hin zu überprüfen. Dass bei der analytischen Methode, die vom Einzelnen ausgeht, gleichzeitig etwas Allgemeines vorausgesetzt ist, in dessen Licht das Einzelne beurteilt wird, verkennt Robortello. Zwar sagt er, durchaus im Sinne des Aristoteles, die analytische Methode solle etwas finden, das bis dahin noch nicht hinreichend erkannt sei (Explicationes, S. 5); aber das für ihn noch nicht hinreichend Erkannte hat den Status des ‚genus‘ bzw. der ‚species‘ (S. 5 und S. 7). Die Begriffe ‚genus‘ bzw. ‚species‘, welche Robortello verwendet, entsprechen der zweiten Substanz der Kategorien, nicht, wie er meint, dem Allgemeinbegriff der Analytika posteriora als Ergebnis der analytischen Methode. Robortello nennt die ‚definitio‘ als Ziel seiner Analysis bzw. – und das ist bezeichnend für die Vermischung des ‚genus‘ mit der ‚definitio‘ – das „genus in definitione“ (S. 6). Er verwendet mit ‚definitio‘ einen Begriff, der in den Analytika posteriora für eine Art der zu findenden Prinzipien steht (90 b3ff.; 90 b30-31). Das

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‚genus‘ und die ‚species‘ aber sind der Aristotelischen Kategorienlehre zufolge das generische Allgemeine – etwa die ‚species‘ Mensch des ‚genus‘ Lebewesen –, nicht aber das für eine bestimmte Sache, eidetische Allgemeine.32 Das ‚genus‘ ist das im Prozess der Erkenntnis primäre Allgemeine, nicht aber das tatsächlich Erste im Sinne der sachlichen Bestimmtheit. Etwas als zur ‚species‘ Mensch zugehörig erkannt zu haben, führt noch nicht zu dem, was das Wesen des Menschen ausmacht. Diese Frage aber ist, wie Aristoteles explizit am Anfang der Poetik sagt, Gegenstand seiner Untersuchung. Die von Aristoteles vorgenommene Unterscheidung zwischen sachlich Erstem und den Erkenntnisschritten nach Erstem (Analyt. Post. 71 b33-72 a5) kennt Robortello (Explicationes, S. 6). So hält er fest, dass die analytische Methode in seinem Sinne, das heißt eigentlich die Induktion, nicht vom der Sache nach Ersten ausgehe, sondern vom Einzelnen. Aber Robortello irritiert, dass Aristoteles, obwohl er induktiv vorgehe, wie Robortello Aristoteles unterstellt, trotzdem behaupte, ein Beweisverfahren zu verwenden, das vom der Sache nach Ersten seinen Ausgang nehme (ebd.). Zur Erläuterung, worin sich die beiden Verfahren unterscheiden, führt Robortello ein Beispiel an (S. 6): Man baut ein Haus, um vor Kälte und anderen Unbillen des Wetters geschützt zu sein. Das ist die Funktion und zugleich die Ursache, ein Haus zu bauen. Mithilfe des ‚methodus resolvens‘ werden die für diesen Zweck notwendigen Bestandteile wie das Dach, die Decken, Wände und das Fundament gefunden, die es dann in einem zweiten Schritt und in umgekehrter Reihenfolge zusammenzusetzen gilt. Diese Zusammensetzung (Synthesis oder ‚compositio‘) führt im Lichte der Funktion, die bereits als bekannt vorausgesetzt ist, zu einer der möglichen Verwirklichungen von Schutz vor Unbillen des Wetters. Robortellos Beispiel wäre Aristoteles zufolge Gegenstand der praktischen Analysis, insofern es um das Erschließen einer bestimmten Handlung (oder einer Folge bestimmter Handlungen) geht, die für die Erfüllung eines bestimmten Zweckes erforderlich ist und in der Macht des Einzelnen steht. Als 32

Nach Robortello wird die Einebnung des Unterschieds zwischen dem generischen Allgemeinen und dem sachlich ersten Allgemeinen nicht behoben, sondern man müht sich bis weit ins 18. Jahrhundert an den Folgen ab, wie die Schwierigkeiten der Literaturtheorie bei der Klärung des Status von ‚genus‘ im Sinne einer Allgemeinbestimmung von Literatur im Verhältnis zu ‚genera‘ im Sinne von Gattungen sowie bei der eindeutigen Zuordnung einzelner literarischer Werke zu bestimmten Gattungen bei Scaliger und dann bei Opitz zeigten; zur Lösung dieser Probleme bzw. zur Legitimation des prekären, weil jederzeit widerlegbaren Status’ des generischen Allgemeinen bezieht man sich auf die Methode der frühneuzeitlichen Dialektik, wie sie in der Topik des Aristoteles zur Anwendung kommt, nämlich in Gestalt von Wahrscheinlichkeitsoperationen, die nicht auf das wissenschaftlich gesicherte Allgemeine abzielen, sondern auf ein stets falsifizierbares Allgemeines; zu Scaligers und in dessen Nachfolge Opitz’ Bezugnahme auf die Wahrscheinlichkeitslogik der Humanisten siehe Trappen: Dialektischer und klassischer Gattungsbegriff (Anm. 29), S. 91ff.

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Funktion des Hauses nennt Aristoteles (Analyt. Post. 94 b9-10), seine Habe zu schützen. In der Nikomachischen Ethik nennt Aristoteles als Gegenstandsbereiche der praktischen Analysis anwendungsbezogene Wissenschaften wie die Medizin, ferner Handwerk und Gewerbe. Um eines seiner Beispiele herauszugreifen: Im Falle der Medizin ist der Zweck, nämlich zu heilen, vorausgesetzt. Die theoretische Analysis erschließt, dass im Hinblick auf die Gesundheit geheilt wird und was deren sachliche Bestimmtheit ist. Aufgabe der praktischen Analysis hingegen ist es, als Mediziner zu überlegen, wie im Einzelfall vorzugehen ist, mit welchen Mitteln und auf welchem Weg am besten und schnellsten; deswegen ist das Letzte der praktischen Analysis das Erste beim Handeln, wie Aristoteles sagt (NE 1112 b11-25 ff.). 33 Dadurch, dass Robortello den Hausbau und das hierfür erforderliche Verfahren als Erläuterung für die Methode zur Findung des Prinzips der Literatur nimmt, wird deutlich, dass für ihn der Unterschied zwischen praktischer und theoretischer Analysis nicht relevant ist. Dabei ist der Unterschied durchaus von Bedeutung. Gegenstand der praktischen Analysis ist die Überlegung, wie und durch welches Mittel man etwas Bestimmtes erreicht; sie setzt also die Kenntnis des Prinzips (der Funktion, des Wesens einer Sache) voraus, erschließt es aber nicht. Die theoretische Analysis als Methode dient der Findung von Prinzipien. Robortello geht also von einem bereits ‚gefundenen‘ Allgemeinen bzw. – da das Denken seine Inhalte empfängt – von einem in der Vorstellung gegebenen Allgemeinen aus. Wäre Aristoteles aber nach der praktischen Analysis in der Poetik vorgegangen, dann hätte er bezweckt, im Lichte des bereits vorausgesetzten Allgemeinen – desjenigen, was Literatur ausmacht – eine handlungsanweisende Dichtungslehre zu schreiben. Ihm aber geht es um die Darlegung der Wesensbestimmungen und damit um das Prinzip der Literatur. Dahin gelangt man weder mit Hilfe der praktischen Analysis noch ausschließlich mit Hilfe der Induktion. Robortello meint, seine Irritation – die darin besteht, dass er meint, Aristoteles ginge induktiv vor, jener aber von sich behauptet, ein Beweisverfahren zu verwenden, das vom der Sache nach Ersten seinen Ausgang nimmt (Explicationes, S. 6) – anhand der im Zusammenhang mit dem Hausbau dargelegten Methode folgendermaßen lösen zu können: Aristoteles gebe zwar vor, vom der Sache nach Primären auszugehen; dieses der Sache nach Primäre habe er aber erst durch die analytische Methode gewonnen, denn die Deduktion oder der ‚methodus definiens‘ – wie er ihn nennt – könne nur zusammensetzen, was die Analysis als zu der zu erkennenden Sache gehörige Einzelmomente bereits

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Aristoteles: Ethica Nicomachea, hg. von Ingram Bywater, Oxford 1984 (1. Aufl. 1894); siehe Marco Panza: Classical Sources for the Concepts of Analysis and Synthesis, in: ders. u.a. (Hg.): Analysis and Synthesis in Mathematics, Dordrecht 1997, S. 365-414, zu Aristoteles’ Unterscheidung zwischen praktischer und theoretischer Analysis vgl. ebd., S. 370-383.

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erkannt habe: „postquam resolvente vsus est [sc. Aristoteles], imo dum vtitur, simul clam adhibet componetem ad inveniendum genus“ (S. 6). Robortello hat zwar recht, dass Aristoteles in der Poetik dem Leser nicht Rechenschaft darüber ablegt, wie er zu dem Ergebnis auf der Grundlage der analytischen Methode gekommen ist, und dass mit Hilfe der analytischen Methode ein Ergebnis erschlossen worden ist, das dann der Ausgangspunkt der synthetischen Deduktion ist, welche Aristoteles in der Poetik vorführt. Und er hat auch dahingehend Recht, dass der Analysis (sowohl der praktischen wie der theoretischen) eine Synthesis korrespondiert, die in umgekehrter Reihenfolge vorgeht. Aber es trifft weder zu, dass Aristoteles beide Methoden zugleich, noch, dass er die deduktive ‚heimlich‘ anwendet, noch, dass er damit das ‚genus‘ zu finden beabsichtigt. Dass Aristoteles vom bereits gefundenen Prinzip her argumentiert, ohne zu zeigen, wie er es mit Hilfe der theoretischen Analysis gefunden hat, heißt nicht, dass er beide Methoden gleichzeitig anwendet, sondern lediglich, dass er es als ein bereits gefundenes Prinzip voraussetzt, da (so lässt sich vermuten) er das zu Findende – das Prinzip – durch die Dichtungstheorien seiner Vorgänger, vor allem derjenigen Platons, für etwas in seiner sachlichen Bestimmtheit bereits Erkanntes hält – ganz abgesehen davon, dass die Poetik auf seiner Psychologie und Ethik fußt.34 Robortello hält als Ergebnis ein abstrakt Allgemeines als ‚universale‘ fest, die Mimesis, nicht aber, was Gegenstand der Mimesis ist. Er verkennt den Unterschied zwischen theoretischer Analysis, die in Bezug auf die Frage, was das Wesen der Literatur ist, durchaus vom Einzelnen ausgeht, aber etwas Allgemeines voraussetzt, und der Induktion, die ausschließlich vom Einzelnen aus34

Vgl. hierzu den Beitrag von Stefan Büttner in diesem Band, S. 31-63; vgl. auch ders.: Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen u.a. 2000 (Diss. Marburg, 1999), zu den Gemeinsamkeiten von Platons und Aristoteles’ Ansichten zur Dichtung, S. 379-381; schon Platon unterscheidet in Mittel, Gegenstände und Weise der dichterischen Darstellung. Auch die Bestimmung des Gegenstandes, die Darstellung handelnder Charaktere, ist identisch. Zwar unterscheidet Platon die Charaktere in der Politeia nach ihrer hierarchischen Stellung: erst Götter und Dämonen, dann Heroen als Mischwesen aus Mensch und Gott, dann die Menschen; sind diese ihrem Wesen nach auch verschieden, so gibt es jedoch keinen grundsätzlichen Unterschied in der Charakterdarstellung von Gott und Mensch: Auch der Mensch, wenn er gut ist, soll als gut handelnd und glücklich gezeigt werden. Hinzu kommt nur noch die Darstellung schlechter Charaktere, die es bei Heroen, Dämonen und Göttern ihrem Wesen nach definitionsgemäß nicht gibt. Platon und Aristoteles haben auch in Bezug auf die Frage, was das Wesen speziell der Tragödie ist, wie sie und wen sie darstellt oder welche Affekte sie auslöst, identische Ansichten; allein bezüglich der Einschätzung, wie diese Affekte auf die Charakterbildung der Zuschauer wirken, stimmen sie nicht überein. Beide aber sind von der zentralen Bedeutung der Nachahmung – sowohl der eigenen als auch der Rezeption der Nachahmung anderer – für die Charakterbildung überzeugt. Literatur kann unter der Voraussetzung, dass sie Einsicht in die Ursache von in einer bestimmten Situation richtigem oder falschem Verhalten vermittelt, einen wesentlichen Beitrag zur Charakterbildung leisten.

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geht. Dabei wahrt Robortello begrifflich sehr wohl den Unterschied zwischen Induktion und analytischer Methode: „Resolvens progreditur a singularibus ad commune aliquod, et universale per inductionem“ (S. 6). Aber er meint, dass sich die analytische Methode bei der Findung des Allgemeinen ausschließlich der Induktion bediene. Damit trifft er Aristoteles’ Intention – auch wenn er sich auf dessen 2. Buch der Analytika posteriora ohne Stellenangabe (S. 5) beruft – nicht, denn Robortello bleibt im Unterschied zu Aristoteles bei dem generischen Allgemeinen stehen. So ebnet er den Unterschied zwischen dem generischen Allgemeinen als dem im Fortschreiten der Erkenntnis Primären und dem sachlich bestimmten Allgemeinen als dem der Sache nach Primären ein. Da es für Robortello neben dem aus dem Einzelnen abgeleiteten Allgemeinen kein weiteres Allgemeines gibt – etwa ein solches, das der Erfahrung vorausginge und das bei der Unterscheidung dessen, was etwas ist, von dem, was diesem nur akzidentell zukommt, leitend wäre –, muss man entweder von aller Besonderheit des Einzelnen absehen, oder man hat Not zu begründen, wie etwas höchst Individuelles zugleich etwas Allgemeines sein kann.35 Neben diesem im Vorangegangenen erörterten Widerspruch gibt es noch einen weiteren, ebenfalls für die Nachfolgezeit folgenreichen: den zwischen dem in der Erfahrung Gegebenen und dem Fiktiven. Für Aristoteles ist die Faktizität – etwa dass ein in der Literatur handelnd Dargestellter wirklich gelebt hat und insofern historisch bezeugt ist – nebensächlich und deshalb für das Spezifische der Literatur irrelevant (Poetik 1451 b15 ff.). Robortello zufolge soll Literatur hingegen das nachahmen, was in der Vorstellung an Gegenständen aufgrund zuvor gemachter Wahrnehmung bildlich präsent ist; andererseits hält Robortello das Fiktive für den eigentlichen Gegenstand der Literatur.36 So legt er zu Beginn seiner Explicationes dar, dass Sprache verschiedene Metho-

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Bei Robortellos Einebnung der Unterschiede zwischen theoretischer Analysis und Induktion handelt es sich nicht um einen Einzelfall, sondern um eine in seiner Zeit allgemeine, wissenschaftstheoretisch relevante Tendenz, die sich auch in anderen Disziplinen zeigt; Thomas Leinkauf: Freiheit und Geschichte. Francesco Patrizi und die Selbstverortung der menschlichen Freiheit in der Geschichte, in Rudolph: Die Renaissance und ihre Antike (Anm. 22), S.79-94, hier: S. 91, weist darauf hin, dass sich Patrizis Methode an den zeitgenössischen exakten Wissenschaften, vor allem der Anatomie, orientiere: Analog zu dieser sei, um in der Geschichtswissenschaft die Ursache menschlichen Handelns zu erkennen, von den für eine Handlung konstitutiven Umständen zu abstrahieren, um zur Handlungsursache vorzudringen. Patrizi bemüht in diesem Zusammenhang das Bild der Zwiebel, deren Schalen zu entfernen seien, um den eigentlichen Kern enthüllen bzw. herauspräparieren und zur Substanz vordringen zu können. Petersen: Mimesis (Anm. 12), S. 46f. und 97f. hingegen ebnet diesen fundamentalen Unterschied zwischen Aristoteles und Robortello ein, indem er ersterem unterstellt, ihm schon gehe es in der Literatur primär um Darstellung von Fiktivem, in der Wirklichkeit nicht Erfahrbarem, das heißt in diesem Sinne Unmöglichem, und Petersen nimmt den Widerspruch bei Robortello nicht wahr.

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den anwende – die demonstrative, dialektische, rhetorische, sophistische und poetische –, in verschiedener Gestalt auftrete und von verschiedenen Gegenständen handele; Sprache allgemein habe die Aufgabe, den Unterschied zwischen Wahrem und Falschem darzulegen; von den fünf genannten Methoden entferne sich die poetische am meisten vom Wahren. Ihr Gegenstand sei das Falsche und Märchenhafte („falsum, seu fabulosum“, S. 1), das Lügnerische („mendacium“, S. 2); diese Aussage wiederholt Robortello mehrfach; sie scheint ihm also wichtig zu sein. Wenn Fiktivität aber als Kriterium dafür, was Literatur ist, zu gelten hat, dann ist sie mit dem, was etwas ist, das heißt mit der Realität, als dem in der Vorstellung Gegebenen, unvereinbar. Die von Robortello der Literatur bescheinigte Lügenhaftigkeit bekommt nur eine Einschränkung auferlegt: Das Unwahre soll doch glaubwürdig sein, das heißt mit der allgemeinen Erfahrung übereinstimmen. Das ‚verisimile‘ diskutiert Robortello ausführlich im Zusammenhang mit der Stelle in der Poetik (1451 a36-38; Explicationes, S. 86f.), nach welcher es nicht Aufgabe des Dichters sei, mitzuteilen, was geschehen ist, sondern das dem Wahrscheinlichen bzw. Notwendigen nach Mögliche darzustellen. Er geht hier jedoch nicht auf die Stelle gleich im Anschluss (1451 b6-10) ein, die präzisiert, was damit gemeint ist, nämlich dass es sich dabei um eine bestimmte Handlung handelt, die ihre Ursache in einem Charakter hat und im Lichte dieses Charakters entweder wahrscheinlich oder sogar notwendig ist. Nicht nur lässt Robortello in seinem Kommentar zu dieser Stelle das für einen bestimmten Charakter Wahrscheinliche im Notwendigen – im Sinne einer immer gültigen Haltung – aufgehen, so dass sich das Problem stellt, wie Literatur sowohl der Forderung nach Darstellung von Notwendigem – das so sein muss und nicht anders sein darf – als auch der Forderung nach Darstellung von etwas, das so oder auch anders sein kann, nachkommen könne; auch bereitet er, indem er das Wahrscheinliche bzw. Notwendige abgelöst vom Kontext – nämlich der für einen bestimmten Charakter wahrscheinlichen bzw. notwendigen Handlung – diskutiert, eine Umdeutung der Mimesis von Wahrscheinlichem im Sinne der Entfaltung von Möglichkeitswelten vor. Robortello und die Literaturtheorie bis 1800 Robortellos Erweiterung und Einengung des Gegenstandsbereichs der literarischen Mimesis wird in der Nachfolgezeit fortgesetzt und weiter entwickelt; die bei Robortello bereits erkennbaren Widersprüche werden nicht gelöst, sondern entweder ignoriert oder unbemerkt übernommen. Auf welche Weise Robortellos Vorgaben weiter entwickelt werden, soll im Folgenden exemplarisch dargelegt werden.

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Die Verallgemeinerung, Literatur habe Möglichkeitswelten zum Gegenstand, die mehr oder minder glaubwürdig seien und damit der allgemeinen Erfahrung mehr oder minder entsprächen, sowie die Ablösung des Sein-Könnens vom Kontext der aufgrund eines bestimmten Charakters möglichen beziehungsweise wahrscheinlichen Handlung vollzieht nicht Robortello selbst, sondern Iulius Caesar Scaliger.37 Das Sein-Können kann seitdem als Legitimation von Fiktion gelesen werden. So begründet Scaliger die Wertschätzung der Komödie damit, dass sie ganz und gar Fiktion sei: „In eo [sc. comoedia poemata] enim ficta omnia et materia quaesita tota“ (Poetices libri septem, Buch 1, 5b).38 Das Sein-Können im Sinne von Wahrscheinlichkeit ist aber auch das einzige Korrektiv einer ansonsten bindungslosen Imagination; so meint Scaliger, dass Unwahres als Gegenstand der Literatur „tamen pro vero acceptum eam admittit vulgo significationem [sc. scientiae]“ (Buch 1, 2a). Analoges gilt für das Sein-Sollen. Zwar fällt bereits Robortellos abstrakt generisches Allgemeines mit dem Notwendigen im Sinne einer immer und uneingeschränkt vorbildhaften Haltung eines Menschen zusammen. Aber er nennt immerhin noch einzelne Eigenschaften wie Klugheit oder Frömmigkeit. Scaliger treibt die Abstraktion noch weiter, insofern er nur noch von Tugendhaftigkeit (Buch 3, 91a) spricht. Auch hält Robortello dieses Allgemeine – in wenn auch sachlich bereits entfernter Anlehnung an Aristoteles – immer noch für etwas Notwendiges innerhalb menschlicher Handlung. Bei Scaliger hingegen ist das Sein-Sollen losgelöst von diesem Kontext. So heißt es bei Scaliger in Erweiterung des Horazischen „aut prodesse volunt aut delectare poetae“ (Ars poetica, Z. 333) als Zweck und Wirkungsabsicht von Dichtung: „Res omnes nostrae aut necessarii aut utilis aut delectabilis genere comprehenduntur“ (Poetices libri septem, Buch 1, 1a). Literatur hat Scaliger zufolge nicht nur existierende Dinge, sondern auch fingierte zum Gegenstand, und sie vergegenwärtigt, wie sie sein könnten oder müssten.39 37

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Zur Wirkungsgeschichte August Buck: Einleitung, in: Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri septem, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987 (ND der Ausgabe Lyon 1561), S. V-XX, hier: S. XIIf.; Luc Deitz: Einleitung, in: Iulius Caesar Scaliger, Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst, unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hg. von Luc Deitz u. Gregor VogtSpira, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. XXXVIff.; zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe von Luc Deitz und Gregor Vogt Spira. Zwar nennt Aristoteles als einen Unterschied zwischen Komödie und Tragödie, dass letztere auch historisch belegte Personennamen verwende, erstere nicht oder kaum – der Komödienschreiber vielmehr erst die Handlung gemäß dem Wahrscheinlichen komponiere und sich dann dazu entsprechende Namen suche (Poetik 1451 b11ff.). Aus der Formulierung ‚gemäß der Wahrscheinlichkeit‘ ist aber ersichtlich, dass es Aristoteles in diesem Passus keineswegs um Fiktionalität als Wesensbestimmung der Komödie geht. Scaliger: Poetices libri septem (Anm. 37), Buch 1, 1b: „Hanc autem poesim appellarunt propterea, quod non solum redderet vocibus res ipsas quae essent, verum etiam quae non essent quasi essent, et, quo modo esse vel possent vel deberent, repraesentaret“ (Buch 1, 1b).

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Was aber ist der Gegenstand, den es zu vergegenwärtigen (repraesentare) gilt? In den Exercitationes40 zu Cardanus schreibt Scaliger, die Sinne erfassten bloß Akzidentien, der Intellekt hingegen abstrahiere Ort, Zeit und Ausdehnung bzw. Quantität von dem in der Vorstellung Gegebenen und erschließe auf diese Weise die „species substantialis vniversalis“ (S. 891). Wie der Intellekt zur Erkenntnis der allgemeinen Substanz kommt, wenn die Sinne selbst nichts eigentlich Substanzhaftes erfassen, der Intellekt aber keinen anderen Gegenstand hat als den durch die Sinne gegebenen, sagt Scaliger nicht: Der Intellekt ist in Bezug auf den ihm gegebenen Gegenstand passiv: „Quia videtur eodem recipi tenore species rei in sensum primo, in phantasiam mox, tum in intellectum“ (S. 916). Der Intellekt wird aktiv, indem er die „prima apprehensio notionum“ oder das in der Vorstellung Gegebene „agitat, dividit, componit, deducit“ (S. 917). Zwar sind in den von Scaliger dem Intellekt zugeschriebenen Aktivitäten die Analysis, die Synthesis und die Deduktion als Verfahren noch präsent; auch betont Scaliger, der Gegenstand des Intellekts sei ein qualitativ anderer: aber aufgrund der Rezeptivität und Erfahrungsimmanenz des Erkenntnisgegenstandes bleibt offen, wie der Intellekt zu einem derart qualitativ anderen Gegenstand zu kommen in der Lage ist. So bedeutet ‚repraesentare‘ für Scaliger nicht anders als für Robortello die sinnliche Vergegenwärtigung eines in der Vorstellung Gegebenen, das dem Anspruch nach aber mehr als die Vorstellung von ehedem sinnlich Wahrgenommenem sein soll. Noch in anderer Hinsicht schreibt Scaliger Robortellos literaturtheoretische Positionen fort, indem er sie ins Pragmatische wendet: Scaliger versteht seine Poetices libri septem als handlungsanweisende Dichtungslehre – eine Position, die bei Robortello durch die Nivellierung des Unterschieds zwischen theoretischer und praktischer Analysis zwar bereits angelegt, aber noch nicht vollzogen ist. Scaliger hingegen sagt explizit: „Poetice vero scientia, id est habitus ex disposi-

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Petersen: Mimesis (Anm. 12) ignoriert den bei Scaliger bestehenden Widerspruch zwischen Mimesis von sinnlich Vorgestelltem einerseits und Fiktion als Gegenstand der Literatur andererseits, indem er den bestehenden Widerspruch in seiner Interpretation aufhebt: Petersen zufolge meint Scaliger, dass Nachahmung von Wirklichem durch den Akt der Nachahmung Wirkliches in Fiktives verwandele und die Darstellung umgekehrt diesem Fiktiven den Status von Wirklichem verleihe: „Insofern bedeutet imitatio bei Scaliger einerseits Nachahmung, nämlich Nachahmung der Wirklichkeitsaussagen in Gestalt poetischer Seins-Aussagen; da diese sich aber auf Ausgedachtes, Erfundenes, Fiktives beziehen und es dadurch als seiend qualifizieren, bringen sie anderseits eine neue Welt hervor und bilden insofern das Gegenteil von Wirklichkeitsnachahmung“ (S. 129). Iulius Caesar Scaliger: Exotericarum exercitationum liber XV De subtilitate ad Hieronymum Cardanum, Hannover 1634 (HAB Li 7800); vgl. Spruit: Species Intelligibilis (Anm. 18), Bd. 2, S. 250ff., der hervorhebt, dass Scaliger in den Exercitationes die Position vertritt, „that the soul forms the species of substances on the basis of species of accidents which originate from the perceptual faculties“ (S. 251).

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tione praeceptionum quibus docemur ad conformitationem hanc quam poesin appellamus“ (Buch 1, 6a). Konsequent setzt Scaliger Robortellos Position, alles sei Gegenstand literarischer Mimesis, in die Praxis um: Im 3. Buch der Poetices libri septem, das „Idea“ überschrieben ist, nennt er eine Fülle möglicher Gegenstände.41 Statt Homer gilt Scaliger Vergil (Buch 3, 82b) als Paradigma der Literatur, dessen Werk, vor allem der Aeneis, als sekundärem Kosmos alle nur möglichen Gegenstände zu entnehmen seien. Neben wirklichen, lebenden Personen (deren äußerer Erscheinung, Körper, Charakter, Auftreten usf.) nennt Scaliger fiktive Personen, ferner die durch Gott, die Natur oder den Menschen geschaffenen Dinge, die Zeit, den Ort, die Werkzeuge, mit denen man handelt oder etwas ausführt, wie die Ursachen dieser Dinge, die es zu beschreiben gelte – Scaliger wählt, auch hierin Robortello folgend, den Ausdruck ‚describere‘ (Buch 3, 80a). Dabei sind die Dinge, die Scaliger aufzählt, äußerst heterogen sowohl hinsichtlich ihrer sachlichen Bestimmtheit wie ihrer Darstellbarkeit. Denn Körper, Auftreten und äußere Erscheinung einer Person lassen sich sehr wohl beschreiben, kaum aber der Charakter oder gar die Ursachen aller der von ihm genannten Dinge – von der Letztursache, Gott, ganz zu schweigen. Scaligers Aufzählung ist geleitet von derselben Intention, die schon bei Robortello erkennbar ist: möglichst vollständig alle Phänomene zu erfassen, die in den Bereich der literarischen Wiedergabe fallen, wobei er nicht erörtert, worin die mögliche Allgemeinheit etwa in der Beschreibung eines Werkzeuges bestehen könnte. Während Robortello Nachahmung von Handlung in der Einleitung zu seinen Explicationes noch an erster Stelle nennt, spielt diese bei Scaliger eine untergeordnete Rolle im Vergleich mit der Beschreibung der Person bzw. des sie bestimmenden Affekts im Sinne einer inneren Handlung (Buch 3, 104a); bezeichnenderweise hält Scaliger die ‚mores‘ für „affectus animalibus connati“ (ebd.). Scaliger vollzieht damit die Verlagerung von Mimesis menschlicher Handlung zur Mimesis der Person, die in Robortellos Explicationes bereits angelegt ist. Martin Opitz bringt Scaligers Intention auf den Begriff,42 wenn er – im Buch von der Deutschen Poetery auf Scaligers 3. Buch der Poetices libri septem explizit Bezug nehmend – sagt, dass der Dichter alle Dinge, „die wir vns einbilden können / [die] Himlischen vnd jrrdischen / die Leben haben vnd nicht haben“ (S. 360), auch sprachlich fassen könne. Von Mimesis menschli-

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Trappen: Dialektischer und klassischer Gattungsbegriff (Anm. 29), S. 96, hebt hervor, dass Scaliger ab dem 95. Kapitel der Poetices libri septem das Diaphoron ‚res‘ einführe, das ihm als „Plattform für die Behandlung der klassischen Gattungen“ diene und sich deshalb als das für Scaliger zentrale Kriterium erweise. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, in: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hg. von George Schulz-Behrend, Bd. 2/1, Stuttgart 1978.

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cher Handlung ist nicht mehr die Rede. Indem Opitz betont, dass es um die sprachliche Fassung von allem, was man sich nur einbilden könne, gehe, setzt er Robortellos Intention fort, der Literatur eine umfassende Funktion hinsichtlich der Darstellung von Vorstellbarem zuzuweisen; in der Nachahmung von Belebtem und Unbelebtem setzt sich Robortellos Forderung nach „repraesentationem [...] omnium rerum tum animatarum, tum inanimatarum“ (Explicationes, S. 2) fort. Explizit liegt der Akzent auf der Vorstellbarkeit als Kriterium für die Darstellbarkeit, so als sei das der Einbildung Zugängliche auch der einzige darzustellende Gegenstand der Literatur. Indem Opitz neben Irdischem auch Himmlisches als Gegenstand der Einbildungskraft nennt, treibt er Robortellos Erweiterung des Gegenstandsbereichs weiter. Dabei setzt er stillschweigend voraus, dass die Einbildungskraft nicht zwingend an eine zunächst sinnliche Präsenz eines Gegenstandes gebunden ist, sondern auch Nichtsinnliches – Götter und Engel und dergleichen – imaginieren kann; denn Opitz weiß sehr wohl, dass „Gott ein vnbegreiffliches Wesen“ (Poeterey, S. 344) ist und sich noch viel mehr der Vorstellbarkeit und damit auch der Darstellbarkeit entzieht. Auf der Grundlage dieser stillschweigenden Voraussetzung kann Opitz aber Robortellos theoretischen Widerspruch übergehen bzw. ignorieren, einerseits Fiktives für den genuinen Gegenstand der Literatur auszugeben, andererseits die Repräsentierbarkeit an die sinnliche Präsenz zu binden:43 Ja er selbst übernimmt ihn, wenn er einerseits sagt, die Literatur stimme „mit der warheit nicht allzeit vberein“ (S. 350), andererseits, sie bestehe „im nachäffen der Natur“ (ebd.). Gleichwohl bleibt Robortellos (sinnliche) Vorstellbarkeit als Kriterium für Darstellbarkeit bindend – nicht nur für die Literaturtheorie des 17., sondern auch für die des 18. Jahrhunderts. Johann Christoph Gottsched (im Versuch

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Xaver Stalder: Formen des barocken Stoizismus. Der Einfluß der Stoa auf die deutsche Barockdichtung. Martin Opitz, Andreas Gryphius und Catharina Regina von Greiffenberg, Bonn 1976, S. 40, verkennt, dass die stoische Typosislehre auch für den Mimesis-Begriff von Opitz relevant ist, wenn er meint, die sprachliche Beschreibung der Dinge, die Opitz im 5. Kapitel der Poeterey fordert, setze deren Erkanntsein durch die Vernunft voraus; Opitz spricht am Anfang des 6. Kapitels der Poeterey aber nicht von Vernunft, sondern von Gemüt als Ort, da die Dinge vom Subjekt erfasst werden. Petersen: Mimisis (Anm. 12), S. 138, konstatiert zwar zu Recht den Widerspruch, lastet ihn aber Opitz allein an (ebd.), ohne zu bemerken, dass er der wirkungsgeschichtlichen Vermittlung, das heißt im Falle von Opitz besonders der Vermittlung durch Scaliger geschuldet ist; dabei sieht Petersen den besonderen Stellenwert von Scaliger für Opitz’ „Nachahmungsformel“ durchaus (ebd.). Dass Opitz den Widerspruch nicht gesehen hat, halte ich für wahrscheinlich: dass er aber – wie Petersen in der Absicht, Opitz’ Widerspruch aufzuheben, ihm unterstellt – nicht gemeint habe, was er sagte, und in „Gedankenlosigkeit“ (S. 138) eine Formel übernommen habe, obwohl er eigentlich die Abkehr von der Nachahmung eines Gegebenen gewollt habe, halte ich wegen der Bedeutung der sinnlichen Präsenz der Gegenstandswelt für die Mimesis seit der Frühen Neuzeit für unwahrscheinlich (S. 145): Opitz war beides wichtig.

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einer Critischen Dichtkunst) zufolge nimmt die Literatur oder Poesie (wie er sie nennt) innerhalb der ‚artes liberales‘ eine Vorrangstellung ein, denn sie habe ausschließlich den Menschen, seine Natur, seine „Gemüthsneigungen“ (S. 115), und zwar „alle unsere Gemüthsbewegungen“ (S. 116) zum Gegenstand.44 Robortellos ‚imitatio omnium motionum‘ korrespondiert dem. Der Begriff der menschlichen Natur, die es in der Literatur nachzuahmen gilt, ist jedoch nur zu Beginn von Gottscheds Critischer Dichtkunst so eindeutig. Der Begriff der ‚Natur‘ bezieht sich einerseits auf den Menschen, und da vorzugsweise auf seine Empfindungen; er meint aber auch die Nachahmung „aller natürlichen Dinge“ (S. 147), das heißt die Nachahmung aller der Dinge, welche der Mensch „sieht und höret“ (S. 150), kurz: welche er wahrnimmt bzw. welche er sich sinnlich vorstellt. Johann Jacob Breitinger erklärt in der Critischen Dichtkunst45 die große Wirkung, die von der literarischen Beschreibung der Natur ausgehe, damit, dass mit ihr beschrieben werde, „was ich gesehen, was ich gehöret habe; oder was ich mit meinen Augen sehen, mit meinen Ohren hören würde, wenn mir das Original von dieser Sache vor Augen oder zu Ohren käme“ (Bd. 1, S. 66). Friedrich Schlegel (im Gespräch über die Poesie)46 hält „die Welt der Poesie“ für so „unermeßlich und unerschöpflich“ wie den „Reichtum der belebenden Natur an Gewächsen, Tieren und Bildungen jeglicher Art, Gestalt und Farbe“ (S. 285); eben dieser Reichtum sei der vorzügliche Gegenstand literarischer Tätigkeit, ihr Stoff, wie er dem vorrationalen Bewusstsein der dichterischen „Fantasie“ (S. 319) vorliege. In konsequenter Fortführung verknüpft Opitz Robortellos allgemeine Gegenstandsbestimmung der Literatur, Fiktives darzustellen, mit dessen Forderung, eine Verhaltensnorm zu versinnbildlichen. Dabei bezieht er wie Scaliger vor ihm Aristoteles’ Formulierung, dass es in der Tragödie um Nachahmung von bestimmter Handlung gehe, wie sie der Wahrscheinlichkeit nach oder gar mit Notwendigkeit bei einem Charakter von bestimmter Anlage in einer bestimmten Situation zu erwarten sei, ‚auf alle Dinge‘; und er legt Aristoteles’ Bestimmung des Gegenstandes der Tragödie als Mimesis menschlicher Handlung, welche „im nachäffen der Natur bestehe / vnd die dinge nicht so sehr beschreibe wie sie sein / als wie sie etwan sein köndten oder solten“ (Poeterey, S. 350), in Robortellos Sinne aus. So verwundert es nicht, dass er von Robortello auch den Widerspruch übernimmt, Literatur habe sich an die Wirklichkeit

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45 46

Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst: Erster allgemeiner Theil, in: Ausgewählte Werke, hg. von Joachim Birke u. Brigitte Birke, Bd. 6/1, Berlin u. New York 1973, S. 115. Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst, mit einem Nachwort von Wolfgang Bender, 2 Bde., Stuttgart 1966 (ND der Ausgabe Zürich u. Leipzig 1740), Bd. 1, S. 66. Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler u.a., Bd. 2, München u.a. 1967, S. 284-328.

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zu halten – wobei Opitz dies durch den Ausdruck ‚nachäffen‘ nicht positiv markiert –, sie müsse gleichzeitig aber auch etwas darstellen, das sein könne bzw. sein solle. Das Sein-Können lässt sich lesen als Legitimation für literarische Entfaltung von Möglichkeitswelten, das Sein-Sollen bleibt zugeschnitten auf eine Verhaltensnorm, durch deren Versinnbildlichung Literatur „zue aller tugend vnnd guttem wandel anführen“ (S. 345), mithin zur Tugendhaftigkeit selbst anleiten soll. Indem Opitz den Gegenstand der Nachahmung an die Einbildungskraft bindet, ihn andererseits auf eine bestimmte, menschliche Verhaltensnorm einengt, steht er vor demselben Dilemma wie Robortello, nämlich etwas Allgemeines und Normatives aus etwas Einzelnem, deskriptiv Erfasstem erschließen zu wollen. Denn das will Opitz, sonst würde er nicht die zentrale Bedeutung der Einbildungskraft als Konstituens des Gegenstandes literarischer Mimesis betonen. Ungeklärt bleibt nicht anders als bei Robortello auch bei Opitz die Frage, wie derjenige, der das Sein-Sollen der Dinge literarisch gestalten will, zur Kenntnis dieser Norm(en) kommt, wenn er andererseits lediglich in Worte zu fassen hat, was er in der Vorstellung oder Einbildungskraft vorfindet; und das ist nun zunächst einmal sinnlich Erfahrbares, in jedem Fall aber Einzelnes. So bleibt angesichts dieses Dilemmas Opitz nur der Sprung in die Invention bzw. die Idealisierung, die in der Realität ohne Vorbild ist. Analoges gilt für Gottsched. Um den verschiedenen Forderungen der Mimesis, wie sie seit Robortello unvereinbar nebeneinander bestehen, gerecht zu werden, unterscheidet Gottsched drei verschiedene Arten der Nachahmung: (1) die bloße Beschreibung, die sich auf alles Wahrnehmbare, aber auch auf „innerliche Bewegungen des Herzens“ (S. 195) beziehen soll (S. 196), (2) die Imagination eines Gemüts mit bestimmten Affekten auf der Grundlage selbst empfundener Gefühle, (3) die Fiktion (S. 202ff.) bzw. die fiktionale Einkleidung eines moralischen Lehrsatzes (S. 203).47 Je mehr sich die Mimesis vom bloßen Beschreiben entfernt, desto höher bewertet Gottsched sie. Zwar hebt er in Anlehnung an Aristoteles die Nachahmung als anthropologisches Faktum hervor (S. 150, 178 und 191); aber das Nachäffen (Dichtkunst, S. 150), die „bloße Beschreibung“ (S. 195), das ‚describere‘, das beispielsweise Robortello und Scaliger (noch) wichtig ist, um Wirklichkeitsnähe und Gegenstandstreue zu garantieren, wertet er als gering (S. 196). Als eigentlichen Gegenstand der Literatur nennt Gottsched stattdessen die Einkleidung eines „moralischen Lehrsatz[es]“ (S. 203) mit Hilfe der Fiktion, mit Hilfe des – wie er selbst sagt – Unwahren oder Wunderbaren (S. 244). Der Lehrsatz entspricht dem Sein-Sol-

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Petersen: Mimesis (Anm. 12) hat zwar Recht, wenn er die von Gottsched angeführten verschiedenen Nachahmungsweisen für „Ungereimtheiten“ (S. 182), das heißt für miteinander nicht vereinbar hält, aber sie sind keineswegs spezifisch für Gottsched, wie Petersen (ebd.) meint, sondern sie sind ein wirkungsgeschichtliches Erbe der Frühen Neuzeit.

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len, die Einkleidung dem Sein-Können im Sinne fiktiver Möglichkeitswelten; letztere ist so zu gestalten, dass „dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt“ (S. 215). Das Fiktive wird durch Gottsched eigens legitimiert: Dem Dichter stünden „alle mögliche[n] Welten zu Diensten“ (S. 206). Wie sehr die Fiktion noch im 18. Jahrhundert ihrer Legitimation bedarf, wird an Johann Jacob Breitingers Critischer Dichtkunst deutlich. Das Neue, das heißt „alles dasjenige, was nicht durch den täglichen Gebrauch und Umgang bekannt und gewohnt ist“, sei der eigentlich Vergnügen bereitende Gegenstand der Literatur (Bd. 1, S. 111); obwohl neu, bewahre das Neue aber dennoch den „Schein des Wahren und Möglichen“ (Bd. 1, S. 130); erst das Wunderbare lege diesen Schein ab. Aber selbst das Wunderbare muss, so Breitinger, „immer auf die würkliche oder die mögliche Wahrheit gegründet seyn“ (Bd. 1, S. 131), und unter möglicher Wahrheit versteht Breitinger – wie nicht anders zu erwarten – konsensuell beglaubigte Wahrscheinlichkeit (Bd. 1, S. 134 und 138); folglich ist der von Breitinger konstruierte Unterschied zwischen Neuem und Wunderbarem der Sache nach nicht existent. Wertet Gottsched auch das Nachäffen eines Gegebenen als gering und löst sich von der Bindung an die sinnliche Präsenz der Objekte, so folgt er durch die Betonung, dass der Lehrsatz in die Sinne zu fallen habe, doch dem zweiten Teil des ganz zu Anfang zitierten Satzes Robortellos von der Repräsentation, Imitation und Beschreibung der Dinge. Nicht anders sucht Johann Jacob Bodmer in seiner Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie48 das Wunderbare (wie etwa die Engel, obwohl sinnlich nicht erfahrbar) durch ihre „sichtbare und Cörperliche Vorstellung“ (S. 34) als Gegenstand der Literatur zu rechtfertigen; ja er geht sogar so weit zu behaupten, die sinnliche Darstellung dessen, was nicht wahrnehmbar ist, sei das „Hauptwerck der Poesie“ (S. 32). Breitinger formuliert analog, die Poesie mache „das unsichtbare sichtbar“ (S. 19). Die Forderung nach sinnlicher Präsenz einer allgemeinen und zugleich notwendigen Handlung, die damit zur generellen Haltung wird, wie Robortello sie schon formuliert, führt weg von der Darstellung einzelner Menschen zugunsten eines wie auch immer gearteten Exemplarischen. Wenn Friedrich Schlegel im Gespräch über die Poesie sagt, nicht „das bloße Darstellen von Menschen, von Leidenschaften und Handlungen“ (S. 318) mache das Wesen der Poesie aus; vielmehr habe sie zum Gegenstand dasjenige, was „in der Darstellung von Charakteren, Situationen, Leidenschaften das Wesentliche, Innere“ sei, der „Geist“ (S. 306), und dieser sei nichts anderes als die Menschheit selbst (S. 286); dann zieht er aus Robortellos Forderung nach Allgemeinheit der darzustellenden Person die bis dahin noch nicht gezogene, aber nach Scali48

Johann Jacob Bodmer: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, mit einem Nachwort von Wolfgang Bender, Stuttgart 1966 (ND der Ausgabe Zürich 1740).

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ger durchaus naheliegende Konsequenz; denn er löst die aller inhaltlichen Bestimmtheit ledige Tugendhaftigkeit zugunsten eines generellen MenschSeins auf. So konstatiert Schlegel, „daß kein Mensch schlechthin nur ein Mensch ist, sondern zugleich auch die ganze Menschheit wirklich und in Wahrheit sein kann und soll“ (S. 286) – wobei ‚Menschheit‘ inhaltlich unbestimmt gehalten ist. In praktischer Umsetzung dieser Forderung, dass der Gegenstand der literarischen Mimesis – die Menschheit allgemein – in die Sinne zu fallen habe, versucht Novalis im Heinrich von Ofterdingen49 den Inbegriff des Menschen darzustellen, der alles nur Erfahrbare zu allen Zeiten und in allen Lebensbereichen und geographischen Räumen im Traum, das heißt in der vorbewussten Vorstellung antizipiert, um dieses Erfahrene dann als Spiegel seiner selbst, nicht in einem abstrakt allgemeinen Begriff, sondern in einem sinnlich erfahrbaren Bild – der blauen Blume – zu schauen. Gelöst ist damit das Problem, wie ein einzelner Mensch zugleich der Inbegriff des Menschen sein kann und literarisch gestaltet sein soll, allerdings keineswegs. Friedrich Schlegel ersetzt die in einem exemplarischen Menschen versinnbildlichte Tugendhaftigkeit oder Verhaltensnorm durch die Versinnbildlichung der Menschheit; diese Versinnbildlichung soll aber zugleich allgemein und verbindliche Norm sein, ohne dass Schlegel noch sagen würde, worin das Sein-Sollen inhaltlich besteht. Sachlich ist Schlegels Verlagerung durch Friedrich von Blanckenburg vorbereitet. Für Blanckenburg gilt im Versuch über den Roman50 von 1774 zunächst, der Gegenstand des Romans als moderner Gattung, die dem antiken Epos korrespondiere, seien „Handlungen und Empfindungen des Menschen“ (S. 17), und zwar solche, die zugleich der „Menschheit“ (S. 19) allgemein seien, das heißt der „nackte[n] Menschheit, die, von allem, was ihr Sitten und Stand, und Zufall geben können, entblößt“ sei (Vorbericht). Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass es Blanckenburg nicht um Handlungen, sondern um das „Innre des Menschen“, um die „Geschichte seines Charakters“ geht (S. 401). Ein Einzelner kann in seinem Inneren nur dann allgemeinmenschlich empfinden, wenn, so Blanckenburg weiter, Verstand und Tugend „in einem Charakter vereint“ (S. 62) sind. Dabei geht es Blanckenburg anders als noch Gottsched nicht um moralische Vollkommenheit, „die sich in Menschen, abstrahiert von allen Umständen und von allen inneren und äußeren Hindernissen, finden kann“ (S. 457), sondern um eine Vollkommenheit, die sich „bey Menschen, im Ganzen genom-

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50

Novalis: Heinrich von Ofterdingen, in: Schriften Friedrich von Hardenbergs, hg. von Paul Kluckhohn u. Richard Samuel u.a., 5 Bde., 2., nach den Handschriften ergänzte, erweiterte u. verb. Aufl. Darmstadt 1960-1988, Bd.1, S. 195ff. Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965 (ND der Ausgabe Leipzig u.a. 1774).

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men“ (ebd.), findet. Indem Blanckenburg weniger ein Ideal (S. 65) als vielmehr den kleinsten gemeinsamen Nenner innerhalb der menschlichen Eigenschaften zu finden beabsichtigt, nimmt er implizit vom Aspekt ethischer Vorbildhaftigkeit, die ja immer noch eine gewisse Bestimmtheit voraussetzt, Abstand. Allerdings ist Blanckenburg dabei nicht konsequent; denn im gleichen Zusammenhang fordert er, dass bestimmte Eigenschaften zusammenkommen sollen – und zwar diejenigen, die „die wesentlichsten und vorzüglichsten“ seien (S. 458). Sie seien – wie schon bei Robortello – zu erschließen durch „Absonderung, aller [...] heterogenen Theile aus diesem Ganzen eines Charakters“ (458); ohne weitere Begründung nennt er die Eigenschaften Tapferkeit und Weisheit (S. 460). An dieser Stelle interessiert nicht so sehr, dass Blanckenburg entgegen seiner Intention doch bestimmte Eigenschaften nennt, sondern seine Überlegung, ob das durch Absonderung aller heterogenen Teile gewonnene Ganze, das ist das „Ideal eines Charakters“ (S. 459), identisch sei mit dem Allgemeinen des Aristoteles, welches dieser „von den dichterischen Charakteren fordert“ (ebd.). Blanckenburg führt sogar den entsprechenden Terminus ‚kathólou‘ an. Die Begründung für seine Meinung ist als Beleg für die Umdeutung des konkret Allgemeinen der Poetik des Aristoteles im Sinne eines abstrakten, generischen Allgemeinen und die Verlagerung der Mimesis von Handlung zur Person signifikant.51 Blanckenburg sagt, dass Aristoteles’ Bestimmung der auf alle Menschen gleichermaßen zutreffenden Eigenschaft – da er nicht von „Grundeigenschaften, die ein Charakter haben oder nicht haben solle, sondern bloß von dem Maaß, bloß von dem Grade, in welchem er sie haben und äußern müsse“ (S. 459), rede – so offen gehalten sei, dass sie mit seinem eigenen Ideal übereinstimme. Sowohl Aristoteles als auch er werteten „alle Übertreibungen“, das heißt die dem Einzelnen und Besonderen zukommenden „Eigenthümlichkeiten“ (S. 459), als diejenigen heterogenen Teile, von denen zu abstrahieren sei. Aufgrund der von Blanckenburg zugrundegelegten Methode, der Induktion, ist evident, dass sein Ideal mit Aristoteles’ Begriff des konkret Allgemeinen nichts, dafür umso mehr mit dem Begriff des abstrakten, generischen Allgemeinen zu tun hat, wie er seit Robortello Eingang in die Literaturtheorie gefunden hat.

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Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart 1973, spricht deshalb im Zusammenhang mit dem Versuch Blanckenburgs von einer „Konzeption des Charakterromans“ (S. 200); zur moralischen Vollkommenheit des darzustellenden Charakters im Sinne eines Perfektibilitätspostulats, ebd., S. 202-204.

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Ausweg aus den Aporien der Theorie Das bis jetzt Dargelegte genügt, so hoffe ich, um zu belegen, dass Robortellos Erweiterung und Einengung des Gegenstandsbereichs der literarischen Mimesis fortgesetzt und die bereits bei Robortello erkennbaren Widersprüche fortgeschrieben, aber nicht gelöst werden, weil seine Prämissen trotz Modifikationen im Wesentlichen unangetastet bleiben. Wenn von Weiterentwicklung von Robortellos Vorgaben zu sprechen ist, dann lediglich in Hinsicht auf die Zuspitzung der ihnen innewohnenden Problematik. Die Theoriedefizite und damit die Aporien bleiben bestehen. Die Aporien der Literaturtheorie in der Frühen Neuzeit hinsichtlich der Bestimmung des Gegenstandes der Literatur bestehen darin, dass das Allgemeine der Literatur als etwas immer Gleiches, Notwendiges, als abstrakte Norm verstanden wird. Dadurch verlagert sich die Frage, worin das jeweils Allgemeine besteht, dahin, wie sich die Darstellung einer Norm zur Mimesis eines Wirklichen oder gar zur literarischen Invention verhält, ohne dass man zu einer Entscheidung für eine der unter den gegebenen Voraussetzungen nicht vereinbaren Forderungen oder gar zu einer Lösung der Aporien käme. Verstärkt wird das Problem dadurch, dass die Vorstellbarkeit zum Kriterium für die Darstellbarkeit wird. Denn vorstellen lassen sich sowohl empirisch Erfahrbares wie aus der Erfahrung neu kombiniertes Fiktives. Selbst die Norm, insofern sie mit Hilfe der Abstraktion abgeleitet ist aus der Erfahrung von empirisch Einzelnem, hat als Grundlage die Vorstellung. So wird es notwendig, Fiktion durch konsensfähige Erfahrung oder Glaubwürdigkeit aufgrund von Wahrscheinlichkeit zu legitimieren. Das Verhältnis zwischen durch Beschreibung Erfasstem und Normativem bleibt aber noch in einer anderen Hinsicht ungeklärt. Das als jeweiliges Ideal Postulierte, ob nun der schlechthin Tugendhafte oder der schlechthin tapfere Mensch, ist in der Erfahrung so nicht anzutreffen. Abschließend sei zumindest angedeutet, wie man doch noch einen Ausweg finden könnte. Sicher lässt sich die empirische Erfahrung problemlos zum Gegenstand von Literatur erklären. Aber dann fragt sich, was sie jenseits der reinen Reproduktion leistet. Außerdem geht selbst der noch so akribischen Beschreibung dessen, ‚was ist‘, eine Auswahl voraus, ein Zeitausschnitt wird gewählt, ein Fokus gebildet usf., wobei diese Fokussierung um der Autonomie des schreibenden Subjekts willen beliebig sein soll. Aber auch die Darstellung des Menschen an sich oder eines bestimmten Typus,52 insofern diese überhaupt

52

Die Forderung, durch eine Leidenschaft durchgängig und ausschließlich bestimmte Typen darzustellen, lässt sich auf Horaz: Ars poetica, Z. 125ff., zurückführen. Noch Gottsched in der Critischen Dichtkunst (Anm. 44) spricht davon, es gelte, den „Geizigen, Stolzen,

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darstellbar sind, ist als ausschließlicher Gegenstand der Literatur ungeeignet. Auch würde unter dieser Voraussetzung ein Gedicht wie Goethes „Über allen Wipfeln ist Ruh“, das eine bestimmte seelische Befindlichkeit, eine bestimmte innerseelische Bewegung in Metaphern der Natur zum Gegenstand hat, nicht zur Literatur zählen. Wäre aber Literatur gleichzusetzen mit Fiktion, würde sie sich nicht von anderen Künsten unterscheiden, die auch mit Fiktion arbeiten. Ein Ausweg aus den Aporien der Theorie bestünde darin, die Vorstellbarkeit als Kriterium für Darstellbarkeit kritisch zu überdenken und damit die Unterscheidung zwischen Mimesis von authentisch Erfahrenem, Wahrscheinlichem im Sinne von konsensuell Beglaubigtem und Fingiertem für eine Antwort auf die Frage nach dem Gegenstand der Literatur als irrelevant zu erkennen. Denn um die bestimmte Eigenart eines Naturphänomens, die bestimmte Funktion eines Gegenstandes, die Handlung eines bestimmten Charakters darzustellen, bedarf es genauer Kenntnisse, etwa der Biologie, des Handwerks, der Psychologie, der Handlungstheorie oder Ethik; diese Kenntnisse aber sind nicht einfach in der Vorstellung gegeben.53 Des Weiteren wäre die Prämisse kritisch zu überdenken, dass das einzige in der Literatur darstellbare Allgemeine entweder die Abstraktheit einer Verhaltensnorm oder das zur inhaltlich unbestimmten Variable mutierte Ideal oder eine wie auch immer beschaffene Totalität sei. Diese Prämisse kritisch zu überdenken hieße, sich mit einem Begriff des Allgemeinen als Gegenstand der Literatur auseinander zu setzen, der – im Wesentlichen seit Schlegel unverändert – auch nach 1800 fortwirkt. Noch Jean-Paul Sartre ist diesem Begriff des Allgemeinen verpflichtet, wenn er als Gegenstand der Literatur den Menschen, und zwar den Menschen als „universel singulier“ angibt, wie er es in den Questions de méthode formuliert und im Vorwort zu seiner Interpretation des Idiot de la famille von Flaubert bestätigt: In jedem Individuum soll zwar nicht – wie bei Schlegel – die ganze Menschheit, aber immerhin die gesamte Epoche gegenwärtig sein; der einzelne Mensch als Teil eines Ganzen (das ist des Allgemeinen) offenbare dabei „zugleich seine eigentliche Homogenität mit allen anderen Teilen“ (S. 7).54 „Ein Mensch“ , so Sartre weiter, „ist nämlich niemals ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen: von seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er

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Verschwendrischen, Zänkischen, Verliebten, Traurigen, Verzagten u.s.w. recht zu characterisiren“ (S. 156f.). Gottsched betont die Wichtigkeit dieser Kenntnis in der Critischen Dichtkunst (Anm. 44): „Vor allen Dingen aber ist einem wahren Dichter eine gründliche Erkenntniß des Menschen nöthig, ja ganz unentbehrlich. Ein Poet ahmet hauptsächlich die Handlungen der Menschen nach, die von ihrem freyen Willen herrühren, und vielmals aus den verschiedenen Neigungen des Gemüths und heftigen Affecten ihren Ursprung haben“. Jean-Paul Sartre: Der Idiot der Familie I, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg. von Traugott König (Schriften zur Literatur, Bd. 5), Reinbek 1986.

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sie, indem er sich in ihr als Einzelnheit wiederhervorbringt“ (ebd.). Hieraus ist aber nicht der Schluss zu ziehen, generell die Möglichkeit einer normativen Bestimmung des Gegenstandes der Literatur zu verwerfen. Es sollte lediglich Abstand genommen werden von einer problematischen Bestimmung, einer problematischen insofern, als, wie gezeigt, die so verstandene Norm aus dem Empirischen abgeleitet und folglich, da von allen heterogenen Bestimmungen abstrahierend, inhaltlich unbestimmt ist.

FRIEDRICH A. UEHLEIN

Chartæ Socraticæ. Lord Shaftesburys Plädoyer für eine dialogische Literatur Wenn man sich um Shaftesburys Literaturtheorie bemüht, liegt es nahe, mit seinem Soliloquy (1710) zu beginnen, trägt diese Schrift doch den Untertitel Advice to an Author. Nun hat es mit dem Beraten und Unterweisen seine Schwierigkeiten. Wie kann es gelingen, dass der Rat als ein freies Geschenk (free Gift, Sol 40,23)1 gegeben und angenommen wird, und nicht vielmehr den Vorsprung des besseren Wissens von oben herab bekundet und damit unannehmbar wird? In technischen Unterweisungen und den Wissenschaften, zum Beispiel in der Mathematik oder im Musikunterricht, mag man gerne einen Lehrmeister haben. Wo es aber um Angelegenheiten der praktischen Vernunft, der Klugheit und der Lebensführung geht (Wisdom; Understanding and Good Sense, Sol 42,1), spürt jeder, dass er in selbständiger Weise Einsicht gewinnen und sein eigener Lehrer sein muss. Aus dem Ratschlag für einen Schriftsteller wird unversehens eine Überlegung, wie man überhaupt raten kann, ohne die Lebensführung des anderen zu bevormunden und zu beherrschen (gain Mastery, Sol 42,1). Und umgekehrt, wie kann der Rat eines Anderen in einer Sache angenommen werden, in der man sein eigener Herr sein beziehungsweise werden muss? Seine Absicht, so bekennt Shaftesbury, sei also nicht, Ratschläge zu erteilen, sondern vielmehr die Art und Weise zu bedenken, wie man raten könne. Noch bevor er zum Thema kommt, das man erwartet, scheint Shaftesbury schon abzuschweifen, denn was haben diese Überlegungen mit einem Schriftsteller zu tun?

1

Zitiert wird die Shaftesbury Standard Edition (Stuttgart-Bad Cannstatt 1981ff.) nach folgendem Schlüssel: Titelangabe in einem Kürzel [Sol], Bandzahl [I, 1], Seite und Zeile des Zitatbeginns [40,23]. Die Zitate aus dem Soliloquy stehen alle in Bd. I, 1. Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wit and Humour [SC]; Miscellaneous Reflections [MR]; The Moralists, A Philosophical Rhapsody [Moral]; The Judgment of Hercules [Hercules]; Plasticks, or the Original, Progress & Power of Designatory Art [Plasticks]. Die Askemata werden nach der Ausgabe von Rand zitiert: The Life, Unpublished Letters and Philosophical Regimen of Anthony, Earl of Shaftesbury, London u. New York 1900 [Askemata]. Übersetzungen vom Verfasser.

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Friedrich A. Uehlein

Gerade wenn der Schriftsteller vorgibt, nur zu unterhalten und zu gefallen (only to please, Sol 42,14), so rät er doch insgeheim und unterrichtet und lehrt durch die Personen, ihre Lebensweisen, ihre Überzeugungen und Handlungen, die er darstellt. Er befindet sich, durch den schönen Schein seines Mediums nur wenig gedeckt, in der prekären Situation des Ratgebers. In der Literatur seiner Zeit, in Memoiren, Traktaten, Essays, Romanen und Komödien entdeckt Shaftesbury ein falsches Verhältnis zwischen Autor und Leser. Der Autor sucht die unbedingte Nähe zum Leser. Er bietet ihm die gewöhnlichsten Vorstellungen und Vorurteile, so dass er in allem nur sich selbst findet, ‚übertölpelt‘ ihn und macht ihn abstandslos und kritiklos, um dann um so „ungezügelter von sich selbst zu sprechen“ (Sol 262,6). Das Ziel der Literatur, Personen, Lebensweisen, Denkungsarten, Entscheidungen und Handlungen, kurz, „Manners and the moral Part“ (SC I, 3: 112,28) dem Leser vorzustellen, so dass er sie als freies Geschenk frei empfangen kann, ist verkehrt. Ein solches unfreies Verhältnis zwischen Autor und Leser sieht Shaftesbury nicht in jener Literatur gegeben, welche „die Schönheit des Empfindens, die Anmut der Handlungen, die Beschaffenheit der Charaktere und die Proportionen und Züge eines menschlichen Geistes und Gemüts“ (SC I, 3: 112,7) zur Darstellung bringt. Denn was den Schriftsteller dabei inspiriert, sind „the Love of Numbers, Decency and Proportion; and this too, not in a narrow sense, or after a selfish way (for Who is there that composes for himself?) but in a friendly social View for the Pleasure and Good of others“ (SC I, 3: 112,21). Den Schriftsteller inspirieren die Bestimmtheit, die zahlhafte Ordnung und das Verhältnis der Gemütsbewegungen und Charakterzüge, der Denkungsart und Handlungen und die Zwecke, das Gute, auf das sie aus sind. Diese Inspiration verengt nicht und macht nicht selbstsüchtig und selbstherrlich, so dass der Schriftsteller seinen Leser von oben herab belehrt (dictating and prescribing, Sol 42,18) oder für sich einnimmt und mit Privatem überfährt. Er handelt vielmehr als Freund, der die anderen, die Gesellschaft und das gemeinsame Gute im Blick hat. In diesem hier nur rhapsodisch vorgetragenen Anfang des Gedankenganges ist eine grundsätzliche Überzeugung enthalten. Der Übersichtlichkeit halber untergliedere ich sie in zwei Aspekte. (1) Literatur ist auf das Gute gerichtet. Sie zielt auf die Erweiterung des Lesers, auf die Loslösung aus falscher Befangenheit, auf die Bildung seines Urteilsvermögens (judgment; taste), seiner Gemütsbewegungen (affection, passion) und Empfindungsweisen (sentiment, humour), seiner Haltungen und Lebensart (habit, custom, manner, taste, [good] humour) und seines Charakters (character, [self-same] person, economical self). Der Horizont solcher Bildung ist die Gesellschaft (common

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good and interest; the good of society).2 (2) Solche Befreiung und Bildung kann aber nicht erwirkt, sondern nur selbsttätig geleistet werden. Nicht im Gegensatz zu ihren biologischen, sozialen, politischen und religiösen Bedingungen, sondern innerhalb ihrer bestimmten Geschichte ist eine Person frei und kann und wird sich, zu welchem Leben und zu welcher Identität auch immer, selbst bestimmen. Die anfängliche Frage, wie man raten könne, lässt sich übersetzen in die Frage, wie muss eine Literatur für freie Personen beschaffen sein. Soliloquy Der Titel der Schrift nennt den Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage. „Jeder von uns hat einen Daimon, einen Genius, Engel oder Schutzgeist, dem er vom frühesten Dämmern der Vernunft oder dem Augenblick seiner Geburt an aufs innigste verbunden und anvertraut ist“ (Sol 60,5). Shaftesbury spielt die Alten an, er zitiert Epiktet (Gespräche, I, 14, 12) und paraphrasiert Mark Aurel: „Der Daimon ist eines jeden Geist und Vernunft“ (Wege zu sich selbst, V,27). Doch er nimmt hier die starke, wörtliche Bedeutung zurück, die er in anderen Schriften – zum Beispiel den Askemata, der Socratick History und dem Epiktetkommentar – mit dem Daimon verbindet. Die transzendente Begründung unseres Denkens und sittlichen Urteilsvermögens will er hier nicht beanspruchen, obgleich sie, wie er hinterhältig anfügt, „der Begründung unseres Gedankengangs und unserer philosophischen Überzeugung höchst dienlich wäre“ (Sol 60,9). Er liest den daimonischen Gefährten als Darstellung unserer Reflexivität. Kraft des Rückgangs in uns selbst – „by virtue of an intimate Receß“ – entdecken wir eine bestimmte Duplizität der Seele: Wir unterscheiden uns in uns selbst in zwei Parteien (Sol 60,22). Im Gespräch mit sich selbst kann die Person das, was sie ist und was ihr begegnet, vor sich bringen, unterscheiden und beurteilen. Die zuvor genannte Empfindung, dass man in den Angelegenheiten der eigenen Lebenserfahrung keine Instruktionen annehmen könne, sondern selber einsehen, selber Schüler und Lehrer, Patient und Arzt (Sol 42,29; 46,12) sein müsse, ist ein noch unklarer Ausdruck dieser ursprünglichen Verfassung. Der Rückgang in sich und das innere Gespräch sind die grundlegenden Tätigkeiten einer Person, in denen sie sich selbst entdeckt: Sie

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Die zitierten Begriffe, durch Synonyme vermehrt, kehren in immer neuen Variationen wieder. Shaftesbury vermeidet eine strenge Terminologie. Anstelle eines einzigen durchgehaltenen Begriffswortes setzt er gleich eine Reihe von Synonymen. Das kritische wache Denken soll sich nicht auf ein Begriffswort versteifen, sondern muss die jeweils gedachte Sache in den neuen Kontexten von Neuem erfassen, vgl. Erwin Wolff: Die Synonymie bei Shaftesbury, in: Festschrift für Edgar Mertner, München 1969, S. 201-212.

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ist freigelassen und sich selbst übergeben, ihr eigener Gesetzgeber.3 Zum anderen kann in diesem Gespräch geklärt werden, was das ist, was wir erleben, was uns begegnet, als was es gemeinhin gilt und was es für uns sein kann. Diese Phase der inneren Auseinandersetzung nennt Shaftesbury krísis fantasiôn Kritik der Empfindungen, Vorstellungen und Geltungen. Werden diese nicht zum Sprechen gebracht, damit sie sich in ihrer eigentlichen Gestalt und Person zeigen und dem Urteil stellen (Sol 84,25), dann bleibt der Mensch ein Spielball unmittelbarer Triebbedürfnisse, wechselnder Stimmungen und Launen und dem ausgeliefert, was ihm begegnet und gerade gilt. Er wird umgetrieben in „a constant flux and alteration“, ist ständig anders bestimmt, von anderem beansprucht; sein Unglück endet im Selbstzerfall.4 Wird das innere Gespräch zur Haltung5 und zur beständig geübten Kunst der Lebensführung,6 dann kann das Glück der Selbstübereinstimmung gelingen. Die Praxis des Selbstgesprächs gilt allgemein für jeden Menschen. Die Schriftsteller, meint Shaftesbury, müssten sie darüber hinaus für ihre Tätigkeit bis zur Virtuosität beherrschen: „whom it so highly imports to know themselves, and understand the natural Strength and Powers, as well as the Weaknesses of a human Mind. For without this Understanding [...] the Poet’s Brain, however stock’d with Fiction, will be but poorly furnish’d“ (Sol 86,12). Ein Schriftsteller mag noch so reich mit Erfindungskraft begabt sein, so ist er doch für seine Arbeit und Aufgabe schlecht ausgerüstet, wenn er nicht Kraft und Vermögen sowie die Schwächen kennt, die einem menschlichen Geist und Gemüt (mind)7 von Natur aus zukommen. Und wie soll er diese kennen lernen, wenn er sie nicht im Rückgang in sich und in der Auseinandersetzung mit sich begreift. Aus diesem Grunde ist es notwendig, dass er sich selbst erkennt. Was bedeutet es, sich selbst zu erkennen? Im Rückgang und in der Auseinandersetzung begreift die Person nicht etwa nur, was sie gerade ist. Wäre das überhaupt ein Begreifen? Wie könnte sie sich sonst mit sich auseinandersetzen und ihre 3 4 5 6 7

Askemata 130: „manumitted by Him, & made thy own“. 116: „legislator to thyself“. Sol 250ff.; vgl. Verf.: Kosmos und Subjektivität. Lord Shaftesburys ‘Philosophical Regimen’, Freiburg u. München 1976, S. 145ff. Speculative habit, Sol. 94,5; reasoning and thinking habit, MR I, 2: 350,11. Vgl. Verf.: Kosmos und Subjektivität (Anm. 4), S. 153ff. Um Shaftesburys Sprachgebrauch zu entsprechen wird ‚mind‘ mit ‚Geist und Gemüt‘ übersetzt, denn Empfinden und Fühlen, die emotionale und wahrnehmende Tätigkeit, Verstand, Urteilskraft, Wille und schließlich das Denken, das jede vorgesetzte Grenze überschreitet (MR I, 2: 350,8), werden mit ‚mind‘ ausgedrückt. ‚Mind‘ entspricht somit etwa ‚anima / yuxë‘ der platonisch-aristotelischen Tradition. Gilbert Ryle bestätigt diese Beobachtung. Bei der Untersuchung von Jane Austens Romanen kommt er zu dem Ergebnis: „her moral weltanschauung was akin to that of Lord Shaftesbury“, und sein Wortgebrauch von ‚mind‘ im Sinne des aristotelischen Begriffs der Seele finde sich in der Zeit nur bei Jane Austen. – Jane Austen and the Moralists, The Oxford Review 1966, in: Stanford P. Rosenbaum (Hg.): English Literature and British Philosophy, Chicago u. London 1971, S. 168-184.

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jeweilige Beschaffenheit, ihre Empfindungen, Vorstellungen und Überzeugungen kritisieren? Die Person entdeckt vielmehr, was sie von Natur aus ist und was sie sein kann im Vergleich zu dem, was sie gerade nur ist. Sie entdeckt in diesem doppelten Selbstbegriff Kraft und Vermögen, sowie die Schwächen, die einem menschlichen Geist und Gemüt von Natur aus zukommen. Shaftesbury fährt fort: „Wer Charaktere geben will, muss notwendigerweise seinen eigenen kennen, sonst kennt er nichts“ (Sol 86,19). Wie kann die Kenntnis des eigenen individuellen Charakters Bedingung für die Darstellung von Charakteren sein? Wiederum ist der doppelte Selbstbegriff impliziert. Der Schriftsteller muss in sich, in seinem individuellen Charakter die menschlichen Seinsmöglichkeiten (inward Form and Structure) erkennen und verstehen, sonst kann er keine Charaktere entwerfen. Entsprechend heißt es gegen Ende des Soliloquy: Das Selbstgespräch „lehrt gewiss besser als jede Wissenschaft sonst die Ausformungen der Gemütsverfassungen und der Leidenschaft, die Vielfalt und Verschiedenheit der Lebensarten, die rechte Beschaffenheit der Charaktere und die Wahrheit der Sachen. Wenn wir dies recht verstehen, dann können wir der Natur gemäß schreiben“ (Sol 258,17). Die vielleicht bekannteste Stelle aus Shaftesburys Werk, die Bestimmung des Dichters als des zweiten Schöpfers, bestätigt den Gedankengang und führt ihn weiter. Der Mensch, der wahrlich und zurecht den Namen Dichter, Poetes, verdient und der, als ein wirklicher Meister und Urheber in der Kunst, sowohl Menschen und Lebensweisen darstellen und eine Handlung in den ihr entsprechenden Verhältnissen verkörpern kann, ist ganz gewiss ein anderes Wesen [als diejenigen Menschen, die wir modernen Menschen Dichter zu nennen uns begnügen]. Ein solcher Dichter ist in der Tat ein zweiter Schöpfer: ein wahrer Prometheus unter Zeus. Wie jener unumschränkte Künstler oder wie die schaffende Natur des Alls formt er ein Ganzes, das nach bestimmten Proportionen in sich zusammenhängt und dessen konstituierende Teile er entsprechend einfügt und unterordnet. Er kennt die Bestimmungsgrenzen der Leidenschaften und weiß ihre genaue Spannung, Färbung und Maße; somit stellt er sie richtig dar, umgrenzt das Erhabene der Gesinnungen und Handlungen und unterscheidet das Schöne vom Ungestalten, das Liebenswerte vom Abscheulichen. Der Künstler, der Menschen und Lebensweisen darstellt und den Schöpfer derart nachahmen kann und die innere Form und Struktur seiner Mitgeschöpfe derart kennt, wird ganz gewiss sich selbst kennen und der Zahlen nicht ermangeln, die die Harmonie eines Geistes und Gemüts ausmachen.8

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„I MUST confess there is hardly any where to be found a more insipid Race of Mortals, than those whom we Moderns are contented to call Poets, for having attain’d the chiming Faculty of a Language, with an injudicious random use of Wit and Fancy. But for the Man, who truly and in a just sense deserves the Name of Poet, and who as a real Master, or Architect in the kind, can describe both Men and Manners, and give to an Action its just Body and Proportions; he will be found, if I mistake not, a very different Creature. Such a Poet is indeed a

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Der ‚moral artist‘ kennt aus dem Rückgang in sich und dem Selbstgespräch die innere Form und Struktur, die seine Mitgeschöpfe und ihn selbst bestimmen. Er kennt die Bestimmtheit der Gemütsbewegungen und ihre Verhältnisse. Somit kann er sie in seinen Geschöpfen, in deren Charakteren, Lebensweisen und Handlungen darstellen. Er schafft wie die ‚universal Plastick Nature‘ Individuen, wie sie – und doch zugleich in Differenz zu ihr, als ein zweiter Schöpfer und in Nachahmung jenes unumschränkten Künstlers. Schöpfung und Nachahmung „All is Invention [...] Creation, Divining a Sort of Prophesying & Inspiration. the Poetical Extasie & Rapture. Things that were never seen: no nor that ever were: yet feignd. Painter as Poet a Second Maker. [...] But without all this Apology & Defense The Poem & Fiction is answer sufficient. The Hyperbole the Invention essential. The Probable Plausible the poetick Truth“ (Plasticks I, 5: 201,28). In der Inventio findet, diviniert, erschafft der Künstler etwas, was zuvor noch nie zu sehen, mehr noch, was überhaupt noch nie da war. Wenn die Inventio zu ihrem Abschluß kommt, ist es da – als fiktionales Werk (feignd, fiction). Der schöpferische Aspekt künstlerischer Tätigkeit ist aufs Deutlichste ausgesprochen. Um Shaftesburys Gedanken gerecht zu werden, muss man ihn mit der Nachahmung in eine Balance bringen. Schöpfung und Nachahmung werden aufeinander bezogen. Der Schriftsteller schafft Individuen, Lebensweisen und Handlungen, die nie zuvor da waren. Er schafft Neues in der Welt. Aber die Bestimmtheit der Gemütsbewegungen, das Erhabene, Schöne, Ungestalte des Verhaltens und Handelns, die Reflexivität und Urteilsfähigkeit, Freiheit, Selbstbestimmung und moralische Disposition (moral sense), das gemeinschaftliche Wesen des Menschen (sensus communis; koinonoemosyne) und das Denken, das jede gesetzte Grenze überschreitet (MR I, 2: 350, 8), kurz, die Form der menschlichen Natur (inward Form and Structure, Sol 110,13) schafft er nicht. Er hat sich mit ihr im Selbstgespräch vertraut gemacht. Er weiß sie als Werk des ersten unumschränkten Schöpfers und setzt sie bei seiner Arbeit voraus. Wie die universale plastische Natur schafft er second Maker: a just PROMETHEUS, under JOVE. Like that Sovereign Artist or universal Plastick Nature, he forms a Whole, coherent and proportion’d in it-self, with due Subjection and Subordinacy of constituent Parts. He notes the Boundarys of the Passions, and knows their exact Tones and Measures; by which he justly represents them, marks the Sublime of Sentiments and Actions, and distinguishes the Beautiful from the Deform’d, the Amiable from the Odious. The Moral Artist, who can thus imitate the Creator, and is thus knowing in the inward Form and Structure of his Fellow-Creatures, will hardly, I presume, be found unknowing in Himself, or at a loss in those Numbers which make the Harmony of a Mind.“ (Sol 108, 27).

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Individuen, nicht ‚in rerum natura‘, wohl aber in der Welt der Intersubjektivität. Seine Schöpfung ist nicht unumschränkt und voraussetzungslos und erzeugt keine welthaften Individuen. Was er schafft, besteht nicht unabhängig vom Text und ist nicht anders als in diesem Medium zugänglich.9 Folglich ist er „a second Maker“ und „Copist after Nature“. Er schafft wie die Natur und der unumschränkte Schöpfer, aber an zweiter Stelle und in Abhängigkeit von ihnen. Dieser Sachverhalt wird in dem Begriff ‚Nachahmung‘ erfasst. Das Verhältnis, das im Wort ‚wie‘ zum Ausdruck kommt, zeigt keine Gleichheit, sondern die Asymmetrie einer Ähnlichkeit an. Prometheus ähnelt Zeus, nicht umgekehrt und sie sind auch nicht gleich in Bezug auf ein gemeinsames Drittes. Prometheus ähnelt Zeus, weil er ihn nachahmen kann. Er kann schaffen, da der Vater schon erster unumschränkter Schöpfer ist. Indem er die Seinsmöglichkeiten, die er nicht schaffen kann, sondern als erste Schöpfung voraussetzt und in Charakteren, Lebensweisen und Handlungen neu individuiert, schafft er und ahmt er nach ineins. Nachahmung kann somit auch nicht als einfache Nachahmung von Bestehendem verstanden werden. „Der bloße Gesichtermaler hat wenig mit dem Dichter gemeinsam; er kopiert vielmehr, wie der bloße Geschichtsschreiber, was er sieht, und spürt minutiös jedem Zug und jedem zufälligen Mal nach. Ganz anders bei Menschen, die erfinden und entwerfen können. [...] Sie lehnen peinliche Genauigkeit ab und scheuen vor dem Singulären zurück“10. Ihr Werk droht sonst ins unbestimmt Viele ohne Einheit, ohne Charakter zu verlaufen: „The Piece sinks [...] into its Nothing, its no Character: it dyes, & becomes Thoughtless, void of Meaning: and all Art in the World is thrown away“ (Plasticks I, 5: 283,26). Schriftsteller und Maler orientieren ihre Schöpfung nicht an vorliegendem Einzelnen, das sie in seiner Singularität kopieren, sondern am „Gegenstand als nachgeahmtem, am Gegenstand als spezifiziertem (dadurch daß er auf seine wahre Form & spezifische Seinsweise zurückgeführt wird)“ (Plasticks I, 5: 183,20). Wo der beliebige einzelne Zug bedeutend wird, verläuft die Darstellung ins unabschließbar viele Gleichgültige. Solche Gesichtermalerei berührt nicht und gibt nichts zu erkennen. Erst indem der Gegenstand durch das Momentane und Beiläufige an ihm hindurch auf seine spezifische Seinsweise zurückgeführt wird, affiziert er von sich her und wird er erkennbar. Dadurch dass beispielsweise die Spuren eines gerade vergangenen Erlebnisses noch gegenwärtig sind (repeal), in der Weise, wie einer sich hält, und seine Mund- und Augenpartie verraten, was gerade auf ihn eindringt und somit der Übergang (transition) zu der anstehenden Entscheidung (anticipation) als Widerstreit seelischer Bewegungen sichtbar wird, erblickt man einen bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation seines 9 10

Vgl. die Skizze der Medien oder Characters der Künste (Plasticks I, 5: 214f.). SC I, 3: 122,5 mit Verweis auf die aristotelische Poetik, Kap. 9, 1451 b5-7.

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Lebensganges. So hat Shaftesbury das Urteil des Herakles konzipiert und in den Details durchgearbeitet.11 Der Leib kann „Ausdruck und Schatten eines Inneren“ sein (das gehört zu seiner spezifischen Seinsform). Als solcher kommt er in der Fiktion vor, und es zeigt sich an ihm – hier in allegorischer Überdeutlichkeit – eine prägnante menschliche Möglichkeit. Die „wahre Form und spezifische Seinsweise“ legt Shaftesbury mit Begriffen der platonisch-aristotelischen Tradition aus. Es ist zum einen das immanente Eidos: „Die Form, der natürliche Habitus, die Verfassung, der Vernunftgrund der Sache, ihre Wirklichkeit und ihre spezifische Leistung, ihr Ort, ihre Funktion oder Wirkung in der Natur“.12 Zum anderen ist es die Form, als Ursache gedacht, die eine Sache zu dem macht, was sie ist. Theokles und Philokles erörtern in dem Dialog The Moralists (II, 1: 330-338) drei Ordnungen von Formen: das immanente Eidos, das ist die geformte Form sowie die „formenden Kräfte“ oder „formenden Formen“, die einerseits in der Natur und andererseits in der Kunst und in der sittlichen und politischen Welt am Werk sind. Aber auch Letztere sind nicht rein aus sich und selbstbegründet. Sie beziehen sich zurück (reduce, resolve) auf eine letzte Ordnung, die auch sie selbst, die formenden Formen, sein lässt. „Daher ist alle Schönheit, die in unserer zweiten Ordnung der formenden Formen erscheint oder von hier stammt und hier erzeugt wird, vorzüglich, ursprünglich und paradigmatisch in dieser letzten Ordnung der höchsten und unumschränkten Schönheit enthalten. [...] und alles, was aus der menschlichen Inventio stammt, geht zurück in diese letzte Ordnung.“ Der Künstler, der erfinden und entwerfen kann und aus diesem Grund selbst formende Form ist, schafft kraft seiner Herkunft vom „Prinzip und der Quelle“ aller Formen. „Somit haben wir zweifellos die Ehre, Originale zu sein“, beendet Philokles in gewohnt leicht ironischem Tonfall dieses Gespräch über Formen (Moral II, 1: 336,13). Künstler sind original in der vermittelnden Stellung der begründeten formenden Formen.13 11 12

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A NOTION of the Historical Draught or Tablature, of The Judgment of HERCULES, Bd. I/5, S. 70-151. Plasticks I, 5: 182,5. Shaftesbury spricht hier in einem Atemzug vom epischen oder dichterischen Werk wie von der Historienmalerei, von der Tierfabel wie von der Tier- und Pflanzenmalerei. Zur Begriffsgeschichte des zweiten Schöpfers vgl. Meyer H. Abrams: The Mirror and the Lamp, Oxford 1953, Kap. X, 3. Dem Anspruch auf unbedingtes Schöpfertum hielte Shaftesburys prometheischer Schöpfer entgegen, dass menschliches Schaffen Nachahmung ist. Shaftesburys Wirkung auf die Genieästhetik resultiert aus einer Umdeutung, vgl. Oskar Walzel: Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe, München 21932 und Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, Darmstadt 21988, S. 254ff. Lothar Jordan markiert die Differenz Shaftesburys zu seiner Wirkung in der Geniezeit: Shaftesbury und die deutsche Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 44 (1994), S. 411f. Die Beziehung zur Genieästhetik deutet vor auf eine Ästhetik, welche die Theorie der Nach-

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Zweifellos beziehen sich die Schriftsteller auf Reales in ihrem Werk, wiederholen es sozusagen, aber nicht um seiner selbst willen und nicht im Rahmen der ins Unabsehbare verlaufenden natürlichen Welt und der faktischen Geschichte. Sie wählen aus, trennen, ergänzen, verknüpfen, lassen vieles unausgesprochen sein und formen ein überschaubares Ganzes (Whole, tò e¬súnopton),14 so dass in diesem Ganzen, das sich auf das Reale nur noch bezieht, etwas erscheint, das nicht real ist, „noch je [real] war, doch als Fiktion [ist]“. Fingieren ist ein intentionaler Akt und zielt, Shaftesbury zufolge, auf die Seinsformen, um in seinem Resultat – der fiktiven Welt – eine individuelle Kontraktion dieser unverfügbar vorausgesetzten Seinsmöglichkeiten zu leisten. Shaftesburys fortwährende Rede von ‚Characters‘, ‚Characteristicks‘, ‚characterize‘ meint diesen Sachverhalt. Fingieren bedeutet also nicht Erfinden im Gegensatz zu Realem, sei es dem gesellschaftlichen, politischen Leben, der Natur oder der Geschichte oder der mythischen, religiösen oder literarischen Überlieferung entnommen. Literatur enthält das real Gegebene nicht in einfacher Nachahmung und steht folglich auch nicht in einfachem Gegensatz zu ihm. Dem ‚moral artist‘ und zweiten Schöpfer geht es nicht um die Erfindung von Irrealem, sondern um die Erfindung und Ausarbeitung eines Ganzen.15 „The Sustasiß, Collocation, Whole Unity“ sei das erste bei der Dichtung, notiert Shaftesbury unter der Überschrift Invention (Plasticks I, 5: 184,5). In

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ahmung radikal in Frage stellt. „In ihren Grundlagen ist die Theorie der Nachahmung [...] nur dort aufgehoben, wo der Gehalt der Kunst ein solcher ist, der ihr niemals vorliegen kann, sei es als Natur, als Idee oder als Menschenwesen. Ein solcher Gehalt könnte nur dann gegenständlich werden, wenn zugleich er selbst es ist, der diese Vergegenständlichung leistet“, aus: Dieter Henrich: Kunst und Natur in der idealistischen Ästhetik, in: Hans Robert Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion, München 1964. Im Feld der Ästhetik taucht die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu den anderen gleich ihm und zur Welt („the Whole in which I am included“ [Askemata 32]) und zum Grund („der alles eint“ und „einzig Eines ist“ [Moral II, 1: 250, 11]) und letztlich von Denken und Sein auf: ob das Seiende überhaupt nur ist, insofern es vorgestellt, das heißt Bewusstsein ist und der Mensch sich als selbstgenügsames souveränes Bewusstsein verstehen kann, oder ob er in seiner Intentionalität und Spontaneität auf das Sein bezogen ist. Schon die genauere Formulierung dieser Frage, die dem angespielten transzendentalen Gedanken, seiner idealistischen Vollendung und der metaphysischen Begründung, der Shaftesbury sich anschließt, über die ärgsten Missverständnisse hinaus gerecht würde, kann hier nicht versucht werden. Im Horizont von Wolfgang Isers literarischer Anthropologie muss Shaftesburys prometheischer Schöpfer als mythologischer Rest gelten. Trotzdem ist eine Lektüre Shaftesburys, die [d]as Fiktive und das Imaginäre (Frankfurt a.M. 1991) im Blick hält, höchst aufschlussreich. Sie zeigt deutlicher, was Shaftesbury (nicht) tut. Dieser aristotelische Begriff (Poetik 1451 a4; 1459 a33, b19; Rhetorik 1409 b1) wird zitiert und verallgemeinert in Hercules I, 5: 122,22; SC I, 3: 120,18; MR I, 4: 248,24. Deswegen legt Shaftesbury im Unterschied zu manchen seiner Zeitgenossen auch keinen nachdrücklichen Wert auf das Wunderbare als der Domäne der Literatur. Wird das literarische Werk als ein Ganzes und Eines bestimmt, dann ist die Frage, ob es im Vergleich zur empirischen Realität als wunderbar oder realistisch erscheinen mag, sekundär.

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der Zusammenfügung der Handlungen, Verhältnisse und Geschehnisse zu einem Ganzen und Einen wird Reales nicht mehr als solches bezeichnet oder wiedergegeben, sondern umgeformt und in Momenten der fiktionalen Welt aufgehoben. Die Arbeit der Fiktion, wie sie Shaftesbury im Hercules an einem Historienbild und in durchgängiger Analogie auch für das literarische Werk vorgeführt hat, dient dazu, Seinsmöglichkeiten in individuellen Gestalten zur Anschauung und Einsicht zu bringen. Dieser zweiten Schöpfung entspricht eine eigentümliche Auffassung seitens der Leser, Zuhörer und Betrachter. Sie fühlen sich bewegt, „wenn sie der Dichter durch das Labyrinth der Gemütsbewegungen führt“. Zugleich aber geraten sie in eine engagierte Distanz, denn was sie erleben und erkennen, ist eine Welt, in der alles Reale aufgehoben ist, und die sie trotzdem angeht und einnimmt. Was in jener Welt zur Darstellung kommt, sind menschliche Seinsmöglichkeiten, in denen sie sich, fremd und doch wieder ins Vertraute verschoben, spiegeln können. Die Entsprechung von Fingieren, individueller Kontraktion der Seinsmöglichkeiten und spezifischer ästhetischer Rezeption (um es ‚modern‘ zu formulieren) scheint mir das Eigentümliche von Shaftesburys Auffassung auszumachen. Ich nenne es, in Anlehnung an einen seiner Lieblingsbegriffe, ‚dialogische Literatur‘16. Dialogische Literatur Wird diejenige Literatur, die sich als Nachahmung und Schöpfung versteht, auch die Literatur für freie Personen sein? Da beide Gedankengänge aus dem Gespräch mit sich selbst entwickelt werden, zeichnet sich ab, wie sie zusammengeführt werden können. Shaftesbury nimmt ausdrücklich die aristotelische Poetik in seine Argumentation auf. Seine Musterbeispiele findet er ebenfalls in der Antike: Homer, die Dramatiker und die Chartæ Socraticæ. Hierunter versteht er die sokratischen Dialoge Xenophons und Platons, ferner Kebes, Mark Aurel, Epiktet und Xenophons Kyrupädie. Auch Horaz, von dem er den Titel übernommen hat (Ars poet. 309f.), zählt er unter die Sokratiker.17 TA EIS EAUTON des Kai-

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Dialog gehört zu den Generalthemen der Shaftesburyforschung. Vgl. aus der neueren Literatur: Rolf Raming: Skepsis als kritische Methode. Shaftesburys Konzept einer dialogischen Skepsis, Frankfurt a.M. u.a. 1996, Thomas Fries: Dialog der Aufklärung. Shaftesbury, Rousseau, Solger, Tübingen u. Basel 1993, Alexandra Kleihues: Der Dialog als Form. Analysen zu Shaftesbury, Diderot, Madam d’Epinay und Voltaire, Würzburg 2002 und Laurent Jaffro: Éthique de la communication et art d’écrire, Paris 1998, S. 237-245. Im gegenwärtigen Zusammenhang geht es nicht um die Verbindung von Kritik und Dialog und auch nicht um die literarische Form des Dialogs, sondern um Literatur als dialogische Form. Vgl. den Briefen an Pierre Coste vom 1. X. 1706, in: Rex A. Barrell: Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury (1672-1713) and ‘Le Refuge Français’-Correspondence, Lewis-

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sers liest er als ein großes Selbstgespräch, die Diatriben Epiktets hat er in einem Kommentar als Dialoge rekonstruiert.18 Freilich lassen sich weder die Poetik noch die antike Literatur wiederholen oder fortsetzen. „Wenn du dich mit den Alten in der Phantasie stark beschäftigst und dies oder jenes wieder belebst, dann denk’ daran, dass diese Dinge ihre Zeit gehabt haben. [...] Etwas anderes mag in späteren Zeiten hervorkommen: aber das muss etwas Neues sein und aus neuem Samen“ (Askemata 78). In welchem Sinn können dann die Poetik maßgebend und Homer, Xenophon und Platon mustergültig sein? Es kann sich nicht um das einfache Verhältnis von Muster und Nachbildung handeln. Auch die Vermutung, Shaftesbury glaube über den Begriff von Literatur zu verfügen und messe daran ihre historischen Ausformungen in der Antike und Moderne, trifft nicht zu. Was Literatur sei und vor allem, wie sie Literatur für freie Personen sein kann, nämlich dialogische, weiß er nicht unabhängig von der Erfahrung antiker und moderner Literatur und der Reflexion dieser Erfahrung. Und er weiß es nicht unabhängig vom Soliloquy und dem, was in dessen Vollzug als „inward Form and Structure“ des Menschen verstanden wird. Aufgrund dieser Erfahrungen, der Reflexion dieser Erfahrungen und der philosophischen Selbstbesinnung gewinnt Shaftesbury aus der Poetik und der antiken Literatur Prinzipien, die erneut und verschieden angewandt werden können: auf Neues und aus neuem Samen. Die Verbindung von Homer mit Platon klingt bei Aristoteles an. Als er am Anfang der Poetik die Kunst der Nachahmung in vielfältiger Weise unterscheidet, erwähnt er neben Epos, Drama, den musikalischen Gattungen und dem Tanz auch die sokratischen Dialoge (1447 a11). Shaftesbury zieht Homer und Platon energisch zusammen. An ihnen kann er entwickeln, was Literatur für freie Personen ist. Der Übersichtlichkeit halber führe ich zuerst an, was Shaftesbury mit Aristoteles an Homer hervorhebt und kritisch gegen die Literatur seiner Zeit ausspielt und gehe dann auf die Chartæ Socraticæ ein. Der Autor spricht nicht in eigener Person. Er setzt nicht sich in Szene, sondern Personen in ihrem Handeln und Reden. Die Figuren sprechen jede ihre eigene Sprache, sie handeln verschieden und zeigen sich immer selbst als sie selbst. Der Autor sagt nicht dazu, was seine Figuren bedeuten sollen und was er mit ihnen intendiert. Alles ist vielmehr inszeniert und dramatisiert. Eine solche dramatische Darstellung, so Shaftesbury, ist instruktiver als jeder auktoriale Kommentar, der in die

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ton/New York u.a. 1989, S. 161-176. Mit welchem Recht er die römische Stoa, unter ausdrücklicher Einklammerung Senecas, aus der stoischen Orthodoxie löst und auf Sokrates zurückleitet, wäre ein eigenes Thema. Unter demselben Titel, Chartæ Socraticæ, hat er schließlich eine Darstellung des Lebens und der Lehre des Sokrates aus den antiken Quellen konzipiert (Public Record Office, London PRO 30/24/27/14). Public Record Office, London PRO 30/24/27/16.

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Szene hineinredet und mit einem Gewicht auftritt – those dictating and masterly Airs of Wisdom (Sol I, 1: 96,18) – , das die dargestellten Personen und den Leser überfährt. Die modernen Memoirenschreiber und Didaktiker – und das können durchaus auch Dramatiker und Romanciers sein – zeigen, anstatt Personen zu vergegenwärtigen, sich selbst. Sie erkaufen in Vor- und Nachworten, Widmungen, Entschuldigungen und zusammenfassenden Exkursen die Gunst des Lesers. Sie erwecken den Eindruck der Intimität durch die vertrauliche Anrede und das einschmeichelnde ‚Wir‘19. Sie biedern sich an und ziehen den Leser an sich, um dann um so „ungezügelter von sich selbst zu sprechen“ und ihm ihre privaten Ansichten zu insinuieren (Sol I, 1: 262,3). In einer solchen auf Nähe erpichten Darstellungsweise entstehen aber keine Personen, Handlungen und Begebenheiten, die individuelle Ausformungen menschlicher Seinsmöglichkeiten sind. Die verbleibenden Ansätze zu Charakteren zeigen kaum Proportion und Zusammenhang (MR I, 2: 340,24), wogegen der wirkliche Schöpfer und Nachahmer „ein Ganzes formt, das nach bestimmten Proportionen in sich zusammenhängt.“20 So entstehen keine Menschen von einer bestimmten Beschaffenheit. Sie sind nur nach Namen und Titeln charakterisiert und ausstaffiert mit Qualitäten, die kaum denen eines Wesens aus der menschlichen Gattung gleichen. Im Grunde sind sie alle gleich: willfährige Puppen, die den Witz des Schriftstellers zur Schau stellen und seine privaten Ansichten und Maximen demonstrieren (MR I, 2: 340,16). Auch die Chartæ Socraticæ, vor allem die Dialoge Xenophons und Platons, sind in Shaftesburys Augen echte Dichtung: „personated Pieces“ (Sol 92,7). Die Personen zeigen die ganze Handlung hindurch ihren Charakter, ihre Haltungen (habits), ihre besondere Gemütsverfassung (humours), ihr Temperament und ihre eigentümliche Auffassungskraft (understanding). Dies alles werde durchgehalten genau, wie es die poetische Wahrheit verlangt. Unter poetischer Wahrheit versteht Shaftesbury die Proportionen und die Integration zu einem Ganzen, die eine Person zu einem Menschen von bestimmter Beschaffenheit machen, so dass er der Wahrscheinlichkeit und der Notwendigkeit nach so und nicht anders redet und handelt. (Die Aufgabe des Dichters sei es, das der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit nach Mögliche darzustellen, sagt Aristoteles im neunten Kapitel der Poetik. Diese Auffassung schimmert erneut in Shaftesburys Sätzen durch.) Auf die Tragödie angewendet, an der

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Für die eigene Praxis notiert Shaftesbury: „Die Verwendung von Ich untersagt, ausgenommen die Abhandlungen im Briefstil. [...] Denn ‚Wer bin ich?‘ Und sogar wir, uns, unser usw. nicht verwenden, außer um den Leser in gewissem Sinn einzubeziehen, mit dem Autor zusammen zu arbeiten und selbst, als eine eigene Partei, zu entdecken, zu untersuchen“ (Plasticks I, 5: 168,5). Vgl. Anm. 8.

Lord Shaftesburys Plädoyer für eine dialogische Literatur

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Shaftesbury rühmt, dass sie einen Charakter, eine Hauptrolle und eine durchgehaltene Handlung, eine Kette tiefer Reflexionen, aus einem Mund, über einen einzigen Schicksalsschlag zeige und daher Entsetzen und Mitleid errege (Sol 192,8), heißt dies: Es ist Hamlet möglich, so zu handeln und zu reden, nicht weil es irgendwie möglich ist (möglich in einem ganz formalen Sinn), er hat vielmehr aufgrund seiner Anlagen, seiner Erziehung und Charakterbildung das Vermögen, dies zu tun und zu sagen, anderes nicht. Seine eigentümliche Gemütsart, seine Auffassungskraft und die Haltungen, die Lebensart und die Denkungsart, die er sich ausgebildet hat, machen es ihm möglich und machen es wahrscheinlich, ja notwendig, dass er dies tut und sagt.21 Als Gespräche und Wiedergabe von Gesprächen und als inszeniertes, dramatisiertes Geschehen handeln die Chartæ Socraticæ nicht nur von Menschen, Lebensweisen und Denkungsarten, sie führen sie lebendig vor. „Und dadurch lernten wir nicht nur andere Personen kennen, sondern sie lehrten uns – und das ist das Wichtigste und Wertvollste an ihnen – uns selber zu erkennen“ (Sol 92,20). Der Held, den diese „Gedichte“ inszenieren, ist ein vollkommener Charakter. Aber er bedrückt nicht, er gibt sich nicht die Aura der Weisheit und Meisterschaft, die von oben herab diktiert (those dictating and masterly Airs of Wisdom). Im Gegenteil – was er sagt, ist von einer feinen Ironie und Heiterkeit (refin’d Raillery), einer Art von lächelndem Spott, vermischt mit Erhabenem. Er bietet das Erhabene leicht dar, verbindet Hohes und Niedriges und legt eines durch das andere aus. Die Chartæ Socraticæ vereinen folglich den heroischen, den einfachen, den tragischen und den komischen Stil (Sol 92-96). Die weiteren Personen der Dialoge zeigen Ausformungen der menschlichen Natur. Sie sind eindeutiger gezeichnet als Sokrates, der sich immer wieder entzieht. Wir können uns in ihnen wie in einem Spiegel entdecken und unsere feinsten Züge genau umrissen finden. Jeder, der sich nur eine Weile so betrachtet, wird mit seinem Herzen vertraut. Wer beständig in diesen magischen Spiegel blicke, erwerbe eine eigentümliche Haltung, „a speculative habit“ (Sol 94,14), so als trüge er zum ständigen Gebrauch eine Art Taschenspiegel bei sich, in dem er zwei Gesichter erblickt: das des Sokrates und das seiner Gesprächspartner, denen wir so gleichen. Wir unterscheiden uns, so resümiert Shaftesbury, in verschiedene Parteien und bleiben dabei nicht unverändert. Indem der Leser dieser dialogischen Dichtung von allen Parteien engagiert, aber von keiner schlechthin eingenommen wird, auch nicht von Sokrates, der ihn fasziniert und doch lächelnd auf Distanz hält, gehört er selber zum dialogischen Geschehen. Er tritt in die dialogische Handlung ein – freilich nicht als einer der dargestellten Gesprächspartner oder als die Hauptperson. Engagiert 21

Vgl. Arbogast Schmitt: Die Literatur und ihr Gegenstand in der Poetik des Aristoteles, in: Thomas Buchheim u.a. (Hg.): Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, Hamburg 2003, S. 184-219, hier: S. 205f.

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und doch von keiner Partei völlig eingenommen, tritt er der ganzen Handlung kritisch gegenüber. „For here [im Dialog] the Author is annihilated; and the Reader being no way apply’d to stands for Nobody. The self-interesting Partys both vanish at once. The Scene presents it-self, as by chance, and undesign’d“ (Sol 100,33). Der Autor verschwindet. Als interessierte Person, die gelten will, die Nähe des Lesers sucht und sich mitteilen und instruieren will (didactive, preceptive), ist er vernichtet. Und mit ihm der interessierte Leser.22 Er wird nicht als geneigter Leser angegangen und vereinnahmt (apply’d to), sondern mit der Handlung ohne auktoriale Einrede und Absichtserklärung (design) konfrontiert. „The Scene presents it-self, as by chance, and undesign’d. You are not only left to judg cooly, and with indifference, of the Sense deliver’d; but of the Character, Genius, Elocution, and Manner of the Persons who deliver it. These too are mere Strangers, in whose favour you are no way engag’d“ (Sol 102,2). Es sind eine fremde Welt und fremde Personen, denen der Leser begegnet. Es liegt an ihm, die Handlung, die Charaktere, die Szene, kurz, die fiktionale Welt aufzufassen. Und es ist ihm überlassen, die Bedeutung des Ganzen kühl und unvoreingenommen zu beurteilen. Nur dann kann die fiktionale Welt für ihn zum magischen Spiegel werden, in dem er in fremden Personen, Lebensweisen, Denkungsarten und Zeiten sich selbst erblickt. Dabei genügt es nicht, dass die Personen zur Sache und sinnvoll (good Sense) sprechen. Es muss sichtbar werden, aus welchem Grund und Prinzip sie sprechen, aus welchem Fundus von Erfahrung und Wissen sie schöpfen und was für einen Verstand sie besitzen. „Jedes Gesicht muss eines bestimmten Menschen Gesicht sein“ (Sol 102,18). Diese Forderung gilt dem Autor, wenn er menschliche Seinsmöglichkeiten in der Fiktion zur Anschauung und Einsicht bringt. Sie gilt entsprechend für den Rezipienten, wenn er die dargestellte Welt auffasst und beurteilt. In der dialogischen Literatur wird der Leser zum Mitarbeiter des Autors, er ist beteiligt, er entdeckt, untersucht selbst: „co-operating with the Writer, & discovering investigating, as a Party, himself“ (Plasticks I, 5: 168,7). Didaktische Literatur bestätigt diesen Zug dialogischer Literatur. Sie lässt die Szene nicht (ganz) von selbst entstehen, absichtslos. Sie insinuiert. Sie lässt den Leser nicht frei. (So muss Vergil, bei aller Liebe, für Shaftesbury hinter Homer und Euripides hinter Sophokles zurückstehen). Aber auch der vorbildliche 22

Zum ‚interesselosen Wohlgefallen‘ und der ‚ästhetischen Erfahrung‘ bei Shaftesbury vgl. David A. White: The Metaphysics of Disinterestedness: Shaftesbury and Kant, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 32 (1973/74), S. 239-248, Jerome Stolnitz: On the Origin of ’Aesthetic Disinterestedness‘, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 20 (1961), S. 131-143; Jerome Stolnitz: ‘The Aesthetic Attitude’ in the Rise of Modern Aesthetics, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 32 (1978), S. 409-422, Dabney Townsend: From Shaftesbury to Kant. The development of the concept of aesthetic experience, in: Journal of the History of Ideas 48 (1987), S. 287-305.

Lord Shaftesburys Plädoyer für eine dialogische Literatur

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Charakter ist ein fremder Charakter, „in whose favour you are no way engag’d“, und ein affirmativ gesetzter, vollkommener Charakter wirkt „unpoetisch und falsch“, da sich der Leser die Konflikte und die Kunst der Selbstbeherrschung, in denen er sich gebildet hat, nicht erzeugen kann. „Wo aber die Ursachen notwendigerweise unbekannt und unbegreiflich bleiben, dürfen die Wirkungen nicht in Erscheinung treten“ (MR I, 4: 232,5), denn Literatur ist „die gemeinsame Sache von Autor und Leser“.23 ‚Dialogische Literatur‘, in dem hier skizzierten Sinn, ist nicht auf bestimmte literarische Gattungen beschränkt. Sie bezeichnet vielmehr das Verhältnis von Autor, prometheischer Schöpfung und Leser, in dem die fiktionale Welt und das, was sie zur Erscheinung bringt, frei gegeben werden und frei aufgefasst werden können. Indem sie erlaubt, sich selber kennen zu lernen, rückt sie in die Nähe des Selbstgesprächs. Aber das Selbstgespräch, in dem man Patient und Arzt wird, kann von der spielerischen Selbsterfahrung im Spiegeln fremder menschlicher Möglichkeiten ausgehen. Dialogische Literatur ist Literatur für freie Personen.

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Der Kontext dieser prägnanten Formulierung spitzt die Mitarbeit des Lesers auf die Kritik zu, die hier noch nicht zur Debatte stand. „And let the READER withal consider, ‘That when he unworthily resigns the place of Honour, and surrenders his Taste, or Judgment to an Author of ever so great a Name, or venerable Antiquity, and not to Reason and Truth, at what ever haphazard; he not only betrays Himself, but withal the common Cause of AUTHOR and READER, the Interest of Letters and Knowledg, and the chief Liberty, Privilege, and Prerogative of the rational part of Mankind‘“ (MR I, 4: 296, 27). Die zentrale Bedeutung der Kritik wurde herausgearbeitet von Barbara Schmidt-Haberkamp: Die Kunst der Kritik. Zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik bei Shaftesbury, München 2000.

GOTTFRIED GABRIEL

Der Begriff der Fiktion. Zur systematischen Bedeutung der Dichtungstheorie der Aufklärung Der folgende Beitrag verfolgt ein systematisches Ziel in zwei Schritten. Er verteidigt zunächst einen pragmatisch-semantischen Fiktionsbegriff gegen neuere Versuche, die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen einzuebnen. Dabei wird das Auseinanderdriften von behauptendem Logos und vergegenwärtigendem Mythos als ein in der Sache begründetes Faktum anerkannt. Auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen Fiktionalität und Nichtfiktionalität wird sodann versucht, den Erkenntniswert der Dichtung plausibel zu machen. In problemgeschichtlicher Perspektive greift die Argumentation auf Unterscheidungen zurück, die in der Dichtungstheorie der Aufklärung – insbesondere von Alexander Gottlieb Baumgarten – entwickelt worden sind. Die Auffassung, dass Dichtung einen wesentlichen Beitrag zur Erkenntnis der Wirklichkeit leistet, ist nicht selbstverständlich. Sie wird derzeit von zwei gegensinnig verlaufenden Argumentationslinien in Frage gestellt. So wird von wissenschaftstheoretischer Seite der Erkenntniswert der Dichtung geleugnet und die Erschließung der Wirklichkeit einzig den Wissenschaften, vor allem den Natur- und Sozialwissenschaften, überantwortet. Von literaturtheoretischer Seite wird diese Auffassung zu Recht als dogmatisch verworfen – allerdings mit der Übertreibung, den Wirklichkeitssinn insgesamt zu schwächen. Der Anmaßung der Wissenschaft sucht man dadurch zu begegnen, dass die Unterscheidung von Wirklichkeit und Dichtung, von Fakten und Fiktionen, zurückgenommen wird und im Anschluss an Friedrich Nietzsche einem Panfiktionalismus das Wort geredet wird. So arbeiten Szientismus und Fiktionalismus einander ungewollt in die Hände. Der Szientismus simplifiziert den Wirklichkeitsbegriff, und der Fiktionalismus negiert ihn. Beides fügt sich zusammen zu einer ‚unheiligen‘ Allianz, in deren Verlauf die Anerkennung einer komplexen Wirklichkeit auf der Strecke bleibt. In der Tat, unsere Wirklichkeit ist so vielfältig, dass zu ihrer Erkenntnis die exakten Begriffe der Wissenschaft nicht hinreichen, sie bleibt aber von Fiktion unterscheidbar. Der Vielfalt der Wirklichkeit lässt sich dadurch in angemessener Weise Rechnung tragen, dass an ihrer Erschließung die unterschiedlichsten Darstellungsformen von Wissen-

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Gottfried Gabriel

schaft, Philosophie und Dichtung komplementär beteiligt werden.1 Dabei ist insbesondere die Fixierung auf den Wahrheitsbegriff aufzugeben und anzuerkennen, dass die Erkenntnisvermittlung nicht an wahre Aussagen gebunden ist, sondern dass es auch nicht-propositionale Erkenntnisse gibt. Die kategoriale Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen ist in gewissem Sinne selbstverständlich. Jedes Kind trifft diese Unterscheidung – spätestens im Alter von vier Jahren. Als induktive Basis für meine generelle Behauptung, kann ich zumindest eigene Erfahrungen mit drei Kindern anführen. Es ist kaum zu begreifen, dass erwachsenen Philosophen und Literaturwissenschaftlern eine Unterscheidung abhanden kommen konnte, die ihnen – davon bin ich überzeugt – im Kindesalter selbstverständlich gewesen ist. Auch wenn die Verwechslung von Fiktion und Wirklichkeit bzw. das Verschwimmen von deren Grenzen häufig selbst Thema fiktionaler Literatur gewesen ist (Cervantes’ Don Quijote, Wielands Don Sylvio), das Spiel mit dieser Grenze als Fiktionsironie bekannt ist und „das Leben ein Traum“ als Topos der Weltliteratur gelten darf (Calderón, Hofmannsthal, Lewis Carroll) – die gänzliche Aufhebung der Unterscheidung von Fakten und Fiktionen zu behaupten, wäre doch niemandem in den Sinn gekommen. Im Unterschied zu unseren gegenwärtigen ‚Wirklichkeitsverschwindlern‘ zeichnen sich die Autoren der deutschen Aufklärung durch einen ‚gesunden’ und gleichwohl differenzierten Wirklichkeitssinn aus, der ihre Überlegungen gerade heute systematisch interessant erscheinen lässt. Sofern Dichtung fiktionale Literatur ist, hat es die Dichtungstheorie wesentlich mit drei Themen zu tun: (1) mit einer Analyse des Begriffs der Fiktion, (2) mit einer Analyse des Begriffs des Literarischen (Poetischen) und (3) mit einer Bestimmung der besonderen Leistung, die von der Dichtung als einzigartiger Verbindung des Fiktionalen mit dem Poetischen zu erwarten ist. Zu allen drei Fragen hat sich die Dichtungstheorie der Aufklärung maßgeblich geäußert. In Verruf sind ihre Ergebnisse vor allem deshalb geraten, weil man ihr das Bemühen um eine Regelpoetik berechtigterweise – aber doch zu einseitig – als Vermischung von Kunst (ars) und Wissenschaft (scientia) angelastet hat. Bekanntlich hat Kant in seiner ‚Dritten Kritik‘ mit diesem Missverständnis aufgeräumt. Da die Folgezeit wesentlich durch die Rezeption der Kantischen Genieästhetik bestimmt war, fanden die Ergebnisse seiner Vorgänger – vor allem diejenigen Baumgartens, auf denen Kant doch in anderer Hinsicht fußt – nicht mehr die ihnen gebührende Aufmerksamkeit. Vorab nennen möchte ich die für Kants Dichtungstheorie zentralen Begriffe der ästhetischen Idee und der re-

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Ich greife im Folgenden auf Überlegungen zurück, die ausführlicher dargestellt sind in Verf.: Logik und Rhetorik der Erkenntnis – Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, Paderborn 1997, Kap. 7.

Der Begriff der Fiktion. Zur Bedeutung der Dichtungstheorie der Aufklärung 233

flektierenden Urteilskraft, die beide ihre Ursprünge in der Ästhetik Baumgartens haben. Doch hiervon später. Die Dichtungstheorie der Aufklärung war wesentlich durch die philosophische Debatte über das Verhältnis zwischen oberen und unteren Erkenntnisvermögen bestimmt. Das überlieferte Platonische Diktum, dass die Dichter lügen, stellte kein ernsthaftes Problem mehr dar. Unter Zugrundelegung eines Begriffs von Lüge, nach dem nur derjenige lügt, der etwas behauptet, von dem er weiß, dass es nicht wahr ist, war dieser Vorwurf bereits von Philip Sidney (1595) mit dem Argument zurückgewiesen worden, dass Dichter schon deshalb nicht lügen, weil sie gar nicht behaupten.2 In Frage stand daher nicht mehr die Zulässigkeit der Fiktion, sondern die positive Bestimmung ihrer Funktion. Diese Funktionsbestimmung ging in der deutschen Aufklärung einher mit der gleichzeitigen Rehabilitierung der unteren Erkenntnisvermögen und deren Bedeutung für das Ausarbeiten einer Theorie der Sinnlichkeit als Ästhetik. Die Ästhetik bildete das Komplement der Logik, verstanden als Theorie der rationalen Erkenntnis: Ästhetik und Logik wurden zu gleichberechtigten „Schwestern“ (Baumgarten). Im Folgenden beschränke ich mich, dem Rahmenthema folgend, auf eine Behandlung der Dichtungstheorie: Wie verstand die Aufklärungsphilosophie die beiden Momente der Dichtung, das Fiktionale und das Poetische, sowie deren Verbindung? Im Anschluss an die rationalistische Erkenntnistheorie von Gottfried W. Leibniz und Christian Wolff bestimmte Baumgarten Fiktionen (fictiones, figmenta) als Perzeptionen, die aus sinnlichen Vorstellungen der Phantasie oder Einbildungskraft (facultas imaginandi) gebildet werden, indem sie zu einem Ganzen (unum totum) zusammengefasst werden.3 Der Einbildungskraft selbst wird lediglich eine reproduktive Funktion zugewiesen. Sie ruft frühere sinnliche Wahrnehmungen als Vorstellungen (repraesentationes) auf: „[N]ihil est in phantasia, quod non ante fuerit in sensu.“4 Das produktive Vermögen oder die Fähigkeit zur Neu- und Umbildung wird als das Vermögen des Erdichtens (facultas fingendi) bestimmt, das durch den Zusatz ‚poetisch‘ bereits in die Nähe des Dichtungsvermögens im Sinne der (später so genannten) produktiven oder dichterischen Einbildungskraft gerückt wird. Die Doppeldeutigkeit von „Dichtung“ – verstanden als Poesie oder als ‚bloße‘ Erdichtung – hält sich bis in die Gegenwart. Fiktionen sind ganz allgemein das Ergebnis einer Poiesis, eines ‚Machens‘, das die Gefahr in sich birgt „Chimären“ als für wahr gehalte-

2 3

4

Philip Sidney: A Defence of Poetry, hg. von Jan A. van Dorsten, 2. Aufl. Oxford 1971, S. 52. Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica, 7. Aufl. Halle 1779, repr. Hildesheim 1969, repr. §§ 501-623 in: ders.: Texte zur Grundlegung der Ästhetik (lat.-dt.), hg. und übers. von Hans R. Schweizer, Hamburg 1983, hier: § 590. Ebd., § 559.

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ne Fiktionen hervorzubringen.5 Im Rahmen seiner Dichtungstheorie bezeichnet Baumgarten dann bereits solche Erdichtungen (figmenta) als wahr, die in der bestehenden Welt möglich sind. Die Erdichtungen, die in der bestehenden Welt unmöglich sind, unterteilt er sodann in solche, die nur in dieser Welt unmöglich, in anderen Welten (heterokosmisch) aber möglich sind, und solche, die in allen möglichen Welten unmöglich sind, und er fügt hinzu: „Nur wahre und heterokosmische Erdichtungen sind poetisch.“6 Der bereits angesprochene Wirklichkeitssinn drückt sich in folgender Feststellung aus, „so ist die Verrücktheit (delirium) der Zustand eines Wachenden, der gewohnheitsmäßig die Einbildungen (imaginationes) für Empfindungen (sensationibus) und die Empfindungen für Einbildungen hält.“7 Zu beachten ist, dass das lateinische Verb ‚fingere‘ ursprünglich (ähnlich wie ‚facere‘) ganz allgemein ‚machen‘ im Sinne der Formung eines Materials bedeutet. Erst im übertragenen Sinne erhält es die Bedeutung eines ‚Erfindens‘ von Dingen, die es möglicherweise gar nicht gibt. Beide Verwendungen sind bei Baumgarten auseinander gehalten, verschwimmen aber im modernen Fiktionalismus, der das poietische Verständnis der Fiktion im Sinne des ‚Machens‘ übernimmt, aber nicht hinreichend zwischen den beiden ‚Mach-Arten‘ der Konstitution und der Erfindung unterscheidet. Die Problemgeschichte von ‚Fiktion‘ im ästhetischen Sinne wird, zumindest in der deutschsprachigen Tradition, nicht unter diesem Terminus verhandelt. Hier rücken andere Begriffe wie ‚Dichtung‘, ‚Poesie‘, ‚Einbildung‘ und ‚Illusion‘ in den Vordergrund. Dies ändert sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Einfluss der angelsächsischen Tradition, in der sich der Terminus ‚fiction‘ – vor allem als Bezeichnung für Prosaerzählungen – gehalten hat. Im deutschen Sprachgebrauch wird der Ausdruck ‚Fiktion‘ allerdings nicht zur Bezeichnung für eine literarische Gattung verwendet. Bestimmend bleibt hier der Gegensatz zu ‚Wirklichkeit‘ und ‚Wahrheit‘. Gemessen daran dürfte es nur zu Verwirrungen führen, den Begriff der Fiktion im Sinne der lateinischen Bedeutung so weit zu fassen, dass alle Weisen des Machens eingeschlossen bleiben. Im Sinne einer dementsprechenden Bedeutungseingrenzung hat eine Explikation des Fiktionsbegriffs zunächst negativ zu bestimmen, was Fiktion fehlt, um ‚der Wirklichkeit‘ oder ‚der Wahrheit‘ gerecht zu werden. Hierbei sind zwei Aspekte der Wirklichkeitserkenntnis zu unterscheiden: Dasein und 5 6

7

Ebd., § 590. Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735), lat.-dt. Ausgabe: Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983, §§ LI-LIII; ferner Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica, 2 Bde., Frankfurt a. O. 1750-1758, teilweise repr. in: ders.: Theoretische Ästhetik, lat.-dt., hg. von Hans R. Schweizer, Hamburg 1983, § 441. Baumgarten: Metaphysica (Anm. 3), § 594.

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Sosein. Es können Individuen oder Personen fingiert sein, die in der Literaturwissenschaft bekanntlich ‚Figuren‘ heißen, und es können Beschreibungen und Handlungszusammenhänge fingiert sein. Wesentlich für einen neutralen Fiktionsbegriff ist darüber hinaus die Unterscheidung des Modus der Präsentation fingierter Sachverhalte (ob sie erkennbar als Fiktionen oder ob sie affirmativ in täuschender oder lügnerischer Absicht präsentiert werden). Die Explikation des Fiktionsbegriffs kann mit Blick auf literarische Beispiele vorgenommen werden, sollte aber in der Sache unabhängig vom Literaturbegriff erfolgen. So ist die Tradition in ihren Bestimmungen von reproduktiver Einbildungskraft (imaginatio) und produktiver Einbildungskraft (facultas fingendi) auch verfahren, gibt es doch sowohl nicht-literarische Fiktionen als auch nicht-fiktionale Literatur. Es empfiehlt sich daher, einen neutralen Begriff der fiktionalen Rede zu Grunde zu legen. Entsprechend der obigen Unterscheidung kann sich das Fingieren auf das Dasein, das Sosein und (oder) die Präsentation beziehen: (1) Dasein: Jemand kann so sprechen, als ob er über bestimmte Personen und Objekte redet, obwohl diese gar nicht existieren. (2) Sosein: Jemand kann so sprechen, als ob ein bestimmter Sachverhalt oder ein Ereignis- und Handlungszusammenhang (zwischen als existierend anerkannten Objekten oder Personen) besteht, obwohl dieses gar nicht der Fall ist. (3) Präsentation: Jemand kann so sprechen, als ob er einen Sachverhalt oder einen Ereignis- und Handlungszusammenhang in bestimmter Weise präsentiert (zum Beispiel behauptet), obwohl er dieses gar nicht tut. Im Rahmen sprachphilosophischer Unterscheidungen lässt sich dies so reformulieren, dass fiktionale Rede die Ebenen (1) der Referenz (Denotation), (2) der Proposition und (3) der Illokution betreffen kann. Fiktionale Rede ist danach im Falle (1) weder wahr noch falsch, im Falle (2) falsch, im Falle (3) nicht-affirmativ. Sofern fiktionale Rede keine Ansprüche erhebt, Referenz (Denotation) zu haben, wahr zu sein und affirmativ zu sein, ist sie bzw. der Sprecher von der Erfüllung entsprechender Kommunikationsbedingungen freigestellt bzw. entlastet. (Diese Formulierung stellt eine Verallgemeinerung der Sidneyschen ‚Entlastung‘ der Dichter vom Vorwurf der Lüge dar.) Es versteht sich, dass eine solche Freistellung nicht für alle Literatur vom historischen Roman bis zum Märchen in gleicher Weise gilt. Die genannten Bestimmungen können aber gerade für eine differenzierte Beschreibung unterschiedlicher Grade von Fiktionalität herangezogen werden. Ein starkes Motiv, die traditionelle Unterscheidung von Fiktion und Wirklichkeit nivellieren zu wollen, dürfte sein, dass man von ihr eine Depotenzierung der Rolle der Dichtung befürchtet. Unterscheidungen wie diejenige zwischen „eigentlicher“ und „uneigentlicher Rede“ scheinen den Verdacht zu bestätigen, dass Fiktionen gegenüber Fakten einen defizienten Status haben.

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Nur so ist es zu erklären, dass insbesondere der (soeben zusammenfassend vorgestellte) sprechakttheoretische Versuch, fiktionale Rede durch ihre Abweichungen von normaler Rede zu definieren, als Ausgrenzungsversuch missverstanden worden ist. John R. Searles Charakterisierung fiktionaler Rede als „parasitär“ (parasitic) mag diesem Missverständnis Vorschub geleistet haben,8 wobei hinzukommt, dass er es bei einer negativen Charakterisierung belässt, ohne auf die positiven Möglichkeiten fiktionaler Literatur ausführlicher einzugehen. Diese Selbstbeschränkung eines Autors sollte man aber nicht dem sprechakttheoretischen Ansatz selbst anlasten. Jedenfalls impliziert eine Explikation fiktionaler Rede durch Abweichung weder eine Ausgrenzung fiktionaler Rede noch eine hierarchische Ordnung, in der die apophantische Rede über die fiktionale gestellt würde. Die negative Charakterisierung besagt lediglich, von welchen Verpflichtungen fiktionale Rede freigestellt ist, damit sie in der Form von Dichtung – das heißt als fiktionale Literatur – ihre eigentliche Funktion komplementär zu anderen Erkenntnisformen erfüllen kann. Die Pointe der sprechakttheoretischen Analyse ist es gerade, im Vergleich mit der Historiographie deutlich machen zu können, dass Dichtung trotz ihrer Fiktionalität einen Erkenntniswert haben kann. Nun ist in neuerer Zeit die Unterscheidung von Historiographie und Dichtung auch von Seiten der Historiker in Frage gestellt worden.9 Den Anlass dürften die oben angesprochene Doppeldeutigkeit des Ausdrucks ‚Fiktion‘ und die ‚schleichende‘ Ersetzung des engeren Begriffs (der Erdichtung) durch den weiteren Begriff (des Machens) geliefert haben. So bestimmt etwa der Literaturtheoretiker Wolfgang Iser bereits die „Selektion“ der Wirklichkeitselemente seitens des Autors als „Akte des Fingierens“.10 In diesem Sinne wäre dann auch Historiographie Fiktion. Damit geht terminologisch die wichtige Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen verloren. Ich plädiere daher für die Beibehaltung des engeren Fiktionsbegriffs. Dabei bestreite ich nicht, dass Historiographie (Geschichtsschreibung) insofern ‚gemacht‘ ist, als auch hier der Autor den Stoff ausgewählt und schon dadurch den Fakten seine Darstellung ‚aufgezwungen‘ hat. Dies gilt für jede Wissenschaft und letztlich sogar dann, wenn man bestimmte Erfahrungen ‚macht‘, weil diese stets partikulär sind und nicht die ganze Wirklichkeit wiedergeben können. Eine Auswahl kann einseitig und dadurch wirklichkeitsverfälschend sein. Indem wir aber einen solchen Einwand formulieren, bestätigen wir, dass die Kategorie der Wirklichkeit regulativ in Kraft bleibt, selbst dann, wenn es im Einzelfall schwierig oder faktisch sogar unmöglich sein sollte, zwischen Fakten und

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John R. Searle: The Logical Status of Fictional Discourse, in: ders.: Expression and Meaning, Cambridge 1979, S. 58-75, hier: S. 67. Vgl. Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen, Stuttgart 1986. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt a.M. 1991, S. 25.

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Fiktionen zu unterscheiden. Wesentlich ist einzig, dass Kriterien für diese Unterscheidung in Kraft sind, und nicht, dass sie in allen Fällen zu einer Entscheidung führen. Und selbstverständlich können auch die jeweiligen Kriterien selbst in die Diskussion geraten, auf Kriterien überhaupt zu verzichten, ist aber ein Ding der Unmöglichkeit. Transzendentalphilosophisch gesehen ist die Unterscheidung von Fakten und Fiktionen eine Bedingung der Möglichkeit jeder Orientierung in der Welt. Fälschlicherweise scheint denjenigen, die auf dieser Unterscheidung bestehen, ein metaphysischer Realismus unterstellt zu werden. Gegenüber metaphysischen Positionen ist diese Unterscheidung aber völlig neutral. Es geht in diesem Zusammenhang nicht um die Frage, was denn die wirkliche Wirklichkeit sei. Für unsere Unterscheidung benötigen wir keinen externen Bezug auf eine Welt an sich, es genügt der interne Bezug auf die Welt der Erfahrung. Und innerhalb dieser Welt hat noch niemand auf die Unterscheidung von Sein und Schein verzichten können. An dieser Stelle ist eine ganz analoge Rechtfertigung der wirklichkeitsbezeugenden Funktion der Referenz anzubringen. In der Frage nach der Referenz ist die Frage des Daseins (der Existenz) angesprochen. Sie ist bei der Unterscheidung von Fakten und Fiktionen der Frage des Soseins vorgeschaltet. Nur wenn die Referenz auf Personen oder Sachen zuvor gesichert ist, kann die Frage, ob ein Sachverhalt besteht oder nicht besteht, überhaupt sinnvoll beantwortet werden. Entsprechend gibt die Suspendierung der Referenzbedingung ein wichtiges Kriterium für Fiktionalität ab. Auch hier geht es nicht um eine externe, sondern um eine interne Referenz innerhalb der Welt als Erscheinung. Die Rede vom ‚Verschwinden der Wirklichkeit‘ ist demnach kategorialer Unsinn. Was tatsächlich verschwindet oder doch verschwinden sollte, ist die metaphysische Auffassung, dass wir die Wirklichkeit jenseits der Welt als Erscheinung erkennen können; aber dieses Verschwinden ist bereits vor langer Zeit von Kant eingeleitet worden. Was unseren modernen panfiktionalistischen ‚Wirklichkeitsverschwindlern‘ schlicht abhanden gekommen sein dürfte, ist die Unterscheidung von ‚Schein‘ und ‚Erscheinung‘. Das Festhalten an der Unterscheidung von Fakten und Fiktionen darf also weder als wissenschaftstheoretischer Szientismus noch als metaphysischer Realismus gedeutet werden. ‚Das Gegebene‘ gibt es genauso wenig wie die ‚nackten Tatsachen‘. Tatsachen sind in dem Sinne ‚gemacht‘, dass an ihrer Konstitution das erkennende Subjekt wesentlich beteiligt ist. Konstituieren und Fingieren sind aber verschiedene Arten des ‚Machens‘. Ersteres unterliegt den weltimmanenten Bedingungen des Daseins und des Soseins, letzteres nicht. Dies macht den Unterschied von Historiographie und Dichtung aus. Die Orientierung an Fakten stellt die Wirklichkeitserkenntnis der Historiographie keineswegs über diejenige der Dichtung. Der Lebenswirklichkeit

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kommt die Dichtung häufig näher als die Historiographie, weil es in ästhetisch zutreffenden Darstellungen nicht auf das Bestehen singulärer Tatsachen ankommt. Der Unterscheidung von Fakten und Fiktionen bedürfen wir insofern nicht nur um der Historiographie willen, sondern auch, um den Eigenwert der Dichtung zu begreifen. In dieser Unterscheidung kann nur derjenige eine Abwertung der Dichtung sehen, der die szientifische Beschränkung des Erkenntnisbegriffs auf propositionales Tatsachenwissen noch nicht überwunden hat. Die Fiktionalität, wie sie hier bestimmt wurde, ist ein negatives Merkmal der Dichtung; worin besteht aber das positive Merkmal, das aus Erdichtung Dichtung – Poesie – macht? Hier greift Baumgartens Konzeption der „perceptio praegnans“ – einer vielsagenden, (wörtlich genommen) ‚bedeutungsschwangeren‘ Perzeption, deren Fülle erkenntnistheoretisch auf ihre ‚Verworrenheit‘ zurückgeführt wird.11 Demgemäß sind gerade die ‚verworrenen‘ Beschreibungen von heterokosmischen Erdichtungen „besonders poetisch“.12 Terminologisch folgt Baumgarten dabei weitestgehend den Bestimmungen von Leibniz, der die Verworrenheit als epistemischen Gegenbegriff zur Deutlichkeit fasst und beide Begriffe dem Begriff der Klarheit unterordnet.13 In diesem Sinne korrespondiert mit der Verbindung ‚klar und deutlich‘ die Verbindung ‚klar und verworren‘, wobei das ‚und‘ nicht als Konjunktion, sondern als Spezifizierung zu lesen ist. Verworrenheit ist im Unterschied zur Deutlichkeit eine solche Klarheit (von Erkenntnissen und Begriffen), die es zwar erlaubt, Objekte als solche voneinander zu unterscheiden, aber nicht ausreicht, die Unterschiede selbst inhaltlich in Form von Merkmalen festzuhalten. Für Leibniz sind verworrene Begriffe und Erkenntnisse weniger vollkommen als deutliche. Als verworren gilt ihm insbesondere die sinnliche Wahrnehmung, deren Objekte nicht im Hinblick auf deutliche Merkmale zu analysieren seien. Christian Wolff übersetzt in seiner „Deutschen Metaphysik“ den Ausdruck ‚confusa‘ mit ‚undeutlich‘ und vermeidet damit die negative Nebenbedeutung, die dem Ausdruck ‚verworren‘ anhaftet.14 Das hierarchische Verhältnis zwischen der Deutlichkeit von Begriffen und der Verworrenheit der Sinnlichkeit bleibt gleichwohl bestehen. Erst Baumgarten hat es in ein komplementäres überführt. Danach hat die sinnlich-verworrene Erkenntnis als ‚cognitio clara et confusa‘ ihre eigene Vollkommenheit, die sich nicht nach

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Baumgarten: Metaphysica (Anm. 3), § 517. Ders.: Philosophische Betrachtungen (Anm. 6), § LV. Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis (1684). Philosophische Schriften, hg. von Carl I. Gerhardt, Bd. 4, Berlin 1880, repr. Hildesheim 1965, S. 422-426, hier: S. 422f. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (1720, 11. Aufl. 1751), § 275. Gesammelte Werke, I. Abt., Bd. 2, Hildesheim 1983, S. 152.

Der Begriff der Fiktion. Zur Bedeutung der Dichtungstheorie der Aufklärung 239

dem Grad intensiver Klarheit (das heißt Deutlichkeit), sondern extensiver Klarheit im Sinne anschaulicher ‚Fülle‘ bemisst.15 Kants Ablösung der Regelpoetik durch eine Genieästhetik hat vergessen lassen, dass ein zentrales Lehrstück der Baumgartenschen Ästhetik, nämlich die Konzeption der ‚perceptio praegnans‘, in Kants Begriff der ästhetischen Idee Eingang gefunden hat. Für Kant macht „das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen“ das Genie aus.16 Die ästhetische Idee bestimmt er als „diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke (sc. Begriff) adäquat sein kann“.17 Ergänzend nennt er sie eine, einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit von Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzudenken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet.

Kant betont, dass der Geist, der hier (produktiv) am Werke ist, nicht willkürlichen Assoziationen folgen darf. Soweit die ästhetische Idee ihm „die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet“,18 ist damit zwar eine unausschöpfbare Quelle an Kreativität angesprochen, gleichzeitig wird aber auch gesagt, dass dieser Reichtum eine sachliche Grundlage in der Verwandtschaft der Vorstellungen hat. Das Vermögen, das mit der Feststellung solcher Verwandtschaften oder Ähnlichkeiten befasst ist, heißt in der Aufklärungstradition ‚Witz‘. Dieser Ausdruck ist die Übersetzung des lateinischen Begriffs ‚ingenium‘. Der Begriff des Witzes stellt sich damit als ein Vorläufer des Kantischen Geniebegriffs dar. Hier haben wir ein weiteres Indiz dafür, dass Kant die Ästhetik des Rationalismus nicht nur überwunden, sondern auch beerbt hat. Die Gemeinsamkeit ästhetischer Ideen und prägnanter Perzeptionen besteht in ihrer Kraft zur konnotativen Entfaltung von ‚Nebenvorstellungen‘. Die Dichtung nutzt sie zur Gegenstands- und Weltvergegenwärtigung, indem sie statt propositionaler Erkenntnisse über Gegenstände nicht-propositionale Kenntnisse von Gegenständen vermittelt.19 Dichtung unterscheidet sich positiv von bloßer Erdichtung durch ihre Vergegenwärtigungsleistung, die semantisch aus der Bedeutungsfülle ihrer Sprache erwächst.

15 16 17 18 19

Baumgarten: Philosophische Betrachtungen (Anm. 6), §§ XV-XVII. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49. Ebd. Ebd. Vgl. die traditionelle Unterscheidung von ‚cognitio rei‘ und ‚cognitio circa rem‘ oder auch die Unterscheidung von ‚knowledge by acquaintance‘ und ‚knowledge by description‘.

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Gottfried Gabriel

Allgemein gilt bis heute als Ziel von wissenschaftlichen Explikationen, verworrene in deutliche Begriffe zu überführen. Komplementär dazu hat aber für den ästhetischen Bereich die positive Deutung Bestand, die in der prägnanten Verworrenheit einen gebündelten konnotativen Bedeutungsüberschuss am Werk sieht. Eine solche Verworrenheit, die in gegenwärtigen Literaturtheorien (Wolfgang Iser) als Moment der ‚Unbestimmtheit‘ charakterisiert wird, ist nicht als logischer Mangel zu beklagen, sondern als ästhetischer Reichtum zu begrüßen. An diese Tradition, die über Kants Begriff der ästhetischen Idee, Goethes Symbolbegriff und Ernst Cassirers Begriff der „symbolischen Prägnanz“ bis zu Nelson Goodmans Begriff der Exemplifikation führt, lässt sich systematisch anknüpfen.20 In Bezug auf die Frage nach der Funktion der Fiktion habe ich deren Erkenntniswert verteidigt. Um mich hier nicht dem Vorwurf der Einseitigkeit auszusetzen, möchte ich abschließend betonen, dass mit dieser Verteidigung keineswegs eine Reduktion auf den Erkenntniswert vorgenommen werden sollte. Ich erkenne durchaus die Bedeutung des anthropologischen Wirkungsmoments der Dichtung an. Eine zur Wirkungsästhetik parallele Entwicklung zeichnet sich in der analytischen Philosophie ab, in der gegenwärtig (unter ausdrücklicher Einbeziehung nicht-literarischer Fiktionen) die psychologische Bedeutung der Einbildungskraft (‚imagination‘, ‚make-believe‘) und der durch sie ausgelösten Gefühle hervorgehoben wird.21 Mit Blick auf die Tradition könnte man davon sprechen, dass damit der Aristotelische Gedanke der Katharsis wieder stärker zur Geltung kommt. Neueste Arbeiten scheinen auf eine Vermittlung von Erkenntnis- und Katharsisfunktion hinauszulaufen.22 Und eine solche Sicht entspricht durchaus dem auf Wirkung bedachten rhetorischen Anliegen der Dichtungstheorie der Aufklärung. Aber dies ist ein neues Thema.

20 21 22

Vgl. hierzu Verf.: Kontinentales Erbe und analytische Methode – Nelson Goodman und die Tradition, in: Erkenntnis 52 (2000), S. 185-198. Vgl. Kendall L. Walton: Mimesis as Make-Believe, Cambridge, Mass. 1990, Gregory Currie: The Nature of Fiction, Cambridge 1990. Vgl. Peter Lamarque u. Stein H. Olsen: Truth, Fiction, and Literature, Oxford 1994, Margit Sutrop: Fiction and Imagination – The Anthropological Function of Literature, Paderborn 2000.

LUTZ DANNEBERG

Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien. Zum Hintergrund und zur Entwicklung der Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen, Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, So sagten schon Sibyllen, so Propheten; Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. (Goethe, Urworte. Orphisch) Wenn der kritische Anatom die schöne Organisation eines Kunstwerks erst zerstört, in elementarische Masse analysiert, und mit dieser dann mancherlei physische Versuche anstellt, aus denen er stolze Resultate zieht: so täuscht er sich selbst auf eine sehr handgreifliche Weise: denn das Kunstwerk existiert gar nicht mehr. (F. Schlegel, Über das Studium der griechischen Poesie)

In seinem Dialog über die zwei Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische, lässt Galilei am zweiten Tag Sagredo die „prächtige Geschichte“ erinnern, wie die Frage des Ursprungs und Ausgangspunktes der Nerven mit Hilfe einer Leichensektion beantwortet wird. In der erzählten Geschichte sagt der Philosoph auf die ‚demonstratio ocularis‘: „Ihr habt mir alles so klar, so augenfällig gezeigt – stünde nicht der Text des Aristoteles entgegen, der deutlich besagt, der Nervenursprung liege im Herzen, man sähe sich zu dem Zugeständnis gezwungen, daß Ihr Recht habt.“1 Simplicio verteidigt die Autorität 1

Galilei: Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische [Dialogo {...}, 1632]. Übersetzt und erläutert von Emil Strauß, Leipzig 1891, S. 113. – Ausführlicher zum Hintergrund nicht allein zur Galilei-Passage, sondern auch

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Lutz Danneberg

des Aristoteles, die dieser aufgrund seiner „schlagenden Beweise“, seiner „tiefsinnigen Untersuchungen“ erlangt habe2 – und kennzeichnet sie als die Basis, auf der das Schließen nach ‚induktiver Rationalität‘ erfolgt.3 Simplicio charakterisiert den Darstellungsstil des Aristoteles als nicht für den „großen Haufen“ gedacht – das spielt mehr oder weniger direkt an auf die in der Zeit gängige Unterscheidung zwischen esoterischer (akroamatischer) und exoterischer Darstellungsweise.4 Aristoteles habe seine Schlüsse nicht „nach elementarer Weise geordnet“, vielmehr sei die Reihenfolge bisweilen verworren. Auch dieses Urteil ist nicht sonderlich auffällig. Seit dem 16. Jahrhundert sieht man die überlieferten Texte in ihrer methodischen Darstellung als insuffizient und bemüht sich, diese Quellen des Wissens entsprechend aufzubereiten. Die Verteidigung des Simplicio besteht nun nicht darin, die (bekannten) Mängel der Schriften des Aristoteles als Entschuldigungen zu nehmen, sondern in der Aufforderung eines ‚hermeneutischen‘ Zugangs zu seinem Werk. Schon an früherer Stelle sagt Simplicio, man müsse Aristoteles erst richtig verstehen, bevor man gegen ihn ankämpft.5 Doch auch das ist noch nicht die Pointe, denn dieses Argument ist seit dem 15. Jahrhundert gängig und später findet es sich etwa bei Johannes de Raey (1622-1707): Hält Descartes den Anhängern des Aristoteles sarkastisch entgegen, sie könnten glücklich sein, wenn sie so viel wie ihr Meister über die Natur wüssten, wirft de Raey, ein Cartesianer der ersten Stunde, den Kritikern des Aristoteles vor, seine Philosophie abzulehnen, ohne von ihr ein wirkliches Verständnis gewonnen zu haben.6 Freilich ist dann nicht unerwartet, dass sich dieses bessere Verstehen als Harmonisierung mit der neuen cartesianischen Philosophie darbietet. Die eigentliche Pointe des Rettungsversuchs, den Galilei Simplicio in den Mund legt, besteht nicht im hermeneutischen Zugang überhaupt, sondern in der ‚Art‘ dieses Zugangs: Darum bedarf es jenes großen Einblicks in das Ganze; darum muß man diese Stelle mit jener kombinieren, diesen Paragraphen mit jenem ganz abgelegenen verglei-

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4

5 6

zu Analyse, Synthese, zum ‚ordo inversus‘, zu Ganzheitsvorstellungen und Zerstückelungsphantasien bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, vgl. Lutz Danneberg: Die Anatomie des TextKörpers und Natur-Körpers. Das Lesen im ‚liber naturalis‘ und ‚supernaturalis‘, Berlin 2002. Galilei: Dialog (Anm. 1). S. 113. Vgl. Lutz Danneberg: Säkularisierung, epistemische Situation und Autorität, in: ders. u.a. (Hg.): Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus, Berlin u. New York 2002, S. 19-66. Vgl. auch Lutz Danneberg: Erfahrung und Theorie als Problem moderner Wissenschaftstheorie in historischer Perspektive, in: Jürg Freudiger u.a. (Hg.): Der Begriff der Erfahrung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1996, S. 12-41. Vgl. Galilei: Dialog (Anm. 1), S. 37. Vgl. Johannes de Raey: Clavis philosophiae Naturalis […], Lvgduni Batavorum 1654, Epistola dedicatoria, unpaginiert.

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chen. Es ist kein Zweifel, daß, wer diese Kunst versteht, aus seinen Büchern die Beweise für alles Erkennbare schöpfen kann; denn in ihnen ist alles enthalten.7

Diese Aussage liefert das Stichwort für Sagredo, der im Dialogo den gebildeten Laien vertritt. Er führt die Auseinandersetzung in zwei Schritten zum rhetorischen Höhepunkt: Aber, lieber Signore Simplicio, wenn Euch das Durcheinanderwürfeln des Stoffes nicht verdrießt und Ihr durch Vergleich und Kombination einzelner Splitterchen die Quintessenz zu erlangen vermeint, so will ich die Prozedur, die Ihr und Euere wackeren Kollegen mit dem Texte des Aristoteles vornehmt, mit den Versen Virgils oder Ovids anstellen, will einen Flicken [centoni] daraus auf einen anderen setzen und damit alle menschlichen Angelegenheiten und Geheimnisse der Natur erklären.8

In diesem ersten Schritt scheint Galilei zeigen zu wollen, dass bei der von Simplicio beschriebenen Art der Interpretation die aristotelischen Texte ihren ‚kanonischen‘ Charakter verlieren: Sie sind nach dieser Prozedur zwar „wahr“, aber das haben sie anderen Texten gegenüber nicht voraus, bei denen sich ebenso die „Flicken“ aufeinander setzen ließen und in denen nach demselben Verfahren ebenfalls ‚alles‘ enthalten sei. Die „Flicken“ spielen auf das Cento an, eine (vollständig) aus Zitaten bestehende Schrift – ein Verfahren, das zu Galileis Zeiten noch viele Freunde besaß. Doch anders als im Bild des fremden Flickens zur Verschönerung, der oft reklamierte ‚purpureus pannus‘ des Horaz, ist dieses Verfahren der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Flicken sind die fremden Wissensansprüche, die nur aufgesetzt seien. Doch damit nicht genug – es kommt zu einer weiteren Steigerung: Doch wozu brauche ich Virgil oder einen anderen Dichter? Ich besitze ein weitaus kürzeres Büchlein als den Aristoteles und den Ovid, worin alle Wissenschaften enthalten sind und wovon man mit geringster Mühe die vollkommenste Übersicht erlangen kann; es ist das Alphabet. Kein Zweifel, durch richtige Anordnung und Verbindung dieses und jenes Vokals mit dem und jenem Konsonanten kann man die zuverlässigste Auskunft über jeden Zweifel erhalten, kann die Lehren aller Wissenschaften, die Regeln aller Künste gewinnen.9

Dieser zweite Schritt erscheint als noch radikaler: Er soll das Verfahren der Wissensermittlung via Interpretation ad absurdum führen. Denn bei dem imaginierten Beispiel der Buchstabenkombination fehlt das Wahrheitskriterium: Entweder hat man die sprachliche Darstellung der betreffenden Wahrheit, dann ist die erzielte Kombination von Buchstaben nicht mehr als ihre Wiederholung; oder man besitzt sie nicht, dann ist die ‚Darstellung‘ allein nicht hinreichend, um ihre Wahrheit zu erkennen.

7 8 9

Galilei: Dialog (Anm. 1), S. 114. Ebd. Ebd.

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Dieser zweite Teil der galileischen ‚reductio ad absurdum‘ beruht auf der Imagination der Zurückführung eines Textes auf seine kleinsten Elemente, also Buchstaben, sowie der sich anschließenden kombinatorischen Erzeugung neuer Sätze (Wissensansprüche) anhand dieser Elemente. Es handelt sich um ein Gedankenexperiment, das sich als Echo eines vielfachen Ursprungs darbietet – zu nennen sind hier Lukrez und Cicero, Plato und Aristoteles mit der Verbindung von ‚Atomen‘, ‚Elementen‘ und ‚Buchstaben‘. Solche kombinatorischen Imaginationen nehmen im 16. und 17. Jahrhundert nicht allein im Kontext mit der Interpretation den Charakter einer ‚reductio ad absurdum‘ an: Sie sollen die Widersinnigkeit eines Atomismus aufzeigen angesichts der Annahme der Zufälligkeit und der Ordnungslosigkeit bei der Bildung komplexerer Einheiten, die aus ‚Atomen‘ oder ‚Elementen‘ bestehen. Man könnte versucht sein, diese Ausführungen Galileis zwar für hochartifiziell, aber für weniger karikaturhaft zu halten, als sie vor diesem Hintergrund erscheinen mögen – womöglich als eine Selbstentlarvung, die ein listiges Spiel treibe angesichts des Atomismus, den Galilei selber vertreten hat. Zumindest nach der Auffassung einer freilich allein gebliebenen Stimme soll es genau ein solcher Atomismus gewesen sein (und nicht zuerst ein Kopernikanismus), der den zentralen Grund für seine Verurteilung bildet: Es sei der Konflikt im Blick auf theologischphilosophische Voraussetzungen der Abendmahlslehre, genauer der Lehre von der Transsubstantiation. Wie dem auch sei – das anti-autoritative Argumentationsziel ist bei Galilei deutlich. Vor allem scheint es gut in die Zeit der aufstrebenden Naturwissenschaften zu passen. Doch schon die Frage, welches denn dieses Wahrheitskriterium ist, das Galileis Invektiven zugrunde liegt, macht stutzig – mehr noch, wenn es heißt, man solle die eigenen Augen, sowohl die körperlichen als auch die geistigen, zum ‚Führer‘ nehmen angesichts einer Werbeschrift für die kopernikanische Theorie, die dem Menschen gerade abverlangt, den gewissesten sinnlichen Erfahrungen nicht zu trauen und ihn der Korrektur seiner ‚cognitio communis‘ (‚historica‘, ‚factorum‘ oder ‚sensitiva‘) durch die ‚cognitio philosophica‘ (causarum) aussetzt. Galilei lässt einen Protagonisten denn auch sagen, dass man den Pythagoreern, also den Kopernikanern, nicht genug Bewunderung zollen könne, weil sie sich über die offensichtliche Auskunft der Sinne, selbst der eigenen ‚gewaltsam‘ hinweggesetzt hätten: Ich kann die Geisteshöhe derer nur bewundern, die sich ihr [scil. der pythagoreischen Ansicht von der Bewegung der Erde] angeschlossen und sie für wahr gehalten, die durch die Lebendigkeit ihres Geistes den eigenen Sinnen Gewalt angetan derart. Daß sie, was die Vernunft gebot, über die offenbarsten gegenteiligen Sinnenschein zu stellen vermochten.10

10

Ebd., S. 342.

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Der Witz liegt nicht allein darin, dass es sich offenbar um eine Kontrafaktur einer Bemerkung des Aristoteles über die Pythagoreer handelt: Diese täten aufgrund ihrer vorgefassten Ansichten der Erfahrung Gewalt an.11 Er liegt darin, dass die empirische Wahrnehmung, ja auch Experimente nur ‚second best‘ seien – oder wie Salviati, der Vertreter der neuen Auffassungen, sagt: Sie bekunden die Richtigkeit für denjenigen, der die „Vernunftgründe nicht verstehen will oder kann.“12 Galilei begründet das unter anderem mit der mangelnden Verlässlichkeit unserer Sinne, die uns etwas ‚vorspiegeln‘ und die uns ‚leicht täuschen‘ könnten: „Es ist also geratener vom Scheine abzusehen, über den wir alle einig sind, und durch Vernunftgründe uns zur Erkenntnis durchzuringen, ob der Schein der Wirklichkeit entspricht oder trügerisch ist.“13 Obwohl sich zahlreiche Passagen in Galileis Werk finden, die ähnlich kritisch mit Aristoteles umgehen, gibt es auch Stellen, in denen er von dem Philosophen mit Achtung spricht. Entscheidend ist, dass Galilei ebenso wie andere Aristoteles-Kritiker in der Zeit weniger den Meister selbst meinen, der notgedrungen keine eingreifende Instanz in den zeitgenössischen Verhandlungen von Wissensansprüchen sein kann. Man meint seine zeitgenössischen Anhänger, die ihn als Autorität anführen. Eindrucksvoll tritt das in einem Gedankenexperiment zutage, wenn er Sagredo zu Simplicio sagen lässt: „Ihr habt es immer mit Eurem Aristoteles, der nicht sprechen kann. Ich aber sage Euch, daß, wenn Aristoteles hier wäre, er entweder von uns überzeugt würde, oder 14 unsere Gründe wiederlegte und uns eines besseren belehren würde.“ Solche kontrafaktischen Imaginationen erlauben zwei Konservierungen: bei der Kritik an einem Wissensanspruch die Autorität des Trägers und damit die Kontinuität bei Wissensinnovationen zu wahren. So sind sie fester Bestandteil der epistemischen Situation der Zeit, und die zeitgenössische Theorie der Autorität schafft die Grundlage für solche kontrafaktischen Imaginationen. Doch das Heterostereotyp vom autoritätsgläubigen Aristoteliker war niemals sein Autostereotyp: Der Aristoteliker, der im Text seines Meisters alles finden will, ist eine ‚Parodie‘ Galileis. Vermutlich hat es keinen Aristoteliker gegeben, der eine solche Haltung, ein solches ‚criterium veritatis‘, auch nur annähernd in dieser Weise formuliert hat. Gleichwohl ist dieser Typ von Vorwurf als ‚ad unum referre‘ seit der Antike geläufig. Galilei lässt Sagredo sagen: „gegen eine so augenscheinliche Erfahrung“ bringe der Peripatetiker „nicht etwa andere Erfahrungen oder Gründe aus dem Aristoteles vor, sondern 15 nichts als seine Autorität, das bloße ipse dixit.“ Die lange Tradition dieses

11 12 13 14 15

Vgl. Aristoteles: De caelo, II, 13 (293a) Galilei: Dialog (Anm. 1), S. 179. Ebd., S. 271. Ebd., S. 137. Ebd., S. 113.

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‚ipse dixit‘ braucht hier nicht dargelegt zu werden; denn der einzige Text, der nicht nur so behandelt, wie es Galilei für die Aristoteliker imaginiert, sondern für den das auch gefordert wurde, war die Heilige Schrift. Nun wäre es verführerisch, einen subversiven Galilei zu kreieren, der über die Naturphilosophie und die Aristoteliker spricht, aber die Heilige Schrift und die Theologen meint. Doch das funktioniert aus dem schlichten Grund nicht, da gerade diejenigen biblischen Stellen, die mit der kopernikanischen Theorie konfligieren, keiner interpretatorischen Kunststücke bedurften. Sie bieten sich im planen ‚sensus primarius‘ oder ‚litteralis‘ dar – und gerade darin lag die Ursache des Konflikts der neuen kosmologischen, aus dem ‚liber naturalis‘ herausgelesenen, mit den alten, in den ‚liber supernaturalis‘ eingelesenen Wissensansprüchen. Galilei selbst bietet eine andere Lösung für dieses Problem im Rahmen des Rüchgriffs auf einen alten frühchristlichen Gedanken, der neu gewendet die Diskussion 16 des 17. und 18. Jahrhunderts beherrscht – den der Akkommodation. Zudem ist Galilei bemüht, physikalische Argumente zu bieten, mit denen sich die Überlegenheit der kopernikanischen Theorie eindeutig ausweisen lässt und die sie gleichsam unabhängig von der Buchautorität machen. In dieser Hinsicht neu im Dialogo ist die Gezeitentheorie. Es sind die Gezeiten, die zeigten, dass sich die Erde bewege und das erweist sich als eklatanter Fehlschlag des Beweises der doppelten Erdbewegung. Beide Teile des galileischen Gedankenexperiments ähneln dem zeitgenössischen naturphilosophischen Verfahren par excellence. Zwar verzweigt es sich in verschiedene Traditionen, doch im Kern besteht es aus der Zerlegung eines Phänomens in seine Bestandteile, also der analytischen Methode (auch ‚resolutio‘), und der Verbindung dieser Bestandteile, der synthetischen Methode (auch ‚compositio‘). Hinsichtlich seiner verschiedenen Anwendungsbereiche treten beide als ‚via inventionis vel compositionis‘ und ‚via iudicii vel resolutionis‘ auf, als ‚naturalis resolutio‘ und ‚compositio‘ (oder ‚via compositionis‘), als Zerlegung und Zusammensetzung von Begriffen (als ‚divisive‘ und ‚definitive‘ Methode als ‚abstractio per modum compositionis et divisionis‘). Die Einheiten konnten unterschiedlich sein: Ganzheiten, die zerlegt werden, aber auch ‚effectus‘ – und das legte nicht selten nahe, beide Verfahren im Rahmen der aristotelischen Unterscheidung von ‚demonstratio propter quid‘ und ‚demonstratio quia‘ zu sehen: zusammengefasst als ‚regressus‘. Schließlich kennen das 16. und 17. Jahrhundert auch die Klassifikation von disziplinären Ganzheiten nach ‚analytica‘ und ‚synthetica‘. Die Grammatik galt als Paradebeispiel sowohl für den analytischen wie den synthetischen Charakter einer Disziplin. Mit alldem war Galilei ohne Zweifel vertraut. Im Großen und Ganzen ist im ausgehenden 16., im 17. und noch lange im 18. 16

Vgl. Lutz Danneberg: Schleiermacher und das Ende des Akkommodationsgedankens in der hermeneutica sacra des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Ulrich Barth u. Claus-Dieter Osthövener (Hg.): 200 Jahre „Reden über die Religion“, Berlin u. New York 2000, S. 194-246.

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und Ganzen ist im ausgehenden 16., im 17. und noch lange im 18. Jahrhundert für das Lesen im ‚liber supranaturalis‘, im ‚liber naturalis‘ wie im ‚liber artificialis‘ ein vergleichbares Verfahren angenommen worden. ,Gelesen‘ wird, um allen drei Büchern Wissensansprüche zu entnehmen und dieses ,Lesen‘ erhält jeweils denselben Namen ‚analysis‘ - und auf den Text bezogen ‚analysis textus‘. Nicht allein als ‚analysis grammatica‘, ‚rhetorica‘ und ‚logica‘ konnte sich dann die ‚analysis textus‘ näher gestalten. Sie gehörte zum dominierenden Muster des Umgangs mit Texten, ohne bislang größere Aufmerksamkeit gefunden zu haben. Im Blick auf die Galilei-Passage bleibt noch ein Moment zu berücksichtigen. Dort ist davon, die Rede, dass die Untersuchung der Nervenbahnen sowie die Zerlegung eines menschlichen Körpers herangezogen werden, um Ursa17 chen zu erkennen. Die Analogisierung von Text und Körper ist zwar älter – man denke nur an die Parallelisierung des Mythos, als Seele oder Form der Tragödie, mit den Dimensionen und Proportionen eines Tieres in der Poetik des Aristoteles oder an den Vergleich zwischen Lebewesen und Rede, den Sokrates bietet. Allerdings gewinnt der Vergleich in der christlichen Vorstellungswelt eine überragende Rolle. Zahlreiche Aspekte der Körper-Metaphorik ließen sich bei Origenes exemplifizieren, der eine Dreiteilung des Sinns der Heiligen Schrift annimmt: ihr ‚Fleisch‘, ihre ‚Seele‘ und ihr ‚geistliches Gesetz‘. Bei ihm heißt es sinngemäß: Wie nämlich der Mensch aus Leib, Seele und Geist besteht, so auch die Schrift, die Gott nach seinem Plan zur Rettung der Menschen gegeben hat. Wichtiger für die Pointe ist eine andere Stelle Dort greift Origenes explizit auf die Heilige Schrift zurück, und zwar auf die levitische Vorschrift, dem Opferkalb die Haut abzuziehen und es in Stücke zu zerlegen. Dieses Zerlegen nun sieht Origenes in Analogie zur Fähigkeit und Tätigkeit des Interpreten, die Gründe der inneren Ordnung der Schrift einsichtig zu machen. Das nun wiederum verbindet sich in seinem Matthäus-Kommentar mit der Vorstellung, dass das Fleisch, die Seele und das geistliche Gesetz in Harmonie oder Übereinstimmung miteinander seien – in Symphonie, wie er auch sagt. Zwei Hinweise greife ich heraus. Der erste ist die Analogisierung der Zerlegung eines Textes mit der Zerlegung eines – in diesem Fall animalischen – Körpers. Der andere ist die Sicht, dass diese Zerlegung nicht in einem Haufen von Teilen endet, dass der Körper nicht zerrissen wird, sondern seine Zerlegung, sein Öffnen erst die Harmonie des Ganzen zeige. Dass Letzteres kontrovers disutiert wurde, will ich nur an zwei Episoden andeuten. Als Bernhard von Clairvaux sich über das so brillant geführte logische Seziermesser Abaelards geärgert hat, greift er zu einem veranschaulichenden Vergleich. Bernhard bringt dabei den Einsatz des logischen Instru-

17

Ausführlicher und mit den Belegen vgl. Danneberg: Anatomie (Anm. 1).

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mentariums auf die Formel: Angesichts der Glaubensmysterien würde Abaelard ‚non aperit, sed diripit‘. Wie das verstanden sein soll, beleuchtet der biblische Bezug: Die Illustration erfolgt am Beispiel der jüdischen rituellen Zerlegung des Opferlamms (Ex 12,9f.), das nicht ‚zerrissen‘, sondern ‚geöffnet‘ werde.18 In einem anderen Brief greift Bernhard zum Bild des nahtlosen Gewandes des Herrn, das Abaelard zerteilt und zerfasert habe. Selbst wenn es wieder zusammengenäht werden könnte, würde es unwiederbringlich verändert sein: Aber das Gewand des Herren soll unbeschädigt (integra) bleiben, so wie es gewoben sei, nämlich als ein Ganzes (contexta per totum). Das, was in dieser Weise vom Heiligen Geist gewoben und zusammengefügt worden sei, dürfe vom Menschen nicht aufgelöst werden (dissolvetur).19 Nicht geht es gegen die (logische) Analyse überhaupt, sondern gegen ihren besonderen Gebrauch, der aus Bernhards Sicht gerade das zu zerstören drohe, was es zu finden gelte.20 Indem das Zerlegen des Textes bestimmte seiner Eigenschaften zerstöre, gehe etwas verloren, das sich aus den erzeugten Bestandteilen nicht wieder zurückgewinnen lasse – mit einem Wort: Es unterbricht den ‚ordo inversus‘. Das zweite Beispiel bietet Erasmus in seiner theologischen Methodenlehre Ratio seu Compendium verae theologiae, wenn es nach einer Kaskade rhetorischer Fragen zu einer nichtscholastischen Theologie der Kirchenväter heißt, dass diese deshalb weniger tiefsinnig erscheinen könnten, [w]eil sie nicht jede Rede fast Wort für Wort zerschneiden und dann in Trümmer schlagen[.] Dieser Teil wird dreigeteilt, der erste wiederum in vier und die einzelnen davon wieder in drei; der erste dort, der zweite dort. Das erst scheint uns gelehrt, was eisige Verstandeskälte ist; und von Kindheit auf daran gewöhnt, verstehen wir nichts, was nicht auf diese Weise stückchenweise zerpflückt ist.21

Erasmus gebraucht noch zwei weitere Bilder für den Umgang mit dem Text, zum einen den Vergleich mit Penelope: Sie webe ihr Gewebe, ihren Text, um ihn dann wieder aufzulösen (retexeretur), sowie das Bild des Wachses: Unter den Händen der anderen, in diesem Fall der Dialektiker und Scholastiker, geraten die Worte der Heiligen Schrift (arcanas litteras) zu Wachs, das man 18 19 20

21

Vgl. Bernhard von Clairvaux: Epistolae […], in: ders.: Opera. Vol. VIII, Roma 1977, Ep. 188, S. 11. Ebd., Ep. 334, S. 273. Der Ausdruck ‚aperire‘ ist biblisch fundiert, vgl. z.B. Off 3,7: „Qui habet clavem David, qui aperit, et nemo claudit, claudit, et nemo aperit.“ Der Ausdruck findet dann auch in der Logik Verwendung, wohin er aufgrund von Augustinus: De ordine (PL 32, II, 13, 38), gelangt sein könnte; er findet sich weiterhin im Rahmen von Beschreibungen des Auslegens und Kommentierens, so bereits bei Boethius: In Categorias, ad III, 9 (PL 64, S. 159-294, hier S. 186). Vgl. Erasmus: Ratio seu Methodus compendio perveniendi ad veram Theologiam [1518], in: ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. 3. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Gerhard B. Winkler, Darmstadt (1967) 1990, S. 117-495, hier S. 162f.

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beliebig (pro libidine) mal so, mal so formen könne.22 Das Bild der Wachsnase floriert, wenn es mit Beginn des 16. Jahrhunderts auf den Text der Heiligen Schrift angewandt, die Konfessionen sich gegenseitig vorwerfen, beim Interpretieren aus ihr eine Wachsnase zu machen. Das, was Erasmus in seinem Ratio-Traktat mit dem Zerpflücken anprangert und was mit dem Bild der Wachsnase potenziert erscheint, ist zumindest auf den ersten Blick genau das, was im 17. Jahrhundert zur weithin akzeptierten Behandlung von Texten wird – das Analysieren, Zerschneiden und Anatomisieren. Zwar mochte man in der ‚analysis textus‘ oder in der ‚analysis logica‘ mehr als nur das Zerstückeln des Textes sehen, doch scheint sich die Praxis kaum hiervon zu unterscheiden. Doch Vorsicht! In einer Geschichte der anatomischen Darstellung zur Wandlung des Körperempfindens heißt es: Im 16. Jahrhundert wurde die Anatomie so gut wie immer an Abbildungen des ganzen Körpers dargestellt, und dieser wird als lebend empfunden. Noch gibt es kaum Abbildungen des Leichnams; wenn aber, so ist der tote Körper ganz. Ist er zerstückelt, so ist die Grausamkeit des Zerstückelns ein wesentliches Motiv der Darstellung.23

Das ist überraschend, insbesondere die Aussage: „als lebend empfunden.“ Dafür wird keine Erklärung geboten – ich habe eine. Sie hängt mit dem zusammen, was man mit der Anatomie des menschlichen Körpers und der Anatomie bestimmter Texte auch oder letztlich zeigen wollte. Die Zerlegung von Texten wird im Mittelalter mit Ausdrücken wie ‚divisio‘, ‚partitio‘ oder ‚distinctio‘ bezeichnet. Verdrängt werden sie von Bezeichnungen wie ‚resolvere‘ oder ‚retexere‘. Am Anfang des 16. Jahrhunderts findet sich dann der Ausdruck ‚analysis‘, nicht zuletzt wirkungsvoll, wenn auch nur vereinzelt bei Melanchthon. Doch nicht er, sondern das ‚enfant terrible‘ Petrus Ramus, mehr noch seine Anhänger, machen aus der ‚analysis textus‘ im 16. Jahrhunderts ein Lehrstück der Logik, genauer der ‚logica practica‘. Der zur ‚Analyse‘ komplementäre Ausdruck ist in der ramistischen Tradition nicht ,synthesis‘ oder 24 ,compositio‘, sondern ‚genesis‘. 1517 veröffentlicht Erasmus seine neue Übersetzung des Neuen Testaments.25 Einiges hat er wortgetreuer aus dem griechischen Text übersetzt. Dazu gehört auch ein kleines Wörtchen im zweiten Timotheus-Brief: Den

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25

Vgl. ebd., S. 140. Marielene Putscher: Geschichte der medizinischen Abbildung von 1600 bis zur Gegenwart, München 1972, S. 11. Vgl. Lutz Danneberg: Logik und Hermeneutik: Die analysis logica in den ramistischen Dialektiken, in: Uwe Scheffler und Klaus Wuttich (Hg.): Komplexe Logik, Berlin 1998, S. 129-158. Hierzu Danneberg: Anatomie (Anm. 1).

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Ausdruck ¤dotomeîn, der etwa ‚zerschneiden‘, ‚teilen‘ bedeutet, gibt die Vulgata recht farblos mit ‚tractare‘ wieder (vermutlich in Anlehnung an den entsprechenden technischen Ausdruck der antiken Rhetorik). In der Heiligen Schrift ist seine Verwendung ohne Parallele, und immer erscheint erklärungsbedürftig, weshalb Paulus gerade diesen Ausdruck wählt. Man kann vermuten, dass die Bezeichnung ‚praecepta tractandarum scripturarum‘ für das, was Augustinus in De doctrina christiana für den ‚scripturarum tractator‘ bietet, diesen biblischen Sprachgebrauch aufnimmt. Diese Tradition unterbricht Erasmus, wenn er ‚secare‘ (also ‚schneiden‘) statt ‚tractare‘ wählt. Luther übernimmt diesen Ausdruck in seiner revidierten Bibel und übersetzt: „Befleißige dich Gott zu erzeigen einen rechtschaffenen und unsträflichen Arbeiter, der da recht theile das Wort der Wahrheit.“ Sein Lehrbuch zur Logik, dessen verschiedene Versionen neben denen der ramistischen Dialektik zu den erfolgreichsten Lehrbüchern des 16. Jahrhunderts zählen, hat Melanchthon immer wieder verändert, so auch mit der Hinzufügung neuer Widmungen. Die zweite Version von 1545 versieht er mit einer Widmung, die einen folgenreichen Passus zur Anwendung und zum Nutzen der Logik für die Erklärung der Schrift bietet – also für das Erzeugen theologischer wie anderer Wissensansprüche aus einem Text. Das zentrale Argument dieser Rechtfertigung ist das neutestamentliche ‚recte secare‘. Dabei lässt er sich auch nicht den Hinweis auf die levitische Vorschrift entgehen, ohne allerdings Origenes zu nennen, der in Wittenberg ob seines mächtigen Drangs zum Allegorisieren nicht sonderlich geachtet war. In der zwei Jahre später erscheinenden dritten Version findet sich diese Rechtfertigung im Haupttext der Dialektik. Danach gehört die Rechtfertigung der ‚analysis textus‘ unter Rückgriff auf diese Bibelstelle zur ‚opinio communis‘ in der protestantischen Welt. Dass die Rhetorik für die protestantische ‚hermeneutica sacra‘ eine Rolle spielt, lässt sich nicht mit dem Hinweis bestreiten, dass sie ihre Führungsrolle im Zuge der (interkonfessionellen) Streitigkeiten bald an die Logik abgegeben hat – bislang ist dies jedoch nicht hinreichend beachtet worden: Den ‚grammaticus‘ à la 26 Erasmus löst auf dem Weg zum ‚hermeneuticus‘ der ‚analyticus‘ ab. Aber weshalb gehen dem bibelfesten Melanchthon beim ‚recte secare‘ plötzlich die Augen auf? 1543 erscheint Vesals De humani corporis fabrica libri septem Fabrica. Wittenberg wird schnell zu einer Hochburg der neuen Anatomie, ohne dass dort allerdings nennenswert zur Erweiterung des anatomischen Wissens beigetragen wird. Doch man sieht noch etwas anderes. Zwar wird Vesals Werk hinsichtlich des von ihm erhobenen Überbietungsanspruchs gegenüber der galenischen Anatomie oftmals überschätzt, aber wohl jeder, der 26

Vgl. Lutz Danneberg: Vom grammaticus und logicus über den analyticus zum hermeneuticus, in: Jörg Schönert u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Die Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplin, Berlin u. New York 2004 (im Erscheinen).

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das prächtige Werk aufschlägt, kann sich nicht der Faszination der bildlichen Darstellungen von einer nicht sicher identifizierten Meisterhand aus der Schule Tizians entziehen. Explizit stellt Vesalius in der Vorrede zu seinem Werk die Glaubwürdigkeit des Sehens gegen diejenige der Bücher. Das auf der ersten Seite platzierte Bildnis zeigt den Verfasser selbst, den Blick auf den Betrachter gerichtet und dabei einen Unterarm mit Hand sezierend. Die Bedeutung des Bildes ergibt sich vor diesem Hintergrund als Betonung der Handarbeit. Doch die Hand bedeutet noch mehr: Sie ist ‚organum organorum‘ (Órganon prò Órganon – wie Aristoteles sagt)27 und Sinnbild göttlicher Providenz. Als Gegenbild erscheint die oft kolportierte Lehrsituation, in der ein Mediziner aus einem Buch vorliest und der Wundarzt unterhalb der Lehrkanzel die Sektion vornimmt oder auf Körperteile hinweist – ‚anatomiae ex cathedra‘. Diese Beziehung ließe sich auch so beschreiben, dass die Stellen des Körpers nur der Illustration des Kommentars, nicht seiner Überprüfung dienen sollten. Schon das Titelblatt von De humani corporis fabrica libri septem zeigt ein anderes Szenario: Da nimmt der Gelehrte selbst und auf gleicher Höhe zu den Studenten die Sektion vor. Zum Ausdruck kommen soll damit vermutlich, dass die Autopsie und die Handarbeit gegenüber der in der Zeit gängigen Medizin eine andere Rolle spielen sollen als zuvor das Sehen und Kommentieren des Körpers. Es könnte nahe liegen, dieses Szenario mit der im Protestantismus aufkommenden Vorstellung des Selbstlesens der Heiligen Schrift zu parallelisieren. Zwar mag das bei der Rezeption eine Rolle gespielt haben, doch ist es weder sonderlich erhellend, noch rechtfertigt es den Bezug zur Anatomie. Voreilig verschenkt man so ein spannendes Thema. Wenn man die Zeichnung aus dem vesalischen Werk mit den älteren, im Unterschied hierzu wie Kinderzeichnungen anmutenden Darstellungen vergleicht, dann gehört zu den wesentlichen Unterschieden die Einführung der Perspektive und die angestrebte Detailgenauigkeit. Hierdurch gelingt es, sowohl den räumlichen Aufbau als auch die Lagebeziehungen der Organe darzustellen. In den Darstellungen streifen die ‚Muskelmänner‘ alle ihre Muskeln wie Kleidungsstücke ab, bis nur noch das Skelett übrig bleibt. Der im Titel verwendete Ausdruck ist zielführend: ‚Fabrica‘ setzt einen ‚faber‘ voraus, der seine Arbeit in planvoller Weise angeordnet hat. Dem ‚Finiti ad infinitum non est proportio‘ wird das Axiom, dass das Verursachte der Ursache ähnlich sei (causatum causae simile) entgegengesetzt. Man könne aus einem Werk dessen Schöpfer zumindest in Umrissen erkennen. Es geht dem anatomischen Blick ins Innere des menschlichen Körpers nicht allein um Strukturerkenntnis, sondern um die Erkenntnis funktionaler Zusammenhänge. In der Vorrede zur Fabrica bietet Vesal die Stichworte, die er zur Beschreibung von Beziehungen

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Vgl. Aristoteles: De part animal, IV, 10 (687a2ff).

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zwischen dem Körper und seinen Teilen nutzt: ‚harmonia‘, ‚usus‘ (causa finalis), ‚functio‘. Sie lassen sich auch auf den Text-Körper übertragen, wie es denn auch geschehen ist. Schlaglichtartig drückt sich das darin aus, dass ‚anatomia‘ gegen Ende des 16. Jahrhunderts weithin synonym für ‚analysis‘ gebraucht wird. Man vermochte so bestimmte Vollzüge des Lesens im ‚liber supranaturalis‘ zu pointieren, und zwar solche, die das Zerlegen als funktional zu einem Ganzen erscheinen lassen. Allerdings geschieht das nicht allein für dieses Buch, sondern auch für das Lesen des ‚liber artificialis‘. Das 17. Jahrhundert von Bacon bis Boyle umspannend, verändert das zudem die Terminologie des Lesens des ‚liber naturalis‘. Noch fehlt ein entscheidendes Bestimmungsstück. Mit ihm verwandelt sich der analogische, metaphorische Gebrauch des Ausdrucks ‚Körper‘ im Blick auf den Text in einen ‚terminus technicus‘. Er bietet die angekündigte Erklärung dafür, weshalb die anatomischen Darstellungen den Eindruck des Lebenden wecken. Denn der Ausdruck ‚lebendig‘ ist ungenau. Die Darstellungen sollen zeigen, dass die Körper noch eine Seele haben. Und genau dieser Ausdruck der Seele gewinnt in der Anwendung auf den Text-Körper terminologischen Charakter. Im Hintergrund steht auch hier Aristoteles. In De anima heißt es bei ihm zur Seele: Daher ist wohl jeder natürliche Körper, der am Leben teilhat, ein Wesen (Substanz), und zwar im Sinne eines zusammengesetzten Wesens. Da er aber ein sogearteter Körper ist, – denn er besitzt Leben –, dürfte der Körper nicht Seele sein; denn der Körper gehört nicht zu dem, was von einem Zugrunde liegenden ‚Substrat ausgesagt wird‘, sondern ist vielmehr Zugrundeliegendes und Materie ‚selbst‘. Notwendig also muß die Seele ein Wesen als Form(ursache) eines natürlichen Körpers sein, der in Möglichkeit Leben hat.28

Vereinfacht gesagt: Die Seele ist die ‚causa formalis‘ des Textes wie des (menschlichen) Körpers. Der Text-Körper erscheint wie andere Körper beschreibbar mittels der ‚causa‘-Lehre: Der Autor als ‚causa efficiens‘, Themen und Quellen als ‚causa materialis‘; ‚causa formalis‘ ist als ‚forma tractandi‘ die Vorgehensweise des Autors und als ‚forma tractatus‘ die Gestalt der Schrift, ‚causa finalis‘ ist schließlich der Zweck des Werkes, der sich im Rezipienten erfüllt (oder auch nicht).29 Die Seele oder ‚forma‘ (‚interna‘, im Unterschied zur ‚forma externa‘) bildet das organisierende Zentrum, das aus Teilen des Textkörpers ein geordnetes, aufeinander bezogenes Ganzes macht. In der Folge löst sich der Textkörper wieder vom menschlichen Körper ab, wenn man erkennt, dass im Unterschied zu ihm der Körper der Heiligen

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Aristoteles: De anima, 412a3ff.; Übersetzung von Willy Theiler und Horst Seidl. Vgl. Lutz Danneberg: Zum Autorkonstrukt und zu einem methodologischen Konzept der Autorintention, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999, S. 77–105.

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Schrift noch ganz andere Dimensionen des funktionalen Verweisens seiner Teile untereinander und auf das Ganze besitzt. Diese Steigerung findet ihren prägnanten Ausdruck in der Ablösung der anatomischen ‚harmonia‘ als Ideal für die Innenbestimmtheit eines Ganzen im Bezug auf seine Teile durch den neu kreierten Begriff der ‚panharmonia‘. Ich halte fest: Im ‚Autostereotyp‘ hat man den Text nie zerstückelt. Dieser Vorwurf erscheint immer als Heterostereotyp – für Luther sind es die scholastischen Theologen, denen gegenüber er mehrfach explizit diesen Vorwurf erhebt; Hobbes – um nur eines der zahlreichen Beispiele aus dem 17. Jahrhundert herauszugreifen – spricht im Blick auf die Nutzung der Heiligen Schrift als Baustelle für ‚dicta probantia‘ von „atomes of Scripture“, ohne ihr „design“ zu beachten.30 Wenn das so ist, was passiert dann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts? Es verändert sich tatsächlich etwas in der Wahrnehmung des Text-Körpers. Die Gründe sind vielfältig und nicht bei allen sind es dieselben. Diese Geschichte ist bislang nicht einmal annähernd in den Blick gekommen und so müssen hier wenige Hinweise genügen. Bei prinzipieller Anerkennung der Zergliederung des Textes als wichtiges Hilfsmittel zu seinem Verständnis,31 finden sich um die Mitte des Jahrhunderts zugleich Warnungen vor dem Missbrauch dieses Hilfsmittels.32 Das beschriebene Verfahren wird seit dem 16. Jahrhundert erprobt – im 17. Jahrhundert ist es dann durchweg üblich). Dabei verbindet sich die Methode der ‚Zergliederung‘ mit einer spezifischen Präsentationsweise: ‚tabulae‘ oder ‚methodus tabelaris‘. Selbst Textinterpretationen konnten ausschließlich so eingerichtet sein. Trotz stark divergierender Gestaltung ist den tabellarischen Darstellungen etwas gemeinsam: Sie sind unabhängiger von der Linearität und Sukzession sprachlicher Texte, indem sie Sukzession in Simultanpräsenz zu verwandeln vermögen. Diese ‚ad-oculos‘-Präsentation prädestiniert sie für eine Funktion als ‚tabulas mnemonicas‘, in denen das Gliederungswissen ohne jede Begrün-

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Hobbes: Leviathan […]. Reprinted from the Edition of 1651, Oxford (1909) 1958, Part III, chap. 43, S. 471. Georg Friedrich Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, Halle 1757, § 231, S. 120: „Zergliederung des Textes (analysis textus) ist eine deutlichere und ordentliche, oder methodische, Vorstellung der verschiedenen Verhältnisse, in welcher die Theile des Sinnes gegen einander stehen.“ Ebd., § 232, S. 121: „Doch muß er sich hüten, damit die Zertheilung und Eintheilung des Sinnes nicht gezwungen, zu ängstlich gesucht, gar zu fein sey, einen Eckel verursache, und das Gemüth so sehr zerstreue, daß die Gegeneinanderhaltung, der verschiedenen Theile der Tabelle, natürlicher Weise unmöglich werde: denn als denn verursacht sie, stat der gehoften Deutlichkeit, Verwirrung, und hilft so wenig, daß sie vielmehr den Zweck des Exegeten hindert.“ Vgl. bereits Johann Jacob Rambach (1693-1735): Institvtiones Hermenevticae Sacrae [...1723]. Editio qvarta denvo recognita. Cum praefatione Ioannis Francisci Bvddei, Ienae 1732, lib. II., cap. VI, § 13, S. 246.

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dung bleibt. Sie lässt sich aber auch als tendenzielle Realisierung einer letztlich Gott vorbehaltenen ‚cognitio intuitiva‘, des Erkennens ‚auf einen Blick‘ deuten. Doch nicht das steht im Vordergrund. Als der Tabellenmacher für die Heilige Schrift par excellence gilt den Zeitgenossen Sigmund Jacob Baumgarten (1706-1757).33 Doch am Ende des Jahrhunderts sind Einschätzungen verbreitet wie diejenigen Georg Lorenz Bauers (1755-1806). Die „Zergliederung“, die „besonders Baumgarten empfohlen“ habe, sei zwar ein „Hülfsmittel“, dem man einen „Nutzen“ nicht absprechen könne, der aber zu warnen sei vor dem „Mißbrauch, welchen die Baumgartenianische Schule davon gemacht hat, daß man die Schriftsteller nicht zu sehr zerstückle, und sie so behandle, als hätten sie nach einer genauen Disposition geschrieben [...].“34 Die ‚methodus tabelaris‘ wird zum Schreckensbild der Wut des Zerlegens.35 Dieser sprichwörtliche ‚Zerstückler‘ ist der Bruder desjenigen, der erste Grundlagen legt, aus denen sich später so etwas wie ästhetische Makroeigenschaften von Texten ausbilden – anhand derer sich begrifflich das ausdrücken lässt, was sich als das Spezifische von Texten als Ganzheiten hoher (oder höchster) innerer Bestimmtheit darbietet und das gerade durch die ‚Zergliederung‘ und ‚Zerstückelung‘ zerstört zu werden droht. Dass die beiden Baumgartens davon noch nichts ahnten, zeigt der ‚theologische Bruder‘, indem er die Ideen des ‚philosophischen‘ für die ‚hermeneutica sacra‘ zu nutzen suchte,36 und der andere, Alexander Gottlieb Baumgarten, indem er seine philosophischen Darbietungen selbst nach diesem Verfahren einrichtet. Vor der Zeit der strikten Ablehnung heißt es bei Herder mit noch typischer Ambivalenz: Die tabellarische Methode trägt hierzu viel bei, unser Auge an gewisse Gesichtspunkte zu gewöhnen, in die wir die Gegenstände rücken; und da B. in dieselbe, vielleicht durch den Unterricht des Bruders, oder durch seine eigene Schärfe im Zergliedern verliebt war: so war die Methode ihm eigen, die Begriffe neben- und unter- und hintereinander zu stellen, bis sie sich in seine Lieblingseinteilungen passen. Ich nenne diese Methode bequem, weil sie die Einsichten ungemein faßlich macht.

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Zu ihm, der hermeneutisch wesentlich mehr zu bieten hat, vgl. Lutz Danneberg: Siegmund Jakob Baumgartens biblische Hermeneutik, in: Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1994, S. 88-157. Georg Lorenz Bauer: Entwurf einer Hermenevtik des Alten und Neuen Testaments. Zu Vorlesungen, Leipzig 1799, 1. Theil, § 88, S. 74. Johann Jakob Griesbach (1745-1812): Vorlesungen über die Hermeneutik des N.T. Hg. von Johann Carl Samuel Steiner, Nürnberg 1815, III. Abschnitt, S. 198 („Tabellenmacherei“); Gottlieb Philipp Chr. Kaiser (1781-1848): Grundriß eines Systems der neutestamentlichen Hermenevtik, Erlangen 1817, § 77, S. 177 („tabellarisches Zerschneiden“). Zu ersten Spuren der Aufnahme vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Dissertatio Theologica de Efficacia S. Scriptvrae natvrali et svpernatvrali qvam svb Praesidio [...] svbiicit Avctor Martinvs Felmer, Hale Magdebvrgigae 1742.

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Zugleich folgt die Warnung, dass „sie“ – die ‚bequemen‘ Zergliederungen – „der Weltweisheit schädlich werden können, wenn man sich zu sehr an sie gewöhnt.“37 Was Herder hier noch wohlwollend in Bezug auf die Philosophie zu bedenken gibt, erscheint ihm beim Umgang mit literarischen Texten und nicht zuletzt mit der Heiligen Schrift als zerstörerisch. Zwar fordert er (für die Ästhetik) „Analysis, strenge Analysis der Begriffe“38 und erklärt: „[d]ie wahre und einzige Methode der Philosophie ist also die analytische.“39 Er weiß, dass ein solches Analysieren eine Grenze sichtbar macht: „denn es muß endlich unzergliederliche Begriffe geben, die von den einfachsten Worten nicht mehr zu trennen sind.“40 Beispiele hierfür sind „Gedanke“, „Seyn“, „Raum“, „Kraft“ sowie der „größte Knoten“, „das Schöne“.41 Doch seine Überlegungen weisen dann in eine andere Richtung: „So ist das Sein – unzergliederbar – unerweisbar – der Mittelpunkt aller Gewißheit.“42 So wie das Unzergliederbare zur unmittelbaren Gewissheit wird,43 die dem analysierenden Zugriff entzogen bleibt, zerstöre der zergliedernde Zugriff das Kunstwerk: Das Feinste der Empfindung ist völlig vielleicht individuell [...]. Der Geist der Ode ist ein Feuer des Herrn, das Todten unfühlbar bleibt, Lebende aber bis auf die den Nervensaft erschüttert: ein Strom, der alles Bewegbare in seinem Strudel fortreißt. Zergliederern verfliegt er so unsichtbar, wie der Archäus den Chymikern, denen Waßer und Staub in der Hand bleibt, da seine Diener, das Feuer und der Wind, im Donner und Blitz zerfuhren.44

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Vgl. Johann Gottfried Herder: Von Baumgartens Denkart in seinen Schriften [um 1767], in: ders.: Werke. Hg. von Wolfgang Proß, Bd. 2: Herder und die Anthropologie der Aufklärung, München 1987, S. 14-31, hier S.18. Die Stelle bleibt unkommentiert; der Kommentar von Ulrich Gaier in: Johann Gottfried Herder: Werke I: Frühe Schriften 1764-1772, Frankfurt a.M. 1985, S. 1244, berücksichtigt nicht den Bezug auf S. J. Baumgarten. Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wißenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen [1769], in: ders.: Werke (Anm. 37), S. 57-240, S. 107. Johann Gotfried Herder: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Fragmente, als Beilagen zu den Briefen, die neuste Litteratur betreffend. Dritte Sammlung [1767], in: ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 1, Berlin 1877, S. 357-531, hier S. 418. Ebd., S. 419. Ebd. Ders.: Versuch über das Sein [1764], in: ders.: Werke I (Anm. 37), S. 9-21, hier S. 20. Kant ist für Herder noch derjenige, „der den glücklichen Analytischen Weg gehet, immer kat’ anqrwpon zu philosophieren“, ders.: [Rez.:] Träume eines Geistersehers […], in: ders.: Sämmtliche Werke (Anm. 39), S. 125-130, hier, S. 128. Ders.: Älteste Urkunde des Menschheitsgeschlecht [1774], in: ders.: Werke, Bd. 5. Hg. von Rudolf Smend, Frankfurt 1993, S. 179-660, hier S. 251: „Worte aber sind nur Zeichen! Evidenz und Gewißheit muß also in den Sachen liegen, oder sie liegt nirgends! Worte sind abgesonderte, willkühriche, wenigstens zerteilende, unvollkommne Zeichen: sie muß also im ganzen, unzerstückten, tiefen Gefühl der Sachen liegen, oder sie liegt nirgends“. Ders.: Fragmente einer Abhandlung über die Ode [1765], in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 32, Berlin 1899, S. 61-85, hier S. 62f.

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Noch grundsätzlicher gilt: Das Erkennen der Wahrheit tritt in Konflikt mit dem Empfinden des Schönen. In der Kritik der ‚aesthetica artificialis‘ Baumgartens heißt es bei Herder im Blick auf die ‚aesthetica naturalis‘: „Eben das Gewohnheitsartige, was dort [scil. in der ‚aesthetica naturalis‘] schöne Natur war, löset sie [scil. die ‚aesthetica artificialis‘] auf, und zerstörts gleichsam in demselben Augenblick.“45 Schließlich findet sich bei ihm als Exempel der Zerstörung der Schönheit der sinnlichen Wahrnehmung das ‚Sehen‘ durch ein Mikroskop als ein Ignorieren des Ganzen und als auflösender Blick.46 Es häufen sich nicht allein die Klagen über den Widerstreit zwischen Wahrheit und Schönheit, zwischen Erkennen und Fühlen.47 Das Mikroskop, durch das sich die ‚schöne Ansicht der Wange einer Frau‘ in eine „ekelhafte Fläche“ verwandelt, ist längst stehende Illustration dafür, dass eine ‚deutliche‘ Erkenntnis das Schöne zu zerstören drohe.48 Mehr noch als in dieser Konstellation findet die epistemische Situation in einer anderen ihren Ausdruck, die sich im Zuge des wachsenden Zuspruchs der kopernikanischen Theorie konturiert. Zu erinnern ist, dass sich die Anerkennung der kopernikanischen Theorie beileibe nicht so einsträngig darstellt, wie wissenschaftshistorische Untersuchungen nicht zu Unrecht im Blick auf die engere Fachgeschichte im 18. Jahrhundert annehmen. Ein weniger einheitliches Bild entsteht, wenn man sich nicht auf den Höhenkamm der astronomischen Fachwissenschaft beschränkt und die schwelenden Probleme der Harmonisierung bibelverhafteter Wissensansprüche in den Blick nimmt. Zum Sinnbild des ‚Scheins‘ wird die dem Augenschein eklatant widerstreitende Bewegung der Sonne, die aus dem Meer emporsteigende Morgenröte. Seit Anbeginn des 18. Jahrhunderts durchzieht dieses Beispiel nicht nur den philosophischen Diskurs – etwa bei Wolff, Baumgarten oder Meier. Es findet sich auch in Herders Konstrukt eines Naturmenschen, der täglich aufs Neue im 45 46

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Herder: Kritische Wälder (Anm. 38), S. 76. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1771]. Text, Materialien, Kommentar von Wolfgang Proß, München o.J, S. 11: „Die Thräne, die in diesem trüben, erloschnen, nach Trost schmachtenden Auge schwimmt – wie rührend ist sie im ganzen Gemälde des Antlitzes der Wehmuth; nehmet sie allein, und sie ist ein kalter Wassertropfe! Bringet sie unters Mikroskop und – ich woll nicht wißen, was sie da sein mag!“. . So heißt es bündig z.B. bei Johann Michael Sailer (1751-1832): Anleitung für angehende Prediger [1788, 1794, 1811], in: ders.: Sämmtliche Werke, unter Anleitung des Verfassers hg. von Joseph Widmer, Bd. 17, Sulzbach 1835, S. 3-176, hier S. 93: „Wenn das Herz spricht, so hat der Verstand nicht Muße, das Theilmesser nach der Schule zu führen.“ Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften [1748]. Erster Theil, Halle 1754, § 23, S. 38-40. – Vgl. z.B. Friedrich Christoph Oetinger: Die Philosophie der Alten, widerkommend in der güldenen Zeit. II. Theil, Frankfurt u. Leipzig 1762, S. 30f.: „Allzu große mikroskopische Subtilität verhindert den Genuß der Wahrheit im Ganzen“. Es gilt nach Oetinger, nicht den ‚Schein‘, das ‚nur Phänomologische‘ aufzulösen, sondern ihn als einziges, das zugänglich sei, anzunehmen.

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Sonnenaufgang die Offenbarung erfährt und immer aufs Neue das ursprüngliche Erstaunen und Entzücken in sich hält. Mit der Anerkennung des ‚Kopernikanismus‘ geht die (ästhetische) Rehabilitierung des Augenscheins, die Bewahrung des durch die Sinne gestützten ‚gesunden Menschenverstands‘, einher; dabei nicht zuletzt im Verbund mit ‚apologetischen‘ Interessen angesichts des Niedergangs der Autorität der Heiligen Schrift als Quelle eines orientierenden Wissens. Bei ihr handelt es sich dann um ein Sprechen, das sich nicht nur am sinnlichen Anschein ausrichtet, sondern sich den falschen Meinung der Menschen anbequemt – ,ad captum vulgi loqui‘.49 Zur Linderung des Konflikts zwischen biblischen Aussagen im ‚sensus litteralis‘ und den außerbiblischen Wissensansprüchen erfährt das eine Deutung als ,äußere Akkommodation‘,50 aber auch als ‚innere‘, die sich nicht allein „der Denkweise und Fassungskraft“ anpasse, da die Verfasser dabei „nicht ihren Charakter, Ihre Individualität verleugnen können“.51 Der Verlust an Autorität der Schrift transformiert sich in ihre Dignität als „höchstes und simpelstes Ideal der Dichtkunst“52 („das Erste deutlichste Vorbild! [...] So dichtet, so erhält nur Gott!“)53, was dazu führt, dass sie so eher der ästhetischen Anschauung als dem wissenschaftlichen Verstand zugänglich erscheint.54 Das „allgemeine Wahrheitsgefühl“, eine besondere Evidenz des

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Vgl. hierzu Danneberg: Schleiermacher (Anm. 16). Vgl. u.a. Johann Gottfried Herder: Fragmente zu einer „Archäologie des Morgendlandes“ [1769], in: ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 13, Berlin 1883, 1-128, hier S. 32f.: „Und ich behaupte, daß nie ein Physisches System [...] der Schlüßel zu Moses seyn wird. Das ganze Stück ist offenbar nichts als ein Gedicht, Morgenländisches Gedicht, was ganz auf den sinnlichen Anschein, auf die Meinung des Nationalglaubens, so gar auf durchaus falsche Meinungen, auf Irrthümer der Vorstellungsarten [...], auf Blendwerk der Einbildungskraft und des Nationalgefühls bauete“, auch ebd., S. 85 und S. 89; auch ders.: Älteste Urkunde (Anm. 43), S. 194f. Goethe: Dichtung und Wahrheit (HA 9, S. 275). Herder: Älteste Urkunde (Anm. 43), S. 298. Ebd., S. 312. Mit ‚erhalten‘ ist die Tradierung des Textes gemeint. Die Rede ist von der Genesis, der gegenüber die anderen Reste heidnisch-antiker Poesie nur „zerstückte Glieder“ des göttlichen „Urgesanges“ der biblischen Genesis seien (ebd., S. 376); die auch deshalb ein Vorbild sei, da sie eine ‚höhere Dichtungs- und Kunstlehre‘ enthalte (ebd., S. 480). Vgl. z.B. Herder: Adrastea [1802], in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 23, Berlin 1885, S. 19587, hier S. 551: „Daß ihr einen begeisterten Ausruf Josua’s, den ein Heldenlied sang, unpoetisch faßtet und auslegt, soll dieser Stumpfheit sich das Weltsystem fügen?“ Bei Herder ist das freilich komplizierter, als sich hier darstellen lässt. Nicht allein geht er vom Dichtungscharakter und von einer (wie die Bibelphilologie der Zeit) sich am ‚sensus auctoris et primorum lectorum‘ oder ‚auditorum‘ ausrichtenden Bedeutungskonzeption aus – z.B. ders.: Über die Göttlichkeit und Gebrauch der Bibel [1768], in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 31, Berlin 1889, S. 86-121, hier S. 108: „Jedes Buch aus einer alten Zeit, aus einer fremden Nation, muß eben, weil es ein Buch ist, aus ihr erklärt werden: und es ist völlig ungereimt, eine Schrift zu fordern, die durchaus für alle Menschen, Völker, Jahrhunderte gleich verständlich seyn sol-

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‚sensus communis‘, erscheint daran gebunden, dass dieses ‚Gefühl‘, diese ‚evidentia interna‘, sich „sine resolutione principatorum in principia“ einstellt.55 Die gleiche Entgegensetzung spiegelt sich schließlich in den Versuchen der Ästhetisierung der Heiligen Schrift und sie bahnt den Weg für eine anschauende Betrachtungsweise, die etwa die Schöpfungsgeschichte so naiv lesen will, wie sie geschrieben worden sei – zurück zur ‚einfältigen Vorstellungsart‘ der Poesie.56 Spannungen bilden sich gleichermaßen zwischen wissenschaftlicher Analyse und ästhetischem Genuss wie religiösem Glauben. Um die Wende zum 19. Jahrhundert verfestigt sich das im Schreckbild des Kritikers, der den literarischen Text zergliedert, ihn mit seinem Skalpell anatomisiert57 und ihn so um seinen Geist, sein Leben bringt – sprich: seine ganz-

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le“. Damit droht den in der Heiligen Schrift gebotenen Wissensansprüche und Glaubenssätze ihre nur (wie es in der Zeit hieß) ‚temporelle‘ und ‚lokale‘ Geltung; hierzu Lutz Danneberg: Schleiermachers Hermeneutik im historischen Kontext – mit einem Blick auf ihre Rezeption, in: Dieter Burdorf u. Reinold Schmücker (Hg.): Dialogische Wissenschaft: Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, Paderborn 1998, S. 81-105. Zugleich aber versucht Herder, das Göttliche der Schrift und sie als Glaubensnorm gegenüber zu betont historischen Zugriffen der Philologen zu bewahren; so ist denn z.B. die ,Hieroglyphe‘ der Schöpfung die Quelle aller „Naturlehre und Zeitrechnung, Astronomie und [...] Philosophie“, letztlich der „Ursprung von Allem, was ist“, ders.: Älteste Urkunde (Anm. 43), S. 269 und 301. Zugleich ist er kritisch gegenüber einer dogmatischen Theologie, die (in seiner Sprache) aus der Schrift einen ‚zerhackten dogmatischen locus‘ machen wolle. Eine ähnliche Ambivalenz zeigt sich auch in seiner Einstellung zu den homerischen Epen und ihrer Einheit – nicht zuletzt in Homer, ein Günstling seiner Zeit, das ihm die harsche Abfuhr Friedrich August Wolfs einbrachte; zu den Gründen erhellend Ernst-Richard Schwinge: „Ich bin nicht Goethe“. Johann Gottfried Herder und die Antike, Hamburg 1999, insb. S. 41-61. So z.B. Friedrich Christoph Oetinger: Inquisitio in sensum communem et rationem, Tubingae 1753 (ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1964), cap. II, S. 19. Vgl. Herder: Fragmente (Anm. 50), S. 36. Wie schon zuvor haben die Ausdrücke ‚Anatomie‘ und ‚Anatomisieren‘ im 18. Jh. (außerhalb der Disziplin) einen ambivalenten Gebrauch, der sowohl positiv als auch pejorativ sein konnte. Ein Beispiel einer positiven Verwendung bietet Denis Diderot: Brief über die Taubstummen [1751], in: ders.: Ästhetische Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1968, S. 28-97, hier S. 32, der von der ‚metaphysischen Anatomie‘ als dem Zerlegen des Menschen hinsichtlich seiner Sinne spricht. Ein anderes Beispiel bietet Johann Heinrich Lambert: Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntiß, Bd. 1, Riga 1771 (ND Hildesheim 1865), I, §§ 7-9, S. 4-7, der das ‚Analysieren‘ Leibniz’ deshalb für weniger vorteilhaft als das ‚Anatomisieren‘ Lockes hält, weil jener – vereinfacht gesagt – die einfachsten begrifflichen Elemente in der apriorischen Analyse zu erzeugen versucht, doch aus einer „allgemeinen Theorie der Begriffe lassen sich höchstens Kennzeichen der einfachen Begriffe finden“ (§ 8, S. 6), aber nicht schon damit sie selbst. Demgegenüber ahme Locke die „Zergliederer[n] des menschlichen Leibes, auch in der Zergliederung der Begriffe“ nach, das heißt er beginnt mit einer gegebenen Erkenntnis – einem gegebenen Körper in der Anatomie – und verfährt gleichsam aposteriorisch: Bei Erfolg sind die einfachsten Begriffe selbst erzeugt; vgl. auch ders.: Neues Organon oder über die Erfor-

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heitlichen Eigenschaften zerstört. Die Beispiele, sie reichen von Herder bis Schlegel, sind Legion.58 Doch wichtiger als die Fülle von Beispielen ist: So wenig, wie man sich zu einigen vermochte über die Art solcher ‚ästhetischer‘ Eigenschaften, die einen Text zu einer hochgradig innenbestimmten Ganzheit formen, so sehr bestand Konsens, dass es genau solche Eigenschaften sind, die durch einen bestimmten, als ‚zerstückelnd‘ wahrgenommenen Zugriff auf den Text zerstört werden, und zwar bei profanen wie bei sakralen Texten. Bei dieser verwickelten Geschichte will ich mich nur auf einen, wenn auch fortwährend präsenten Strang beschränken. Vesal will in seinem Werk nicht die Anatomie eines empirisch gegebenen Menschen darstellen, sondern die eines nicht deformierten, eines idealen Menschen – und das, was er optisch präsentiert, ist ein idealer menschlicher Körper. Genau das sollte auch beim textuellen Körper geschehen. Die ‚analysis textus‘ transformiert die äußere, mehr oder weniger deformierte Gestalt in einen idealen Text-Körper. Diese Idealvorstellung wird bezogen auf Texte, die als Vermittler von Wissensansprüchen gesehen wurden. Solche Ansprüche unterstellte man antiken wie aktuellen, philosophischen wie literarischen Texten, vor allem der Heiligen Schrift. Für die Beteiligten lag darin deshalb nichts Problematisches, da diese idealen, im Zuge der ‚analysis textus‘ erzeugten Darstellungskörper besser die ‚Seele des Textes‘ (forma interna) ausdrücken – und nur um sie geht es. Bei keinem anderen Text tritt die kognitive Dissonanz so in Erscheinung wie bei der Heiligen Schrift: Ihr Inneres, ihre Seele, sei von höchster vorstellbarer Dignität und Schönheit, von ihrem Äußeren, geschult an den literarischen wie philosophischen Texten des antiken Höhenkamms und an philosophischen Idealen der Darstellung und Begründung von Wissensansprüchen, konnte man genau das nicht behaupten.

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schung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrtum und Schein [...], Leipzig 1764, Alethiologie, § 123, S. 518. Herder: Von der Ode [um 1765], in: ders.: Werke I (Anm. 37), S. 57-99, hier S. 98: „Ist man bloß ein philologischer Seher, und ein kalter Zergliederer: so hat man das Glück des Scheidekünstlers: man behält Wasser und Staub in der Hand; das Feuer aber zerfuhr, und der Geist verflog unsichtbar.“ Der Hinweis beim „Zergliederer“ im Kommentar (S. 968) auf die „analytische Arbeit der Philosophen“ ist unplausibel; es sind ebenfalls die ‚Philologen‘, die man so gesehen hat und genau sie scheint Herder zu meinen. – Die „willkürlichen Scheidungen und Mischungen“, also Analyse und Synthese, des „lenkenden Verstandes“ erscheinen als unangemessen im Blick auf „ein gewordnes organisch gebildetes Ganzes“ und auch hier zerstört die Analyse den ‚ordus inversus‘, denn „die einmal aufgelöste elementarische Masse organisiert sich nie wieder“, Friedrich Schlegel: Über das Studium der Griechischen Poesie ([1795-97], KA I, 1, S. 293); auch z.B. ders.: Über Goethes Meister ([1798] KA I, 2, S. 141), wonach „der gewöhnliche Kritiker“ die „lebendige Einheit“ des ‚Gegenstandes seiner Kunst‘ „unvermeidlich zerstören“, „ihn bald in seine Elemente zersetzen, bald selbst nur als ein Atom einer größeren Masse betrachten“ müsse

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Sicherlich spielt bei den Veränderungen auch das zunehmend geringere Gewicht eine Rolle, das Texten bei der Erzeugung von Wissensansprüchen zuerkannt wurde.59 Gleichwohl lässt sich immer wieder ein apologetisches Moment bei diesen Wandlungen beobachten. Zwar ist es noch immer die Rettung der Texte, nun allerdings soll sie aufgrund anderer zugeschriebener Eigenschaften erfolgen als solchen, die sich im Licht eines auf Wissenserzeugung ausgerichteten philosophischen Ideals zeigen. An vorderster Front steht hierbei die Heilige Schrift mit ihrer aufgespalteten Verfasserschaft. Wenn es bei Hugo von St. Viktor bündig heißt: „visibilis pulchritudo invisibilis pulchritudinis imago est“,60 weiß man von der unsichtbaren Schönheit, an der das Sichtbare teilhaben muss. Der Rückschluss kompliziert sich mit zunehmendem Einfluss, den der menschliche Mit-Autor im Zuge der ‚interpretatio grammatico-historica‘ bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bei der Interpretation der Heiligen Schrift erlangt. Proportional zur Zunahme dieses menschlichen Anteils wird ihre deformierte und hässliche Gestalt sichtbar, die immer weniger ein innerer Glanz zu veredeln vermag. Am Ende verbleibt allein der menschliche Autor und als derjenige, auf den der Rückschluss erfolgt. Die Seele des Textes war die ‚forma‘ (interna) des Textes, nicht die des Menschen, der den Text produziert. Technisch in augustinischer wie cartesianischer Sprache ausgedrückt: Diese Seele spricht im ‚sermo interior‘, nicht im ‚sermo exterior‘. Vor allem ist sie nichts Individuelles, wie es ein Mensch ist, sondern etwas Geteiltes, so dass es zumindest keine grundsätzlichen Probleme bei der Partizipation gibt, ist man einmal durch den ‚sermo exterior‘ in das Innere des ‚sermo interior‘ vorgedrungen. Abgesehen von der Gott vorbehaltenen ‚creatio ex nihilo‘ pflegte man zwei Formen der Schöpfung zu unterscheiden: die ‚generatio‘ als ein Hervor61 bringen der Natur und das Herbringen als Herstellen (facere). Nach gängiger Auffassung ist dieser ‚artifex‘ an die Vorgaben der Materien wie der substantiellen Formen gebunden, und mittels eines Regelwissens, einer ‚ars‘, stellt er etwas her. Die Beurteilung dieser ‚ars‘ als ‚habitus operativus‘ richtet sich nach dem erstellten Produkt. Beide, Entwurf (idea) und Herstellungswissen, bilden das Richtmaß der Beurteilung der Güte des Produkts – nicht die psychologischen Dispositionen und Absichten des Menschen, sondern seine in nichtpsychologischem Sinne bestimmte ‚intentio‘ und ‚voluntas‘ (oder auch ‚finis‘).

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Vgl. Lutz Danneberg: Logik und Hermeneutik im 17. Jahrhundert, in: Jan Schröder (Hg.): Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtwissenschaft, Philosophie, Theologie, Stuttgart 2001, S. 75-131. Hugo von St. Viktor: Commentariorum in Hierarchiam coelestem S. Dionysii Areopagitae libri X [um 1130] (PL 175, Sp. 923-1154, hier Sp. 949B). Vgl. z.B. Thomas von Aquin: Summa Theologica [...1266-73]. Editio [...] Josepho Pecci [...]. Editio Tertia, Roma 1925, I, q. 45, a. 2, resp. (S. 249f.).

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Zwar ist seit der Antike die Verbindung zwischen Eigenschaften des Menschen, seinem ‚Charakter‘, und Eigenschaften seines Ausdrucks geläufig – ‚imago animi sermo est‘ oder ‚sermo est character animi‘62 oder im Rahmen einer Ordnung stilistischer xaraktêreß têß lécewß oder xaraktêreß têß ™rmhneíaß.63 So intensiv die Zerlegung der Charaktertypen auch betrieben worden und sich darin ein Zug der Individualisierung ausdrücken mochte – etwa nach der Maxime: ‚talis oratio qualis vita‘ oder ‚sermo est character animi‘ –,64 ist damit doch nicht das Erfassen ‚individueller‘ Charaktere gemeint.65 Es ist mithin nicht etwas, das sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts re-etabliert. Vielmehr wandert die Seele vom ‚sermo interior‘ in den Text produzierenden Menschen. Das führt im Vollzug zu schleichenden, in den Resultaten weitreichenden Veränderungen dessen, was als Bedeutung eines Textes gilt. Zwar variieren die Bestimmungen von Bedeutung (eines Textes, einer Rede), doch ein Element tritt im 17. und dann im 18. Jahrhundert wie selbstverständlich auf, nämlich dass sich das Verstehen eines Textes auf das richtet, was ein Autor mit seinem Text seinen Lesern zu verstehen geben wollte. Christian Wolffs Überlegungen zur Auslegung eröffnen mit der Festlegung: „Interpretari idem est ac certo modo colligere, quid quis per verba sua aut 66 signa alia indicare voluerit“, und nach Christian Thomasius gehe es um eine „Erklärung desjenigen / was ein anderer in seinen Schrifften hat verstehen wollen.“67 Zwar zielt eine solche Bestimmung auf einen mentalen Zustand, aber dieser Zustand ist nur insofern von Belang, wie er zur Einbettung des

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Seit alters wird der Brief als eine solche Äußerung aufgefasst – als ‚Abbild der eigenen Seele‘ (epistula imago), mitunter als Spiegel (speculum animi liber, speculum animi oratio). Doch bedeutet das nicht, dass das, was sich ausdrückt, etwas im emphatischen Sinn Individuelles ist, auch wenn es um ‚individuelle Züge‘ gehen mag. Zu diesem Bild vgl. die Hinweise bei Karl August Neuhausen: Der Brief als ‚Spiegel der Seele‘ bei Erasmus, in: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 10 (1986), S. 97-110. Vgl. die zahlreiche Aspekte darbietende Untersuchung von Dirk Marie Schenkeveld: Studies in Demetrius on Style, Amsterdam 1964. Vgl. z.B. Martin Luther: Kirchenpostille [1522], in: ders.: Werke, Bd. 10, Erste Abt., 1. Hälfte, Weimar 1910, S. 187: „Oratio est character animi, die rede ist eyn ebenbild odder conterfeytt bild des hertzen“; oder ders.: Annotationes in aliquot capita Matthaei [1536/38], in: ders.: Werke, Bd. 38. Weimar 1912, S. 443-667, hier S. 549: „Sed sicut cor est, ita est et oratio, iuxta illud vulgare dictum: Oratio character est animi.“ Vgl. Alfred Körte: xaraktêr, in: Hermes 64 (1929), S. 69-86. Christian Wolff: Ius Naturae, methodo scientifica pertractatum [...]. Tom. I [...], Francofurti & Lipsiae 1740 (Ges. Werke, II. Abt. 17. Hildesheim 1972), cap. III, § 459, S. 318; auch ders.: Grundsätze des Natur- und Völkerrechts [...], Halle im Magdeburgischen 1754 (Ges. Werke, I. Abt., Bd. 19, Hildesheim u. New York 1980), II. Theil, 19, S. 587-602. Christian Thomasius: Auszübung der Vernunfft-Lehre [...], Halle 1691, III. Hauptst., § 25, S. 164.

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Produzierens und des Verstehens von Texten in ein Handlungsmodell dient. Der Text erscheint in irreduzibler Weise als Teil einer Handlung, da derjenige, der ihn verfasst, mit diesem eine Wirkung bei einem Leser intendiert. Hierbei lässt sich zunächst einmal unterstellen, dass der Verfasser sie mit tauglichen Mitteln anstrebt – man nimmt einen ‚rational‘ oder ‚klug‘ handelnden Akteur an. Genau dieses Bedeutungskonzept überlebt im Rahmen der ‚interpretatio grammatico-historica‘ bis ins 19. Jahrhundert.68 Nach dieser Bedeutungskonzeption ist eine Interpretation dann richtig, wenn sie den gewollten Sinn des Textes wiedergibt oder in der Sprache der Zeit: Wenn der, der die Interpretation liest, das denkt, was derjenige, der den interpretierten Text verfasst hat, zu verstehen geben wollte.69 Das finale Handlungsmodell iteriert sich mithin bei der Relation zwischen dem Verfasser des Interpretationstextes und seinem Leser. Sinn macht das nur dann, wenn von der Interpretation eine spezifische Leistungen erwartet werden können, die der interpretierte Text für einen (bestimmten) Leser (und seine Situation) nicht erbringt. Nicht wegen theoretischer Defizite bricht dieses Modell zusammen. An Attraktivität verliert es aufgrund gewandelter Ansichten zu dem, was die Interpretation von einem (literarischen) Text vermitteln soll. Und das mündet in eine veränderte Konzeption der Bedeutung –in letzter Konsequenz, dass es nichts mehr gibt, was rechtfertigt, den Interpretationstext an die Stelle der Wirkung des literarischen Textes zu setzen. Die Interpretation ist dem Kunstwerk gegenüber nicht nur insuffizient: Sie droht, überflüssig zu werden. Eine Pointe dieses Perspektivwechsels ist, dass – mit Blick auf die Heilige Schrift formuliert – gerade dadurch, dass der menschliche Autor an die Stelle des göttlichen tritt, die Schrift an Schönheit gewinnen kann. Allerdings ist es immer weniger ein (überzeitlicher) Glanz, der sich der Schrift mitteilt: „Ich bin überzeugt, dass die Bibel immer schöner wird, je mehr man sie versteht, d.h. je mehr man einsieht und anschaut, dass jedes Wort, das wir allgemein auffassen und im Besonderen auf uns anwenden, nach gewissen Umständen, nach Zeitund Ortsverhältnissen einen eigenen, besonderen, unmittelbar individuellen 70 Bezug gehabt hat.“ Das, was dann als Wert an sich erscheint, ist der Text als

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Vgl. hierzu Danneberg: Schleiermachers Hermeneutik (Anm. 54). Entsprechend gilt das, wenn die Bestimmung auf den Seele-Ausdruck zurückgreift wie bei Friedrich August Wolf: Vorlesung über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft [gehalten ca. 1798], hg. von Johann Daniel Gürtler, Bd. 1, Leipzig 1831, S. 272 (Hervorhebung vom Verfasser): „Man versteht jemanden, der ein Zeichen gibt, dann, wenn diese Zeichen in uns dieselben Gedanken und Empfindungen hervorbringen, wie sie der Urheber selber in der Seele gegenwärtig hatte.“ Goethe: Maximen und Reflexionen ([1825] MA 17, S. 841). – Die verschiedenen Ausgaben werden auch im Folgenden mit den gängigen Abkürzungen aufgeführt: MA = Münchener Ausgabe, FA = Frankfurter Ausgabe, HA = Hamburger Ausgabe, LA = Leopoldina Ausgabe, und WA = Weimarer Ausgabe.

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Ausdruck einer jeweils besonderen ‚Individualität‘ – etwa als die ‚eigentümliche Ausdrucksweise eines Individuums‘. So soll man nach Herder „Gedanken und Worte“ nicht „abgetrennt“ betrachten, denn die Worte seien nicht das „Kleid der Gedanken“, sondern Ausdruck der Seele.71 Entscheidend ist die intime Beziehung, in die diese ‚Seele‘ mit den ‚Wörtern‘ tritt. Sie stiftet Wert als etwas Unreduzierbares – etwa durch Exklusion erzeugte Individualität, bei der man aus sich selber ein Anderes macht und das theoretisch zur Anerkennung jeweils spezifischer und unvergleichbarer Anderer führt. Diese Uniformität einzelner, gleichberechtigter und einzigartiger Individuen hält sich freilich nicht uneingeschränkt durch. Offen und versteckt schränkt das die Individualitätssemantik ein: auf der Ebene der Gattungen (bestimmte seien mehr, andere weniger geeignet, Individualität auszudrücken), oder auf der Ebene des produzierenden Menschen (einige besäßen Individualität in höherer Ausprägung als andere). Individualität lässt sich steigern (ist mithin vergleichbar) oder aber sie ist wenigen exponierten, vor allem mit den anderen unvergleichbaren Individuen (etwa den ‚Genies‘) vorbehalten. Die veränderte Bedeutungskonzeption, die sich zunächst an der menschlichen ‚Seele‘ orientiert, kann sich von ihr wieder ablösen, da sie eben nicht allein das empirische Wesen meint. Es handelt sich um das Ideal der ‚Individualität‘ des Schöpfers. Sie wird zu der zentrierenden Kraft, die aus leblos aneinander gereihten Buchstaben ein beseeltes Ganzes generiert, bei dem der Schöpfer das Werk an seiner Individualität teilnehmen lässt – ‚causatum causae simile‘. Diese kleine Verschiebung bleibt mitunter selbst dann noch für die Zeitgenossen unsichtbar, wenn man die Homonymität des Seelenausdrucks wahrnimmt: Die Seele im ‚sermo interior‘ hat nichts mit der Seele irgendeines Individuums oder einer Individualität zu tun. Der Charakter des ‚Ideals‘ gibt sich nicht allein dadurch zu erkennen, dass Individualität auf der Seite des Schöpfers und seiner Schöpfungen komparativ gebraucht werden kann, sondern auch auf der des Interpreten. Der Grundsatz ‚simile simili cognosci‘ avanciert zur zentralen Maxime dieser Hermeneutik. Sie setzt voraus, dass alle sich bei der Interpretation begegnenden Individualitäten (nur die ,Seele entdeckt die See72 le‘) ein Minimum an Gemeinsamkeiten besitzen. Diese für das Erkennen erforderliche Ähnlichkeit muss aber nicht eine sein, die man von Natur her besitzt, sondern sie lässt sich auch erzeugen. Die Aufforderung zum Einfühlen, zum Sich-Hinein-Versetzen bedeutet zumeist keine an Eigenschaften geknüpfte Verschmelzung, die man entweder besitzt oder nicht, oder eine ,selbstvergessene Unmittelbarkeit’. Eher handelt es sich um den Appell an den 71 72

Herder: Deutsche Litteratur (Anm. 39), S. 396f. Vgl. Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden, den zwo Hauptkräften der menschlichen Seele [1775], in: ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 8, Berlin 1892, S. 263-332, hier S. 327.

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Interpreten, einen bestimmten Wissenshintergrund bei sich zu erzeugen und andere Wissensmengen so zu kontrollieren, dass sie bei der Interpretation gerade keine Rolle spielen.73 Unabhängig von den Aporien, in die sich solche Konzepte des Verstehens zu verfangen drohen und dass sie unvereinbar sind mit jedem strengen Perspektivismus des geschichtlichen Erkennens, lässt sich dieser Vorgang verallgemeinernd so umschreiben: Gerade durch die Tieferlegung der ‚Seele‘ aus dem ‚sermo interior‘ in den Menschen versucht man, Eigenschaften der Textoberfläche zu bewahren. Unförmigkeit lernt man als Ausdruck einer Individualität nicht nur zu sehen, sondern auch zu schätzen. Es ist die Entdeckung oder Konstruktion von Eigenschaften, die durch diese Tieferlegung zu unreduzierbaren Makroeigenschaften von Texten werden, bei denen man dazu neigt und sich dann daran gewöhnt, sie als ‚ästhetische‘ Eigenschaften auszuzeichnen. Ebenso wie für Individualität in den verschiedenen konzeptionellen Abschattierungen ließe sich für ästhetischen Eigenschaften von Artefakten sagen, dass sie Konstrukte im Zuge bestimmter epistemischer Situationen und im Rahmen sozialer Gefüge sind. In der Sprache der Zerstörung – wenn auch spektakulär – ist zwar nur ein, aber wesentlicher Aspekt dieses Wandels angesprochen. Nur sehr gedrängt kann ich der Frage nachgehen, weshalb diese Entwicklung erst so spät erfolgt, obwohl zumindest im Heterostereotyp die Gefahren der ‚analysis textus‘ immer in ähnlicher Weise gesehen werden konnten – und selbstverständlich stirbt die Textanalyse nicht. Mein Erklärungsversuch schließt erneut einen Kreis zum Ausgangsbeispiel. Bislang ist nur der erste Teil des galileischen Gedankenexperiments in den Blick gekommen, also das Zerlegen des Textes in seine Bestandteile, nicht indes das Erzeugen von Bedeutungen, also ‚synthesis‘ oder ‚genesis‘. Der Niedergang der ‚analysis textus‘ wird in dem Augenblick eingeläutet, wenn man einen gravierenden Unterschied zwischen textueller und philosophischer Analyse wahrnimmt. Zumindest dem Programm nach ist die philosophische Analyse invers zur philosophischen Synthese in dem Sinn, dass das, was in dem einen Prozess zerlegt wird, sich in dem anderen wieder erzeugen lässt. ‚Genesis‘ und ‚analysis‘ als Verfahren werden idealiter immer als ‚ordo inversus‘ gesehen, in dem sich dann auch die christliche Vorstellung der Schöpfung und der Rückkehr zum Ausgangspunkt spiegeln kann – ‚exitus‘ und ‚reditus‘. Wie ein Strom gehe die Welt hervor (emanatio) aus Gott als der fruchtbaren Quelle (fontalis pleni-

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Das ist z.B. bei Herders Formulierungen des ‚Einfühlens‘ gegeben, auch wenn das bei ihm an einem christlicher Prototyp modelliert wird, wenn er formuliert, dass der Leser ‚mit den Hebräern ein Hebräer, mit den Arabern ein Araber‘ usw. werden solle, dann erscheint ein solcher Leser als ein ‚Paulus redivivus‘, der ‚allen alles‘ sein wollte.

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tudo), sie spiegele nach dem Satz ‚causatum causae simile‘ Gott (exemplaritas) und kehre wieder zu ihm zurück (consummatio seu reductio).74 So spiegelt auch die textuelle Analyse im 16. und 17. Jahrhundert den großen ‚ordo inversus‘ im Kleinen, indem sie als eine Art Rückkehr begriffen wird. Erst das erklärt die Präferenz, welche die ‚analysis‘ gegenüber der ‚genesis‘ erfährt: Man beginnt mit dem nach der ‚genesis‘ Letztem und erreicht im Zuge der ‚analysis‘ das Erste der ‚genesis‘, was in der ‚analysis‘ wiederum das Letzte ist – oder in den immer präsenten Worten des Aristoteles: „Denn der Überlegende geht forschend und analysierend [zhteîn kaì ˜nalúein] vor [...]. [...] das letzte in der Analyse [˜nalúsei] ist das erste im Werden [genései].“75 Die Zerstückelungs- und Zerstörungsphantasien entzünden sich an der Wahrnehmung, dass das, was im Zuge der ‚textuellen‘ Analyse zerstört wird, sich aus den erzeugten Elementen nicht wieder generieren lässt – dramatischer ausgedrückt: Man erkennt, dass die ‚analysis textus‘ den Gott und die Welt umfassenden großen ‚ordo inversus‘ unterbricht. Offenbar fällt etwas auseinander, worauf man zahlreiche Reaktionsmöglichkeiten hat. Ich greife eine dieser Möglichkeiten heraus. Schleiermacher verwendet den Ausdruck ‚Analyse‘ – auch wenn man bei ihm vieles von dem findet, was man früher mit diesem Ausdruck zu bezeichnen pflegte, gerade nicht für die Interpretation eines Textes. Eine seiner Formulierungen des Besserverstehens lautet: Das vollkommene Verstehen in seinem Gipfel aufgefaßt, ist ein den Redenden besser Verstehen als er selbst. Weil es nämlich theils eine Analyse seines Verfahrens ist, welche zum Bewußtseyn bringt, was ihm selbst unbewußt war, theils auch sein Verhältniß zur Sprache in der nothwendigen Duplicität auffaßt welche er selbst nicht darin unterscheidet. Eben so unterscheidet er auch nicht was aus dem Wesen seiner Individualität oder seiner Bildungsstufe hervorgeht von dem was zufällig als Abnormität vorkommt, und was er nicht producirt haben würde, wenn er es unterschieden hätte.76

Bei dieser ganz seltenen terminologischen Verwendungen des Ausdrucks ‚Analyse‘ in Schleiermachers hermeneutischen Schriften dürfte nicht das gemeint sein, was sich zuvor als ‚analysis textus‘ darbietet. Schleiermacher reserviert diesen Ausdruck für die Dogmatik, für die, wenn man so will, RealAnalyse, nämlich die „Analyse des [religiösen] Gefühls“. Es ist das „nach verschiedenen Seiten hin sich aussprechende [religiöse] Gefühl, welches durch eine vollständige Analyse erschöpft werden soll. Die Form des Zusammen-

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So z.B. Bonaventura: Collationes in Hexaëmeron [1273], in: ders.: Opera Omnia Tomus V: Opuscula varia theologica, Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1891, S. 327-454, hier I, 17. Vgl. Aristoteles: Nic Eth, 1112b23; Übersetzung von Olof Gigon. Friedrich Daniel E. Schleiermacher: Allgemeine Hermeneutik von 1809/10, hg. von Wolfgang Virmond, in: Kurt-Victor Selge (Hg.): Internationaler Schleiermacher-Kongreß, Berlin u. New York 1985, S. 1271-1310, hier S. 1308.

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hangs der Dogmatik ist daher keine scientifische, sondern eine analytische.“77 Mit ‚scientifisch‘ meint Schleiermacher hier „speculative Deductionen“.78 Die Wertschätzung der traditionellen Analyse drückt sich aus, wenn es heißt: „Wir müssen den Prozeß der Bildung rückwärts konstruieren können, sonst ist alles wieder leeres Hypothesenwesen.“79 Dass diese Auslassung des ‚analysis‘-Begriffs in der Hermeneutik Schleiermachers wohl nicht ohne Absicht geschieht, zeigen gelegentliche frühere Verwendungen. So spricht er in einem Brief von 1804 von der „analytischen Reconstruction“ als Ziel des Verstehens. Dass hier Ähnliches wie später gemeint ist, wird deutlich, wenn es heißt: „Der erste Entwurf der Idee ist [...] das Innerste eines Werkes, hängt am unmittelbarsten mit dem Verfasser selbst zusammen.“80 Noch früher heißt es, dass die „Charakteristik eines bestimmten Individuums“ dieses „chemisch zerlegen, die innerlich verschiedenen Bestandteile desselben von einander sondern, und [...] dann das innere Princip ihrer Verbindung, das tiefste Geheimniß der Individualität aufsuchen, und so das Individuum auf eine künstliche Weise nachconstruieren“ soll.81 In der Einleitung zu seiner Platon-Übersetzung von 1804 handelt Schleiermacher von der Echtheit, der Abfolge – und für ihn das Gleiche – der Einheit der platonischen Dialoge im Gang der Entwicklung ihres Autors. Es geht dabei auch um die Erörterung der alten Unterscheidung zwischen einem esoterischen und einem exoterischen Platon, die Schleiermacher (wenn man so will) hermeneutisch unterläuft: Entweder finde sich in den überlieferten Texten überhaupt nicht Platons Lehre, oder sie sei nur „zufolge einer geheimen Auslegung“ zu ermitteln. Beides sieht er als Missverständnis. Um denen, die „darin verstrickt sind, das selbst zum Bewusstsein und Eingeständnis zu bringen“, nennt er als „lobenswertes Unternehmen, den philosophischen Inhalt aus den platonischen Werken zerlegend herauszuarbeiten, und ihn so zerstückelt und einzeln, seiner Umgebungen und Verbindungen entkleidet, möglichst formlos vor Augen zu 82 legen.“ Aufschlussreich ist, dass er im Vokabular des Heterostereotyps der zergliedernden Textbetrachtung ein zweckbezogenes Lob formuliert. Der ‚zer-

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Friedrich Daniel E. Schleiermacher: Einleitung zur Vorlesung über Dogmatische Theologie (Sommersemester 1811). Nachschrift August Detlev Christian Twesten, hg. von Matthias Wolfes, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 109. Folge 47 (1998), S. 80-99, Textedition: S. 85-99, hier S. 90. Ebd., S. 96. Friedrich Daniel E. Schleiermacher: Ästhetik, hg. von Rudolf Odebrecht, Berlin u. Leipzig 1931, S. 11. Wilhelm Gaß (Hg.): Fr. Schleiermacher’s Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, Berlin 1852, S. 14. (Friedrich Daniel E. Schleiermacher): [Rez.] Garve’s letzte noch von ihm selbst herausgegebene Schriften, in: Athenaeum 3 (1800), 1. St., S. 129-164, hier S. 134. Friedrich Daniel E. Schleiermacher: Über die Philosophie Platons, hg. von Peter M. Steiner, Hamburg 1996, S. 37.

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stückelte‘ Platon ist letztlich ‚formlos‘. Das verweist nicht auf die äußere Form, sondern auf die innere ‚forma‘. Verdienst eines solchen Unternehmens sei, das „Nichtverstehen“ der platonischen Texte erst deutlich zu machen. Er konzediert, dass auch bei dieser Zergliederung Verstehen stattfindet, doch „eben so gewiß“ sei „aber auch, daß das Verstehen des Platon für andere dadurch weder erleichtert noch gefördert wird.“83 Entscheidend ist der Grund, der das durch die Interpretation zu Erzeugende benennt: „daß vielmehr derjenige, der sich auch an die beste Darstellung dieser Art“ (der analysierenden) „ausschließend halten wollte, leicht nur eine eingebildete Kenntnis erlangen, von der wahren aber sich eben deshalb nur weiter entfernen könnte.“84 Zur Illustration nutzt auch Schleiermacher den Text-Körper-Vergleich: „Denn derjenige freilich muß die ganze Natur eines Körpers genau kennen, der die einzelnen Gefäße oder Knochen desselben zum behuf der Vergleichung mit ähnlichen eines andern ebenso zerstückelten aussondern will.“ Das sei zwar „der gründlichste Nutzen“, den dieses „philosophische Geschäft gewähren“ könne, doch gelange man hierdurch nicht zur „eigentümlichen Natur des Ganzen“. Wenn überhaupt irgendwo, dann seien in der Philosophie Platons „Form und Inhalt unzertrennlich, und jeder Satz nur an seinem Orte und in den Verbindungen und Begrenzungen, wie ihn Platon aufgestellt hat, recht verständlich.“ Das ist der Gedanke der ‚inneren Bestimmtheit‘ eines Textes in der Tradition des expliziten Körper-Text-Vergleichs, eben wie „ein lebendiges Wesen gebildet“ und einem „dem Geist angemessenen Körper mit verhältnis85 mäßigen Theilen“. In Bezug auf die Nichtvertauschbarkeit und die Auffassung vom Text als ein lebendes, funktional gegliedertes Wesen dürfte Platons Phaidros, 264c, Inspirationsquelle gewesen sein. Gerade diesen Dialog stellt Schleiermacher gleichsam als „Keimentwurf“ an den Anfang seiner „Construction“ des Entwicklungsgangs Platons und seiner Dialoge – aber mehr noch: Ohne diese beiden Bestimmungen des Text-Ganzen könne der „Mann selbst“ nicht „begriffen“ werden und am wenigsten seine „Absicht“. Die „zerlegende Darstellung“ sei zwar ein „notwendiges Ergänzungsstück“, aber nicht mehr. Vereinfacht gesagt: Das, was sich durch Zerlegung nicht finden lässt, sind bestimmte Eigenschaften des Textes, die ihm individuelle Züge verleihen, die er angesichts der Kombinationsweise seines Autors besitzt. Die ‚analysis textus‘ führt zu Bestandteilen, aus denen er sich als integrales Ganzes nicht wieder generieren lässt. Und das ist solange nicht als problematisch wahrgenommen worden, wie das, zu dem diese ‚analysis‘ führt, als das Wesentliche des Textes gesehen werden konnte. Erst die Unterbrechung des ‚ordo inversus‘ 83 84 85

Ebd., S. 37f. Ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 38; auch S. 71.

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aufgrund veränderter Wertschätzung in bestimmter Weise wahrgenommener Eigenschaften erzeugt den Hiat. Anders als bei der ‚analysis textus‘ sieht es im Selbstverständnis bei der ‚analysis philosophica‘ aus: Sie tritt als Real-Analyse oder als die kognitiver Einheiten auf. Zumindest beim letzteren konnte man meinen, die durch begriffliche Analyse gefundenen Bestandteile eines Ganzen könnten rekombiniert das Ganze wieder erzeugen. Beim ersteren stellt sich das freilich komplizierter dar, wenn aus ‚effectus‘ mittels ‚analysis‘ die ‚causae‘ gefunden werden sollen. Hier droht die ‚fallacia consequentis‘: Aus der Analyse der ‚effectus‘ (den Teilen) lässt sich zwar auf die Existenz der Ursachen (demonstratio quia) schließen, aber nur unter besonderen Voraussetzungen auf die bestimmten, wahren Ursachen (demonstratio propter quid), also etwa auf die Prinzipien, welche die innere und äußere Bestimmtheit eines Ganzen bestimmen. Zudem scheint bei dem sich aus ,analysis‘ und ,synthesis‘ zusammengesetzten ‚syllogismus reciproca‘ ein Zirkelschluss zu drohen, der für die naturphilosophische Erkenntnis als ,demonstratio circularis‘ erörtert wurde. Genau das gehört zum Hintergrund der Erörterung von ‚Zirkeln‘ in der Hermeneutik am Beginn des 86 19. Jahrhunderts. Bei Friedrich Ast spiegelt sich diese Herkunft noch in der Terminologie, wenn er den Zirkel explizit als Problem des Zusammenwirkens analytischer und synthetischer Methode in der Hermeneutik erörtert. Wie in der naturphilosophischen Diskussion gilt das immer nur einem aufzulösenden Anschein nach, und so findet sich weder bei Schleiermacher noch bei Ast und wohl bei keinem anderen der Ausdruck ‚hermeneutischer Zirkel‘, geschweige denn die Erkenntnis der vermeintlichen Sache. Erst der nachklassischen Hermeneutik blieb es vorbehalten, in der klassischen immer wieder den hermeneutischen Zirkel zu entdecken. Den Aufstieg von den Wirkungen zu den Ursachen und den Abstieg von den Ursachen zu den Wirkungen versuchte man vom Zirkelverdacht zu befreien, indem betont wurde, dass der analytische Weg allein genommen noch nicht sein Ziel erreicht. Diesem ‚hiatus irrationalis‘ vermochte man freilich, einer ‚black box‘ gleich, nur einen Namen zu geben, etwa den des ‚mentalen Examens‘, das sich zwischen Analyse und Auffindung der Ursachen schiebt. Schleiermacher umschreibt auf unterschiedliche Weisen, wie sich dieser Hiat beim Verstehen überbrücken lässt – sei es das Gefühl, die Divination, das 87 Anknüpfen an „die Analogie im innern Proceß des Denkens“. Immer wird der Zirkel-Verdacht zunächst als Frage des praktischen Handlungsvollzugs begriffen und nicht als Begründungszirkel. Immer sind es nur psychologische Erklärungen, die ihn als nur scheinbar ausweisen und das näher umschreiben 86 87

Vgl. Lutz Danneberg: Die Historiographie des hermeneutischen Zirkels: Fake und fiction eines Behauptungsdiskurses, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 3 (1995), S. 611-624. Schleiermacher: Allgemeine Hermeneutik (Anm. 76), S. 1276.

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sollen, was als ‚mentales Examen‘ unbestimmt geblieben ist. Das erhellt die Redeweise Schleiermachers von ‚Keimentschlüssen‘ und seiner Forderung, dass unter Anwendung des „Combinationsgesetzes“ des Denkens der individuelle Gang, der sich beim Autor vollzogen hat, mit einer Art von Notwendigkeit ‚nachzuconstruieren‘ sei. Ein Text sei erst dann wirklich verstanden, wenn er sich erneut erzeugen lässt. Bei Schleiermachers hermeneutischen Auffassungen ist das die Stelle, die sich dann als Versuch deuten lässt, durch die Übertragung des philosophischen Modells der Analyse und Synthese auf das Verstehen von Texten bei diesem Verstehen den ‚ordo inversus‘ zu retten. Doch der ‚ordo inversus‘ zerbricht in der Wahrnehmung der Zeit nicht allein bei der ‚analysis‘ des ‚liber supranaturalis‘ oder des ‚liber artificialis‘, sondern auch beim ‚liber naturalis‘. Ebenso wie dieses Zerbrechen auf eine gemeinsame Ursache zurückgeführt wird, hat die Vorstellung der Heilung etwas gemeinsam: Gleich wie das Kunstwerk lässt sich die Natur als Produkt des Denkens eines schöpferischen Geistes ansehen. Diese Gedanken jedoch zu erkennen – ‚nachzudenken‘ – wird nicht mehr als ein Prozess gedacht, bei dem die Analyse den Anfang macht – also nicht mit dem beginnend, was ‚priora naturae‘sondern mit dem, was ‚priora nobis‘ ist. Es ist gleichsam das Nachschaffen des ursprünglichen kreativen Akts; erst so, nicht mittels der Analyse, erreicht man den Charakter von Notwendigkeit und Alternativlosigkeit der Konstruktion und entgeht der ‚fallacia consequentis‘. Steht am Anfang des Untersuchungszeitraums dieses Beitrages die ‚genesis‘ im Schatten der ‚analysis‘, so ist es am Ende umgekehrt. Man bildet nicht mehr eine Gemeinschaft von Analytikern, sondern von Produzenten, und das Analysieren findet nur dann Gewissheit, wenn es sich selbst als ein Produzieren und Konstruieren begreift: Genie leitet sich ab von Genesis. Ein Beispiel, das das Gesagte sowohl für das Erkennen der Natur wie für das des ästhetischen Gegenstandes illustriert. greife ich heraus. Kaum überschaubar sind die Beiträge zum Thema Goethe-Newton. Längst wird mehr Goethe nicht mit harten Urteilen belegt, sondern seine Vorstellungen von Wissenschaft werden als aktuelle Alternative angedient. Da es solchen Beiträgen um eine Aktualisierung im Rahmen eines ‚argumentum ab auctoritate‘ geht, ist das allein unter Missachtung des historischen Kontextes zu haben. So nimmt man nur selten als Problem wahr, dass Goethes Ansichten sich über einen Zeitraum von immerhin mehr als fünfzig Jahren entwickeln und verändern – mit eingestreuten Erinnerungen, ex-post Selbstdeutungen, Retraktationen wie Korrekturen. Die für die Aktualisierung erforderliche Harmonisierung erzeugt die Kollationierung jeweils passender Stellen aus den verschiedenen Lebensaltern und -umständen. Obwohl die bisherigen Versuche nie auf die hier gebotenen Rahmen eingehen, verstehen sich die folgenden Darlegungen als Hinweise ohne weitergehenden Anspruch auf Rekonstruktion.

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In seiner Farbenlehre hält Goethe Newton immer wieder das experimentelle Zerstückeln der Natur, die „Strahlenspalterei“ vor.88 Dass auch das in die Tradition der Heterostereotype gehört, wird an dem gelegentlichen Zusatz deutlich (man muss allerdings jeweils den Kontext der Verwendung des Ausdrucks bei Goethe berücksichtigen),89 dass es sich um eine ‚künstliche‘ Teilung handle.90 Als zentrales Moment tritt bei ihm der Zweifel an Newtons Versuch der Rückmischung, seine Synthetisierung, der Spektralfarben zu Weiß. Das Licht ist wie die Individualität nur um den Preis der Zerstörung teilbar, wenn es durch die Umkehr nicht heilbar ist – und das ist es nach Auffassung Goethes nicht. Für Newton stellt das weiße Licht eine Zusammensetzung von sieben farbigen Lichtern dar. Demgegenüber sieht Goethe im weißen Licht das Einfachste und Homogenste überhaupt; die Farben sind nicht ‚Teile‘, aus denen das weiße Licht zusammengesetzt sei, sondern sie sind „Taten und Leiden“.91 Was für den einen die Zerlegung durch Refraktion, Reflexion und Inflexion in die unzerlegbaren Spektralfarben ist, stellt sich für den anderen als Modifikationen von etwas ursprünglich Einfachem dar; es ist das einfachste und homogenste Licht, das wir kennen. Die Erklärung erfolgt nach der einen Seite durch Dekomposition, aus der dann die apparenten Farben entstehen, nach der anderen entstehen sie durch äußere Umstände, durch die Wechselwirkung von Licht und Schatten.

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Vgl. WA IV, 10, S. 415. So steht Goethe der Chemie zunächst misstrauisch gegenüber, wohl aufgrund der dort betriebenen ,Analyse‘. Später äußert er sich positiv über synthetisch erzeugte Verbindungen. Allerdings bedeutet das nicht eine Einschränkung des ‚ordo inversus‘, denn die so erzeugten ,Verbindungen‘ und nicht die ‚Schritte‘ sind für ihn ‚künstlich‘; vgl. ders.: Farbenlehre. Historischer Teil, 4. Abt. ([1810], FA II, 23/1, S. 660), wo es heißt, dass die Chemie „in der neueren Zeit“ die „natürlichen Körper zerlegte und daraus künstliche auf mancherlei Weise wieder zusammensetzte; sie zerstörte (zwar) eine wirkliche Welt, (aber nur), um eine neue, bisher unbekannte, kaum möglich geschienene, nicht geahndete wieder hervor zu bauen.“ Zur Ausbildung eines Konzepts der chemischen Verbindung im Verbund mit der Reversibilität chemischer Prozesse, also der Erzeugung von Verbindungen und der Wiedergewinnung ihrer ursprünglichen Bestandteile, vgl. Ursula Klein: Verbindung und Affinität. Die Grundlegung der neuzeitlichen Chemie an der Wende des 17. zum 18. Jahrhunderts, Basel u.a. 1994. Noch im 18. Jahrhundert ist das ein die experimentelle Technik oftmals überforderndes Unterfangen, zumal der reversible ‚ordo inversus‘ mitnichten in so eleganter Gestalt wie C ĺ A + B und A + B ĺ C auftritt, sondern z.B. in der Form C +D ĺ DA + B. Zu einem Experiment, das mittels Synthese und Analyse die Theorie Lavoisiers bestätigt, vgl. H.A.M. Snelders: The Amsterdam Experiment on the Analysis and Synthesis of Water (1789), in: Ambix 26 (1979), S. 116-133. „Künstlich zu teilen den Strahl“, zitiert nach Albrecht Schöne: Goethes Farbentheologie. München 1987, S. 180. Vgl. auch Goethe: Farbenlehre. Historischer Teil, 6 Abt. ([1810] FA II, 23/1, S. 980f.). Goethe: Zur Farbenlehre. Vorwort ([1810] FA II, 23/1, S. 12).

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Wenn auch ohne nähere Begründung hat man die methodischen Auffassungen Goethes als „aristotelian and anti-Newtonian“ identifiziert.92 Obwohl es von vornherein zweifelhaft ist, die Aristoteles-Rezeption in der Naturphilosophie vom 13. Jahrhundert bis zum Ende des 18. Jahrhunderts mit mehr oder weniger stabilen Streben zu versehen (die verschiedenen Ausformungen ließen sich, wenn überhaupt, eher als Bewahrungen von ‚Familienähnlichkeiten‘ umschreiben), so ist das doch in einer Hinsicht nachvollziehbar;93 und es bindet das Beispiel zurück an den Anfang der Untersuchung, an Galileis AntiAristotelianismus, der die ‚cognitio communis‘ (sensitiva) mit ihrem Vertrauen in die sinnliche Wahrnehmung in die Schranken weist. Bei dem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelten Konzept einer Ästhetik der sinnlichen Anschauung, durch welche die ‚cognitio communis‘ (sensitiva) auf dem Weg zu einer autonomen Vollkommenheit ist, obwohl die ‚cognitio philosophica‘ noch ihr vorgeordnet bleibt, wird versucht, den Zwiespalt durch integrale Konzepte zu heilen, welche die ‚unteren‘ und ‚oberen Seelenkräfte‘ in ein ‚harmonisches Verhältnis‘ setzen,94 und die durch Rangordnung erzeugte Diskrepanz durch Formen der ‚Anschauung‘ und ‚Anschaulichkeit‘ zu überwinden. Hier nun lassen sich auch die Überlegungen Goethes zu den Naturwissenschaften lokalisieren und nur in diesem Sinn, das heißt mit Blick auf eine veränderte epistemische Situation, zeigt sich ein aristotelischer Zugriff, der sich mit dem Anfang der Untersuchung verbindet. Nun prädestinieren Goethes Vorbehalte gegenüber einer künstlichen Erweiterung der Sinneswahrnehmung ihn nicht als Freund der Theorie des Kopernikus: Der Mensch an sich selbst, in so fern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann; und das eben ist das größte Unheil der neuern Physik, dass man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann dadurch beschränken und beweisen will.95

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Michael J. Duck: Newton and Goethe on Colour: Physical and Physiological Consideration, in: Annals of Science 45 (1988), S. 507-519, hier S. 507; auch Hjalmar Hegge: Theory of Science in the Light of Goethe’s Science of Nature, in: Inquiry 15 (1972), S. 363-386, hier S. 381. Vgl. auch Claus Güntler: Die Bedeutung des aristotelischen Hylemorphismus für die Naturbetrachtung Goethes, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 21 (1967), S. 208-241; allerdings scheint kaum eine der aufgewiesenen Ähnlichkeiten so, dass sie auf Aristoteles zurückgeführt werden müsste. So die Formulierung bei Goethe in „Ernst Stiedenroth: Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen“ ([1824], HA 13, S. 42). Goethe: Über Naturwissenschaft im allgemeinen. Einzelne Betrachtungen und Aphorismen Nr. 68 ([1833] FA II, 25, S. 104).

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An anderer Stelle heißt es, „Mikroskope und Fernröhre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn“,96 und es sei „eine Gotteslästerung zu sagen, dass es einen optischen Betrug gebe“.97 Goethe verlegt in herkömmlicher Weise die ‚Betrugsanfälligkeit‘ in den Akt des Urteilens.98 Doch wider Erwarten findet sich bei ihm der Hinweis zum Vergleich auf die kopernikanische Theorie nicht selten.99 Der Hinweis auf den ‚Kopernikanismus‘ wird in der Zeit zur Metapher, die den Anspruch einer ‚neuen‘ Philosophie relational ins Licht zu setzen versucht – so auch bei Herder: Alle Philosophie, die des Volks sein soll, muß das Volk zu seinem Mittelpunkt machen, und wenn man den Gesichtspunkt der Weltweisheit in der Art ändert, wie aus dem Ptolemäischen, das Kopernikanische System ward, welche neuen fruchtbaren Entwicklungen müssen [sich?] hier nicht zeigen, wenn unsre ganze Philosophie Anthropologie wird.100

Diese Passage lässt sich – im Übrigen ebenso wie die spätere, scheinbar ähnliche Kants zur Ankündigung einer ‚kopernikanischen Wende‘ – zwar nicht leicht deuten, doch genügt das allgemeine Szenario: Zum einen (A) steht der mit den beiden Eigennamen bezeichnete Übergang für die ‚relative‘ Zurücksetzung der ‚cognitio historia‘ (communis, sensitiva) angesichts der einhergehenden Aufwertung der ‚cognitio philosophica‘. Es ist die Anerkennung dieses Wissensanspruchs, die beispielsweise Wolff seinen Philosophiebegriff formulieren lässt; und in seinem Discursus finden sich bei nicht wenigen Beispielen direkte oder indirekte Anspielungen auf die Kopernikanische Theorie (ohne dass er wagt, für sie in dieser Schrift explizit einzutreten). Zum anderen (B) nobiliert der Vergleich mit dieser Konstellation (mittlerweile) den Wechsel (irgend-)einer Perspektive. Angenommen, Herder meint bei (B) so etwas wie 96 97

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Goethe: Maximen und Reflexionen (MA 17, 502, S. 812). Goethe: Beiträge zur Optik ([1794/95], LA I, 3, S. 93); auch ders.: Farbenlehre. Historischer Teil, 6. Abt. ([1810], FA II, 23/1, S. 942): „Das Wort Augentäuschungen [...] wünschten wir ein für allemal verbannt. Das Auge täuscht sich nicht; es handelt gesetzlich.“ Auch ders.: Farbenlehre. Historischer Teil, 6. Abt. ([1810] FA II, 23/1, S. 942). Vgl. Goethe: Maximen und Reflexionen ([1829] MA 17, 1193, S. 917): „Die Sinn trügen nicht das Urteil trügt“, sowie ([1829], ebd., 1194, S. 918), ferner ders.: Der Versuch als Vermittler ([1792] HA 13, S. 14f.). Wenn der alte Goethe sich an den jungen erinnert – vgl. ders.: Dichtung und Wahrheit (HA 9, S. 127): Wenn er als junger Mann Anstoß genommen habe an der Bibelstelle Jos 10,12f., wo Gott Josuas Wunsch nach dem Stillstand der Sonne erfüllt, so dürfte das weniger ein Indiz für die Präferenz eines Kopernikanismus sein, als vielmehr für das Misstrauen ‚Wunder‘ gegenüber – gleichgültig, ob ptolemäische oder kopernikanische Theorie: der Sonnenstillstand bleibt ein ‚Wunder‘. Johann Gottfried Herder: Wie die Philosophie zum besten des Volks allgemeiner und nützlicher werden kann [1765?], in: ders.: Werke I (Anm. 37), S. 101-134, hier S. 134. Vgl. auch ders.: Die Vorrede der ‚Metakritik zur Kritik der Urtheilskraft‘ [1799], in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 22, Berlin 1885, S. 333-341, hier S. 339, dort wendet sich Herder polemisch gegen Kants Kopernikus-Vergleich.

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die Herausstellung von Sinnlichkeit (eine „menschliche Philosophie“), so resultiert daraus in gewisser Hinsicht ein Kuriosum: Denn sein unter Rückgriff auf (A) angekündigter Perspektivwechsel (B) stellt zugleich die Zurücknahme von (A) hinsichtlich der Herausstellung oder des Rangs der nichtsinnlichen ‚cognitio philosophica‘ dar. Daraus ließe sich schließen, dass es sich bei Herder um ein metaphorisches ‚argumentum ab auctoritate‘ handelt.101 Entscheidend sind die Aspekte des Vergleichs. Die größten Wahrheiten widersprechen oft geradezu den Sinnen, ja fast immer. Die Bewegung der Erde um die Sonne – was kann dem Augenschein nach absurder sein? Und doch ist es die größte, erhabenste, folgenreichste Entdeckung, die je der Mensch gemacht hat, in meinen Augen wichtiger als die ganze Bibel.102

Dieser Vergleich erstaunt nur dann, wenn man nicht den Vergleichspunkt Goethes sieht, der in der eigenen Erkenntnisleistung liegt: Was uns so sehr irre macht wenn wir die Idee in der Erscheinung anerkennen sollen ist daß sie oft und gewöhnlich den Sinnen widerspricht. Das Cop[ernikanische] System beruht auf der Idee die schwer zu fassen war und noch täglich unsren Sinnen widerspricht. Wir sagen nur nach, was wir nicht erkennen noch begreifen. Die Metamorphose der Pflanzen widerspricht gleichfalls unseren Sinnen.103

Richtet sich am Ende seines Lebens der Blick wieder einmal auf sich selbst, erscheinen Goethe nicht wenige seiner Ausführungen als eine „etwas scharfe Zergliederung der Newtonschen Sätze“, was eigentlich wider seine „eigentliche Natur“ sei und er daran „wenig Freude“ habe.104 Wegen dieser Einsicht lässt sich Goethe loben, freilich nicht, wenn sich bei seiner Newton-Kritik der Körper der leblosen Natur in einen menschlichen verwandelt: Es ist dieses sogenannte experimentum crucis, wobei der Forscher die Natur auf die Folter spannte, um sie zu dem Bekenntnis dessen zu nötigen, was er schon vorher bei sich festgesetzt hatte. Allein die Natur gleicht einer standhaften und edel-

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Vgl. Herder: Etwas von Nikolaus Kopernikus Leben, zu seinem Bilde [1776], in: ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 9, Berlin 1893, S. 505-512, in seiner Würdigung spricht er Kopernikus als denjenigen an, der „einer alten abgestorbenen Meinung“ wieder zu Ansehen verholfen habe („schon die Ägypter waren darauf gekommen“, S. 505). Er spricht über den Einfluss, den Symmetrievorstellungen für die Theoriewahl gespielt haben, was er auf Kopernikus „Zeichnungsgefühl“ („[z]u den größten Entdeckungen also [...] winkte Einbildung, Malerei, Poesie herauf und hielt die Leiter“, S. 507) und den „Finger Gottes“ zurückführt (S. 506). Herder, der oft wohlwollend die Arbeit der Astronomen kommentiert, spricht hier mit keinem Wort den Widerstreit mit den Wahrnehmungen der Sinne an. Goethe am 27. 2. 1831 (FA II, 11, S. 374). Goethe: Maximen und Reflexionen (MA 1136, S. 909); ferner zu Eckermann am 24. 2. 1831 (FA II, 12, S. 450): „Das Schwierige bei der Natur [...] ist: das Gesetz auch da zu sehen wo es sich uns verbirgt, und sich nicht durch Erscheinungen irremachen zu lassen, die unsern Sinnen widersprechen. Denn es widerspricht in der Natur manches den Sinnen und ist doch wahr.“ Am 15.5. 1831 zu Eckermann (FA II, 12, S. 484).

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Lutz Danneberg mütigen Person, welche selbst unter allen Qualen bei der Wahrheit verharrt. Steht es anders im Protokoll, so hat der Inquisitor falsch gehört, der Schreiber falsch niedergeschrieben.105

Obwohl man den Christus-Bezug hier nicht zu sehr exponieren sollte,106 sieht er den menschlichen Körper der Natur in der newtonschen „Marterkammer“,107 und dann scheint seine Ansicht verständlich, dass die Analyse Newtons gleichsam ins Gefängnis gehöre – sprich: nicht in den öffentlichen Unterricht und von vornherein verboten.108 Im 79. Venezianischen Epigramm fordert Goethe die „haarsträubenden Zwangsmaßnahmen”:109 Newton sei zu ‚kreuzigen‘ zur Strafe dafür, weil er seinerseits das Licht (durch Spektralanalyse) ‚gekreuzigt‘ und gleichsam gefoltert habe. Behutsamkeit im Umgang mit der Natur schließt Gewaltphantasien dem Menschen gegenüber offenbar nicht aus. Wie dem auch sei – auch für Goethe handelt es sich um eine gegenläufige Bewegung, die im ‚editus-reditus‘-, ‚descensus-ascensus‘-Schema gegeben ist: Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind.110

Goethe liebte dieses Bild und in der Formulierung gelegentlich auch mit den Ausdrücken „synthetisch“ und „analytisch“.111 Mit einem Wort: Analysis und Genesis wird bei Goethe „im Leben der Natur“ zur „ewige[n] Systole und Diastole“, zur „ewige[n] Synkrisis und Diakrisis“; nach ihm das wichtigste, auf Platon zurückgehenden Fundament:112 „Die Synkrisis durchs Schwarze, die Diakrisis durchs Weiße“113 – ja, zum „Ein- und Ausatmen der Welt.“ Bei der Zerstörung des ‚ordo inversus‘ durch die zerstückelnde Analyse droht der Welt der Erstickungstod. Dieser ‚ordo‘ erhält bei Goethe die Deutung eines

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Goethe: Farbenlehre. Polemischer Teil, 114 ([1810] FA II, 23/1, S. 345). Vgl. die parallele Stelle, wo in einer Vorfassung von den „Kreuzigern“ der Natur gesprochen wird, ders.: Zur Farbenlehre. Historischer Teil. Ergänzungen und Erläuterungen (LA II, 6, S. 141f.). Zu beachten ist, dass es sich um ein Wortspiel handelt: Goethe nimmt das ‚experimentum crucis‘ auf, ein Ausdruck, den wohl zuerst Hooke verwendet hat. Vgl. Goethe: Älteres, beinahe Veraltetes (LA I, 8, S. 361): „Die Phänomene müssen ein für allemal aus der düstern empirisch-mechanisch-dogmatischen Materkammer vor die Jury des gemeinen Menschenverstandes gebracht werden“. Vgl. auch ders.: Maximen und Reflexionen (MA, 11, S. 740): „Die Natur verstummt auf der Folter; ihre treue Antwort auf redliche Frage ist: Ja! Ja! Nein! Nein! Alles andere ist vom Übel.“ Vgl. Schöne: Goethes Farbentheologie (Anm. 90), S. 43. Ebd., S. 67. Goethe: Zur Farbenlehre, Didaktischer Teil, 5. Abt. ([1810] FA II, 23/1, S. 239). Zum einen im Blick auf seine eigenes Vorgehen, zum anderen im Blick darauf, wie die Natur verfährt, vgl. Goethe.: Einwirkung der neueren Philosophie ([1820], HA 13, S. 27). Vgl. Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Teil, 1. Abt. ([1810], FA II, 23/1, S. 600). Vgl. Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Teil, 6. Abt. ([1810], FA II, 23/1, S. 839, auch S. 827).

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fortwährend polarisierenden und aufsteigenden Prozesses, der freilich ‚im Ganzen‘ nicht zurückkehrt,114 und sicherlich handelt es nicht um die Vorstellung der Wiederkehr aller Dinge (˜pokatástasiß pántwn)115: Es sind fortwährend Abfolgen eines ‚ordo inversus‘, die im ‚Großen‘ nicht zu den Anfängen zurückkehrt, also nicht mehr schließen. Was Goethe missfällt, ist nicht in erster Linie das Zerlegen oder das Experimentieren überhaupt,116 sondern wenn beides zerstörend wirkt.117 Diese Zerstörung vollziehe nicht die Natur selber,118 sondern sie sei ‚Menschenwerk‘. Goethes „natürliche Methode“ ist mithin diejenige, die wie die Natur teilend und verbindend verfährt. „Die Bestandteile trennen sich leichter, um wieder neue Verbindungen einzugehen; diese können abermals aufgehoben werden und der Körper, der erst zerstört schien, liegt in seiner Vollkommenheit vor uns.“119 Doch für Goethe gibt es noch eine zweite, nicht weniger gewichtige Form des zerstörenden Analysierens, auch wenn er von demjenigen, der hierfür verantwortlich ist, weit weniger despektierlich als von Newton zu sprechen pflegt. Es ist Friedrich August Wolf (1759-1824), der ‚Zerschneider‘ und ‚Zerstückler‘ des Homerischen Werks. Zwar bezweifelt Wolf nicht, dass die homerischen Epen in ihrer überlieferten Gestalt trotz Spuren ‚rhapsodischer Zerrissenheit‘ den Eindruck der Einheitlichkeit machten120 – so kann er für die 114

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Vgl. z.B. Goethe.: Erläuterungen zu dem aphoristischen Aufsatz „Die Natur“ ([1828] FA II, 25, S. 81): „Die Erfüllung aber, die ihm [sc. dem Aufsatz „Die Natur“] fehlt, ist die Anschauung der zwei großen Triebräder der Natur: der Begriff der Polarität und von Steigerung, [...] jene ist in immerwährendem Anziehen und Abstoßen, dieses in immerstrebendem Aufsteigen.“ Vgl. auch Rolf Christian Zimmermann: Goethes „Faust“ und die Wiederkehr aller Dinge, in: Goethe-Jahrbuch 111 (1994), S. 171-185. Vgl. z.B. Goethe: Geschichte meines botanischen Studiums ([1806] HA 13, S. 155): „auch im Analysieren gewann ich etwas mehr Fertigkeit, doch ohne bedeutenden Erfolg; Trennen und Zählen lag nicht in meiner Natur“. Vgl. Goethes Ansichten dazu, inwiefern die Idee, Schönheit sei Vollkommenheit mit Freiheit, auf organische Naturen angewendet werden könne ([1794] HA 13, S. 21): „Ein organisches Wesen ist so vielseitig an seinem Äußern, in seinem Innern so mannigfaltig und unerschöpflich, daß man nicht genug Standpunkte wählen es zu beschauen, nicht genug Organe an sich selbst ausbilden kann, um es zu zergliedern, ohne es zu töten.“ Das wird auch bei Goethes geologischen Auffassungen deutlich; so kennt er faktisch nicht die Umgestaltung der Natur durch zerstörerische mechanische Kräfte, eher das Auslöschen durch langsame Verwitterung.. Goethe: Über die Gesetze der Organisation überhaupt ([1796] FA II, 24, S. 273). – Zumindest in den zerstörerischen Momenten projiziert er das auf Menschheitsgeschichte, vgl. Goethe am 10. Mai. 1806, vgl. ders.: Gespräche (I, S. 409); auch ders.: Winckelmann und sein Jahrhundert in Briefen und Aufsätzen [1805]. Mit einer Einleitung und einem erläuternden Register von Helmut Holtzhauer, Leipzig 1969, S. 210. Er selbst räumt ein, dass ihn allein die historisch-kritischen Überlegungen an eine spontane Lektüre hinderten, bei der auch er den Eindruck der Einheitlichkeit gewinne, vgl. Friedrich August Wolf: Kleine Schriften in deutscher und lateinischer Sprache [...]. Vol. I, Halle 1869,

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Odyssee feststellen: „nihil non bene continuatum, nihil praeposterum, nihil perturbatum, nihil hians“.121 Vielmehr sind es gerade die methodischen Überlegungen zum Vorgehen des Kritikers, nach denen sich aus Phänomenen der textuellen Oberfläche nicht auf die Überlieferung schließen lasse. In seinen Prologomena unterscheidet Wolf zwei Arten (genera) der Kritik: eine weniger strenge („leviore et quasi desultorio“) und eine strenge („perpetua et certis artis legibuis nixa recensio“). Die erste setze nur an Stellen an, die aufgrund von Phänomenen auf der textuellen Oberfläche Hinweise auf Zweifel an der Fehlerlosigkeit der Überlieferung bieten (weil sie gegenüber bestimmten – etwa ästhetischen – Erwartungen als abweichend erscheinen). Die strenge Kritik setze nicht erst bei der Wahrnehmung derartiger Abweichungen ein, sondern versucht sich bei allen Stellen der wahren Hand des Schriftstellers zu versi122 chern. Nach Wolf führt die erste Form der Kritik nur zur ‚recognitio‘, die zweite zur ‚iusta recensio‘. Da die Textkritik der Erforschung historischer Tatsachen gleichen soll, dürfe man bei der Fehlerlosigkeit der Überlieferung eines Textes nicht nach dem äußeren Eindruck der Wahrscheinlichkeit bzw. Glaubwürdigkeit gehen oder nach der Art und Güte der Darstellung, sondern notwendig sei die Prüfung nach dem Alter und der Qualität der Handschriften.123 Maßstab sei nicht die Übereinstimmung mit den von uns angenommenen Gesetzen der Dichtkunst (der sinnliche oder ästhetische Schein), sondern „quid ex historicis et criticis rationibus verisimile esse videatur.“124 In seiner Homer-Kritik entfaltet Wolf ein großes, gegliedertes Argument, bei dem er allein auf das zurückzugreifen versucht, was ihm historische Tatsachen sind – wie etwa beim Schrift-

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S. 208 (Praefatio zur Illias von 1795). Im Schreiben an Christian Gottlob Heyne, vgl. ders.: Ein Leben in Briefen. [....], besorgt und erläutert durch Siegfried Richter, Bd. 1, Stuttgart 1935, S. 192, sagt Wolf, dass man die „äußern Gründe“ umgehen könne und sie die „Prüfung“ der „inneren“ aushalten müssten, die den „Schluß erzwingen, beide Werke waren anfangs nicht auf den Plan großer weitläufiger Epopöen angelegt“. Friedrich August Wolf: Prolegomena ad Homerum sive der Operum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi [1795]. Curavit Rudolfus Peppmüller, Halle 31884 (ND Hildesheim 1963), pars I, § XXVII, S. 88. Vgl. ebd., S. 2: „ubique veram manum scriptoris rimatur; scripturae ciuiusque, non modo suspectae, testes ordine interrogat“. Vgl. ebd.: „Sed si textum scriptorum veterum supra recte [sc. Prooemium] retuli ad factorum historicorum spectationem, in eo constituendo nullam speciem probabilitatis ex sensu elegantiae ductam, verum proba et satis antiqua exemplaria principatum habe necesse est.“ Ebd., § XXX, S. 98. – Nur erwähnt sei, dass Wolf die antike Tradition der (Ana-)Lytiker erwähnt, welche die in den Texten auftretenden Probleme (Schwierigkeiten) aufzulösen versucht haben, vgl. ebd., XLII, S. 150: „Multi enim singulares partes utriusque muneris tractandas sibi sumpserunt singularibus scriptis, in quibus vel latentes sententiarum scrupulos tollerent, e quo numero erant ™nstatikoì et lutikoí .“

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gebrauch in der frühen Antike.125 Die mehr oder weniger einheitliche Gestalt der homerischen Epen verdanke sich des späteren Eingreifens etwa Aristarchs, seinem Genie, aber auch seiner Gelehrsamkeit – und (wie sich hinzufügen lässt) nicht einem ‚Wunder‘ oder dem ‚Zufall‘.126 Wenn Wolf auf diejenigen hinweist, die meinten, die Entstehung der Dinge und der Lebewesen zeuge nicht vom Walten eines göttlichen Geistes, sondern vom reinen Zufall, dann spricht er die Hoffnung aus, dass ihn niemand der Ansicht beschuldigen werde, die homerischen Werke hätten sich im Lauf der Zeit so herausgebildet.127 Wolf sollte sich täuschen. Die spätere Generation sieht sein Unternehmen eher in diesem Licht. Nach Karl Otfried Müller (17971840) – einen autoritative Stimme – sind es nicht so sehr die einzelnen Argumente von Wolfs Prolegomena gewesen, auf der seine Ergebnisse beruhten. Vielmehr sei es die „Grundansicht der Wolfischen Zeit von der Entstehung poetischer Kunstwerke und von dem Gange, den der menschliche Geist einschlagen muß, um zu solchen zu gelangen“, die Wolf den Homer „mit Scharfsinn und Witz“ verändert sehen ließ. Doch mittlerweile habe sich eine andere „ästhetische Ansicht“, die „organische Entwickelung“, durchgesetzt und die alte erscheine nun als „roh, äußerlich, atomistisch“.128 An anderer Stelle gibt Müller dem Bild noch stärker Konturen.129

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Vgl. ebd., § XII, S. 34: „minus succensebunt, ab Homero non tam cognitionem literarum quam usum et facultatem abiudicanti.“ Vgl. ebd., § L, S. 205: „Quid autem? si mirificium illum concentum revocatum inprimis Aristarchi eleganti ingenio et doctrinae debemus?“ Ebd., § XXXI, S. 102: „Non metuo, ne quis me similis temeritatis accuset, quum vestigiis artificiosae compagis et aliis gravibus causas adducar, ut Homerum non universorum quasi coporum suorum opificem esse, sed hanc artem et structuram posterioribus saeculis inditam putem.“ Karl Otfried Müller: [Rez.:] Sacra natalitia [...1828], in: ders.: Kleine deutsche Schriften […]. Erster Band, Breslau 1847, S. 398-400, hier S. 399. Karl Otfried Müller: [Rez.] De Historia Homeri […1831], in: ders.: Kleine deutsche Schriften (Anm. 128), S. 402-415, hier S. 402f: „Man hielt die Entstehung jener großen Ganzen für begreiflicher, wenn man sie in Stücke theilte, deren einzelne Abfassung der rudis antiquitas, die kluge Zusammmenkittung aber einem schon raffinirten Zeitalter zugeschrieben wurde; man ging so weit, die Bestandtheile von Ilias und Odyssee gleichsam wie Atome in einem wilden Chaos mannigfacher Poesieen umherschwimmen zu lassen, bis ein ordnender Geist sich ihrer bemächtigt und sie so schön verbunden habe. Seit der Zeit hat unsere Auffassungsweise der Kunst wie der Geschichte des menschlichen Geistes, wir dürfen wohl sagen, ähnliche Fortschritte gemacht, wie die philosophische Betrachtung der Natur. Man begreift, daß, was wahrhaft ein Ganzes in sich zusammenhängt, nur von einem innern Lebenskeime, welcher das ganze schon dynamisch in sich trägt, ausgehen kann; und man erkennt zugleich, nicht durch Anlegung des Richtscheits einer einseitigen Theorie, sondern durch ein lebendiges Eindringen in jene ältesten Kunstwerke der Griechenwelt, in ihnen einen organischen Zusammenhang, der alle Theile wie Glieder eines Körpers beherrscht. Solche Ansichten sind

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Obwohl im Großen und Ganzen ihre persönliche Beziehung weder kurzfristig noch langfristig durch Wolfs Zerstückelung des Homer getrübt wurde, hat sich Goethe bis an sein Lebensende nicht mit dieser ‚critica homerica‘ abfinden können. Wolfs Auffassungen waren alles andere als unstrittig (nicht wenige der Argumente haben sich später zudem als irrig herausgestellt), und obwohl Goethe die Ablehnungen der Auffassungen Wolfs und der ,Analytiker‘ durch die ,Unitarier‘ durchaus wahrnimmt, er sie mitunter auch hoffnungsvoll kommentiert und obwohl er mehr als in seiner Newton-Kritik nicht allein stand, hat er nicht in den Chor derjenigen eingestimmt, die den philologischen Argumenten Wolfs nicht zu folgen vermochten oder wollten. Vereinfacht gesagt, dürfte Goethe zunächst mehrere Arten von Kritik (der ‚analysis textus‘) 130 131 unterscheiden. Darunter gilt ihm die ‚sondernde und affirmative Kritik‘, die etwa Wolf betreibt, als das Erkennen des von Menschenhand deformierten Textes grundsätzlich als wünschenswert.132 Wolfs Fragmentierung, selbst nicht ohne lange Vorgeschichte, steht vor einem gewichtigen Hintergrund: Es ist die mit der Aufnahme der Quellentheorie Jean Astrucs (1684-1766) einsetzende ‚Zerstückelung‘ der Moses-Bücher. Ebenso wie die Frage der Einheit der homerischen Werke hat das zu lang anhaltenden Debatten geführt. Erst das erhellt die Koinzidenz, dass Goethe zur gleichen Zeit erneut Johann Gottfried Eichhorns Historisch-kritische Einleitung in das Alte Testament liest, welche die bisherigen Ergebnisse der textuellen Integrität des ersten Buches Mose kodifiziert, und ihm dabei „die wunderbarsten Lichter“ aufgehen.133 An anderer Stelle lässt Goethe von der Bibel sagen, dass sie als „ein täuschendes Ganzes entgegentritt“.134 Wenn auch in

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wohl Vielen gemein; obgleich nur Wenige sie sich zu einem klaren Bewußtsein gebracht und sie vernehmlich ausgesprochen haben.“ Vgl. Goethe: Dichtung und Wahrheit (HA 9, S. 509f.). Goethe, ebd. (HA 9, S. 511), spricht von seiner „Sonderungslust“ beim Alten und Neuen Testament. Vgl. am 23. 11. 1812 (HA Briefe 3, S. 206): „Höchst erwünscht ist jedem, der zu den Uranschauungen zurückehren möchte, die Kritik, die alles Sekundäre zerschlägt und das Ursprüngliche [...] wenigstens in Bruchstücken ordnet und den Zusammenhang ahnden läßt.“ In seinem bibelphilologischen Beitrag, vgl. ders.: Israel in der Wüste ([1797/1819] HA 2, S. 224), heißt es in diesem Sinn: „Kein Schade geschieht den heiligen Schriften, so wenig als anderen Überlieferung, wenn wir sie mit kritischem Sinne behandeln, wenn wir aufdecken, worin sie sich widerspricht und wie oft das Ursprüngliche, Bessere durch nachherige Zusätze, Einschaltungen und Akkommodationen verdeckt, ja entstellt worden. Der innerliche, eigentliche Ur- und Grundwert geht nur desto lebhafter und reiner hervor“. Goethe am 19. 4. 1797 an Schiller (ed. Staiger, S. 373). Wolf weist selbst auf diese Parallele hin, vgl. ders.: Prolegomena (Anm. 121), § XV, S. 47, Anm. 25; Anthony Grafton: Prolegomena to Friedrich August Wolf, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 44 (1981), S. 101-129, insb. S. 121ff, hat das nachdrücklich in Erinnerung gebracht. Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre ([1820/21], HA 8, S. 160).

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unterschiedlicher Weise, gehören beide Zerstückelungen zu den großen ‚Verunsicherungen‘ gegen Ende des Jahrhunderts. Wichtiger als die Frage nach Goethes Sicht der Bibelphilologie seiner Zeit, mit der er nicht allein aufgrund persönlicher Kontakte gut vertraut war, ist an dieser Stelle, dass Goethe unbeirrt daran festgehalten hat, dass sich der Wolfsche ‚Gewaltakt‘ heilen lasse. Nach Goethes Darlegungen in seinem Aufsatz „Analyse und Synthese“ betont er, dass nur das analysewürdig sei, was auch wirkliche Synthese ist: „daß jede Analyse eine Synthese voraussetzt.“135 Ohne Zweifel ist an dieser Stelle die Voraussetzungsrelation (auch) temporal zu verstehen. Goethe unterscheidet davon das, was nicht analysewürdig ist, und in der Sprache der Zeit handelt es sich dann nur um „eine Aggregation“.136 Diese Darlegungen zeigen nicht allein, wie Goethe sich am ‚ordo inversus‘ orientiert – denn zerlegte Ganzheiten als Aggregate lassen sich per definitionem restituieren. Das Problem ist vielmehr, dass nach den Untersuchungen Wolfs der Charakter der Synthese bei den homerischen Epen selbst für Goethe zweifelhaft sein muss. Sie erscheinen als Aggregat, als Rhapsodien137 und erlauben mithin auch keine Analyse im Sinn Goethes.138 Das Problem scheint Goethe gesehen zu haben, wie aus seinen zahlreichen Reaktionen auf Wolfs Zerstückelung Homers hervorgeht.139 Auch wenn sie nicht immer auf einer Linie liegen, wird ihre Ten-

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Goethe: Analyse und Synthese ([ca. 1829], HA 13, S. 51). Ebd., S. 52 „Rhapsodisch“ – ähnlich wie „Aggregat“ – wird in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. oftmals zur Charakterisierung eines spezifischen Typs von Ganzheit im Unterschied zum ‚System‘ verwendet, vgl. z.B. Kant: KrV, B 860 – raptein, zusammennähen. Ich kann hier nicht Goethes Gebrauch der Ausdrücke „Analyse“ und „Synthese“ analysieren, bei dem sich wie in der Tradition unterschiedliche Aspekte verbinden. Goethe kennt dabei(wohl aus seiner Schulzeit) auch den Begriff des Analysierens bei der Darlegung sprachlicher Konstruktionen, so in einem Brief vom 20. November 1774 (FA II, 2, S. 404). Wichtig für Goethes Sicht der für ihn akzeptablen Analyse und Synthese ist sein Vereinigungsversuch von „Sondern“ und „Verknüpfen“, die ihm als „unzertrennliche Lebensakte“ erscheinen, vgl. Goethe: Principes de Philosophie Zoologique discutés en Mars 1830 (FA II, 24, S. 810). Nicht selten verwendet Goethe zudem das in der Tradition von Analyse und Synthese gängige Bild das Auf- und Absteigens, z.B. im Blick auf das „Urphänomen“ in ders.: Farbenlehre. Didaktischer Teil 175 ([1810], FA 23/1, S. 81). Vielfach nimmt die Goethe-Forschung an, zumindest eine Verwendungsweise von ‚Analysis‘ oder ‚analytisch‘ entspreche ‚induktiv‘. Ich habe bei Goethe keine Stelle gefunden, die das erhärtet – nicht nur folgt das der Tradition, sondern auch dem Gebrauch bei Newton, was mitunter ebenfalls übersehen wird. Innerhalb weniger Tage scheinen sich dabei seine Stimmungen zu wandeln. In einem Brief an Schiller vom 29. April 1798 (ed. Staiger, S. 615) sollte man alle „Chorizonten“ verfluchen; im Schreiben vom 2. Mai (ebd., S. 620) spricht er von den „unzählichen Rhapsodien“, aus denen „die beiden überbliebenen Gedichte [scil. Ilias und Odyssee] so glücklich zusammengestellt wurden.“ Der von Goethe gewählte Ausdruck geht zurück auf die antiken Chorizonten (o¥ xwrízonteß), die aufgrund von Widersprüchen in den überlieferten Texten, diese zertrennt und verschiedenen Verfassern zugewiesen haben.

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denz deutlich – ein Beispiel: „Ein kaltes Analysieren zerstört die Poesie und bringt keine Wirklichkeit hervor. Es bleiben nur Scherben übrig.“140 Goethe gelangt zur Ansicht der Konstruktion der (ästhetischen) Einheit ex post141, und eine ‚retractatio‘ bietet in diesem Sinn sein Gedicht „Homer wieder Homer“: Scharfsinnig habt ihr, wie ihr seit, Von aller Verehrung uns befreit, Und wir bekannten überfrei, Daß Ilias nur ein Flickwerk sei. Mög’ unser Abfall niemand kränken; Denn Jugend weiß uns zu entzünden, Daß wir ihn lieber als Ganzes denken. 142 Als ganzes freudig Ihn empfinden.

Nicht mehr die Entstehung ist der Garant der Einheitlichkeit, sondern die ästhetische Wahrnehmung, die mit dem strengeren Verfahren der Kritik Wolfs nicht nur konfligiert, sondern sich über sie hinwegzusetzen vermag: Wir gehen von dem Grundsatz aus, daß der letzte Redacteur uns in seinem Sinne ein ganzes, ein Vollendetes geben wolle. Nun das darf ich ihm nicht hadern, ich muß es nehmen, wie er’s giebt; hier ist also die Wahl für jeden entweder Kritik oder Glaube. Die Kritik muß in ihrem vollen Rechte bleiben, niemand kann ihr vorschreiben, wie weit sie gehen solle; der Glaube jedoch läßt sich nicht irre machen, und wenn er dem Kritiker für die Vorbereitrung dankt, so läßt er sich im Genuß nicht stören.143

Es ist die „Wunderkraft“ der Einheitlichkeit (der organischen Ganzheit) des überlieferten Werks, auch ohne das einheitsstiftende ‚Genie‘: „In der Poesie ist die vernichtende Kritik nicht so schädlich. Wolf hat den Homer zerstört, doch dem Gedicht hat er nichts anhaben können; denn dieses Gedicht hat Wunderkraft wie die Helden Walhallas, die sich des Morgens in Stücke hauen und mittags wieder mit heilen Gliedern zu Tische setzen.“144 Es handelt sich nicht mehr allein um eine Kritik an der (übertriebenen) Zergliederung von Texten, sondern um die grundsätzliche Entgegensetzung unterschiedlicher Betrachtungsweisen ‚schöner Literatur‘ – mehr noch, es ist ein Echo der ursprünglichen Unterscheidung von ‚analysis‘ und ‚genesis‘, wenn es bei Goethe heißt:

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Goethe: Gespräche (GA 24, S. 400, vom 19. 8. 1806). Vgl. Goethe am 28. 4. 1824 (FA II, 10, S. 157): „denn es ist im grunde ganz einerlei, ob sich die Einheit am Anfang, oder am Ende bildet, der Geist ist es immer der sie hervorbringt [...]. Eben dies mag am Ende für den Homer gelten“. WA I, 3, S. 159. Goethe: Kunst und Alterum ([1821], zitiert nach Ernst Grumbach: Goethe und die Antike. Eine Sammlung, Postdam 1949, Bd. I, S. 203). Zu Eckermann am 1. 2. 1827 (FA II, 12, S. 234); hier werden auch die Moses-Bücher angeführt.

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„Ich als Dichter habe ein ganz anderes Interesse, als das der Kritiker hat. Mein Beruf ist zusammenfügen, verbinden, ungleichartige Theile in ein Ganzes zu vereinigen; des Kritikers Beruf ist, aufzulösen, trennen, das gleichartigste Ganze in Theile zu zerlegen.“145 Die Lösung des Konflikts mit seiner AnalyseSynthese-Auffassung, die in diesem Punkt der Tradition folgt, scheint Goethe mitunter zu erreichen, indem er die Temporalität der Voraussetzungsrelation preisgibt. Der Gegenstand der Analyse ist nicht mehr Ergebnis einer vorgängigen Synthese. Analyse und Synthese scheinen ein Akt zu werden.146 Neben dem Kritiker und der Kritik stehen unter ähnlicher Beschreibung der Naturwissenschaftler und die Naturwissenschaften, der Philosoph und die Philosophie.147 Der Gedanke, in dem das kulminiert, ist die Bedrohung des ‚ordo inversus‘: „Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen.“148 Vorstellungen über die Beziehungen zwischen ‚Teil‘ und ‚Ganzem‘

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Goethe im Frühjahr 1795 (Gespräche I, S. 229); sowie am 15. 9. 1804 (FA II, 4, S. 515): „Jeder Dichter baut sein Werk aus Elementen zusammen, die freylich der Eine organischer zu verflechten vermag, als der Andere, doch kommt es auch viel auf den Beschauer an, von welcher Maxime er ausgeht. Ist er zur Trennung geneigt, so zerstört er mehr oder weniger die Einheit, welche die Künstler zu erringen strebt; mag er lieber verbinden, so hilft er dem Künstler nach und vollendet gleichsam dessen Absicht“. Vgl. auch die Kritik an Friedrich Schlegel in Goethes Brief an Schiller vom 28. 4. 1797 (ed. Staiger, S. 384); ferner Goethes Überzeugung von der „Einheit und Untheilbarkeit“ der Ilias mitgeteilt am 16. 5. 1798 (ed. Staiger, S. 632), wo es heißt: „es lebt überhaupt kein Mensch mehr und wird nicht wieder geboren werden, der es zu beurteilen im Stande wäre. Ich wenigstens finde mich allen Augenblick einmal wieder auf einem subjectiven Urtheil. […]. Die Ilias erscheint mir so rund und fertig, man mag sagen was man will, daß nichts dazu noch davon getan werden kann.“ Ich kann hier auch nicht auf Vorstellungen einer ‚cognitio intuitiva’ (adaequata) eingehen, die bei Goethe eine Rolle spielen, nach der ein Zusammengesetztes (auch Sukzession) ‚auf einen Blick‘ oder ‚auf einmal‘, also simultan, intuitiv und deutlich erkannt wird. Vgl. Goethe am 5. 5. 1786 (HA Briefe 2, S. 423): „Wenn sie [sc. die Philosophie] sich vorzüglich aufs Trennen legt, so kann ich mit ihr nicht zurecht kommen und ich kann wohl sagen: sie hat mir mitunter geschadet, indem sie mich in meinem natürlichen Gang störte; wenn sie aber vereint, oder vielmehr wenn sie unsere ursprüngliche Empfindung als seien wir mit der Natur eins, erhöht, sichert und in ein tiefes, ruhiges Anschauen verwandelt, [...] ist sie mir willkommen“. Goethe: Ideen über organische Bildung ([1806/07], FA II, 24, S. 391). – Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. Bd. I [1969]. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, München 2002, S. 236, ist der Ansicht, dass Goethe Neuland (gegenüber der Hermetik) betrete, wenn er den Lebensbegriff auf menschliche Artefakte übertrage. Als Beleg dient ein Brief Goethes, in dem er Mendelssohn vorwirft „die Schönheit wie einen Schmetterling zu fangen, und mit Stecknadeln, für den neugierigen Beobachter festzustecken“, und er dem entgegensetzt: „der Leichnam ist nicht das ganze Thier, es gehört noch etwas dazu, noch ein Hauptstück [...] ein sehr hauptsächliches Hauptstück: das Leben, der Geist der alles schön macht.“ Zumindest

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bilden den wesentlichen Bestandteil der epistemischen Situation, in der sich ein bestimmtes Zerlegen von etwas in seinen ,Teilen‘ als Zerstückelung, als Zerstörung identifizieren lässt.149 Gegen Ende des Jahrhunderts bilden sich angesichts der ‚analysis‘ ähnliche Vorstellungen wie zuvor schon beim ,Lesens‘ im ‚liber naturalis‘, ‚liber supernaturalis‘ und im ‚liber artificialis‘. Schon lange früher finden sich zahlreiche, zum Teil komplexe mereologische Konzepte150 und entsprechend der angenommenen Innen- und Außenbestimmtheit von Ganzheiten ist es denn immer zu Zerstörungsphantasien gekommen, die freilich immer als Heterostereotype auftreten. Doch gegen Ende des 18. Jahrhunderts gilt mehr denn je, dass das Analysieren, das Anatomisieren, das Zerstückeln nicht mehr dem Erkennen hilft, sondern die für wesentlich gehaltenen Eigenschaften zu zerstören droht. Das, was entsteht, sind Anzeichen eines Auseinanderbrechens – nicht allein zwischen Dichter und Philosoph, sondern auch zwischen philologischer und ästhetischer Wahrnehmung des Textes.

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dieses „hauptsächliche[s] Hauptstück“ ist nach der Übertragung des Seelen- bzw. ‚forma‘Konzepts alles andere als neu. Vgl. z.B. Goethe: Studie nach Spinoza ([1784/85?] HA 13, S. 8): „In jedem lebendigen Wesen sind das, was wir Teile nennen, dergestalt unzertrennlich vom Ganzen, daß sie nur in und mit demselben begriffen werden können, und es können weder die Teile zum Maß des Ganzen noch das Ganze zum Maß der Teile angewendet werden.“ Oder ders.: Der Versuch als Vermittler ([1792] HA 13, S. 17): „In der lebenden Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem ganzen stehe.“ Vgl. Danneberg: Anatomie (Anm. 1), sowie Desmond Paul Henry: Medieval Mereology, Amsterdam u. Philadelphia 1991.

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Was ist Dichtung? „Was ist Dichtung?“ – Wer diese Frage stellt, sie gar zu beantworten gedenkt, gerät leicht in den Verdacht der Mystifikation, gar des Atavismus. Denn anders als die Frage „Was ist Literatur?“, die in systematischer und historischer Hinsicht zu verfolgen zu den vornehmsten Aufgaben der Literaturwissenschaft – der allgemeinen wie der vergleichenden – zählt,1 insinuieren das Wort und die Sache ‚Dichtung‘ Zeitenthobenheit und Ortlosigkeit, mithin Kategorien, die mit dem Verweis auf ‚Text‘, ‚Geschichte‘ und ‚Gesellschaft‘ als obsolet erklärt und jeglicher Diskussion entzogen wurden. Schon vor nunmehr dreißig Jahren hat Karl Otto Conrady ebenso bündig wie harsch konstatiert: „Die Worte Text und Autor sollten uns lieber sein als vorbelastete Begriffe“2 wie Dichtung und Dichter. In der Tat: Behauptungen wie die Heideggers in Holzwege sind – zurückhaltend formuliert – problematisch geworden, vermögen kaum mehr ‚prima facie‘ zu überzeugen: „Das Denken jedoch ist Dichten [...]. Das Denken des Seins ist die ursprüngliche Weise des Dichtens“ und „Wahrheit als die Lichtung und Verbergung des Seienden geschieht, indem sie gedichtet wird.“ Unabhängig davon, ob Heideggers Dichtungsbegriff goutierbar ist und er gar Anspruch auf Richtigkeit erheben kann, scheint mir eine Reflexion darüber, was Dichtung im durchaus emphatischen Sinne sei, unabdingbar – und dies nicht zuletzt deshalb, weil neben den Philosophen die Dichter selbst zu allen Zeiten sich darüber geäußert haben: poetisch, poetologisch und kritisch. Auf die Frage „Was ist Dichtung?“ bzw. „Was ist Poesie?“ hat Roman Jakobson vor nunmehr sieben Jahrzehnten die bekannte, meines Erachtens gültige, wenn auch nicht überzeitlich geltende Antwort gegeben: Dichtung bestimmt sich als Dichtung zuallererst durch ihre Poetizität, und das heißt: durch ihre Funktion bzw. ihre Leistung, die eine genuin poetische ist: „Gewinnt in einem Wortkunstwerk die Poetizität, die poetische Funktion, richtungsweisende Bedeutung, so sprechen wir von Poesie.“ Und wodurch manifestiert sich die poetische Funktion, die Poetizität? „Dadurch, daß das Wort als Wort und nicht 1 2

Siehe dazu zuletzt Joachim Küpper: Was ist Literatur?, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 45 (2000), S. 187-215. Karl O. Conrady: Gegen die Mystifikation von Dichtung und Literatur, in: Horst Rüdiger (Hg.): Literatur und Dichtung, Stuttgart u.a. 1973, S. 64-78, hier: S. 72. Das Heidegger-Zitat findet sich ebd. (Martin Heidegger: Holzwege, Frankfurt a.M. 1950, S. 59 und S. 303).

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als bloßer Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausbruch empfunden wird. Dadurch, daß die Wörter und ihre Zusammensetzung, ihre Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbständigen Wert erlangen.“3 Das Überzeugende an dieser Bestimmung liegt zunächst darin, dass nicht äußere Merkmale, wie Themen, Inhalte, Formen, Verfahren, Fiktionalität u.ä. und deren Kombination genannt werden, sondern einer spezifischen Funktion identifizierende Qualität zugesprochen wird.4 Überzeugend ist Jakobsons Vorgehen deswegen, weil mit der Bestimmung einer Sache oder eines Phänomens durch ihre spezifische Funktion Platons Konzept der Idee, des ‚Eidos‘, reaktiviert wird. Nach Platon ist es nämlich gleichfalls die Funktion bzw. die Leistung (das ‚Werk‘ einer Sache oder einer Handlung oder eines Phänomens), die über deren vielfältige und diverse Ausprägungen hinaus das Identische und das Konstante ausmacht.5 Um es am Beispiel des Bettes bzw. der Ruheliege, der klính zu erläutern – einem Beispiel, das Platon selbst im zehnten Buch der Politeia anführt:6 Ein bestimmter Gegenstand ist nicht schon deshalb ein

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Roman Jakobson: Was ist Poesie? [1934], in: ders.: Poetik – Ausgewählte Aufsätze 19211971, Frankfurt a.M. 1979, S. 67-82, hier: S. 79. Über die Funktion bestimmt Jan MukaĜovský die Dichtersprache (Über die Dichtersprache [1940], in: ders.: Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik, übers. von H. Grönebaum und G. Riff, München 1974 (Literatur als Kunst), S. 142-199, hier: S. 144): „Die Dichtersprache wird nur durch ihre Funktion anhaltend charakterisiert; eine Funktion ist jedoch keine Eigenschaft, sondern die Art und Weise, in der die Eigenschaften einer gegebenen Erscheinung ausgenützt werden. So gesellt sich die Dichtersprache zu den zahlreichen anderen funktionalen Sprachen, von denen jede eine Angleichung des Sprachsystems an irgendein Ziel des Ausdrucks bedeutet; Ziel des dichterischen Ausdrucks ist die ästhetische Wirkung. Die ästhetische Funktion jedoch, die so in der Dichtersprache dominiert [...], führt eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf das sprachliche Zeichen selbst herbei“. Zur Problematik, ja letztlich Unmöglichkeit einer Bestimmung poetischer Sprache vgl. Karlheinz Stierle (Gibt es eine poetische Sprache? [zuerst 1982], in: ders.: Ästhetische Rationalität – Kunstwerk und Werkbegriff, München 1997, S. 217-222), der gleichfalls MukaĜovský anführt und u.a. im Kontext von Roman Jakobson und Jurij Lotman diskutiert. Die Quintessenz Stierles, die auch unseren in der Folge entfalteten, doch anders perspektivierten Überlegungen zugrunde liegt, ist, dass die „poetische Abweichung nicht eine Abweichung auf dem Niveau der ‚poetischen Sprache‘ [ist], sondern eine Abweichung auf dem Niveau des Diskurses“ (ebd., S. 222). Darauf hat insbesondere Arbogast Schmitt hingewiesen in: Der Philosoph als Maler – der Maler als Philosoph. Zur Relevanz der platonischen Kunsttheorie, in: Gottfried Böhm (Hg.): Homo pictor, München u. Leipzig 2000 (Colloquium Rauricum, Bd. 8), S. 32-54. Diesem Aufsatz verdanke ich mit Blick auf Platons Mimesis-Konzept wichtige Anregungen. Von erhellender Klarheit bereits Hans-Georg Gadamer: Plato und die Dichter [1934], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 5, Tübingen 1985, S. 187-211. Platon: Politeia 596a-597e (zit. nach Platon: Werke in acht Bänden, griech.-dt., Bd. 4, Darmstadt 1971; der Ausgabe sind im Folgenden alle Zitate des griechischen Originals wie der deutschen Übersetzung entnommen). Außer dem Bett führt Platon auch den Tisch an (beide sind Produkte des Tischlers); in Kratylos 389c wählt Platon als Beispiel die Weberlade.

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Bett, weil er vier Beine und eine ebene Fläche hat, rechteckig ist und aus Holz – denn man kann ja auch ein Bett aus Stein fertigen oder aus Marmor, auch aus Metall, ihm diese oder jene äußere Form geben, es zudem unterschiedlich ausstatten; vielmehr ist ein bestimmter Gegenstand dann ein Bett, wenn er eine bestimmte Funktion erfüllt, also wenn man darauf liegen, ruhen oder schlafen kann. Über die Bestimmung bzw. die Erkenntnis der Funktion gerät das Identische im Diversen in den Blick, das sich vom abstrakt Schematischen grundlegend unterscheidet. Und das heißt auch: Die Bestimmung des Wesens bzw. der Identität einer Sache über ihre Funktion trägt der letztlich unendlichen Vielheit ihrer Erscheinungs- bzw. Realisationsweisen Rechnung und bringt sie auf den ‚Begriff‘: „Nämlich einen Begriff pflegen wir doch jedesmal aufzustellen für jegliches Viele, dem wir denselben Namen beilegen“ – sagt Sokrates, als er am Ende des Dialogs über die Erziehung zur Staatsführung noch einmal die Seinsweise der Dichtung, näherhin der dichterischen Darstellung, der Mimesis, erörtert.7 Der Begriff, im Sinne von eÎdoß bzw. œdéa, verweist aber auf die Leistung eines jeden Dinges bzw. Phänomens, auf seine Funktion.8 Dies ist der Grund, weshalb unsere Frage, was Dichtung sei, nicht mit der Nennung von ganz bestimmten Merkmalen beantwortet werden kann und darf, weniger noch mit der Nennung bestimmter poetischer Werke, vielmehr allein mit Blick auf die Funktion des Poetischen. Denn mit Blick auf die Funktion, die Leistung des Poetischen wird einsichtig, weshalb auch Dichtung sich immer in anderer Weise realisiert und gleichwohl mit sich identisch ist. Doch es bleibt darüber hinaus ein kleiner Rest mehr zu sagen: Wenn Jakobson und Platon darin übereinstimmen, dass die Identität einer Sache, hier der Dichtung, über ihre Funktion zu bestimmen ist, so stimmen sie keineswegs in der Bestimmung der Funktion von Dichtung überein. Die poetische Funktion, näherhin die Poetizität, ist eine Bestimmung, die genuin neuzeitlich, ja modern ist: Sie ist wesentlich auf das Ästhetische gerichtet. Und doch hat sie – wie ich zeigen möchte – ihre Voraussetzung, ja ihre Begründung in der platonischen Lehre von der Idee, wie sie auch der Lehre von der idealen Dichtung

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Ebd., 596a: eÎdoß gár poú ti ¹n ‚kaston eœýqamen tíqesqai perì ‚kasta tà pollá, oˆß ta¬tòn Ónoma ™piféromen. Und demgemäß betont Sokrates, dass der Hersteller eines jeden Geräts auf den Begriff ‚sieht‘, wenn er es verfertigt (ebd., 596b): O¬ koûn kaì eœýqamen légein ½ti ¦ dhmiourgòß ¢katérou toû skeúouß pròß tçn œdéan blépwn o‰tw poieî ¦ mèn tàß klínaß. Das Zitat (Anm. 7) und sein Kontext zeigen einmal mehr, dass es widersinnig ist anzunehmen, dass es zu jedem möglichen Prädikat auch eine Idee geben müsse, dass es mithin eine Idee des Bettes, des Tisches gebe; vielmehr gibt es ausschließlich „sachliche Inbegriffe möglicher Funktionen, spezifischer Leistungen von etwas“, die ‚eingesehen‘ werden über „Kriterien des Unterscheidens“ wie „Einheit, Vielheit, Ganzheit, Teil, Identität, Verschiedenheit, Gleichheit, Ruhe, Bewegung usw.“ (Schmitt: Der Philosoph als Maler [Anm. 5], S. 37, Anm. 15 und 49.)

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zugrunde liegt. Das heißt – und dies ist die These: Die Ästhetik der Moderne gründet in einer idealistischen Ethik und der sie fundierenden Philosophie; genauer: Die Ästhetik der Moderne wird e negativo zum ‚Platzhalter‘ platonischen Idealismus’. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese zunächst überraschende These mit Blick auf Antike, Renaissance und Moderne, paradigmatisch mit Blick auf Platon, auf Giovanni Francesco Pico della Mirandola und Pietro Bembo sowie auf Paul Valéry zu belegen. Bescheidener auch: Es soll der Versuch unternommen werden, eine Kontinuität im Bruch aufzuzeigen und zugleich eine Erklärung dafür zu finden, weshalb in der Dichtung der Moderne die Sprache selbst einen ästhetischen Eigensinn bzw. Eigenwert gewinnt. Leitend könnte – noch einmal – der Begriff der Mimesis sein – freilich mit Rücksicht auf sein historisch je differentes Verständnis. I Mimesis ist die wohl älteste und auch bekannteste Bestimmung von Dichtung überhaupt. Platon hat sie gegeben: Dichtung (poíhsiß)sei téxnh mimhtikë, sei – allgemein – Mimesis. Mit dieser Antwort ist man allerdings nicht sehr weit fortgeschritten auf dem Weg zu einer möglichen Annäherung an die Frage, was Dichtung sei; denn auch darüber, was denn Mimesis sei, herrscht weder in Platons Dialogen noch in der diese Dialoge erforschenden Literatur9 ein eindeutiges Verständnis. Im Gegenteil – es gibt erhebliche Unklarheiten, ja Widersprüche. Denn – so das konversationslexikalische Wissen – in der Politeia erfährt die Dichtung gerade wegen ihres mimetischen, und d.h. wegen ihres nur die äußere Wirklichkeit abbildenden Status’, eine mindere Bewertung, ja schroffe Ablehnung. Da Dichtung nur das bloße Äußere, das empirisch Wahrnehmbare abbilde, also ‚nachahme‘, vermöge sie nicht, eine über den schieren Schein hinausgehende Erkenntnis zu vermitteln: Truggebilde vereitelten die Schau der Ideenwelt, insofern sie auf das Unvernünftige der Seele wirkten, die schlechten Regungen in der Seele beförderten und gute Naturen verdürben. Infolgedessen sei Dichtung bis zum Erweis ihres Nutzens aus einem guten Staat auszuschließen.10 Dichtkunst also – und ich zitiere nun Platon – ist, „soweit sie darstellend ist“,11 „ein Verderb [...] für die Seelen der Zuhörer, sofern 9

10 11

Vgl. dazu Maria Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike – Neubetrachtung eines umstrittenen Begriffs als Ansatz zu einer neuen Interpretation der platonischen Kunstauffassung, Amsterdam u.a. 1993, sowie Ulrike Zimbrich: Mimesis bei Platon – Untersuchungen zu Wortgebrauch, Theorie der dichterischen Darstellung und zur dialogischen Gestaltung bis zur Politeia, Frankfurt a.M. u.a. 1984. Dies ist die Quintessenz des ersten großen Kapitels des zehnten Buches der Politeia (595a608b). Politeia 595a: †VKPLPKWLNë.

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sie [die Tragödiendichter und die übrigen Darstellenden] nicht das Heilmittel besitzen, dass sie wissen, wie sich die Dinge in Wahrheit verhalten“.12 Dieses bekannte und in der Folge näher erläuterte Verdikt gegen die Dichtung und die Dichter – die poíhsiß mimhtikë und diepoihtaìmimhtikoíim zehnten Buch der Politeia erfährt aber eine prinzipielle Einschränkung und zugleich eine nähere Erläuterung: Denn nur insoweit die Dichter „nicht das Heilmittel besitzen, dass sie wissen, wie sich die Dinge in Wahrheit verhalten“, und nur insoweit die Dichtung nur mehr Äußeres, das heißt sinnlich Wahrnehmbares ‚nachahmt‘, sie mithin den Schein und nicht das Sein darstellt, hat dieses Verdikt Geltung. Entscheidend ist nämlich die Erkenntnishaltung bzw. die Erkenntnisweise.13 In dieser Hinsicht unterscheidet Platon gleichfalls in der Politeia die Erkenntnisweise des Wissens (™pistëmh) die allein dem Philosophen und damit auch seinen Schriften eignet, und die Erkenntnisweise der Meinung (Gó[D) die entweder richtig oder falsch sein kann.14 Letztere Erkenntnisweise, die Erkenntnisweise der Meinung, eignet dem Dichter. Falsch ist die Meinung derer, die in der vordergründigen Empirie befangen bleiben, die „nichts verstehen vom bestimmten Sein (toû Óntoß , sondern nur vom Schein (toû fainoménou)“,15 die – mit anderen Worten – nicht ‚ontologisch‘ orientiert sind, sondern nurmehr phänomenologisch.  Aus der konkreten alltäglichen Erfahrung heraus stellen sie die Charaktere und deren Handlungen so dar, wie sie sich in Beliebigkeit und Zufälligkeit bieten: unausgeglichen, wechselhaft, schlecht. Das eigentlich Tadelnswerte daran aber ist, dass diese unausgeglichenen, wechselhaften Charaktere auch Göttern und Heroen zugeordnet werden, deren Charaktere qua conditione gut zu sein haben. Beispiel dafür ist die Darstellung des Heros Achill in Homers Ilias, der statt für die Sache der Griechen zu kämpfen, sein Gekränktsein lustvoll auslebt, mithin seinen Eigensinn dem Gemeinsinn überordnet. Dichter, die solches darstellen, dichten befangen in der falschen Meinung: Sie verfügen über keine allgemeinen Begriffe, an denen sie das empirisch Vereinzelte ausrichten könnten. Ihre Werke sind daher aus dem guten Staat zu verbannen. Nicht so die Werke derer, die eine ‚richtige Meinung‘ haben, genauer diejenigen Werke, die eine richtige Meinung zur Vorstellung bringen. Worin nun besteht diese richtige Meinung und worin aktualisiert sie sich? Sie besteht beispielsweise in dem Vermögen, gerechte Handlungen als solche richtig zu 12 13

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15

Politeia 595b: †soi mç Éxousi fármakon te efdénai a¬tà oˆa tugxánei Ónta. Dies wurde kürzlich noch einmal sehr überzeugend gezeigt von Stefan Büttner: Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen u. Basel 2000; seinen Ausführungen zu dieser Frage folge ich in diesem Abschnitt. Vgl. dazu Christoph Horn: Die Dichotomie von Wissen und Meinen in Buch V, in: Otfried Höffe (Hg.): Platon – Politeia, Berlin 1997 (Klassiker Auslegen, Bd. 7), S. 293-312 (dort auch weitere Literatur). Politeia 601b 9.

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erkennen, und sie aktualisiert sich in der Fähigkeit, gerechte Handlungen durch gerechte Charaktere sprachlich und stilistisch adäquat zur Darstellung zu bringen. Platon nennt Dichter, die auf diese Weise vorgehen, im Symposion ‚Heuretiker‘ (e©retikoí) in Unterscheidung von den Nur-‚Mimetikern‘. Heuretisch dichten jene insofern, als sie beim Auffinden, Auswählen und Darstellen der guten und gerechten Charaktere zumindest sich zu orientieren vermögen an den Ideen der Gerechtigkeit und dem Guten. Über ein genuines Wissen jedoch verfügen Dichter in keinem Fall – auch nicht die ‚Heuretiker‘. Das Wissen bleibt den Philosophen vorbehalten: Denn im Unterschied zum Philosophen ist der Dichter nicht in der Lage zu erkennen und zu bestimmen, was denn das allgemeine Gerechte, was die Idee von Gerechtigkeit und Gutem sei; er vermag aufgrund seiner richtigen Meinung, die eben kein Wissen ist, immer nur im einzelnen Fall einen Charakter (oder eine Handlung) als gerecht zu erkennen und als solchen auch darzustellen. Und doch schafft er im jeweils Gerechten und im jeweils Guten ein Abbild von der Idee der Gerechtigkeit und der ‚Gutheit‘ – und dies durch Ähnlichkeit mit dem Vorbild. Insofern ist ‚richtige‘ Dichtung in einem spezifischen Sinne auch Mimesis (Methexis im aristotelischen Verständnis), ist Dichtung über die Darstellung des guten Charakters und der dem Charakter entsprechenden guten Handlung hinaus Mimesis in einem allgemeineren Verständnis: nämlich Teilhabe am Sein – und dies durch Sprache, die durch Rhythmus (ÿuqmóß) und Melodie (¡rmonía, méloß) geordnet sein soll. Was darunter genau zu verstehen ist, erörtert Platon gleichfalls in der Politeia, und zwar gegen Ende des zweiten und zu Beginn des dritten Buches16 im Kontext der Überlegungen, welche Art der Erziehung dem Wächterstand zuträglich ist. Von Belang für unsere Fragestellung – was ist Dichtung? – ist das dort entwickelte Konzept der musischen Erziehung, zugleich ein Konzept, das Ethik und Ästhetik – um es modern zu formulieren – über den Mimesisgedanken in unaufhebbare Interrelation setzt. Der Argumentationsgang ist in Kürze folgender: Die Dichtung besteht aus ‚Inhalt‘ und ‚Form‘, aus lógoß bzw. legómena einerseits und léciß und méloßandererseits. Der ‚Inhalt‘ soll – im Blick auf die Arete – „schön erfunden sein“, und dies in der Darstellung der Götter wie der Menschen. Er hat im ethischen Sinne ein „schöner Mythos“ zu sein. Als Ethik generiert er die ihm analoge Ästhetik: über die ‚Form‘, die ihrerseits aus Lexis und Melos besteht. Denn die Lexis hat dem Logos, dem „schönen Mythos“, zu entsprechen, sie ist der Grad an Mimesis. Das Melos seinerseits umfasst Wort (Logos), Ton (Harmonie) und Takt (Rhythmus). Auch hier gilt: Das Wort hat „schön“ zu sein in theologischer wie ethischer Hinsicht; ihm gleichen sich Harmonie und Rhythmus an. Die Ästhetik ist mithin Folge der Ethik, insofern – um es noch einmal zusammenzufassen – der 16

Politeia 376e-403c.

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Inhalt sowohl die Form bestimmt, das heißt die Darstellungsweise, mithin den Grad des Mimetischen, wie die Musik, das heißt den Ton und den Takt. Ausdruck par excellence einer so gearteten Dichtung sind die Hymnen und Enkomien. Denn insbesondere haben die Dichter der Hymnen und Enkomien in ausgezeichnetem Maße eine ‚richtige Meinung‘ über Wesentliches, insofern diese gottbegeistert, enthusiasmiert sind.17 Die Fähigkeit der Enthusiasten, Intelligibles anschaulich darzustellen, ist nämlich in hervorragender Weise ausgeprägt, da sie sich ihres „göttlichsten Vermögens, des Intellektes, besonders bedienen“.18 Doch auch bei ihnen „ist der Intellekt nur am Einzelfall tätig – bewirkt daher Meinungen –, aber immerhin mit Sachverhalten beschäftigt, die weit über die Gegenstandswahrnehmung hinausgehen und von Platon die wichtigsten, schönsten und göttlichsten Güter genannt werden.“19 Insoweit es nun den Dichtern gelingt, ihre Aufgabe angemessen zu erfüllen, mithin gute Handlungen als Folge guter Charaktere in der jeweiligen sprachlich-formalen Adäquatheit darzustellen, ist ihre Dichtung auch vollkommen. In diesem Sinne lässt Platon Sokrates im dritten Buch der Politeia gelegentlich der soeben knapp resümierten Überlegungen über Wirkungsweise und Ziel der musischen Erziehung u.a. fragen: Aber das Wohlgemessene (tò eÚruqmon und Ungemessene (tò Árruqmon) wird jenes dem schönen Vortrage sich anbildend folgen, dieses dem entgegengesetzten, und das Wohlklingende (e¬ármoston und Mißklingende (˜nármoston gleichermaßen, wenn doch überhaupt Zeitmaß (ÿuqmóß und Gesangsweise (¡rmonía) nach der Rede (lógö sich richtet, und nicht die Rede nach ihnen?

Die rhetorische Frage wird sodann – vorläufig – beantwortet: Also Wohlberedtheit und Wohlklang und Wohlanständigkeit und Wohlgemessenheit, alles folgt der Wohlgesinntheit und Güte der Seele, [...] dem wahrhaft gut und schön der Gesinnung nach geordneten Gemüt.20

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18 19

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Von dem dichterischen Enthusiasmus handelt insbesondere Platons Ion. In diesem frühen Dialog wird sehr eindringlich deutlich gemacht, inwiefern es auch für Dichter notwendig wäre, über ‚Wissen‘ zu verfügen, denn – wie Gadamer (Plato [Anm. 5], S. 202) formuliert – „nur der Dichter [...], der wirklicher Erzieher und Gestalter der menschlichen Wirklichkeit wäre, könnte das Spiel der Dichtung aus wirklichem Wissen spielen“. Büttner: Literaturtheorie (Anm. 13), S. 373. Ebd. – Gadamer (Plato [Anm. 5]) nennt noch einen weiteren Grund dafür, dass die Hymnen und die Loblieder vor der Kritik Platons bestehen: sie sind nicht im engeren Sinne ‚mimetisch‘. Mit den Worten Gadamers (S. 206 f): „Loben ist nicht Darstellung von Löblichem. [...] im Loben liegt das Sichtbarwerden des Maßes, auf das hin wir uns in unserer Existenz verstehen. Vorbildliche Darstellung aber [...] ist ein Wirksamwerdenlassen des Vorbildes in und mit seiner Darstellung.“ Politeia 400d-e.

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Die Ästhetik ist damit eine Folge und ein Ausdruck der Ethik, die zumindest durch die ‚richtige Meinung‘ – wenn auch nicht das Wissen – der Dichter verbürgt ist. Die ‚richtige Meinung‘ aber ist Voraussetzung dafür, dass ein Dichter die stimmigen Relationen eines Charakters erkennt und diese wiederum in einer stimmigen Relation zu den Handlungen vor Augen führt, darstellt. Vollkommen ist ein dichterisches Werk, wenn in ihm die verschiedenen Handlungen eines Menschen in ihrer einheitlichen Zusammengehörigkeit dargestellt, wenn sie in ihrer Beziehung zueinander und ihrem Gewicht untereinander vorgeführt und mit dem Ganzen des dargestellten Charakters in Übereinstimmung gebracht werden. Die Vollkommenheit eines dichterischen Werkes ist damit die Folge und der Ausdruck einer vollkommenen sprachlichen Darstellung der in ihrer Vollkommenheit unverbrüchlichen Interaktion von Charakter und Handlung.21 Und diese ‚mimetische‘, ethisch-ästhetische Vollkommenheit ist letztlich idealistisch – und das heißt transzendent begründet in der Idee der Vollkommenheit; an ihr hat das dichterische Werk ‚mimetisch‘ teil: als Abbild, als ‚Eidolon‘ – und zwar vermittelt durch den Dichter, sofern dieser über die ‚richtige Meinung‘ verfügt bzw. ‚gottbegeistert‘ ist. Die Funktion der Dichtung besteht demnach in der Mimesis, in der ‚nachahmenden‘ Darstellung einer vollkommenen Handlung eines vollkommenen Charakters, mithin darin, Vollkommenheit zur Darstellung zu bringen. In der vollkommenen Erfüllung dieser Funktion aber zeigt sich Schönheit. Diese

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Was unter der Vollkommenheit eines Charakters und der diesem entsprechenden Handlung zu verstehen ist, macht unter anderem jene Passage deutlich, die das Spezifische der Gerechtigkeit bzw. des gerechten Charakters und seiner Handlungen benennt (Politeia 443d-e): „In Wahrheit aber war die Gerechtigkeit, wie sich zeigte, zwar etwas dieser Art, aber nicht an den äußeren Handlungen in bezug auf das, was dem Menschen gehört, sondern an der wahrhaft inneren Tätigkeit in Absicht auf sich selbst und das Seinige, indem einer nämlich jegliches in ihm nicht Fremdes verrichten läßt noch die verschiedenen Kräfte seiner Seele sich gegenseitig in ihre Geschäfte einmischen, sondern jeglichem sein wahrhaft Angehöriges beilegt und sich selbst beherrscht und ordnet und Freund seiner selbst ist und die drei in Zusammenstimmung bringt, ordentlich wie die drei Hauptglieder jedes Wohlklangs, den Grundton und den dritten und fünften, und wenn noch etwas zwischen diesen liegt, auch dies alles verbindet und auf alle Weise einer wird aus vielen, besonnen und wohlgestimmt, und so etwas verrichtet, wenn er etwas verrichtet, es betreffe nun Erwerb des Vermögens oder Pflege des Leibes oder auch bürgerliche Geschäfte und besondere Verhandlungen, daß er in dem allen diejenigen für gerechte und schöne Handlungen hält und erklärt, welche diese Beschaffenheit unterhalten und mit hervorbringen, und für Weisheit die diesen Handlungen vorstehende Einsicht“ (Kursivierung von Verf.). Sucht man diesen Charakter nun darzustellen – auf der Bühne (Mimesis) oder im Epos (Diegesis) –, wird man immer nur etwas Spezifisches und Individuelles, nicht etwas Allgemeines, dem Individuellen Zugrundeliegendes darstellen können.

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Schönheit ihrerseits zu schauen, das kálliston qéama, intendiert aber letztlich eine ‚Gleichwerdung mit Gott‘, 22 eine ¦moíwsiß qeþҏ23   II Der Unterschied zwischen dem platonischen Mimesis-Begriff, der ja – wie wir gesehen haben – zugleich ein spezifischer Kunstbegriff ist, und der Ästhetik der Neuzeit bzw. der Moderne ist beträchtlich. Und dies in mehrfacher Hinsicht. Der augenfälligste Unterschied ist der Verzicht auf eine ethische Begründung. Dies kann – sozusagen als ‚Entremets‘ in dem hier unternommenen Versuch einer historisch-systematischen Bestimmung von Dichtung – ein Blick auf die französische Klassik, mithin auf die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts deutlich machen. Der Bezugspunkt in poeticis ist – wie die Poetiken der Zeit zeigen – noch immer Aristoteles, der – nicht anders als Platon – die Dichtung als Mimesis bestimmte, genauer gesagt als Darstellung einer dem Charakter angemessenen Handlung – freilich ohne Letztbegründung in der Idea. Den soeben konstatierten Unterschied zwischen platonischem MimesisVerständnis – so, wie wir es in spezifischer Hinsicht definiert haben – und moderner Ästhetik kann eine aufschlussreiche Anekdote veranschaulichen, mit der die Entstehung von Racines wohl berühmtestem Bühnenstück, der 1677 uraufgeführten Tragödie Phèdre, auf einen zeittypischen literaturästhetischen Disput zurückgeführt wird.24 Gegenstand des Disputs ist die offensichtliche Disproportion zwischen der mythischen Vorlage und den moralischen und ästhetischen Anforderungen der Zeit; es geht um die Frage, ob Handlung und Charakter der Protagonistin vereinbar sind mit ‚bienséance‘ und ‚vraisemblance‘. Die Anekdote wurde von den Zeitgenossen folgendermaßen wiedergegeben: Racine behauptete, ein guter Dichter könne Nachsicht für die größten Verbrechen und sogar Mitgefühl für die Verbrecher erwirken. Er fügte hinzu, es bedürfe lediglich der Reichhaltigkeit, der Feinfühligkeit und der geistigen Schärfe, um das Erschrecken über die Verbrechen einer Medea oder einer Phädra so zu mindern, dass ihre Liebenswürdigkeit bei den Zuschauern gar Mitleid für ihr Unglück zu erwecken vermöchte. Da die Anwesenden ihm nicht zugeben wollten, dass dies mög-

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Es ist wesentlich, noch einmal zu betonen, dass es sich nur mehr um eine ‚Intention‘ des Dichterischen bzw. der Dichtung handelt, nicht um eine ‚Realisierung‘ der ‚Idea‘ der Vollkommenheit. Daher kann Dichtung qua Dichtung immer nur im Status des ‚Eidolon‘ bleiben, mithin die ‚Idea‘ bzw. das ‚Eidos‘ nur repräsentieren, niemals mit ihr bzw. ihm ‚übereinstimmen‘ bzw. identisch sein. Vgl. Theaitetos 176b 1-2: ¦moíwsiß qeþ katà tò dunatón vor allem auch Timaios 90a-d. Den Hinweis auf diese Passage verdanke ich Roland Galle: Die französische Klassik, in: Hans-Joachim Simm (Hg.): Literarische Klassik, Frankfurt a.M. 1988, S. 182-203.

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Maria Moog-Grünewald lich sei, und ihn wegen dieser außergewöhnlichen Ansicht gar lächerlich machen wollten, ließ ihn der Verdruss darüber mit der Arbeit an der Tragödie der Phädra beginnen, in der es ihm so gut gelang, deren Unglück als bedauernswert darzustellen, dass der Zuschauer mehr Mitleid mit der verbrecherischen Stiefmutter als mit dem tugendhaften Hippolyt hatte.25

Es bedarf nach dem soeben Gesagten kaum der Erwähnung, dass Sokrates Racines Phèdre „keinen Chor gegeben“ hätte.26 Die Intention, die moralische Dimension des Verbrecherischen durch ästhetische Verfahren zu neutralisieren, ja letztlich aufzuheben, wäre allerdings nicht allein in Antike und Mittelalter ein Skandalon gewesen: Auch für die ‚klassische Zeit‘, das ‚Siècle classique‘, war sie zunächst eher ungewöhnlich. Der Vorrang des Ästhetischen vor dem Ethischen, der sich ja vorzüglich in der ‚doctrine classique‘ widerspiegelt (auch und gerade dort, wo es scheinbar um ethisch-moralische Fragen geht), ja mehr noch das Supplement des Ethischen durch das Ästhetische ist aber eine Folge grundlegender Veränderungen philosophisch-erkenntnistheoretischer Observanz, ist Folge einer Immanentisierung der Transzendenz; sie führt – so könnte man auch sagen – zu einer Ontologisierung des Ästhetischen. Dieser Vorgang lässt sich an zahlreichen Texten der Epoche der Renaissance zeigen – an Kommentaren zu den Schriften Platons und insbesondere zur Aristotelischen Poetik (bspw. Robortello), aber auch an selbständigen Poetiken, die freilich immer auf die antiken Texte Bezug nehmen, sie als Autorität anführen. Von besonderem Interesse dürfte der vieledierte und vielzitierte Briefwechsel zwischen Giovanni Francesco Pico della Mirandola und Pietro Bembo aus den Jahren 1512 und 1513 sein. Dabei handelt es sich um drei Briefe: einen Brief Picos an Bembo, dessen Antwortbrief und einen weiteren Brief Picos.27 Die ersten beiden wurden 1518 veröffentlicht mit der genaueren Kennzeichnung ihres Themas bzw. ihres Gegenstands: De Imitatione – „über

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26 27

Œuvres de Jean Racine, éd. par Paul Mesnard, Paris 1885, III, S. 263: „Racine soutint, qu’un bon poëte pouvoit faire excuser les plus grands crimes, et même inspirer de la compassion pour les criminels. Il ajouta qu’il ne falloit que de la fécondité, de la délicatesse, de la justesse d’esprit pour diminuer tellement l’horreur des crimes de Médée ou de Phèdre, qu’on les rendroit aimables aux spectateurs au point de leur inspirer de la pitié pour leurs malheurs. Comme les assistants lui nièrent que cela fût possible, et qu’on voulut même le tourner en ridicule sur une opinion si extraordinaire, le dépit qu’il en eut le fit résoudre à entreprende la tragédie de Phèdre, où il réussit si bien à faire plaindre ses malheurs que le spectateur a plus de pitié de la criminelle belle-mère que du vertueux Hippolyte.“ So die Wendung des Sokrates mit Blick auf Aischylos in Politeia 383c, um zum Ausdruck zu bringen, dass Gotteslästerliches nicht auf die Bühne gebracht werden darf. Le Epistole „De Imitatione“ di Giovanfrancesco Pico della Mirandola e di Pietro Bembo, a cura di Giorgio Santangelo, Firenze 1954; vgl. außerdem Giovanni Francesco Pico della Mirandola u. Pietro Bembo: De l’imitation – Le modèle stylistique à la Renaissance. Traduction, notes et présentation de Luc Hersant. Introduction de Giorgio Santangelo, Paris 1996.

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die Nachahmung“. Die Herausgeber der älteren wie noch der jüngsten kritischen Ausgabe empfehlen diese kurzen Texte als Zeugnisse für die in der Epoche der Renaissance so virulenten Fragen nach einem Modell für die Literatur und nach der Modellhaftigkeit von Literatur; es werde eine für die zeitgenössische Diskussion der ‚imitatio auctorum‘ paradigmatische Kontroverse ausgetragen zwischen dem ‚Idealisten‘ und ‚Eklektiker‘ Pico della Mirandola und Pietro Bembo, dem vorzüglichen Kenner und Verteidiger der klassischen lateinischen Sprache, zudem Promotor der Vulgärsprache – des toskanischen Italienisch. Bembo vertritt den Standpunkt, dass als Modelle jeglichen literarischen Schaffens Cicero für die Prosa und Vergil für die Dichtung ausschließliche Geltung hätten. Die Begründung für Vergil: „Alle herausragenden Qualitäten aller Dichter werden in höchster und einzigartiger Vollkommenheit in ihm [sc. in Vergil] vorgefunden.“28 Und für Cicero gelte: „Dieser war nicht nur der beredteste von allen, vielmehr ist man der Auffassung, dass die Beredsamkeit selbst von ihm erst erschaffen worden sei.“29 Es sind also die Exzellenz, ja Einzigartigkeit und Vollkommenheit des Schriftstellers bzw. des Dichters, zugleich deren anerkannte Autorität, die sie zum Vorbild für eine Nachbildung machen. Freilich – so betont Bembo – sei unter einer ‚imitatio Ciceronis‘ bzw. einer ‚imitatio Virgilii‘ nicht eine sklavische Kopie, eine äffische Nachahmung von Sprache und Stil, Wortwahl, Syntax und Struktur zu verstehen, mithin das, was man als ‚Pastiche‘ bezeichnen würde. Vielmehr solle eine über Jahre sich erstreckende Lektüre der Werke Ciceros und Vergils zu einer stilistischen ‚Einübung‘ und somit zu einer größtmöglichen Vollkommenheit des eigenen Stils führen, ja mehr noch: Sie soll Voraussetzung dafür sein, die Vollkommenheit des Modells noch zu überbieten: ‚aemulatio‘ tritt an die Stelle von ‚imitatio‘. Mit dem Insistieren auf der Unverzichtbarkeit eines Modells, und zwar eines bestimmten und einzigen Modells, ripostiert Bembo auf die Vorstellung Picos, nicht ein modellhafter Autor sei zu imitieren, sondern viele in ihrer jeweiligen Vollkommenheit vorbildliche Autoren seien nachzuahmen: „alle guten sind nachzuahmen, nicht irgendein einziger, und wiederum nicht in allen Hinsichten“.30 Auffallend genug wählt Bembo sich diese Empfehlung als ‚Argument‘, nimmt sie wörtlich und sucht sie ad absurdum zu führen – so, als habe er nicht bemerkt, dass es Pico nicht darum gehen konnte, bald eine geglückte Metapher von diesem Autor, bald eine elegante Redewendung von

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Le Epistole (Anm. 27), S. 54: „omnes in uno illo [sc. in Virgilio] omnium poetarum [...] inveniri posse virtutes summa singularique dignitate“. Ebd., S. 55: „illum non modo omnium eloquentissimum fuisse, sed ab eo eloquentiam ipsam esse genitam atque natam putant“. Ebd., S. 24: „imitandum [...] bonos omnes, non unum aliquem, nec omnibus etiam in rebus.“

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jenem Autor zu übernehmen; so, als habe er nicht bemerkt, dass es Pico um anderes und um mehr geht. Das mag darin seinen Grund haben, dass die beiden Kontrahenten in ihren Vorstellungen letztlich gar nicht so weit voneinander entfernt sind, wie üblicherweise angenommen wird – allerdings sind beide jeweils weit entfernt von Platon. Worum geht es dem einen und dem anderen? Zunächst fällt auf, dass Bembo – ganz im Sinne seiner Zeitgenossen – unter ‚imitatio‘ nicht das versteht, was Platon und, in Varianz, Aristoteles unter Mimesis verstanden haben – auch wenn ‚imitatio‘ zumeist als Übersetzung von Mimesis galt. Denn es sollen ja nicht Handlungen als Ausdruck von Charakteren ‚nachahmend dargestellt‘ werden, sondern es soll eine bestimmte ‚écriture‘, ein rhetorischer und ein poetischer Stil ‚nachgeahmt‘, genauer: zum Modell genommen werden. Es werden also Bezugnahmen auf Autoren und deren künstlerische Werke empfohlen, die die Idee dessen, was Vollkommenheit in prosaischer und in poetischer Schreibweise sein kann, aufs Bestmögliche realisiert haben. Damit hat aber die Idee der Vollkommenheit in der Literatur bzw. in der Dichtung selbst Gestalt gewonnen, ist als solche quasi materialisiert und anschaulich und kann zum Vorbild werden – freilich zu einem Vorbild, das nicht etwa ein schwaches – da abkömmliches – Abbild auf den Plan ruft, sondern das seinerseits an Vollkommenheit noch übertroffen werden soll. Und mit folgenden Worten formuliert Bembo die ‚Regel der imitatio‘: „Deshalb ist in dieser ganzen Angelegenheit [der ‚imitatio‘] nach folgender Regel zu verfahren: Als Modell nachzuahmen ist der Beste von allen. Dieser ist so nachzuahmen, dass wir ihm zunächst gleichzukommen suchen, um dann mit allen Kräften danach zu streben, den noch zu überbieten, dem wir gleichgekommen sind“ („ut quem assequuti fuerimus, etiam praetereamus“).31 Imitatio soll zur Aemulatio werden – und dies mit Blick auf ein konkret Vollkommenes. Und das heißt: Das ‚Modell‘, das es nachzuahmen gilt, ist nicht (mehr) ein metaphysisch Vollkommenes, das nur noch ‚mimetisch‘ Darstellung findet, sondern ein ästhetisch Vollkommenes, das Anspruch auf unmittelbaren sprachlichen Ausdruck erhebt. Das bedeutet aber auch, dass Vollkommenheit im Sinnlich-Materiellen, genauer im sprachlichen Kunstwerk als realisierbar und als vorbildhaft erachtet wird. Über die konkrete Erscheinungsweise dieser Vollkommenheit erfahren wir hier, in diesem Brief, allerdings nichts. Doch wir wissen aus anderen Belegen und Zusammenhängen, dass darunter Concinnitas, Stimmigkeit, Ordnung verstanden wird. Die ‚Idee‘

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Ebd., S. 56 f.: „Quare hoc in genere toto Pice ea esse lex potest: primum, ut qui sit omnium optimus, eum nobis imitandum proponamus: deinde sic imitemur, ut assequi contendamus: nostra demum contentio omnis id respiciat, ut quem assequuti fuerimus, etaim praetereamus.“

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wird hier zum Ideal32 – eine Vorstellung, die den Klassiken eignen wird und die dafür verantwortlich ist, dass in der Epoche der Renaissance und noch in der französischen Klassik jene große Zahl von Poetiken verfasst wird. Das Entscheidende ist aber nun, dass die ‚Idee‘ – verstanden als Ideal – aufgrund der Lektüre-Erfahrung, hier der Lektüre Ciceros und Vergils als den vollkommensten Autoren, von dem Lesenden und Schreibenden selbst hervorgebracht wird, was das Vermögen der Imitatio und mehr noch der Aemulatio zu einem produktiven, einem schöpferischen Vermögen macht.33 Wenn demgegenüber Pico della Mirandola vorschlägt, nicht ein Modell sei zu imitieren, sondern alle guten, ja die besten, so scheint dies vorderhand ein argumentatives Zugeständnis an das allgemein virulente Postulat der ‚imitatio auctorum‘ zu sein. Der Imitatio-Gedanke wird dann aber zunächst so gewendet, dass die antiken Dichter und Philosophen darin zu ‚imitieren‘ seien, dass diese gerade nicht einander ‚imitiert‘ hätten: Der Stil des Aristoteles habe nichts gemeinsam mit dem Stil Platons, Cicero habe nicht Demosthenes sich zum stilistischen Vorbild genommen und wiederum habe Varro nicht Cicero imitiert – im Gegenteil: Jeder sei seinem eigenen Ingenium und seinem eigenen Talent gefolgt: „Genium propensionemque naturae eorum quisque sequebatur.“34 Selbst wenn – wie Aristoteles sagt – dem Menschen par excellence die Fähigkeit zur Nachahmung eigne, habe dieser doch von seiner Geburt an eine ihm eigene angeborene Neigung („proprium tamen et congenitum instinctum et propensionem animi nactus est ab ipso ortu“) – kurz: eine bestimmte Idee („Idea quaedam“), die fest in ihm verwurzelt sei („tamquam radix insit aliqua“). Diese ‚Idea‘ vermittele uns nun nicht nur eine Vorstellung vom richtigen Sprechen („recte loquendi“), vielmehr begabe sie unseren Geist mit dem Bild der Schönheit (im Lateinischen korrekter: „affingit animo pulchritudinis simulacrum“), dank dessen es uns möglich sei, Schönheit als solche zu erkennen und Schönheit in ihren jeweiligen Erscheinungen zu beurteilen. Damit ist die Idee des Schönen als des Vollkommenen überhaupt dem menschlichen Geist als Simulacrum eingeprägt. Infolgedessen sei ausschließlich das vollkommene sprachlich-rednerische Vermögen („dicendi perfecta facultas“) zu imitieren, das in uns selbst angelegt ist. Dabei sei es letztlich weniger von

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Vgl. hierzu das noch immer einschlägige Buch von Erwin Panofsky: IDEA – Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin 51985 (zuerst 1924). Analogie und Differenz zu Platon werden hier noch einmal deutlich: ‚Wohlberedtheit‘ und ‚Wohlklang‘ sind Folge der ‚Wohlgesinntheit und Güte der Seele‘, die wiederum intelligibel in Orientierung an der ‚Idee des Guten‘ in beständiger Übung zu eigen werden. Verkürzt um das Moment der Transzendenz wird in der Neuzeit bzw. der Moderne das Vermögen zu ‚Wohlberedtheit‘ und ‚Wohlklang‘, mithin zu künstlerischer Vollkommenheit, zu einem autonomen Vermögen, das sich als rein ästhetisches zudem an Künstlerisch-Ästhetischem orientiert. Le Epistole (Anm. 27), S. 27.

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Wichtigkeit, ob dieses Vermögen eine angeborene und von Anbeginn an vollkommene ‚Idee‘ ist („sive ea ipsa penitus innata sit idea, atque ab ipsa origine perfecta“) oder (ein partielles Zugeständnis an Bembo) ob es durch Lektüre vieler Autoren mit der Zeit erworben worden ist: Selbstschöpferisch-produktiv ist dieses Vermögen in beiden Fällen.35 Es ist für die rechte Einschätzung von Picos ‚Idea‘-Begriff nicht unwesentlich, dass dieser sich – insbesondere im zweiten Brief – auf Cicero selbst beruft und aus dessen Orator mehrere Stellen zitiert; von herausragendem Interesse ist der Passus, in dem es mit Bezug auf Phidias heißt, dass dieser kein konkretes Modell gehabt habe, als er die Gestalt des Zeus oder der Athene geschaffen habe; vielmehr schwebte ihm im Geiste ein Bild außergewöhnlicher Schönheit vor, das er anschaute und auf das konzentriert er nach diesem Vorbild seine Künstlerhand lenkte. Es gibt also in den Formen und Figuren der bildenden Kunst etwas Außerordentliches, Vollkommenes, an dessen Gedankengebilde sich bei der Nachahmung jene Züge orientieren, die sonst an sich nicht vor Augen kommen; ebenso sehen wir auch im Geiste ein Bild der vollkommenen Beredsamkeit, dessen Abbild wir mit unseren Ohren aufzunehmen trachten. Diese Urbilder der Dinge bezeichnet Platon als „Ideen“, er, der tiefsinnigste Schöpfer nicht nur der Einsicht, sondern auch der Aussage. Er lehrt, jene Ideen entstehen nicht (easque gigni negat), sondern bestehen immerfort und gehören dem Bereich der geistigen Einsicht an; alles Übrige entsteht und vergeht, fließt dahin und entschwindet und verharrt nie länger in ein und demselben Zustand.36

Soweit das Zitat, wie es Pico übernommen hat. Bereits Cicero hat also die platonische ‚Idea‘ mit einer dem Geist des Künstlers bzw. des Dichters innewohnenden „künstlerischen Vorstellung“ gleichgesetzt. Wesentlich für unsere Überlegungen aber ist, dass Pico (noch vor Melanchthon) diesen Passus von Cicero übernimmt, um sein Konzept der ‚imitatio‘ zu formulieren und es zugleich durch Berufung auf eine Autorität zu legitimieren. Pico versteht ‚imitatio‘, und das heißt ja eben auch Dichtung, weder als ‚Nachbildung‘ einer nur den trügerischen Sinnen gegebenen äußeren ‚Wirklichkeit‘, nicht einmal als deren idealisierende ‚Nachbildung‘, auch nicht als strenge ‚Nachbildung‘ eines künstlerischen bzw. dichterischen Modells, sondern vielmehr als Folge und 35 36

Alle vorausgegangenen Zitate und Paraphrasen ebd., S. 27f. Ebd. S. 65: „sed in ipsius, inquit [sc. Cicero], mente insidebat species pulchritudinis eximia quaedam: quam intuens, in eaque defixus ad illius similitudinem artem manumque dirigebat. Ut igitur in formis et picturis est aliquid perfectum et excellens: cuius ad excogitatam speciem imitando referuntur ea, quae sub oculos ipsa non cadunt: sic perfectae eloquentiae speciem non videmus, effigiem auribus quaerimus. Has rerum formas appellat Ideas ille non intelligendi solum, sed etiam dicendi gravissimus autor Plato: easque gigni negat: et ait semper esse, ac ratione et intelligentia contineri. Caetera nasci, fluere, occidere, labi, nec diutius esse uno eodem statu“. Zitiert ist mit geringen Abweichungen Cicero: Orator 9-10.

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Ausdruck einer im Künstler bzw. Dichter selbst angelegten, ihm quasi eingeborenen ‚Idea‘ vom Vollkommenen und vom Schönen. Wie Erwin Panofsky bereits zutreffend festgestellt hat: Die „transzendenten Wesenheiten Platos“ werden – philosophisch gesprochen – ersetzt durch „immanente Bewußtseinsinhalte“, an die Stelle der metaphysischen o¬sía treten die jeglicher Erfahrung vorausgehenden ™nnoëmata, stoisch gesprochen die ‚notiones anticipatae‘ oder – cartesisch gesprochen – die ‚idées innées‘.37 Dabei wird aber – wie wir schon bemerkten – die Transzendenz nicht aufgehoben, sondern in die Immanenz hereingeholt und dies – wie nun kurz zu zeigen ist – in einer zweifachen Inversion der Platonischen Ideenlehre. Die konzeptuelle Immanentisierung der platonischen ‚Idea‘ göttlicher Vollkommenheit wurde bereits ermöglicht durch den spätantiken Platonismus, insbesondere durch Plotin. Es war Plotin, der dem Éndon eÎdoß, dem ‚inneren Bild‘ des Künstlers einen metaphysischen Anspruch auf den Rang eines „vollkommenen und erhabenen Urbildes“38 zusprach. In Differenz zur primär kunstpsychologischen Bestimmung der ‚Idea‘ bei Cicero gewinnt mit Plotin, dem spätantiken Platonismus und sodann dem Neuplatonismus der Renaissance die Bestimmung der ‚Idea‘ ihre kunstmetaphysische Dimension zurück. Die unerhörte Neuerung Picos – und damit die zweite Inversion – besteht nun gegenüber Plotin und auch dem Neuplatonismus seiner Zeit darin,39 dass die Vollkommenheit, mithin absolute Schönheit, nicht mehr nur als ‚endogenes Konzept‘ des Künstlers bzw. Dichters der künstlerischen Materialisierung vorgängig und damit überlegen bleibt,40 sondern den Anspruch erhebt, sich in 37 38 39 40

Siehe Panofsky: IDEA (Anm. 32), S. 1ff., S. 12f.; hier: S. 9. Ebd. Hier ist vor allem Ficino zu nennen, vgl. dazu Werner Beierwaltes: Marsilio Ficinos Theorie des Schönen im Kontext des Platonismus, Heidelberg 1980. Vgl. dazu Plotin: Enneades V,8,3 (zit. nach: Plotins Schriften, übers. von Richard Harder. Neubearbeitung mit griech. Lesetext und Anm. fortgeführt von Rudolf Beutler u. Willy Theiler, Hamburg 1964, III a: Text, S. 35f.): „so erscheint der Stein, der durch die Kunst zur Schönheit der Gestalt gebracht worden ist, als schön, nicht weil er Stein ist [...], sondern vermöge der Gestalt, welche die Kunst ihm eingab. Diese Gestalt nun hatte nicht die Materie, sondern sie war in dem Ersinnenden, noch ehe sie in den Stein gelangte; und zwar war sie in dem Künstler, nicht sofern er Augen und Hände hatte, sondern weil er an der Kunst teilhatte. Es war also in der Kunst diese Schönheit als weit höhere; denn nicht die Idee, die in der Kunst ist, gelangte in den Stein, sondern sie bleibt dort, und von ihr geht eine andere aus, die geringer ist als sie; und auch diese blieb nicht rein in ihm, noch wie die Kunst es möchte, sondern nur soweit der Stein der Kunst gehorchte. Und wenn die Kunst eine Beschaffenheit hervorbringt, die wiedergibt, was sie selber ist und hat, wobei sie ein Ding schön macht vermöge des formenden Begriffes desjenigen, was sie hervorbringt, so ist sie in einem größeren und wahreren Sinne schön, da sie gewiß eine größere, schönere Schönheit besitzt, als was in den Außendingen hervortritt. Denn eben um so viel, als sie sich in die Materie hinausschreitend ausgedehnt hat, ist sie kraftloser als jene, welche in dem Einen verharrt“ (Hervorhebung von Verf.). Auf diesen Sachverhalt hat sehr eindrücklich bereits Oskar Walzel: Plotins Be-

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der Dichtkunst selbst zu ‚materialisieren‘ – ein Paradox, das die Herausforderung par excellence für die Dichtung der Moderne darstellen wird. Bevor dies näher zu erläutern ist, in aller Knappheit ein weiteres und letztes, die Ausführungen zu Pico della Mirandola ergänzendes Beispiel: eine Passage aus Giordano Brunos De gli eroici furori, die ja als ein Amalgam antiker, spätantiker und neuzeitlicher Philosopheme erachtet werden können, insonderheit allerdings eine idiosynkratische Ästhetisierung des Platonismus darstellen. Zu Beginn des dritten Dialogs des ersten Teils meint der Gesprächspartner Tansillo, dass es mehrere Formen der ‚Leidenschaften‘, der ‚furori‘ gebe, die sich aber im Wesentlichen auf zwei Grundformen zurückführen ließen: Die eine zeuge von nichts anderem als Blindheit, Dummheit und unüberlegtem Ungestüm und könne bis zu tierischem Unverstand gehen. Die andere aber bestünde in einer göttlichen Entrücktheit, die manch einen zu einem besseren als den gewöhnlichen Menschen werden lasse. Davon aber gebe es zwei Arten: In den einen nun hausen die Götter oder göttliche Geister. Sie sagen oder tun Wunderdinge, ohne dass sie oder andere den Grund dafür verstehen.41

Sie seien ‚reines Gefäß‘ Gottes und sprächen nicht aus eigenem Denken und eigener Erfahrung heraus, vielmehr sprächen oder handelten sie mittels einer höheren Intelligenz. Die anderen hingegen seien in philosophischen Betrachtungen geübt und mit einem leuchtenden, einsichtsfähigen Verstand begabt: Aus innerem Antrieb und natürlicher Inbrunst, die von der Liebe zu Gott, Gerechtigkeit, Wahrheit und Ruhm geweckt worden ist, schärfen sie im Feuer der Sehnsucht und im Wind des Wollens ihre Sinne und zünden im Schwefel der Erkenntnisfähigkeit das Verstandeslicht an, mit dem sie mehr als gewöhnlich sehen. Diese sprechen nicht als Gefäße und Werkzeuge, sondern als Künstler, die selbst Anfang und Ursache ihrer Tätigkeit sind: come principali artefici et efficienti.42

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griff der ästhetischen Form [1915], in: ders.: Vom Geistesleben alter und neuer Zeit, Leipzig 1922, S. 1-57 hingewiesen. Walzel hebt hervor, dass Plotin zu Recht keine Ästhetik der äußeren Form formuliert, sondern die Überlegenheit der künstlerischen Vision vor aller Versinnlichung im Sinne von ‚Materialisierung‘ betont. Den Unterschied zwischen Platon und Plotin kennzeichnet Walzel wie folgt (S. 33 f.): „Für Platon ist die schöne Erscheinung Abbild einer schönen Idee, also eines schönen Urbilds, das über alle Erfahrung hinausliegt. Für Plotin ist die schöne Erscheinung auch nur das Abbild eines Höheren; aber dieses Höhere, Bessere, Echtere trägt der Künstler in seinem Geiste.“ Giordano Bruno: De gli eroici furori, in: ders.: Dialoghi filosofici italiani, a cura e con un saggio introduttivo di Michele Ciliberto, Milano 2000, S. 805: „altri per esserno fatti stanza de dèi o spiriti divini, dicono e operano cose mirabile senza che di quelle essi o altri intendano la raggione.“ (In der Übersetzung folge ich – mit leichten Veränderungen – der bei Meiner erschienenen Ausgabe Von den heroischen Leidenschaften, übers. und hg. von Christiane Bacmeister, mit einer Einleitung von Ferdinand Fellmann, Hamburg 1989). Ebd.: „da uno interno stimolo e fervor naturale suscitato da l’amor della divinitate, della giustizia, della veritade, della gloria, dal fuoco del desio e soffio dell’intenzione acuiscono gli

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Es sind nun diese Philosophen-Dichter bzw. Dichter-Philosophen, die – ‚heroisch in ihrem Furor‘ – das Ideal der Vollkommenheit erstreben – in der Gewissheit freilich, es nie zu erreichen, doch in eben der Unerreichbarkeit des Ideals gerade die Voraussetzung ihres rastlos ‚glühend-strebenden Furors‘ erkennend. Zur Veranschaulichung dieser als unendlich gedachten Annäherung wählt Bruno das Bild des unendlichen Umkreisens: Es ist weder natürlich noch angemessen, dass das Unendliche erfasst werde, auch kann es sich nicht endlich geben. Dann wäre es ja nicht unendlich. Vielmehr ist es angemessen und natürlich, dass das Unendliche, weil es unendlich ist, ohne Ende verfolgt werde. Und dies in einer Weise der Verfolgung, die keine physische, sondern eine gewisse metaphysische Bewegung ist. Sie geht nicht vom Unvollkommenen zum Vollkommenen, sondern umkreist die Stufen der Vollkommenheit, um jenen unendlichen Mittelpunkt zu erreichen, der weder geformt noch Form ist.43

Der hierarchisch gestufte Weg des Aufstiegs, der bildhaft die platonische wie plotinische Erkenntnistheorie zur Vorstellung bringt und der – platonisch – in der ‚Einsicht‘ in das Wahre, Gute und Schöne sein Ende findet bzw. – plotinisch – im Ende wieder als Abstieg seinen Anfang nimmt, ist bei Bruno ersetzt durch eine unendliche Annäherung vom jeweiligen und damit immer nur vorläufig Vollkommenen an das absolut Vollkommene, das sich seinerseits immer erneut entzieht. Der durch den ‚Willen‘ angestoßene ‚Intellekt‘, der diese unendliche Bewegung vollzieht, gewinnt aber die Qualität dessen, was spätestens seit Coleridge mit dem Begriff der ‚Imagination‘ (‚imagination‘ in Unterscheidung von ‚fancy‘) gekennzeichnet wird, jenes autonomen Vermögens, das – um mit Baudelaire zu sprechen – den Künstler in den Stand setzt, ein ‚Idéal‘ ‚in aestheticis‘ wenn nicht zu realisieren, doch zu intendieren: in Sprache und als Sprache, die sich als eine exklusiv poetische verstehen will, genauer: in Poesie und als Poesie.44 Es ist nun bereits die dialogische Struktur der Eroici furori, dieses zweiteiligen prosimetrischen Textes, die eben jene unendlich kreisende Bewegung des ‚intelletto‘ – im Verständnis von Imagination – ‚nachzubilden‘ sucht in der poetischen Entfaltung eines philosophischen Theo-

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sensi, e nel solfro della cogitativa facultade accendono il lume razionale con cui veggono più che ordinariamente: e questi non vegnono al fine a parlar et operar come vasi et instrumenti, ma come principali artefici et efficienti.“ Ebd., S. 824 f.: „non è cosa naturale né conveniente che l’infinito sia compreso, né esso può donarsi finito: percioché non sarrebe infinito; ma è conveniente e naturale che l’infinito per essere infinito sia infinitamente perseguitato (in quel modo di persecuzione il quale non ha raggion di moto fisico, ma di certo moto metafisico; et il quale non è da imperfetto al perfetto: ma va circuendo per gli gradi della perfezione, per giongere a quel centro infinito il quale non è formato né forma.“ Vgl. dazu das in Anm. 4 Bemerkte, insbesondere den dort angeführten Aufsatz von Stierle.

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rems,45 die intendiert, über die Paradigmen ihres Syntagmas ein ‚objektives Korrelat‘46 ihrer ‚Idea‘ zu werden, um die absolute Vollkommenheit und absolute Schönheit zu repräsentieren. Damit aber ist jenes Paradox auf den Plan gerufen, das bereits Platon im zehnten Buch der Politeia mit Blick auf die Malerei, die zugleich für die Dichtung einsteht, als rhetorische Frage formulierte: „Was intendiert die Malerei? Das Seiende nachzubilden, wie es ist [sich verhält], oder das Erscheinende [nachzubilden], wie es erscheint, ist sie Nachbildung der Erscheinung oder der Wahrheit?“47 ‚Nachbildung des Seienden, wie es ist‘ ist aber ein Paradox, ein Widerspruch in sich selbst, insofern das Seiende nur mit sich selbst identisch sein kann; ‚Nachbildung des Erscheinenden, wie es erscheint‘ ist aber eine Tautologie, insofern Nachbildung sich immer schon auf das Erscheinende bezieht. Und dennoch: Die Wortfügung ‚Nachbildung des Seienden‘, mímhsiß toû Óntoß bzw. mímhsiß têß ˜lhqeíaß ist intrikat: Sie impliziert die grundsätzliche Möglichkeit – verstanden als Intention –, das Seiende bzw. das Sein darzustellen: jenseits der Medien, der sprachlichen Laute, gar der Schrift, der Farben und der Linien, kurz: jenseits der Materialität der Zeichen, mithin unvermittelt. III Die ihr eigene Materialität zu überschreiten ist denn auch die Intention moderner Dichtung. Unmittelbarkeit zu inszenieren in der Transzendierung der Sprachimmanenz ist ihr herausragendes Kennzeichen. In dieser Intention werden die Möglichkeiten der Sprache, genauer: des sprachlichen Diskurses bis an die Grenzen ausgelotet. Ziel ist reine, ist absolute Poesie, in der Zeichen und Bezeichnendes übereinzukommen suchen, in der Referentialität auf ein Minimum schwindet, mithin – platonisch gesprochen – ‚Mimesis des Scheins‘ in ‚Mimesis des Seins‘ übergeht – ein Paradox, das, realisiert als Poiesis, zur Doxa der Moderne werden wird. Paul Valéry hat dies in einem frühen, Poésie pure betitelten Essay wie folgt formuliert: wenn es dem Dichter gelingen könnte, Werke zu konstruieren, wo nichts mehr von allem, was Prosa ist, in Erscheinung träte, Gedichte, in denen die musikalische Kontinuität niemals unterbrochen wäre, in denen sogar die Bedeutungsbeziehun45

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Es ist erstaunlich, dass – soweit ich sehe – weder die philosophische noch die eher spärliche literaturwissenschaftliche Forschung zu Bruno beziehungsweise zu den Eroici furori dies bemerkt und daraus Konsequenzen für die Poetik und Poetologie der Moderne gezogen hat. Vgl. Stierle: Gibt es eine poetische Sprache? (Anm. 4), S. 223f., der damit einen Begriff von Thomas S. Eliot (‚objective correlative‘) aufnimmt und ihn zu Recht mit Diderots Verständnis von ‚Hieroglyphe‘ parallelisiert. Politeia, 598b: pótera pròß tò Ón, ªß Éxei, mimësasqai, Ç pròß tò fainómenon, ªß faínetai, fantásmatoß Ç ˜lhqeíaß oÛsa mímhsiß;

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gen fortwährend den harmonischen Verhältnissen entsprächen, [...] Gedichte, in denen das Spiel der Bilder die Wirklichkeit des Themas enthielte – dann könnte man von reiner Poesie sprechen wie von etwas, das es gibt.48

‚Absolut‘ bzw. ‚rein‘ ist Dichtung, wenn sie auf nichts anderes denn auf sich selbst zurückverweist, wenn der Diskurs Relationen generiert, die in ihrer Folge eine eigene intrinsische semantische Valenz gewinnen unter Aufgabe jeglicher äußerer Bezüglichkeit, wenn, wie bereits Jakobson gültig festgestellt hat, das Paradigma das Syntagma überlagert.49 Daher ist Ort des Poetischen par excellence die Metapher.50 In der Metapher findet sich materialiter jene Immanentisierung der Transzendenz, die für Platon eine Absurdität gewesen wäre, die sodann vom Platonismus der ‚Idea‘ des Dichters als Vermögen zugeschrieben wird und die schließlich Pico und deutlicher noch Bruno als Möglichkeit des poetischen Werkes anvisieren. Das poetische Werk, die Dichtung, soweit sie in der ‚Metapher‘ ihren Topos gefunden hat, ist Autopoiesis schlechthin, ist Materie gewordene Idee. Als solche ist Dichtung ‚Ersatz‘ für eine Transzendenz, genauer gesagt für die platonische Konzeption der ‚Idea‘, die sie zwar qua Materie negiert, doch zugleich positiviert im Versuch, die Materie wiederum zu transgredieren, ja zu annihilieren. Eben dies ist aber bloß annähernd, nicht absolut möglich: Die Konzeption einer reinen Poesie ist die eines unerreichbaren Typus, eines idealen Grenzwertes der Wünsche, Bemühungen und Fähigkeiten des Dichters.51

Der Grund liegt in der Eigentümlichkeit der Sprache selbst, immer nur Medium sein zu können, liegt in ihrer letztlich unaufhebbaren Vermitteltheit – wie Platon bereits in Kratylos festgestellt hat –, deretwegen sie von der ‚Idea‘, vom ‚Eidos‘ abkömmlich ist. Gleichwohl ist die ‚Idea‘ der Ort poetischer Orientierung, bleibt sie als Ausdruck der Vollkommenheit das „Faszinosum des Imagi-

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Paul Valéry: Zur Theorie der Dichtkunst und Vermischte Gedanken, in : ders.: Werke, Bd. 5, hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a.M. 1991, S. 73. – Paul Valéry: Œuvres I, Paris 1957 (Bibliothèque de la Pléiade), 1463: „si le poète pouvait arriver à construire des œuvres où rien de ce qui est de la prose n’apparaîtrait plus, des poèmes où la continuité musicale ne serait jamais interrompue, où les relations des significations seraient elles-mêmes perpétuellement pareilles à des rapports harmoniques, […] où le jeu des figures contiendrait la réalité du sujet, – alors l’on pourrait parler de poésie pure comme d’une chose existante.“ Vgl. dazu Roman Jakobson: Linguistik und Poetik [1960], in: ders.: Poetik – Ausgewählte Aufsätze 1921-1971 (Anm. 3), S. 83-121. Siehe dazu den Hinweis bei Stierle: Gibt es eine poetische Sprache? (Anm. 4), S. 223 f. und Roman Jakobson: Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak [1935], in: ders.: Poetik – Ausgewählte Aufsätze 1921-1971 (Anm. 3), S. 192-211. Valéry: Theorie (Anm. 48), S. 73 f.; Valéry: Œuvres I (Anm. 48), S. 1463: „La conception de poésie pure est celle d’un type inaccessible, d’une limite idéale des désirs, des efforts et des puissances du poète“.

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nären“.52 An ihr wird sich, wie Valéry bemerkt, Poesie messen lassen und von Prosa unterscheiden: Der praktische oder pragmatische Teil der Sprache, die Gewohnheiten und die logischen Formen [...] machen die Existenz solcher Schöpfungen absoluter Poesie unmöglich; aber es ist leicht zu begreifen, daß der Begriff eines solchen idealen oder imaginären Zustandes für die Beurteilung jeder feststellbaren Dichtung von höchstem Wert ist.53

Somit sollte es die Funktion der Dichtung werden, das ‚Seiende, wie es ist‘, nachzubilden und die als ‚Idea‘ zu konzipierende Vollkommenheit und Schönheit in Kunst und als Kunst zu immanentisieren und als Werk zu materialisieren – womit zugleich eine mögliche Antwort auf die Frage „Was ist Dichtung?“ gegeben wäre.54

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So Hans Robert Jauß: Das Vollkommene als Faszinosum des Imaginären, in: Dieter Henrich u. Wolfgang Iser (Hg.): Funktionen des Fiktiven, München 1983 (Poetik und Hermeneutik, Bd. X), S. 443-461. Valéry: Theorie (Anm. 48), S. 74; Valéry: Œuvres I (Anm. 48), S. 1463: „la partie pratique ou pragmatique du langage, les habitudes et les formes logiques […] rendent impossible l’existence de ces créations de poésie absolue; mais il est aisé de concevoir que la notion d’un tel état idéal ou imaginaire est très précieuse pour apprécier toute poésie observable.“ Mit Jauß: Das Vollkommene (Anm. 52), S. 461, kann man einwenden, dass „Vollkommenheit zwar ihre säkulare Geltung als ästhetische Norm eingebüßt“, doch – wie wir zu zeigen versucht haben – „in heuristischer Funktion diesen Untergang“ überlebt hat.

BIOGRAPHISCHE NOTIZEN Stefan Büttner, geb. 1967. Studium der Klassischen Philologie und Philosophie in Mainz, München und Marburg. 1996 bis 2002 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Marburg, seit 2002 Akademischer Rat an der Universität Konstanz. 1997 Promotion über Platons Psychologie und Literaturtheorie. Arbeitsgebiete: Antike Ästhetik, Griechische Tragödie, Mythenrezeption. Lutz Danneberg, geb. 1951. Studium der Mathematik, der Philosophie und der Neueren detuschen Literaturwissenschaft in Hamburg. 1983 Promotion in Philosophie, 1991 Habilitation in Philosophie und Neuerer deutscher Literaturwissenschaft. Seit 1993 Professur an der Humboldt-Universität Berlin für Methodologie und Wissenschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete: Methodologie der Textinterpretation, Geschichte der Hermeneutik seit 1500, Geschichte der Germanistik seit den 1920er Jahren. Mitherausgeber der Zeitschrift Scientia Poetica. Günter Eifler, geb. 1929. Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Mainz. 1965 bis 1978 Assistent bzw. Assistenzprofessor, 1978 bis 1996 Wiss. Mitarbeiter an der Universität Mainz. 1978 bis 2001 Lehrbeauftragter für Deutsche Sprachwissenschaft und mittelalterliche Literatur am Deutschen Institut der Universität Mainz. 1963 Promotion mit Die ethischen Anschauungen in Freidanks „Bescheidenheit“. Veröffentlichungen zur mittelhochdeutschen Epik, Lyrik und didaktischen Dichtung. Gottfried Gabriel, geb. 1943. Studium der Philosophie, Germanistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft an den Universitäten Münster und Konstanz. Promotion 1972 an der Universität Konstanz, Habilitation 1976. Von 1968 bis 1992 Lehr- und Forschungstätigkeit in der Fachgruppe Philosophie der Universität Konstanz, 1992 Professor für Philosophie an der Universität Bochum; seit 1995 an der Universität Jena. Arbeitsgebiete: Erkenntnistheorie, Logik, Ästhetik, Sprachphilosophie. Herausgeber (ab Bd. 11) des Historischen Wörterbuchs der Philosophie.

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Brigitte Kappl, geb. 1968. Studium der Klassischen Philologie und Germanistik in Regensburg, Köln, Oxford, Mainz und Marburg. Seit 1996 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Klassische Philologie der Universität Marburg. 2001 Promotion über die Kommentare des Cinquecento zur Aristotelischen Poetik. Arbeitsgebiete: Antike Tragödientheorie und ihre Rezeption, antike Psychologie und Biologie. Rochus Leonhardt, geb. 1965. Studium der Evangelischen Theologie in Naumburg/Saale und Leipzig. Seit 1994 Wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Wissenschaftlicher Assistent und seit 2001 Privatdozent an der Universität Rostock. 1996 Promotion über die Glückseligkeitslehre bei Thomas von Aquin, 2001 Habilitation zum Verhältnis von Protestantismus und Skeptizismus. Maria Moog-Grünewald, Inhaberin des Lehrstuhls für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Ästhetik und Poetik von der Antike bis zur Moderne; Antike-Rezeption unter philosophischen und ästhetischen Gesichtspunkten; Funktionen ekphrastischen Schreibens. Mitherausgeberin der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Katharina Münchberg, geb. 1969. Studium der Romanistik und Germanistik in Freiburg, Tübingen, Paris und Verona. Ab 1998 Assistentin am Romanischen Seminar Tübingen. 1999 Promotion mit der Arbeit René Char. Ästhetik der Differenz. 2003 Habilitation über Dante. Zur Zeit Privatdozentin an der Universität Tübingen. Arbogast Schmitt, geb. 1943 in Linz an der Donau. Studium der Gräzistik, Latinistik, Philosophie und Germanistik in Würzburg und Berlin, danach Lehrer am Gymnasium, 1972-1980 Assistent und Akademischer Rat in Würzburg, seit 1981 Professor für Klassische Philologie (Schwerpunkt Gräzistik) in Mainz, seit 1991 in Marburg. Dissertation Die Bedeutung der sophistischen Logik für die mittlere Dialektik Platons (1973), Habilitationsschrift Charakter und Schicksal in Sophokles’ „König Ödipus“ (1978). Arbeitsgebiete: Homer, Tragödie, Platon und Aristoteles, hellenistische Dichtung und Philosophie; Enstehung und Folgen der Parallelisierung und Entgegensetzung von ‚Antike‘ und ‚Moderne‘.

Biographische Notizen

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Rainer Stillers, geb. 1949. Studium der Romanistik und Germanistik, 1977 Promotion über das narrative Werk von Maurice Blanchot, 1985 Habilitation über Kommentar und Literaturtheorie in der italienischen Renaissance, 1978 bis 1986 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Düsseldorf, 1986 bis 2003 Professor für Romanische Literaturen mit dem Schwerpunkt Italianistik/Mittel-/Neulatein an der Universität Konstanz, seit 2003 Professor für Romanische Literaturen mit dem Schwerpunkt französische und italienische Literatur an der Universität Marburg. Forschungsschwerpunkte: Poetik der frühen Neuzeit, Mythen-Rezeption, moderne Lyrik, Raum im modernen Roman. Herausgeber des Deutschen Dante-Jahrbuchs, Mitherausgeber von Antike und Abendland. Friedrich A. Uehlein, geb. 1940. Studium der Philosophie, Anglistik, Germanistik und Kunstgeschichte in Würzburg, Leeds und München. Apl. Professor am Philosophischen Seminar II der Universität Freiburg und wissenschaftlicher Leiter der Shaftesbury-Forschungsstelle der Universität Erlangen. Arbeitsgebiete: Antike griechische Philosophie, Metaphysical Undercurrents in British Philosophy, Philosophie der Subjektivität, Ästhetik. Ulrike Zeuch, geb. 1963 in Düsseldorf. Studium der Germanistik, Latinistik und Polonistik in Mainz und Warschau. 1990 Promotion mit einer Dissertation zum Unendlichkeitsbegriff von Friedrich Schlegel und dessen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, 1998 Habilitation mit einer Arbeit über die Umkehr der Sinneshierarchie seit der Frühen Neuzeit und die Aufwertung des Tastsinns zum Sinn der Sinne. Seit 1995 Wissenschaftliche Angestellte an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Forschungsschwerpunkte: Wahrnehmungstheorie und Ästhetik in der Frühen Neuzeit und im 18. Jahrhundert, Ethik und Literatur, Literatur und Seelenkunde, Literaturtheorie, Geschichte literaturtheoretischer Grundbegriffe.

PERSONENREGISTER In das Register wurden alle Personen-Namen aus dem Haupttext und den Fußnoten aufgenommen, die Namen von Figuren (beispielsweise aus der Mythologie oder Literatur) sind kursiv hervorgehoben. A Abrams, Meyer H. 222 Abaelard, Peter 247f. Achilles 54, 59, 76, 83, 147, 175, 287 Adler, Hans 190 Adriaen, Marcus 148 Aeneas 176f., 192 Agamemnon 76, 83 Aguzzi-Barbagli, Danilo 168 Aigisthos 179 Aischylos 292 Alkibiades 66, 69, 74-76, 82, 84 Alt, Peter André 193 Anderegg, Johannes 14 Annas, Julia 50f. Arcita 137 Ariost, Ludovico 164 Aristarch von Samothrake 276 Aristoteles 5, 21-24, 28, 34, 38, 45, 46, 47f., 54, 60, 63, 65-95, 117, 119, 124f., 127130, 132, 134f., 140, 142, 153-159, 164f., 167-175, 177179, 181-188, 190-201, 203, 207f., 211, 218, 221-227, 240-245, 247, 251f., 265, 271, 288, 291f., 294f., 304 Armstrong, John M. 180 Ast, Friedrich 268

Astrucs, Jean 278 Athenaios (vermutlich: von Naukratis) 50 Augustinus, Aurelius 248 Aurel, Mark 217, 224 Austen, Jane 218 B Bacmeister, Christiane 298 Bacon, Francis 252 Barbi, Michele 133 Barner, Wilfried 9f., 183, Barrell, Rex A. 224 Barth, Ulrich 246 Barthes, Roland 17, 20, 23 Baudelaire, Charles 299 Bauers, Georg Lorenz 254 Baumgarten, Alexander Gottlieb 231-234, 238f., 254-257 Behler, Ernst 25, 207 Beierwaltes, Werner 297 Bembo, Pietro 286, 292-294, 296 Bender, Wolfgang 207, 209 Benedetto, Vincenzodi 163 Benthien, Claudia 14 Berchorius, Petrus 144 Bernhard von Clairvaux 247f. Bernard, Wolfgang 79, 186-188, 190, 193 Bettinger, Elfi 10 Betzler, Monika 51

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Beutler, Rudolf 297 Birke, Brigitte 207 Birke, Joachim 207 Blanckenburg, Friedrich von 210-212 Blumenberg, Hans 20, 151 Boccaccio, Giovanni 131-149 Bodmer, Johann Jacob 209 Boethius, Anicius Manlius 248 Böhm, Gottfried 284 Böhme, Hartmut 10 Bonaventura (eigentlich: Giovanni di Fidanza) 265 Bonitz, Hermann 140 Borgstedt, Thomas 192 Boyle, Robert 252 Branca, Vittore 131, 140 Braun, Götz 12 Breidbach, Olaf 133 Breitinger, Johann Jacob 207, 209 Brinkmann-Siepmann, Brigitte 15 Bruno, Giordano 298-301 Bubner, Rüdiger 12 Buchheim, Thomas 72, 169, 183, 227 Buck, August 131, 135, 167f., 203 Buddeus, Ioannes Franciscus (eigentlich: Johann Franz Budde) 253 Bühler, Axel 254 Burdorf, Dieter 258 Burnyeat, Myles F. 53 Burscher-Bechter, Beate 9 Büttner, Stefan 9, 31, 90, 200,

287, 289, 303 Bywater, Ingram 199 C Calderôn de la Barca, Pedro 232 Caramello, Petrus 134 Cardanus (eigentlich: Geronimo Cardano) 204 Caretti, Lanfranco 160 Carlisle, Miriam 46 Carroll, Lewis 232 Cassirer, Ernst 240 Castelvetro, Lodovico 76, 167, 172-174, 177, 179 Cavallo, Jo Ann 161 Cecchini, Enzo 140 Cervantes Saavedra, Miguel de 232 Cessi, Viviana 48, 79, 81, 185 Cicero 176, 244, 293, 295-297 Ciliberto, Michele 298 Cinzio, Giovambattista Giraldi 71, 178 Clausberg, Karl 133 Coleridge, Samuel Taylor 299 Colli, Giorgio 48 Conrady, Karl Otto 283 Cooper, Anthony Ashley (siehe Shaftesbury) Coste, Pierre 224 Croce, Benedetto 151, 165 Crocetti, Camillo Guerrieri 71, 178 Culler, Jonathan 10, 17 Currie, Gregory 240 Czucka, Eckehard 10

Personenregister D Dalfen, Joachim 35 Damon (von Athen) 47 Danneberg, Lutz 241f., 246f., 249252, 254, 257f., 260, 262, 268, 282, 303 Dante Alighieri 70, 132-134, 140-142, 147, 149, 305 Deitz, Luc 173, 203 Deleuze, Gilles 156 Demodokos 31 Demosthenes 295 Denores, Giason 175 Descartes, René 186, 242 Detering, Heinrich 15 Diderot, Denis 258, 300 Dido 173 Dilthey, Wilhelm 16f. Diogenes Laertios 50 Dominici, Giovanni 140 Dorsten, Jan A. van 233 Dotti, Ugo 140 Duck, Michael J. 271 Duns Scotus, Johannes 67, 188f., 191 E Eagleton, Terry 10, 14, 16 Ecker, Ute 135 Eckermann, Johann Peter 273, 280 Eibl, Karl 18f. Eichhorn, Johann Gottfried 278 Eifler, Günter 97, 303 Eliot, Thomas S. 300 Else, Gerald F. 41

Emilia 137 Epiktet (aus Hierapolis) 217, 224f. Epikur 124, 187f. Erasmus von Rotterdam 248250, 261 Erler, Michael 188 Ertler, Klaus-Dieter 13f. Etzel (d.i. Attila) 98, 113f. Eukleides (von Megara) 46 Euripides 66, 93, 228 F Färber, Hans 52 Fellmann, Ferdinand 298 Felmer, Martinus 254 Ferrari, Giovanni R.F. 50 Fetscher, Iring 50, 122 Ficino, Marsilio 189f. Figal, Günther 45 Flashar, Hellmut 65, 87, 188 Flaubert, Gustave 213 Fonte, Bartolommeo della 132, 176 Foucault, Michel 15 Franz, Michael 47 Frenzel, Elisabeth 18, 25 Freudiger, Jürg 242 Fries, Thomas 224 Fuhrmann, Manfred 76, 180, 203 G Gabriel, Gottfried 231f., 303 Gadamer, Hans-Georg 13, 17, 284, 289 Gaier, Ulrich 255

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Gaiser, Konrad 35, 37 Galilei, Galileo 241-243, 245, 271 Galle, Roland 291 Gaß, Wilhelm 266 Geisenhanslüke, Achim 10f., 13, 15, 19, 28f. Gerhardt, Carl I. 238 Gigante, Claudio 162 Gigon, Olof 75, 265 Gill, Christopher 46, 48 Giraldi, Giovanni Battista 178f. Glaukon 44 Godi, Carlo 145 Goethe, Johann Wolfgang von 12, 28, 213, 222, 240f., 257-259, 263, 269-275, 278-282 Goodman, Nelson 240 Gorgias (von Leontinoi) 47, 59 Gottsched, Johann Christoph 23, 69, 182, 191, 207-209, 211, 213 Grafton, Anthony 279 Greenblatt, Stephen 20 Greene, William C. 50 Greenfield, Concetta Carestia 131, 140 Gregor der Große 148f. Greiffenberg, Catharina Regina von 206 Griesbach, Johann Jakob 254 Grönebaum, Herbert 284 Gryphius, Andreas 206 Gumbrecht, Hans Ulrich 158 Güntert, Georges 158 Gunther 98, 101-107, 109-115 Günther, Hans-Christian 48 Güntler, Claus 271

Gürtler, Johann Daniel 262 Guthmüller, Bodo 135, 144 H Haker, Hille 182 Halliwell, Stephen 33, 41, 50, 53, 60, 76, 78, 86 Hamlet 227 Harder, Richard 155, 297 Harms, Wolfgang 133f., 183 Harth, Dietrich 11f., 14, 20, 28, 182 Harth, Helene 44 Harvey, A.E. 52 Hassauer, Friederike 11 Hathaway, Baxter 132, 167 Haug, Walter 18f. Hausdorff, Felix 13 Haverkamp, Anselm 151 Hege, Brigitte 135 Hegel, Georg Wilhelm 12 Hegge, Hjalmar 271 Heidegger, Martin 283 Hektor 76, 83 Hempfer, Klaus W. 70, 157 Henrich, Dieter 223, 302 Henry, Desmond Paul 282 Heraklit 193 Herakles 75f., 222 Herder, Johann Gottfried 16, 187, 254-259, 263f., 272f. Hermannus Alemannus 134 Herodot 73, 84 Herrick, Marvin T. 174 Hesiod 51, 54, 59, 61 Heyne, Christian Gottlob 276 Hilmes, Carola 21 Hirdt, Willi 134

Personenregister Hobbes, Thomas 122, 252f. Hofe, Gerhard von 11f., 20, 28 Höffe, Otfried 60, 287 Hofmannsthal, Hugo von 232 Hollander, Robert 134 Holtzhauer, Helmut 275 Homer 44-46, 48, 51-55, 57, 59-61, 83f., 94, 134, 196, 205, 224f., 228, 258, 276278, 280, 287, 304 Hooke, Robert 273 Horaz 21, 23, 28, 132, 174176, 181, 186, 188, 191, 203, 213, 224, 243 Horn, Christoph 287 Hossenfelder, Malte 188 Huber, Martin 13f., 18, 20 Hugo von St. Viktor 260 I Iser, Wolfgang 223, 236, 240, 302 Isidor (von Sevilla) 136, 142 J Jaffro, Laurent 224 Jakobson, Roman 283-285, 301 Janaway, Christopher 54, 58 Janka, Markus 34, 91 Jannidis, Fotis 15, 252 Japp, Uwe 21 Jason 82, 93 Jaumann, Herbert 19 Jauß, Hans-Robert 16, 20, 223, 302 Javitsch, Daniel 168 Jenks, Chris 133 Johnson, Uwe 27, 182

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Jordan, Lothar 222 K Kablitz, Andreas 70, 72, 156f., 178, 185 Kaiser, Gerhard R. 10, 15 Kaiser, Gottlieb Philipp 254 Kant, Immanuel 119-121, 123, 130, 186, 228, 232, 237, 239f., 255, 272, 279 Kappl, Brigitte 24, 68, 71, 76, 86, 167, 169, 304 Kardaun, Maria 33, 53f., 57, 286 Kassel, Rudolf 184 Kebes (von Theben) 224 Keil, Rolf-Dietrich 152 Kennedy, George A. 50 Kenny, Anthony 81 Kersting, Wolfgang 50 Khoury, Raif Georges 67 Kiening, Christian 183 Kimmich, Dorothee 15, 17, 20 Kleihues, Alexandra 224 Klein, Ursula 270 Kleinias 44 Klingner, Friedrich 186 Klopsch, Paul 134 Kloss, Gerrit 70 Kluckhohn, Paul 210 Klytaimnestra 179 Knaller, Susanne 158 Koller, Hermann 33, 41, 50 Kommerell, Max 173 König, Traugott 214 Kopernikus, Nikolaus 244, 256f., 272f. Körte, Alfred 261

312

Mimesis – Repräsentation – Imagination

Koselleck, Reinhart 15 Kremers, Dieter 158 Kriemhilt 98, 102, 104-107, 109-115 Kritias 36 Kunz, Anna 14 Kuon, Peter 138 Küpper, Joachim 9, 21-24, 183 L Lamarque, Peter 240 Lambert, Johann Heinrich 258 Lämmert, Eberhard 210 Lauer, Gerhard 13f., 18, 20 Lavoisier, Antoine Laurent 270 Leibniz, Gottfried Wilhelm 233, 238, 258 Leinkauf, Thomas 201 Leonhardt, Rochus 117, 123f., 126-129, 304 Lessing, Gotthold Ephraim 20, 86, 173 Levaniouk, Olga 46 Levin, Susan B. 50, 52, 55, 57 Locke, John 258 Lombardi, Bartolomeo 167, 173, 175, 178f. Lombardus, Petrus 139 Lories, Danielle 190 Lotman, Jurij M. 152f., 165, 284 Luhmann, Niklas 18, 20 Lukian 163 Lukrez 188, 244 Luther, Martin 119-121, 130, 250, 253, 261 Lütjens, Katharina 6

Lykurg 59 M Maar, Michael 26 Maggi, Vincenzo 167, 173, 175, 178f. Man, Paul de 15 Mann, Thomas 76 Marino, Adrian 17-19, 28 Martinelli, Bortolo 134 Martollotti, Guido 135 Marx, Barbara 138 Mathy, Dietrich 21 Matt, Peter von 26 Matuschek, Stefan 10 Mazzali, Ettore 154 Mazzoni, Jacopo 70 Medea 82, 93, 291 Meier, Georg Friedrich 253, 256f. Melanchthon, Philipp 250 Mertner, Edgar 217 Mesnard, Paul 292 Mésoniat, Claudio 131, 140 Minio-Paluello, Laurentius 135 Minturno, Sebastiano 176, 179 Montinari, Mazzino 48 Moog-Grünewald, Maria 5, 10, 283, 304 Moravcsik, Julius 51 MukaĜovský , Jan 284 Müller, Karl Otfried 277 Münchberg, Katharina 151, 304 Münkler, Herfried 50 Mussato, Albertino 131, 140 N Nabokov, Vladimir 26

Personenregister Nehamas, Alexander 51 Neuhausen, Karl August 261 Neumann, Friedrich 102 Neumann, Gerhard 72, 156, 178, 185 Neumeister, Sebastian 135 Newton, Isaak Sir 269-271, 273-275, 279 Nida-Rümelin, Julian 51 Nietzsche, Friedrich 48, 118f., 231 Norton, Glyn 168 Novalis (d.i. Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg) 210 O Odebrecht, Rudolf 266 Ödipus 94, 179, 193, 197, 304 Odysseus 175, 192 Oetinger, Friedrich Christoph 256, 258 Olsen, Stein H. 240 Opitz, Martin 192f., 198, 206208, 211 Origenes 247 Osgood, Charles G. 135 Osthövener, Claus-Dieter 246 Ovid 134, 136 P Padoan, Giorgio 142 Paetzold, Heinz 234 Palemone 137 Panofsky, Erwin 295, 297 Panza, Marco 199 Partee, Morris H. 51 Patrizi, Francesco 201 Pecci, Josepho 260

313

Penelope 248 Peppmüller, Rudolf 276 Petersen, Jürgen H. 66, 185, 188, 201, 204, 206, 208 Petrarca, Francesco 131, 134, 140, 142f., 176 Petrarca, Gherado 143 Phädra 291 Phemios 31 Phidias 46, 92, 147, 296 Philokles 222 Piccolomini, Alessandro 167, 173, 176f. Pico della Mirandola, Giovanni Francesco 286, 292-298, 301 Picone, Michelangelo 138 Pindar 31 Platon 5, 31-39, 41-63, 67, 85f., 88, 90f., 93, 124, 147, 151, 155f., 175, 190, 200, 222-226, 233, 244, 266f., 274, 284-289, 291f., 294-301, 303f. Plotin 46, 91f., 155f., 297-299 Plutarch 50, 193 Poma, Luigi 176 Priamos 76, 83 Prodikos (von Keos) 59 Proklos 193 Proß, Wolfgang 255f. Protagoras (von Abdera) 59 Prünhilt 98, 103, 107-113 Purnhagen, Nicole 6 Putscher, Marielene 249 Q Quintilian 50, 133

314

Mimesis – Repräsentation – Imagination

R Rabil, Albert Jr. 168 Racine, Jean Baptiste 289, 292 Raey, Johannes de 242 Raimondi, Ezio 158 Rambach, Johann Jacob 253 Raming, Rolf 224 Ramus, Petrus 249 Regn, Gerhard 158, 160 Reichel, Michael 48 Reich-Ranicki, Marcel 26f. Rengakos, Antonios 48 Ricci, Pier Giorgio 141 Richter, Siegfried 276 Riff, Gisela 284 Ritter, Ellen 27 Rivkin, Julie 15 Rizzerio, Laura 190 Robortello, Francesco 24, 28, 68f., 71, 156, 167, 171-179, 181, 183-212, 292 Romani, Werther 76, 167, 172-174, 177, 179 Ronconi, Giorgio 131 Rosenbaum, Stanford P. 218 Rösler, Wolfgang 47f. Rüdiger, Horst 283 Rudolph, Enno 23, 67, 189, 201 Ryle, Gilbert 218 S Sagredo 241, 243, 245 Sailer, Johann Michael 256 Saluta, Coluccio 131, 140 Salviati 245 Samuel, Richard 210 Santangelo, Giorgio 292 Sartre, Jean-Paul 213f.

Sauder, Gerhard 14 Scaliger, Iulius Caesar 23, 167, 173-176, 182, 192f., 198, 203207, 209f. Schäfer, Christoph 34, 91 Scheffler, Uwe 249 Schenkeveld, Dirk Marie 261 Schiller, Friedrich von 86, 193, 278f., 281 Schlegel, Friedrich 16, 23f., 207, 209f., 213, 241, 259, 281, 305 Schleiermacher, Friedrich Daniel 13, 246, 257f., 262, 265-269 Schlütrump, Eckart 78 Schmeling, Manfred 133 Schmidt, Jochen 222 Schmidt-Haberkamp, Barbara 229 Schmidt-Radefeldt, Jürgen 301 Schmitt, Arbogast 16, 22f., 46, 65, 86, 88, 91, 156, 169-171, 173, 178, 183, 185, 189, 227, 284, 304 Schmitz, Markus 181, 196 Schmitz-Emans, Monika 9, 21f., 24, 27, 133 Schmücker, Reinold 258 Schöne, Albrecht 270 Schönert, Jörg 6, 9, 250 Schröder, Jan 260 Schubert, Andreas 50 Schulz-Behrend, George 206 Schweizer, Hans R. 233f. Schwinge, Ernst Richard 251 Scuderi, Ermanno 135 Searle, John R. 236 Seidl, Horst 140, 188, 255

Personenregister Selden, Raman 17 Selge, Kurt-Viktor 265 Seneca 225 Sexl, Martin 9 Shaftesbury (d.i. Anthony Ashley Cooper), Earl of Sidney, Philip 79, 215-219, 222-229, 305 Siegfried 98, 100-113, 115 Siepmann, Thomas 15 Simm, Hans-Joachim 291 Simplicio 241-243, 245 Smend, Rudolf 255 Smiley, Timothey 53 Snelders, H.A.M. 270 Sokrates 33f., 36f., 39-41, 44-47, 4952, 54f., 57-60, 62, 65f., 91, 176, 225, 227, 247, 285, 289, 292 Solger, Rousseau 224 Solon 59 Sophokles 196, 228 Sörbom, Göran 33, 41 Speckenbach, Klaus 134 Spinoza, Benedictus de 156 Spruit, Leen 187, 189, 204 Staiger, Emil 152, 165, 279, 281 Stalder, Xaver 206 Steigerwald, Jörn 190 Steiner, Johann Carl Samuel 254 Steiner, Peter M. 267 Steinmetz, Peter 188 Stiedenroth, Ernst 271 Stierle, Karlheinz 22, 72, 159, 165, 185, 284, 299-301 Stillers, Rainer 131, 305 Stolnitz, Jerome 228 Strauß, Emil 241

Strohschneider, Peter 183 Sueton 142 Summo, Faustino 70 Sutrop, Margit 240 Szondi, Peter 152 T Tasso, Torquato 153-165, 173, 176-178 Tate, Jonathan 33, 57 Temko, Philip 51 Theaitetos 36, 46, 291 Theiler, Willy 252, 297 Theokles 222 Theseus 75f., 137 Thimann, Michael 136 Thomas von Aquin 117f., 124130, 134, 139, 188, 260, 304 Thomasius, Christian 261f. Timaios 291f. Timmermann, Jens 51, 53 Titzmann, Michael 160 Tizian (d.i. Tiziano Vecellio) 251 Torelli, Pomponio 176f. Tournoy, Gilbert 135 Townsend, Dabney 228 Trappen, Stefan 192, 198, 205 Trinkaus, Charles 176 Turk, Horst 23 Twesten, August Detlev 266 U Uehlein, Friedrich 9, 79, 215, 218, 305 Unger, Rudolf 18

315

316

Mimesis – Repräsentation – Imagination

V Valéry, Paul 236, 300-302 Varro, Marcus Terentius 142, 295 Vecellio, Tiziano (siehe Tizian) Velten, Hans Rudolf 14 Venturi, Gianni 161 Vergil 205, 228, 243, 293, 295 Vesal, Andreas 250f., 259 Vettori, Pietro 167, 173, 175, 178 Viperano, Giovanni Antonio 71, 178 Virmond, Wolfgang 265 Vogt-Spira, Gregor 203 Vollhardt, Friedrich 13, 183, 250 Volpe, Galvano della 168 Voßkamp, Wilhelm 211 W Walton, Kendall L. 240 Walzel, Oskar 222, 297f. Warning, Rainer 22, 72, 185 Warren, Austin 151 Watzke, Daniela 190 Weinberg, Bernard 132, 157, 167f., 175, 177 Wellek, René 151 Wenzel, Horst 134 Westermann, Hartmut 46 White, David A. 228 White, Hayden 15, 236

Widmer, Joseph 256 Wieland, Christoph Martin 232 Wiese, Benno von 10f., 14 Willems, Gottfried 15f., 24f. Winkler, Gerhard B. 248 Wiseman, Peter 46 Wisse, Jakob 79 Wolf, Friedrich August 258, 262, 275280 Wolfes, Matthias 266 Wolff, Christian 233, 238, 257, 261, 272 Wolff, Erwin 217 Wuttich, Klaus 249 X Xenophon 48, 224-226 Z Zaccaria, Vittario 131f., 136f. Zatti, Sergio 158, 161 Zenon (aus Kition) 188 Zeuch, Ulrike 5f., 9, 15, 23, 175, 181f., 188f., 190, 193, 305 Zimbrich, Ulrike 33, 286 Zimmermann, Bernhard 51, 86 Zimmermann, Rolf-Christian 275, 281 Zimpel, Regina 6 Zintzen, Clemens 135 Zipfel, Frank 47