Black Box Computer: Zur Wissensgeschichte einer universellen kybernetischen Maschine [1. Aufl.] 9783839415559

Erst riesig, dann grau, in Zukunft 'ubiquitär' und unsichtbar: Computer sind aus unserem Alltag kaum mehr wegz

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German Pages 402 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung. Black Box Computer
I. LINIEN DER GESCHICHTE: SCHREIBEN
Historische Tatsache und Urteil [R. Koselleck]
Nach Foucault: Geschichte der Gegenwart
I. Hacking: Historische Ontologie
P. Veyne: Schießstände, Eisberge
M. de Certeau: Umstülpen
Gewichtend signifikante Körper [J. Butler]
II. LINIEN DER FORSCHUNG: HINTERGRÜNDE
Computer und Metaphern [H. Blumenberg]
Empirische Linienführungen historischer Forschung
Medien gehen über den Fluss: Chiasmen [Merleau-Ponty]
III. DISPOSITIV UND ANALYSE
Begriff: Biomacht, Biopolitik [M. Foucault]
Begriff: Dispositiv
Dispositive der Medienwissenschaft [F. Kittler, K. Hickethier]
Begriffsrekonstruktion [C. Hubig, A. Hetzel]
Probleme: Poststrukturalismus und Kybernetik
Forschungsstand: Philosophie, Kulturwissenschaft
Postmoderne: Informationsgesellschaft [J.-F. Lyotard]
Fundamentalkritik [P. Galison]
Strategem Cyborg [D.-J. Haraway]
Perspektivierung im Kontext Molekularbiologie [L. Kay]
Kognitivismus ideengeschichtlich [J.-P. Dupuy]
Das Posthumane der Kybernetik [N.-K. Hayles]
IV. DISKURSE UND SEDIMENTE
1 . ›Information‹: Technologie universeller Übersetzung
Information historisch
Shannon/Weaver: Theory of Information (1948)
Syntax, Semantik, Pragmatik
Kommunikationstheorie: Einsatzbereich
Information statistisch: Thermodynamisches Fundament
Relationen: Kanal, Spezifik, Rauschen
Subvertieren, Information
2 . ›Teleologie‹: Technologie vorauseilender Zielführung
Chinesische Enzyklopädien populärer Kybernetik
Vorausläufer: Macy-Foundation, AA-Predictor
Wiener/Rosenblueth: Behavior, Purpose, Teleology (1943)
Verantwortung: Human Use of Human Beings (1950)
3 . ›Regulation, Homöostase‹: Technologie des Gleichgewichts
Geschichte: Regeln, Regler, Regulierung
Moderne, Bernard: Regulation von Leben und Tod
Kybernetik I: Cannons Homöostase (1929, 1948-52)
Kybernetik II: Automaten, public health, Pathologie (1949-52)
4 . ›Spiel‹: Technologien des Selbst/Anderen
Neumann, Morgenstern: Theory of Games (1944)
5 . ›Ideen‹ – ›Verkörperung‹: Technologie berechenbarer Speicher
Feld: Diskurse Dynamik
Relationaler Ereignis-Binarismus? Schalter im Netz
Verkörperte Ideen ›jenseits von Gott und Mensch‹
Cyborg-Metasprachen: Materielle Formen, Normen, Ausschlüsse
6 . Die ›Wiener-Maschine‹. Kybernetisierung. Rationalitätstyp: Regularien, Norm (1943-52)
LITERATUR
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Black Box Computer: Zur Wissensgeschichte einer universellen kybernetischen Maschine [1. Aufl.]
 9783839415559

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Rainer C. Becker Black Box Computer

Rainer C. Becker (Dr. phil.) lehrt am Institut für Philosophie der Technischen Universität Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Theorie, Technik- und Medienphilosophie, Poststrukturalismus, Epistemologie.

Rainer C. Becker

Black Box Computer Zur Wissensgeschichte einer universellen kybernetischen Maschine

Dissertation, überarbeitet und stark gekürzt, verteidigt am 23.11.2008 (Institut für Philosophie, TU Darmstadt).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld Zugl.: TU Darmstadt, Univ. Diss., 2008 (D 17)

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Gwendolyn Zierdt, The Unabomber Manifesto, 1997, 10’ X6’, cotton/silk textile, hand woven on a computer assisted loom. »The pattern on the textile is the 8-bit ASCII translation of the first paragraphs of Freedom Clubs (FC) Industrial Society and its Future. White and Gray Squares represent the 0s and 1s used to store the information in computer memory.« Lektorat & Satz: Rainer C. Becker Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1555-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung. Black Box Computer | 9

  I. LINIEN DER G ESCHICHTE : SCHREIBEN | 35  Historische Tatsache und Urteil [R. Koselleck] |  40 Nach Foucault: Geschichte der Gegenwart | 49 

I. Hacking: Historische Ontologie | 51 P. Veyne: Schießstände, Eisberge | 59 M. de Certeau: Umstülpen | 70

Gewichtend signifikante Körper [J. Butler] | 74

  II. LINIEN DER FORSCHUNG : HINTERGRÜNDE | 79 Computer und Metaphern [H. Blumenberg] | 79  Empirische Linienführungen historischer Forschung | 101 Medien gehen über den Fluss: Chiasmen [Merleau-Ponty] | 110

  III. DISPOSITIV UND ANALYSE | 127 

Begriff: Biomacht, Biopolitik [M. Foucault] | 1 Begriff: Dispositiv | 148 

Dispositive der Medienwissenschaft [F. Kittler, K. Hickethier] | 151 Begriffsrekonstruktion [C. Hubig, A. Hetzel] | 162 Probleme: Poststrukturalismus und Kybernetik | 171  Forschungsstand: Philosophie, Kulturwissenschaft | 181

Postmoderne: Informationsgesellschaft [J.-F. Lyotard] | 181 Fundamentalkritik [P. Galison] | 185 Strategem Cyborg [D.-J. Haraway] | 188 Perspektivierung im Kontext Molekularbiologie [L. Kay] | 197

Kognitivismus ideengeschichtlich [J.-P. Dupuy] | 201 Das Posthumane der Kybernetik [N.-K. Hayles] | 203

IV. DISKURSE UND SEDIMENTE | 211  1. ›Information‹: Technologie universeller Übersetzung | 216



Information historisch | 217 Shannon/Weaver: Theory of Information (1948) | 220 Syntax, Semantik, Pragmatik | 221 Kommunikationstheorie: Einsatzbereich | 224 Information statistisch: Thermodynamisches Fundament | 227 Relationen: Kanal, Spezifik, Rauschen | 234 Subvertieren, Information | 238 2. ›Teleologie‹: Technologie vorauseilender Zielführung | 242 

Chinesische Enzyklopädien populärer Kybernetik | 242 Vorausläufer: Macy-Foundation, AA-Predictor | 249 Wiener/Rosenblueth: Behavior, Purpose, Teleology (1943) | 258 Verantwortung: Human Use of Human Beings (1950) | 269 3. ›Regulation, Homöostase‹: Technologie des Gleichgewichts | 285



Geschichte: Regeln, Regler, Regulierung | 286 Moderne, Bernard: Regulation von Leben und Tod | 291 Kybernetik I: Cannons Homöostase (1929, 1948-52) | 297 Kybernetik II: Automaten, public health, Pathologie (1949-52) | 306 4. ›Spiel‹: Technologien des Selbst/Anderen | 317

Neumann, Morgenstern: Theory of Games (1944) | 317 5. ›Ideen‹ – ›Verkörperung‹: Technologie berechenbarer Speicher | 330





McCulloch: logical calculus of ideas immanent... (1943) | 330 Feld: Diskurse Dynamik | 334 Relationaler Ereignis-Binarismus? Schalter im Netz | 336 Verkörperte Ideen ›jenseits von Gott und Mensch‹ | 341 Cyborg-Metasprachen: Materielle Formen, Normen, Ausschlüsse | 347 6. Die ›Wiener-Maschine‹. Kybernetisierung. Rationalitätstyp: Regularien, Norm (1943-52) | 356 

 

LITERATUR | 369

»Stories are much bigger than ideologies. In that is our hope.« DONNA HARAWAY »Wenn eine neue Formation auftaucht, mit neuen Regeln und neuen Serien, geschieht dies nicht auf einen Schlag, in einem Satz oder einem Schöpfungsakt, sondern stückweise, mit Überbleibseln, Verschiebungen, Reaktivierungen früherer Elemente, die unter den neuen Regeln fortbestehen. [...] In der Krise [...] konnten [sich …] neue Freiheiten markieren, wurden dann aber Bestandteil neuer Kontrollmechanismen, die den härtesten Einschließungen in nichts nachstehen. Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.« GILLES DELEUZE

Einleitung. Black Box Computer

1982 werden im deutschsprachigen Raum die Robotermärchen von Stanislaw Lem publiziert. Eines dieser Märchen wird eingeleitet mit der Charakterisierung eines Reichs, das einen ganzen Planeten umfasst, der sog. Kyberei. Ihr Herrscher ist wie besessen von der Technisierung seiner Ländereien. Diese Technisierung hat ihm zwar keine ›chinesische‹ Enzyklopädie eingebracht (Foucault 1966), aber eine um so stärker logisch-rationale. Sie umfaßt neue, technisch transformierte Dinge. Lems Souverän schätzt »die Kybernetik als Kriegskunst. Sein Königreich wimmelte von Denkmaschinen, er bestückte alles damit, was nur anging, und nicht bloß astronomische Observatorien oder die Schulen; nein, in jeden Stein auf der Landstraße ließ er ein elektrisches Kleinhirn einbauen, auf daß es die Wanderer laut vor dem Straucheln warne, und ebenso in alle Masten, Mauern und Bäume, damit überall der Weg erfragt werden konnte, unter die Wolken, damit der Regen im voraus verkündet würde, und in alle Berge und Täler. Kurzum, auf der Kyberei konnte man keinen Schritt tun, ohne über eine denkende Maschine zu stolpern. Schön war es auf dem Planeten. Denn nicht nur das längst bestehende ließ der König kraft seiner Erlasse kybernetisch vervollkommnen. Seine Gesetze bewirkten oft auch völlige Neuordnung. Somit produzierte sein Königreich Kyberkrebse und summende Kyberwespen, ja sogar Kyberfliegen, und mechanische Spinnen fingen sie weg, wenn sie sich zu stark vermehrt hatten. Auf dem Planeten säuselte Kyberdickicht im Kyberfrost, da sangen Kyberkästen und Kyberfiedeln, doch außer diesen zivilen Einrichtungen gab es doppelt so viele militärische [...] Im Tiefbau seines Palastes hatte er eine strategische Rechenmaschine von schlechthin außerordentlicher Tapferkeit. [...] Ein einziger Mangel plagte ihn, und er litt darunter sehr. Er hatte nämlich keinerlei Feinde oder Gegner, und in sein Reich wollte durchaus niemand einfallen, wobei sich doch zweifellos unverzüglich des Königs dräuender Mut und strategischer Verstand offenbart hätten, ebenso wie die schlechtwegs einzigartige Wirkkraft seiner Kyberbewaffnung« (Lem 1982: 144/145).

Lems Geschichte thematisiert einen vollends von einer bestimmten Maschinenform überzogenen Planeten – und ein darüber thronendes Subjekt, das im hochgradigen Einschluß seiner beherrschten Welt offenbar nur noch ei-

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nen einzigen Mangel verspürt: Ihm ermangelt ein wirkliches Außen dieser Welt, ein buchstäbliches Gegenüber – und sei es ein wirklicher Gegner. Aus Langeweile heraus läßt Lems Herrscher seine riesige, unterirdische Rechenmaschine immer wieder neue Gegner entwerfen und bauen. Und zwar so lange, bis sich die Maschine bei einem Entwurf buchstäblich verkalkuliert. So wird dann der Herrscher zufallsbedingt mitsamt seinem Reich bedroht von einem unvorhersehbaren, technischen Ungetüm – einem autonomen ›Elektro-Drach‹. Beinahe ist es um den Souverän und seine Welt geschehen, der ›Drach‹ droht sie zu verschlingen. Wie das ›Märchen‹ Lems genau endet, soll erst einmal nebensächlich sein. Auf den ersten Blick jedenfalls scheint es streckenweise an eine molussische Fabel zu erinnern. Zudem klingt der Inhalt heute wohl auch ein wenig anachronistisch. Rechenmaschinen vom Schlage derjenigen in Lems Geschichte haben wir heute schlicht gelernt als Computer zu bezeichnen. Zumindest dann, wenn sie vorhersehbar funktionieren. Auch heute noch umgeben solche Computer-Maschinen Geschichten: teils ausdrückliche Fiktionen, teils wissenschaftlichen Visionen. In einigen Fällen wird durch diese Geschichten auf besondere Weise Zukunft vorweggenommen. Ein zeitgenössisches, wissenschaftliches Zukunftsszenario kreist z.B. um neue Kommunikationsverhältnisse. Hier sind es dann nicht mehr nur Menschen, die – das haben heute mittlerweile fast alle gelernt – mit und mittels ›Computern‹ kommunizieren. Und hier sind es auch nicht mehr nur Computer, die untereinander kommunizieren. Im neuen Zukunftsszenario sollen möglichst alle um den Menschen herum gruppierten Dinge und Sachen untereinander computertechnisch kommunizieren können. Nicht zuletzt zu diesem Zweck sollen hier die Dinge in Zukunft kleine Computer-Chips unter ihrer Oberfläche tragen. Und zwar wohl auf ganz ähnliche Weise, wie man es heute bereits von vielen Haustieren kennt, sollten sie ihre elektronischen Identifikationsmarken, ihre heute noch »passiven RFID-Chips« (»Rapid Frequency Identification«; Rosol 2008) implantiert bekommen haben. Auch von neuen Personalausweisen und einigen ›smarten‹ Mobiltelefonen ist uns das bereits ein wenig vertraut geworden. Längst aber noch nicht von ›aktivierten‹ Dingen in der Art von computerisierten Gläsern, Stühlen, Teppichen, Toiletten, Tapeten, Fenstern u.a. – idealerweise möglichst allen Dingen in unserer Welt: »Das Bewußtsein, dass Computer überall stecken, wird allmählich verschwinden. Wir werden in zehn oder 15 Jahren nicht mehr über Computer reden – die sind dann einfach überall« (Weizenbaum 2005). Eine technische Vision wie diese bindet Interesse. Denn in naher Zukunft sollen hier die Dinge nicht zuletzt auch zu einem neuartigen Wissen beitragen können. Zu diesem Zweck sollen sie ›gechipt‹ werden, mit »über Funk miteinander kommunizierende[n] Mikroprozessoren, welche kleinste Sensoren enthalten und so die Umgebung erfassen können, [...] sich sehr billig herstellen und millionenfach in die Umwelt einbringen oder unsichtbar in Gegenstände einbauen« lassen (Mattern 2003).

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Die entstehende Wissensform, »wo sie sich gerade befinden, welche anderen Gegenstände oder Personen in der Nähe sind und was in der Vergangenheit mit ihnen geschah« (Mattern 2005), ist unmittelbar praxisrelevant. Sämtliche der ›gechipten‹, neu ›wissenden‹ und ›gewußten‹ Dinge sollen jeweils für sich, ›autonom‹ Wissen ansammeln können. Sie sollen allein und untereinander auf vielfältigsten Ebenen Entscheidungen treffen können mittels spezifischer Algorithmen, »ohne dass ein Mensch dazu eingreifen muß« (Weber 2003: VII). Als Fundament des kommenden, von Menschen und ihren Entscheidungen möglichst unabhängigen ›Internet der Dinge‹ dient das kürzlich notwendig gewordene IPv6-Internet-Protokoll, das »1500 TopLevel IP-Adressen pro qm« des Planeten ermöglicht (Coy 1998: 136). Kritik in diesem Zusammenhang – wie noch in den 1980er Jahren bspw. durch den humanistischen Computerkritiker Weizenbaum – klingt heute anachronistisch. Es soll hier also ein Wissen entstehen, das um Subjekte in alltäglichen, impliziten Verbindungen zu Dingen entsteht, das technisch autonom Konsequenzen programmiert. Ein Wissen, dessen unausdrückliche, im Kleinstmaßstab regulierenden Effekte als solche ›unsichtbar‹ bleiben. Ein Wissen also, das sich wohl auch kumulieren können soll zu einer neuen, sicheren, jederzeit bestandshaft überblickbaren und individuell un/zugänglichen Welt. Und das irgendwann so flexibel und selbstverständlich geworden sein könnte wie die Welt asphaltierter Straßenführungen und Ampeln heute. Probleme derartiger informatischer Szenarien werden, wenn überhaupt, kaum mehr als in technischen Termini formuliert.1 Am Rande nur entstehen Fragen, ob einzelne der visionär projektierten Entwicklungen Implikationen und Konsequenzen bspw. für bisher gültige Rechtsnormen haben könnten.2 Und selbst solche Fragen bleiben eher selten. Man muß aber nicht erst die informatische Forschungsrichtung Ambient und/oder Ubiquitous Computing, neuere Visionen eines Computer for the 21. Century (Marc Weiser) heranziehen – oder gar Raymond Kurzweils technoevolutionäre Singularitätsthesen zur zukünftigen Verkleinerung und

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Gilles Deleuze gab 1990 in der Sache den ersten – und bislang in der Weite wohl letzten grundsätzlichen – Hinweis mit einem noch tastenden Konzept von auf Disziplinargesellschaften folgenden Kontrollgesellschaften: »Man braucht kein Science-Fiction, um sich einen Kontrollmechanismus vorzustellen, der in jedem Moment die Position eines Elements in einem offenen Milieu angibt, Tier in einem Reservat, Mensch in einem Unternehmen. [...] was zählt, ist nicht die Barriere, sondern der Computer, der die – erlaubte oder unerlaubte – Position jedes einzelnen erfaßt« (Deleuze 1990: 261). Diskutiert werden Veränderungen im Datenschutzrecht (Überblicksarbeiten: Langheinrich 2006, Thiesse 2006) und bei versicherungsrechtlichen Fragen. Angenommen wird, daß es zu einer Umkehrung bisheriger ›Defaults‹, z.B. einer Umkehr der Unschuldsvermutung kommen könnte – auch gerade dann, wenn die Datenerhebung konkret boykottiert werden würde: Mattern 2004: 33/34.

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Nutzung von Computern auf Körperzellniveau: Vielleicht sind selbst die informatischen Prozeduren unserer Zeit manchem Nicht-›Native‹ noch immer nicht ganz selbstverständlich. Warum auch sollten gerade hier Fragen und Unselbstverständlichkeiten nicht berechtigt sein? Wie funktioniert das dann eigentlich genau und was ist es überhaupt: Das, was wir im Alltag immer öfter, in immer vielfältigeren Formen antreffen und gemeinhin noch den Computer nennen? Kann man sich diesem Komplex auch ein wenig abseits technischer Funktionszusammenhänge, also anders reflexiv nähern als hauptsächlich die technischen Details und Termini zu wiederholen, die selbst in Alltags-Gesprächen immer selbstverständlicher werden? Noch einmal: Was geschieht in und durch die teils grauen, teils weißen, teils aluminiumfarbenen ›Kisten‹ – auch einmal abseits dessen, was jeweils konkret intendiert, auf den ›Computer-Oberflächen‹ ausgegeben und ›prozessiert‹ wird in immer griffigeren, stromlinienförmigeren Gehäusen? In welchen sozialen Zusammenhängen stehen sie und welche Form Mensch braucht es für diese Maschinen? Welche Elemente umfaßt zuletzt das Ensemble unseres anwachsenden Computermaschinenparks genau? Geht man davon aus, daß hier nicht quasi-evolutionär – in Abwandlung des Andersschen »Kulturwasserhahns« (Anders 1980: 53) – einfach etwas wie ein neuer, unabdingbarer ›Informationswasserhahn‹ – oder besser dessen unsichtbares ›Informationskanalsystem‹ – im Entstehen ist, dann sind wirklich Fragen berechtigt, wie es um Sinn steht bereits in den immer stärker ritualisiert zuarbeitenden Umwelten des sozialen Ensembles heute. Fragen jenseits des alltäglich Bekannten zu formulieren, liegt nun aber nicht immer unmittelbar auf der Hand. Auch das kann ein Problem darstellen. Versucht man sich einer Phänomenkonstellation ›Computer‹ ein wenig abseits der uns im Alltag vertraut gewordenen Techniken und technisch geprägten Erklärungsmodelle zu nähern, gelangt man schnell zu Schwierigkeiten. Wie sich vom Rand her Phänomenen nähern, wie z.B. den immer zahlreicher werdenden Einladungen zu informationellen Interaktionen, die immer einfacher funktionieren sollen – also möglichst blind und friktionslos? Öffnen erst Erlebnisse des Nichtfunktionierens ein teilweises Hervortreten des infragestehenden Phänomenkomplexes, ermöglichen erst Ausfälle reflexive Distanz? Andererseits: Sind nicht gerade strikte Optionen wie Teilnahme und/oder Dissidenz, beobachtende Partizipation und/oder reflexivdistanzierende Verobjektivierung heute schlicht nicht mehr zeitgemäß? Umgekehrt scheint aber zugleich auch hie und da blindes Vertrauen in eine immanente, ›evolutionäre‹ Update- und Verbesserungslogik ein wenig unbehaglich zu werden. Und zwar nicht allein deren Geschwindigkeit wegen. Hier wir dort fehlen Worte. Man kann die Geschichte im Alltag, mit Problemen beginnen lassen. Wie Sherry Turkle in den computerkritischen 1980er Jahren betonte, ist es z.B. bereits das uns alltäglich bekannte Phänomen Computer selbst in seiner greifbaren Materialität, das an sich, bei geöffnetem Gehäuse – ob es nun gerade läuft oder nicht – jeden spielerischeren, technisch ungetrübteren Zu-

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gang meistens einfach abgleiten läßt. Turkle zufolge wendet bereits die schiere Alltags-Phänomenalität eines geöffneten Computers uns gewissermaßen den Rücken zu – wie auch immer wir einem solchen Apparat abseits technischer Details jeweils begegnen wollen. Zwar läßt sich der Innenraum des Gehäuses erkunden, der technisch ungeschärfte Blick gleitet aber oft auch einfach ab an den angeordneten technischen Einzelteilen auf der ›Platine‹, dem ›Motherboard‹. Die Einzelteile und das Gesamt gehen dann wohl schlicht in einer dunklen, esoterisch-technischen Funktionsweise auf, man wagt sie kaum zu berühren. Turkle zufolge kann eine Sache, eine Maschine mit einer derartig hermetischen, buchstäblich unfassbaren Äußerlichkeit selbst noch ihres Inneren einen bestimmten Eindruck hervorrufen. Einen Eindruck kaum faßbarer, ungreifbarer Innerlichkeit. In dieser Sicht ist man mit einer Anmutung von Innerlichkeit konfrontiert, die noch über jede konkrete technische Funktionsweise hinauszuweisen scheint: »Wenn man einen Computer oder ein Computer-Spielzeug öffnet, so sieht man nicht Zahnräder, die sich drehen, keine Kolben, die sich bewegen, keine Röhren, die glühen. Meistens sieht man lediglich einige Kabel und einen schwarzen Chip. Kinder, die sich mit Kabeln und einem Chip konfrontiert sehen, während sie ihrem Drang folgen zu erforschen, wie Dinge funktionieren, können keine einfache, auf Wahrnehmungen beruhende Erklärung finden. Selbst wer über erhebliche Erfahrung verfügt, wird im Funktionieren eines Computers nicht ohne weiteres Analogien zu bereits bekannten Objekten oder Prozessen entdecken, es sei denn Analogien zu Menschen und geistigen Prozessen. Die physische Undurchschaubarkeit dieser Maschine veranlaßt sowohl Kinder als auch Erwachsene, über Computer in psychologischen Begriffen zu reden und zu denken« (Turkle 1986: 21).

Turkle betont, daß dem 1986 noch stärker als heute vorherrschenden, technisch ungebildeteren Blick die zeitgenössischen Computer auf gewisse Weise verunsichtbart sind, daß sie eine gewisse Undurchdringlichkeit und ›Innerlichkeit‹ zu verstehen geben können. Ihre Perspektivierung – quasi auf eine Art unifarbene Seifendose mit Einschaltknopf und sich entziehenden Innereien – ist gerade dort am spannendsten, wo sie Effekte einer ›computermaschinellen‹ Innerlichkeits-Evokation beim Nutzer oder Betrachter ausmacht. Insofern und von dort ausgehend vergleicht sie die alltägliche Wirksamkeit dieser Maschine auf das menschliche Selbstverständnis mit jener Wirksamkeit, die das quasi dampfmaschinenmechanisch-›sexuelle‹ – oder eher sexualisierende – Verständnis der Psychoanalyse in der Zeit vor dem Apparat innehatte.3

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Vgl. Foucault 1976a. Turkle behauptet 1986 eine Ersetzung, einen Übergang zentraler Orte des Verständnisses menschlicher Selbstverhältnisse im Alltag – weg von den sexuellen Hinterwelten einer druckmechanischen Psychoanalyse, hin zu eher kalkulierenden Innenwelten nach Art eines Computer-Apparats: »Was die Entwicklung einer psychoanalytischen Kultur gefördert hat, ist nicht

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Zeitlich noch etwas vor Turkle hatte bereits Günther Anders Überlegungen formuliert, die gegenüber ihrer Erfahrung noch einen weiteren Schritt zurücktreten. Anders spricht eine bestimmte fundamentale Fremdheit an. Eine Fremdheit, die ihm bereits dann entsteht, wenn maschinelle Gehäuse der ihm zeitgenössischen Computer noch gar nicht geöffnet waren. Anders steht fremd dem noch geschlossenen Elektronik-Container selbst gegenüber. In der ihm eigentümlichen Art spitzt er Beobachtungen zu. Er entwickelt sie analog Beobachtungen zum Aussehen von Atomkraftwerken. Ausgehend von seiner Fremdheitserfahrung kann Anders das schiere Daß von Computern kaum überhaupt als Phänomen auffassen. Von diesem Apparat aus läßt er umgekehrt eine Antiquiertheit des Aussehens ihren Ausgang nehmen: »Auf jeden Fall sind diese Geräte das Unphysiognomischste, was es je gegeben hat – womit ich meine, daß ihnen die Fähigkeit oder der Wille abgeht, das, was sie sind, auszudrücken, daß sie in extremem Maße nicht sprechen, daß ihr Aussehen nicht mit ihrem Wesen koinzidiert. [... zu konstatieren ist, R.B.] Daß wir, wenn überhaupt, die heutigen Geräte allein dann adäquat aufzufassen und zu beurteilen fähig sind, wenn wir unsere Phantasie [...] anstrengen. [...] solche Geräte sind, wenn man [...] darunter etwas sich zeigendes versteht, keine Phänomene mehr« (Anders 1980: 35/36).

Haben Computer auch heute die Tendenz, sich in dem Maße alleine an ihrem jeweils konkreten Effekt zu zeigen, als sie, folgt man Anders, sich nicht mehr an sich selbst zeigen? Das wäre dann wirklich, diesmal ganz buchstäblich, ein schwer faßbarer Widerstand, wenn man sich der ›universellen Maschine‹ Computer als Gegenstand, nicht nur technisch nähern will. Aber läßt das die anfänglichen Fragen verblassen oder unterstreicht es sie umgekehrt: Wie diese Maschine funktioniert – eine Maschine, die heute

die Gültigkeit der Psychoanalyse als Wissenschaft, sondern der Einfluß ihrer Psychologie des Alltagslebens. [...] Die Theorie ist evokatorisch. Sie bietet uns Möglichkeiten, uns selbst wahrzunehmen. [...]. In meinen Augen liegt eine der wichtigsten Folgen, die für die Kultur aus der Präsenz des Computers erwächst, in der Tatsache, daß die Maschinen Einfluß auf unser Denken über uns selbst haben. Wenn sich hinter der allgemeinen Faszination, die von der Freudschen Theorie ausging, ein beunruhigendes, häufig mit Schuldgefühlen besetztes Vorurteil über das Selbst als etwas Sexuellem verbarg, so verbirgt sich hinter dem wachsenden Interesse an den vom Computer beeinflußten Interpretationen des Denkens ein nicht minder beunruhigendes Vorurteil hinsichtlich der Vorstellung vom Selbst als Maschine« (Turkle 1986: 24). Teilt man Turkles Perspektive, könnte man zudem präziser fragen, ob der Eindruck wirklich selbstverständlich sein muß, daß der Mensch das Denken oder das Denken sich selbst wirklich immer schon gedacht hat nach Vorbild einer heute 70 Jahre alten ›universellen‹ Maschine: »Für die entstehende Computerkultur ist eine andere Frage von größerer Bedeutung: nicht die, ob Maschinen jemals so denken werden wie Menschen, sondern die, ob Menschen immer so gedacht haben wie Maschinen« (ebd.).

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zum ›neuen Medium‹ geworden ist? Einem ›Universalmedium‹, das offenbar alle bisherigen ›analogen‹ Medien in sich aufnehmen könnte und zugleich neue ›digitale‹ entstehen läßt? Das vielfältige soziale Mediationen ermöglicht? Das neue politische, (bio-)medizinische, soziale Fakten zu schaffen beginnt bis hin zu Freundschaften und Beziehungen? Versteht man diese Maschine also wirklich besser ausgehend von ihren Effekten? Also den heute ganz natürlich durch sie prozessierten, eigentümlich amplifizierten Daten? Also gerade nicht vom Innenleben einer dann im Dunkel bleibenden, schwarzen Kiste, ›Black Box‹ aus – sondern von den sie verlassenden und einfließenden Strömen pragmatischer Daten und ihrem immer höherem sozialen Gewicht, immer kürzeren Halbwertszeiten? Von Daten eines bestimmten Zeitpunkts, bevor noch Genauere, Kleinschnittigere an ihre Stelle getreten sind? Von der Maschine also direkt zu einer zyklisch rasenden Datenmacht, zu Wahrheitswerten, Fakten – um dann wieder zurückzukehren? Man kann im Kontext sowohl an einer technischen und/oder ›untechnischen‹ Materialität anzusetzen versuchen als auch an Effekten und/oder Interaktionen. Eine weitere Möglichkeit sich dem Phänomenkomplex zu nähern ist der Gang ins Archiv. Diese Möglichkeit versucht im Archiv historische Vorläufe zum Aktuellen zu rekonstruieren. Sie bewegt sich im Medium des Wissens. Mit rückwärtigem Blick kann dieser Zugang ansetzen an zentralen Grundannahmen gegenwärtig wirkungsmächtiger Phänomen-Komplexe, ihren in die Zukunft hinein punktierten Linien. So z.B., wie gesehen, im Bereich aktueller, informatischer Visionen der Verkleinerung, Einkörperung und Identifikation (bspw. ›RFID‹) und möglichst umfassender, verunsichtbarender, buchstäblich unausdrücklich machender Ausbreitung (bspw. ›Ubicomp‹, ›UC‹). Hier wäre ein auszumachendes Problem z.B. Gesten der ›Vernatürlichung‹. Gesten, die mit Programmen wie jenen z.B. des UC schon bei einem der Pioniere einhergehen, wenn Maschinen gefordert werden »that fit the human environment, instead of forcing humans to enter theirs«. Denn was hat es für soziale Implikationen, wenn in Zukunft damit begonnen werden sollte in einem fast den gesamten Alltag umfassenden Gerätepark ganz buchstäblich Computer einzusetzen – und das vorgestellt werden soll als »as refreshing as taking a walk in the woods« (Weiser 1991)?4 Jeder Gewinn hat auch Verluste: Ohne bereits aktuelle UC-Szenarien eigens zu kennen, hat Joshua Heims im Kontext seiner sozialhistorischen Rekonstruktion der neuen, proto-informatischen ›Steuermannskunst‹, der ›kybernetischen‹ Wissenschaft der 1940er Jahre, unter einem zurückblickenden Eindruck ihrer neuen Technologien, Wege in deren technologische Zukunft versucht vorwegzunehmen. In Heims’ kybernetischer Zukunft ist unsere moderne Lebenswelt bereits probeweise unterwegs zu einer ganz grundsätz-

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Insb. Marc Weiser gilt heute als UC-Pionier. Er beschrieb 1991 in einer die Begriffe des Zuhandenen und des Impliziten Heideggers und Polanyis aufrufenden Utopie Computer, die ubiquitär und ›unsichtbar‹ in Umwelten integriert sind.

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lichen, noch weniger visionär-biologischen als stärker rein kybernetisch›informationellen‹ Transformation. Bereits hier läßt Heims in Zusammenschau eine »electronic future« imaginieren, »in which the individual lives in an environment that neatly simulates human intelligence, human warmth, and human conversation – very different from a social world where genuine relationships with other people are primary. Also missing from this electronic future are close relationships to a natural nonhuman environment – mountains, oceans, trees, animals. Each of these technologies can radically change the quality and structure of peoples lives, especially the balance among electronic environment, human environment and nonhuman nature« (Heims 1991: 280).

Aber auch Zweifel und Einwände können aufkommen. Könnten sich in den bisherigen, einleitenden Beispielen nicht auch schlicht einige irrationale Ängste äußern, teils zu faktischen Entwicklungen bestimmter Technologien, teils zu u.U. leicht übertriebenen, teils schlicht unrealistischen Visionen? Und sind andererseits bestimmte Technologien und Apparate nicht einfach auch schlicht unverzichtbar geworden, haben eine undiskutierbare Relevanz insb. als ganz buchstäblicher ›Sachzwang‹? Zudem lassen sich dem bisher Angesprochenen wohl auch ähnliche Problemkonstellationen der Vergangenheit zur Seite stellen, weitere Techniken und technische Visionen der westlichen Kulturgeschichte. Es könnte eine Gefahr bestehen, den Einfluß z.B. der Kybernetik auf den (Computer-)Kontext überzubewerten. Dennoch, bei allen Einwänden: Die Kybernetik, von der aus Heims und gegenwärtig viele weitere in der Forschungsliteratur ihre Überlegungen ansetzen lassen, kann als zentraler Bezugspunkt gelten auch der vorliegenden Untersuchung im Phänomenkontext Computer. Nach einer längeren, polarisierten Phase der Kritik und/oder Affirmation wurde sie lange Zeit unterbewertet oder fast gänzlich vergessen, vielleicht nicht ganz zu Recht. Denn die Kybernetik der 1940er Jahre läßt sich auch historisch, als u.a. wissensgeschichtlicher Wendepunkt fassen. Man kann sie einerseits als Klimax vorausgehender technischer Entwicklungen und technologischer Visionen begreifen. Dann wäre sie ein erster wirkungsmächtiger Versuch der Engführung vorhergehender ›technoider‹ Imaginationslinien mit zeitgenössisch neuen technischen Fundamenten und Blaupausen, die ihre Realisierbarkeitsversprechen erstmals teilweise einlösen oder zumindest vertrauenserweckender als ihre Vorläufer zu verstehen geben konnten. Andererseits markiert das historische Ereignis ›Kybernetik‹ zugleich einen bestimmten Zeitenabstand zur aktuellen Gegenwart. Denn sie entstand erstmals in einer heute vorsichtig als produktiv bezeichenbaren, buchstäblich ›dichten‹ zeitlichen Distanz zum Aktuellen. Dieser Abstand verspricht für Untersuchungen im gewählten Kontext einige erkenntnisfördernde Effekte. Eine zeitliche Distanz von 60, 70 Jahren eröffnet Rückblicke auf heute selbstverständlich gewordene Technik-Phänomene, deren anfängliche

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Fundamente eigentümlich in Vergessenheit geraten sind oder teilweise unter zusehends dogmatisierten Geschichtsschreibungstypen zu erstarren drohen. Die am Beginn jener Zeitdistanz sich institutionalisierende Kybernetik jedenfalls hat Potentiale, jene Gänge ins Archiv weitläufig historisch zu begrenzen, die im vorliegenden Buch unternommen werden. Denn wenn das Hauptanliegen des Folgenden u.a. Versuche sind der ›Problematisierung‹ (Foucault 1978c) bestimmter Felder des Werdens einiger heute selbstverständlich gewordener (›Computer‹-)Phänomene und deren Geschichte, dann kann das Buch hierbei produktiv ansetzen an jenem kulminativen Wendepunkt des Vorherigen und zugleich entscheidenden Fundament des Folgenden, der durch die ›erste‹ Kybernetik markiert ist. Das Buch tastet sich hierbei stetig vor, so viel bereits jetzt, zum Einkreisen eines ›Dispositivs‹ (Foucault 1975a) einer neuen, kybernetischen (Maschinen-)Technik und Technologie und deren vorbereitenden, begleitenden und weiterführenden Diskursprozessen. Im Rahmen der durch die Kybernetik markierten Zeitspanne als historischer Grenze der Rückblicke des Buchs müssen also bis dato recht unselbstverständliche Verknüpfungen bestimmter Phänomengebiete begründet rekonstruiert werden können. Dies gilt gerade dann, wenn mancher Versuch des Buchs gelingen sollte, einige spezifische, technisch-soziale Ensembles der Gegenwart und Vergangenheit verschoben sichtbar werden zu lassen – sozialtechnologisch – und einige deren Elemente, im besten Fall ein wenig neu, zu perspektivieren. Wenn hierbei kaum konkrete Lösungen der aufgeworfenen Probleme gesucht werden, dann liegt das Hauptanliegen dessen gerade in einer produktiven Ausfaltung dieser Probleme selbst: In durch den Leser weiterpunktierbaren Problemlinien und deren Verbindungen zu gegenwärtigen und vergangenen Selbstverständlichkeiten. Und zugleich dem, was jeweils über sie hinaus führt und/oder führen könnte. Noch kurz zu einigen möglichen Erwartungen. Warum ist hier nun überhaupt die Rede von einer ›ersten Kybernetik‹? Sollte nicht ›der Computer‹ im Zentrum stehen? Und beginnt ›seine‹ Geschichte nicht mindestens mit Leibniz? Im Folgenden wird es um Wissen, um Diskurse gehen, kaum um ›Ideen‹. Aber nicht um das Wissen alter und neuer Höhenkämme, weder im 18., noch im 19. Jahrhundert, so wichtig es retrospektiv betrachtet gewesen sein mag: kein Llull, kein Leibniz, keine Ada Lovelace, keine Webstühle. Jedenfalls nicht buchstäblich. Vieles des in Betracht gezogenen Wissens bewegt sich nahe am Boden, kann sich im Mikro-, Bruchstückmaßstab aufhalten, mußte nicht notwendig wissenschaftlich oder gar philosophisch geadelt sein, keine großen Namen tragen, um faktisch wirksam zu werden – auch und gerade im Kontext ›des Computers‹. Untersucht man zudem konkret in einer eher tradierten, technikhistorischen Form alleine den Computer – das was historisch spezifisch wirklich so bezeichnet und genutzt wurde – stößt man bereits zu Beginn neben vielem anderen auf ganz handgreifliche Probleme. Da wäre z.B. das Faktum, daß die Rede von ›dem Computer‹ quasi als einer Singularentität schlicht bereits insofern historisch berechtigt

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ist, als die ab einem gewissen Zeitpunkt mit diesem Wort verbundenen Phänomene – nachdem das Wort nicht mehr den Beruf von Mathematikerinnen (Kittler 1986a, Hayles 2005) bezeichnete – anfangs lebensweltlich in der Tat räumlich unglaublich ausgreifend und bereits insofern singulär waren. Nicht allein bei der Chiffrierung und Dechiffrierung kriegsrelevanter Nachrichten, bei Berechnungen der Flugabwehr oder im Kontext Atombombenbau, sondern auch kaum später, bspw. im amerikanischen Interkontinentalraketenabwehrprogramm SAGE (Edwards 1996), einem seiner ersten Haupteinsatzbereiche zu Beginn des kalten Krieges: Man mußte ›den Computer‹, seine Teile, seine direkten technischen Vorläufer zu Beginn teils in ganzen unterirdischen Gebäuden unterbringen, um bestimmte Effekte zeitigen zu können. Vom Anliegen der Beschreibung einer Sache kommt man rasch zu sozialen Konstellationen, teils ganzen Sozialitäten. Und gerade die anfänglich so klar eingrenzbare Sache gewinnt im historischen Blick dann schnell verschobene Konturen. Die anfangs hauptsächlich militärisch-administrative Unterstützung (und Zweck-/Zielgabe) des Baus der ersten Computer-Anlagen z.B. eröffnete erst Schritt für Schritt praktikable Standardisierungsmöglichkeiten – und darauf aufbauend industrielle Reproduzierbarkeit und zugleich Möglichkeiten stetiger Miniaturisierung. Die ersten wirklich realhistorisch relevanten, auf ›Universalität‹ setzenden Standardisierungsschritte des Computerbaus ermöglichten erst relativ spät eine Ausweitung seiner faktischen Einsatzgebiete: Vor rund 40 Jahren erst wurde er durch diese Prozesse hindurch als etwas vorstellbar, dessen Platzbedarf kaum mehr eigens zu Buche schlagen muß, das man irgendwann sogar als ›Box‹ tragen und platzieren konnte, das als relativ flexibel behandelbarer Alltagsgegenstand wahrnehmbar wurde. Und dann eben nicht mehr als etwas nach der Art eines ganzen technischen Gebäude- oder Architekturtyps. Seine sich im Rahmen des ›universellen‹ Standards stetig vollzogene Breitenwirkung war nicht nur möglich geworden durch eine stetige (irgendwann industrielle) Ritualisierbarkeit der Produktion seiner Einzelteile, deren Gesamt und anordnenden Abläufen – und damit immer weitergehenden Möglichkeiten seiner Verkleinerung. Diese Breitenwirkung, die damit erst faktisch möglich werdende Ausweitung seiner Funktion war überhaupt erst die historische Bedingung heutiger Tendenzen, die nun abermals unter die Oberfläche der Welt führen könnten. Dann aber mit umgekehrtem Vorzeichen, was die Größe der Geräte betrifft, weniger wohl dem Grad ihrer jeweils konkreten Zweckbestimmung. Der im kybernetischen Umfeld entstandene Standard der ›universellen Maschine‹, verbunden mit ihrer stetig immer weitläufigeren Nutzbarkeit als ›Box‹, ihrem immer ›mobiler‹ werdenden lebensweltlichen Einsatz, war eine Bedingung für heutige Überlegungen, Computer in Zukunft wieder räumlich zu einem (neuen) Fundament verunsichtbaren zu wollen. Und zwar auf eine Weise zu verunsichtbaren, daß man, sollten sich die Visionen bewahrheiten, zukünftig womöglich den Eindruck gewinnen kann, es hätte diese

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Maschine als lebensweltlich greifbare Entität oder eine nicht-defizitäre Vergangenheit ohne sie und ihre Ordnungsformen kaum jemals gegeben. Die Visionen von ›Virtual Reality‹ werden damit heute wohl auf gewisse Weise abermals aufgegriffen, diesmal allerdings mit ›umgestülptem‹ Ansatzpunkt. Nicht mehr Räumliches versucht man jetzt vom Computer generieren und/oder zur Übertragung nach Anderswo abtasten und dort ›virtuell‹ greifbar werden zu lassen. Jetzt wird ein zukünftiger, in jegliches bestehendes Räumliches implantierbarer, ›eingetasteter‹ und zugleich unsichtbarselbstverständlich ›realer‹ Computerraum projektiert in Natur, Kleidungen, Alltagsdingen, der Umgebung. Schließlich wird hierbei eine neue Reinform von intelligence im Feld avisiert: Der Computer selbst soll dann auch zum ausstreubaren Staub, z.B. militärischem smart dust (Mattern 2003: 20)5 werden können. Vorgestellt wird er dann als etwas minimal Ausgedehntes, das mittels Ausstreu und/oder ›Einpflanzung‹ zur maximalen ›Aufklärung‹ jener Umgebung dienen soll, in der er sich befindet. Dann ist er wirklich nicht mehr, wie noch ganz zu Beginn, ein maximal Ausgedehntes, das, riesig in einem Hier vergraben, die Umgebung weit anderswo ›aufklären‹ soll. So gesehen sind die neuen Visionen einer »tief greifenden Integration von Informationstechnologie in unseren Alltag« (Mattern 2003: 36) in ihren Ideen teils wohl auch weniger neuartig, als es der erste Anschein versprechen mag. Vielleicht hat insofern das, was Max Bense ausbuchstabierte, auch eine historische, nämlich eine über die Kybernetik hinausreichende Bedeutung: »Die kybernetische Erweiterung der neuzeitlichen Technik bedeutet [...] ihre Erweiterung unter die Haut der Welt« (Rieger 2005: 505). Die Ausschalt-Taste für die neuen Apparate jedenfalls scheint in den visionären Blaupausen von heute ausgespart worden zu sein. Insofern fühlt man sich bei den heutigen, quasi-›avantgardistischen‹ Projekten fast an eine Kreuzung erinnert z.B. von Ideen Konrad Zuses zum ›rechnenden Raum‹ (Zuse 1971) mit Zukunftsprognosen vom Schlage Oswald Wieners von 1966 und ihrer kompromißlos-kunstaffinen, streckenweise leicht absurden Sinngebung. Denn wie auch immer ironisch gebrochen und unterschiedlich perspektiviert, wurde ähnliches schon bei O. Wiener gedacht – dort allerdings wohl noch ausdrücklicher als Fiktion. Als Fiktion bspw. eines um den Menschen herum gruppierten, sog. ›Bio-Adapters‹, einem Anschluß an eine andere, zukünftige, neuartig rational umschließende Welt, ganz buchstäblich einem Computer-Container: »der bio-adapter bietet in seinen grundzügen die m.e. erste diskutable skizze einer [...] befreiung von philosophie durch technik. sein zweck ist es nämlich, die welt zu ersetzen [...] in seiner wirkung kann der bio-adapter mit der eines äusserst hochgezüchteten, durch laufende anpassung auch den differenziertesten bedürfnissen höchstorganisierter lebewesen gewachsenen uterus verglichen werden [...] der bio-

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Vgl. Tsougas 2006.

20 | B LACK B OX C OMPUTER adapter kontrolliert [...] die leiblichen und seelischen zustände seines inhalts bis ins letzte, d.h. er hat den platz des staates eingenommen« (Oswald Wiener 1965/66).

Im Folgenden werden nun allerdings gerade nicht Fragen zentral nach der technischen Umsetzbarkeit neuerer informatischer Projekte, nach deren Fiktionalität, narrativen Strategien und historischen Vorläufern/Stichwortgebern. Im Zentrum werden begriffliche Fragen stehen, Fragen nach Möglichkeitsbedingungen von Wissens- und damit Praxisformen, von heute selbstverständlich gewordenen Aussagenkomplexen, Praktiken und Technologien. Es werden historische Fundamente zu untersuchen versucht im historischen Abstand zum status quo: Was hat aussagetechnisch die Vorstellung eines, des Computers überhaupt erst möglich werden lassen, was eine Informatisierbarkeit des Sozialen und mit ihr dann auch wieder die aktuellen Visionen? Wie konnten neue Subjektpositionen, neue techniknahe Individuations- und Selbsttechnologien, post-kybernetische Objektklassen, quasiautonome und zugleich hybride Objekte, ganze kybernetische Ontologien überhaupt entstehen und sozial vertraut werden? Welche wirkungsmächtigen, diskurspragmatischen Bedingungsgeflechte waren hierzu nötig und wie sind sie entstanden? Kurz: In welchem Zusammenhang liegen erste wirkmächtige Grundzüge von etwas, das man u.U. als Grundzüge eines neuartigen ›Dispositivs‹ des Computers bezeichnen könnte? Welche Kontexte prägten die fundamentalen, teilweise wohl auch hinsichtlich ›Biomacht‹ implikationsreichen Wissensarchitekuren und -Sedimente dieses neuen Apparats, dieser ›sozialen Maschine‹? Mit solchen Fragen ist neben einem Hinweis auf ganz prinzipiell notwendige weitere Forschungen ausdrücklich noch nichts gesagt über die hierbei erst einmal zu untersuchenden Meso- und Mikro-Ebenen und ihre jeweiligen Formen, Prozeduralitäten, Wechselwirkungen, die Rolle situierter Subjekte innerhalb bestimmter Vorrichtungen und deren jeweilige Freiheitsspielräume. Insofern ist das vorliegende Buch nicht mehr als ein erster Versuch, eine Sammlung von Überlegungen, Fragen, von Gedankenexperimenten. Und es ist schlicht eine gekürzte, überarbeitete Dissertation. Kurz eine grobe Skizze zum ersten Überblick. Was dieses Buch als ganzes problematisch, zumindest ein wenig befragbar werden lassen soll, sind Fundamente dessen, was wir heute als informatisch, als durch den Computer bestimmt und in ihm als Objekt und Instrument gipfelnd denken – ›dem Computer‹, dem sich ›der Mensch‹ bedient. Thematisch werden hierbei Fragen aufgeworfen nach dem historischen Entstehen, der Verkettung, der Kombination einiger ihm historisch nebengelagerter Elemente insb. im kybernetischen Kontext. Gefragt wird nach diskursiven Rastern, Matrizen, Relationen, in denen diese Elemente auftauchen konnten. Und zugleich nach Matrizen, Rastern und Relationen, die diese neuen Elemente u.U. selbst in Folge zu eröffnen fähig waren. Alles das impliziert Fragen nach Ordnungen: Nach Ordnungen des Wissens, die mitsamt ihrer entstandenen Wirksamkeit heute selbst auf spezifische Weise unselbstverständlich geworden sein könn-

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ten. Und deren Untersuchung vielleicht probeweise ein Umkippen auslösen könnte einiger bis dato recht eingespielt scheinender Figuren, Perspektiven. Das Anliegen des Buchs als Ganzem erschöpft sich damit in seinem Selbstverständnis also weniger im ›Enthüllen‹ einer (historischen) Wahrheit im informatischen Feld. Es versucht vielmehr im Feld auch andere Perspektiven zu ermöglichen, u.U. eine stärkere Pluralisierung der Reflexion realhistorischer Felder seiner Gegenstandsbereiche. Was ein weiterer Grund ist, den Blick nicht allein nach vorn, in Richtung der aktuellen Visionen im Feld zu richten, sondern auch einmal zurück in der Geschichte. Vielleicht kann es gerade an diesem Punkt eine bestimmte Dialektik geben. Das gegenwärtige informatische Feld zumindest wurde, nicht zuletzt von Donna Haraway, in seinem Entstehen, also historisch, in die Nähe gestellt zu militärischen ›Kontroll‹-Visionen des kalten Kriegs, z.B. des sog. ›C3I‹ (»Command, Control, Communications and Intelligence«; bspw. Defence Electronics 1988, vgl. Haraway 1985, Edwards 1996). Es wurde z.B. mit historischen Versuchen in Verbindung gebracht zwischen Nachkriegszeit und Zusammenbruch der Sowjetunion, die heute noch unter Network Centric Warfare bekannt sind, unter dem Kürzel ›C4I‹. Dieses in vierfacher Potenz wiederholte ›C‹ erinnert noch an die ›C3I‹-Szenarien und ihrer Versuche der Potenzierung militärischer Macht der USA, später der NATO. Forciert werden sollte hiermit eine vollständige Kontrolle (Control) möglichst sämtlicher Ereignisse eines in Zukunft möglichst informatisch aufgeklärten Schlachtfelds. Und zwar mittels einer Form von Überblicksbildung, gewissermaßen einer verdoppelnden Kartenlogik. Die angestrebte militärische ›C3I‹-Kontrollgewalt wurde dabei wohl gedacht als Effekt eines Doppels einer nun informatischen Form von ›Kommunikation‹ (Communication): Einerseits als Effekt einer Überblicksbildung mittels dieser Kommunikation, die zu einem möglichst umfassend einsichtig kommunizierten, immer wieder möglichst vollständig ›aufgeklärten‹ Feld (Intelligence) führen sollte. Anderseits dem möglichst widerstandslosen Durchschlagen der rückkommunizierten, (neu-)anordnenden Einsatz- und Steuerbefehle (Command) auf das aufgeklärte Schlachtfeld selbst. Wollte man nun aber vor Einstieg in das Buch zur ersten Orientierung – und zugleich experimentell und leicht ironisch – grobe Umrisse zu skizzieren beginnen quasi einer plural gewendeten ›Gegengeschichte‹ (Foucault) im später zur Diskussion stehenden Gegenstandsfeld. Und wollte man hierbei zugleich dem sog. ›C3I‹ noch eine kleine, oberflächliche Rolle zubilligen. Dann könnte man hierbei z.B. auch ansetzen an einigen historisch neuen Techniken und Logiken der Fundierung und Anordnung im Gefolge des 2. Weltkriegs. Man könnte dann anzusetzen beginnen an neuen Ordnungskonzepten einer bestimmten, neu entstehenden ›sozialen Maschine‹ (Deleuze). Stärker als ein konkreter Apparat Computer – er ist dann noch gar nicht wirklich erfunden – wäre hierbei relevant das Entstehen eines sozialen Apparats, seiner Ordnungsregeln, Diskurse, Praktiken, Technologien und Techniken. Einen solchen Apparat könnte man also zu denken versuchen als

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zwar Technik umfassend, sein Ensemble reichte dann allerdings zugleich von Beginn an weit über reine Gerätetechnik hinaus. Anzusetzen wäre dann gewissermaßen am Entstehen einer unterschiedlichste Mikro-, Makro- und Mesoebenen umfassenden und durchdringenden sozialen Vorrichtung – einem ›Dispositiv‹ (Foucault). Ein solches ›Dispositiv‹ baute in seinen Grundzügen auf einem zwischen 1943 und 1952 entstehenden diskursiven Geflecht auf. Das könnte man sich grob, zum ersten Einblick, näherzubringen versuchen ausgehend von einigen heute lebensweltlich bekannteren, historisch gewachsenen Singular-Entitäten: Da ist vor allem der Computer – und daneben Cybernetics, Cyborg und Information. Denn auch sie – wenn auch nicht sie allein – wurden hier mit der Zeit zumindest der Möglichkeit nach erstmals als regelhafter begreifbare Formen projektierbar gemacht und noch jenseits jeweils konkreterer, späterer Einsätze der Konzepte diskursiv (prä-)formiert. Kybernetik, Cybernetics, entsteht als diskursive Dynamik im Zeitraum erstmals namentlich (Pias 2004a+c). Sie hatte in den betreffenden Prozessen wohl eine zentrale Rolle inne als stetig entstehende Vermittlungsfigur (Rieger 2003). Und sie hat in den anfänglichen Bewegungen zugleich bereits historisch früh einen ausgezeichneten Ort inne, nämlich einen zentral diskursiven. Jenseits romantisierend-verklärender Rückblicke auf sie – z.B. im Gefolge der späteren, ›potenzierten‹ Kybernetik ›zweiter Ordnung‹ Heinz von Försters – hat sich der Diskurs der ›ersten‹ Kybernetik stark militärisch, medizinisch und zugleich sozialtechnologisch anschlußfähig erwiesen und war in weiten Strecken von Beginn an auch bereits derart unterfüttert. Historisch spezifisch wird in der Forschungsliteratur auch diesbezüglich von einer US-amerikanischen ›Paleokybernetik‹ (Dupuy 1994) der Zeit zwischen 2. Weltkrieg und kaltem Krieg gesprochen. Diese Kybernetik hatte im unmittelbaren Wirkungskontext zudem, Details auch zu dieser Randnotiz später, Einfluß auf die Bildung immer einflußreicherer neuer, teils bereits im Gründungsakt ausdrücklich ›global‹ angelegter Institutionen wie der World Federation for Mental Health (WFMH). Aber nicht allein auf diese und nicht allein auf deren neuen sozialen Normalisierungsmodelle. Im ersten hoch-selektiven Versuch eines Grobrückblicks könnte man also einen kybernetischen Diskurs vorstellen in einer vermittelnden Vorbereitungs-Position erster fundamentaler Konstellationen eines neuartigen Dispositivs der Nachkriegszeit. Zwischen 1943 und 1952 jedenfalls ist diskursanalytisch – diese Rekonstruktion nimmt den letzten Teil des vorliegenden Buchs ein – ein bestimmtes Verbinden vormals noch stärker separat ›gewachsener‹ diskursiver Elemente und daraufhin die Herausbildung erster diskursiver Regularien eines solchen kybernetischen Diskurses beobachtbar. Es entstehen neue wissenschaftliche und epistemische Elementarkategorien sowie recht neuartige kategoriale Perspektivierbarkeiten vielfältiger Phänomene und zugleich neue Zugriffsweisen auf sie. Einige dieser Zugriffsweisen scheinen gewissermaßen die Bedingung historisch späterer, in anderen Maßstäben ansetzender Zugriffsweisen auf soziale Probleme und Gefahren

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zu sein, sie vorzubereiten. Erst aufbauend auf diesen diskursiven Prozessen, Konstellationen und ihren Effekten konnten um einiges später dann auch bspw. militärische ›C3I‹-Programme möglich werden. Aber genaugenommen nicht erst dann und vor allem nicht allein solche Programme. Der technische Artefakt Computer entstand parallel. Und zwar in Form von etwas, das hier erstmals immer regelgeleiteter produzierbar wurde. Seine konkreten Zwecke ließen sich hierbei der Möglichkeit nach stärker öffnen. Als solcher entstand der Computer auch in Wechselwirkung mit jenem kybernetischen Diskurs, der ab 1948 durch von Förster und Wiener erstmals ausdrücklich unter dem Namen Cybernetics institutionalisiert wurde. Wird der Computer anfangs noch oft als ›Elektronengehirn‹ bezeichnet, wird er in Folge als sog. ›von-Neumann-Maschine‹ immer ausdrücklicher geprägt durch die sog. ›von-Neumann-Architektur‹. Das ist eine neue, in Grenzen bis heute gültige Norm, gewissermaßen eine Blaupause zur prinzipiellen Existenz, Anordnung und Funktion der technischen Elemente seines Baus. Im Gegensatz zu den Vorgaben der vorhergehenden, kaum als solche standardisierten, jeweils eher lokal kontextualisierten Apparate eröffnete die neue Norm erstmals eine neue Standard-Bauweise. Zumindest prinzipiell war und ist diese nicht mehr auf einen jeweils konkret vorliegenden Zweck hin orientiert. Die neue, ›universelle‹ technische Norm ist also auch insofern ›universell‹, als hier ihre jeweils konkreten Implementierungs- und Einsatzbereiche prinzipiell erstmals weitläufiger ›offen‹ werden konnten. Durch eine programmatisch offenere Bauweise, gewissermaßen eine Selbstbezüglichkeit – das ›Programm‹ wird zum Teil ihres Speichers, es ist und bleibt also veränderbar – werden den späteren, konkret entstehenden Apparaten der Möglichkeit nach ›generelle Zwecke‹ eröffnet. So jedenfalls wird der first draft von Neumanns (Neumann 1945) oft gelesen. An diesem Punkt ist, auch darauf läuft das Buch hinaus, u.U. eine weitere These gerechtfertigt: Könnte man im Kontext von Wechselwirkungsprozessen der Entstehung, Sedimentierung und zugleich Anwendung dieser neuen Norm ihren parallel entstehenden konkreten ›Träger‹, den Computer, als eine ›universelle Wiener-Maschine‹ ansprechen?6 Kann man also den Computer auch als ein kybernetisches Medium denken? Einige Jahre vor den hierzu relevanten Ereignissen entstand allerdings bereits ein vorbereitender, verkoppelnder, wirkungsmächtiger Strang des im Laufe der Zeit in Wechselwirkung entstehenden, kybernetischen Diskursgefüges – eine Theorie der Information. Sie vertritt, trotz zeitgenössischer Alternativen, einen starken Anspruch auf Allgemeinheit. Und sie löst diesen Anspruch später ebenso rigide ein wie der Computer und die Kybernetik. In bestimmten Gebieten beginnt der kybernetische Diskurs ab spätestens 1943 gewinnbringend bis hinein in bisher zentrale epistemische Grundan-

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Dies wäre eine Spezifizierung der These Dupuys: »the computer was conceived by John von Neumann as a direct result of cybernetic ideas [...] ideas that generate scientific and technological development« (Dupuy 1994: 5).

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nahmen mit einer deskriptiven und normativen Reformulierung zuvor gängiger Beschreibungsformen organischer und technischer Kontexte (vgl. z.B. Hagner 2008). Hierbei werden vormalige Perspektiven auf bestimmte Sichtbarkeiten immer stärker neu akzentuiert – und manches andere verschwindet in neuartigen Unsichtbarkeiten. Auf der Gewinnseite dessen werden neuartig klassifizierbar werdende Orte und ihre angenommenen Funktionen dann nicht nur neuartig ›nach-‹ und ›vorbildbar‹. Das würde die unmittelbare Wirksamkeit und Praxisrelevanz des Diskurses zu niedrig ansetzen. Das neuartig behandelbare Technische und Organische wurde hierbei durch mehrere Schritte hindurch auch immer stärker denkbar als gewissermaßen untereinander ›kompatibel‹. Das verkompliziert die Lage. Denn der vermittelnde Diskurs, von dem solche Überlegungen ansetzen konnten und zu dem sie dann auch immer wieder beitrugen, versprach hiermit zugleich eine neue Produktivierbarkeit dieser neu gefassten Gegenstände. Während im Licht des immer stärker ›natürlich‹ anmutenden neuen Blicks bestimmte vormalige Fragen und Probleme zusehends zu verblassen begannen, konnten sowohl technische als auch organische Kontexte nicht nur als technologisch rekonstruierbar, sondern auch als derart verbesserbar und optimierbar zu gelten beginnen. An ihrer buchstäblichen Schnittstelle konnten immer belastbarer neuartig fundierte, nämlich ganz prinzipiell technologisch überkreuzbare Formen und Erklärungskonzepte beginnen bereitgestellt zu werden. Auch und insb. das bildet den Hintergrund für die Annahme, den Diskurs in seiner weiteren Entwicklung als eine Technologie aufzufassen. Der Möglichkeit nach sind seine Herkünfte wie seine Effekte teilweise wohl nicht unerheblich berührt von etwas, das man, auch das wird zu sehen sein, unter dem Stichwort ›Biomacht‹ (Foucault 1976a) fassen könnte. Mittels des kybernetischen Diskurses konnten neu skalierbare Zugriffsweisen reifen nicht nur auf neuartig überkreuzbar denkbare Grundeinheiten ›des Lebens‹ und deren Verknüpfung. Sondern auch auf neue globale Phänomene und Gesamtheiten. Auch sie wurden denkbar als in Grenzen zeitlich extrapolierbar und dadurch kontrollierbar. Im Vorfeld all dessen aber ist, so die Vermutung des Buchs, erst einmal das stetige Entstehen insb. fünf (proto-)kybernetischer Technologien relevant. Sie sind zu verstehen als in ihrem Anwendungskontext anfangs kleinteiliger, noch recht spezifisch ansetzende soziale Technologien. Wie im letzten Teil des Buchs zu sehen sein wird, sind dies insb. eine informationelle Technologie universeller Übersetzung/Kommunikation sowie eine der Zielführung, des Gleichgewichts, des Spiels sowie spezifisch neuartiger Formen der ›Verkörperung‹. Die erstgenannte ›Übersetzungs‹-Technologie fußt ausdrücklich auf der erwähnten, insb. mit den Namen Shannon/Weaver verbundenen Theorie der Information. Auf einer quasi-thermodynamischen, integral probabilistischen, insofern statistisch imprägnierten Theorie. Diese Technologie fundierte nicht nur richtungsweisend bestimmte neue, digitale ›Binär‹Dynamiken des entstehenden Diskurses – und damit zugleich das, was nun

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unter ›Kommunikation‹ zu verstehen begonnen wurde. Diese Technologie konnte hier auch damit beginnen, selbst ›mediale Technologie‹ zu werden. Denn auch sie hatte von Beginn an ihren Anteil an einer Kopplung und Synthese der im Entstehen begriffenen kybernetischen Technologien in einer späteren, umfassenderen, auch insofern allgemeinen Theorie Cybernetics. Die Informationstheorie trug neben ihrer stärker technischen und diskurspragmatischen Wirksamkeit aber auch in anderer Hinsicht dazu bei, kommunikative Verknüpfungsinstanzen zu schaffen. Die neue Theorie diente auch als Grundelement jener im Entstehen begriffenen neuen, fundamentalen Kompatibilisierbar- und Überkreuzbarkeit von Organischem und Technischem. So sicher die Informationstheorie hier mit ihren eigenen neuen, ›binär‹ gefaßten atomaren Einheiten zu verfahren begann, konnte sie als Technologie Gestalten und Gestaltbarkeiten zu imaginieren ermöglichen neu synthetisierbarer organisch-technischer Einheiten und Ganzheiten. Diese konnten nun wahrnehmbar werden z.B. als aufbauend auf und bedingt durch begrenzt statistisch vorhersehbare Elemente und Prozesse. Und damit konnten auch sie zu gelten beginnen als quasi-›natürlich‹ immer bereits veränderbare und ganz prinzipiell funktional optimierbare. Als ein zentrales Element der angenommenen fünf (proto-)kybernetischen Technologien stellte auch die Theorie der Information zudem integral übertragbare Konzepte bereit. Eine neue, ›kybernetisch‹ informierte und im Prozess sich situativ (re-)kontextualisierende Theoriebildung konnte auf zuvor noch fremdes Gebiet hinüberzureichen beginnen. Im untersuchten Zeitraum traf das wohl immer stärker zu z.B. auf bestimmte Zusammenhänge der Hirnforschung, Molekularbiologie und erster, ›kognitiv‹ werdender Humanwissenschaften (Hagner 2006, Pias 2004a, Kay 2000, Hayles 1999, Dupuy 1994). Solche gelungene Übertragungen konnte zugleich lesbar werden als Exempel einer gelingenden kybernetischen Theoriebildung selbst – und insofern wieder positiv auf sie und deren prinzipielle Wirksamkeitsanmutung rückwirken. Wenn die neuen kybernetischen Paradigmen, bspw. zu geschlossenen ›Feedback‹-Loops, zu Fragen der Selbstbezüglichkeit relativ zweifelsfrei auf einen bestimmten Gegenstandsbereich zutreffen, dann wahrscheinlich vor allem auf das Entstehen und Prozedieren des kybernetischen Diskurses selbst. Das diskursive Geschehen der Kybernetik trägt auch hinsichtlich der pragmatischen Modalitäten seiner Erfolgsgeschichte Züge dessen, was es aussagt. Insofern ist die Kybernetik kaum als reine Ideologie zu bezeichnen. Im untersuchten Zeitraum begann nun aber auch bereits Kritik an der Kybernetik – und zwar u.a. aus ihr selbst heraus. Auf dem Hintergrund erster umfassenderer diskursiver Blaupausen zu jener grundsätzlichen ideelen, quasi-epistemischen – und später dann ganz buchstäblich materiellen – Überkreuzbarkeit des zuvor noch different perspektivierten Organischen und Technischen – ›cybernetic organisms‹ – wurden hierbei krypto-huma– nistische Gegenpositionen artikuliert. Wo andernorts bereits Fundamente gewissermaßen einer späteren Bezeichnung Cyborg gelegt wurden und sich

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zugleich der Möglichkeit nach quasi ›postdisziplinäre‹ Subjektformen ankündigten, genau dort werden ab Ende der 1940er Jahre zugleich im Namen einer bestimmten, traditioneller auftretenden Subjektform Zweifel angemelden angesichts teilweise bereits hier absehbarer Konsequenzen des Geschehens. Aus dem Zusammenhang heraus beginnen diese Zweifel aber bereits seltsam anachronistisch zu wirken. Das zum entstehenden, kybernetischen Diskurs quasi ›gleichursprüngliche‹ Bedingungs-Fundament neuer SubjektFormen und ihrer Medien kommt also offenbar bereits hier ein erstes Mal in Konflikt mit ›Rückständen‹ bisheriger humaner (Selbst-)Verständnisse und deren bis dato bekannter Sinnhorizonte. Auch sie könnten sich bereits hier mitten in einer Transformation befinden. Zumindest zeigen sich Leerstellen – und ein Unbehagen, selbst bei den Protagonisten des Geschehens. Zum Problem der Aneignung und Umwidmung: Im Folgenden wird weniger anzusetzen versucht am Einfluß konkreter Menschen, Nutzer bspw. auf Technik und Technologien (Oudshoorn/Pinch 2003) – oder umgekehrt. Versuchsweise werden stärker diskursive Prozesse und deren jeweilige pragmatische Effekte zum fundamentalen Ausgangspunkt von Analysen bis hin zu ihren materiellen Sedimenten und Materialisierungen. Oder besser gesagt werden diskursive Prozesse versucht als Ausgangspunkt anschließender Analysen überhaupt erst zu rekonstruieren. Denn gerade Kybernetik ist heute nicht nur ein historischer Diskurs. Sie muß als solcher auch erst einmal überhaupt zum Untersuchungsgegenstand werden. In spezifischer Nähe, aber stellenweise auch in reflexiver Distanz zum Entstehen zentraler Massenvernichtungswaffen der Weltkriegszeit und des kalten Krieges wurden durch die Kybernetik neue Konzepte aus der Taufe gehobenen. Der kybernetische Diskurs konnte nach seiner Institutionalisierung um 1948 (u.a. Wieners Cybernetics) nicht zuletzt einiges realhistorisches Gewicht gewinnen in dem Maß, in dem er sich ausbreiten und bestimmte seiner Dynamiken und Figuren ›verselbständigen‹ konnte. Er konnte weit über die erste Herkunft hinaus Fuß fassen und sich jeweils spezifisch diskursiv, technisch und sozial sedimentieren – und am Ort neu entstehender diskursiver ›Objektpositionen‹ neue Gegenstände und Gegenstandstypen »materialisieren« (J. Butler). Zumindest konnte der kybernetische Diskurs auf vielen Ebenen hierbei mehr als hilfreich sein. Über bestimmte Stadien seiner Genealogie hinweg konnte der kybernetische Diskurs der 1940er Jahre aber vor allem auch an bereits bestehende technische Diskurse immer anschlußfähiger werden. Und er konnte diese zugleich umgekehrt schrittweise transformieren. Ein erster Vermittlungsschritt hierbei ist auch ein für bestimmte Ziele bereits recht früh definierter »scope« (WCW IV: 122ff) des Einsatzes eines frühen, neuen, stark kybernetiknahen Apparats, einer »Voreilrückkopplung« (Norbert Wiener): Eine neue Rechnereinheit eines neuartigen Flakgeschützes, eine extrapolative ›Vorhersageelektronik‹ zu zukünftigen feindlichen Flugpositionen und ihren jeweiligen Ausweich-/Fluchtspielräumen (vgl., traditioneller, Galison 1994). Planungen, Hintergründe und Einsätze dieses Apparats sind, darauf macht

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nicht zuletzt die Wiener-Forschung aufmerksam (Masani 1985: 141), ebenfalls als weiterer gewichtiger Schritt aufzufassen unter den bisher bekannten auf dem Weg zur kaum späteren, dann ›universellen‹ (Rechner-)Maschinenform. Sie finden ihren Niederschlag also wohl auch im Kontext der kaum späteren, stetig regelgeleiteteren Konvergenz bestimmter zeitgenössischer Einzeltechnologien in einem neuen, ›universellen‹ Computer-Format. Während zu jener Zeit die Kybernetik auf dem Weg war zu einer neuen fundamentalen technologischen Norm, die durch neue technisch-organische Hybridperspektiven hindurch neue Hybridisierbarkeiten zu versprechen beginnen konnte, war auch diese neue materiell-technische Geräte-Norm erstmals auf dem Weg zu immer neuen, konkreten Apparate-›Generationen‹. Diese konnten dann umgekehrt immer stärker auf dem geschaffenen kybernetischen Boden bei der ›Ausdifferenzierung‹ jener neuen Ansätze vermitteln, die das Tagwerk ihrer Wiederholungen und situativen Transformationen in immer weitere Gebiete auszubreiteten begannen. Denn auch die neue technische Norm konnte ab 1948 auf einem geschaffenen Fundament aufsetzen: In dem Maß, in dem man den neuen (Rechner-) Apparaten ›universelle‹ Einsetzbarkeit zuzubilligen begann, wurde begonnen, eine quasi-organische Vereinheitlichung derjenigen technischen Teile zu betreiben, die im neuen technischen Gesamt immer optimaler miteinander verbunden wurden. Generation für Generation trieb die ›universelle‹ Norm dann nicht nur ihre jeweils konkreten technischen Teile zu immer schnellerem ›Durchsatz‹ an. Am Rande wurde sie auch immer wieder zur eigenen Reproduktion unter Einsatz jeweiliger Bordmittel getrieben – zur Produktion von faktischen technischen Blaupausen der jeweils nächsten, ›besseren‹ Gerätegeneration und ihrer immer weiter optimierten Teile. Bereits in den späten 1940er Jahren faltete in vielfältigen Dynamiken der kybernetische Diskurs seine Regularien aus und gewann an Boden. Diskurspragmatisch sedimentierten sich bereits hier, über mehrere Zwischenschritte hinweg neue technologische Normen. Einher damit gingen die ersten technischen Materialisierungen der ersten gewichtigen kybernetischen Artefakte und Medien – unter ihnen der Computer. Gemeinhin gelten bislang nur einige wenige Apparate wie Shannons ›mazesolving machine‹ als originär ›kybernetische Apparate‹. Was aber auf dem historischen Terrain dieser unmittelbar kybernetischen Artefakte gelten kann, könnte u.U. auch gelten vom Computer, den Umständen seines Entstehens – insb. im Kontext der ›Von-Neumann-Achitektur‹. Denn ganz im Gegensatz zu bspw. Shannons kybernetischem Apparat schloß diese technische Norm bereits eindeutiger an neuere, bis dato bestehende kybernetische Rahmensetzungen an – nicht zuletzt auch im Gefolge des zeitgenössischen Bedarfs an militärischen »Voreilrückkopplungen«. Die Hintergründe auch dieses ›special-purpose‹-Apparats sind im Rückblick wohl ebenfalls bezeichenbar als weiteres Element der späteren, potentiell ›universell‹ einsetzbaren Computer-Prototypen. Das gilt vor allem in Bezug auf das Entstehen jeweiliger Standards, Normen und Blaupausen.

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Das Funktionieren der ersten kybernetischen Apparate nach Art von Shannons ›mazesolving machine‹ konnte den Eindruck erwecken, bestimmte Ansprüche einzulösen. Ihr Funktionieren konnte als ›Beweis‹ des prinzipiellen Funktionierens, als unausdrückliche Exemplifikation (Hayles 1999) der zeitgenössisch avanciertesten technologischen Theoriebildung in ihrem Hintergrund verstanden werden – insb. der kybernetischen. Wie Shannons Maschine bereits nach kurzer Zeit in Verbindung zu alltäglich Bekanntem gestellt wurde – sie bekam z.B. rasch die symbolträchtige Bezeichnung ›mazesolving rat‹ – könnte das Funktionieren der Rechen-Apparate ebenfalls schlicht an bestimmte Elemente vertrauter und funktionierender Alltags-Metaphoriken angeschlossen haben und diese zugleich später neuartig transformieren. Denn indem die ersten ›Elektronen-Gehirne‹ bereits qua Name offenbar eine auf einen Blick erfassbare Evidenz buchstäblichen lebensweltlichen Funktionierens zu erkennen gaben, verringerten sie zugleich umständliche Verständnisprozesse dessen, was da jeweils gewissermaßen unter der Schädeldecke ablief, umgingen Überprüfungen jener umfangreichen, verkörperten Theorie in ihrem Hintergrund. Ihre Theorie konnte im positiven Sinn ein Schattendasein führen und andererseits im gleichen Maß ideel und materiell alternativlos wirken (Trogemann et al. 2001) wie sie als funktionierend inkorporiertes Gegenüber, impliziter Sachzwang zu begegnen begann. Der Erfolg der Apparate selbst ›argumentierte‹ also auch insofern äußerst erfolgreich, gewissermaßen sinnlich-pragmatisch. Zumindest konnte ›das Funktionieren‹ der ersten ›universellen‹ Apparate an ein sinnbildliches Fürwahrhalten appellieren der mit ihnen verbundenen neuen ›Universal‹-Theorien und ihren Ansprüchen. Vielleicht hat auch insofern die im Entstehen begriffene kybernetische Theorie nicht allein auf dem Feld unmittelbar augenscheinlich rückgekoppelter Artefakte wie jenem Shannons vom Eindruck des praktischen Funktionierens ihrer Gegenstände gezehrt. Und vielleicht hat diese Theorie auch hierdurch – wie bei den ›reinen‹ kybernetischen Artefakten in ›breiteren Kreisen‹ später – immer stärker Einfluß geltend machen können auf verbundene ›periphere‹, ›sachfremde Dinge‹ wie z.B. finanzielle Förderung. Denn auch dieser Erfolg zählt: Förderung jedenfalls kam im Zusammenhang der anfangs noch ›sicherheitsrelevanten‹ Projekte fast ausschließlich vom Militär und/oder der US-Regierung. Und zwar bis weit hinein in jene Zeit, als die Apparate dann auch faktisch weitläufiger eingesetzt wurden, z.B. in der dann stetig expandierenden zivilen Luftfahrt. Historisch gesichert staturieren sich jedenfalls mitten in Dynamiken um das Datum 1948 herum zufälligerweise einigermaßen parallel und erstmals quasi-öffentlich die Normen des Computers (Neumann 1945, 1948), der Kybernetik (Wiener 1948) und der Information (Shannon/Weavers 1948). Und zugleich begann bereits parallel ein weiterer Text Neumann/Morgensterns seine Wirkungsgeschichte (Neumann/Morgenstern 1944). Dort werden jedoch noch ausdrücklich Normen konstatiert zum humanen Verhalten und seinen als kalkulierend-vorhersagend angenommenen Zügen. Diese

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neue ökonomische Theorie erschöpfte sich zwar nicht im Konstatieren humaner Verhaltensformen, die sich hauptsächlich mit dem individuellen Ausmalen optimaler zukünftiger Ziele und zielführender Bahnen, ›Trajektorien‹ beschäftigte – und zwar jeweils entlang inwendiger, quasi-statistischer Berechnungen zur situativen Vielzahl von (Eigen-)Nutzoptionen. Im unausdrücklichen, ›selbst‹-reflexiven Feedback imaginierte sich die neue Ökonomie als ›Träger‹ solcher ökonomischer Berechnungen und als deren ›ausführendes Organ‹ noch hauptsächlich Robinson-artige, humane ›Kalkulatoren‹. Die in der Tradition Neumann/Morgensterns stehenden Texte und Praktiken scheinen sich jedoch bemerkenswert gut einzufügen in die parallel entstehende kybernetische Ökonomie und ihre Diskurse, Regeln, Blaupausen und Prototypen. In den späten 1950er Jahren und später wird der kybernetische Diskurs in Folge seiner immer stärker einsetzenden Breitenwirkung als solcher und als diskursives ›Medium‹ dann immer ›unsichtbarer‹. Nicht nur die buchstäbliche Bedeutungslosigkeit der durch ihn rekonfigurierten, um sich greifenden Prozesse, auch eine allgemeine Allgegenwärtigkeit seiner Erfolgsgeschichte läßt ihn ›verschwinden‹ (S. Krämer). Sollte dem so gewesen sein, dann versucht das vorliegende Buch auch, einige der anfänglichen Bedingungen eines solchen Verschwindens zu ›erinnern‹. Soweit ein erster grober Überblick. Zum Ende des Einstiegs noch kurz einige grundsätzliche Worte zum Aufbau des weiteren Texts. Die erste Hälfte des Buchs, der erste Teil, versucht Rekonstruktionen und Perspektivwechsel theoretischer Herangehensweisen und Methoden im Vorfeld der späteren, konkreteren Untersuchungen im zweiten Teil. Dieser zweite Teil nähert sich immer stärker der zur Disposition stehenden Sache, um im kybernetischen Gebiet Diskursanalysen zu vollziehen. Zu Ende hin beginnt der Text sich kurz versuchsweise einem vermuteten ›Dispositiv‹ im Kontext zu nähern. Es war bereits angeklungen: Die Diskursanalysen rekonstruieren zuvor hauptsächlich fünf diskursive Dynamiken und Technologien jeweils zwischen 1943-52, beginnend mit ›Strängen‹ insb. der späten 1930er Jahre. Und zwar bis hieraus das Entstehen erster diskursiver und materieller Normen des kybernetischen Diskurses nach 1948 absehbar wird. Im Buch vor den Diskursanalysen angeordnet, stehen einführend einige Durchgänge eines größeren Teils der bis Anfang 2009 vorliegenden Forschungsliteratur im Raum. Die Thematisierung eines Gegenstands Kybernetik wird hier allgemeiner vorgestellt in der Theoriebildung J. F. Lyotards, P. Galisons, D. Haraways, L. Kays, J.-P. Dupuys und K. N. Hayles’ – aber auch ganz grundsätzlich hinsichtlich der sog. ›poststrukturalistischen‹ Theoriebildung der Nachkriegszeit. Hierbei spielen jeweils Überlegungen zu einer neuen, mit ›Biomacht‹ imprägniert gedachten Machtform im Kontext Kybernetik eine Hauptrolle – wie sie durch Foucault, Deleuze, Virilio, durch Tiqqun, Kay, Haraway, Edwards und andere teils vorbereitend, teils erstmals artikuliert wurden – und nicht zuletzt auch aktuell und subtil durch

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prominente Vertreter der Untersuchung des Feldes im deutschsprachigen Raum wie Claus Pias und Joseph Vogl, auf die ebenfalls eingegangen wird. Hierzu vorgeschaltet wird kurz eingeführt, was überhaupt unter ›Dispositiv‹ genauer verstanden werden könnte. Es werden Texte zum Ausdruck Dispositiv rekonstruiert – insb. bei Michel Foucault, Christoph Hubig, Andreas Hetzel sowie unter medientheoretischen Gesichtspunkten, die mit den Namen Friedrich Kittler und Knut Hickethier verbunden sind. Hier wird zudem untersucht, was unter Michel Foucaults Konzept von ›Biomacht‹ zu verstehen ist, bevor es in einigen Kontexten des Buchs eingesetzt wird. Der Text selbst beginnt noch einen Schritt davor, mit einer historischen Reflexion von Geschichtsschreibung, noch ohne jenes historische Feld der Arbeit selbst bereits weitläufiger vorzuführen, das erst später thematisch werden wird. Der Gegenstand, die Sache gelangt damit erst langsam auf die Bühne. Zuvor werden einige grundsätzliche Perspektivierungsvorschläge vorgestellt und zugleich, teils in Absetzung, Methode entworfen. Zudem werden Hintergründe versucht zu veranschaulichen zu dem, was bereits oben im ersten Zugriff ›Gegengeschichte‹ genannt wurde. Dies geschieht entlang Überlegungen zu Texten Reinhart Kosellecks, Ian Hackings, Paul Veynes, Michel de Certeaus und Judith Butlers. Entfaltet werden soll damit auch ein leicht transformiertes, insb. auf Michel Foucault zurückgehendes Konzept einer ›Geschichte der Gegenwart‹. Von Fragen nach der Objektivität von Geschichtsschreibung (R. Koselleck), führt der Weg hierbei über Probleme teleologischer Geschichtsmodelle (P. Veyne) zu Fragen nach den untersuchten Gegenständen selbst (I. Hacking). Der ›Gegenstand‹ der vorliegenden Arbeit wird dabei versucht immer stärker lesbar zu gestalten hinsichtlich Praktiken (P. Veyne), diskurspragmatischen Methoden. All das läuft zugleich auf Versuche der Explikation eines bestimmten historiographischen Vorgehens Michel Foucaults hinaus: Eine expositorische Ausstülpung untersuchter historischer Prozeduren ›von Innen heraus‹ zu leisten, ohne ›äußerlich‹ an sie herantreten zu müssen (M. de Certeau). Historische Gegenstände sollen sich in dieser Abfolge immer ausdrücklicher hinsichtlich ›Positionen‹ in Geschichte/n zeigen können, in ihrer in Diskurspragmatiken eingespannten Rolle der ›Sedimentierung‹ und »Materialisierung« (J. Butler). In Folge erst werden ausdrücklicher Fragen nach einem Gegenstand des Texts selbst aufzuwerfen begonnen. Dieser soll dann zugleich immer stärker diskursiv konturiert wahrgenommen werden können. So wird am Rande versucht, ihn hinsichtlich metaphorischer Funktionen heraustreten zu lassen – ob er z.B. eine soziale, integral politische Funktion erfüllen könnte als ›absolute Metapher‹ (H. Blumenberg, A. K. Hayles, O. Mayr). Das diskursive Feld einer herkömmlichen, teils ein wenig teleologischen Technik-Geschichtsschreibung wird in Folge am Beispiel einiger heute wirkungsmächtiger Geschichtsschreibungstypen des Computers in theoretischen Hauptlinien und Herangehensweisen vorgestellt und zugleich in Ansätzen problematisiert. Dort wird im vorliegenden Text dann auch erstmals umfassender

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Material aktueller technikhistorischer Forschungen zum Gegenstand selbst gebündelt. Versuchsweise wird zugleich damit begonnen, dieses Material in andere Richtungen zu wenden, um es probeweise auf neues Terrain, in leicht verschobene Perspektiven, Linienführungen zu überführen. Ausgehend also von Überlegungen zu Technik, Metapher, Diskurs/Praktiken und Materialisierung und einer ersten Problematisierung konventioneller historischer Aufarbeitungweisen im Feld Computer wird zuletzt versucht ein ›Chiasmus‹-Konzept (Maurice Merleau-Ponty) im medialen Kontext ausdrücklicher fruchtbar zu machen: Die Verkreuzung vermeintlich distinkt gegenüberstehender Relata, ein Schema reversibel relationaler Kreuzungspunkte. Medien werden hier versuchsweise als Mitten einer solcher Relationierung perspektiviert. Eine Theoriepragmatik soll entstehen, die einseitige theoretische Akzentuierungen der ›Subjekt‹ oder ›Objekt‹Seite problematisiert, vermeintlich unsituierte, externe Überblicksbildung. Von einem anfänglichen Problem Objektivität und Geschichte wird also übergeleitet zur relevanten Forschungsliteratur, zu Begriffsklärungen und zuletzt zu Diskursanalysen, dem zentralen Gebiet des Textes. Dieser Bogen kulminiert in ersten Hypothesen zu einem neuen, dynamisch-›flexiblen‹ Dispositiv der Nachkriegszeit. Es wird angenommen, daß seine Problematisierung heute sicher keine quasi-ontologische Selbstverständlichkeit ist. Eines jedenfalls scheint sicher: Das heuristisch angenommene ›Dispositiv‹ des Computers, von dem am Ende dieses Buchs kurz die Rede sein wird, wäre gegenwärtig wohl weder als das einzige zu verstehen noch als das letzte realhistorisch wirksame ›Dispositiv‹. Der vorliegende Text will neben einer experimentellen Mediengeschichtsschreibung an wissensgeschichtlich gewichtigem Ort auch schlicht manche, möglicherweise bis in die Gegenwart hineinreichenden Probleme neuerer Transformationen aufspüren – z.B. dessen, was Michel Foucault in den 1970er Jahren ›Biomacht‹ und ›Sexualitätsdispositiv‹ genannt hat. Das geschieht auf einem Feld, das nicht zuletzt nähere Untersuchung verdient hinsichtlich neuer Ontologien, der Vorbereitung, Gegenwart und Zukunft einer Fülle neuer ›Codes‹ für später ausdrücklich kontrolliert codierte, recodierte und ›voreilend‹ regulierte Formate. Die neue ›Steuermannskunst‹ beginnt die neu entstehenden Kapillaren der Nachkriegs-Macht-Mikrophysiken nicht nur neuartig ›digital‹ zu fassen. Man kann sie auch auffassen als integralen Teil eines neuen ›Dispositivs der Kybernetisierung‹, das im Vordergrund den Computer hervorbringt: Als neuartige Bedingung technisch normierter und gesteuerter, sich kybernetisierender Leviathane, eines Widerstreits neuartig technologisch vermittelter ›Gouvernementalitäten‹. Im Folgenden wird Schritt für Schritt versucht, Ausschnitte anfänglicher Dynamiken zu konturieren, deren spätere Effekte man auch unter dem Stichwort »technobiopolitics« (Haraway 2003: 10) fassen kann. Um einen genaueren Einsatzpunkt weitergehender Überlegungen zu bilden, wird hierbei heuristisch vorgeschlagen, einen erstmals zwischen 1943 und 1952 sich ausdrücklicher zeigenden Diskurs zu vermuten und am Rand ein sich hier

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diskursiv und materiell erstmals aus- und überfaltendes, neues Dispositiv und seine neue Fundierungslogik. In einem solchen Rahmen wird die Genealogie bestimmter Ausschnitte einer neuen sozialen ›Maschine‹ (Deleuze) der Nachkriegszeit zu skizzieren versucht. Eine solche Maschine ist einerseits kein eigentlicher, wie man früher wohl sagte, ›Staatsapparat‹ (Althusser). Eher werden durch sie später neue Formen von Staatlichkeit und Regieren denkbar. Andererseits ist sie aber auch noch keine wirklich neue »Government Machine« (Agar 2003). Vielmehr ist erst einmal ein erstes bedingendes Fundament späterer, sozialer Transformation zu untersuchen. Von Transformationen, die wir z.B. unter dem Stichwort ›Informatisierung‹ längst kennengelernt haben. Und die gleichermaßen gelten können als soziale Kybernetisierung. Die in ihren bedingenden Grundelementen neu entstehende ›soziale Maschine‹, der angenommene neue ›Apparat‹, das Dispositiv, scheint sich zu Beginn hauptsächlich noch darin zu erschöpfen, in bestimmten lebensweltlichen Ausschnitten gezielt bestimmte Phänomene mittels neuer Konzepte zu (re-)konzeptualisieren – und insofern das Denken, das Denken über sie und teilweise bereits sie selbst der Möglichkeit nach neu zu ›codieren‹. Diese neuen ›kybernetischen‹ Thematisierungs- und Zugriffsmöglichkeiten sind bereits unausdrücklich mit epistemischen Möglichkeiten zukünftiger Produktivierung imprägniert. Parallel dazu können sich an Rändern erstmals ausdrücklicher neuartige Subjektpositionen zu öffnen beginnen. Auch sie werden in der Sache und konzeptuell immer anschlußfähiger, in ihrer Ökonomie immer ›kompatibler‹ denkbar. Und zugleich schärfen sich aus parallelen Ereignissen diskursiv weitere Elemente bestimmter neu entstehender sozialer Technologien, beginnen neuartige Wissens-Fundamente zu entstehen, neues Macht-Wissen. Ab 1948 verdichtet sich erstmals anschlußfähiger ein wirkungsmächtiger, übertragbarer kybernetischer Diskurs. Was hier im ersten Zugriff nur äußerst grob skizziert ist, kann man wohl denken als Geschehen hauptsächlich an der Peripherie einiger Ereignisse der 1940er Jahre. Vor diesem Hintergrund beginnen zusehends neue Dinge immer klarer ins Licht der Zeit zu treten. Diese (›Cyber‹-)Dinge und Sachen beginnen immer stärker fundamental ›kybernetisch‹ bezeichenbar zu werden. Neue Normen, Universal- und Singularbezeichnungen entstehen. Eine der wichtigsten Rollen, wenn nicht die Wichtigste hat hierbei eine neue universelle – eine kybernetische – Maschine. Der Computer entsteht.

»Die Maschine [...] registriert, sie sieht voraus. Sie präzisiert und verhärtet; sie übertreibt die den Lebenden eigene Möglichkeit, zu bewahren und vorauszusehen, und sie strebt danach, das launische Leben der Menschen, ihre vagen Erinnerungen, die dämmrige Zukunft, das ungewisse Morgen in eine Art unveränderter Gegenwart zu verwandeln, vergleichbar dem stationären Gang eines Motors, der seine Normalgeschwindigkeit erreicht hat.« PAUL VALÉRY

I. Linien der Geschichte: Schreiben »Zwecke sind Z e i c h e n : nichts mehr! Signale! Während sonst die Copie hinter dem Vorbild nachfolgt, geht hier eine Art Copie dem Vorbild voraus.« F. NIETZSCHE

Es ist Vorarbeit nötig, sich der ›Sache‹, dem Gegenstand dieses Buchs zu nähern. Diese Vorarbeit erfordert Geduld. Der vorliegende Text versucht nicht zuletzt auch methodisch weniger auf »bekannten Wegen gehen« (KSA 9: 24) zu müssen.1 Denn will man auf die zur Disposition stehende Sache schlicht nach Regel ›losgehen‹, könnte man bestimmte, für das Buch zentrale, anfangs noch eher ›periphere‹ Fragen und Probleme übersehen. Und zwar gerade dort, wo in vielen Untersuchungsfeldern bereits vielfältige, insb. historische Arbeit geleistet wurde. Zu Beginn wird mittels bestimmter Rekonstruktionen sukzessive erst einmal Boden geschaffen, von dem aus sich später u.U. neue Perspektiven auf die ›Sache‹ des Buchs entwickeln können. Bei dieser Arbeit wird dann selbstverständlich einiges, das die Perspektive des entstehenden Blicks ausmacht, diesem selbst wieder verborgen bleiben. Und muß es wohl auch bleiben, um genau diese Perspektive einnehmen zu können.2 Zum Einstieg

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Methodisch wird im Folgenden nicht ›neutral‹ auf eine ›gegebene‹ Sache zugegangen, es wird heuristisch ein »Weg der den Zugang zur Sache eröffnet« (Waldenfels 1992: 30) gesucht, versuchsweise derart, daß »die Gesichtspunkte, nach denen die Sachen betrachtet werden, aus dem Anblick der Sache selbst zu entwickeln sind und nirgendwoher sonst« (ebd.: 19). Inwiefern ›die Sache‹ als ›ein Gegenstand‹ aufzufassen ist und/oder eine Rede von ihr im majestätischen Singular berechtigt ist, sind zwei zentrale Problemstellungen. Es soll der Gefahr vorgebeugt werden, vorschnell einen Weg einzuschlagen, auf dem vermeintlich selbstverständliche »objektive ›Phänomene‹ inventarisiert werden« (ebd.). Vielleicht ist der Versuch eines Ausdrücklichmachens von etwas in anderem Kontext notwendig unausdrücklich Bleibendem ganz allgemein vergleichbar dem, was Foucault zu einem Text Roussels schreibt: »Hat nicht der Text des ent-

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kurz einige einführende Versuche, theoriepragmatische Grundentscheidungen des Folgenden ein wenig offener zu legen, um sich hierbei zugleich der ›Sache‹ des Buchs langsam zu nähern – insb. deren ›Geschichte‹. Versucht man einige uns stabil, begrenzt und abgetrennt, eigens benennbar erscheinende Gegenstände – z.B. spezifisch technische Objekte – genauer unter die historische Fingerkuppe und Lupe zu nehmen, dann geschieht das jeweils aus einem bestimmten Grund. Es geschieht z.B., um ihre jeweiligen historischen Transformationen und Filiationslinien, aber auch ihre spezifische historische Eingelassenheit verfolgen zu können – bspw. hinsichtlich deren jeweiliger »Objektivationen« (Waldenfels 1999: 129). Es dürfte eine Selbstverständlichkeit jedes zeitgenössischen, textwissenschaftlichen Selbstverständnisses geworden sein, daß jeder Versuch fast notwendig zum Scheitern verurteilt ist, der hierbei eine rein ›gegenstandsadäquate‹ Durchdringung eines insb. historischen Felds versucht, der also Vollständigkeit und Objektivität anstrebt. Und das ist nicht allein in den Grenzen gegenwärtiger Verortung desjenigen begründet, der diesen Versuch wagt. Sondern es gilt auch, und das wohl grundlegender, weil bestimmte Dynamiken des jeweils untersuchten Felds, z.B. Dynamiken zwischen zeitgenössischem Zugriff und historischem ›Material‹, ein solches Unterfangen bereits im Ansatz schlicht unmöglich machen.3 Dennoch halten sich gerade hierzu im common sense, das wird gleich zu sehen sein, hartnäckig bestimmte Meinungen und Ansprüche. Jeder Versuch also, methodisch auf einen historischen Zugang zu setzen, der von Vollständigkeit und ›Objektivität‹ lebt, geht die Gefahr ein, auf einer ›weltfremden‹ Abstraktion zu beruhen. Denn wem wäre in letzter Instanz allen Ernstes eine beobachterunabhängige, jeder Situierung ledige, ›freischwebende‹ Perspektive, das »Überfliegen der Welt« (Merleau-Ponty 1964: 59) wirklich möglich? Selbstverständlich besteht umgekehrt immer die Gefahr rein ›subjektiver‹ Komplexitätsreduktion. So muß man sich heuristisch auf weitmöglich abgesicherte Zwischenbereiche einrichten zwischen Vollständigkeit und Reduktion, Objektivität und subjektiver Perspektive. Denn im Kontakt mit historischem Material werden nicht nur dessen, sondern auch die Grenzen der eigenen Perspektive immer wieder ausgemessen. Diese Grenzen werden hierbei oft überhaupt erst sichtbar. Denn nicht zuletzt hat man es bei ›Geschichte‹ mit einem Gegenwart übergreifenden, Fremdheiten bergenden Gegenstandsfeld zu tun.4 Immer wieder trifft man fast notwendig auf ›Unpassendes‹, nicht ›Passgerechtes‹.5 Kontakte damit

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schleierten Geheimnisses sein eigenes Geheimnis durch das Licht, das er auf die anderen Texte wirft, zugleich erhellt und verhüllt?« (Foucault 1963: 13). Vgl. zu Problemen zwischen erschöpfendem Verständnis und erschöpfender Verständlichkeit (als knowing that von Fremdem): Waldenfels 1999: 89f., 92. Vgl. Waldenfels 1997: 16, 137ff, passim. Ausgehend von der Geschichtsschreibung als »normaler Objektwissenschaft« könnte man hier auch Verbindungen ziehen zur Ethnographie und ihrem Umgang

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mögen streckenweise verunklarend wirken, sie sind aber alles andere als ein Makel. Nicht nur geraten hierbei individuelle Selbstverständlichkeiten auf den Prüfstand, werden in anderes, von Fremdheiten berührtes Licht gerückt. Neben historischen Kontinuitäten und Linien werden so auch filiative Differenzen, Brüche zur Gegenwart sichtbar. Manches löst sich nicht auf. Auch das macht den Charme der Geschichte aus. Wenn der folgende Zugang versucht, sich u.a. von Nietzsche und Foucault her zu schreiben, wenn er das Stichwort ›Genealogie‹ nutzt, gesteht er seinem historischen Gegenstandsfeld auch in dieser Hinsicht eine größtmögliche Dynamik zu. Und zugleich müßte er sich hierbei ganz prinzipiell immer wieder die unhintergehbar zeitgenössische Verortung der entstehenden Perspektive vor Augen führen. Das aber kann sich meistens faktisch nur im Maßstab von Spurenelementen abspielen. Dennoch könnte gerade das Bewußtsein auch dieser Grundkonstellation Bedingung von Möglichkeiten anderer als jeweils aktuell absehbarer Zukunftsperspektiven6 im untersuchten Feld sein. Denn andernfalls wäre die Zukunft wohl schlicht u.a. aus geschichtlichen Erfahrungen extrapolierbar, scheinbar aus zuvor gesammelten Erwartungen vorgezeichnet. Der gewählte genealogische Zugang rechtfertigt nun allerdings gerade aus diesen Gründen keineswegs einfache Willkür im Umgang mit seinem ›Material‹. Die methodisch-reflexiven Grundentscheidungen dieses Zugangs umgeben jeden seiner Schritte mit einer zeitgenössischen Situiertheit, die bis in politische Horizonte hineinreicht. Hieraus resultieren, neben grundsätzlichen Entscheidungen, bestimmte Vorsichtsmaßnahmen der Hypothesenbildung zugunsten des historischen Materials. Denn für jeden Schritt auf das Material zu, der sein eigenes politisches Feld lebensweltlicher und historischer Situiertheit ausblendet,7 wird im ›Gegenstandsfeld‹ wohl notwendig

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mit Fremdem, wie Bernard Waldenfels zeigt (Ders. 1999: 127f). Das vorliegende Kapitel bemüht sich, die Dimension des Fremden theoretisch und pragmatisch nicht aus den Überlegungen auszuschließen, im ›geschichtsschreibenden Akt‹ das historisch Fremde im Eigenen gegenwärtig fruchtbar werden zu lassen, z.B. mittels Foucaults Konzept Geschichte der Gegenwart. Waldenfels ist zuzustimmen, wenn er hierzu eine Schreibpraxis einfordert, »die im Schreiben selbst Ungeschriebenes und Unschreibbares ausspart« (ebd.: 147). Zu Waldenfels’ Verständnis des Fremden: ebd.: 149; Ders. 1987: 123f; gegenüber Eigenem im Sinne eines ›aneignenden‹ Possessivindividualismus auch Waldenfels 1997: 49, umfassender ebd.: 166f; zur Gegenüberstellung Fremdes – Normales, einer politischen Verortung der Konzepte im Kontext eines neuen ›dritten Weges‹, gerichtet gegen »real existierenden Funkionalismus«, ebd.: 177, insb. S. 173-175. Vgl. Koselleck 1979: 11ff. ›Lebensweltlich‹ markiert im Kontext etwas, das durch den Zusatz ›alltäglich‹ charakterisiert werden kann – ›alltägliche Erfahrung‹, ›alltägliche Lebenswelt‹. Im Folgenden wird der Kontext streckenweise noch einmal stärker begrifflich eingeholt. Vgl. zum Lebenswelt-Begriff: Waldenfels 1992: 37f.

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unreflektiert eine politische Gegenwart mitschwingen: Die eigene Gegenwart, die Gegenwärtigkeit des gewählten Zugangs und seiner Implikationen – und im Heute dann möglichst auch eine Gegenwart des ›Vergangenen‹ selbst, dessen potentielle Gegenwärtigkeit, seine jeweils gewählte Vergegenwärtigung. Warum sonst sollte man sich ihm auch zu nähern versuchen? Zudem ist es eine bestimmte Gegenwart des Vergangenen, die in ihrem Vergegenwärtigungsversuch möglicherweise produktiv auf das Heute rückwirken kann als kurz aufblitzende, verschoben, anders, offener denkbar werdende Ausschnitte jeweils relevanter Zukünfte des Behandelten. Der Historiker Valentin Groebner bringt einen Teil dieser Dynamik in fantastischer Einfachheit auf den Punkt: Auch wenn sie von der Vergangenheit handelt, »historische Untersuchung findet in der Gegenwart statt«; und auch diejenigen gegenwärtigen Probleme, die womöglich die Untersuchung selbst motivierten, begleiten ›Geschichten der Gegenwart‹ als aktuell gegenwärtige Geschichten weiterhin: Denn sie »sind Teil meiner historischen Recherche: einfach deshalb, weil sie Teil der Wirklichkeit sind, in der wir leben« (Groebner 2004: 11).8 Auch Teile des vorliegenden Buchs sind als kaum mehr zu verstehen als eine gegenwärtige Geschichte, als ein Versuch, eine ›Geschichte der Gegenwart‹ in einem bestimmten Ausschnitt dieser Gegenwart zu erzählen. Diese ›Geschichte der Gegenwart‹ versucht, Fremdheit in ihren Blick zu integrieren und sie streckenweise zugleich als solche, bspw. als Fundstück zu ›übertragen‹: »Überraschen kann nur, was nicht erwartet wurde: dann liegt

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Vgl. Koselleck 1975: 351: »es gibt keine Geschichte, ohne daß sie durch Erfahrungen und Erwartungen [...] konstituiert worden wäre« – die hierbei angenommene Reversibilität gilt zwischen diesen beiden Begriffen (ebd.: 352), auf ›beiden Seiten‹ der Geschichtsschreibung, auch wenn hierzu heute keine »anthropologische Vorgegebenheit« (ebd., vgl. auch 354) mehr angenommen werden muß. Vgl. ebd.: 353 zur »christlichen Herkunft« der heuristischen (ebd.: 350), metahistorischen (ebd.: 354), spatial konnotierten (ebd. 356) Kosellekschen Begriffe von ›Erfahrung‹, der Metapher vom ›Erfahrungsraum‹ – als gesammelte, einverleibte und erinnerbare Ereignisse »gegenwärtige[r] Vergangenheit« (ebd.) – sowie ›Erwartung‹, ›Erwartungshorizont‹ als revidierbar emotionsfundierte, erfahrungsantizipierende »vergegenwärtigte Zukunft« (ebd.: 355) verschiedener Präsenzen (ebd.: 356), die in ihrem Wechselspiel »Vergangenheit und Zukunft verschränken« und als solche als »Medium« der Zeitigung von »konkreter Geschichte« entwickelt werden. Vgl. ebd.: 374 zur Periodisierung, insb. zur Neuzeit (Zeit von Erwartungen jenseits bisheriger Erfahrungen, ebd.: 359ff), Techniken (führen eine Stabilisierung der Differenz ein, ebd.: 368), der stetig beschleunigten Pluralisierung von Perspektiven, beginnend bei der Generationenfolge bis zur Annahme eines Endes der Neuzeit, die, als Ende einer Fortschrittsideologie, durch große Erfahrung, nur noch vorsichtige Erwartung geprägt ist.

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eine neue Erfahrung vor« (Koselleck 1975: 358). Mit einem auch solchen Selbstverständnis steht der Text heute sicher nicht allein.9 Zwar stellt gerade historische, textwissenschaftliche Arbeit notwendig eine wissenschaftliche Abstraktion dar, aber auch sie kann sich nicht vollständig in weltlose, tendenziell unpolitische Abstraktionen, spekulative Vogelperspektiven flüchten. Der gewählte Zugang läßt sich damit grundlegend u.a. als (post-)›phänomenologischer‹ bezeichnen – wenn man hierzu neben Rekursen auf Merleau-Ponty auch Rekurse auf phänomenologisch geschulte ›Poststrukturalisten‹ wie Foucault und Deleuze sowie Haraway und Butler zählt und andererseits als ›Korrektiv‹ gegen ›Subjektivismus‹ Blumenberg und Koselleck mit einbezieht. Nicht zuletzt im Durchgang durch einige ihrer Überlegungen wird im Folgenden der Zugang ›zum Feld‹ eröffnet. Dieser Zugang wird in der zweiten Hälfte des Texts immer stärker unausdrücklich – bspw. in Fußnoten – weiter entfaltet. Man kann ihm dann eher pragmatisch begegnen: Er ist bei der Arbeit des Beobachtens zu beobachten. 10 Insofern beginnt das Buch nun mit einem eher ›theoretischen‹ Einstieg. Es werden insb. Hintergrundannahmen zur Geschichtsschreibung reflexiv durchlaufen, von denen jeweils teils Abstoßungs-, teils Anlehnungsprozesse stattfinden. Den Beginn markiert ein Plädoyer für die Situiertheit einer historischen Arbeit, die zugleich verschränkt ist mit methodischen Vorsichtsmaßnahmen gegen Willkür. Der folgende Abschnitt zu Reinhart Koselleck klärt zwei der ersten für die Arbeit zentralen Konzepte. Er öffnet erstmals Hintergründe, auf denen sich später zentrale Elemente des Untersuchten zeigen können. Weitere Hintergründe werden durch die folgenden Abschnitte zu Paul Veyne, Ian Hacking und Michel de Certeau skizziert. Deren Überlegungen in Anlehnung an die historischen Arbeiten Michel Foucaults leiten zuletzt über auf ein erstes konkretes Geschehen im Vordergrund, zu Fragestellungen auf dem Gegenstandsfeld selbst und seiner bisherigen historischen Bearbeitung. Zunächst aber zur Entfaltung grundsätzlicher methodischer Hintergrundaxiome im Durchgang einiger relevanter Überlegungen Reinhart Kosellecks.

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Vgl. zum Einstieg in die Gegenwartsdiskussion: van Laak 2006, Wachholz 2005 (zu Foucaults historischen Fiktionen: 107f, zu Certeau: 183f, gegengeschichtlichen Modellen des new historicism: 147f), Dreisholtkamp 2000, insb. 92/93ff. 10 Vgl. zu Schwierigkeiten des ›Beobachtens des Beobachtens‹ im zeitgenössisch tradierten Sinn: Hayles 1999: 133ff.

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1. H ISTORISCHE T ATSACHE [R. K OSELLECK ]

UND

U RTEIL

»Daher muß denn das, was alle Gattungen in sich aufnehmen soll, selber ohne alle Gestalt sein, gleichwie man, um wohlriechende Salben zu gewinnen, vor allen Dingen stets eben den zu Grunde gelegten Stoff mit den Mitteln der Kunst bearbeitet, indem man die Feuchtigkeiten, welche die Wohlgerüche aufnehmen sollen, selber möglichst geruchlos macht.« PLATON, TIMAIOS

In einer »historischen Skizze« (Koselleck 1979: 203) stellt Reinhart Koselleck 1979 eine ›vormoderne Metaphorik der Überparteilichkeit‹ auf dem Feld der Reflexion von Geschichtsschreibung vor. Er nähert sich der Geschichtsschreibung u.a. über einige Vorurteile, die teilweise bis heute im common sense anzutreffen sind. Mittels Kosellecks Analyse können diese Vorurteile nicht nur problematisch werden, sondern auch, mindestens versuchsweise, unter einen Anachronismus-Verdacht geraten. Zentrale ihrer Anknüpfungspunkte – von Koselleck beschriebene Metaphernfelder, die vormoderner Geschichtsschreibung gerade ihr spezifisches, ›vormodernes‹ Gepräge gaben – kann man etwas freier charakterisieren anhand dreier Nomen. Auf der Seite des historischen ›Erzählers‹ ist es (1) das ›speculum‹ sowie (2) der/die ›apolis‹. Auf der Seite der historischen Wahrheit des ›Erzählers‹ ist es (3) das bestimmte Nomen der ›nuda veritas‹.11 (1) Im Kontext weist Koselleck auf der Seite ›des Geschichtsschreibers‹ zum Einen auf eine bereits seit Lukian eingebürgerte Metapher hin: die des Spiegels, des ›speculum‹. Der Geschichtsschreiber wurde und wird hier verstanden als Instanz, die möglichst unvermittelt, ›rezeptiv‹ ein Bild der jeweils zu schildernden geschichtlichen Situation aufnimmt und (diskursiv) ›zurückwirft‹. Er ist es, der möglichst ein unentstelltes, unverblasstes und unverzerrtes Bild der Geschichte zu schaffen vermag. Dieses Bild entsteht mittels einer Schaffenskraft, die sich ihrem Gegenstand anverwandelt – um als solche dann allerdings jeder (eigensinnigen) ›Kreativität‹ verlustig zu gehen. Zudem werde das geschichtsschreibende Subjekt oftmals – ebenfalls seit Lukian – (2) mittels des Topos eines vaterlandslosen, keiner Herrschaft unterworfenen Fremdlings (›apolis‹) charakterisiert: Ein solcher sollte Selbstverständlichkeiten doch in einem anderen, nicht ›herkömmlichen‹ Sinne sehen können, gewissermaßen in ›klarerem‹ Licht: ›von außen‹. Beide metaphorischen Topoi umreißen und konturieren Koselleck zufolge eine ›vormoderne‹ Forderung an die Unparteilichkeit und Neutralität des 11 Vgl. Koselleck 1979: 178f; Blumenberg 1998: 61f, 72f.

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Geschichtsschreibers. Der Schreiber hatte in seinem Arbeitsakt routinemäßig, als Tugend gewissermaßen einen alle Besonderheiten abstreifenden Charakter-, Perspektiv- und Standortverlust (u.a. das Tacitus zugeschriebene ›sine ira et studio‹) zu erleiden oder aktiv zu vollziehen. Genau hierdurch ›gebar‹ er erst gewissermaßen (3) die ›nackte‹ Wahrheit (nuda veritas). Es lohnt sich, kurz etwas genauer auf diese drei Figuren einzugehen. Zwei allgemeinere, interpretative Überlegungen hierzu. Denn die von Kossellek aufgeschlüsselte ›nackte‹ Wahrheit ist in ihrem Hervorbringungsprozeß offenbar als Ergebnis einer Arbeit verstanden worden. Ihr ging eine personale ›Entäußerung‹ ihres Schreibers voraus. Erst auf diese folgend konnte die ›nackte Wahrheit‹ in ihren Schreiber eingehen: In eine spiegelnd Geschichte gebärende Schreibefläche. Es war also offenbar eine ›Nacktheit‹ von Wahrheit im Spiel, die analog zum Effekt des TransformationsProzesses beim berufenen ›Schreiber-Geschlecht‹ entwickelt war.12 Erst einmal hatte der Schreiber eine ›impersonale Nacktheit‹ anzustreben. Gegenüber der aufzunehmenden ›nackten Wahrheit‹ war diese dann aber wohl eine stärker ideele als materielle. Was hier unausdrücklich mit im Raum stand, könnte ein anzustrebender, quasi vormaterieller Status des sozusagen jeglicher Personalität, reflexiven Materialität Entäußerten gewesen sein – als Bedingung, um eine materialisierende Inschrift durch die ›nackte‹ Materialität eines (Gattungs-)Geschehens erleiden zu können, es spiegelnd in den Diskurs aufzunehmen, materiell-diskursiv zu gebären.13 Folgt man diesem Gedanken, dann hatte der Geschichtsschreiber offenbar eine ähnliche Rolle, wie sie Platon in anderer Hinsicht andeutet: »eine unsichtbare und gestaltlose, allaufnehmende Gattung [...], welche ganz seltsamerweise mit zu denjenigen Gegenständen gehört, die nur dem Denken zugänglich sind und daher schwer zu begreifen ist« (Platon Timaios 51ab). Die (vormoderne) geschichtliche Wahrheitsform scheint jedenfalls dann ihrem Ideal nahegekommen zu sein, war dann ›nackte Wahrheit‹ – von jeder Parteinahme, ver- und/oder bekleidender Ausschmückung befreit – wenn es ihrem ›Schreiber‹ gelang, seine Person, seine Leidenschaften, seine Perspektivität und Situiertheit – also letztlich seine Materialität – abstreifen zu können oder eine solche, die eigene Person paradox auszeichnende ›Fähigkeit‹ gar nicht erst mitzubringen: Auch insofern wird er dann hier wohl jeweils als ›apolis‹, ›draußen‹ verstanden worden sein. Als ein Außen, das

12 Vgl. weiterführend zum Term ›Beruf als Aufgabe‹: Weber 1920: 63f. 13 Insofern ist beim so verstandenen historiographischen ›Spekulum‹ in Analogie Butlers kritische Rede angebracht von einer prozeßhaft zu denkenden quasiNatur dieses ›Aufnehmenden‹, »die als passive Oberfläche vorausgesetzt wird, die außerhalb des Sozialen und doch dessen notwendiges Gegenstück ist« (Butler 1993: 24). Seine Benennung benennt etwas, »was nicht benannt werden kann« und zugleich »eine Penetration dieses Aufnehmenden, die zugleich eine gewaltsame Auslöschung ist und das Aufnehmende als einen unmöglichen, doch notwendigen Ort für alle weiteren Einschreibungen herrichtet.« (ebd.: 74, 75ff).

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zum Medium eines Stroms aus der jeweiligen Polis heraus zu werden hatte, der durch dieses Außen hindurch floß, um erst dadurch zur Sprache zu kommen, als (›die‹) Geschichte geboren zu werden. Erst durch einen verunsichtbarten, zum äußerlichen Spiegel gewordenen Geschichtsschreiber hindurch konnte ›die nackte Wahrheit für sich sprechen‹. Durch einen Schreiber, der offenbar zugleich als Gefäß, (Ein-)Schreibefläche, Transformator und Ausdruck gebender ›Geburtshelfer‹ zu denken war. Der also vielleicht auch insofern gewissermaßen als ein Medium konzipiert war, als sein personales Verschwinden erst jene universelle Tradierbarkeit der nackten, ›objektiven Wahrheit‹ ermöglichte: Zurücknahme des Mediums, Askese in Hochform. Durch diese Askese hindurch sollten die Elemente des Prozesses wohl aus einer jeweiligen weltlichen Eingelassenheit in eine ›klarere‹, ›eindeutigere‹ Sphäre gehoben werden, wurden sie transformativ aus ihrer lebensweltlichen Kontextualisierung ›herausmodelliert‹, übertragbar gemacht. Insofern historisch distanziert betrachtet, büßt das vormoderne Geschichtsschreibungs-Konzept an Selbstverständlichkeit ein. Denn es werden Effekte einer historischen Tradition von Tradierbarkeit sichtbar: Einer Tradition, die ihre spezifischen Prozeduren und als solche dann wieder ihre kontingenten Voraussetzungen hatte. Gibt es aber für Prozeduren und ihre Effekte solche Voraussetzungen, dann sind sie selbst historisch kontingent, veränderbar. Selbst wenn es sich um einen (Ideal-)Typus von Geschichtsschreibung handelt. Was in Kosellecks Rekonstruktion der ›drei Nomen‹ interpretativ sichtbar wird, ist ein historischer Modellierungsprozeß. Er liegt wohl teilweise nicht nur vormodernen Modellen der Geschichtsschreibung zugrunde. Auch in Form bestimmter, noch heute vorherrschender Meinungen bleibt er virulent – und hinterfragbar. Was sich in diesem Sinn über Geschichte und Geschichtsschreibung im common sense gehalten hat, ist keineswegs selbstverständlich. Und manches davon ist – mit Koselleck, ganz trivial gesprochen – nicht einmal mehr sonderlich aktuell.14 In dem Maß, in dem der vormoderne Geschichtsschreiber als äußerliches ›Speculum‹, als ›Spiegel‹ der Geschichte verstanden werden konnte, konnte eine ›Wahrheit der Geschichte‹, eine Geschichte angenommen werden – konnte sie zu einer Einheit werden, sich als die Wahrheit einer (›Universal‹) Geschichte singularisieren.15 Koselleck benennt es klar: Um was es hier geht

14 Daß auch in vormodernen Zeiten diese vormoderne Form geschichtlicher Wahrheit sicher nicht die einzige Form war, zeigt sich bereits daran, daß z.B. die Arbeit mit der Metapher der Nacktheit selbst wiederum verweist auf den Beginn einer bürgerlichen Geschichtsschreibung (vgl. Blumenberg 1998: 64). Sie setzt damit eine Differenz gegenüber dem teuren (Ver-)Kleidungs- und Geschichtsschreibungsstil des Adels. Vgl. zu weitergehenden Fragen gewissermaßen klassenspezifischer Geschichtsschreibung: Foucault 1976b. 15 Vgl. zum abendländischen Universalismus ›einer‹ Geschichte, der von Koselleck selbst als disziplinäres, als modernes, in Tradition Kants stehendes Fort-

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– und zwar bis zur Aufklärung, die Geschichte zu einem »Reflexionsbegriff« (ebd.: 182) ausprägte – ist »Geschichtsschreibung der Gegenwart« (ebd). Diese unterscheidet sich nun aber fundamental von derjenigen ›Geschichte der Gegenwart‹, die am Anfang des Buchs kurz gestreift wurde. Denn hier handelt es sich noch um eine Geschichtsschreibung, die ihre Legitimation und ihren Authentizitätswert durch geschichtsschreibende, zeitgenössische Subjekte bezogen hat. Und zwar durch Subjekte, die selbst wiederum angewiesen waren auf ereignisnahe »Augenzeugen« – gerade nicht entferntere »Ohrenzeugen« (ebd.) – auf die sie sich stützen können mußte. Eine sich derart entfaltende, prinzipiell bruchlose ›Wahrheit der Geschichte‹ konnte und sollte sich hierbei nur stetig, durch eine Menge einzelner, ›spiegelnder‹, zeitgenössischer Geschichtsschreibungen hindurch akkumulieren – und zwar bruchlos: vormoderne »geschichtliche Erfahrung bezog sich [...] auf Gegenwart, die, sich fortbewegend, Vergangenheit ansammelte, ohne sich grundsätzlich ändern zu können. Nil novum sub sole [...] Geschichte als fortlaufende Gegenwart« (ebd.: 183). Als sich diese eine, vormodern singularisierte ›Beleuchtung‹ der Geschichte tradierte, konnte sich eine singuläre Tradition unterhalb ihr, durch sie hindurch zeigen: Eine mittels spezifischem Methodenzwang gleichmäßig ausgeleuchtete Geschichte, die zugleich Verdunklung, Nivellierung anderer, abweichender Stimmen war. ›Geschichte der Gegenwart‹ steht hier also noch ausdrücklich in einer ›vormodernen‹ Rahmung. Diesen Rahmen abzuschütteln und zu pluralisieren kann als ein weiterer, an Michel Foucaults Arbeiten – und im interpretierten Kontext dann auch, wie angedeutet, ein wenig an die Judith Butlers – anschließender, methodischer Ansatzpunkt des vorliegenden Buchs verstanden werden. Damit genug der Interpretation und der methodischen Verortung. Denn sie trägt auch eine bestimmte Gefahr: Es könnte sich aus dem bisher Gesagten das Vorurteil bestätigt fühlen, im historischen Kontext könnte so subjektiver Willkür Tür und Tor geöffnet werden. Aber auch Koselleck ist noch nicht am Ende seiner Überlegungen, hat gerade erst begonnen. Denn die historische Situation kompliziert sich ihm zufolge gerade im modernen Zusammenhang. Aus ihm heraus spricht auch Koselleck selbst. Stärker als Unparteilichkeit und ihre methodischen ›Topoi‹ wird in der Moderne Überparteilichkeit immer zentraler. Gewissermaßen eine Draufsicht aus einer (zu konstruierenden) Vogelperspektive scheint nun gefordert zu werden. Eine bisher metaphorologisch tendenziell horizontale Perspektive, die des auf der Erde stehenden Spiegels, vermittelt sich mit einem vertikalen Blick ›von oben‹: Einem ›Überblick‹ aus der Vogelperspektive, »um alle Parteien oder Kräfte eines geschichtlichen Prozesses soweit aufeinander zu beziehen, daß der Prozeß insgesamt in den Blick gerückt werden kann« (ebd.: 181). Ob Koselleck die Beschreibung dieser modernen Vogelperspektive ausdrücklich intendiert hat oder nicht, ob er den Kontext so verstanden

schrittsphänomen historisiert wird: Koselleck 1975: 353, 365f.; Vgl. zum new historicism: Wachholz 2005: 14f; 147f, zu Lyotard ebd.: 74, 80f sowie S. 107f.

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haben wollte oder nicht: Er insistiert darauf, daß das so umschriebene Vorgehen vollständig »zu Recht« (ebd.: 181) geschieht – und zwar, um »keine Parteilichkeit walten zu lassen« (ebd.).16 Was hier wie ein allgemeines Plädoyer für Überparteilichkeit erscheint, leitet umgekehrt über zu einem Bereich, der auf weiteren Ebenen genau um das Gegenteil gruppiert ist. War zuvor, ›vormodern‹, bereits sanft, aber dennoch hörbar bei der Frage nach der Auswahl von Augenzeugen, also der Quellenlage, eine subjektive Komponente bei Fragen der Geschichtsschreibung aufgetaucht, wird bereits in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts durch Johann Martin Chladenius die »Standortgebundenheit« (ebd.: 187) des Historikers Voraussetzung geschichtlicher Erkenntnis. Eine notwendig perspektivgebundene Bildung historischer Urteile wird hier allerdings noch klar abgetrennt von Parteilichkeit; kontrollierbare Quellen als Stifter einer »gemeinsamen Sache« (ebd.: 188) historischer Wahrheit gelten nun als widerständig gegenüber Parteinahmen. In Zwischenräumen wird auch hierdurch die Reflexion von Hypothesenbildung, Geschichtsphilosophie möglich. Ein Rahmen wird »gespannt, der bis heute noch nicht überschritten worden ist« (ebd.: 187): Eine stetige »Verzeitlichung der Perspektive« (ebd.: 203) markiert hierbei – wörtlich genommen – für Koselleck den Übergang zur Moderne.17

16 Die im letzten Jahrhundert noch stark virulente Frage nach Parteilichkeit verweist wohl auch zurück zu einem Problem, das zum Einstieg überblickshaft dargestellt wird im weitesten Umfeld des ersten ›Werturteilsstreits‹ bspw. in Webers Wissenschaft als Beruf von 1917/19: vgl. MWG 17: 93f, insb. 97/98. Koselleck war stark von Carl Schmitt beeinflußt, der selbst wiederum oftmals – als Antipode zu Georg Lukácz – gewissermaßen als ›Rechtsweberianer‹ aufgefaßt wurde. Schmitt hörte zwischen 1917 und 1920 Wissenschaft und Politik als Beruf, und war andererseits von der Rationalisierungsthese der Protestantischen Ethik geprägt (vgl. hierzu insb. McCormick 1997: 32/33). Vgl. zur allgemeineren Thematisierung Webers im Kontext Geschichtsschreibung und einer Parteilichkeit unter Beibehaltung von »Regeln, [...] die einen intersubjektiven Wert sichern«, aus der Perspektive Merleau-Pontys, u.a. die Form Webers gegen eine Geschichtsschreibung Hegelschen und marxistischen Typs gewichtend: Gehring 2000: 40f. Mit ihm kommt sie u.a. zum Ergebnis, daß eine vermeintlich »liberale Geschichte« wie diejenige Webers als »Gegengeschichte funktionieren« kann, wie »eine revolutionäre Geschichte unter Umständen nur Herrschaftsgeschichte verlängert« (ebd.: 60). Vgl. zu Weber im Kontext: Dreisholtkamp 2000, insb 90f. 17 Blumenberg weist dann – allerdings nicht, wie Koselleck, hinsichtlich Historiographie – für die Moderne ein tendenzielles Verschwinden der Metapher nackter Wahrheit nach, erklärt, daß »dort, wo die frühe und hohe Neuzeit auf den bloßen Kern des An-sich-Seienden durchgestoßen zu sein glaubte [...] die Metapher des Kleides wiederkehrt« (Blumenberg 1998: 72f). Anderswo verschwindet selbst sie in tiefer Versenkung: »Rousseaus pragmatische Ausmünzung der Metapher von der Wahrheit im Brunnen ist in Kürze: sie darin liegen zu lassen. Die Tiefe des Brunnens bewahrt uns vor der Problematik ihrer Nacktheit« (ebd.: 75).

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Aus der vormodernen, nackten, gewissermaßen ›speculativ-atopischen‹ Rekonstruktion ›vergangener Gegenwart‹ wird eine moderne »Vergegenwärtigung der Vergangenheit« (ebd.: 191) in verschobener Gestalt. Eine – stetig disziplinäre – »Vergangenheitsforschung« (ebd.: 192) kann sich entwickeln. Die Doppelgestalt einer verzeitlichten Historisierung der Geschichte (ihre ›Schreibung‹) sowie deren fortschrittliche Auslegung – mittels der Annahme historisch unwiederholbarer Ereignisse – wird möglich.18 Koselleck bringt es Ende des 20. Jahrhunderts auf den Punkt: Mit der traditionsreichen Gegenüberstellung von historischen Objektivisten gegen ›Parteilichkeitsvertreter‹ steht man zumeist – bspw. in ausdrücklicheren historischen Methodendiskursen – »mitten im vorigen Jahrhundert, vor demselben Dilemma, das heute noch unsere Diskussion beherrscht« (ebd.: 202). Man steht mitten im durch die Moderne aufgespannten ›Rahmen‹. ›Gegenwärtiges Urteil‹ und ›vergangene Tatsache‹ werden Koselleck zu Termini, die die moderne Rahmensetzung spezifisch ausmessen, zu ›Polen‹ methodischer Entscheidungen und zu Schulen innerhalb ›moderner‹ historischer Praxis: Ihm zufolge hat die zu Beginn der Moderne ansetzende ›Verzeitlichung der Perspektive‹ u.a. die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte zum Bestandteil dessen gemacht, was die Erfahrung der Geschichte selbst betrifft

18 Neben derjenigen Geschichtsschreibung, die Nietzsche ›antiquarisch‹ nennt – die melancholisch verlorengegangene Vergangenheiten rekonstruiert – beginnt im historischen Methodendiskurs bereits um 1800 eine selbstreflexive Thematisierung umstände- und adressatenbedingter Auswahl historischer Quellen (Koselleck 1977: 190) sowie die Relexion räumliche und zeitliche Relativität (Abbt, ebd.: 189). Zeitgenössische Gegenwart und ihre Ereignisse können nun gelten als spezifische Auslöser zur Entwicklung von Interesse an bisher unbedeutenden historischen Episoden (Büsch, ebd.: 190); historische Distanz gilt, umgekehrt zur vormodernen Situation, u.a. als erkenntnisfördernd wegen eines Abstands zu zeitgenössischen Befangenheiten (Fortschrittsphilosophie, Bengel, Planck ebd.: 191); Ereignisse können wirkungsgeschichtlich in den Blick treten (Schlözer, ebd.: 191); willentliche und produktive, rückwirkende Strukturierung kann sich von einer vorhergehenden Not (›Parteilichkeit‹) zur Tugend wenden, die Erschaffung von Historie Teil der wirklichen Geschichte werden und zudem werden geschichtsmethodische Moden als integrales Aufarbeitungsfeld der Geschichtsschreibung in deren Reflexion mit einbezogen. Historismus beginnt dabei als Geschichtsrelativismus und/oder Fortschrittsgläubigkeit (Semler, ebd.: 193f) zu entstehen: Aus einem Fortschrittsglauben heraus wird begonnen, Vergangenheit auf zeitgenössische Gegenwart zu beziehen, Parteilichkeit beginnt sich in einigen Schulen als Pflicht resp. Notwendigkeit zu zeigen (Gentz, Schlegel, Hegel, Feuerbach). Andererseits wird die ausdrücklichere Trennung von Tatsachenwissen und Urteilsbildung propagiert: Beides, emphatischer Apell an die Parteilichkeit und Apell an Objektivität beginnen sich gegenüberzustehen, exemplarisch hierzu der Streit zwischen Ranke und Gervinus: ebd.: 202.

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(›Urteilspol‹) – andererseits wurde und wird an reine vergangene ›Tatsachen‹ appelliert – ganz jenseits ihrer späteren Urteile (›Tatsachenpol‹). Er schlägt hier nun nachvollziehbar vor, einen verschränkten Umgang mit diesen beiden Polen zu wählen: Insb. in ihrer Situiertheit sind auch »Tatsachen [...] urteilsbedingt« (ebd.: 203), andererseits gibt es eine »naturwissenschaftliche Exaktheit« in Fragen textueller Echtheit bspw. beglaubigender Urkunden sowie einen Methodenkanon gegen Beliebigkeit des Urteils: »Es gibt Richtigkeitsgrade historischer Feststellungen, über die endgültig entschieden werden kann« (ebd.: 204). Im verschränkten Zwischenbereich zwischen den beiden ›modernen‹ Polen entwickeln nun urteilende Kontextualisierungsfragen zu ›Fakten‹ ihre eigene Brisanz. Spannungen werden denkbar zwischen einer prinzipiell ja immer möglichen Willkürlichkeit der Hypothesenbildung auf der einen und dem Quellenbefund als deren Begrenzungs- und Überprüfungselement auf der anderen Seite. Koselleck kontextualisiert dies vertiefend mittels der Annahme einer Co-Genese von ›Quellen‹ und (›urteilenden‹) Geschichten. ›Fakten‹ sind nicht einfach ohne oder vor Geschichtsschreibung zu haben; das grundsätzlich reversible, umkehrbare Geschehen zwischen beiden vermittelt sich vielmehr durch anfängliche historiographische Probleme, Fragen: »Jede Quelle, genauer jeder Überrest, den wir erst durch unsere Fragen in eine Quelle verwandeln, verweist uns auf eine Geschichte, die mehr ist oder weniger, jedenfalls etwas anderes als der Überrest selber. Eine Geschichte ist nie identisch mit der Quelle, die von dieser Geschichte zeugt. Sonst wäre jede klar fließende Quelle selber schon die Geschichte, um deren Erkenntnis es uns geht« (ebd.: 204/205).

Koselleck argumentiert hier offenbar partiell hemeneutisch.19 Quellen gelten ihm als Quelle von Geschichte(n) – allerdings versteht er sie nicht derart, daß diese aus jenen einfach entspringen. Vielmehr soll in der historiographischen Praxis versucht werden, durch das Medium der jeweiligen Quelle auf »Ereigniszusammenhänge« durchzugreifen, »die jenseits der Quellen liegen« (ebd.: 205). Geschichte scheint so Quellen gewissermaßen intermedial miteinander zu verweben. Die in Geschichten eingewebten Quellen dienen hierbei dann offenbar als ›durchgängige‹ Punkte, an deren jeweiliger Gesamtheit in der richtigen Verknüpfung ein ›Durchblick‹ auf Vergangenes möglich wird. Oder eben gerade nicht. Oder in der einen Form eher als in der anderen.20 Für die vorliegende Arbeit von Interesse sind auch Kosellecks Überlegungen zur Strukturgeschichte – sie widmet sich ihm zufolge der Untersuchung »langfristiger aus der Vergangenheit sich durchhaltender Bedingungen« (Koselleck 1979: 12, vgl. auch 375). Gehe Strukturgeschichte weit

19 Gerade an diesem Punkt ergeben sich erste Differenzen zu Foucault (s.u.). 20 Hier scheint, zumindest heuristisch, ein teilweise problematisches Adäquatheitskriterium vorzuliegen.

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hinaus über die immer situationsgebundenen Ereignisse und ihre Geschichte – auch als hermeneutische Probleme – so zeige sie damit etwas paradigmatisch auf. Es geht darum, wie an einer Optionsmenge verschieden konstellierter Theorien, durch deren jeweiligen spezifischen historischen Potenziale hindurch, zugleich immer auch (Vor-)Entscheidungen notwendig werden. Es werden gewichtende Entscheidungen notwendig zugunsten einer dieser Theorien: »Erst wenn diese Entscheidung gefallen ist, beginnen die Quellen zu sprechen« (ebd.: 206). Strukturgeschichte steht vor dem Problem, daß die vorgefundenen Aussagen niemals hinreichen, um ganz einfach auf eine einzelne Wirklichkeit durchzustoßen, um »jene geschichtliche Wirklichkeit zu erfassen, die sich quer durch alle Zeugnisse der Vergangenheit hindurchzieht« (ebd.: 205). Keineswegs also »sagen sie uns, was wir sagen sollen« (ebd.: 206). Erst die Entscheidung für eine bestimmte Theorie, die immer auch eine Anordnung der Quellen impliziert, macht diese sprechen. Eingerahmt von einer disziplinierten, hermeneutiktranszendierenden Quellenkritik als Regulativ, einem ›Vetorecht der Quellen‹ spricht Koselleck aus diesem Grund einer Notwendigkeit historischer Hypothesenbildung das Wort. Insofern spricht er sogar von einem »Primat der Theorie« (ebd.: 206) gegenüber vermeintlich für sich sprechende ›Fakten‹. Quellenkritisch abgefedert tendiert er zu einer ›entschiedenen‹, insb. politischen Parteilichkeit. Und meint damit eine Parteilichkeit, die sich jenseits von ›Parteipolitik‹ situiert und damit historische Vereinnahmungsversuche bestimmter Provenienz von vornherein ausschließt.21 An diese methodenrelevanten Vorschläge Kosellecks zum historiographischen Vorgehen läßt sich produktiv anschließen. Am Punkt quasihermeneutischer, besser: quasi-narratologischer Einrahmung des Quellen›Materials‹ werden jedoch auch grundlegende methodische Differenzen Kosellecks bspw. zur Aussagenanalyse Foucaults offensichtlich. Foucault hatte an einem ähnlichen Punkt vorgeschlagen, sehr wohl Quellen – möglichst in der vollständigen Gesamtheit ihrer ›Fakten‹ als ›Aussagen‹ – rein formal ›positivistisch‹ zu betrachten, zu sammeln und auf ihr jeweils verbindendes und bedingendes Relationsgefüge wie die Regularien ihrer Hervorbringung hin zu analysieren:22 Diskursanalyse entfaltet sich nach Foucault offensichtlich durch andere methodische Entscheidungen und Bezugspunkte. Foucaults Äußerungen zur Charakterisierung seiner ›genealogischen‹ Arbei-

21 Vgl. Schmitt 1927: 14/15. 22 Vgl. hierzu auch die instruktiven Aussagen Foucaults zur Analyse der Existenzmodalitäten von Aussagen mittels vorhergehender Analyse ihrer jeweiligen »Koexistenz, ihrer Abfolge, ihres wechselseitigen Funktionierens, ihrer reziproken Determination, ihrer unabhängigen oder korrelativen Transformation« (AW 45) – um Regularien herausarbeiten zu können, um also gewissermaßen bottomup von einer Aussagenanalyse auf Diskurse schließen zu können.

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ten als »Fiktionen« eines fröhlichen Positivismus werfen dann noch ein anderes Licht auf das Problem.23 Im Folgenden wird auf methodischer Ebene dann auch auf ›genealogische‹ Texte Foucaults und deren implizite Vorgehensweisen Rekurs genommen. Die archäologische Methode der ›Diskursanalyse‹ soll parallel, aufbauend genutzt werden. Hier kann Koselleck zur Erhellung methodischer Notwendigkeiten genutzt werden: Archäologisches Vorgehen (›Wissen‹) und genealogisches (›Macht‹) können sich gegenseitig Regulativ sein. Diskursanalyse ohne Einbezug politischer Situiertheit eigener Akte (Urteile), aber auch eher willkürliche politische Parteinahme ohne diskursanalytische Fundierung und diesbezügliche Vorsichtsmaßnahmen (Quellen) sind jeweils für sich alleine nicht genug. Eckpunkte ihrer Verschränkung kann Koselleck liefern, zieht man ihn in bestimmten Grenzen zu einer Analogiebildung heran. Kosellecks Theoreme sind insofern ›wegweisend‹. Zum einen als eine Explikation grundlegender methodischer Erfordernisse historischen Arbeitens, die in ein spezifischen Sprachspiel gefaßt ist. Zum anderen aber auch als Minimalforderungen an machtanalytische Diskursanalysen in Tradition Foucaults – deren Basis fundamentaler Entscheidungen kann tendenziell bereits vor ihrer aussagenanalytischen Praxis methodisch erhellt werden. Und zwar nicht zuletzt hinsichtlich ihres Entscheidungsgrunds, z.B. progressiver Ent-Setzung eingespielter Geltungsansprüche auf untersuchten Feldern. Aus einer solchen Perspektive heraus erscheint nicht nur Foucault in einem mit Koselleck ›kompatibleren‹ Licht. Sondern hierdurch treten auch bestimmte Vorentscheidungen ›machtanalytischer‹ Texte Foucaults theoretisch ›konturierter‹ hervor. Sie können z.B. in einigen Fällen manchen an sie herangetragenen Eindruck willkürlichen Vorgehens relativieren. Kosellecks Thesen lassen sich so ›bastelnd‹ lesen als streckenweise anschlußfähige Verdeutlichung eher unausdrücklicher Elemente ›genealogischen‹ Vorgehens – von deren politischer Situiertheit bis hin zu einigen ihrer Methoden. Zudem kann eine solche Überkreuzung Koselleck-Foucault dann auch einen ersten methodischen Hinweis für das spätere eigene Vorgehen geben.

23 »ich bin mir dessen voll bewußt, daß ich niemals etwas anderes geschrieben habe als fictions. Ich will nicht sagen, daß das außerhalb von Wahrheit liegt. Es scheint mir die Möglichkeit zu geben, die Fiktion in der Wahrheit zum Arbeiten zu bringen, mit einem Fiktions-Diskurs Wahrheitswirkungen hervorzurufen und so zu erreichen, daß der Wahrheitsdiskurs etwas hervorruft, fabriziert, was noch nicht existiert, also fingiert. Man fingiert Geschichte von einer politischen Realität aus, die sie wahr macht, man fingiert eine Politik, die noch nicht existiert, von einer historischen Wahrheit aus.« (Foucault 1977: 117). Vgl. die ›performative Dimension‹ dessen: Butler 1993: 285ff, insb. 288ff.

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G EGENWART

Reinhart Kosellecks historisches Grundinstrumentarium ist auf gewisse Weise gruppiert um eine politische Komponente. Sie ist, überspitzt formuliert, ›dezisionistisch‹ in Filiation und Weiterenwicklung Carls Schmitts. Sie versucht ›Entscheidung‹ als politische Kategorie auf dem Feld der Geschichtsschreibung stark zu machen.24 Auch Michel Foucault läßt sich, wie bereits angedeutet, als politisch und philosophisch orientierter ›Historiker‹ verstehen. Seine ›Entscheidungen‹ liefen für gewöhnlich eher unausdrücklich. Und sie hinterließen hierbei im Ergebnis eher produktives Chaos dort, wo sie sich durch zuvor noch eingespielte Kategoriallinien hindurchgearbeitet hatten. Insofern waren sie oftmals zeitgenössisch nicht mehr auf den Linien des ›gegebenen‹ politischen Feldes einzuordnen. Foucault traf insofern wohl Entscheidungen zur EntSetzung, Diversifikation, Reformulierung, Pluralisierung, Problematisierung seiner Gegenstände – im Effekt geschah damit unausdrücklich ähnliches mit den Verläufen bestimmter politischer ›Stellungen‹ seiner Gegenwart. Andere Formen und Perspektiven zeigten sich dort, wo zuvor noch eindeutiger Parteien im ›Stellungskrieg‹ (Gramsci) auszumachen waren. Foucaults Entscheidungen hatten insofern eine reflexive und zugleich pragmatische Ermöglichung anderer Situiertheiten zum Ziel, nicht zuletzt von politischen Parteibildungs- und Hegemonieprozessen auf den jeweils historisch bearbeiteten Feldern.25 Es läßt sich anknüpfen an diese Reformulierung Foucaults von ›linker‹ historischer Praxis – die zeitgenössisch wohl manchen ›dritten‹, wenn nicht einen ›vierten‹, ›fünften‹ oder n-1’ten Weg eröffnete.26 Unter dem Neben-Stichwort ›Entscheidung‹ wird damit dann auch eine politische Einschreibefläche sichtbar, die heute kaum mehr eine Option, geschweige

24 Vgl. Schmitt 1927 sowie Koselleck 1975: 351, wo neben ›Produkivkräfte und Produktionsverhältnisse‹ und ›Herr und Knecht‹ auch ›Freund und Feid‹ sowie ›Krieg und Friede‹ zu »Ausdrücken der historischen Wissenschaft« werden. Vgl. hierzu, um allzu simplen Mißverständnissen vorzubeugen, bspw. Hirst 1987, Dotti 1999, kritisch Waldenfels 1997: 45ff sowie insb. McCormick 1997. 25 »Das Problem [... ist nicht, rb] eine politische ›Position‹ zu definieren (was uns nur eine Wahl auf einem schon feststehenden Schachbrett lässt), sondern neue Politisierungsmodelle auszudenken und zu verwirklichen helfen. [...] Den großen neuen Machttechniken [...] muß sich eine Politisierung entgegensetzen, die neue Formen haben wird. [...] Zu erfinden sind [...] Strategien, die es erlauben, gleichzeitig Kräfteverhältnisse zu modifizieren und sie in der Weise zu koordinieren, daß diese Modifikation möglich wird und sich in die Realität einschreibt« (Foucault 1977: 113). 26 Vgl. zu Weiterentwicklungen eines ›dritten Weges‹: Waldenfels 1997: 167. Die allgemeine Lage Foucault betreffend ist wahrscheinlich ähnlich gestrickt wie bei einer historischen Studie Valentin Groebners: »Michel Foucault ist immer und überall, wie die Gottesmutter Maria, ich gebe es ja zu« (Groebner 2004: 215).

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denn Partei einer ›bürgerlichen‹ oder ›historisch-materialistischen‹ Geschichtsschreibung mehr kennt. Mit Foucault werden aber auch einige weitere fundamentale Zugänge ins Feld entwickelt. Zentral sind hierbei insb. seine Überlegungen zur ›Geschichte der Gegenwart‹. Sie sind allerdings methodisch niemals im Detail ausbuchstabiert worden. Wenn nun aber etwas eher pragmatisch umgesetzt begegnet, ist es sinnvoll, auf die Rezeption einzugehen. Foucault betreffend ist sie fast unüberschaubar geworden. Dennoch und gerade deswegen prägt sie heute stärker als mancher ›eigentlicher‹ Text Foucaults bestimmte Elemente aktueller, unter dem Stichwort ›Foucault‹ firmierender Diskussionen. In den folgenden Abschnitten werden drei an Foucault anschließende Autoren thematisch, um neben Anschluß an Diskussionen weitere Fragen des methodischen Vorgehens der Arbeit zu schärfen. Hierzu gehören insb. die Felder ›Geschichte der Gegenwart‹ in der Perspektive Ian Hackings sowie ›Reflexion historischer Praktiken‹ in der Perspektive Paul Veynes. Abgerundet werden diese Bilder durch einen Ausblick auf das Vorgehen Michel de Certeaus hinsichtlich ›Subversion‹ und zuletzt auf Judith Butler hinsichtlich ›Materialität‹. Durch die Rezeptionsbrillen Hackings und Veynes hindurch entwickelt der erste eher einen allgemeinen Rahmen auf Phänomene, Paul Veynes Zugang zu Praktiken ist umgekehrt als eher spezifischer Zugang zu historischen ›Gegenständen‹ und ihrer realen Genese zu verstehen. Im Durchgang durch einige ihrer Positionen entsteht damit eine Linie vom allgemeinen Rahmen zum Spezifischen – mit einem kurzen Ausreißer zu subversiven diskursiven Methoden in der Perspektive Michel de Certeaus am Ende. Indem einige relevante Überlegungen vor Augen geführt werden, wird damit weiterhin stetig vorbereitend ein erster Boden bestimmter Perspektiven auf das Gegenstandsfeld der Arbeit eröffnet. Dies umfaßt auch vermeidbare methodische Probleme, um im Ausklang von Überlegungen de Certeaus und dann Judith Butlers im folgenden, dritten Kapitel zwei erste Übergange auf das historische Gegenstandsfeld des Textes zu bewerkstelligen: einen ›metaphorologischen‹ Zugang und einen weiteren, der sich erstmals im problematisierenden Durchgang durch vorliegende historische Untersuchungslinien des Gegenstandsfelds positioniert. Ein Rekurs auf Maurice MerleauPonty unterstreicht zuletzt die im ersten Teil des Buchs geleisteten methodischen Überlegungen und bildet das Scharnier zum zweiten Teil. Grundlegend und allgemeiner beginnt der nächste Abschnitt bei Überlegungen zu einer bestimmten Form der Geschichtsschreibung, die Michel Foucault eingeführt hat. Aktuell wird sie prominent u.a. von Ian Hacking weiterverfolgt. In welchen Grenzen sind die mittlerweile spezifisch tradierten Methoden Foucaults rezeptionspolitisch anschlußfähig?

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I. Hacking: Historische Ontologie Ian Hackings Ansatz ist besonders dort für das Folgende relevant, wo er versucht, sich »komplexen Verflechtungen von Vergangenheit und Gegenwart« (Hacking 2002: 67) zu nähern unter einem an Michel Foucaults Konzepte anschließenden Stichwort ›Geschichte der Gegenwart‹. Gegenüber Foucault, der inbs. in seinen späteren, genealogischen Arbeiten seine Methode eher ausstellend vortrug, versucht Hacking, verbundene Sachverhalte nun ausdrücklicher zu durchdringen, sie zu explizieren. Hierbei subsumiert er seinen eigenen, philosophisch-historischen Ansatz einer ›historischen Ontologie‹ u.a. im Kontext der ›neuen Historismen‹ der 1980er Jahre.27 Philosophisch situiert er diese neuen Historismen jenseits dreier Alternativen: ›Geschichte der Philosophie‹, ›Philosophie der Geschichte‹ und ›achronischen‹ Positionen.28 Gegenüber spekulativen, ›achronischen‹, also geschichtslos argumentierenden philosophischen Konzepten ist Hackings Verständnis von Philosophie durch »harte Arbeit« (ebd.: 87) geprägt. Sie spielt sich eindeutig auf einem historischen Feld ab: »Es geht nicht so sehr ums Reden, sondern ums Nachschauen« (ebd.). Sein Ansatz unterstreicht also die Entwicklung und Überprüfung eigener philosophischer, insb. historisch fundierter Hypothesen – und zwar in Archiven. Diese Vorstellung ist geleitet von einem ›archäologischen‹ Ideal.29 Ihr Ziel ist ›Problematisierung‹ (Foucault 1979): Letztlich soll es darum gehen, auf begründete Weise zeitgenössische lebensweltliche Selbstverständlichkeiten, aktuell anscheinend Unhintergehbares in ein Problem zu verwandeln. Laut Hacking gilt es hierbei dann, zeitgenössisch »vertraute Gemeinplätze [...] in Zweifel und Chaos verwandel(n)« zu wollen (ebd.: 89). In Hackings explikativer Lesart leben Foucaults spätere Methoden und Zugangsweisen geradezu davon, eingebürgerte Perspektiven auf den jeweiligen Gegenstand durch eine »extreme Form von Nominalismus« in Zweifel zu ziehen. Dieser Nominalismus ist ein historisch gesättigter Nominalismus. Jede vermeintliche lebensweltliche Selbstverständlichkeit, selbst ein »absoluter Wert« (ebd.: 85),30 soll damit als etwas historisch Entstandenes gelten können, »als von der Geschichte dazu gemacht« (ebd.: 100). Es sei hierbei jeweils genauer zu fragen nach historischen Praktiken,

27 Vgl. Hacking 2002: 9f, 65f. Vgl. zur Thematisierung fiktionaler Aspekte historiographischer Repräsentationen des amerikanischen new historicism, »konstruktiven und fiktionalen Anteile von Geschichte« (Wachholz 2005: 17): ebd.: 147f. 28 Foucault wird hierbei mit einem »lokalen Historismus« der »viele(n) kleine(n) Fakten« jenseits von »Einheitserklärungen« assoziiert: vgl. Hacking 2002: 67; erste Historismus-Definition: ebd.: 66. 29 Zu Hackings Verständnis Foucaults Genealogie und Archäologie vgl. ebd.: 100. 30 Das Zitat ist implikationsreich: Hackings teils praktische Lektüre Foucaults ist ein Problem, das hier nicht erörtert werden kann.

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die Werte wie diese prägten, danach, »in welcher Weise [...] Begriffe im wirklichen Leben entstanden sind« (ebd.: 81). Hackings Anschlüsse an Foucault halten also zu ›archäologischer‹ Arbeit an. Denn die von Hacking propagierte Form eines ›Nominalismus‹ ist – paradoxerweise, aber ›foucaulttreu‹ – »mit einem hohen Niveau an Faktizität verbunden« (ebd.). Es wird Textarbeit in Archiven vorgeschlagen, die »die Analyse der Wörter an ihrem jeweiligen Platz« vollzieht. Das wiederum soll aus dem Grund geschehen, um »zu verstehen, wie wir denken und warum wir offenbar verpflichtet sind, in bestimmter Weise zu denken« (ebd.: 87). In noch zu klärenden Grenzen, teilweise bspw. ein wenig abseits von Foucaults früher Methodenexplikation Archäologie des Wissens, konzentriert sich Hacking ebenfalls auf jenen methodischen Teil von Geschichtsschreibung, der bereits bei Koselleck kurz begegnete – dort allerdings noch stärker in Differenz zu Foucaults Vorgehen. ›Archäologische‹ Zugriffe sind bei Hacking, abseits seiner spezifisch focussierten Perspektiven, aber auch bei Foucault selbst, der hier noch eindrücklicher verfuhr (Foucault 1969), anfangs durch eine doppelte Blickrichtung ausgezeichnet. Operiert wird zum einen im Archiv, zum anderen in der Gegenwart. Der Gang ins Archiv ist dadurch motiviert, gegenwärtige Probleme – resp. solche, die es begründbar werden könnten – in ihrer spezifischen historischen ›Entwicklung‹ zu verfolgen und damit in ihrer Gegenwart als problematisch aufzeigbar werden zu lassen. Obwohl es der Name nahelegen könnte, handelt es sich bei dem, was Hacking in Rekurs auf Foucault ›Geschichte der Gegenwart‹ nennt, also gerade nicht um allein zeitgenössische Geschichten, um keine Geschichtsschreibung, die z.B. Geschichten aus der Gegenwart erzählt. Es geht vielmehr darum, an einem spezifischen ›Ort‹ der Gegenwart in die Geschichte dessen Entstehens und durch dieses hindurch wieder ›zurück‹ auf eine Gegenwart zu blicken, die sich dadurch u.U. leicht verschoben darstellt. Strikt problemorientiert und begrenzt, am Leitfaden ausgewählter Topoi, soll so jeweils auch eine bestimmte, möglicherweise ›unbewältigte‹ Gegenwärtigkeit der Geschichte zum Sprechen gebracht werden: »Wie sind unsere jetzigen Auffassungen zustande gebracht worden? Inwiefern schränken ihre Entstehungsbedingungen unsere gegenwärtigen Denkweisen ein?« (Hacking 2002: 86). Hacking markiert im Zusammenhang einen politisch entscheidenden – und umstrittenen – Punkt Foucaultscher Überlegungen, wenn er kurz auf einen Fragehorizont zum Thema Hegemonie bei Foucault verweist. Bisher selten wahrgenommen, kommt das Wort ›Hegemonie‹ weder an exponierter noch an wirklich unwichtiger Stelle beim Foucault insb. der späteren 1970er Jahre vor.31 Hacking stellt unabhängig davon Überlegungen an, was genauer

31 Vgl. hierzu bspw. Foucault 1976a, passim; hinsichtlich dem Kampf von Foucaults lokalen Geschichtsschreibungen bspw. gegen eine globale, »als hegemonial empfundene Geschichtsschreibung« vgl. auch Wachholz 2005: 116. Es ist interessant, aber hier nicht leistbar, die Spezifika des Foucaultschen Hegemonie-

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gemeint gewesen sein könnte, wenn Foucault im Kontext eines ihm wichtigen Problems statt von Befreiung von etwas anderem spricht: Er schlägt vor, »die Macht der Wahrheit von den Formen der sozialen, ökonomischen und kulturellen Hegemonie abzulösen, in deren Rahmen sie heutzutage wirkt« (zit. nach Hacking 2002: 102). In den an Foucault anschließenden Geschichten der Gegenwart, Hacking bleibt neben dem Hinweis stark bedeckt, geht es also wohl nicht, das war bereits angeklungen, in erster Linie um eine ›Befreiung‹ einer ursprünglichen historischen Wahrheit. Stärker als sich hierin zu erschöpfen, geht es ihnen darum, strategische Operationen innerhalb relevanter Machtfelder und deren Wahrheitsformen zu lancieren. Und zwar auch in Machtfeldern, die die Geschichtsschreibung umfassen mögen. Bestimmte gegenwärtige, historisch gewordene Wahrheiten werden hierbei zum einen als Machteffekte dechiffriert. Zum anderen werden ihnen und ihren Wahrheiten auch andere Wahrheiten – und andere Geschichten – entgegensetzbar, läßt sich Wahrheit und deren Macht auch in anderen Wahrheitsspielen einsetzen – um z.B. andere Zukunftsszenarien abbildbar zu machen. Hackings tastender Hinweis auf Foucaults Versuche einer Ablösung von Wahrheiten aus bestimmten Hegemonien kann also auch auf bestimmte Angriffsversuche Foucaults deuten auf spezifisch verortete Wahrheitswerte, auf seine jeweils spezifisch situierte Methode quasi einer Rekontextualisierung. Hacking aber streift nur kurz dieses Feld politischer Radikalität des Foucaultschen Konzepts, um es

Begriffs, der streckenweise durchaus in Gramscischer Tradition zu stehen scheint, mit der Hegemonietheorie Ernesto Laclaus/Chantal Mouffes zu kontrasieren (vgl. Laclau 1996) – z.B. hinsichtlich deren Lacanianischem Mangelkonzept im Bereich Identifikation/Subjektivation (Ders.: 135f, vgl. zu ›reinen Ereignissen‹ Laclau 1985: 64) oder der Frage, ob die Überlegung triftig ist, Foucault eine »radikal-partikularistische« Herangehensweise an Universalität zuzuschreiben – und daraus dann notwendigerweise folgt, wie behauptet wird, »eine Welt auseinanderstrebender Monaden oder ein Krieg aller gegen alle« (Laclau 1996: 13). Vgl. zum Thema Partikularismus genauer ebd.: 54f; vgl. zu antiökonomistischen Antagonismuskonzepten allgemein Laclau 1985: 139f, insb. 181, 191, 246, 280 FN36., dagegen das antiökonomistische Konzept: Weber 1920, insb. 83f., 205f. Vgl. hierzu auch, verschoben, ausgehend von der Freund/Feind-Unterscheidung Schmitts, einem Freundes-Ethos: Dyzenhaus 1999: 81. Vgl. zum auf Carl Schmitt zurückgehenden Konzept Mouffes einer grundlegenden liberalen Paradoxie zwischen einer liberalen Gleichheits-Grammatik, die Universalität und Humanität proklamiert gegenüber faktischen demokratischer Gleichheit, die die Unterscheidung zwischen wir und sie benötigt: »No final resolution or equilibrium between [...] two conflicting logics is ever possible, and there can be only temporary, pragmatic, unstable and precaurous negotiations of the tension between them« (Mouffe 1999: 43/44). Vgl. im Kontext zu einem ›radikalen Pluralismus‹: Laclau 1985: 299, zu Medien zwischen Vermassung und Subversion: ebd.: 224f. sowie, kritisch zu Laclau: Butler 1993: 267f.

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mit seinem Hinweis in voller Tragweite dann wohl eher zu verdunkeln als zu erhellen. Für das explikative Vorgehen Hackings im Kontext zentraler scheint dann auch ein theoriepolitischer Schachzug zu sein: Er statuiert einige ›Eingemeindungsgesten‹. Hierdurch wird ihm, im Rückblick auf Foucault, das Konstatieren einer auf ihn zurückreichenden ›Schulbildung‹ möglich, die bis hinein in die Gegenwart reichen und sich u.a. von einigen der angedeuteten Methoden her schreiben können soll. Hacking trägt hierbei u.a. Simon Schaffer, Steven Shapin, Bruno Latour und Andrew Pickering einige dem explizierten Foucaultschen Konzept teilweise analoge Theoriegesten an:32 Auch deren »historischen Untersuchungen werden [...] nicht aus Neugierde über die Vergangenheit angestellt, sondern sie sollen etwas zeigen, was unsere jetzige Realität, unser jetziges Denken und unsere jetzige Forschungsverfahren betrifft« (ebd.).

Eine im Grundsatz ähnlich verortete und vorgehende Bewegung verbinde die Theoriepragmatik dieser Autoren unausdrücklich mit Foucaults Konzepten. Interessant ist hierbei insb. die zu vermutende Strategie hinter Hackings streckenweise wohl etwas leichtfüßiger und nicht zuletzt insofern auch teils problematischer Eingemeindungs- (und damit wohl auch Gründungs-)Geste. Er will für das ja selbst durchaus noch differenzierter explizierbare Konzept Foucaults schlicht aufzeigen, daß es aktuell unter mehreren ähnlich gewichteten Theoriebildungen nicht mehr alleine steht. Hackings Rekurs auf Foucault und bestimmte Forscher seiner Gegenwart – und damit auch die hierdurch vorgenommene eigene gegenwärtige Verortung – unterstreicht im Effekt eine erstarkte zeitgenössische Signifikanz eines Felds bestimmter Theoriepragmatiken: Deren Haltung soll und sollte schlicht nicht mehr als eine punktuelle, eher randständige historische Methode wahrgenommen werden. Auch und gerade dann nicht, wenn sie teilweise implizit, teilweise ausdrücklich, teilweise stärker, teilweise schwächer methodisch abgefedert im Fahrwasser Foucaults, unter einem Titel Geschichte der Gegenwart segelt. Gesten einer solchen Haltung hätten – und haben sich wohl auch – ausgebreitet. Teilweise schließen sie (noch?) einen bestimmten politischen Anspruch ein. Eine derartige Aussage Hackings würde dann heute auch selbst in der historischen Disziplin kaum mehr auf Widerspruch stoßen: Foucault ist offenbar auch dort eingebürgert.33 Was aber könnte es für die Gegenwart bedeuten, wenn diese und ähnliche Methoden hegemonial würden? Darauf kann Hacking keine Antwort geben. Hackings Perspektivierung von ›Geschichten der Gegenwart‹ eröffnet neben einigen anschlußfähigen, populären und popularisierenden Aussagen

32 Hier könnte man weitere Arbeiten wie z.B. Dupuy 1994 einordnen. 33 Vgl. jüngst die ausgezeichnete Studie: Groebner 2004. Vgl. allgemein zu bisherigen Zweifeln in der historischen Disziplin: Wachholz 2005: 148, FN1.

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und teils erhellenden Explikationen aber auch einige nicht zu unterschätzende Probleme. Diese erschöpfen sich nun nicht alleine darin, daß man neben Hackings Ausführungen zum zitierten und explizierten Autor auch diesen selbst möglichst nicht vergessen sollte – insb. die von Hacking kaum genannten, bspw. früheren Texte. Und auch weitere Probleme begrenzen die Reichweite von Hackings Überlegungen für den vorliegenden Text. So wird offenbar z.B. eine theoretische Weiterführung traditionsreich eingespielter Differenzen zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften betrieben. Die Rolle der Philosophie – und mit ihr der Gesellschaftswissenschaften – erscheint hierbei in einem bestimmten traditionellen und damit noch immer implikationsreichen Licht. Im Kontext scheint es insb. zu einer tendenziellen, implizit bleibenden Reformulierung eines traditionellen Subjekt-/ Objekt-Dualismus in neuem Gewand zu kommen. 34 Trotz bestimmter politischer Beteuerungen in anderen Kontexten35 plädiert Hacking an einigen Stellen z.B. im wissenschaftstheoretischen Gebiet für eine gewissermaßen pragmatische ›Arbeitsteilung‹. Dieses Plädoyer betrifft die Reflexion einzelner Gruppen wissenschaftlicher Disziplinen. Die vorgeschlagene Arbeitsteilung selbst transportiert dann nicht allein individuelle Präferenzen Hackings. Sie hebt offenbar auch traditionell eingespielte disziplinäre Arbeitsteilungen auf ein neues reflexives Niveau – und reproduziert sie damit. Das läßt sich ein wenig veranschaulichen an der Aussage: »Kuhn zur Physik, Foucault zu den menschlichen Belangen« (ebd.: 62, vgl. auch ebd.: 87). Kuhns Paradigmentheorie soll einstehen für die wissenschaftstheoretische Reflexion der Belange gewissermaßen eines Naturwissenschaftspols zeitgenössischer Theoriebildungsprozesse, Foucault für diejenige eines gesellschaftswissenschaftlichen ›Pols‹. Denn im Umfeld der ›Gesellschaftswissenschaften‹ gehen für Hacking die pragmatischen Effekte ihrer vorherrschenden Methoden, Klassifikationen und Kategorien – er nimmt auch an diesem Punkt rezeptionspolitisch implikationsreich Foucault für sich in Anspruch – erst einmal vor allem darin auf, »Arten von Menschen und Arten von Handlungen« (ebd.: 53) zu erzeugen. ›Gesellschaftswissenschaftlich‹ generierte Kategorien trügen in letzter Instanz dazu bei, »neue ›Seinsweisen der Menschen‹ zu generieren« (ebd.: 63). Philosophisch ›analytisch‹ und teils ein wenig abseits von bspw.

34 Vorausgesetzt, man versteht diese Differenz im Sinne der auf den ersten Blick um den ›Menschen‹ gruppierten empirisch/transzendentalen Dublettenthematisierung bei Foucault: Gesellschaftswissenschaft zur Thematisierung eines ›Subjekt‹-Pols [Freiheit/Begrenztheit/Geschichte] und seines ›Hofs‹, Naturwissenschaft verstanden zur Thematisierung des ›Objekt‹-Pols [Gesetzmäßigkeit, Organisation, Materialität] und seines ›Hofs‹. 35 Vgl. Hacking 1990, insb. die leicht ökonomistische Interpretation des Empirismus Humes, resp. von ›Einzelfakten‹ (ebd.: 22) gegenüber stärker historischen Ansätzen, bspw. dem historistischen Positivismus Comtes (ebd.: 79f). Vgl. auch teils eher traditionell linke Kontextualisierungen einiger Probleme (ebd.: 98f).

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Foucaults Ordnung der Dinge betrachtet, regiert Hacking zufolge im ›gesellschaftswissenschaftlichen‹ Bereich eine Begriffsdiffusion zwischen »Wort und Ding« (ebd.: 64). Hier und nur hier soll ein von Hacking so genannter ›dynamischer Nominalismus‹ walten: »Kategorien von Personen entstehen zur gleichen Zeit wie die Personen neuer Art, die zu diesen Kategorien passen, und zwischen diesen Prozessen besteht eine beiderseitige Wechselwirkung« (62). Es ist die historische Konstitution gesellschaftswissenschaftlicher Kategorien und ihnen entsprechender, historisch differenter, menschlicher »Gegenstände«, die Hacking allein an diesem Punkt eine bestimmte, in seinen Augen durch Foucault inspirierte Analysemethodologie angeraten sein läßt. Foucaults Methoden anzuwenden sei dann und nur dann angebracht, »wenn es sich bei den Gegenständen um Menschen und deren Verhaltensweisen handelt« (ebd.: 63). Denn anscheinend ist ihm ein allgemeines Spezifikum solcher Human-›Gegenstände‹ und deren ›Verhaltensweisen‹, daß diese unabhängig von jeweils spezifischen historischen Kategorisierungsleistungen in besonderem Abstand zur Welt zu stehen kommen: Es sind ›Personen‹. Hacking stellt ein solches Faktum in Differenz zu einem anderen Geschehen und dessen Effekten. Auch dieses wird im historischen Blick mit einer wissenschaftlichen Behandlungsart – und ihrer Reflexion – assoziiert. Seine Effekte sollen nun allerdings strikt jenseits humaner ›Erfindung‹ liegen: Durch eine naturwissenschaftliche Behandlung ›der Welt‹ würden keine historisch verschiedenen Menschen-Formen ›erfunden‹, sondern allein Welt ›umgestaltet‹ – »Die Welt wird von uns umgestaltet, aber Personen erfinden wir« (ebd.: 64). ›Die Welt‹ und ihre ›Umgestaltung‹ folgt Hacking also – ganz entgegen den sie bevölkernden ›Personen‹ – offensichtlich anderen, ›naturwissenschaftlichen‹ Behandlungsformen. Diese Formen allein müssen nicht nur einer konstitutiven Widerständigkeit ihrer Gegenstände, des Rohmaterials der Umgestaltung, Rechnung tragen. Auch deren Ergebnisse lassen diese Wissenschaften immer wieder auf die Widerständigkeit ihres ›Gegenstandes‹ stoßen – offenbar ganz im Unterschied zu den Gesellschaftswissenschaften. Nur in den sciences muß das Rohmaterial, aus dem die wissenschaftlichen Ergebnisse generiert werden, einverständig sein, ›Erlaubnis erteilen‹ zu konstruktiven Praktiken. Und diese Praktiken selbst können sich hier zudem auch nur in bestimmten Grenzen bewegen: »In der Naturwissenschaft ändert unsere Erfindung von Kategorien nicht ›wirklich‹ etwas an der Funktionsweise der Welt. Wir schaffen zwar neue Phänomene, die in der Zeit vor unseren wissenschaftlichen Bemühungen nicht existiert haben, aber das gelingt uns [...] nur mit Erlaubnis von seiten der Welt« (ebd.: 53).

Hackings Differenzierung zwischen Naturwissenschaften (Reflexionstyp ›Kuhn‹) – in pragmatisch ›erlaubten‹ Grenzen können sie »Welt erfinden« – und Gesellschaftswissenschaften – sie können wohl relativ friktionslos bestimmtes human-personales Funktionieren verändern, »Personen erfinden« (ebd.: 53; Reflexionstyp ›Foucault‹) – ist allemal implikationsreich. Diese

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disziplinäre Differenzierung läßt manche theoretische Vorentscheidung, Grenze und spezifische Situiertheit der Hackingschen Foucault-Rezeption erkennen. Die auch und gerade aus bestimmten anderen Texten Hackings heraus, insb. den stärker archivarischen Arbeiten, nur begrenzt verständliche Geste, Gesellschaftswissenschaften (verstanden rein wörtlich als ›Human‹Wissenschaften) und einen sich (allein) ihnen reflexiv nähernden Foucault einzig auf der Seite einer ›Erfindung‹ von ›Menschen-Formen‹ zu veranschlagen, scheint auf den ersten Blick problematisch: Kommen Foucaults Problematisierungen einer Vielfalt von Praktiken, epistemischen Fundierungen und dazu notwendigen Techniken in letzter Instanz wirklich allein bei den Humanwissenschaften zum Stehen? Welchen Grund könnte es geben, ›Personen‹ zwar nicht mehr vorschnell allein die traditionelle Subjekt-, aber umso stärker die ›Gegenstands‹-, Objektposition zu reservieren? Und warum nicht beides? Wo verortet Hacking Foucaults Überlegungen zur kritischen Haltung, seine historische Forschung zu Selbsttechnologien und ihrem jeweiligen Selbst- und Weltverhältnis? Auf den ersten Blick zumindest markiert das Ergebnis von Hackings pragmatischer Entscheidung kaum einen reflexiven, geschweige denn einen theoriepolitischen Fortschritt. Die historisch-›gesellschaftswissenschaftlich‹ offenbar weitestgehend widerstandslos-frei konstruierbaren ›Menschen‹ könnten sich also – meint das Hacking wirklich? – als Forschersubjekte, bspw. im Labor konfrontiert sehen mit einer spezifisch historischen Widerständigkeit der von ihnen in bestimmten Grenzen erfundenen ›Welt‹ gegenüber ihrer ›Neuerfindung‹. An dieser Welt zeigte sich dann offenbar eine stärkere ›materielle‹ Widerständigkeit als an den sie ›erfindenden Menschen‹ – ganz als wären allein derart entstehende Welt-»Phänomene [...] der Theorie gegenüber widerstandsfähig« (ebd.: 57), nicht aber eher einspruchslose ›Menschen‹ gegenüber ›Theorien‹ und ›Kategorien‹ der Gesellschaftswissenschaften. Hackings ›experimenteller Realismus‹ spricht ganz ›pragmatisch wahr‹: Wir konstruieren im Labor Kategorien, bspw. in physikalische Kontexte hinein, können damit Neues entstehen lassen (Hacking nennt den photoelektrischen Effekt und als eines seiner Anwendungsgebiete automatische Türen in Supermärkten) – aber im Gegensatz zum Geschehen beim ›Menschen‹ verschwinden, ›verpuffen‹ die damit möglich gewordenen Artefakte (z.B. automatische Supermarkttüren) nicht einfach transformativ zugunsten einer neuen, anderen Kategorialfassung, wie sie – in Analogie zum humanwissenschaftlichen Pol gedacht – nach einer Veränderung naturwissenschaftlicher Theorien oder einer Revolutionierung fundamentaler Kategorialrahmen (z.B. einer Veränderung im Umfeld der Photonentheorie) erwartbar wären. Hacking schlußfolgert hieraus, daß »die Gegenstände der Wissenschaften, obwohl sie zu bestimmten Zeitpunkten erzeugt werden, nicht historisch konstituiert sind. Von nun an sind sie Phänomene, einerlei, was sonst noch geschieht« (ebd.: 58). Von nun an sind die Fakten festgelegt. Einer von Foucault her kommenden Problematisierung, die auch Naturwissenschaften einbezieht, macht es Hacking an diesem Punkt nicht gerade

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leicht. Welchen Status haben für Hacking Subjekte als Teil der Welt? Nichts hindert an dem Gedankenexperiment, Menschen einmal analog zu Hackings wissenschaftlich fundiert entstandenen ›Welt‹-Gegenständen zu verstehen. Wie Hacking an anderer Stelle angibt: Auch bei ihnen ist die reine Einsicht, das reflexive Einholen ihres historischen ›Gemachtseins‹ noch kein hinreichender Grund dazu, daß geltende Konstruktionsformen verpuffen, in eine Transformation übergehen. Andernorts negiert Hacking unausdrücklich diese Ansicht – »Wenn man die Ursache eines Problems versteht, wird es schon weggehen [...] die Probleme verschwinden« (ebd.: 87/88). Eine Widerständigkeit von Subjekten gegenüber wissenschaftlichen Paradigmenwechseln – gegenüber neuen Antworten auf Fragen danach, »warum diese Dinge problematisch sind, während wir vorher nur wußten, daß sie problematisch sind« (ebd.: 88) – lenkt den Blick auch auf jeweilige Kontexualisierungen, kontextfundierte Reproduktionen und/oder Aufhebungen/Transformationen von Sachverhalten und mit ihnen einhergehenden Ein-/Ausschlußverfahren. Vielleicht ist es eine Grundentscheidung Hackings, im statuierten Verhältnis konstituierter, ›faktischer‹ ›Gegenstände‹ gegenüber wissenschaftlichen Theorien jeweils spezifische Relationsbündel deren allgemeiner sozialer Kontextualisierung, Einbettung und Verflechtung aus seinen Überlegungen auszusparen. Jedenfalls fällt auch keine Hackingsche ›multiple Persönlichkeit‹ einfach aus dem Rahmen zeitgenössischer Kategorialkonstrukte, dadurch, daß die Geschichte der Konstruiertheit dieser Kategorie bekannt wird. Vielmehr ist die Frage, ob sie – oder ein atombetriebenes U-Boot – noch dieselbe Funktion in einem sozialen Rahmen haben, wenn psychiatrische Kategorien – oder diejenigen der atomaren Physik – praktisch ihre bisherige Ausrichtung oder Verortung geändert haben, womöglich gar eine andere Rolle spielen, bspw. durch politische Prozesse in Folge der historischen Reflexion ihrer ›Erfindung‹ und bisherigen spezifischen Funktion. Um es mit Paul Veyne zu formulieren: »Man muß [...] von den einander folgenden, wechselnden Praktiken ausgehen, denn je nach Epoche wird dieselbe Institution unterschiedliche Funktionen erfüllen, und umgekehrt« (ebd.: 57). Dinge müssen nicht notwendig verschwinden oder sich transformieren, können auch eine andere Funktion, Verortung annehmen als zur Zeit ihres Entstehens. Manches wird frei und neu besetzbar, schlicht nicht mehr in alter Funktion wahrgenommen und genutzt. Solche historische Wendungen scheinen, zumindest reflexiv, bei Hacking ein wenig ausgespart zu sein. Positiv gewendet: Es sind auch solche Fragen der Erweiterung des Gegenstandsfelds von ›Geschichten der Gegenwart‹ auf ›Gegenstände der Welt‹, die im Folgenden immer stärker, in mehrerer Hinsicht im Raum stehen werden. Hacking scheint die potentielle Schlagkraft solcher Geschichten mittels Zuordnung zu begrenzten Bereichsdisziplinen, zu dort möglichst vorherrschenden Reflexionsformen nicht ausdrücklich vorzusehen. Im Folgenden wird versucht, ›Gegenstände‹ grundsätzlich nicht dekontextualisiert zu betrachten. Ihre jeweilige Signifikanz zeigt sich erst im Gewebe ihrer Si-

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tuiertheit, Kontextualisierung und Wertbesetzung in u.a. historischen Feldern. Auch insofern sind sie nicht transformativ ›aus der Welt zu schaffen‹. Wohl aber sind sie anders besetzbar, situierbar, kontextualisierbar. Im Kontext ihrer sozialen Kontextualisierung können sie funktionalen Transformationen unterliegen. Zudem hat Foucaults Methode nicht nur Implikationen auf der Seite der Naturwissenschaften, sondern ist auch durchaus auf diese Wissenschaften bezogen und dort anzuwenden, was u.a. ihre Geschichte, Methoden und Gegenstände umfasst. Auch solche ›Geschichten der Gegenwart‹ lassen sich auf Foucaults Thesen rückbeziehen, in neuen ›Gegenstandsfeldern‹ fruchtbar machen. Mit dieser Hypothese im Hintergrund wird im Folgenden der Versuch fortgeführt, ein historisches Feld des Entstehens, das bisher stärker von seiner ›Artefakt‹-, ›Gegenstandsseite‹ aus beleuchtet wurde, stärker von einer historisch und sozial kontextualisierten Prozeßseite, von diskursiven Pragmatiken und deren Verortungsleistungen aus zu denken. Und dabei zugleich, teilweise unausdrücklich, philosophische und politische Implikationen sichtbar werden zu lassen. Hierbei kann in Grenzen auf Hackings Erhellungen zurückgegriffen werden, ohne bestimmte seiner Perspektiven zu teilen. Nicht zuletzt wurde auch und gerade das, was Foucault Bio-Macht nennt, durch Hacking, bspw. im Feld Statistik-Historie, sehr intensiv, mittels ›harter Arbeit‹ untersucht.36 Wie könnte man des weiteren ganz grundsätzlich ›Gegenstände‹, insb. historisch verstehen? Das Verständnis des Foucaultschen Terms ›Geschichte der Gegenwart‹ läßt sich weiter spannen. Man könnte bspw. beginnen bei ›Praktiken‹, die mit jeweiligen ›Gegenständen‹ verschränkt sind – ein weiterer, wichtiger Terminus Foucaults. Paul Veyne hat u.a. an diesen Punkten rezeptionspolitisch einiges weitere an Foucaults Methoden ausdrücklicher gemacht und zugleich spezifisch weiterentwickelt.

P. Veyne: Schießstände, Eisberge »Die Geschichte ist ein unsicheres Gelände, kein Schießstand« P. VEYNE

Michel Foucault wird von Paul Veyne wohl ein wenig idealisiert. Er spricht ihn als »der vollendete Historiker« (Veyne 1982: 7) an. Weniger aber als die Person ist es für Veyne dessen historische Methode, die eine »wissenschaftliche Revolution« herbeigeführt hat. Es ist diese Methode, die ihm ›vollendet‹ scheint. Und zwar, ganz banal, da sie »vollständig positivistisch« (ebd.:

36 Vgl. Hacking 1982, Hacking 1990, überblickshaft Hacking 2002: 85, 97. Zur Hackingschen Historisierung des Phänomens multipler Persönlichkeit, partiell in Tradition von Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft: Hacking 1996.

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8) verfahren soll. Schlicht darin erkennt Veyne eine »Vollendung der Historie« (ebd.: 7). In Veynes Rezeption bestimmter Methoden Foucaults wird eine neue Reinform historischen Arbeitens, ein neuer Historismus sichtbar. Foucault wird zum »Historiker im Reinzustand: alles ist historisch, die Geschichte vollständig erklärbar, und alle Ismen sind zu verabschieden« (ebd.: 58). Ob auch aus dieser Methode wieder ein Ismus werden kann? Veyne jedenfalls konzentriert sich weniger auf die ›archäologischen‹ Arbeiten Foucaults der 1960er Jahre, die, noch stark um ›Diskurs‹ und ›Wissen‹ herum gruppiert, von Foucault stärker reflexiv durchdrungen waren (Foucault 1969). Auch Veyne hat wohl spätere, methodisch unausdrücklichere Texte vor Augen, wenn er versucht, die Foucaultsche Diskursanalyse zu einer Methodologie der Analyse von ›Praktiken‹ weiterzuentwickeln. Er versucht methodisch näher zu explizieren, was bei den späteren Arbeiten unter dem Begriff ›Praktiken‹ ein wenig im Dunkeln geblieben war, vielleicht auch bleiben mußte. Was Veyne zu entwickeln sucht, ist eine anschlußfähiger nutzbar zu machende Vorgehensweise dessen, was Foucaults in den fraglichen Texten eher implizit vorbuchstabierte. Veyne macht hierbei insb. einen Begriff von »politischen Praktiken« (ebd.: 30) stark. Hierdurch sollen Ausschnitte einer jeweiligen »politischen Grammatik einer bestimmten Epoche« (ebd.) konkreter fassbar werden. Wenn sich Veyne dazu frei in den Texten Foucaults bewegt, knüpft er reflexiv immer wieder eigene Überlegungen ein. Die von Veyne als ›positivistisch‹ charakterisierte ›Methode‹ Foucaults soll z.B. versuchen, vermeintlich »natürliche Gegenstände« (ebd.: 13), gegenstandshafte Entitäten, bisher als ›singulär‹ verstandene historische ›Objekte‹ strategisch zu entplausibilisieren. Es handelt sich dabei insb. um ›Großgegenstände‹ wie z.B. ›Politik‹ oder ›Staat‹. Hierbei sei gewissermaßen deren Singularform anfangs einer »Negation« (ebd.: 50) zu unterziehen, um sie somit im Ergebnis historisch diversifiziert untersuchbar zu gestalten. Insb. dieser Gedanke aus Veynes Rezeption Foucaults ist, mit leicht verschobenem Vorzeichen, interessant für weitere Überlegungen des vorliegenden Texts. In Veynes Explikation Foucaults werden also bislang eher ahistorisch, singulär gedachte ›Gegenstände‹ synchron wie diachron einer Pluralisierung unterzogen. Unterhalb des jeweiligen ›Gegenstands‹ wird eine Menge ›fundamentaler‹ Elemente sichtbar gemacht. Ihnen sei dann die jeweilige Konstitution einer Sachlage gewissermaßen als ›Oberflächeneffekt‹ geschuldet. Die Erfassung solcher Elemente erst erlaube eine Historisierung des jeweiligen Gegenstandes: Diese ›fundamentalen‹ Elemente sind dazu schlicht ›positivistisch‹ zu »beschreiben [...] und nichts anderes (zu) unterstellen. Nicht [...] daß ein Ziel existiert, ein Gegenstand, eine materielle Ursache [...], ein Verhaltenstypus« (ebd.: 21/22). Positivismus bedeute hier »genau« (ebd.: 31) zu sprechen. Und das meint offenbar, sich jenseits von Vorannahmen zu quasi-kontinuierlichen und/oder zielgerichteten ›Entwicklungen‹ der Unklarheit, Fremdheit eines jeweiligen spezifischen Feldes auszuliefern. Es sei

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hierbei »zu sehen, wie« etwas »wirklich« (ebd.: 31), »tatsächlich ist« (ebd.: 27) – als reine Oberfläche, jenseits jeder weiterführenden, semantisch geprägten ›Drapierung‹, wie es Veyne implikationsreich einkleidet. Praktiken der Diskursanalyse sichtbar machen: Offenbar versucht Veyne Foucaults Methode des Umgangs mit ›Aussagen‹ als konstitutiven Elementen von ›Diskursen‹ (Foucault 1969) auf dem Feld diskursiver ›Praktiken‹ konkreter zu explizieren.37 Es steht nicht mehr allein die Frage nach der historischen Genese und Transformation von Diskursen, sondern nun auch ausdrücklich deren jeweiliger politischer ›Gegenstand‹ im Raum. Neben dem, »was gesagt« wird – das untersuchen Diskursanalysen – soll sichtbar werden, was »getan wird« (ebd.: 29). Durch Analysen des Sagbaren, der Aussagen hindurch werden diskursive Pragmatiken, Praktiken sichtbar.38 Zur Verdeutlichung arbeitet Veyne im Kontext insb. mit der Metapher des ›Eisbergs‹. Sein Vorgehen gleicht gewissermaßen formalen Rekonstruktionen historisch-archäologischer ›Bergungsarbeiten‹ auf ›hoher See‹ bei beträchtlichem historischen Wellengang. Der ›sichtbare‹, ›selbstverständliche‹ Teil eines historischen ›Gegenstandes‹ wird verstanden gewissermaßen als ›Spitze eines Eisbergs‹. Die Sache selbst gilt es dann hierbei zu begreifen vom »verborgenen Teil des Eisbergs« (ebd.: 14, 27) aus, von einem bisherigen historischen Selbstverständlichkeiten entzogenem ›Unsichtbaren‹ ausgehend, das bislang »unterhalb der Linie der Sichtbarkeit« (ebd.: 28) lag, unterhalb einem bisher eingespielten Rahmen. Es ist dieses ›Unsichtbare‹, das nun als jeweilige ›Praktik‹ angesprochen wird. Im Bild gesprochen ist es Aufgabe des Historikers, dieses bislang Unsichtbare in Folge der eigenen ›Ausgrabe‹- oder ›Tauch‹-Pragmatik wieder auffind- und sagbar zu gestalten. Was dadurch sichtbar wird – eine jeweilige spezifische Praktik – bezeichnet Veyne schlicht als ›Tun‹, als ›Handlung‹, als ›Machen‹. Es ist ihm, damit tritt Veyne aus dem Bild heraus und naheliegenden Implikationen entgegen, »keine mysteriöse Instanz, keine Basis der Geschichte, keine verborgene Triebkraft: es ist, was die Leute tun (das Wort sagt genau, was es sagen will)« (ebd.: 22). Es ist das, »was in jedem Moment der Geschichte das Machen war« (ebd.: 37). Eine jeweils ›untergegangene Praktik‹ ist also ihrer historischen Vergessenheit zu entreißen. Dies geschieht nicht aus Gründen der Bewußtwerdung, z.B. zugunsten einer Rückkehr des Verdrängten.39 Es soll aus rein ›methodischen‹ Gründen geschehen. Denn es soll schlicht keiner voreiligen ›Verdinglichung‹ zugearbeitet werden. Wo es gilt, nicht »die Praktik (zu) vergessen, um nur noch die Gegenstände zu sehen, in denen sie für uns ver-

37 Vgl. ebd.: 45. 38 Vgl. die Differenzierung zwischen Diskurs und Praktik: ebd.: 28f; Hinweise auf die genealogische Methode als philosophische Schule: ebd.: 59, 63, 75. 39 Veyne sträubt sich ausdrücklich gegen psychoanalytische Interpretationen: Vgl. ebd.: 30f. Vgl. auch die Bestimmung von Praktiken jenseits deren Erfaßung durch Bewußtsein: ebd.: 32f, hinsichtlich ›Verdrängung‹: ebd.: 62f, 66.

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dinglicht ist« (ebd.: 14) gilt es, eine andere Perspektive entstehen zu lassen auf jene historische Objekte, die bisher eher aus der Perspektive historischer ›Draufsicht‹ als vermeintlich ahistorische wahrgenommen wurden.40 Es soll dabei jede Vorannahme einer historischen, womöglich gar mit einer impliziten Teleologie unterlegten ›Entwicklung‹ ausgeschlossen werden.41 Hierdurch äußert sich auch eine Kritik gegenüber Veynes zeitgenössischer historischen Zunft: Sie hatte doch offenbar bisher zentrale (Kleinst-) Gegenstände aus ihrer historischen Perspektivierung ausgeblendet. Im Feld historischer Mannigfaltigkeiten, ›Vielheiten‹ arbeitete man mit komplexitätsreduktiven Methoden, z.B. mit forschungsleitenden transhistorischen Singularbegriffen, was unausdrücklich »Einheit zu unterstellen sucht, die nicht da ist« (ebd.: 36). In den entstehenden historischen Überblicken wurden damit im Effekt ahistorisch gedachte Singularitäten (re-)produziert – quasi-Substanzen, ausgestattet gewissermaßen mit einer historischen ›Akzidentalentwicklung‹: Dort, wo prinzipiell »vielfältige Objektivierungen [...] heterogenen Praktiken entsprechen« (ebd.), forderte eine forschungsleitende (›Substanz‹-)»Illusion« letztlich immer wieder ihren Tribut der Annahme eines »natürlichen Gegenstands« (ebd.). Unter der Hand wurden mittels unreflektierter Forschungskategorien diese selbst naturalisiert – und mithin damit auch ihre Gegenstände. Dementgegen ist Veyne zufolge für Foucault ein jeweiliger »kleiner Gegenstand der damaligen Zeit« jeweils erst überhaupt ›positivistisch‹ zu ›finden‹. Gegenüber niedrigkomplex angegangenen, ›konventionellen‹ historischen ›Übergegenständen‹ sind diese dann »rar, bizarr und nie gesehen« (ebd.: 34, 66). Weniger theoretisch zu abstrahieren als »empirisch« zu »protokollieren« (ebd.: 39) sind an ihnen jeweils konstatierbare zeitliche Transformationen.42 Denn sie führen stetig zu anderen (›Kleinst‹-)Gegenständen. Synchron ist am jeweiligen Mikrogegenstand »unter der Wasseroberfläche die Praktik zu entdecken, von der er ausgeworfen worden ist« (ebd.: 39). Es sind dann insb. ihre Transformationen, die in die Untersuchungsperspektive einzubeziehen sind. Veyne weist hierbei implizit auf Grenzen seiner Hauptmetapher, deren räumliche Konnotationen hin. Denn spatiale Charakteristika sind umkehrbar: Auf der aufzusuchenden Ebene der Praktiken bestehe die Gefahr, diese selbst in historischer Perspektive allein als verschie-

40 Das Verkettungsbild ist aus der pluralen Nutzung der Eisberg-Metapher geschlossen: ebd.: 49. Vgl. zu ›Entwicklung‹, zu evolutio, dem Entrollen einer Buch-/Schriftrolle: Blumenberg 1981: 19. 41 Vgl. ebd.: 38f. 42 Veyne spricht sich gegen einen Dualismus von Diachronie und Synchronie aus, plädiert zugunsten Deleuzes’ »Aktualisierung einer Struktur« (ebd.: 57) und ihren »Virtualitäten« (ebd.: 41) mittels »Liebe [...] Begehren« (ebd.).

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dene ›Haltungen‹ oder gar ›Ideologien‹ einem invarianten, ›natürlichen‹ Gegenstand gegenüber – der dann eine ›materielle Basis‹ wäre – zu begreifen.43 Die vermeintlichen Gegenstände sollen aber eben umgekehrt gelten als Effekt jeweiliger spezifischer Praktiken. Sie sollen, spezifisch bestimmt, aus diesen jeweils gewissermaßen ›herauswachsen‹, sich ›emportürmen‹: »die Objekte scheinen unsere Verhaltensweise zu bestimmen, aber unsere Praktik bestimmt zuvor ihre Objekte« – so ist »das Objekt, auf das sie angewendet wird, nichts anderes [...] als es im Verhältnis zu ihr ist [...] Die Beziehung bestimmt das Objekt, und es existiert nur Bestimmtes« (ebd.: 24). Das jeweilige (Mikro-)Objekt soll sich aus der traditionellen Perspektivierung und Linienführung einer invarianten Entität und ihrer Teile emanzipieren, die vormalige Einheit sich pluralisieren können. Das Objekt wird so zum jeweiligen Effekt einzelner zeitgenössischer Praktiken singularisiert: »Das Objekt ist nur das Korrelat der Praktik« (ebd.: 25). Und zwar einer »datierten« (ebd.: 61) Praktik. Derart historisch betrachtet, waltet hier nur noch reflexiv ein bisher eher ausgeblendeter geschichtlicher Nominalismus.44 Eine bislang tendenziell unter der Hand forschungsleitend angenommene, historische, substanzielle Kontinuität eines Gegenstands zieht sich auf Oberflächeneffekte zurück. Nur noch Worte legen nahe, die historische Vielheit und Komplexität verschiedenster pragmatischer Konstitutionstypen eines Gegenstands zugunsten gewissermaßen der Vorstellung einer Akzidentialentwicklung einer Substanz auszublenden, Pluralität zu ›verschleiern‹. Historische Gegenstände können damit verschoben sichtbar werden: Man kann sie »zu verschiedenen Zeiten mit so unterschiedlichen Praktiken behandeln [...], daß [... sie] kaum mehr als ihren Namen gemeinsam haben« (ebd.: 14). Einzig der Name der Gegenstände, ein Wort, stiftet noch einen dürftigen roten Faden durch ihre Geschichte. Für den an Veynes Perspektive auf Foucault geschulten Historiker soll also gerade nicht mehr ein als historisch invariant gedachter Gegenstand Bündel von Praktiken und Gegenstandsformen zusammenhalten, die dann in ihrer historischen Verschiedenheit als auf dieses eine Ziel gerichtet vorgestellt werden. Vielmehr werden in historischer Perspektive nun an gleichbleibenden Gegenstandsnamen umgekehrt vielfältigste pragmatische Bündel und deren Effekte sichtbar. Genaugenommen machen sie den einen, bisher einheitlichen Gegenstandsnamen überflüssig, lassen ihn auf gewisse Weise ›illegitim‹ erscheinen. Die Untersuchung und Reflexion von Praktiken kann an deren Singularität und ihrer sichtbar werdenden Abfolge einige bislang implizit gebliebene, ›subkutane‹ Transformationen ›des‹ Gegenstands in his-

43 Vgl. zum Kontext Ideologie zwischen abstrakter Semantik einer Praktik und diskursiven Praktiken selbst – sowie der Entscheidung, das »Wort nie mehr zu gebrauchen« (ebd.: 45): ebd.: 26f, 29f, 34, 44f. 44 »Ein Begriff, der sich durch nichts manifestiert, ist nur ein Wort. Dieses Wort hat keine andere Existenz als [...] eine [...] idealistische« (ebd.: 25). Forschungsleitende ›Worte‹: 39f.

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torischen Skansionen verfolgen. Und beides ›vervielfältigen‹. Was entsteht, ist ein jeweils »einzigartiges historisches Gesicht« (ebd.: 56), ein jeweiliges einzigartiges pragmatisches Ensemble, eine jeweils »einzigartige Konstellation« (ebd.: 58). Sie ist frei von anthropomorphen Annahmen und Teleologien und zugleich reflexiv bezogen auf Praxis, auf weitmöglich bewertungsfrei auffindbare Praktiken und Pragmatiken. Die Transformationen und Neuverteilungen, Umgruppierungen, Wertveränderungen basaler Praxisensembles jeweils individualisierter Gegenstands-›Gesichter‹ folgen nach Veyne keiner Intention oder Vernunft: Sie sind schlicht »Schöpfungen der Geschichte« (ebd.: 30) – und nichts sonst. Im Zentrum von Veynes Überlegungen zur historischen Methode Foucaults kommt noch eine weitere Metapher zum Tragen, die in gewissen Grenzen für die an Veyne ambivalenter angelehnteren Teile des vorliegenden Texts und dessen weitere Stationen wichtig wird. Veyne spricht im Bild eines sog. »Schießstands« (ebd.: 56). Dieses Bild ist für Veyne dazu geeignet, teleologische, also ziel-/zwecktheoretische Implikationen bisheriger historischer Methoden kontrastiv zu verdeutlichen. Nähert man sich dem Bild dieser Metapher mittels einer konventionelleren Sichtweise, lassen sich verschiedene Aspekte, Ausschnitte, ›Positionen‹ dieses Bildes, deren jeweilige implizite Wertbesetzungen und spezifischen Verknüpfungen untereinander herausarbeiten und betonen. Nehmen wir an, Menschen schießen an einem Schießstand mit einem Geschoß in die Richtung einer Zielscheibe. Und zwar nach einem vorhergehenden willentlichen, rational abwägenden Entschluß. Diese Menschen wären traditionell betrachtet in der Position eines Subjekts dieser Handlung, sie ginge auf ihren Willen, Absicht, Intention zurück. Das jeweilige ›Geschoß‹ würde dann an der Position eines gegenständlichen und ›zweckmäßigen‹ Handlungs-Mittels zum Stehen kommen. Die Zielscheibe, das Ziel könnte man gewissermaßen verstehen als das ›behandelte‹ Objekt der Handlung, das zugleich ihren Zweck ausmacht – nämlich mittels einer zweckmäßigen Handlung dieses Ziel möglichst genau zu ›treffen‹. Dieser Zweck gilt seinerseits als wiederum durch das Subjekt und dessen Intentionen bestimmt. Die Handlung ist hierdurch finalisiert, ist begrenzt und verendlicht, erhält also von der Setzung eines letzten Zwecks ihre Rahmung, kommt an einem »äußeren Ende« (ebd.: 37) an. Das ganze Bild ist letztlich von diesem (End-)Zweck ausgehend begrenzt, bezieht von ihm die (Aus-)Richtung seiner Entwicklung, eine spezifische Verknüpfung einzelner Positionen. Im geschilderten Bild verfolgen traditionell gedachte Subjekte Intentionen, die ›ihre‹ Handlung anzutreiben scheinen. Wir neigen an diesem Bild nun dazu, das sind seine Grenzen, weniger eine Handlung in ›herstellender‹ Absicht zu vermuten. Hier findet eher nicht die hervorbringende Herstellung eines Objekts, eines Weltzustandes statt als Ergebnis und Zweck der Handlung mittels spezifischer Techniken, Mittel. Anstatt also von einer ›zweckmäßigen Herstellung eines getroffenen Objekts als Endzweck‹ zu sprechen, sagen wir eher: Hier unterwerfen Subjekte handelnd ein existentes Objekt

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ihrer Zielsetzung – nutzen es zu ›ihrem‹ Zweck, es wird ihnen zu einem Mittel – wobei das Objekt und seine ›Behandlung‹ dann zwischen sie und das angestrebte Ziel(-Objekt), als ›eigentliches Objekt der Handlung‹, als letztlich verfolgten Zweck tritt. Durch das Mittel wird es überhaupt erst möglich, diesen Zweck zu erreichen. Das Subjekt kann in der ersten wie der alltagssprachlichen Akzentuierung des Bildes als Verursacher der Handlung gelten. Die reine Handlung, das Schießen, oder der Gegenstand, das Geschoß, werden hierbei kaum jenseits von fundierten (Kausal-)Kategorien wahrgenommen. Subjekte sind es, die diese Handlung ›endursächlich‹ von Beginn an intentional ausrichten, willentlich finalisieren. Sie geben ihr einen begrenzenden Rahmen, weisen ihr ihren (End-) Zweck zu. Was die Handlung auch von der anderen Seite aus, vom ›bezweckten‹ Objekt her begrenzt. Sie spielt sich gewissermaßen zwischen Subjekt (zuschreibbare, präexistente Verursacher) und Objekt (verursachter Zweck) ab.45 Inwiefern sie eingeübt werden muß, bleibt außen vor. Traditionell wie alltagssprachlich gilt das Bild der ›Schießstands‹Praktik durch ein »Schützen«-Subjekt (ebd.: 38) in spezifischer intentionaler »Einstellung« mit einer gleichbleibenden »Zielscheibe« (ebd.) maßnehmend auf ein (entferntes) »Ziel« hin ausgerichtet. Dieses Ziel gilt als Ort, als Ziel»Ort« (ebd.: 37) gewissermaßen, an dem, durch den Willen des Subjekts bestimmt und der vorhergehenden Bestimmung seines »Zwecks« (ebd.) folgend, ein »Geschoß von selbst einschlagen wird« (ebd.). Und zwar mal mehr, mal weniger ›gut‹, je nach Genauigkeit der ›Zielführung‹ und/oder Zweckmäßigkeit des ›Mittels‹. Veynes Perspektive auf dieses Bild verschiebt nun Akzente. Zur Verdeutlichung seiner bisherigen Wirkungsmacht variiert er zum einen (1) die bisher im Bild nur mit geringem zeitlichen Index versehenen räumlichen Positionen zeitlich. Andererseits betont er (2) diese Positionen vom (›Ziel‹-) Objekt her. Im ersten Fall kann mittels Variation bspw. die typische historisch-materialistische Position eines ›Subjekts der Geschichte‹ entwickelt werden, also ein (Menschheits-)Subjekt, das ein prinzipiell gleichbleibendes ›Ziel der Geschichte‹ mittels seiner jeweils aktuellen, zeitgenössischen Praktiken als ›Geschosse‹ auf dieses zukünftige Ziel hin verfolgt – und es dann mehr oder weniger annähernd trifft. Eine zweite Perspektivierung, die Konzentration auf ein vermeintlich gleichbleibend anvisiertes (›ideales‹) Objekt, ist ebenfalls innerhalb einer zeitlichen Perspektive gedacht, läßt aber zudem historische Kriterialraster entstehen. Sie ermöglicht bspw. Aussagen darüber, ob eine ausgewählte historische Praktik zu einem bestimmten Zeitpunkt das Objekt-Ziel überhaupt, einmal mehr, einmal weniger genau annähernd zu treffen vermochte, oder aber weiter stetig ›auf dem Weg‹ bleibt – ob also weitere, mehr oder weniger erfolgsversprechende ›Versuche‹ in diese Richtung unternommen werden müssen. Hierbei gilt ›der Gegenstand‹ als

45 Auf weitere, z.B. theologische Konnotationen dessen und seine Säkularisierungsgeschichte kann hier nicht eingegangen werden.

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»im Laufe der Geschichte von den aufeinanderfolgenden Gesellschaften in unterschiedlicher Weise angepeilt [...] so daß sie die Zielscheibe an unterschiedlichen Orten getroffen haben« (ebd.: 38). Mit dieser Perspektive auf das Schießstands-Bild ist man wieder bei derjenigen traditionellen Perspektive angelangt, die Foucaults historische Untersuchungen laut Veynes Explikation möglichst zu vermeiden versuchte. Veyne bringt im Kontrast ausdrücklicher ein perspektivisch verschobenes Gegenmodell nahe. Seine Perspektivierung des Bildes der Schießstands versteht sich hauptsächlich ausgehend von traditionellen historischen Methoden. Auch und insb. sie bearbeiten die fragliche Ebene der Praktiken von zwei ›Enden‹ aus, ausgehend von Subjekt und Objekt. Hierdurch kommen sie jedoch immer wieder in das geschilderte Problem, transhistorische ›Gegenstände‹ verfolgen zu müssen, die zwar faktisch historisch stark unterschiedlich aussehen mögen, aufgrund methodischer Kategorien und Begriffe allerdings stets allein als historische Versuche zur Erreichung ebensolcher Ziele und Objekte interpretiert werden. Getragen wird das zudem von moralischen Konnotationen, wenn jeweils einzelne historische Versuche z.B. »die Idee des Guten [...] eine ideale Zielscheibe zu treffen« (ebd.: 36) versuchen. Der jeweilige historische Gegenstand wird allein sichtbar als immer wieder scheiternder Versuch, ›den‹ Gegenstand, ›das Gute‹ zu erreichen. Unterschiedlichste Praktiken werden immer wieder in diese Linie, historische Teleologie eingetragen, mit diesem kategorialen Ballast beladen: Eine »Philosophie vom Gegenstand als Ziel oder Ursache« (40) steht dann in ihrem Hintergrund, die in ihrem ›Gegenstandsbezug‹ letztlich Subjektphilosophie ist. Im auf Geschichte bezogenen Bild gesprochen lautet hier Veynes Frage: »können wir überhaupt sicher sein, daß alle Schüsse auf diese eine Zielscheibe gerichtet waren?« (ebd.: 40). Könnte es sein, daß grundlegende historische Untersuchungskategorien mit solchen Ergebnissen ganz grundsätzlich den untersuchten historischen Gegenständen und ihrer jeweiligen Genese gegenüber gänzlich unangebracht sind? Veynes Lesart Foucaults schlägt einen Perspektivwechsel vor. An den »zwei Kettenenden« (ebd.: 37) der traditionellen kategorialen »Zerstückelung einer Praktik« (ebd.: 34) – bei ›Subjekt‹ und ›Gegenstand‹ – soll die jeweilige Sache gerade nicht gefasst werden. Vielmehr ist im ›Zwischen‹ ein neuer Ansatzpunkt gegeben, bei der Mitte, gewissermaßen dem ›Medium‹: Bei der ›Praktik‹, noch jenseits der beiden ›Enden‹, ›vor‹ ihnen: »packen wir das Problem mittendrin an, bei der Praktik oder beim Diskurs« (ebd.: 40). Das »Problem in seinem wirklichen Zentrum« ist für Veynes Foucault also gerade kein ›Zentrum‹ einer wie auch immer gegenständlich zu fassenden Entität mehr. Es ist prozedural, immer nur vorübergehend ›gegenständlich‹ zu denken. Vom ›Medium‹ der Praktiken ausgehend wird jeweils erst eine Ausformung jeweiliger Subjektund Objektpole sichtbar. ›Methodisch‹ wäre man dann nicht mehr »versessen«, Praktiken jeweils anfänglich »in zwei Teile zu zerhacken« (ebd.: 34). Geschichte soll also wahrgenommen werden können jenseits dessen, was mittels der Schießstandsmetapher verdeutlicht wurde. Damit aber wird sie

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als radikal »unsicheres Gelände« (ebd.: 56) begreifbar. Veynes Nutzung der Metapher des ›Schießstands‹ führt im Ergebnis über das Bild hinaus, läßt es buchstäblich kollabieren, eröffnet einen anderen Blick auf die Geschichte: »durch das Werden hindurch explodieren verschiedene politische Praktiken, von denen die eine in (eine) Richtung [...] geschleudert wird, die andere in (eine andere ...) wir aber halten dieses Explosionsgelände, wo alle möglichen Sprengkörper in alle Himmelsrichtungen fliegen, für eine Art Schützenwettbewerb am Schießstand« (ebd.: 40).

Für Veynes Foucault gilt es also methodisch im ersten Schritt, jeden Rekurs auf Teleologien, Subjekte und Objekte auszuklammern, um zum historischen Material selbst durchdringen zu können, Vielfalt sichtbar werden zu lassen. Veyne expliziert damit recht instruktiv auch eine erste methodische Vorsichtsmaßnahme. Sie sollte gerade dann gelten, wenn sich historischgenealogische Analysen dieses Typs neben der Ebene historischer ›Subjektivierung‹ auch der Seite der ›Gegenstände‹, gewissermaßen der ›Objektivierung‹ widmen. Gerade an diesem Punkt sind mögliche Anlehnungspunkte des vorliegenden Texts hervorgetreten. Manches andere bedarf in der vorliegenden Form aber ebenfalls einiger Einschränkungen. Veynes anschlußfähige Elemente faßt er prägnant zusammen: »Historie ist Archäologie [...] die Geschichte erklären und explizieren besteht darin [...] die angeblichen natürlichen Gegenstände zurückzuführen auf datierte und rare Praktiken, die sie objektivieren, und diese Praktiken zu erklären, indem man nicht von einer einzigen Antriebskraft ausgeht, sondern von allen angrenzenden Praktiken, in denen sie verankert ist [...] Fremdartige Gemälde, auf denen Relationen anstelle von Gegenständen zu sehen sind [...] mit einer gewaltigen Affektivität aufgeladen« (ebd.: 76).46

Der Text Veynes zu Foucault wirft auch einige Fragen und Probleme auf. Zum Einen betrifft das z.B. die Frage des genutztes Vokabulars: ob Veynes genutzte Termini wirklich aus den geschilderten Substanz-Problemen heraustreten können. Zum Anderen betrifft es die Frage nach voreiligen impliziten Grenzen des eigenen Anspruchs. Denn der Anspruch »Es gibt keine natürlichen Gegenstände, es gibt keine Dinge« (ebd.: 35) scheint im Text selbst Grenzen zu besitzen, die aus dem ausdrücklich Gesagten nicht unmittelbar folgen. Warum sonst finden sich neben dem zur Frage nach Gegenständen grundsätzlich Behaupteten bei Veyne noch proto-physikalistische Aussagen – wie z.B., daß »Nerven-Moleküle« (ebd.: 50) ›Wahnsinn‹ in ei-

46 Zum auch affektiven Bezugspunkt historischer Arbeit, insb. deren Narration vgl. die Ausführungen zu Hayden White bei Wachholz 2005, insb. S. 58. Vgl. zu narratologischen Implikationen bei Lyotard: ebd.: 71; zu allgemeinen Narrativen im hier relevanten Kontext: Hayles 1999: 21/22.

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ner »bestimmten Weise disponieren« (ebd.)?47 Streckenweise könnte man den Eindruck gewinnen, daß bei Veynes Lektüre Foucaults die ›Gegenstands‹-Seite radikaler hätte hinterfragt und/oder eingeklammert werden können, vergegenwärtigt man sich das, was bei Foucault selbst angelegt ist, der hier bereits entschieden weiter zu gehen schien. Veynes historisch zu problematisierenden ›Gegenstände‹ scheinen implizit zwischen (tendenziell ahistorischen, nicht thematisierten) naturwissenschaftlichen und (tendenziell historischen, thematisierten) ›sozialen Gegenständen‹ zu stehen zu kommen. Denn als ›historische Gegenstände‹ werden offenbar einzig ›soziale Gegenstände‹ wie ›Politik‹, ›Staat‹, ›Bürger‹ thematisch. Parallel wird zwar davon gesprochen, daß »die Materie im Akt« (ebd.: 53) sei – dennoch aber recht traditionell weiterhin ›materiell‹ von »prädiskursiven Referenten« (ebd.), »molekularen Strukturen«, »Naturformen« (ebd.: 50), »molekularen Unterschieden« (ebd.: 54) u.a. Insofern scheint der eigene Anspruch unausdrücklich pragmatisch begrenzt zu sein, jeglichen »›materiellen‹ oder rationalen Gegenstand, der zuerst da sein soll« (ebd.: 37) zumindest heuristisch historisch einzuklammern.48 Manches erinnert an eine naturwissenschaftlich-behavioristische Kosmologie, anderes an eine proto-materialistische Fundierung sozialer ›Objekte‹.49 Veyne versteht Objekte und Subjekte ausgehend von ihren Positionen in einer jeweils variablen Diskurs-/Praxisstruktur, was unterfüttert wird von einem spezifisch deleuzianischen Verständnis Nietzsches eines ›Willen zur Macht‹. Subjekte und Objekte werden ihm zu quasi-notwendigen, allerdings nichtkausalen Aktualisierungen struktureller Virtualitäten, »Hohlformen« (ebd.: 41, 43) einer Struktur. Auch so sollen bisher baumartig gedachte historische Filiationenslinien ›rhizomatisch‹ vervielfacht werden können, eine Genealogie der »einzigartigen Konstellationen« (ebd.: 58) perspektivisch greifen. Sie soll auf Deleuzes selbstschreibend-affirmatives, vorwegneh-

47 Kommt hier eine, durch eine bestimmte Brille gelesene Deleuzianische Lesart Foucaults zum Tragen, z.B. am Beispiel ›Wahnsinn‹? Zur Auffassung Deleuzes des Gehirns: Deleuze 1980: 153, dagegen S. 33. Gegen eine einfache ›materialistische Lesart‹ Deleuze’ – »Ist die Theorie der Wunschmaschinen eine psychoanalytisch fundierte Theorie der Objektbeziehungen, oder handelt es sich um eine Beschreibung sensomotorischer Entwicklungsstadien aus neurologischer Sicht?« (ebd.: 328), insb. zum Verhältnis Deleuze’ zum Materialismus der zeitgenössischen Neurophysiologie: Schmidgen 1999. Vgl. zum Versuch eines neuen historischen Materialismus, von Deleuze aus: Negri 1993. Dort »wird der historische Materialismus implizit in der Phänomenologie von TP und explizit in der in Qu’est-ce que la philosophie? erarbeiteten Methodologie erneuert« (ebd.: 59). 48 Vgl. die implikationsreiche Interpretation Foucaults zur Existenz von Sexualorganen und Sexualinstinkt als ›prädiskursiven Referenten‹ ebd.: 53; zum spezifischen, fast zu historischen Verständnis Veynes von ›Wahrheits‹-Phänomen: ebd.: 65; zur Annahme historischer anthropologischer Invarianten: ebd.: 60/61. 49 Vgl. Veynes Verhältnis zur Physik: ebd.: 64.

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mend-retroaktives »Begehren« (ebd.: 42) verweisen. Für Gegenstände und ihre Positionierung bedeutet dies eine relationale Modellierung zu bestimmten Zeitpunkten, was einer historischen Unvergleichbarkeit, grundsätzlichen strukturellen Variationen auch auf der Ebene der Sichtbarkeit antwortet:50 »jede Nippes-Figur verdankt ihre bizarre Form dem Platz, den die Praktiken ihrer Zeit ihr gelassen haben, zwischen die sie sich geschmiegt hat. Die Zuschnitte der verschiedenen Nippes-Figuren sind nicht vergleichbar« (ebd.: 48).

Was bedeutet das für Veynes ›Materialität‹? Sie tritt weniger als ›Materie als‹ dieser oder jener Gegenstand auf als formal als »Materie für« (ebd.: 50) diesen oder jenen (historischen) Gegenstand. Der Eindruck eines Rohmaterials drängt sich auf. Zugleich wird behauptet, daß diese Materie im herkömmlichen Sinne »in diesem Stadium noch nicht existiert« (ebd.). Äußert sich hier ein Bezeichnungsproblem? Ist eine retroaktive Metaphernwirkung im Spiel? Äußert sich ein reflexiver Fundierungswunsch? Wenn letzteres, dann müßte auch hier eine neue ›Nippes-Figur‹ in einer »Aufeinanderfolge von Heterogenitäten« (ebd.: 48) bezeichnet werden. Was bedeutet dann aber die Rede vom »Verankerungspunkt« (ebd.: 53), vom »prädiskursiven Referent«, von »Virtualität« in einem »völlig materiellen Universum« (ebd.: 55) in dem »Strukturen [...] der Materie objektive Gesichter verleihen« (ebd.: 67, 75). Ist die Benennung eines Quasi-Gegenstands nötig, der frei durch die Geschichte variiert? Die Fragen sollen schlicht ein u.U. entstehendes Problem kennzeichnen, jeweilige historische ›Praxis‹ auf neue Weise, wie eingeklammert auch immer, unter der Hand abermals zu vergegenständlichen, in spezifischer Form wieder zu einem neuerlichen »Schlußstein oder Binderstein« schlagen zu wollen. Die Rede von einem »prädiskursiven Referenten«, der »retrospektiv als Materie für« Praxis »erscheinen kann« (ebd.: 53) kann nicht mehr als ein Hilfskonstrukt sein, das mittels eines Diskurses versucht, etwas jenseits des Diskurses denken und vor allem aussagen zu können, um es damit allein als diskursives zu bezeugen. Sind solche Überlegungen sinnvoll? Nicht zuletzt bedingt durch die Gefahr eines unendlichen Regresses scheint bei Foucault selbst kaum, wie es Veyne nahezulegen scheint, die Ebene der Aussagen in ihrer Materialität abermals »prädiskursiv« fundiert werden zu müssen – jenseits dem buchstäblichen »prädiskursiven Referenten« der Aussage selbst. Vielleicht muß das ›Fleisch‹ diskursiver Praktiken auch gar nicht formal, ›materiell‹ begründet werden – außer in sich selbst. Bindet man es streckenweise radikalisierend wieder stärker an Foucault zurück, umfasst das bei Veyne aufscheinende Problem der ›Gegenstände‹ und ihrer Geschichte, ihrer Praktiken wohl auch naturwissenschaftlich, materialistisch, ahistorisch gedachte, quasi ›atomar-relationale Gegenstands-

50 Vgl. zur implikationsreichen Erklärung von Relationalität: ebd.: 67f; zu deren Verbindung zur historischen Interpretation: ebd.: 69f.

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ebenen‹ (Syntagmen, Gene, Neuronen, Informationen). Auch sie können ausgehend von Diskursen und Praktiken verstanden werden. Um was es hierbei auch theoriepolitisch gehen könnte? Auch darum, kein »Wissen für Technokraten« (ebd.: 59) zu produzieren.

M. de Certeau: Umstülpen Nicht nur in Michel de Certeaus Kunst des Handelns, sondern stärker noch im Schreiben der Geschichte und den theoretischen Fiktionen finden sich produktive Lektüren und Anschlußmöglichkeiten zur Explikation dessen, was Foucault an der Methode seiner Geschichtsschreibung als »Fiktion« (Foucault 1977: 117) charakterisiert hat. Certeaus Überlegungen sind streckenweise zum einen von Foucault inspiriert,51 zum anderen von Lacan her kommend psychoanalytisch fundiert.52 Certeau denkt Foucaults Methode von ihrem Vollzug aus. Also ausgehend von ihren ausgestellten Ergebnissen, z.B. der Anordnung der Quellen. Hinsichtlich der Vollzüge des Geschichtsschreibens ist ein früher Text Certeaus (Certeau 1982) zu Foucault, insb. zu Überwachen und Strafen (Foucault 1975), sehr aussagekräftig. Dort werden Foucaults Schreibstrategien als rhetorische Kunst, auch der Reflexion, als »art of thinking«, als »rhetorical art« (de Certeau 1982: 263) rekapituliert. Stärker noch als Veyne arbeitet dort Certeau heraus, auf welche Weise Foucault sich derjenigen Gegenstandsproduktionsweise von Praktiken widmet, die hauptsächlich nichtdiskursiv funktionieren, »in which there are only practices without any accompanying discourse« (ebd.: 261). Sie werden ihm zufolge mittels Foucaults Interventionen erstmals diskursiviert. Das geschieht, indem das zuvor

51 Vgl. Hayles 1999: 197, 207 zum durch Certeau akzentuierten Focus weniger auf großflächige Machtwirkungen, z.B. dem Diagramm des Panoptikon, als auf jeweils individuelle Artikulationen angeeigneter Elemente, implizit in Richtung der cultural studies argumentierend, mit dem Anliegen, Diskursanalyse in einem Dreieck Einschreibung, Verkörperung, technologische Materialität weiterzuentwickeln. Hayles unterscheidet in Anlehnung an Merleau-Ponty (ebd.: 199, Umkehrung von Descartes: ebd.: 203, nicht bewußt und Bedingung für Bewußtsein: ebd.: 205) zwischen Einschreibungs- und Einkörperungspraktiken. Letztere sind stärker durch ein Konzept von ›Sedimentation‹ (ebd.: 204) im Körpergedächtnis verortet, sie zeigen weitere Variabilität, auch hinsichtlich der Umstände: ebd.: 200, 203. Vgl. hinsichtlich Dreyfus’ Kritik an AI: ebd.: 201, zu performativen Ritualen: ebd.: 203, zum Subjektivationspotential von Technologien, zu Verkörperung zwischen Technologien und diskursiven Praktiken: ebd.: 205, 217, 220. 52 Vgl. zum Stellenwert des Realen bei de Certeau: Wachholz 2005: 196f, zum Anderen, z.B. den Quellen gegenüber ihrem Schreiber: ebd.: 192f.

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analysierte Diagramm53 dieser (Macht-)Praktiken selbst diagrammatisch verzeichnet und zugleich sprachlich symbolisiert wird. Foucault geht es laut Certeau darum, »1) to diagram a particular stratum of non-verbal practices and, 2) to found a discourse about these practices« (ebd.: 258). Die Begründung des Diskurses Foucaults und dessen technizistische Begriffe, z.B. »functional conditions, the techniques and processes, the distinct operations and mechanisms, principles and elements« (ebd.: 258) werden von Certeau nicht schlicht als an sich technizistisch verstanden. Er vertritt die These, daß der entstehende Diskurs in seinem Kern subversiv angelegt ist. Foucault arbeitet ihm zufolge mit diesen Begriffen, um mit ihnen genau das Gegenteil dessen zu vollziehen, was in ihnen und ihren prinzipiellen Vollzügen angelegt ist. Foucault vollzieht damit für Certeau eine rhetorische Kunst narrativer Mikro-Techniken, die sich in umstülpender Weise vorgefundenen Praktiken und Begriffen bedient, um innerhalb eines schweigsamen und unsichtbaren, eingestülpten und einstülpenden Gegenstandsfelds diskursive Operationen zu vollziehen, die zu seiner Subvertierung, einer diskursiven Ausstülpung dargestellter Funktionsweisen führen: »it is a narrative, a theoretical narrative, which obeys rules analogous to those panoptic procedures. There is no epistemological and hierarchical break between the theoretical text and the micro-techniques. Such a continuity constitutes the philosophical novelty of Foucaults work« (ebd.: 263).

Mit dieser Bewegung, Haltung und Geste konstruiert Foucault Certeau zufolge eine neue Praxis des Schreibens von Geschichte. Und zwar auch und gerade dann, wenn er auf und mit einem seiner Gegenstandsfelder arbeitet. Es ist diese rekonstruierte (Vollzugs-)Praxis der Analyse Foucaults, an die sich auch das vorliegende Buch anlehnt: An eine politisch subversive Analyse technologischer Prozeduren mancher »zone in which technological procedures have specific effects of power, obey logical dynamisms which are specific to them, and produce fundamental turnings aside in the juridical and scientific institutions« (ebd.: 261). In späteren Kontexten der Thematisierung bestimmter Technologien wird ähnliches wieder begegnen. Dort wird zudem unausdrücklich eine Leitfrage verfolgt, die Certeau noch konstativ ausflaggt: »Indeed, this system of discipline and surveillance, which was

53 Vgl. zum Begriff des Diagramms: Foucault 1975, Deleuze 1986, Gehring 1988, dort insb. zur Einbettung von Foucaults Diagramm-Begriff in Machtanalysen, als ein jeweiliges »Macht-Diagramm« (Gehring 1988: 96). Vgl. die weitergehende semiotische Charakterisierung: »Diagramm bezeichnet [...] das in seiner konkreten Gestalt unhintergehbare Phänomen eines historischen Geordnetseins, mit dem sich die Analyse als konstruktive Praxis im Grunde selbst konfrontiert [...] Zum anderen aber verkörpert das Diagramm eine manifeste und historisch bis dato fremde Erscheinung. Es ist der neue, der mühsam gesuchte Gegenstand selbst.« (ebd.: 95)

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formed in the nineteenth century [...] is today in the process of being vampired by still other ones we have to unveil« (ebd.). Um was es sich hierbei handeln könnte, wird sich zeigen. Wenn es Foucault zufolge in seinen späteren Texten darum ging, Certeaus Interpretation ist hier ein wenig psychoanalytisch gefärbt, nichtdiskursiven Praktiken und Operationen spiegelbildlich Sprache zu verleihen – wenn er also versuchte »to invent a discourse that can speak of nondiscursive practices« (ebd.: 261) – dann verfolgte Foucault Certeau zufolge immer auch eine Taktik. Eine Taktik, die sich jenseits bisher eingespielter Kriterien von Wissenschaftlichkeit aufhielt und nicht in psychoanalytischem Selbstverständnis aufging.54 Es sind diese Taktiken, ihre Praktiken und Vollzüge, die Certeau zufolge das eigentliche Zentrum des Foucaultschen Diskurses ausmachen. Hiermit ist einer derjenigen Punkte markiert, der Foucault in seinen späteren, genealogisch-machttheoretischen Texten nötigte, seine Methode entschieden bis zu einem bestimmten Punkt gerade nicht reflexiv einzuholen. Das betrifft vor allem die Reflexion der Vollzugsform seiner Texte. Genau das hätte nämlich u.U. die Effekte dieser Texte innerhalb desjenigen Machtsystems schmälern können, in dem sie als subversive Text-Praktiken agieren sollten. Bei einer Reflexion selbst dessen hätten letztinstanzlich stärker disziplinäre Forderungen von Machtsystemen als der Effekt und das Lachen der Subversion gesprochen.55 Auch jener Methodenzwang, eigene Methoden offen zu legen, ist Teil des disziplinären MachtSystems, das Foucault vermeintlich distanziert, in der distanziert ausstülpenden Anordnung aber am taktischsten, nicht nur beschrieb, sondern zugleich auch pragmatisch bekämpfte. Foucault eignete an, griff zu Gesten der Umstülpung und zugleich spezifischer Anordnung. Gewissermaßen durch eine diskursive Marionettentaktik eines aufgenommenen und umgestülpten »apparatus« (ebd.: 261) hindurch entwarf er ein subversives diskursives Dispositiv.56 Greift man den Hinweis Certeaus auf und entwickelt ihn, läßt sich versuchsweise eine Frage beantworten, die immer wieder bei FoucaultDiskussionen auftritt: Von woher spricht Foucault, wenn er Dispositive und Episteme seiner Analyse unterzieht?57 Sind es nicht identische Dispositive und Episteme, die auch den Boden seiner eigenen Aussagen bilden? Ja genau, wäre die Antwort, es geschieht genau auf dem Boden derjenigen Dispositive und Episteme, von denen er spricht. Foucault versucht dabei aber zugleich, diesen Boden selbst subversiv zu diskursivieren, dessen Diskur-

54 Daß diese von Foucault propagierten und inszenierten diskursiven Taktiken disziplinär hegemonial werden könnten ist selbstverständlich nicht unmöglich. 55 Ob diese Dynamik selbst subvertierbar ist, steht auf einem anderen Blatt. 56 Vgl. zu Foucaults Taktik des »Einschreibens eines Texts in ein bestehendes Wahrheitsregime«: Wachholz 2005: 118 passim. 57 Certeau: »what apparatus determines Foucaults discourse in turn, an underlying apparatus which by definition escapes an ideological elucidation« (ebd.: 261).

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spraktiken zu subvertieren, sie spezifisch sagbar/sichtbar zu gestalten.58 Insofern hat hier Bernard Waldenfels’ Hinweis volle Berechtigung, der behauptet, Foucaults Texte vollzögen keine metatheoretischen Super- oder Metadiskurse, sondern indirekte Diskurse.59 Es sind also Vollzugstaktiken einer spezifischen, einschreibend-›umstülpenden‹ Text-Pragmatik Foucaults, die im Darstellungsvollzug ihre Gegenstände in der ihnen eigenen Kühle und Technizität zeigen. Allein dadurch können sie am hitzigsten, funkenschlagendsten wirken – einsehbarspiegelbildlich, gegen sich selbst gerichtet: »This strange operation consists in transforming secret and aphasic practices into the central axis of a theoretical discourse, and making this nocturnal corpus over into a mirror in which the decisive reason of our contemporary history shines forth« (ebd.: 262).

Es ist auch diese Kunst Foucaults, der Certeau den Namen Art of Making Fictions (ebd.: 263) gibt: Er expliziert damit den eher dunklen, fast einzigen Oberflächen-Hinweis des Diskurses Foucaults in dieser Sache – nämlich Fiktionen geschrieben zu haben. Certeau schließt in weiteren Texten an diese Überlegungen zum Stellenwert von Fiktion beim Schreiben von Geschichte(n) an.60 Teilweise wird ihm hierbei eine »mittlere Positition« (Wachholz 2005: 185) zwischen traditioneller und neuer Historiographie nachgesagt. Bei ihm dürfte dann allerdings ein poststrukturalistischer Zugang deutlich überwiegen.61 Mit Certeau und Koselleck, nach Durchgang durch Veyne und Hacking ist festzuhalten, daß in Tradition Foucaults die diskursive Praxis des Historikers Fiktionsbildung einschließt, wenn sie politische Grundentscheidungen an ihrem Ausgangspunkt und dem Procedere ihrer Narration soweit implizit mitreflektiert, daß sie sich pragmatisch sinnvoll vollziehen kann. Der Einsatz derart verstandener Geschichtsschreibung, von Geschichte der Gegenwart, ist nicht nur Gegenwart und Vergangenheit, sondern auch Zukunft: teilweise wohl auch nichtgegenwärtige Zukunft. Indem Geschichten der Gegenwart behutsam und mit Kontrastwert Ordnungsprozesse ausstülpend und expositorisch aus historisch gewachsenen Selbstverständlichkeiten löst, arbeitet sie auch an neuen Möglichkeitshori-

58 Von der Metapher aus: Schließt sich hier Oberfläche zu einem hermetischen Innenraum, um auf der Außenseite lesbar zu werden? Hierzu würden Selbstcharakterisierungen Foucaults passen zum labyrinthischen Vorgehen (Foucault 1969). 59 Vgl. zum Terminus ›indirekter Diskurs‹: Waldenfels 1987: 200. 60 Teilweise auch in später wichtigen Gegenstandsbereichen. Vgl. zur Digitalisierung in Geschichtswissenschaften: Certeau 1991, Wachholz 2005: 190. 61 Die Suche nach einer mittleren Position betrifft eher die Rezeption des bisherigen historiographischen Diskurses, bspw. bei Wachholz selbst: ebd. 2005: 214f.

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zonten. Diesen Effekt hat sie aber, wenn überhaupt, eher unwillkürlich. Und auch nur, wenn bearbeitete Gegenstandsfelder gegenteilig funktionieren.

3. G EWICHTEND

SIGNIFIKANTE

K ÖRPER [J. B UTLER ]

»Materiell zu sein heißt zu materialisieren [...] Foucaults Bezugnahme gilt nicht nur der Materialität des Körpers eines Gefangenen, sondern auch des Körpers des Gefängnisses« JUDITH BUTLER

Vor dem ersten historischen Einstieg in den konkreten ›Gegenstandsbereich‹ des nächstfolgenden Kapitels noch einige letzte allgemeinere Überlegungen. Wie bisher ansatzweise sichtbar geworden ist, könnten also einige Erkenntnisgewinne resultieren auch aus einer unter pragmatischem Vorzeichen vollzogenen Ausweitung ›sozialkonstruktivistischer‹ Methoden auf historische Untersuchungen bestimmter, allgemein eher ›gegenständlich‹ gedachter Objekte.62 Wiewohl bisherige Anwendungen eher auf geschlechtliche und rassische Gegenstände eingegrenzt waren, lassen sich zuletzt auch versuchsweise auf den fraglichen Gegenstandsbereichen des vorliegenden Buchs Konzepte heranziehen von Judith Butler zu Fragen nach Materialität.63 ›Bodies that matter‹: Könnten das nicht auch einige ›nichtmenschliche Gegenstände‹ sein – und diese versuchsweise ebenfalls ausgehend von Strukturen, Performanzen und deren Wiederholung verständlich werden? Denn auch sie können in einem mindestens doppelten Sinn wahrgenommen werden. Einerseits im Sinn von Körpern, die zählen, die Signifikanz haben, denen Wert beigepflichtet wird. Die sich andererseits aber ebenfalls erst historisch ›materialisieren‹ mussten, um als derart selbstverständlich gewordene, spezifisch wertbesetzte Körper pragmatisch begriffen werden zu können. Auch diese Gegenstände lassen sich in ihrer ›Körperlichkeit‹ verstehen u.a.

62 Vgl. detaillierte Auseinandersetzungen Butlers mit leichtfüßigen Konstruktivismen, Monismen, Platzwechseln ›des Subjekts‹: Butler 1993: 24ff, 31f; zu ›radikalem Konstruktivismus‹, ›Linguistizismus‹: ebd.: 27, 30, 138. Differenzen hierzu treten aus der Sicht eines sozialen Konstruktivismus hervor, der sich u.a. herschreibt von einer kritischen Weiterentwicklung der Sprechakttheorie Austin/Searles, von qua Wiederholung bestimmter, normierter Codes identisch zu haltenden Phänomenen (ebd.: 32f). Butlers Konzept von Performativität proklamiert eine »spezifische Modalität der Macht als Diskurs« (ebd.: 35, 259), deren Bedingung, Antrieb und Erhaltungsinstanz gewaltförmiger Zwang ist (ebd.: 139), die »produziert, was sie deklariert« (ebd.: 154, zu Foucault: ebd.: 158). 63 Vgl. Ausführungen zum Rassismus: Butler 1993: 43f, 233ff.

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ausgehend von sprechaktförmigen Performanzen, deren Wiederholungen und ihrer materiellen Sedimentation.64 Wenn auch ein wenig verschoben. Einige der fraglichen Gegenstände sind also versuchsweise zu perspektivieren z.B. von stetigen Reartikulationen diskursiver Praktiken aus, die spezifische ›Körper‹ zum Effekt haben. Genaugenommen bringen diese sie erst als derart spezifizierte Körper hervor – in einer spezifischen NormForm oder, seltener, in Abweichung davon. Könnte also nicht auch hier ein »Prozeß der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, den wir Materie nennen« (Butler 1993: 32) von einigem Gewicht sein? Nun sind die ›Körper‹ des ›Gegenstandsbereichs‹ des vorliegenden Texts zwar weder lebendige noch gar menschliche oder – zumindest aktuell – zum Selbstbezug fähige ›Körper‹. Und sie sind heute auch nicht allein oder nicht in erster Linie von der Materialität des menschlichen ›Körpers‹ ausgehend bestimmbar. Also weniger von seinen historisch variablen Verständnisformen, Grenzen und Assoziationsweisen aus.65 Ohne fundamentale Differenzen einreißen zu wollen: In Analogie zu und überkreuzender Umkehrung von Butlers Vorgehen könnte man hier heuristisch eine Übertragung versuchen des Konzepts ›Materie-Werden‹ – »etwas zu Materie gewordenes [...] materialisierende Effekte von regulierender Macht im Foucaultschen Sinne« (ebd.) – gewissermaßen von Subjekt- auf Objektpositionen: auf die Seite (insb. kybernetisch-medialer) ›Artefakte‹ und deren (zumindest heute noch nicht wirklich lebendiger) Materialität. Den (ver-) ›objektivierenden‹, ›materialisierenden‹ Subjektivationspraktiken Butlers könnten sich damit (neuere) Verobjektivationspraktiken zur Seite stellen: Bestimmte Materialitäten/Materialisierungstypen mit teils wohl auch subjektivierendem Effekt. So wären auch diese ›Körper‹ wie jener »keine unabhängige Materialität, die von ihr äußerlichen Machtbeziehungen belehnt wird, sondern [...] dasjenige, für das Materialisierung und Belehnung deckungsgleich sind« (ebd.: 61). Möglicherweise kann auf diese Weise manche Perspektive erhellt werden auf bestimmte Normen auch dieser Kontexte, deren normgeleiteten, diskursiv-pragmatischen Hervorbringungsweisen bestimmter heutiger Materialitätsformen, »vollständig erfüllt [...] mit abgelagerten Diskursen [...] die

64 Vgl. Winkler 2003, sowie den auf Routinen, Begrenzung, Regulierung von Alltagspraktiken zielenden, deren Veränderbarkeit betonenden Institutions-Begriff: Douglas 1986. Seine Grenze sind Kommodifizierung und Normalisierung. 65 Im Ergebnis der bisher im Sex/Gender-Bereich entfalteten Reflexionen wird weniger von verschiedenen Ausdeutungen internalisierter, ›falscher‹ Körperbilder im Sinne von ›Ideologien‹ ausgegangen. Vielmehr werden stärker historisch spezifische Formen und Grenzen ›des‹ Körpers propagiert – eine Pluralität, die bisher historisch unter einer dualistischen Singularform gefaßt wurde. Neben Reversibilität zieht eine historische (und unter geschlechterpolitischem Vorzeichen machtbestimmte) Kontingenz ein im Kontext leiblicher Materialität.

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die Gebrauchsweisen [...] präfigurieren und beschränken« (ebd.: 55). Nicht allein historisch betrachtet wären damit dann auch diese Körper »sedimentierte Wirkung einer andauernd sich wiederholenden rituellen Praxis« (ebd.: 32). Dies kann insofern bei der Materialität ›kybernetischer Medien‹ gelten, als deren Alltagspraxis heute immer stärker subjektivierende Effekte hat: Hegemoniale habituelle, biologische, technische Codes verändern sich durch das Zwischen ihrer technischen Generationenfolge hindurch immer rascher, kaum mehr anzueignen. Kaum Bedenkzeit: Als Instrument scheinen einige dieser Artefaktformen beschleunigte und kontrolliert differenzierende ›Stichwortgeber‹ dessen geworden sein, was jeweils zeitgenössisch auf der anderen Seite der Interfaces und Schnittstellen effektiv zu verkörpern ist. Die Materialität der Einheiten und Teile auch dieser ›Artefakte‹ läßt sich nicht nur herkömmlicher verstehen als durch Subjekte erfunden, in ihrer implikationsreichen Artifizialität ›naturwüchsig‹ und je nach kulturellem Entwicklungsstand ›notwendig entstehend‹. Teils analog zu menschlichen Körperschemata können auch sie als etwas historisch kontingent Gewordenes verstanden werden, als u.a. in ihrer Normiertheit soziales Phänomen: Pragmatisch hervorgebracht, diskursiv (re-)produziert, diskurspragmatisch sedimentiert. Keine Natur, aber auch keine Struktur oder (Master-)Diskurs generiert als quasi-Geschichtssubjekt eine solche Materialität. Analog zur von Foucault beeinflussten Butler kann auch hier eine relationale und differenzielle »kulturelle Bedingung der Möglichkeit« (ebd.: 29) in Anschlag gebracht werden, eine »Matrix von Beziehungen«. Auch sie ist hinsichtlich spezifischer (Artefakt-)Normen, z.B. der Materialität von Computern, auf »Bedingungen seiner Entstehung und seines Wirkens« (ebd.) befragbar. Auch sie reproduzierte sich Mal um Mal über stetige, regelgeleitete (Re-) Artikulation pragmatischer und diskursiver Normen – oder ihre Verschiebung. Oder deren Institutionalisierung: Dann ist eine »temporalisierte Regulierung der Signifikation [...] und nicht [...] eine quasi-dauerhafte Struktur« (ebd.: 48) angesprochen. Durch und als eine ebenfalls zu wägende Sache. Wollte man heuristisch versuchen von ›Objekt-Positionen‹ bei Butler auszugehen, spielten auch dort erst einmal schlicht diskurspragmatische Performanzen in Zwischenbereichen zwischen Subjekt und Objekt ganz buchstäblich eine Rolle. Auch hier ist es nicht notwendig, von einem gemeinsamen ›Eigennamen‹ jeweiliger medialer Artefakte auf eine vermeintlich ›ideele‹ Entität zu schließen, die sich durch ›den Menschen‹ instanziiert, allein durch ihn verschiedenste technische ›Umsetzungs‹-Typen erfährt. Auch hier läßt sich eine klassifikative Diversifikation denken einer historischen Vielfalt an diskursiven Pragmatiken und Prozessen. Ihr Ausgangspunkt wären hegemonial gewordene Prozessformen und Normgepräge, Typen jeweiliger »Materialisierung, [...] von regulierenden Normen regiert« (ebd.: 40). Einzuklammern wäre dabei aber der Gedanke menschlicher SubjektAutoritäten, die synchron wie diachron zielgerichtet handelnd mediale Artefakte als Mittel hervorbringen. Dagegen zu akzentuieren sind »genealogische Bemühungen [...] die normativen Bedingungen zu klären, unter denen

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[...] Materialität [...] gestaltet und gebildet wird« (ebd.: 42). Offen bleibt, ob sich bei derartigen Untersuchungen zugleich umstülpende Expositionen verfolgen lassen oder Butlers Anliegen einer Aneignung und subversiven Feier bestimmter Pragmatiken, um »die Konsolidierung der Normen [...] in eine potentiell produktive Krise zu stürzen« (ebd.: 33).66 Das Anliegen jedenfalls, »neue Möglichkeiten, für neue Arten, wie Körper Gewicht haben können« zu eröffnen (ebd.: 56), bleibt, in neuen Grenzen, nachvollziehbar. Höhenkämme der Analyse: Analysen bestimmter medialer ›Körper‹ jenseits negativistisch-dialektischer oder positivistisch-materialistischer Zugänge sind selten. Es sind historisch-materialgesättigte Methoden notwendig, um einen Medien-Idealismus und/oder -Materialismus zu vermeiden.67 ›Überkreuzungen‹, Mitten – was oft reflexiv leer, blind bleiben mußte, vermeintlich unsichtbar, was pragmatisch flimmernd ›dazwischen liegt‹ – sind weder allein positiv noch negativ zu bestimmen. Im Entstehen und Procedere ›medialer‹ Überkreuzungen sind weder allein Subjekte, noch reiner ›Geist‹ noch allein Objekte und reine ›Maschinen‹ anzutreffen. Weder kommt hier etwas langsam zu sich selbst noch ist jemals der Tag erreicht, an dem sich in neuesten Datenspeichern historische Geschicke ereignen. All diese hohen Vorstellungen werden reflexiv »in dem Umfang hergestellt«, in dem wirkliche, und das heißt in ihren Ergebnissen auch begrenzt reversible, umkehrbare »Geschichte verborgen bleibt« (ebd.: 36): durch Praktiken. Auch in der ›medialen Mitte‹ kann sich »abgelagerte Geschichte« (ebd.: 80) finden, »in der Geschichte der Materie codierte« (ebd.: 86) Geschichten. Diese Überkreuzungen und die in ihnen verkreuzten und sedimentierten Praktiken und Diskurse, deren Performanzen und Normen müssen sich noch immer über Schrift und Metaphern, über Diskurse und Narrative artikulieren und auch erschlossen werden. Die gegenwärtige Elektronifizierung der Ar-

66 Butler affirmiert und propagiert »subversive Wiederholung und Resignifikation« (Butler 1993: 194, vgl. allg. ebd.: 173ff, zur Affirmation: ebd.: 176) einer phallisch kontrollierten Signifikation (ebd.: 191, 97f, insb. 122) gegen eine »Norm, die man niemals wählt, eine Norm, die uns wählt, die wir aber in dem Umfang in Besitz nehmen, umkehren, resignifizieren, in dem es der Norm nicht gelingt, uns voll und ganz zu determinieren« (ebd.: 180). Mittels »Zitieren als [...] Widersätzlichkeit [...] in den ureignensten Begriffen des Originals« (ebd.: 75) wird ein – teilweise gegen Zizek und Lacan gerichtetes – Vorgehen vorgeschlagen, daß nicht nur eine partielle »Verschiebung des hegemonialen Symbolischen« (ebd.: 133) will, sondern bis zu einer ›Krise im Symbolischen‹ führen kann; vgl. ebd.: 195: »Die Krise im Symbolischen, verstanden als eine Krise dessen, was die Grenzen der Intelligibilität konstituiert, wird sich als eine Krise im Namen und in der morphologischen Stabilität, von der es heißt, der Name verleihe sie, bemerkbar machen«. Vgl. zur »chiasmatischen« Temporal-Struktur potentiell affirmativsubversiver Subjekte als »›Knotenpunkt‹ kultureller und politischer diskursiver Kräfte«: ebd.: 176f, zu Merleau-Pontys Konzept »Fleisch«: ebd.: 105. 67 Zur Bewegung zwischen Negativem und Positivem: Merleau-Ponty 1964: 93, 96.

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chive erschließt sich nicht allein über elektronische ›Daten‹ und ›Programme‹ oder ihre historischen Vorläufer, die diskursive Entwicklung ist nicht allein auf technische oder mathematische Entwicklungen zurückzuführen, nicht auf Spezialisten- und Elitendiskurse – sofern sie weiterhin textwissenschaftlicher Problematisierung offenstehen soll. ›Medien‹ dieses Gewichts sind in ihrer Materialität keine außerdiskursiven Gegebenheiten: »Insoweit das Außer-Diskursive abgegrenzt wird, wird es von dem gleichen Diskurs gebildet, von dem es sich frei zu machen sucht« (ebd.: 34, vgl. auch ebd.: 103ff). Abseits ihrer jeweils spezifischen Überkreuzung von Diskurs und Praxis lassen sie sich buchstäblich weder hervorbringen, noch denken und behandeln. Es sind zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt hegemonial gewordene diskursive Praktiken, die sich in zentralen neuen Medien sedimentieren, ihre Gebrachsweisen und deren Effektivität prägen: Warum sonst sollte man über sie schreiben? Für sie, besonders für die neuen, ›einschließenden‹, virtuellen Medien, gilt, ähnlich wie beim älteren, paradigmatischen Medium der Subjektivation, dem Gefängnis, eine diskurspragmatische Regel: »es gibt kein Gefängnis ohne Materialisierung« (ebd.: 61). Wie virtuell auch immer Effekte das Funktionieren überstrahlen, sie sind ganz buchstäblich materiell begreifbar durch das, was in ihnen abgelagert ist und immer wieder reartikuliert wird. In diesem Sinn sind sie »in dem Umfang materialisiert, in dem [sie] mit Macht ausgestattet« (ebd.: 61) sind. Subjektivierungspotential von Performanzen, als Körper wahrgenommen und sedimentiert: Der jeweiligen Ausprägung an historisch angenommener Invarianz, ›Härte‹ eines medialen Artefakts korrespondiert die Stärke an vermuteter ›Objektivität‹ seiner Effekte – eine Festigkeit, die zum Verschwinden tendieren kann, einem nicht nur graduell habituellen, sondern teils wohl auch dauerhaft reflexiven in-den-Hintergrund-Treten der jeweils geleisteten ›Mediation‹. Die neuen Medien, insb. der Computer, sind ›gewichtige‹ Körper, die ›zählen‹. Vom Individualkörper bis zum Bevölkerungskörper, von neuen atomaren wissenschaftlichen Elementen bis hin zu neuen, flexibel synthetisierbaren ›Körpern‹: Die diskursive »Intelligibilität« insb. dieses Mediums trägt heute nicht unerheblich zur Verdatung dessen bei, was teils bereits erst hierdurch ›Körper von Gewicht‹ werden kann – oder davon ausgeschlossen ist. ›Gewichtiger verdatender Körper‹ sind schon lange nicht mehr alleine Rede, Schrift auf Papier oder Stanzungen auf Lochkarten. Das ›Gewicht‹ der ›neuen Medien‹ bleibt diskursiv lesbar, genealogisch wie pragmatisch, wenn »›Gewicht verleihen‹ [to matter] zugleich meint, ›zu materialisieren‹ und ›zu bedeuten‹« (ebd.: 58). Zur Rekonstruktion solcher Bedingungen, Möglichkeiten und Ermöglichungen ist keine Annahme diskursfremder Strukturen erforderlich. Auch im Grau der Archive können neue, gewichtige Medien, ›Mitten‹ zu Ansatzpunkten neuer Geschichten der Gegenwart werden. Zu ihrer Rekonstruktion aus verstreuten Geschichten sind nicht allein mathematische Archive heranzuziehen, müssen Texte nur zum Teil aus Formeln bestehen.

II. Linien der Forschung: Hintergründe »Man is the most generally available general purpose computing device« J. STROUT, 1951

1. C OMPUTER

UND

M ETAPHERN [H. B LUMENBERG ]

Im Vordergrund des Gegenstandsfelds des vorliegenden Buchs artikulieren sich Signifikanten: ›Der Computer‹ als informationstechnischer Artefakt, ›Informatisierung‹ als sozialtechnologische Dynamik, ›Informatik‹ als dominantes Expertenwissen, ›Information‹ als Grundeinheit informationstheoretisch verstandener Formen der ›Kommunikation‹. Lassen sich diese Konzepte historisieren? Lassen sich hier archäologische Grabungen unter unseren Füßen leisten, ausschnittshafte Geschichten der Gegenwart erzählen? Auf der Ebene von Informationskonzepten und informationstheoretisch grundierter ›Kommunikation‹ findet heute oftmals, mit R. Koselleck gesprochen, ein »Absehen von historisch-genetischen Fragen« statt: Hier wird fast allgegenwärtig »darauf verzichtet, die Herkunft dieser Ausdrücke geschichtlich abzuleiten« (Koselleck 1975: 350). So werden Informationskonzepte in naturwissenschaftlich und technisch geprägten Kontexten gerne konzeptuell zur Erklärung u.a. historischer Ereignisse und Prozesse, quasiahistorisch genutzt – und das oft ganz unmetaphorisch.1 Dann aber, wenn 1

Zu einem »nachrichtentechnischen Paradigma« (Janich 1999: 69) gearbeitet hat u.a. Peter Janich in einer Arbeit, die »Information als Legende« (ebd.: 109) rekonstruiert. Mit analytischen Akzenten artikuliert sie sich mit einem zwar pragmatischen, »performative Sprechakte« (ebd.: 111, vgl. auf 153) einbeziehenden, jedoch spezifisch subjektphilosophisch situierten Begriffsprimat – zu dem man sicher geteilter Meinung sein kann (Stichwort »Anthropomorphisierung« ebd.: 93, vgl. auch 123 und »verdrängte sprachliche Kommunikation unter Menschen« ebd.: 70, siehe auch 65). Janich legt u.a. Wert auf den Hinweis auf eine naturwissenschaftliche Neigung, ernsthaft und apodiktisch anzunehmen, die eigene »Sprechweise« sei »gerade keine Metaphorisierung, sondern die eigentliche, di-

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Historisches durch Raster ›der Information‹ hindurch hinsichtlich Informationsgehalten dargestellt wird, wird oft auch eine historisch rückwirkende Naturalisierung des Informations-Konzepts selbst vollzogen. Obwohl doch Einvernehmen zu erzielen wäre, daß durchaus auch ein erstmaliges historisches Erscheinen eigens dieses Terms feststellbar ist. Warum wird in bestimmten naturwissenschaftlichen und selbst ausdrücklich technikgeschichtlichen Abhandlungen kaum Wert auf dieses Faktum und seine Implikationen gelegt? Warum wird nicht z.B. historisch sauber die Zeit vor der Informatisierung in Begriffen zu erschließen versucht, über die man ebenfalls historisch Rechenschaft ablegen kann? Wenn ein Konzept wie das ›der Information‹ in der heute gebräuchlichen Form erst Mitte des 20. Jahrhunderts, im Zusammenhang erster Computer-ähnlicher Gebilde und der Kybernetik geprägt wird, warum wird es heute von einigen Technikhistorikern ganz umproblematisch zur retrospektiven Beschreibung eingesetzt bspw. einer »information infrastructure in the nineteenth century [...] for the dissemination of information« (Chandler/Cortada 2000: 348)? Zur Beschreibung einer sozialen Infrastruktur also, in der weder Computer existieren, noch Artefakte und herrschende Konzepte von etwas wie Information sprechen? Wo von »communications and information flows in late nineenth-century corporations« (ebd.: 345) gesprochen wird, können dann auch Bücher als »vehicles for transmission of information« (ebd.: 346) aufgefaßt werden. Vielleicht scheint man sich schlicht zweifelsfrei sicher zu sein, daß bestimmte Konzepte so weit greifen, daß sie sogar vergangene

rekte, ursprüngliche, nicht-metaphorische Darstellung« (Janich 1999: 106, zur Metapher auch ebd.: 55, 61f). Vgl. dazu auch ebd.: 112: »Nicht die Natur erklärt das Kulturphänomen [...], sondern das Kulturphänomen Wissenschaft erklärt sprachlich Naturphänomene durch die Kulturleistungen [...] einer nachrichtentechnischen Sprache« – und dies noch nicht wirklich sonderlich lange. Ob man im Kontext der von ihm rekonstruierten »Dogmengeschichte« (ebd.: 68) auch eine »Verwahrlosung der Sprache« (ebd.: 90), allerdings argumentative »Defekte« (ebd.: 66) bei Naturwissenschaftern vermuten soll, auch wenn sie aus einem verlorengegangenen »Kontakt zur akademischen Philosophie« (ebd.: 22) resultieren sollen, sei dahingestellt. Viel interessanter sind, neben Überlegungen zu einer »Naturalisierung der Naturwissenschaften« (ebd.: 65), insb. Janichs Überlegungen zum Einsatz der ›Informations-‹ und Kommunikations-Metaphern in Neurophysiologie und Molekularbiologie (›Erbinformation‹, ›Transkription‹ etc.) sowie in der Alltagssprache, im Gegenwartsdiskurs und in Mensch-Maschine›Kommunikation‹: Janich 1999: 95f., 87f., 19ff, 37, 69ff. Vgl. auch die äußerst kritische Würdigung der Systemtheorie (117f) und von Emergenztheorien (124f), insb. deren Versuchen einer pragmatischen Brückenbildung zwischen den two cultures. Vgl. zu biologischen Metaphern ›Information‹ und Kommunikation insb. Kay und Haraway, passim sowie Blumenberg 1981.

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Gemengelagen problemlos fassen.2 Unausdrücklich scheint man sie für letztgültig, ahistorisch zu halten. Ist das berechtigt? Könnte man bestimmte Geschichtsschreibungen hiermit nicht vielleicht auch ein wenig zu einfach gestalten?3 Vor allem von (Technik-)Historikern könnte doch zu erwarten sein, historische Spezifika zu untersuchen, sich über die Geschichte hierzu genutzter Begriffe Rechenschaft abzulegen. Katherine Hayles spricht im zur Disposition stehenden Feld der Nutzung ›informatischer‹ Begriffe bereits von einer ›großen Erzählung‹ (Lyotard), einem »Metanarrative« (Hayles 1999: 22). Nicht zuletzt auch aus diesem Grund versucht das vorliegende Buch historisch-rückblickende Nutzungen bestimmter Konzepte möglichst zu meiden, wenn sich daraus bestimmte Selbstbezüglichkeits-Probleme ergeben könnten. Ziel ist es, einer Naturalisierung bestimmter Konzepte und Begriffe zwar nicht gänzlich vorzubeugen, aber sie zumindest als problematisch zu markieren. Wenn der u.a. so gewichtete Text dann zwar nicht durch einen Berufshistoriker geschrieben wird, erscheint ihm dennoch ein Anspruch Kosellecks gerechtfertigt: Er versuchte, nicht »gegen den methodischen Anspruch [zu, R.B.] handeln, dem sich ein professioneller Begriffshistoriker unterwerfen sollte« (ebd.) – die »Herkunft dieser Ausdrücke« und Konzepte ist zumindest versuchsweise »geschichtlich abzuleiten« (Koselleck 1975: 350). Warum sollte ein solches historische Bewußtsein im Feld einem Text auch nicht abzuverlangen sein? Die Diagnose ›Metanarrative‹ (Hayles) schließt es ein: Auch im Alltagsverständnis ergeben sich im Zusammenhang Probleme. Der Eindruck einer fast ubiquitären Nutzung bestimmter Ausdrücke und ihres spezifischen Hofs drängt sich oft auf.4 Zwar ist hier kein Raum, eine umfassendere Untersuchungen bestimmter Implikationen und Verästelungen vorzunehmen, wie es in anderer Hinsicht z.B. bereits Paul Edwards unternommen hat (Edwards 1996, insb. 158ff). Der Eindruck aber, daß bereits der Term Com-

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Ein nicht ausdrücklich aus dem historischen Bereich stammendes Beispiel findet sich z.B. bei Karl Deutsch. Er spricht offenbar bewußt ahistorisch von communication and control im historischen Kontext menschlicher Körper, die noch nicht informationstechnisch geöffnet, deren Elemente noch nicht studier-, tausch- und produktivierbar waren: »For thousands of years, the operations of communication and control were largely carried on inside the nerve systems of human bodies. The were inaccessible to direct observations or analysis. They could be neither taken apart nor reassembled. In the new electronic machines of communication and control, messages or control operations can be taken apart, studied step by step, and recombined into more efficient patterns« (Deutsch 1963: 76). Dieser Zweifel fußt auf einer Differenzierung Kosellecks zwischen ›wissenschaftlichen‹ Herangehensweisen, die sich »ex post gebildeter und definierter Begriffe« bedient und tastenden, die sich mittels »überkommenen Begriffe der Quellensprache als heuristischer Einstieg« nähert: Koselleck 1975: 350. Vgl. z.B. Meyer-Drawe 2000: 234.

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puter heute – wie Edwards aus der Richtung Lakoff/Johnsons betont hat5 – als eine weitgreifend lebensweltlich genutzte Metapher zu verstehen ist, ist immer weniger von der Hand zu weisen. Betrachtet man heuristisch z.B. den Ausdruck ›Computer‹ hinsichtlich vorherrschenden Funktionen populärer Verwendungsweisen, dann gewinnt man streckenweise den Eindruck, daß er trotz und durch die Vielfalt seiner Verwendungen hindurch eine bestimmte Funktion erfüllen könnte. Könnte er, mit Blumenberg gesprochen, als einer jener heute zentralen, immer ausgreifenderen lebensweltlichen Erwiderungsversuche verstanden werden auf diejenigen »vermeintlich naiven, prinzipiell unbeanwortbaren Fragen, deren Relevanz ganz einfach darin liegt, daß sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte vorfinden« (Blumenberg 1998: 24)? Problematisch ist nicht nur die Breite heutiger ›computerhafter‹ Erwiderungsversuche auf zentrale lebensweltliche Fragen und hiermit einhergehende unausdrückliche Ansprüche, sich auf vermeintlich ›endgültige‹ Perspektiven zu stützen. Ausdruck und Anspruch dieser Versuche lassen oft auch bestimmte erkenntnistheoretische und politische Ambitionen erkennen – und das weist bereits wieder über Blumenbergs teils anthropologisch geprägtes Koordinatennetz hinaus, markiert Grenzen.6

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Wie Dupuy das Feld anhand von ›Modellen‹ des ›Geistes‹ untersucht, hebt Edwards stärker in Richtung auf ›Metaphorisierungen‹ ab, in Richtung einer spezifischen Subjektivierung: Des »COMPUTER metaphor’s creative potential for structuring subjectivity« (Edwards 1996: 165). Edwards untersucht historisch akribisch insb. die Genese eines sog. ›cyborg discourse‹ im Zusammenhang eines ›closed world discourse‹ zu Zeiten der Entwicklung des Computer. Und zwar innerhalb von ›Einschlußversuchen‹ der amerikanischen Containment-Doktrin des kalten Krieges, einer Metapher der ›closed world‹. ›Cyborg‹ gilt ihm in Anschluß an Haraway, für den vorliegenden Text in Teilen anschlußfähig, als Index für einen zeitgenössisch neuen Subjektivationstyp im untersuchten Feld: »cyborg subjectivity during the Cold War tended overwhelmingly to reinscribe the rationalistic male identity on its new electronic surfaces. Thus the cyborg – a both experience and theory, subject position and objective description – is a profoundly and inherently political identity« (ebd.: 172). ›Mind‹ wird für Edwards im Kontext neuartig entwickelt, insb. als »closed control system subject to technical manipulation« (ebd.: 173). Materialität fehlt hier jedoch, wie bei Dupuy, ein wenig. Um anthropologische Grenzen des Blumenbergschen Modells zu überschreiten, ließe sich z.B. schlicht ein grundlegender, dauerhaft unerfüllbarer ›Aufforderungscharakter‹ einsetzen, bspw. von Welt, auch und insb. in politischer Hinsicht. Also eine Aufforderung, die immer wieder zur Antwort auffordert – wie immer die Erwiderung, als Bedingung weitergehender Erfahrung, dann auch konkret ausfallen mag, welchen Stil und welche Form sie findet und wie stark sie sich institutionalisiert. Ähnliches hat grundsätzlicher auch Merleau-Ponty, teilweise in politischer Hinsicht, unternommen, wenn er von einer grundsätzlichen »Fraglichkeit des Seins« sprach: Vgl. zum Einstieg Schnell 2000: 70. Schnell

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Im Alltagsverständnis, aber auch streckenweise wissenschaftlich kann u.a. der Signifikant ›Computer‹ heute als Orientierungssymbol wirken – wie sein ›Begriff‹ jeweils hinsichtlich Raum und Zeit gerahmt sein mag. Vielleicht kann er so immer wieder erreichen, eine »Nährlösung der systematischen Kristallisationen« (ebd.: 13), eine »katalysatorische Sphäre« (ebd.: 11) zu bilden, eine zeitgenössische »Substruktur des Denkens« (ebd.: 13) aufzurufen und zu artikulieren. Kann er dabei also als eine zeitgenössisch zentrale absolute Metapher verstanden werden (Blumenberg 1998: 10, 23f, passim)? Eine Metapher, die, folgt man Blumenberg, historisch betrachtet aufgewiesen werden kann als eine derjenigen »Übertragungen, die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen« (Blumenberg 1998: 10)?7 Es sei denn um den Preis, sie wörtlich zu nehmen und so zugleich ihre zukünftige Feststellung, ›Schließung‹ auf heutigem Niveau zu betreiben? Wäre dem so, machte das einen weiteren, nicht unerheblichen Teil der politischen ›Bedeutung‹ dieser Metapher aus: Ihr Anspruch könnte weiterreichenderen »schöpferischen Ausdruck« (Schnell 2000: 72) zu zentralen Fragen in jeweils besetzten Feldern zu tilgen versuchen. Selbst wenn man sie unter historisch zentrale technische Metaphern einordnet wie ›Uhr‹ (Plan) und ›Waage‹ (Freiheit) in Tradition Otto Mayrs, bleibt die Reichweite von Computer-Ausdrücken zeitlich begrenzt. Bei Gefahr eines quasi metaphorischen ›Totalitarismus‹ wäre es ein buchstäblich unkritisches Unternehmen, zum einen die ›Rationalität‹ dieser Metaphorik überzubewerten. Und zum anderen übertrieben, die integral kul-

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entwickelt aus dem Kontext Überlegungen, die auf das Feld des Politischen überleiten, insb. hinsichtlich des Ausdrucks, den die jeweiligen Antwort findet – der immer auch ein »politischer Ausdruck« ist, insofern in ihm und seinem ›Sinn‹ eine Gewalt mitschwingt, die anderes, andere Möglichkeiten zum Schweigen bringt (vgl. ebd.: 71ff). Folgt man dem, könnten sich am obigen Punkt, gegenüber einer stärker anthropologischen oder ontologischen Interpretation, im Angesicht der Aufforderung Akzente jenseits vermeintlicher Notwendigkeiten oder Geschicke setzen lassen: Möglichkeiten pluralisieren, ohne die anfänglichen Situationen zu verharmlosen, die jeweils Antwort verlangen. Stärker ginge es dann auch um Problematisierungen des jeweiligen Charakters konkreter historischer ›Antworten‹, ihres ›Stils‹ und der ›Geste‹ ihrer möglichen Metaphorizität, ihrer angenommenen Weite und Macht, auch hinsichtlich Alternativen. Wetz spricht im Zusammenhang von »sprachlichen Bildern [...] die semantische Gehalte umfassen, welche sich der Ausdruckskraft der begrifflichen und objektivierenden Sprache von Philosophie und Wissenschaft entziehen«, von einem »Metaphorischen«, das sich »nicht ins begrifflich Logische übersetzen läßt«: Wetz 2004: 19. Die Aufgabe dieser Metaphern umreißt er als »Aufschließen von Totalhorizonten [...] der unbegrifflichen Totalität der Wirklichkeit« (ebd.: 20), dort »wo das begriffliche Denken nicht zu einem Abschluß kommen kann, weil solche Themen [...] Erkenntnismöglichkeiten übersteigen und überfordern«. Er nennt im Kontext illustrativ bspw. Lebewesenmetaphern und die Uhr-Metapher.

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turhistorisch punktuelle Art dieser Erwiderungform, ihrer Ausdrücke und Komponenten schlicht unter den Tisch fallen zu lassen oder gar in Abrede zu stellen.8 Für beides spricht einiges.

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In Anlehnung an Otto Mayrs Forschungen gesprochen: Die Computer-Metapher könnte heute jene historisch früheren und funktional ähnlichen der Uhr (vgl. hierzu auch Blumenberg 1981: 396) und Waage auf gewisse Weise transformativ in sich aufnehmen – und damit paradoxerweise auf einer Meso-Ebene beide früheren Konnotationsfelder integrieren von mechanistischem Determinismus (Zentralisierungsvorstellungen) und zugleich von selbstregulierten Systemen (dezentrale Vorstellungen). Hat sich erstmals gewissermaßen eine abschließende, historisch-kumulative Klammer um beides gebildet, wenn sich im Kontext der Kybernetik vielschichtige Begriffsumwidmungen und Neuschöpfungen ereigneten? Greift man zusätzlich Blumenberg auf, könnte ebenfalls die Buchmetapher eingeflossen sein: War der Mensch in ihrem früheren Herrschaftsbereich noch nicht »selbst ein Element des Weltbuchs, sondern der dem Naturganzen konfrontierte Partner des Autors« und geht dann im Bereich der Uhr-Metapher »als Funktionselement in das Werk ein« (ebd.: 105, vgl. zum Weltbuch Blumenberg 1981), dann lernt er im Bereich der Waage-Metaphern das Werk als ein sich selbst auspegelndes und so ins Gleichgewicht kommendes kennen. Im Bereich der Computer-Metapher wird er nun vielleicht Element und Funktion innerhalb des Werks, eine Stelle im Werk, die sich selbst – auch als selbstregulierte – maschinell zu lesen und damit auch zu schreiben lernt. In den Bereichen, die heute stetig durch Computer-Metaphern beschrieben werden, bilden sich u.a. Systeme heraus, die mittels (Sicherheits-)Mechanismen quasi-deterministisch in selbstregulierten Grenzen zu verbleiben scheinen. Hierbei wäre Edwards zuzustimmen, wenn er vom Computer und der Computermetapher im Sinne ein Abschließungsmetapher eines Containment, einer closed World spricht (Edwards 1996). Weiterentwickelnd ließe sich hier annehmen, daß nun zudem versucht wird, lebensweltliche Möglichkeitshorizonte berechnend in vermeintlich natürlicher Pegelung zu umfangen und zu umschließen, indem sie als solche mathematischinformationstheoretisch beschreibbar werden. In den Grenzen einer solchen, sich zusehends naturalisierenden Vollzugsform werden sie normativ in Richtungen hin ausgerichtet, die radikale Möglichkeiten und Richtungsänderungen – jenseits der Grenzen der geschaffenen Korridore – möglichst ausschließen sollen. Dies würde dann allerdings gerade nicht mehr mittels eines einfachen autoritären Plan-Spiels oder liberaler, unsichtbar-selbstregulierter Balance-Vorstellungen geschehen. Sondern mittels einer Planungsrationalität (vgl. hierzu genetisch auch van Laak 2006, insb. 429ff) jener Hauptvollzugsformen von Computer-Metaphern, die mittels Balance-Vorstellungen und im Medium ausbalancierter Elemente ›ganz natürlich‹ einen programmierten und programmierbaren Plan verfolgen: Eine Balance sich gegenseitig aufhebender und bestimmender Unbestimmheiten, weitestmögliche weltliche Kontingenzreduktion. Es sind insofern spezifisch (aus-)richtende und (an-)ordnende Vollzugsformen dieser Dynamik, die ihrem jeweiligen Gegenstandsfeld kaum mehr ein Heraustreten aus orga-

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›Computer‹ war bis in die 1930/1940er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein noch eine (stärker weiblich besetzte) Berufsbezeichnung. Sie bezeichnete primär in Rechenmanufakturen händisch arbeitende MathematikerInnen. Katherine Hayles lässt den Bedeutungswandel an zentralen Implikationen (Geschlecht, Herkunft, Beruf, Anspruchsweite) deutlich werden, wenn sie schlicht die heutige Aussage der Tochter einer zeitgenössischen ›computer‹ zitiert: »my mother was a computer«.9 Wer würde heute, abseits Assoziationen z.B. zur Reproduktionsmedizin, hier noch eine Berufswahl vermuten?

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nisch/organzistischen Techno-Metapherfeldern ermöglichen – die funktional immer dazu gezwungen sind, als Elemente in eine Gesamtdynamik einzugehen. Eine ähnliche Tendenz scheint sich bereits im Kontext der Waage-Metapher, in liberaler politischer Hinsicht, 1736 bei James Thomsons Liberty in England anzudeuten, wenn er quasi im Medium von laissez-faire vom »vollendete[n], vollkommene[n] Plan« spricht, »gemischt aus sich gegenseitig kontrollierenden und stützenden Kräften« (Zitiert nach Mayr 1986: 193): Das Koordinatenfeld (wirtschafts-)liberaler Gesellschaften ist nach Plan strukturiert. Es tendiert zu automatischer Selbstregulation, die in ihrer Logik Extrempositionen, Ausscheren kaum mehr gestattet, indem es diese automatisch umleitet zu einem Movens eigener Pegelungsprozesse. Derart bleibt es zwar auf sie gewissermaßen angewiesen, ist ihnen gegenüber jedoch reaktiv: Das Funktionieren dieser Logik arbeitet mit der systematischen Depotenzierung der Produktivität dessen, was sie am Leben hält, treibt es zur Mehrwertproduktion fürs Ganze. Der liberale Plan steckt in der Pegelung, ihrer Technik: Heute durch neue Computer-Technologien, welche die geplant-produktivierende Pegelungsfunktionen bis in die Kleinstkapillaren des Sozialen hinein zu vollziehen sich anschicken könnten: Ein mittels ubiquitärer Aussaat sich dezentralisierendes Uhrwerk, dessen Hauptfunktion heute immer stärker in Netzwerken aufgeht. Vgl. hierzu auch Kittler 1986a, Keil-Slavik 1985: 15, Hayles 2005. Hayles hebt in einer ihrer Arbeiten zum ›Posthumanen‹ (Hayles 1999: 247ff) in Rekurs auf Anne Balsamo auf einen Bedeutungswandel im Hintergrund ab: Von ›Mother Nature‹ gewissermaßen zum ›Motherboard‹ des universellen Computers (Hayles 2005: 3). Es ist nicht zuletzt ein Bedeutungswandel der Metapher Computer, der in der vorliegenden Arbeit versucht wird implizit zu untersuchen. Hayles Arbeit zum Verständnis des ›Posthumanen‹ im Kontext greift neben der Informatisierung auf weitere Bereiche zurück, die hier nur als spätere Wirkfelder des Kontexts markiert werden können, ohne auf sie näher eingehen zu können: »nanotechnology, microbiology, virtual reality, artificial life, neurophysiology, artificial intelligence, and cognitive science« (Hayles 1999: 247). Für überblicksartige Lagebestimmung im Feld, wie sie z.B. Hayles und Haraway stichpunktartig oder als Diagramm liefern, ist es für das vorliegende Buch, bei allen Einsichten bereits geleisteter Versuche, noch etwas zu früh (Haraway 1985, Hayles 1999: 247ff, insb. die Diagramme zu einer neuen Semiotik ebd.: 248/249, in Analogie zur Darstellung der Entwicklung der modernen Episteme bei Foucault 1966: 265/266). Im Kontext ist es noch nicht zu einer stabilen strukturellen Ausdiffe-

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Eine ›wörtliche‹, ›begriffliche‹ Festlegung von Computer-Ausdrücken scheint heute oftmals zu versuchen, der Gefahr zu entgehen, daß deren Metaphorizität, ihr Hof und ihre Funktion ganz prinzipiell »durch eine andere ersetzt bzw. vertreten oder durch eine genauere korrigiert werden kann« (ebd.: 12/13) – wie bspw. historisch bereits bei der Uhr/Uhrwerks-Metapher geschehen.10 Oder im Feld eine bislang undenkbare Vielfalt, auch von Aneignungsweisen einziehen könnte.

renzierung gekommen. Auch daher versucht der vorliegende Text eher Skizzen, historische Linienführungen und Kleinst-Hinweise in überschaubaren Regionen anzubieten, keinen Überblick über diese neue Dynamik. 10 Die Metapher Computer beginnt sich bereits heute wieder grundsätzlich zu wandeln unter dem Eindruck von technologischen Entwicklungen im Bereich RFID, Ambient- und Ubiquitous Computing – also von Versuchen, miniaturisierte Computer in Umkehrung der virtual reality-Idee faktisch, also materiell in sämtliche Alltagsgegenstände einzutragen. Heutige Computer – und ihr angegliedertes ›logisches Eigentlichkeitsjargon‹ – könnte man versuchen zu verstehen u.a. als neue hegemonial und ubiquitär werdende technologische Metapher und Metaphern-Technologie, die der Verlegenheit zu entspringen scheint, mit der radikalen Kontingenz von Welt umzugehen, einem reaktiven Beherrschungswillen ihr gegenüber einen Namen zu geben: Etwas also, das sich auch insofern »gegenüber dem terminologischen Anspruch als resistent erweist, nicht in Begrifflichkeit aufgelöst werden kann« (Blumenberg 1998: 12). Denn, wie Jürgen Trinks betont, auch und gerade Computer-»Medien verwandeln Kontingenz in Verfügbarkeit« (Trinks 2006: 199). Gilt nicht auch heute, im Feld einer kaum mehr als solche erkennbaren Computer-Metapher, oft paradigmatisch ein Bild, das Hannah Arendt bereits 1972 zeichnete (Crisis of the Republic 72, 11f) – ein »irrationales Vertrauen in die Berechenbarkeit der Welt« der »Suche nach Formeln, am besten noch solchen, die sich einer pseudo-mathematischen Sprache bedienen« um die lebensweltlich »disparatesten Erscheinungen auf einen Nenner« zu bringen – um, heute z.B. bei Gleichgewichtsprozessen mit prinzipiellen Unwägbarkeiten, »ständig Gesetze« zu finden, die »politische und historische Tatsachen« vermeintlich »erklären und prognostizieren« können sollen, »als ob diese mit derselben Notwendigkeit und somit Verläßlichkeit erfolgten, wie dies früher die Physiker von den Naturereignissen glaubten«. Nicht »beurteilen [...] sondern [...] berechnen« soll man heute eine in Grenzen planbare (bspw. globale) Zukunft. Ist die Computer-Metapher in ihrer Hauptvollzugsform temporal auch und vor allem als Abschluß-Metapher zu verstehen, als Sicherheitstechnologie? Der Gefahr voller Kontingenz im Geschehen der Gesamtkultur könnte begegnet werden durch eine modellhafte Verdopplung von Welt mittels ihrer digitalen Zerlegung bis ins kleinste, durch Prognosen auf verschiedensten, immer neuen, im weiter zerkleinerbar werdenden Elementar-Ebenen. Mit der Metapher könnte damit auch gewissermaßen eine ubiquitär berechnende, vorausplanende Planungsrationalität implementiert werden: (selbst) regulierte/(vor-)geregelte und nachjustierbare, human nicht mehr rekonstruierbar

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Zwar noch nicht ›buchstäblich‹, aber quasi im diskursivem Wurzelwerk, den Fundamenten späterer ›buchstäblicher‹ Funktionen beginnen ComputerMetaphern insb. im diskursiven Umfeld der Kybernetik ›erster Ordnung‹ in eine tendenziell bis heute hegemoniale Form gebracht zu werden. Ihre heutige Prägung geschieht vor allem im Umfeld wirkungsmächtiger Neubesetzungen von Schiffahrts- und Lenkungsmetaphern in Verbund mit neuen mathematisch-technizistischen Bildern des Denkens – neuen, kybernetischen

viele Zukunftselemente, die zu Gesamtbildern von Zukunft zusammensetzbar werden sollen. Nachhaltigkeitsszenarien und ihre Zukunftsprognosen bilden hierzu einen Vorgeschmack, der sich prinzipiell auf alle sozialen Bereiche übertragen lassen könnte, manches andere zeichnet sich im Zusammenhang Sicherheit und Datenschutz ab. Simulation würde hierbei gewissermaßen Zukunft vorangehen können sollen: Insofern stellt sie eine weitere Etappe westlich-europäischer Säkularisierung, mit Blumenberg: Surrogatbildungsprozesse in Aussicht. In bestimmten Computer-Planungsrationalitäten soll sich daher in Myriaden von Mikrovollzügen immer wieder neu ein Ganzes kumulieren können, das aus berechnenbaren und (vor-)berechneten Atomen besteht; ein Ganzes, das quasi eine widerspruchsresistente kulturelle Gegenwärtigkeit und Zukunft ermöglichen würde. Selbst elementare Nichtplanbarkeiten wären dann in Grenzen berechenbar und prognostisch kumulier-, einplanbar. Kann durch eingrenzende, vorberechnend-situierende Einplanung der Möglichkeitshorizonte selbstregulierter Elemente die Berechnung und Berechenbarkeit neu begrenzter und umgrenzter Totalitäten und ihrer neuen Normen ermöglicht werden? Kann nach Gott und Mensch ein Über-Medium Computer einen Wert erhalten, in dem nicht mehr der Mensch, »das was er kann oder könnte anstelle des ihm unbekannten, als unerkennbar vermeinten Produktes der göttlichen potentia absoluta« (Blumenberg 1998: 100) setzt, sondern ihm ein Produkt auf gewisse Weise als potentia absoluta entgegentritt – und ihm sagt, was er vermeintlich kann oder könnte? Insofern mit Blumenberg ein Zweifel: »die unspezifische Rüstung eilt den realen Problemen und Bedürfnissen in einer Weise voraus, die man nicht begreift, wenn man das hinter aller Aufklärung stehende Seinsmißtrauen übersieht, das dem Menschen nun alles aufbürdet, was zuvor der Natur oder Vorsehung zugetraut worden war. Die Theorie der Übervölkerung ist viel älter als das faktische Anspringen der Populationen. Die Technisierung schafft zum großen Teil erst die Bedrängnisse, denen abzuhelfen sie theoretisch entworfen war« (Blumenberg 1998: 44). Ironie eines auch solchen Computer-Dispositivs wäre, daß es uns glauben macht, das es um unsere Freiheit geht – insb. die der Kommunikation. Wären Angriffe auf die Vollzugslogik der Computer-Metapher, ihre Umwidmung eine Lösung? Diesen Weg scheinen D. Haraway und P. Edwards vorzuschlagen, z.B. hinsichtlich menschlichen Selbstverständnis, -verhältnis und -technologien.

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Bildern.11 Anfangs ist z.B. noch die Rede von ›computing machines‹, von ›electronic brains‹, ›Elektronengehirnen‹. Was zu Beginn diskursiv noch als Gedankenspiel einer universellen (Turing-)Maschine existiert, wird in Verbindung mit dem Entstehen eines sog. ›historischen Konsensus‹ zum Bau von Rechenmaschinen, dem Einzug einer Norm – der sog. ›von-Neumann‹Architektur – integriert zu einem hinsichtlich ›generellen Zwecken‹ hoch aufgeladenen, sprechenden Feld funktional prinzipiell ›universeller‹, sog. ›Von-Neumann-Maschinen‹: Der Norm eben dessen, was wir heute ›Computer‹ nennen. Diese Prozesse sind weder technikhistorisch noch genealogisch unabhängig zu denken von einem sich ebenfalls hier stetig aufspannenden diskursiven Verästelungsgefüge der neuen ›Universalwissenschaft‹ Kybernetik: ›Von-Neumann-Maschinen‹ sind also schlicht auch als zeitgenössische kybernetische Automaten denkbar. Ihre Norm entstand teils in Wechselwirkung zwischen kybernetischem Diskurs und ersten RechnerArtefakten, z.B. sog. ›Voreilrückkopplungen‹. Der kybernetische Diskurs bot umgekehrt stetig anschlußfähige Begriffe, Metaphern und Sinn zum Bau erster normierter Rechenmaschinen. Der Erfolg erster funktionierender Rechenmaschinen, ›Elektronengehirne‹ trug dann wieder nicht unerheblich zur ersten populären Bewertung der Kybernetik bei. Der stetig reguliert auftretende Kybernetik-Diskurs wurde also als Begriffspool nutzbar. So wurde z.B. ausgehend von der anfänglichen Prägung eines mit menschlicher Intelligenz, mit ›Hirn‹ konnotierten Begriffs ›rechnender‹ Maschinen die Möglichkeit geschaffen, einen Kollektivsingular ›Rechner‹ oder ›Computer‹ herauszubilden.12 Kybernetik figurierte auch als anfängliches diskursives Relais, in dessen neuer Sprache die Entwicklungen im Rechnerbereich auf das Verständnis des menschlichen Gehirns rückwirken konnte. Kurz später, das wird am Ende des Buchs ausschnitthaft zu sehen sein, trifft das auch auf ›Erbinformation‹ und ›Kognition‹ zu. Und letztinstanzlich dann eben auch teils auf ganze Subjekte, ›den Menschen‹. Wenn um einiges später ›Computer‹ und ihr ›Hof‹ sich allgemeiner zum Verständnis selbst ›der Welt‹ heranziehen lassen – wie in einigen Ausläufern des artificial life, eines computersimulierten, ›künstlichen Lebens‹ – hat sich mittels einer (absoluten?) Metapher wohl ein ganz buchstäblicher Universalismus entfaltet. Er erinnert seltsam an einen anderen, noch begrenzte-

11 Vgl. zu Veränderungen dessen, was im Gefolge der Kybernetik das ›Denken unter Denken versteht‹, welches Bild sich Denken von sich selbst gibt und was es dabei ›entlernt‹ und ›entbildet‹ – durch Heidegger von Deleuze aus: Hörl 2008. 12 Diese Transformation zu untersuchen wäre sicher ein spannendes Unternehmen, das in seiner ganzen Tragweite hier kaum resp. implizit und in erster Annäherung unternommen werden kann. Vgl. abstrakter, zu einem leicht ähnlichen Phänomen der Bildung eines Kollektivsingulars: Koselleck 1975: 370.

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ren im Diskurs der 1940er-Kybernetik.13 Allein dieser wird im letzten Abschnitt des Buchs ein wenig differenzierter aufgeschlüsselt. Die erste konkrete Ausprägung des Ausdrucks ›Computer‹ bildet in den 1970er Jahren, den ersten ›Schlußstein‹ einer Entwicklung. Sie erfüllt hier in historischer Rückwärtsrichtung quasi die Funktion eines »Erfahrungsregistraturbegriffs« (Koselleck 1975: 370). Auf seinem Fundament können sich zentrale Metaphern des Zusammenhangs auch in umgekehrter historischer Richtung entfalten, in einer Funktion »Erwartungsbegriff« (Koselleck 1975: 372). Die ›Informatisierung‹ schreitet voran. In Zusammenhängen des Entstehens der ersten Kybernetik als regelgeleitetem Diskurs entfalten sich erste Bedingungen neuer epistemischer Möglichkeitsfelder. Diese werden sich aktualisieren, um sich greifen, fundamentale diskursive Rekonfigurationen vollziehen und zugleich als (Modernisierungs-)Dynamik in bestimmten konkreten Vollzugsformen und Nutzungsweisen an bestimmte moderne epistemische Bedingungen anschlußfähig bleiben – und zwar auch, indem sie diese in partieller Verschiebung reartikulieren. Im Bereich des ersten Entstehens dessen, was sich ab 1948 Kybernetik nennen wird, kündigen sich auch insofern Grundlagen eines neuartigen Nachkriegs-Dispositivs an. Zwischen 1940 und 1948 beginnen sich bestimmte Technologien und Metaphern in vorbereitenden Dynamiken auszuprägen. Sie verdichten sich zu einem Diskurs, der zu Beginn des kalten Krieges in beginnenden Breitenwirkungen immer weitere Diskurse ›ansteckt‹, der beginnt Lebenswelt zu ›kolonisieren‹.14 Spätestens ab Ende der späten 1940er Jahre ist hierbei ein kontextuellen Hof mit im Spiel, der durch anschließende Entwicklungen hindurch teilweise bis heute im common sense fortlebt. Kommunikation, Information, (Selbst-)Regulation, Gleichgewicht, Spiel: Im Gefolge erster Verdichtungen bestimmter Fundamente des kybernetischen Diskurses gelingt es einem kybernetisch besetzten Meta-

13 Interessant wäre im Kontext zu untersuchen, wie der spätere (Computer-) Universalismus pragmatisch nicht, wie noch bei Waldenfels, ›das Ganze‹ durch ›das Normale‹ ersetzt – ein Normales als ein »Allgemeines, das sich im Besonderen verkörpert, das dem Besonderen eingeschrieben und nicht bloß vorgeschrieben ist« (vgl. Waldenfels 1997: 170ff, insb. 172). Sondern es vielmehr versucht, für ein Ganzes zu sprechen, das ihm als Ganzes gilt, das versucht, sich in Anspruch und Reichweite zu totalisieren, sich in vielfältigste Ordnungsformen einzutragen und diese jeweils spezifisch zu transformieren und zugleich allerorts spezifische Normalisierungsstrategien einzuschreiben, die in Prozeß und Ergebnis dann wieder an einem vielfältigen Ganzen arbeiten, es als spezifisch beschränkt plurales hervorbringen, daran wiederum partizipieren und mit diesem Rahmen ›kompatibel‹ sind. Vgl. zu »Mechanismen« mit einer »Plausibilität und Verläßlichkeit [...] wie die Grammatik einer Sprache« und zu den Strategien ›apokalyptischer Kritik‹, als letzter »systemüberschreitender Kritik«: Waldenfels 1997: 175. 14 Ein wenig überspitzt spricht Käthe Meyer-Drawe das Ergebnis dieses Prozesses an als »Weltverlust« gigantischen Ausmaßes: Meyer-Drawe 2000: 236.

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phernfeld im Zuge erster Popularisierungen, nicht nur immer weitreichender wissenschaftlich zu greifen, sondern in den 1960ern bis auf ausdrücklich politische Felder vorzustoßen. Ein Beispiel dessen sind dann Analysen wie jene Karl Deutschs, die sich ausdrücklich ›kybernetisch‹ verstehen.15 Hier werden zeitgenössische paradigmatische Veränderungen ausdrücklich politischer Analysen deutlich, die mit einer neuen, mittels Kontrolle/Steuerung gehegten kybernetisch-›kommunikativen Rationalität‹16 und ihrem neuen ›Nervensystem‹ arbeiten: »Men have long and often concerned themselves with the power of governements, much as some observers try to assess the muscle power of a horse or an athlete. Others have descrived the laws and instituions of states, much as anatomists describe the skeleton or organs of a body. [We concern, RB] less with the bones or muscles of the body politic than with its nerves – its channels of communication and decision. [...] governement [is] somewhat less [...] a problem of power and somewhat more [..] a problem of steering, [...] steering is decively a matter of communication« (Deutsch 1963: xxvii).17

15 Vgl. zum Rekurs Deutschs auf die Kybernetik: Deutsch 1963: xxvi. Seine Aussagen machen ihn zu einem prominenten Vertreter derjenigen vielfältigen diskursiven Linien, die sich ab Ende der 50er Jahren von der Kybernetik erster Ordnung ausgehend in vielfältigste Gebiete hinein entwickeln. Eine dieser Linien ist die Kybernetik zweiter Ordnung, doch diese Linie ist beleibe nicht die stärkste (vgl. zur Abgrenzung: Heims 1991: 283f; Heims zählt auch Dupuy zur zweiten Kybernetik. Vgl. auch Hayles 1999: 131, die Gegenüberstellung: ebd.: 141ff). Es ist die Kybernetik 2. Ordnung, die im geisteswissenschaftlichen Gebiet das Verständnis des Terms Kybernetik zu dominieren scheint – und hierbei partiell historische Filiationen und Verästelungen invisibilisiert. Leider gilt ersteres bisher kaum vom historischen Feld der Informatik, das (bisher) kaum durch die Kybernetik 2. Ordnung geprägt wurde. Hier kann zwar nicht aus einer verklärten Innenperspektive des Erlebt-habens der Macy-Konferenzen heraus argumentiert werden wie z.B. bei von Förster, dafür aber umso stärker der kybernetische Geist weitergetragen werden. Eines der Ziele dieses Buchs ist es, in diesem Kontext wieder eine stärkere Differenzierung vorzunehmen, auch und insb. hinsichtlich dessen, was Informatisierung und Hardware-Entwicklung an biopolitischen Grundlageneffekten im Bereich Humanwissenschaften, Neurophysiologie und Molekularbiologie (mit-)bewirkt hat gegenüber dem, was vor allem in Selbstorganisationstheorie hineinspielte, was also im aktuellen Macht-/Wissenkomplex u.a. größeres »interest in concepts than in hardware« (Heims 1991: 283) hat. 16 Tiqqun 2001 schließen in diesen Prozeß jüngst ausdrücklich die Diskurstheorie Habermas’ mit ein hinsichtlich ihren Versuchen der Bildung von Transparenz. 17 Zu Hinweisen auf verschobene Perspektivierungsoptionen der Konzepte bei anderen politischen Einheiten, z.B. Kommunal-/Stadtpolitik: Deutsch 1963: xxviii.

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Kurz zuvor, parallel zum Auftreten des kybernetischen Diskurses, zur Genese der bis heute hegemonialen Norm-Architektur für ›Elektronengehirne‹ in den USA, deren Weiterentwicklung und Export u.a. im Zuge industrieller Automatisierung und militärischer Operationen, hatten in einer u.a. durch Dekolonialisierung geprägten Nachkriegszeit längst neue kybernetisch geprägte Techniken auf Feldern des Politischen Einzug gefunden, begonnen sie zu ›kolonisieren‹ – z.B. das operations research18 oder Überlegungen zum militärischen C3I (Command, Control, Communications and Intelligence).19 Neue utopische Kontrolltechnologien des Eigenen und Fremden traten auf, mit ihnen neue Strategien der Informationsakkumulation: »C3I (command, control, communications and intelligence) – a philosophy of struggle to shape reality through surveillance and information gathering on the so labelled enemy. This authoritarian technics is turned not only against other countries but also against the internal population« (Levidow/Robins).20

Mittels Ausschwärmen einer dezentralisierten Struktur der die ›MainframeComputer‹ beerbenden, erstmals halbwegs ›portablen‹ ›Personal-Computer‹, der PC’s Ende der 1970er Jahre, begann eine Informatisierung des Lokalen, die nicht mehr allein industrielle, wissenschaftliche und medizinische Zusammenhänge umfaßte. Sie erreicht in den Industrienationen spätestens dann wieder eine neue Dimension, wenn die Anwendung portabler MultiCore-Systeme und ›smarter‹ Handhelds selbstverständlich zu werden beginnt. Dann finden erste Eingewöhnungen taktiler Technologien statt mit zwar unausdrücklicher, aber nicht unerheblicher Affinität zu ubiquitousund ambient-computing-Szenarien. Parallel dürfte sich aber auch dann noch kaum etwas daran geändert haben, daß rund 70% der Weltbevölkerung noch nie einen Telefonanruf getätigt hat (Hayles 1999: 20). Sind es also eher ›Mass‹-Computer, bspw. das sog. 100-Euro-Laptop (›one laptop per child‹), oder eher lustvoll begehrte ›smarte‹ Phones mit Rechenkapazitäten 10 Jahre alter Großrechner, die dann Gesten globaler ›Entwicklungshilfe‹ skizzenhaft vorahmen?21 Zumindest ist offen, ob dieses Feld wirklich mehr umfassen

18 Vgl. zu einer spezifischen Genese (›electronic battlefield‹): Edwards 1996: 113ff. 19 Vgl. Haraway, passim sowie Edwards 1996, bspw. 131ff. 20 Zit. nach Bernhard/Ruhmann 1994. Sie beschreiben C3I als »eine aus strategischen Notwendigkeiten geformte Technik, deren erstes Element – der genau kontrollierbare Einsatz zielgenau wirkender Waffen – ein Instrument globaler Machtausübung ist. Der vielleicht weitaus stärkere und nicht direkt kriegerische Nutzen liegt jedoch im frühzeitigen Erkennen, Beherrschen und Kontrollieren der Unwägbarkeiten der realen Welt« (ebd.: 201). 21 Vgl. zum früheren Export ökonomisch-infrastruktureller Vorstellungen der Planung: van Haak 2006: 430. Diese sind heute wohl einem ebenso strikten Export wirtschaftsliberaler Ideen gewichen, die wiederum bemerkenswerterweise – und selten thematisiert – flankiert werden von einem Export grundlegenderer Infor-

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wird als einen weiteren Import von Rohstoffen gen Westen, weiteren Export westlicher Wunschbilder – und von Elektronik-Schrott. Im westlichen Alltag jedenfalls gelten ›Computer‹ heute selbstverständlich als buchstäblich keineswegs ahistorische Gegenstände. Ihre Nutzungsdauer ist eher gering, ganz selbstverständlich ›zyklisch‹ geworden. Welche Rolle allerdings ›der‹ Computer in der abendländischen Geschichte spielt, und welche ›Vorläufern‹ zugeschrieben wird, scheint auf einem anderen Blatt zu stehen. Um so mehr trifft das zu auf Ebenen grundsätzlicher konzeptueller Elemente wie ›der Information‹: Deren nicht allein wissenschaftliche Naturalisierung scheint vielerorts selbstverständlich geworden, diese Selbstverständlichkeit seltsam undurchdringlich zu sein. Ist die Information in ihrer historisch-konzeptuellen Entwicklung also wirklich als derart unterhintergehbares Konzept anzusetzen, daß sie nicht nur fast notwendig zum Eckstein, Zentralkonzept z.B. der Nachkriegsbiologie werden konnte, sondern auch kulturgeschichtlich retrospektiv eingesetzt werden kann, um neue Techno-Kosmologien und kognitivistische Anthropologien zu fundieren?22 Das Hinterfragen zeitgenössisch-lapidarer ›basics‹ zumindest ist schwierig: Wer würde heute wirklich ernsthaft bereits ein Problem darin sehen, wenn sich Menschen im Alltagsgespräch mit Computermetaphern beschreiben – an Stelle von ›Bildung‹ und ›Erinnerung‹ ›speichert‹ man dann eben ›Informationen‹ auf ›Festplatten‹ in der Peripherie einer ›CPU‹ im Kopf und trägt zugleich wie selbstverständlich spezifisch wertbesetze Elemente eines ›Codes‹ in den Poren seines Fleischs, der seine Informationen als Quasi›Programm‹ repliziert. Ob hier eindeutig metaphorisch gesprochen wird oder nicht: Wer würde sich hierbei Gedanken machen, daß zu Zeiten anderer neuer Techniken ähnliches ›elektrisch‹ abgehandelt wurde, daß irgendwann einmal ›Dampfmaschinen‹ und ›Druck‹ thematisch wurde, dort, wo jetzt alles elektronisch, ›informatisch‹ benannt wird, Computer-Metaphern vorzuherrschen scheinen?23 Historischer Fortschritt scheint uns schlicht der

mationsideologie zur Schaffung von ›Infrastruktur‹. Vgl. hinsichtlich der Verbindung von modernem Fortschrittsdenken mit einer Anleitung ›vorzeitiger‹ Entwicklungsstufen: Koselleck 1975: 364. Eine ›Kolonisierung‹ im Gefolge der Kybernetik verfolgen bisher in ihren expansiven Hinsichten Donna Haraway (s.o.) sowie nach innen Katherine Hayles (»endo-colonization«, u.a. in biopolitischer Hinsicht; stärker von Virilio aus, mit partiellem Rekurs auf Haraways ›cyborg‹-Konzept: Hayles 1999: 114f, 119ff; vgl. auch McCulloch 1959 zu USamerikanischen Verhältnissen (Schulsystem). 22 Vgl. zum Einstieg: Edwards 1996: 175ff sowie weiter unten. 23 Vgl. zu diesem Sachverhalt z.B.: Janich 2006: 177; zu menschlichen, maschinellen »Selbstdeutungen« im Kontext: Meyer-Drawe 2000: 234. Gegenüber früheren Maschinen erkennt sie im informatischen Kontext den »Höhepunkt unserer rationalistischen Tradition« (ebd.: 237), was ihr zugleich einen »Höhepunkt des menschlichen Verkennungsgeschicks« (ebd.: 231) markiert, bei dem gegenüber menschlichem »Ausgeliefertsein« insb. in Geburt und Tod »Durchleuchtung und

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Wahrheit näher gebracht zu haben. In anderen Bereichen des Sozialen gehört es zwar längst der Vergangenheit an, dort scheint kein Subjekt mehr Geschichte gestalten zu können. Hier aber sind bestimmte gewichtige Gegenstände der Wissenschaft noch immer dienstbereit. Ob nun Joseph Weizenbaum berechtigt auf einige der neuen, mit dem Computer einhergehenden »kinästhetischen und neuen Wahrnehmungsgewohnheiten« hinweist, davon spricht, daß sich dadurch »die Basis der affektiven Beziehung« verändert habe, die der Mensch »zu sich selbst hat« (Weizenbaum 1978: 22). Oder ob Evelyn Fox-Kellers Hinweis berechtigt ist, »wie grundlegend die Verwendung von Computern die Art, uns über den Körper Gedanken zu machen, veränderte« (Fox-Keller 1995: 63)? Wie historisch ungenau diese Aussagen sein mögen,24 ohne einfache Verdinglichungs-Thesen zu vertreten25 – bestimmte Gegenstände scheinen bis heute noch Subjekt-Positionen prägen zu können. Oder handelt es sich um Wechselwirkungen? Katherine Hayles spricht von einer »dynamic«, »through which they create us even as we create them« (Hayles 2005: 244). Zeitgenössische Objekte, zeitgenössische Menschenformen: Vielleicht läßt sich beides im ersten Anlauf diskurspragmatisch schwer voneinander trennen. Es sind wohl nicht allein Computer in ihrer Materialität, die die durch Weizenbaum, Fox-Keller und Hayles angedeutete Dynamik bewerkstelligen. Kein Computer-›Tower‹ schließt heute mehr Subjekte ein. Sind diese Maschinen eine Extension des menschlichen Körpers? Der Kybernetiker Norbert Wiener meint bereits nachvollziehbar, »sie funktionieren auch dann weiter, wenn wir ihnen keinerlei menschliche Unterstützung mehr zukommen lassen« (Hagner 2006: 208). Was hier von Gewicht zu sein scheint, sind Bedingungen neuartig ein-/ausschließender ›Logiken‹, sind epistemische Annahmen, die in ihnen prägend, wirkungsmächtig sedimentiert sind. Und die zugleich, in gewissen Grenzen autonom, ihr Entstehen und ihre Reproduktionsprozesse, ihre Wahrnehmungs- und Anwendungsweisen prägen.

Verfügung« walten (ebd.: 238), ›gelebter Leib‹ ein »bloßes Manipulandum« (ebd.: 233) wird oder durch informationelle »Fernkörper« (ebd.: 231) abgelöst wird. Hier könnten kleinteiligere Untersuchungen heute u.U. produktiver wirken. Die vorliegende Arbeit versteht sich auch als Versuch von Skizzen einiger subversiver historischer Koordinaten im Feld. 24 Historisch genauer, aber immer noch relativ ungenau wäre hier als erster Hinweis z.B. eine Aussage wie jene Heims’ (1991: 272): »The Language of Cybernetics, like any system of concepts and their associated metaphors, illuminates one facet of our world and experience at the price of masking others [...] may be better suited for manipulation and control than [...] for love and understanding«. Daß dieser Prozess weder in einer Illumination und Maskierung aufgeht noch in einer Gegenüberstellung von Manipulation und Verständnis sind einige Eckpunkte, zwischen denen die vorliegende Arbeit sich bewegt. 25 Vgl. Blumenberg 1981: 384: »Wir postulieren Intelligenz, wo wir sie gleichzeitig verneinen [...] haben Dinge vermenschlicht, aber den Menschen verdinglicht.«

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Nicht allein das Feld AI (artificial intelligence) als weitbeforschtes und kritisiertes Feld26 oder das der cognitive sciences, sondern grundlegender die Computerdynamik selbst, aus der sich beide speisen, kann Problem und Forschungsgegenstand philosophischer Auseinandersetzung sein. Ihre zentralen Metaphernfelder kristallisierten sich wirkungsmächtig in Zusammenhängen der Kybernetik der 1940er Jahre heraus, der ›Kybernetik erster Ordnung‹.27

26 Vgl. Dreyfus 1972; sowie historisch exakt zur Genese aus der Kybernetik Edwards 1996, 252ff. Dupuy spricht im Kontext davon, daß hier im Gegensatz zu Kant das Transzendentalsubjekt durch ein physikalisches Symbolsystem, die Universalität des synthetischen a priori durch die Universalität der TuringMaschine ersetzt wird, eine Naturalisierung und Mechanisierung seiner Transzendentaluntersuchung stattfindet (Dupuy 1994: 93). 27 Vgl. Dupuy 1994 zur These einer direkten (mechanistischen, physikalistischen) historischen Linie von kybernetischen Theorien zur aktuell das humanwissenschaftliche Feld dominierenden cognitive science, dem Paradigma des Kognitivismus sowie einer flankierenden philosophy of mind. Der Kognitivismus versucht u.a. in informationstheoretischen Begriffen den Menschen (insb. seinen Geist) in Analogie als Computer zu konzipieren: »Since 1954 the project undertaken by the Cybernetics Group has been carried on under a series of different names, ultimately coming to be known as cognitive science (... which) is ashamed of its cybernetics heritage« (Dupuy 1994: 3, vgl. auch ebd.: 43, 64, passim) – denn sie ist hinsichtlich ihrer »origins« (ebd.) in ihr »fully rooted« (ebd.: 4), ein »child of cybernetics« (ebd.: 44): eine »rejection of parent by child« (ebd., zu den Differenzen Ders.: 11). Dupuy meint hiermit die »first cybernetics« (Dupuy 1994: 11), nicht die Kybernetik 2. Ordnung. Dupuy projektiert ein Unternehmen, das die aktuelle philosophy of mind versucht u.a. historisch zu situieren (zur Charakterisierung ebd.: 90/91, resp. 107: »contribution of cybernetics to philosophy: mind minus the subject«). Wenn er den Hauptzug der ersten Kybernetik in einer »Apotheosis of science by building a science of the mind« erkennt, lautet seine Kritik am Kognitivismus auf willentliche, herrschaftssteigernde Verobjektivierung und zugleich Naturalisierung menschlichen Geists mittels artifizieller (Intelligenz-)Modelle, zugunsten der Illusion einer quasi-göttlichen Machtausübung, eines quasi-außerweltlichen Willens, Geists: »In mechanizing the mind, in treating it as an artifact, the mind presumes to exercise power over this artifact to a degree that no psychology claiming to be scientific has ever dreamed of attaining« (ebd.: 20). Hierdurch wird »mind [...] raised up to a demigod in relation to itself« (ebd.: 22). Vgl. zum Überblick zur »cognitive philosophy«, der analytischen philosopy of mind: z.B. Dupuy 1994: 91f – hier wird ein dem linguistic turn vergleichbarer cognitive turn in der Philosophie diagnostiziert (Vgl. hierzu traditioneller, als Begleitphilosophie neuester Techniken: Janich 2006: 171, passim). Eine konkurrierende, etwas einfachere These im Gebiet wäre eine inspirierte Abstammung des Kognitivismus, insb. des psychologischen, vom Computer selbst, oder besser von (der Idee?) einer sog. universellen Maschine, wie sie z.B. John Agar vertritt: »Inspired by the spread of the universal machine, the new

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In Folge eines hier seinen Ausgang nehmenden Geschehens, nach einer hier erstmals stattfindenden Verschiebung und Verdichtung zentraler, machtpolitisch aufgeladener ›kybernetischer‹ Metaphern und ihres diskursiven Regelwerks kommt es auf dem Boden der modernen episteme wohl nicht nur zu ersten Bedingungen späterer Veränderungen humaner Körperbilder- und Selbstverständnisse. Hierdurch beginnen zugleich auch zentrale Verständnisse von Welt selbst berührt zu werden. Im Gefolge erster kybernetischer Versuche einer umfassenderen Rekonzeptualisierung von Körpern nach Bildern von Computerelementen verschieben sich Vorstellungen gewissermaßen vom Fleisch der Welt selbst. Im Zuge einer neuartigen Reformulierungen mit dem Ziel des Überbrückens zentraler Differenzen von Mensch, Tier und Maschine und ihren jeweiligen Elementen und Schnittstellen in einer primär informationstheoretischen Problemstellung, wurden spätestens ab 1948 neue wissenschaftliche Metaphernfelder hoffähig und zusehends populär. In einigen ihrer heutigen Ausläufer wird Welt teilweise ganz unmetaphorisch als Computer versucht zu verstehen.28 Das reicht von anfangs durch John von Neumann geprägte Vorstellungen binärer zellulärer (›Computer‹-)Automaten als quasi-atomarer Partikel, über universelle, informationskonservierende ›digital mechanisms‹, aus denen die Quantenmechanik ›emergieren‹ soll (Edward Fredkin), über ›universelle Quanten-Computer‹ (Lloyd), über Vorstellungen der Realität als Hardware eines universellen Computers, auf dem die ›Software‹ des Universums läuft, wo aus simplen Elementen immer komplexere Phänomene über verschiedene Stadien – Kosmos, Leben, Geist, Reflexivität – ›emergieren‹ (Harold Morowitz) sollen bis hin zu einer neueren, quasiidealistischen Vorstellung, daß ein dem Universum ›zugrundeliegender‹ »universal computer kept computing, computing and computing through evolutionary eons until it was finally able to create consciousness capable of recognizing the Universal Computer’s own natural mechanisms and to re-create them in artificial

cognitive psychology of the 1950s opened the black box and declared it to be a computer.« (Agar 2001: 133) 28 Vgl. zum ersten Einstieg: Hayles 1999: 11f, 240ff; Hayles 2005: 15-39. Hayles untersucht in aktuelleren Arbeiten die Metapher des »Computational Universe«. Sie geht ihr in vielfältiger Hinsicht als eine »generative cultural dynamic« (ebd.: 20) nach, als »means and metaphor in technical and artistic practices, producing and also produced by recursive loops that entangle with one another with the diverse meanings of computation as technology, ontology and cultural icon« (ebd.: 4). Wichtig ist ihr das Konzept von ›Information‹ insofern, als es in aktueller Form eingeschränkt ist und insofern ein zu kritisierendes »socially constructed concept« (Hayles 1999: 244) ist: »In the computational universe, information is king« (ebd.: 243). Hayles auf Narrativität abstellendes Untersuchungsfeld (ebd.: 22) sind Wechselwirkungen zwischen körperlich situierten Subjekten und (digitalen/analogen) Medien (Hayles 2005.: 31f) u.a. in literarischen Texten.

96 | B LACK B OX C OMPUTER media. Humans, in this view, are the computer’s way to make more computers« (Hayles 2005: 220, vgl. Hayles 1999: 231ff).

Die immer einflussreicher werdenden Kosmologien und Ontologien des Künstlichen Lebens, von ›Artificial Life‹-Forschungen (›AL‹)29 aber sind

29 Die Theorie selbstreproduzierender zellulärer Automaten, populär insb. durch das ›Game of Life‹ John Conways, lässt sich auf einen zentralen Wendepunkt in Zusammenhängen der Kybernetik zurückführen. Das gilt insb. bei Arbeiten John von Neumanns (Hayles 1999: 239), der hinsichtlich einer grundlegenden zweidimensionalen, digitalen Pespektive von seinem Lehrer Stanislaw Ulam instruiert wurde, wie er an das kybernetische McCulloch/Pitts-Modell binärer neuronaler Schaltkreise anschloß, sie zusätzlich als Turing-Maschinen formulierte. Andererseits fand McCulloch später in Stuart Kaufmann, einer zentralen Figur im AIKontext, einen letzten einflußreichen Protégé, der unter dem Paradigma der Selbstorganisation eine Korrespondenz der Bedingungen einer Emergenz des Lebens und der von Berechnungen proklamiert (ebd.: 240/241; vgl. zum Einfluß des anfänglichen Modells selbstreplizierender zellulärer Automaten in der entstehenden Molekularbiologie Kay 2000, Kay 2001, passim; zu Selbstorganisation Pickering 2007: 127f). Vgl. Hayles 2005: 18ff und 15f hinsichtlich Grundlagen ihrer Überlegungen, wie im neuen Paradigma informationeller ›code‹ als ›performative praxis‹ verständlich werden kann (ebd.: 17, vgl. auch Hayles 1999: 274/275, insb. zur Umkehrung computer-»doing is saying«) Sie rekonstuiert hier ›code‹ als ›lingua franca‹ nicht allein des Computers »but of all physical reality« (ebd.: 15), aus dem gewissermaßen ›bottom-up‹-Elemente zusammensetzbar und Komplexität generierbar werden sollen, die zwar nicht vorhersehbar sind, aber hinsichtlich wahrscheinlich erwartbarer Emergenzen simulierbar: Ein »discoursesystem«, das zugleich das Geschehen in der ›Natur‹ spiegelt und generiert (ebd.: 27). Vgl. zu sich zusehends naturalisierenden, unkörperlichen Simulationen des ›künstlichen Lebens‹, des ›Artificial Life‹ und seiner Entwicklung zum Einstieg, von der Paleokybernetik (Homöostase) und der Kybernetik zweiter Ordnung (Selbstorganisation) aus, mit jeweiligen Vermittlungsstationen Förster und Varela: Hayles 1999: 222ff. Zu narrativen Annahmen ›natürlicher‹ Formen und ›Kreaturen‹ in einem artifiziellen Simulationsmedium: ebd.: 224ff: Hier wird angenommen, »when humans build intelligent computers to run AL programs, they replicate in another medium the same processes that brought themselves into being« (Hayles 1999: 241). Vgl. zur so stattfindenden, neu gewichteten Naturalisierung einer kybernetisch-informationellen Welt, einer Äquivalenz von Mensch und Maschine durch Annahme eines kosmischen Computers jenseits von Materie und Energie: Hayles 1999: 239. Für Hayles ist die Entwicklung nach von Moravec und AI – dort wurde die Annahme vertreten, daß Leben auf Silikon-Basis Kohlenstoff-basiertes Leben verdrängen könnte (ebd.: 1, 235, 286, passim) – hin zu Brooks und AL bemerkenswert: Dort soll nicht mehr menschliche Intelligenz als Maßstab dienen, sondern nur als eine spezifisch verkörperte Intelligenz-Form unter anderen. Hier soll ein allen Formen vermeintlich zugrundeliegender ›evolu-

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nur ein Ausläufer dessen. In einem Metaphernkomplex mit auch diesen Effekten geht es damit nicht mehr nur darum, ein »implikatives Wissensbedürfnis« (Blumenberg 1998: 25) zu stillen, »das sich im Wie eines Verhaltens auf das Was eines umfassenden und tragenden Ganzen angewiesen weiß und sein Sich-einrichten zu orientieren sucht« (ebd.). Vielmehr ist offenbar auch ein hier pragmatisch neu ausgerichtetes, neu artikuliertes anthropologisches Bedürfnis30 verbunden mit neuartigen Formen des Machtgewinns, der Steigerung von Fungibilität und Produktivierbarkeit immer kleinteiligerer humaner Elemente, die sich teilweise im Licht der neuen Metaphorik überhaupt erst zeigen konnten und können.31 In was sich dabei eingerichtet wird, beginnt in seinem Kern buchstäblich umgeschrieben werden zu können. Und was im kybernetischen Kontext seinen Ausgang nahm, konnte zugleich an vorhergehende kulturelle Dynamiken der Moderne transformativ anschließen. Und zwar nicht nur an universalistische Logiken eines neuen, globalen Verwertungszusammenhangs (Haraway, Tiqqun). Der pragmatische Nutzen der neuen wissenschaftlichen Metaphern und Konzepte im Alltag ihrer Popularisierung scheint eingetragen zu sein in einen Horizont von Fragen nach alltäglichen »Gewißheiten, Vermutungen, Wertungen, aus denen sich die Haltungen, Erwartungen, Tätigkeiten und Untätigkeiten, Sehnsüchte und Enttäuschungen, Interessen und Gleichgültigkeiten einer Epoche« zusammensetzen und regulieren (Blumenberg 1998: 25) – und nach deren politischen Implikationen.32 Stehen die neuen, popularisierten, auf Computer-Metaphern basierenden und mit ihnen arbeitenden kybernetischen Konzepte in ihrem Alltagseinsatz, ihren dominanten Vollzugsformen und ihrer jeweiligen Funktion in bestimmten kulturellen Kontinuitäten? Stellen sie nicht auch, ähnlich wie die stärker essentialistischen vor ihnen, in neuer Form »pragmatisch [...] Orientierungen« zur Verfügung, »geben einer Welt Struktur«, geben jeweils in Ausschnitten und deren Addition zu einem bestimmten Gesamtbild vor, »das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität« (ebd.) repräsentieren zu können – und schließen

tionärer‹, digital-maschineller Prozeß nach Vorbild von Conways Lebens-›Spies‹ Intelligenz- und Bewußtseins-Epiphänomene emergieren lassen (ebd.: 239). Vgl. zu AL die Hinweise auf die metaphorische Materialität vermeintlich beobachterabhängiger informationeller Epi-Phänomene – im Life-Programm selbst (ebd.: 229) und umgekehrt in seiner kosmologischen Ontologisierung, eine ›eigentliche Materialität‹ des kosmischen Computers ist uns als ›Software-Programmen‹ nicht zugänglich – ebd.: 241ff. Vgl. zum Rahmen evolutionärer Psychologie – im Hirn ist eine universelle Computer-Struktur verkörpert mit teils virtuellen, teils aktuellen Programmen, die sich evolutionär entwickelt haben – ebd.: 242ff. 30 Vgl. allgemeiner, gegenüber liberal-humanistischen Subjektkonzepten: Hayles 1999: 279ff, passim; zur ›kybernetischen Anthropologie‹: Rieger 2003. 31 Vgl. Haraway, 1985, passim. 32 Vgl. weiter kontextualisiert zu Geschichtsschreibung mit geringerem anthropologischen Ballast: Koselleck 1975.

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damit andere Repräsentationen aus, neuerlich in bestimmte, nur teilweise gewendete anthropologische Horizonte ein?33 Ihre tendenziell gleichbleibende, mit Koselleck gesprochen, »sprachpragmatische oder sprachpolitische Stoßrichtung« (Koselleck 1979: 13) jedenfalls wäre zu problematisieren. Nicht erst die an Descartes Zweifel (Descartes 1681: 18ff) unter informatisierten Bedingungen anschließenden Gedankenspiele Putnams zu »Gehirnen im Tank« (Putnam 1981: 15f) weisen darauf hin.34 Kann also das, was oftmals als Leitmedium der westlichen Zivilisation bezeichnet wurde – der Computer – auch hinsichtlich Metaphoriken und (Leit-)Metaphern verständlich werden? Wenn diese an einem zentralen Ort der Bestimmung u.a. menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse angelangt sind und sich naturalisieren – Hayles spricht von einer »computational nature« (Hayles 1999: 279) einer »human-computer equation« (ebd.: 280) – konnte das wohl nur mittels Uneigentlichkeit erreicht werden. Auch diese ›Message‹ des Mediums Computer ist diskursiv zu erschließen – nicht von einem Außerhalb, nicht ausgehend von einer anderen, klareren Ebene, z.B. seiner Technizität, technischen Materialität. Die Metaphorizität auch dieser ›Message‹ zählt.35 Sie zählt genealogisch, in Hinblick auf ihre diskursive

33 Es muß nicht erst zur Proklamation einer »kybernetischen Anthropologie« durch den deutschen Informatik-Pionier Steinbuch kommen: Steinbuch 1971: 453. 34 Dies unabhängig davon, zu welchem Ergebnis z.B. Putnam, wie bereits Descartes, schlußendlich kommt. Zentral ist hier das neu genutzte Koordinatenraster der Thematisierung, die zeitgenössischen Bilder, die den Ausschluß des ›Gegenstands‹ des Zweifels, den ›bösen Geist‹, ermöglicht: Hier liegt auch bei Putnam eine Artikulationsform vor, die unabhängig von der eigentlichen Thematisierung in Computertermini verfährt und zugleich traditionelle Innen-/Außen-Grenzen, deren informationell reformulierte Paradigmen reproduziert (›wahre‹ ›Intentionalität‹ des – ›guten‹ – ›Geists‹ als dessen ›Output‹ – wie letztlich als ermächtigende Begründung seines Selbstbezugs – zeigt sich gegenüber einer ›unmöglichen‹ Situierung ›in‹ einem Computer als ein angenommener ›falscher‹ Input, ein Bezugnahmen verfälschendes, ad absurdum führendes, angekoppeltes ›Äußeres‹, auf das nicht adäquat Bezug genommen werden kann). Die heute in der PopKultur dominanten, gewissermaßen ›naiver‹ an das ›wissenschaftliche‹ Bild des Universums als Computer anschließenden und es untermalenden ›fiktiven‹ Bilder einer beängstigenden Ununterscheidbarkeit von Realität und ihrer totalen, computervermittelten Simulation bilden hierzu ein Pendant. Die Linie reicht hier von Fassbinders Welt am Draht über Emmerichs 13th Floor bis zur Matrix-Trilogie der Wachowski-Brüder. Im Kontext werden teilweise Computer apokalyptisch als ›Mutterboden‹ vorgestellt, der menschliche Realität simuliert, der an Menschen ohne deren Wissen als sinnlicher Input ›angeschlossen‹ ist – und so Fragen nach ›Wirklichkeit‹ und ›Trugbild‹ thematisch werden können. 35 Dies meint ausdrücklich einen Akzent auf Diskurse gegenüber ›der Materialität‹ von Medien und ›deren‹ Strukturierungsleistung, bspw. in McLuhan 1964. Interessant ist dort manche implizite Verwendung informationstheoretischer Axiome

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Fundierung.36 Das Verständnis dieses Mediums als Medium, seiner Macht und Grenzen, seiner spezifischen Überkreuzungen von Praktiken und Diskursen und ihren Möglichkeitsfeldern kann ausgehen auch von historischen Rekonstruktionen, z.B. dem Erzählen pluralisierter Ursprünge. Das Computermedium entstand als u.a. diskurspragmatischer Effekt eines Metaphernfelds, das sich im 20. Jahrhundert erstmals ausdrücklicher im Umfeld der Kybernetik ausgestaltete. Es wurde immer wieder von Versuchen begleitet der eigenen Entmetaphorisierung, einer buchstäblichen »Hinlenkung der theoretischen Aufmerksamkeit in der Gegenrichtung der Metaphorisierung« (Blumenberg 1998: 98). In diesem Metaphernfeld, in dem sich Ansprüche quasi-perfekter Logizität, Eindeutigkeit und Klarheit sammeln konnten, wurden Ideale über den Fluß geschickt. Und zwar bereits bevor es, unter der Ägide neuer »Sichtlenkung« (ebd. 99), auf immer vielfältigere kulturelle Bereiche ausgreifend, immer neue und genauere körperliche Sichtbarkeiten mitstrukturieren konnte. Gerade dann, wenn sie im Vollzug »beim Wort genommen, naturalisiert, ununterscheidbar von einer physikalischen Aussage geworden« (Blumenberg 1998: 22) sind, vollziehen bestimmte (Computer-)Metaphoriken sich gegenteilig zu dem, was sie benennen, fordern und implementieren. Ihr metaphorischer Charakter, der zum Erreichen einer erstrebten, möglichst pragmatisch universellen Funktion notwendig ist, wird dann konfligieren mit dem, was ausgesagt werden soll: strikte logische Eindeutigkeit und Funktionalität. Verabsolutierte uneigentliche Vollzugsformen müssen verunsichtbart werden, wo Universalität in Fragen eines begrifflich klaren und eindeutigen Vorgehens proklamierbar werden soll. Universelle Positionen in Fragen begrifflicher Klarheit und eindeutiger Verfahren können nur um den Preis uneigentlicher Vollzugsformen gewonnen werden. Denn es sind allein solche Vollzugsformen, die eine ubiquitäre lebensweltliche Propfbarkeit überhaupt ermöglichen. Zugleich muß das historische Werden dieser Metaphorik zum Stillstand gebracht werden, wenn sie immer unhintergehbarer begrifflich funktionieren soll. Wo also ›universell‹ versucht wird, Eigentlichkeit zu metaphorisieren, könnte das geschehen in strikt identisch zu haltenden Vollzugsregularien, um die jeweilige Metapher mal um mal ›buchstäblich‹, ritualisiert, im Licht ›universeller Eigentlichkeit‹ verständlich werden zu lassen. Wenn solche Aussagenkomplexe dann das Movens ihrer eigenen Universalisierbarkeit auszustellen beginnen, würde eine negative kontextuelle Bewertung von Metaphorizität immer sprechender werden,. Um dem Eindruck entgegenzuwirken, ›performative Selbstwidersprüche‹ zu betreiben, müsste immer stärker ausgeschlossen, negativ konnotiert werden, was un-

und Metaphern zur Grundierung des Grundgerüsts, insb. die Rede von Licht als ›Information‹: ebd.: 19. 36 Inwiefern der Metapherologe Blumenberg Metaphern als »Medium« (Blumenberg 1998: 67) auffaßt, muß hier ausgeblendet bleiben.

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eindeutig, unbegrifflich ist. Wo Überblick gebildet, aus lebensweltlichen Situiertheiten herausgetreten wird, sie auf gewisse Weise transzendiert werden, Phänomene aus Vogel- und vergegenständlichten Innenperspektiven sichtbar werden sollen, zeigen sich Ansprüche auf eine quasi-göttliche Position, die in allen Lebenslagen pragmatisch Entscheidungen strukturieren und Orientierung geben können soll. Antwortete das im Ergebnis nicht auch auf ein humanes Bedürfnis nach quasi-deterministischer Erklärbar- und Vorhersehbarkeit, bringt es zugleich immer wieder hervor? Werden damit nicht auch von dieser Metaphorik ausgehend politische Interventionen denkbar, die prinzipiell ähnliche, z.B. biopolitische Wucht besitzen könnten, wie sie teils noch aus der Zeit vor ihrem Entstehen nachhallt? Ist in den Vollzugsmodalitäten von Diskursen, die mit so kontextualisierten (Master-)Metaphern arbeiten gegenüber historisch vergangenen formal ein pragmatischer Paradigmenwechsel eingetreten – oder eine Veränderung, (Post-)Modernisierung bestimmter Grundlagen? Genetische ›Programme‹, synaptische ›Schaltungen‹, informationstheoretische ›Kommunikation‹: Auch auf relationaler Basis pragmatisch ›vereigentlichter‹ und naturalisierter Vollzüge können ›Gegenstände‹ auf vermeintlich ›atomare‹, fungibel gewordene Einzelelemente reduziert werden, die sich dann durch ihren jeweiligen Bezug zu bestimmten Gesamtheiten definieren sollen; werden ›atomare‹ Normen destillierbar, die regulierende Verortungen dieser Elemente in neue, techno-organizistisch gefaßte Gegenstandstotalitäten erwartbar machen können.37 Beides findet sich hier dann als Über-Historisches außerhalb einem radikalen historischen Werden. Das Meta-Medium des Computers und sein Hof eröffnete dann noch immer stärker spatial-topologische als wirklich prozesshaft-transitive Probleme. Seine informationstheoretisch mediierten Trassen könnten nur von Subjekten vergessen werden, die sie zugleich durchlaufen und auf ihnen immer wieder ›ihre Identität‹ erfahren.

37 Vgl. kritisch zur populären Gegenüberstellung eines holistischen, kybernetischen Ansatzes gegen reduktionistische Ansätzen normaler Wissenschaft: Dupuy 1994: 80. Dupuy argumentiert, daß ähnliches im Fall der ersten Kybernetik höchstens auf Wiener zutrifft und auf an den Macy-Konferenzen teilnehmende und dort marginalisierte Gestalttheoretiker. Wiener ist es allerdings, der mit seinen popularisierenden Texten stark den Eindruck der (ersten) Kybernetik geprägt hat (zur Gestalttheorie, sehr oberflächlich, aber eingemeindend: z.B. Wiener 1968: 40) – auch wenn sich der kybernetische Diskurs teilweise auch weit abseits von ihm entwickelte. Zu den Auseinandersetzungen über informationstheoretische Axiome zwischen holistisch-gestalttheoretischen und reduktionistischen, also bereits damals dominanten kybernetischen Ansätzen: Dupuy 1994: 121f.

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2. E MPIRISCHE L INIENFÜHRUNGEN F ORSCHUNG

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HISTORISCHER

»Wir sind die wirklichen Positivisten.« E. HUSSERL »Die Philosophie [...] wäre exakte Wissenschaft [...] weil nur sie bis ans Ende geht.« MERLEAU PONTY

Zentrale zeitgenössische Forschungsansätze widmen sich der Geschichte der Forschungsgegenstände Computer und Informatisierung stärker empirisch. Diese historischen Arbeiten und ihre bisherige Untersuchungsrichtungen greifen auf die Vergangenheit ihrer Gegenstände im Medium der Sprache zurück, prägen sprachliche Konstruktionen. Auch diese Konstruktionen schärfen in verdichteter Form Hintergründe des Gegenstandsfelds des vorliegenden Buchs und damit dem, was in seinem Vordergrund geschieht. Ein abstraktes Bild entsteht, vergleichbar einer Karte: Wie gingen bisherige empirische Ansätze vor? Auf welchen Koordinaten entstehen ihre Linien, wie wurden sie entwickelt? Eine kurze Zusammenschau traditioneller historischer Arbeiten im Feld und ihrer Perspektiven. Versucht man, einige heute zentrale Arbeiten zur Geschichte der Informatisierung und des Computers anhand jeweiliger methodischer Vorentscheidungen zu gruppieren, lassen sich grob drei Linienführungen finden: Eine artefaktorientierte Linie, eine stärker sozialhistorische und eine, die zu bestimmten Zwecken Teile der beiden anderen Linienführungen und Ausschnitte ihrer jeweils rekonstrukierten Fakten produktiv synthetisiert. Eine erste Linie rekonstruiert (I.) historisch gewissermaßen eine Substanz: Hier wird recht traditionell die Geschichte eines Objekts, Artefakts, insb. des Computers, mindestens durch das 20. Jahrhundert verfolgt. Diese Linie läßt sich noch einmal genauer in zwei Unterlinien differenzieren. Die erste beschränkt sich (I. 1.) rein auf die Artefaktseite – also auf eine historisch quasi-linear gruppierte Aufzählung zentraler, dem Computer vorhergehender Artefakte und funktionsäquivalenter Elemente bestimmter Artefakte, teilweise bis ins 19. Jahrhundert hinein. Dies geschieht bei einigen Arbeiten stärker in Richtung technisch-funktionaler Einzelelemente (vgl. z.B. Ceruzzi 1998,38 zum Ostblock z.B: Trogemann et al 2001).39 Bei ande38 Hier geht es um die Phänomene wie der Mikrochip, die Software oder das Internet. (Vgl. zur Genese von Software ab 1952 Ceruzzi 1998: 79f; zu Mainframes und Minis ebd.: 109f; zum Mikrochip zwischen 1965-75 ebd.: 177; zum PC zwischen 1972-77 ebd.: 207; zu AI zwischen 1975 und 85 ebd.: 243, zu Workstations, Unix, und dem Netz zwischen 1981 und 95 ebd.: 281f sowie zwischen 1995 und 01 ebd. 307f. Vgl. dagegen zur Entwicklung einer ternär funktionierenden Computerarchitektur in Russland Trogemann 2001: 104 (Brusentsov).

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ren Arbeiten geschieht es stärker in Richtung abgeschlossener maschineller Einheiten, z.B. Analog- und Relaisrechner (vgl. bspw. Aspray 1990).40 In beiden Fällen wird der Hauptgegenstand der Untersuchung im Sinne eines allgemeinen Artefakts, eines quasi-ideelen Gegenstands verstanden. Implizit verläuft die historische (Re-)Konstruktion jeweils quasi-teleologisch auf ›den Computer‹ zu als (vorläufigen?) Klimax eines historischen Fortschritts.41 In der ersten Hauptrichtung der ersten zentralen Linienführung im

39 Die Texte in Trogemann 2001 verfolgen diesen methodischen Weg trotz gegenteiliger Bekundungen eines an Foucault angelehnten archäologischen Vorgehens (vgl. ebd.: 17). Neben den Einblicken in die logisch-mechanische (22f) bis elektronische (ebd.: 76f) Hardwareentwicklung im durch das Militär geprägten (234f) Osten, z.B. Russlands und später der DDR (ebd.: 165f) sind sie insb. interessant hinsichtlich Aufnahmen der Kybernetik im Ostblock: Während in der Stalin-Zeit Kybernetik als bürgerliche Ideologie und Pseudo-Wissenschaft angesehen wurde, wandelte sich später das Bild: »in the eastern block it (cybernetics) was heavily being associated with the option of modelling society.« (ebd.: 18). Auch durch Georg Klaus’ »version of cybernetics for the control of socialist economics in East Germany« (16) setzt sich stetig der Eindruck durch, daß auch Möglichkeiten für eine soziale Gestaltung von Gesellschaft vorliegen könnten (ebd.: 235, vgl. auch Gotthard Günthers Rekonstruktion von Verbindungen zum dialektischen Materialismus ebd.: 317f). Bereits ab 1955 findet eine massive militärische Unterstützung der Kybernetik in Russland statt (ebd.: 255, Kantorovich: Kybernetik in der Ökonomie). Die Ausführungen zur Entwicklung der Informatik in Russland (Pospelov, ebd.: 231f) sowie vernetzter Computer im Osten ab 1965 (anfangs im Kontext der Nuklearforschung) sind sehr erhellend zu lesen, trotz einiger heldensagenhafter Überzeichnungen. Denn es wurde bislang in der Forschungsliteratur eher selten auf historische Entwicklungen im Osten eingegangen, jenseits der üblichen amerikanischen, teilweise britischen, selten deutschen Entwicklungen. Vgl. hier insb. auch Texte zur Entwicklung der Biokybernetik in Russland (bspw. Demidov ebd.: 263f), zu ersten Entwicklungen bei der russischen Polizei ab 1832 (Korsakov) hin zu lochkartengestützten mechnischen Geräten zur »comparison of ideas [...] of data« (ebd.: 18) bereits vor Babbage, sowie zum Einsatz bei Volkszählungen ab 1939 (Nittusow ebd.: 286f). 40 Hier geht es z.B. um historisch frühere Kalkulationspraktiken (Aspray 1990: 3f), um Babbages Differenz/Analytik-Maschine (ebd.: 59f), um Logik-Maschinen (ebd.: 99f), Lochkartenmaschinen (ebd.: 122f), Analog-Rechner (ebd.: 156f), Relais-Rechner (ebd.: 200f) und zuletzt elektronische Rechner (ebd.: 223f). 41 Ermüdende Diskussionen, welches nun ›der erste‹ Computer vor dem »consensus« (Apsray 1990: 244) gewesen sei – ob ENIAC oder ASCC, ob Bushs Analyzer, ob ein amerikanischer, englischer, russischer Typ oder ein deutscher u.ä. – ist für das vorliegende Buch von eher geringer Bedeutung. Zentraler sind Fragen der Relationierung, Weiterentwicklung, Normalisierung von Architekturen, z.B. die Entwicklung von Lochkartenmaschinen zu Speichermedien, insb. die Frage, inwiefern und durch welche Faktoren sich Architekturen wie die der gun-

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Feld herrscht also eine Orientierung am Objekt vor, das sein Komplement findet in einer Orientierung an einem jeweiligen Subjekt, das als die historische Entwicklung auf der Objektseite hervorbringend und dominierend gedacht wird.42 Es handelt sich hier um eine an Personen und deren Biographien orientierte Geschichtsschreibung – gewissermaßen um kluge oder gar geniale Erfinder hinter den jeweiligen Artefakten, Maschinen (vgl. mit recht traditionellem Einstieg und untraditionellem Ausblick Agar 2001). Eine zweite Hauptrichtung der ersten Linienführung verfolgt methodisch und konzeptionell eine tendenziell analoge Strategie, stellt nun aber zugleich (I. 2.) die historisch untersuchten Artefakte, das historische Objekt gewissermaßen als Produkt vor, das von allgemeinen, institutionell-organisationellen Faktoren her in den Blick genommen und konturiert werden kann. Einem Produkt Computer vorhergehende Produkt-Artefakte werden gewissermaßen in eine teleologische Kontinuität zur Entwicklung des Computers gestellt. Die Seite der historischen Subjekte werden hier stärker von ihren organisationellen Hintergründen aus akzentuiert, insb. auf Firmen- resp. Konzernebene. In historischer Perspektive treten so ebenfalls, wenn auch weniger stark, in quasi-genetischen Linien weitere, zu bestimmten, im Kern gleichbleibenden Zwecken dienende Artefakte hervor. Zentral werden weitere Produkte verschiedener Konzerne und teilweise verschiedener Produktionsverfahren – und ihre stetige, auch ›wettbewerbsnotwendige‹ Verbesserung. Hier ist der Focus stärker um Untersuchungen gruppiert zur Entwicklung jener Technik, die gewissermaßen auf ›den Computer‹ zielt43 und ande-

predictors kontextuell – z.B. durch Kriegsforschung/Forschungsgruppen – in bestimmte Richtungen drängten. Und wie sie damit nicht nur Instrument sondern auch (sedimentierte) Bedingung werden konnten für weitere, in anderen Feldern. 42 Eine typische Argumentation ist hier z.B., daß eine Gruppe von Wissenschaftlern Ideen entwickelt, die dann als physische Objekte umgesetzt werden: »the computer was conceived by John von Neumann as a direct result of cybernetic ideas [...] In this case [...] the old idealist thesis [...] turns out to have been correct: it is not the physical world that determinies the evolution of ideas, but rather ideas that generate scientific and technological development« (Dupuy 1994: 5). Auch was konkretere Forschungen betrifft, gibt es aber auch Untersuchungen inZwischenbereichen, z.B. Agar zu einem »co-development« (Agar 2001: 29) von Kommunikations-/Informations- sowie Transport-Techniken im 19. Jhrdt. oder, noch genauer, bspw. einer »coevolution« im Bereich Informationstechnik selbst, bspw. von Life Insurance and Tabulating Industries (vgl. Yates 1993: 40f). 43 Diese Metapher ist z.B. im Titel von Flamm 1987 (»Targeting the computer«) zu finden. Die teleologische Konnotation kommt nicht von ungefähr: Oftmals wirdvon einer quasi determinierten Entwicklung des Computers gesprochen. Z.B. wird angenommen, daß ausgehend von aus einer in Deutschland, den USA und England unabhängigen Entwicklung computerähnlicher, elektronischer RechenGebilde »aufgrund der gesellschaftliche Verhältnisse, der geistigen Konzepte

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rerseits auf Unternehmen, die jeweilige Technik entwickeln und in Wettbewerbsprozessen dominant wurden, bspw. IBM (vgl. Cortada 1993,44 Yates 1993,45 kontrovers Black 2001). Zu dieser ersten, hauptsächlichen Grundlinie durchgesehener Arbeiten zur Aufarbeitung des historischen Feldes gesellt sich auf fundamentaler Ebene eine zweite Linie (II.). Sie setzt verschoben an, indem sie stärker gesellschaftliche Ursachen, Implikationen, ›Bewegungsgesetze‹ und Auswirkungen ›der Informatisierung‹ im 20. Jahrhundert verfolgt, die als mit den Artefakten einhergehend verstanden wird. Stärker als in der ersten Hauptlinie wird der historische Gegenstand hier als ein Prozess verstanden, stärker interdependent und relational, von gesellschaftlichen Dynamiken ausgehend und auf diese rückführend. In einer gegenüber der ersten Linie eher kleinteiligeren, jeweils spezifisch ausschnitthaft gerahmten Vorgehensweise verfolgt die zweite Linie jeweils mindestens eine von drei Ausrichtungen ihrer Linienführung: (II. 1.) Untersuchungen zu nationalstaatlich begrenzten Implikationen und Transformationen verschiedener sozialer Sektoren in Kontexten der In-

und technologischen Gegebenheiten, der Bau von Rechnern als zwangsläuferiger Entwicklungsschritt interpretiert werden« (Keil-Slavik 1985: 11) muß. 44 So wird z.B. auf knapp 100 Seiten eine sog. ›Anfangsentwicklung‹ über die Entwicklung von Schreibmaschinen, Rechenmaschinen, Lochkartenmaschinen, Kassenrechnern bis hin zu Standardisierungsbestrebungen im Computerbereich abgehandelt (vgl. Cortada 1993: 1-105). Neben einigen Informationen zu Lochkarten (ebd.: 44f) wird einiges über Spätentwicklungen des Computers zwischen 1945-56 berichtet (ebd.: 222). Paradigmatisch gilt hier: Die Entwicklung der Technologien ist »no accident«, geschieht nicht aus Zufall – sie gelten als Antwort auf einen Bedarf, nicht als Abfallprodukt von Forschung: »New technology to help manage information developed and emerged in response to perceived needs, not as an uncontrolled or accidental by-product [...] Reaction was to a real need to manage larger amounts of information (data) in shorter periods.« (ebd.: 5). Es gelten hierbei »positive economic conditions« (ebd.) als entscheidend. 45 Der bemerkenswerte Ansatz Yates setzt Hollerith-, also Lochkartenmaschinen und ihre Entwicklung – neben forschungstypischeren Ansätzen, der sie insb. als Hilfsmittel für Volkszählungen ab 1890 sieht (vgl. z.B. Aspray 1990: 144, 255f) – auch in eine Co-Evolution mit Entwicklungen und Prozessen im versicherungstechnischen Bereich setzt – sie »shaped both in significant ways« (Yates 1993). Yates erkennt, wie auch Chandler/Cortada, in ihnen den unmittelbaren Vorläufer der Computer, die bis in die 1950er Jahre aktuell waren: »As the most direct predecessor of the computer in therms of scale, scope of information functions handled, commercial market, applications and vendors [...] tabulating technology and its use deserves a closer look.« (Chandler/Cortada 2000: 130). Die ursprünglichen Überlegungen des vorliegenden Buchs zum Thema Hollerithkarten, auch und insb. in (bio-)politischen Kontexten, z.B. Volkszählungen und dem NS, wurden zur Komplexitätsreduktion sämtlich gestrichen.

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formatisierung, verstanden quasi als Auswirkungen der Computerisierung (vgl. z.B. Petzold 1992 oder die Texte in Chandler 2000).46 (II. 2.) Untersuchungen in begrenzten, zumeist nationalen Maßstäben zu Kontexten organisationell-institutioneller Rahmensetzungen allgemeinerer politischer/militärischer/ökonomischer Natur. Hier wird stärker auf Bedingungen geachtet, die gedacht werden als einen Prozeß der Computerisierung quasi hervorbringend oder unterstützend (vgl. z.B. Flamm 198747 sowie Flamm 198848 und teilweise Cortada 1993).

46 Hier spricht bspw. Grahan von der Mobilisierung einer Nation im Informationszeitalter (Chandler/Cortada 2000: 137f); Kontinuitäten und Differenzen dieses Zeitalters gegenüber vorhergehenden treten bei Chandler, Cortada (ebd.: 281f) hervor; viel wird zu Auswirkungen im Privaten berichtet, bspw. zu (frühen) rassischen Unterschieden des Besitzes von Technologie (ebd.: 266) oder zu Auswirkungen des US-amerikanischen ›Familiy Opportunity Acts‹ von 1982, eines 500$ Steuervorteils für Computer »to keep families together« (270), zur Heimarbeit. Andererseits wird aber auch recht unkritisch eine vermeintliche soziale Komponente von Technologien stark gemach zugunsten »sustaining connections«, »affiliation and sociability« (ebd.: 262) vs. einseitiger Perspektivierung von Effizienz und Produktivität. Eine Transformation of a Nation, in diesem Fall den USA, wird beschworen in einem sehr empfehlenswerten Überblick über die historische Forschungslandschaft im Feld: ebd.: 345f. 47 Mittels eines immensen Apparats an Tabellen werden z.B. die US-amerikanischen »social benefits« (Flamm 1987: 19) der Technologie hervorgehoben oder die Entwicklung des Computers als »wartime success« (ebd.: 7) vorgestellt einer US-Regierung, die zwischen 1945 und 1955 diese Entwicklung vollständig dominiert (ebd.: 42): »economic reasons, as well as the strong link to military advantage, governments have been key actors in helping national firms develop and maintain a strong computer technology base.« (ebd.:17). Daneben wird die Unterstützung der Entwicklung durch die US-Bundesregierung rekonstruiert (ebd.: 42f, zusammenfassend ebd.: 91) – unter Berücksichtigung der verschiedenen Ressorts Verteidigung (ebd.: 47); Atomenergie-Behörde (ebd.: 78); Nasa (ebd.: 84), National Science Foundation (ebd.:85) und der Gesundheitsbehörde (ebd.: 90). Wechselwirkungen zwischen Regierung und Computerindustrie werden hinsichtlich Forschung, Steuern, Marktstruktur und Softwareentwicklung thematisch (ebd.: 93f), allgemeiner die US-Technologie-Politik (ebd.: 173) sowie die Situation und Entwicklung in Japan/Europa (ebd.: 125). 48 Hier geht es ebenfalls um militärische Wurzeln (Flamm 1988: 29f), die Wettbewerbssituation von IBM (ebd.: 80f), die Wettbewerbsituation in Europa (ebd.: 80f 134f) sowie in Japan – bis 1970 (ebd.: 172), um die allgemeinere Wettbewerbssituation bei Computer-Firmen (ebd.: 203f), zeitgenössische Veränderungen des Wettbewerbs (ebd.: 235f). Eine immenser Statistik- und Tabellenapparat vervollständigt das Bild: z.B. zu Fortschritten in der Computer-Geschwindigkeit (ebd.: 9, vgl. hierzu auch Flamm 1987: 105), zur Entwicklung von Forschungsgeldern und Entwicklungskosten zwischen 1942-1985 (Flamm 1988: 86); zu

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(II. 3.) Untersuchungen auf internationaler Ebene zu wirtschaftlichen, wettbewerbsstrategischen Implikationen und Dynamiken der Informatisierung. Hier ist die Leitperspektive stärker auf prozesssteuernde und ausrichtende Elemente gerichtet. Es werden neben der jeweiligen Frage des cui bono? ebenfalls Fragen nach grundsätzlichen wirtschaftlich-agonalen Spezifitäten und Ausrichtungen jeweiliger Dynamiken behandelt (vgl. z.B. Crandall/Flamm 1989).49 Eine dritte Linie (III.) zuletzt verfolgt die Untersuchungen der ersten beiden Linien noch ein wenig kreativer, indem diese, jeweils spezifisch akzentuiert, produktiv miteinander verknüpft werden, auf weiteres Terrain überführt und spezifisch rückgebogen. Hierbei werden zum Einen (III. 1.) historische Untersuchungen und deren Ergebnisse zur quasi-ahistorischen Grundierungen herangezogen und verdichtet von z.B. naturwissenschaftlich fundierten Kosmologien und Anthropologien (vgl. z.B. Beninger 1986). Eine umgekehrte Richtung (III. 2.) verfolgt zugleich die historische Entwicklung von Computer und Informatisierung in einer jeweils spezifischen Sicht, meistens mit dem kritischen Anspruch einer Historisierung einhergehender Phänomene: u.a. in technisch-medientheoretischer,50 in philosophisch-ideengeschichtlicher51 und in gouvernementalitätstheoretischer52

Hintergründen der Entwicklung des IBM 360/370 und Mainframes, Minis, Micros allgemein (ebd.: 238) sowie zur Entwicklung von Verkaufszahlen von PCs zwischen 1981-1985 (ebd.: 239). Interessantes Detail: Alle Grundlagenforschung zwischen 2. Weltkrieg und 1965 wurde durch das Militär finanziert, als Folge erst hat sich computer-science als Disziplin entwickeln können – der disziplinäre Vorläufer der Informatik (vgl. ebd. 44, vgl. zum Nachweis, daß zwischen 1973-1986 97-100% der Förderung universitärer computer-science durch US-Bundesbehörden geschehen ist: ebd.: 47). 49 Es werden Kostenfaktoren von Kommunikations-Innovationen geschildert (vgl. Crandall/Flamm 1989: 13f) im Kontext internationalen Wettbewerbs hinsichtlich der US-amerikanischen Position (vgl. bspw. ebd.: 62f). Einflüsse von Marktregulationsprozessen und die Marktposition von Unternehmen in den USA und in Japan werden rekonstruiert (ebd.: 114f) – wie auch Kontexte der Liberalisierung und Standardisierung, sowie militärischer Einflüsse (ebd.: 177f). Ein weiter Teil umkreist globalen Veränderungsdruck im Telekommunikationssektor (z.B. Wachstum im Computer-/Telekommunikationsbereich, Entwicklung von Informationstechniken in sich spät industrialisierenden Ländern, allgemeine Veränderungen im Global-Maßstab: vgl. ebd.: 257f). Der Text kommt tabellengesättigt daher: Z.B. zur Produktivität und Preisentwicklung im Telekom-Bereich zwischen 1964-1985: ebd.: 353; zur Preisentwicklung von Computern zwischen 1972-85: ebd.: 361; zur Nachfrage zwischen 1972-85: ebd.: 362. 50 Vgl. Kittler/Bolz/Tholen 1994, sowie genauer weiter unten. 51 Der Terminus ideengeschichtlich fängt die Zugänge nur ungenügend ein, vgl. z.B. den zwischen gesellschaftlichen, ordnungsstrategischen und maschinellen

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Geschichtsschreibungen changierenden, teilweise mit Foucault argumentierenden Mattelart 2001 oder die stärker metaphernorientierte Geschichtsschreibung Otto Mayrs – eine »archäologische Rekonstruktion« (Mayr 1986: 141), mit teilweise subjektivistischer Prägung (ebd.: 235). Mayr argumentiert ausgehend von der antiken Vorstellung einer Weltmaschine, Lukrez’ machina mundi (ebd.: 57, vgl. hierzu auch Blumenberg 1998: 92) über mittelalterlich/frühneuzeitliche, autoritär-ordnende, widerspruchsfreie Uhren-Metaphern (ausgehend von Dante im 13. und Cassian im 14. Jahrhundert (Mayr 1986: 50), sie sind antimagisch entwickelt, nach dem Vorbild göttlicher Harmonie, Führung, Zielorientierung, Regelmäßigkeit: ebd.: 61, 63 (Aufschauen zur Turmuhr), 141, 143 (Genese des System-Begriffs: Ganzes/Teile), zusammenfassend 44, 145) und neuzeitlich-modernen, liberalen, regulierend-rückgekoppelten Waagen-Metaphern (vgl. ebd.: 234). Die zeitgenössisch dominanten Technik- und (Ordnungs-)Denktypen sind ihm zufolge deterministisch-mechanisch-zentralistischer Natur (ebd.: 99, 75, 91) oder selbstreguliert, liberal- dezentraler Natur (ebd.: 152, 195, hinsichtlich Welt (57, 173), Natur (150 [Paley, Darwin, Mill], 173), Mensch (153), Staat (136, 173)) und ihrem Zusammenpassen (ebd.: 236). Technik wird in Mayr 1986 noch fundamentaler als in Mayr 1968 als »sowohl eine gesellschaftliche Kraft als auch ein Produkt der Gesellschaft« (15) angesprochen – und zwar unter Einbezug verschiedener Aneignungs-/Umgangstypen (vgl. bspw. Differenzen zwischen der Aufnahme der Uhrenmetapher auf dem Kontinent und in England: ebd.: 72, 156, zum von England ausgehenden Bedeutungswandel der ausgeglichenen Waagenmetapher von Unentschlossenheit/Verwirrung zu Gleichgewicht bei gleichzeitigem Wandel der Vorstellung von Balance von Vorherrschaft zu Gleichheit: ebd.: 171, 178, 222, im Sinne von Frieden und Ruhe: ebd.: 173. Zum Bestandteil von Selbstregulation, dem Eigeninteresse, vgl. ebd.: 195, 217, 221. Mayr spricht bei Adam Smith von einer »interdependente(n), beinahe symbiotische(n) Entwicklung des Konzepts der Selbstregulierung und des liberalen Systems der Wirtschaftslehre« (ebd.: 205) und betont im vorkybernetischen Kontext die liberale Metapher der unsichtbaren Hand (198, 209, vgl. hierzu auch von Laak 2006: 425ff), stellt Konzepte auch als Rückkopplungs-Schaltungen dar (Mayr 1986: 200, 201, 207), geht von einer Genese des Gedankens der Rückkopplung aus demjeningen der Selbstregulation aus. Vgl. zu einer metaphernorientierten Geschichtsschreibung auch Paul Edwards, der von Foucault und Haraway aus argumentiert (Computer als Containment, als geschlossene Welt: Edwards 1996). Ausdrücklich ideengeschichtliche Wurzeln (vgl. tendenziell auch in diese Richtung: Levy 1994) und teilweise noch explizit den Anspruch »counterfactual history« (Dupuy 1994: 26) im Feld der Kybernetik zu schreiben, beansprucht Dupuy. 52 Vgl. Tiqqun 2001, Agar 2003 sowie teilweise Agar 2001. Tritt bei Tiqqun die Informatisierung als spezifische Gouvernementalität einer Restrukturierung des Kapitalismus auf, wird bei Agar der Computer als Materialisierung einer kapitalistisch-bürokratischen Welt thematisch: »As a materialisation of bureaucracy and managerial capitalism, the universal machine was made like the world«

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Perspektive. In den meisten Fällen wird hierbei allerdings die historische Situiertheit der eigenen Untersuchung eher ausgeblendet.53 Diesen drei heuristisch und idealtypisch skizzierten Hauptlinien historischer Untersuchung und ihren verschiedenen Verzweigungen auf der ›Karte‹ korrespondieren verschiedene Argumentationsmuster. Die erste Linie argumentiert stärker von der historischen Entwicklung eines Objekts aus, indem jeweilige Stationen seiner Entwicklung auf Erfinder- oder Unternehmens-Subjekte zurückführt werden und am Rand manche zusätzliche Umgebungsvariable reflektiert wird. Die zweite Linie argumentierte stärker von historischen Etappen eines Prozesses aus, indem dieser Prozess jeweils ausschnitthaft entweder von seinen Auswirkungen, Bedingungen oder Bewegungsdynamiken und Ausrichtungen aus untersucht wird. Die dritte Linie arbeitete zuletzt tendenziell über den ersten beiden, indem punktuell auf Ergebnisse aufbauend Metaebenen entworfen werden, grobe historische Linien punktiert werden und dabei Rückprojektionen vorgenommen werden, die über die ersten beiden Kartierungslinien hinausgehen. Auf diese Weise historisch ›rückwärts‹ blickend, wird teilweise versucht ›die ganze Geschichte‹ zu umgreifen – z.B. durch eine Naturalisierung bestimmter KontrollKonzepte (Beninger 1986). Hiermit können historische Forschungsergebnisse gebündelt werden, sie teilweise natur- oder technikwissenschaftlich fundiert und/oder zur Fundierung herangezogen werden. Andererseits kann so aber auch umgekehrt versucht werden, bereits derart eingespieltes oder sich einspielendes partiell perspektivisch verschoben vorstellig werden zu lassen. Nicht zuletzt können durch problematisierende Ansätze weitere Ansatzpunkte lebensweltlicher und gesellschafts-/kulturwissenschaftlicher Durchdringung geschaffen werden. Das vorliegende Buch schlägt vor, diese grob skizzierte Lage historiographischer Aufarbeitung des Gegenstandsfelds in ihrer Gesamtfigur als aktuellen (Re-)Konstruktions- und Konzeptualisierungsversuch des Feldes zu betrachten – und einen Schritt zurück zu treten. Damit konturiert die Karte auch gegenwärtige Grenzen von ›Gegenstandsanalysen‹ im Feld, die weitläufigere Problematisierungen einschränken. Diese historischen Grenzen er-

(Agar 2001: 148). Agar geht davon aus, daß die Differenz von general-purpose (universal machine, auch der Mikrochip) und special-purpose Maschinen (machines, auch die Peripherie) insb. auf die Differenz von manager/clerk im englischen civil service zurückzuführen ist (Agar 2001: 12; vgl. zur purpose-Differenz insb. Aspray 1990: 251f, 187) »the apotheosis of the civil servant can be found in [...] the computer« (Agar 2003: 3). Vgl. allgemein Asprays Analyse von Bushs Differential Analyzer als »first general-purpose computing machine« (Aspray 1990: 183), allgemein wird oftmals auf Turings Entscheidungsproblem verwiesen, auf die Differenz von general intellectual (Führer) und rule-following ›mechanicals‹ (Untergebene): Agar 2003, passim. 53 U.a. auf die Problematik aus soziologischer Sicht analysierende Texte wie bspw. Castells kann im Folgenden nicht eingegangen werden.

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lauben umgekehrt, behandelte ›Gegenstände‹ in bestimmte historische Entgrenzungslinien einzutragen. Eine solche Gesamtfigur im Hintergrund soll im folgenden weitestmöglich eingeklammert werden, ohne hierbei bestimmte, teilweise widerständige Versuche ›der dritten Linie‹ gänzlich ausgeklammert zu bearbeiten. Insb. sie werden weitestmöglich versucht zugunsten weiterer Problematisierungen des Feldes stark zu machen. Sich tendenziell perspektivisch ein Schritt abseits der beschriebenen Figur zu stellen kann nur dann gelingen, wenn einige vorliegende Perspektiven affimiert werden und sie zugleich teils produktiv-widerständig gewendet auftreten können, um ihre historischen ›Durchblicke‹ und Anschlüsse spezifisch zu bündeln und auszurichten. Durch solche Transformationen und Perspektivwechsel hindurch sollen heuristisch einige Punkte markiert werden, deren jeweilige Focussierung mit Erkenntnisgewinn bestimmte ›Umstülpung‹ vermeintlich bekannter Gestalten im Kontext auslösen, manche Kippfigur sichtbar machen kann. Noch kurz einige Sätze zur Methode. Wenn später selektiv Versuche einer Methodenverschränkungen archäologisch informierter Diskurs-/Machtanalyse mit metaphorologischen Mikroanalysen unternommen werden, beginnen metaphorologische Analysen schlicht dort, wo es fruchtbar scheint, nicht allein Diskursanalysen einzusetzen. Sie beginnen dort, wo semantische Probleme, diskursive Bedeutungsaspekte in den Blick geraten, bspw. ausgehend von historisch relevant gewordenen Metaphern.54 Gegeben sind sie also dann, wenn sich Metaphern im diskursanalytischen Zugang als synchron und diachron relevant, d.h. hegemonial, herausstellen lassen. Hierzu wird auf verschiedenen Abstraktionsebenen eine Schnitt-Technik eingesetzt. Sie ist, mit teilweise gravierenden Differenzen, also in Grenzen, vergleichbar derjenigen Schnittechnik, die Hans Blumenberg u.a. zur Untersuchung absoluter Metaphern vorschlägt. Bei ihm sollen »historische Längsschnitte gelegt« werden oder besser »eine Reihe von Punkten angegeben, durch die eine Kurve mag gezogen werden können« – die einzelnen Punkte indizieren hierbei einen Querschnitt: »Wir müssen Querschnitte legen, idealiter in jedem relevanten Abschnitt unseres Längsschnittes, um vollends faßbar zu machen, was die herangezogenen Metaphern jeweils bedeuten. Solche Querschnitte können, für sich betrachtet, nicht mehr rein metaphorologisch sein, sie müssen Begriff und Metapher, Definition und Bild als Einheit der Ausdruckssphäre eines Denkers oder einer Zeit nehmen« (Blumenberg 1998: 49).

54 Paul Edwards rückt Diskurse bereits ein wenig in die Nähe von Dispositiven: »Discourses, in my usage, include techniques, technologies, metaphors, and experiences as well as language.« (Edwards 1996: xiii). Im Folgenden soll versucht werden, von Diskursen und ihren Metaphern aus genealogisch die Kontur eines Dispositivs und zugleich bestimmter Technologien sichtbar werden zu lassen.

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Der semantische Aspekt, an dem Blumenberg die Bedeutung von Metaphern synchron situiert, legt nun aber im Folgenden weder eine an das obige Zitat erinnernde Such- noch eine ›anthropophile‹ Situierungstechnik nahe. Weder soll hauptsächlich auf ein Ausdruckssphäre ›eines Denkers‹ hin, noch von ihr ausgehend analysiert werden. An Orten, die Blumenberg treffend bezeichnet, wird jeweils synchron eine Analyse jeweiliger diskurspragmatischer Hervorbringungen, Regulationen, Einbettungen relevanter Metaphern in diskursiven Gefügen versucht, eine Analyse ihrer jeweiligen differenziellen Verweisungsstrukturen und Nutzungen. Diskursanalytische Lektüren bestimmter Querschnitte werden im jeweiligen Feld versuchen spezifisch gewichtete Verschränkungen von Erzählung und Analyse auszustellen, die wichtige Metaphern im Ausdrucksgeschehen einschließen. So kann die spezifische Genealogie, Macht auch dieser Metaphern versuchsweise stärker hervortreten, ihr politischer und kulturhistorischer Stellenwert der Eröffnung neuer Potentiale spezifischer Kräfteverhältnisse. Solche Lektüren sind dann jedoch selbstverständlich ebenfalls in einer bestimmten Gegenwart verortet, vollziehen damit spezifisch orientierte Aufnahmen und Weiterführungen, Bündelung und Ausrichtungen im jeweiligen Kontext. Auch auf diese Weise werden später im Buch Versuche unterstützt, bestimmte eingespielte Figuren u.a. der historischen Reflexion der zur Disposition stehenden Gebiete einzuklammern, auszusetzen und zu problematisieren. Und zugleich bestehende, widerständige Problematisierungsansätze neu auszurichten und auf neue Problemterrains zu überführen. Die hierzu genutzten, teils unausdrücklichen, teils verschränkten Vorgehensweisen sollen bestimmte Problemkonstellationen möglichst stark hervortreten lassen. Vielleicht können sich dadurch neue Konstellationen abzeichnen.

3. M EDIEN GEHEN ÜBER [M ERLEAU -P ONTY ]

DEN

F LUSS : C HIASMEN

»Die Wege der Musik und der Dichtung kreuzen sich« PAUL VALÉRY, TEL QUEL II

Die Position, die in mathematischen Gleichungen für unbestimmte Faktoren reserviert ist, wird heute konventionell durch den Buchstaben ›X‹ vorstellig – dem unbestimmten, u.U. noch zu bestimmenden Faktor.55 Dieser Buchstabe wird im griechischen Alphabet als ›chi‹, , geprägt. Was heute z.B. im Zusammenhang der Sehnervverknüpfung (›chiasma opticum‹) bekannt ist, wurde als mit dem Buchstaben  verbundenes ›Konzept‹ historisch früh, in der abendländischen Rhetorik ausgeformt. Bereits die rhetorische Figur des ›Chiasmus‹ verweist in ihrer Namensgebung auf dieses griechische Symbol 55 Vgl. z.B. die stochastische Chi-Quadrat-Wahrscheinlichkeitsverteilung.

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. Im rhetorischen ›Chiasmus‹ (a+b, b'+a' oder abc, cba)56 geht eine semantische Korrespondenz eine Verbindung ein mit einer vertauschenden Entgegensetzung – so gliedert eine ›chiasmatische‹ (An-)Ordnungsinstanz die Differenzierung, Betonung, Abfolge von »semantisch korrespondierenden Wortpaaren zweier aufeinander bezogener Satzteile, Teilsätze oder Sätze« (Fricke/Zymner 1991: 27). Der Buchstabe  als einzelnes, abstrakt-syntaktisches Element durchzieht auf diese Weise verschiedenste Kontexte, Figuren und Pragmatiken mit seiner quasi geometrischen Figur. Diese Figur selbst kann aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden: Sie besteht (1) aus zwei quasi im 90Grad-Winkel überkreuzten Linien. Eine dieser Linien verläuft von links oben nach rechts unten, die andere von links unten nach rechts oben – oder spiegelbildlich. Derart ›chiastisch‹ assoziiert werden können aber auch (2) Punkte, die nicht auf einer horizontalen ›Ebene‹ gegenüberliegen, sondern diagonal verbunden sind: Zwei niedriger gelegene gehen jeweils in diagonaler Verknüpfung eine Verbindung ein mit zwei höher gelegenen und umgekehrt – eine überkreuzte Verbindung. Von der Gestalt her betrachtet entfalten sich (3.) zwei spiegelbildlich gegenüberliegende, nach Außen strebende Kegel aus der ›Mitte der Mitten‹ der Linien heraus, aus einen ›mittleren Punkt‹ – einer Sanduhr in vertikaler Drehung ähnlich. ›Chiasmus‹ als Verschränkung, Verflechtung, Verwobenheit: Ob gedeutet ausgehend vom griechischen ›metaxy‹, einem »Mittendrin« (Pechriggl 2006: 31), »durch den das Chiasma hindurchgeht« (ebd.: 28),57 verstanden

56 Beispiel: »Der Einsatz war groß, klein war der Gewinn« 57 Pechriggl entfaltet ihre Lesart nicht nur im Durchgang durch Platons demiurgischen Mythos im Timaios, der erstmals ausdrücklich auf das Chi verweist, und einem Hinweis auf das metaxy zur Charakterisierung der sokratischen mittleren Rede-Position (in Nähe zur epoché: ebd.: 1), des Mittleren, dem dritten Term (ebd., als Beispiel wird bei Platon die Sonne der politeia genannt: ebd.: 50) – sondern auch durch Platons Vereindeutigung des erotischen Mythos Aristophanes’ einer mittigen Trennung von Kugelmenschen durch eine »klaffende Mitte« (ebd.: 11), einen »chiasmatischen Zwischenraum« (ebd.: 74), einer »Schnittstelle, metaxy« (163), die auf ein heterosexuelles, männlich konnotiertes Passungsverhältnis ausgerichtet ist und im Christentum folgenschwer tradiert wurde. Vgl. auch die Hinweise auf den Stellenwert des metaxy in der griechischen Mathematik: ebd. 13 FN 11 sowie bei Aristoteles hinsichtlich Vermittlung (bspw. zwischen Übermaß und Maßlosigkeit: ebd.: 14), Dichotomien/Binaritäten allgemein (ebd. 15, Pechriggl spricht hier auch allgemeiner von »zwei voneinander zumindest potentiell abtrennbaren Medien« (ebd.: 60), allgemeiner historischen Umbrüchen bei Gegensätzlichkeiten (ebd. 18). Vgl. ihr Plädoyer gegen historische Reduktionismen und Determinismen, das in der Anwendungsweite von Begriffen wie Dispositiv ein wenig weit, resp. teilweise ein wenig eindeutig erscheint: ebd.: 20. Vgl. zu einer lesenswerten Anwendung des Konzepts hinsichtlich ›Propaganda‹ bei Platon, der Gegenargumentation in der politeia: Die anti-propagan-

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als triton genos (ebd.: 30), tendenziell negativistisch konnotiert – oder ausgehend von Merleau-Ponty die Überkreuzung selbst betonend, stärker positiv, phänomenologisch gewichtet:58 Der Ausdruck erfährt aktuell eine bestimmte Konjunktur, nicht zuletzt in philosophischen Texten. Weniger in Diskussion rhetorischer Figuren denn als eigenständiges philosophisches Konzept wird ›Chiasmus‹ (wieder)59 ausdrücklich eingesetzt in späten Texten des Phänomenologen Merleau-Ponty, im weitgehend Fragment gebliebenen Das Sichtbare und das Unsichtbare60- wahrscheinlich im Anschluß an einen Aphorismus bei Paul Valéry (vgl. Valery 1941: 57).61 Merleau-Ponty versucht in seinem letzten Text einen philosophischen Neubeginn. Einen Neubeginn, der sich abseits und vor der heute fast selbstverständlich eingespielten Differenz von (Erkenntnis-)Subjekt und (Erkenntnis)Objekt bewegt, z.B. in einem anfänglichen, lebensweltlichen »Gemisch« (ebd.: 172) von beidem. Das bedeutet nun keineswegs eine pseudokonkrete, diffuse Konzeption, sondern eher eine erste Richtungsangabe der Reflexion. Ausformuliert sollte sie sich bis zu einer »Genealogie der Logik« (ebd.: 229) entfalten, blieb jedoch leider fragmentarisch. Merleau-Pontys Neubeginn geht nicht allein durch diesen fragmentarischen Charakter in mehrfacher Hinsicht programmatisch tastend vor. Z.B. soll Pontys Neubeginn gerade nicht mehr um ein vollständiges und schrittweise befolgbares ›Programm‹ gruppiert sein. Die Offenheit und Unabgeschlossenheit ist gerade das reizvolle der späten, fragmentarischen Texte Merleau-Pontys. Im folgenden werden sie unabhängig von ihrem Vorlauf thematisch, bspw. der

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distische Rede wird sichtbar als integal propagandeske, strategische Performanz des Versuchs antiker Biopolitik, einer Vereinigung mittels Verstreung. Platon wird aufgefaßt als einer »der erfolgreichsten und interessantesten Verbreiter und Verlängerer, um nicht zu sagen Propagandisten des kritschen Denkens ebenso wie der Eugenik und des Diktats der Einheit« (ebd.: 149). Pechriggl konstatiert ›Einwegkommunikation‹ als etwas, das seinen schöpferischen Ursprung in einem Medium ihrer Verwirklung hat: ›Der Menge‹ (ebd.:139f). Vgl. zum Rekurs auf Merleau-Ponty, neben Waldenfels, passim, wissenschaftstheoretisch/-kritisch: de Chadarevian 1990, 42f; kritisch in Hinsicht auf die Klärung des Leibbezugs der Kognitionsforschung/AI, ausgehend von MerleauPontys Konzepten vor ›Fleisch‹ und ›Chiasmus‹, mit vorweisenden Hinweisen: Barbara Becker 1994; im medialen/medienphilosophischen Kontext: Dies. 2003, 100f; dort jüngst stärker negativistisch Mersch 2006. Pechriggl liest bereits antike philosophische Texte auf ihre recht ausdrückliche Reflexionen chiastischer Figuren. In einem längeren Kapitel, benannt ›Die Verflechtung – Der Chiasmus‹: Merleau Ponty 1964: 172f. Vgl. hierzu Waldenfels 2000: 25ff; vgl. auch, weitergehend kontextualisiert, insb. hinsichtlich Geschichtsschreibung, vom Strukturalismus Sausures und von Husserl her, gegen Heideggers Seinsdenken und auf Foucault hin: Gehring 2000: 43ff, insb. 48f. Vgl. zur genetischen These de Chadarevian 1990: 42f sowie Waldenfels, passim.

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Phänomenologie der Wahrnehmung – wie es Ponty auch eigens projektierte (ebd.: 237, zu Problemen dualistischer Herangehensweisen ebd.: 257). Das erlaubt es im Folgenden, Thesen stärker zuzuspitzen.62 Auf gewisse Weise fragmentarisch gebliebene, späte Texte und zugleich kein Programm, das darum bemüht wäre, theoretisch tabula rasa anzustreben, bisheriges abzutragen,63 im bereinigten Gebiet ein neues, z.B. konkretistisches philosophisches Fundament zu errichten: Merleau-Ponty erhebt umgekehrt ein eher implizites Vorgehen zum Programm. In dem Maß, in dem es nichts abtragen will, sich innerhalb von Bekanntem bewegt, versucht es fast problematisierend »unsere gewohnten Einsichten erzittern lassen« zu können »bis hin zu ihrer Auflösung« (Merleau-Ponty 1961: 138). Grundsätzlich ist dieses Vorgehen darum bemüht, auf einen vollständig trivialen, aber zumeist vergessenen Sachverhalt hinzuweisen. Mit seinem Herausgeber Claude Lefort gesprochen handelt es sich um die »Einsicht, daß, was immer wir vom Sein sagen, wir selbst ganz in ihm wohnen, daß wir mit unserem Bemühen um einen Ausdruck uns selbst noch in ihm einrichten.« (ebd.: 365). Was bereits angeklungen war:64 Auch Merleau-Ponty denkt durch eine Verwobenheit aussagender und handelnder Subjekte und ihrer Diskurse mit der Welt – derjenigen Welt, in der sie handeln und über die sie sprechen, den Gegenstandsfeldern, in denen sich sich bewegen. Das triviale, in seiner Trivialität philosophisch bahnbrechende Eingeständnis wird »unumgänglich, daß wir in der Welt, in dem, was ist, sind oder umgekehrt das, was ist, in uns ist« (ebd.: 208). Merleau-Ponty geht hierbei, was intellektuelle Redlichkeit und politische Verortung65 betrifft, weit über Figu-

62 Waldenfels konstatiert, daß Pontys Rede von einer »dritten Dimension [...] diesseits von Subjekt und Objekt« (Waldenfels 2000: 17) seit 1952 vorbereitet ist. 63 Vgl. zu solchen Gesten, inb. historisch und politisch, van Laak 2006: 429ff. 64 Vgl. einführend zum historischen Zugriff (prise) und Rückgriff (reprise) bei Merleau-Ponty, der implikationsreich sinngeschichtlich situiert ist: Waldenfels 1992: 38. Vgl. allgemeiner die Verortung Husserls im Unternehmen einer situierten ›Archäologie‹ mit dem Ziel einer »universellen Kritik allen Lebens und aller Lebensziele«, mit Bezug auf Hua VI, 329: ebd.: 39. 65 Vgl. zur politischen Verortung Merleau Pontys: Schnell 2000, sowie Dreisholtkamp 2000, zum Einstieg Waldenfels 1992: 35f, 120ff, insb. 121f, Waldenfels 2000: 20f sowie jüngst – gegenüber Schnell, Dreisholtkamp und den neueren philosophischen, ökologischen und feministischen Rezeptionslinien dezidiert »antikapitalistisch« Faust 2007: Einem »Versuch den Verfasser daran zu hindern, gänzlich in der Welt der liberalen Ideen und Werte, des Marktes und des Parlamentarismus seinen Platz zu finden« (Dreisholtkamp 2000: 82). Er vesteht aus trotzkistischer Perspektive Merleau-Ponty als »wichtigen Sozialphilosophen des zwanzigsten Jahrhunderts« und »Grenzgänger« (vgl. Faust 2007: 156, 167f, insb. 399). Faust versucht gegenüber Schnell und Dreisholtkamp, die ihn eher diskursiv situieren, Merleau-Ponty strärker in seiner Zeit zu verorten zwischen »der deutschen Besetzung Frankreichs und der Stillstellung der innergesellschaft-

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ren hinaus z.B. eines Heideggerschen In-der-Welt-Seins.66 Worauf seine Transitivität betonende »Überreflexion« (ebd.: 60) hinaus will, ist keine vermeintlich unmittelbare oder ›natürliche‹67 subjektive Evidenzerfahrung. Es ist ein abstraktes und zugleich verkörpertes, quasi-strukturales Konzept, das in vielerlei Kontexten durchgespielt wird. Es setzt auf einen gegen bestimmte Traditionen verschoben ansetzenden phänomenologischen Zug, der sich gegen subjektivistische, daseins- und existentialanalytische abgrenzt und neue Perspektiven auf Dialektik, Materialismus und Idealismus entwerfen können soll.

lichen Konflikte der französichen Nachkriegsgesellschaft im Rahmen des Kalten Krieges« (ebd.: 387). Zentral ist ihm die Zeit zwischen den beiden explizit politischen Texten Humanismus und Terror von 1947 und Abenteuer der Dialektik von 1955, also Kritik am Stalinismus, eine Zeit der Distanzierung von den Temps modernes 1952, von Sartre und de Beauvoir (ebd.: 19f). Sein »Engagement auf Seiten der KPF« (ebd.) wird verstanden als »Möglichkeit, praktisch – und theoretisch – über den methodischen Solipsismus der Husserlschen Spätform des Idealismus (die Egologie) hinauszukommen« (ebd. 387). Biographische Elemete (Tod der Mutter, bspw. 21f) und politische Tagesereignisse, deren Wirkung auf das »Selbst« (ebd.: 31) werden ihm zu Hinweisen darauf, »inwieweit Philosophie die Politik bzw. Politik die Philosophie« (ebd.: 23) Pontys, sein »Engagement des Intellektuellen« (ebd.: 27) prägte, insb. gegenüber Resistance und Stalinismus (die Philosophie tritt hier als »apologetisches« Mittel auf (ebd.: 225)). Solche Fragen und Methoden werden im Folgenden nicht zentral, es gilt insb. die diskursive Filation und Wirkung als bedeutsam, insofern sie ›politisch‹ auf gegenwärtige Probleme bezogen ist. Insofern trägt Fausts Einschätzung, seine Philosophie stünde in einem »kontingenten« Verhältnis zur »opportunistischen« Praxis, könne keine »ethisch wirksame Handlung« legitimieren, da sie als Sozialtheorie »die Grenzen der Husserlschen Phänomenologie« (ebd.: 399) reproduziere und ihm »nicht seine Gegenwart« ›erhellte‹ – also Rekurse auf Widersprüche um Person, Handlung, Texte – zu keinem Erkenntnisgewinn bei. Aussagen wie, daß »Merleau-Pontys philosophische Terminologie sich nicht dafür eignet, eine Erklärung des Holocaust innerhalb des Kontextes modernen kultureller Tendenzen und technischer Entwicklungen zu suchen« (ebd.: 95) haben eine andere Zielrichtung und Anspruchsweite. Dies trifft ebenso zu auf Aussagen einer »Praxisbeladenheit« (ebd.: 126) von Merleau-Pontys Philosophie, die Philosophie selbst zur »Durchkreuzung (Chiasma) von Exaktheit der (wissenschaftlichen Erkenntnis und Opazität der (konkreten) Lebensvollzüge, von Denken und Verhalten« (ebd.: 198) schlage. Vgl. jedoch ausdrücklich, in weiterführender Hinsicht, Diskussionen wie ebd.: 150ff. Vgl. im Kontext auch Gehring 2000. 66 Im chiastischen Modell geschieht kein Rekurs auf Residuen oder qua Negation notwendige Äquivalente von Subjektivität, wie in Funktion und Problemen eindrücklich geschildert in: Waldenfels 1987: 129. Vgl. zu früheren Konzepten Pontys eines leiblich-intersubjektiven ›Zur Welt-Seins‹: Faust 2007: 194. 67 Vgl. vs. Leibkonzept-Naturalisierung bereits 1952: Merleau Ponty 1969: 99/100.

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Grundsätzlich gilt für Merleau-Ponty, daß auch und insb. wissenschaftliche Subjekte und Aussagen grundsätzlich eingebunden und situiert sind – so sehr sie auch reflexiv und praktisch darum bemüht sind, sich von dem zu distanzieren, worüber sie in letzter Instanz redend handeln. Insofern sind sie verkörpert in eben jener Welt, die zu überfliegen und objektiv vorstellig zu machen68 sie sich – bspw. durch methodische Prämissen der Wissenschaften – in letzter Instanz aufgegeben haben. Gegenüber Konzepten, deren Ergebnisse noch immer darin zu bestehen scheinen, daß sich ein jeweiliger Wissenschaftler »durch das Medium seines Leibes« (ebd.: 51) »als absoluter Geist vor dem reinen Objekt denkt« (Merleau-Ponty 1964: 32) – einem aus Einzeluntersuchungen zusammengesetzten »großen Objekt« (ebd.: 31) -ist Merleau-Pontys Zugang ein pragmatisches Gegengewicht. Für ihn gibt es aus dem Grund einer fundamentalen, leiblich verkörperten, weltlichen Situiertheit, wie es Claude Lefort ausdrückt, schlicht »keinen bevorzugten Ausgangspunkt [...] von dem aus die Natur, die Geschichte oder das Sein selbst sich wie in einem Panorama enthüllen« (ebd.: 367). Und umgekehrt ist für Merleau-Ponty auch kein methodischer Weg über subjektive Innerlichkeit gangbar, also gewissermaßen eine »Philosophie, die unsere Erfahrung von innen her erfaßt« (ebd.: 208). So setzt seine fragmentarisch gebliebene Theorie Zugänge außer Kurs, die sich rein auf das Fundament des Subjekts zurückziehen – oder objektivistische69 resp. neuartige szientifische Kreuzungen subjektiver und objektiver Ansätze, z.B. algorithmisch-mathematisch geprägte, stärker kybernetischer Natur: »Es steht doch fest, daß Husserl selbst keine einzige Wesensschau durchgeführt hat, die er nicht wiederaufgegeriffen und neu überarbeitet hätte [...] und deshalb wäre es naiv, die Beständigkeit in einem Ideenhimmel oder auf einem Sinnesboden zu suchen: sie ist weder oberhalb noch unterhalb der Erscheinungen zu finden, sondern in deren Gefüge [...] behalten wir uns vor, [...] aufzuzeigen, [...] daß die Idee der objektiven Erkenntnis selbst, die Idee des Algorithmus als eines geistigen Automaten [...] auf unseren Träumereien beruht« (ebd.: 155).

68 Vgl. Waldenfels 1992: 31 zur ›methodischen‹ Ablehnung einer solchen ›Phänomenologie‹ gegen Überblicksbildung, einer »fiktiven Allwissenheit eines ›Überschauers der Welt‹«, ihrer Nähe zu modernen Romanciers – hier wie dort werden Unbestimmtheiten, Fremdheiten zu Elementen der Erfahrung und nicht deren ›Trugbild‹. Vgl. hinsichtlich Ordnungen Waldenfels 1987: 164f und MeyerDrawe 2000: 233, die eine Präferenz des späten Merleau-Ponty für Malerei aus Möglichkeiten einer Urteilsenthaltung erkennt, ein ›in der Schwebe haltens‹ sowie ›systematische‹ Probleme im Kontext, insb. Schwierigkeiten von Kritik. 69 Dies gilt bereits 1952 zur Differenz ›objektiver‹ Prosa gg. ›subjektiver‹ Poesie, wie Waldenfels auch hinsichtlich der Differenz zwischen Poiesis und Praxis feststellt: Merleau-Ponty 1969: 10, 12, vgl. auch Lefort in ebd.: 17.

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Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie bewegt sich in ihrem Selbstverständnis also grundsätzlich jenseits von Materialismus, Empirismus und Idealismus oder traditioneller Transzendentalphilosophie.70 Denn wenn für ihn ein scheinbar aus sich heraus erkennendes Subjekt als Leib71 in das Fleisch der Welt eingebettet,72 eingefaltet, ›inkarniert‹ ist, – genau das Subjekt, das Welt distanziert und objektiv zu untersuchen vorgibt – ist es umgekehrt auch jene Welt und ihre Dinge, die sich, bis hin zur schieren Unmöglichkeit eines rein abstraktiven Standpunkts, hierzu parallel immer schon in dieses Subjekt eingerollt haben vor jedem bewußten Wahrnehmungsakt:73 »das Gewicht, die Dichte, das Fleisch jeder Farbe, jedes Tones, jedes tastbaren Gewebes, der Gegenwart und der Welt kommt dadurch zustande, daß derjenige, der sie erfaßt, sich wie durch eine Art Einrollung oder Verdopplung aus ihnen auftauchen fühlt, von Grund auf gleicher Art wie sie, und daß das Sinnliche hinwiederum vor seinen Augen liegt wie seine Doublette oder eine Erweiterung seines Fleisches« (ebd.: 152).

Wenn er metaphorisch sagt,74 daß Blicke und Hände sich auf diese Weise von innen her immer schon »tapezieren« (ebd.: 181) mit den Dingen der Welt, dann sind es umgekehrt die Dinge, die perspektivisch und buchstäblich begrifflich eingehüllt, abgetastet und »bekleidet« (173) werden – eine Nacktheit der Dinge ist nicht möglich, sie sind immer mit einer solchen Haut überzogen.75 Damit vermählen sich Dinge und Wahrnehmungen: »sodaß man schließlich nicht sagen kann, ob der Blick oder die Dinge die Oberhand haben« (ebd.: 175) – eine »grundsätzliche Beziehung, eine Verwandschaft« (ebd. 176) wird zwischen beidem sichtbar: »die beiden Systeme passen zueinander wie die Hälften einer Orange« (ebd.).

70 Vgl. zur Verwobenheit, z.B. eines »empirischen Realismus, der auf dem tranzendentalen Idealismus fußt«: ebd.: 212: »Ist nicht gerade die Erfahrung des Dings und der Welt der Hintergrund, den wir brauchen, um das Nichts auf irgendeine Weise zu denken? [...] Sind Identität, Positivität und Fülle des Dings, zurückgeführt auf das, was sie in jenem Kontext bedeuten, in dem die Erfahrung sie antrifft, nicht sehr unzureichend, um unsere Offenheit für ein Etwas zu definieren?« 71 Hierunter versteht Merleau-Ponty einen Körper, der »nicht objektiver Körper und ebensowenig jener Körper [ist], den die Seele als ihren eigenen denkt (Descartes), sondern der das Sinnliche ist im doppelten Sinne des Empfundenen und des Empfindenden.« (ebd.: 326) 72 Vgl. zur Metapher Einbettung ins Sein: ebd.: 365. Vgl. zu Mißverständnissen, wie einseitig rationalistisch gedeutete Verkörperung: Hayles 1999: 196/197. 73 Vgl. ebd.: 206. 74 Merleau Ponty äußert sich selten und zwiespälig zur Metaphorizität der Texte: Vgl. ebd.: 181. 75 Berührung ist für Merleau-Ponty ein grundsätzlicheres Phänomen als Sehen, dieses ein Tasten mit den Augen. Vgl. hierzu ebd.: 177.

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Geht dieser Zugang naiv oder diffus von einer grundlegenden Verwobenheit von Erkennendem und Erkanntem aus? Merleau-Ponty betont beides: Eine spezifische Verwobenheit bei gleichzeitiger Arbeit mit Differenzen. Die hierdurch erläuterbar werdenden Phänomene sind für MerleauPonty dann nicht allein irreduzibel. Sie sind für ihn auch insofern unhintergehbar, als sie immer wieder, selbst in jeglichem Aussagekomplex in Rechnung zu stellen sind.76 Solche Exempel werden zum Ausgangspunkt dessen, was als philosophische Zugangsweise versucht wird weitestmöglich voraussetzungslos zu entwickeln. Die Reduktion auf ein Vorobjektives,77 die ihm zugleich als originär philosophisch gilt, hat in mehrfacher Hinsicht einen selbstverständlich-unselbstverständlichen Ort, konzentriert sich auf einen Punkt innerhalb des jeweils zu abstrahierenden Diagramms gegensätzlich gegenüberstehender Terme. Entscheidend für Merleau-Ponty ist jener Kreuzungspunkt von zwei im rechten Winkel überkreuzten Geraden, der gemeinsame Scheitelpunkt zweier spiegelbildlicher Kegel, der Mittelpunkt einer Kreuzung, von dem aus das Überkreuzte als Gesamtfigur von Differenzen sichtbar wird. Ob eine Überkreuzung von Subjekt und Objekt, von Subjektivem und Objektivem, Erkennendem und Erkannten, Freiheit und Notwendigkeit,78 Geist und Körper (ebd.: 193)79 – bis hin zum Verhältnis von Selbst und Anderem: An verschiedenen Beispielen wird verdeutlicht, daß nicht die Relata von Entgegensetzungen, sondern ihr Scheitelpunkt, ihre Mitte, ihre Überkreuzung zentral ist: »Wie der natürliche Mensch versetzen wir uns in uns und in die Dinge, in uns und in die Anderen, bis wir durch eine Art Chiasma zu Anderen, zur Welt werden. [...] Wie der natürliche Mensch hält sie [die Philosophie, R.B.] sich dort auf, wo der Übergang vom eigenen Selbst in die Welt und zum Anderen geschieht, dort, wo die Wege sich kreuzen« (ebd.: 209).

76 Merleau Ponty betont ausdrücklich, daß es ihm bei aller Rede von Evidenz (vgl. insb. 144) niemals um einen vermeintlichen Rückgang »zum Unmittelbaren« (ebd.: 162), bspw. einer »ursprünglichen Integrität« (ebd.) oder einer »Verschmelzung« von Erfahrung und Sein geht. Auch die Rede von Gegebenheiten wird abgelehnt (ebd.: 164). Wenn überhaupt, wird das Unmittelbare ihm zu einem Horizont (ebd.: 163). Vgl. hierzu auch Dreisholtkamp 2000: 86f. 77 Vgl. Faust 2007: 350 zu Pontys ›Vortheoretischem‹ oder ›Vorthetischem‹. 78 Vgl., früher situiert: Faust 2007: 161. 79 Vgl. hierzu jüngst Pechriggls Versuch, mittels eines Chiasma »ebenso materiellen wie ideell-imaginären Sinn« und ihren »Dualismus weitgehend zu vermeiden oder zu reintegrieren« (Pechriggl 2006: 139). Er ist teils dialektisch angelegt.

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(Überkreuzungs-)Punkt, Mitte, Zwischen, Chiasma:80 Was mittels MerleauPontys Philosophie und ihren vielfach durchdeklinierten Zugangsweisen zu schillern beginnt, ist nicht zuletzt die Selbstverständlichkeit eingespielter Subjekt-Objekt-Differenzen:81 Ohne jemals vollständig an der Aufrechterhaltung der Differenzen zu rütteln,82 kann immer wieder eine Verwobenheit, eine Überkreuzung differentieller Kategorien thematisch werden. So ist das Subjekt weder in der Welt wie in einer Schachtel, einem Container, einer Box, noch die Objekte der Welt in ihm als einem »privaten Gehäuse« (ebd.: 182/183). Das gilt auch und gerade nicht in der Zeit kybernetischer oder informatischer Ontologien. Worauf es Merleau-Ponty ankommt, ist keine Identität von Differenzen in einer anderen Sphäre, es ist schlicht (1) eine grundsätzliche »Umkehrbarkeit« (ebd.: 185), Reversibilität, die er innerhalb vermeintlich widerstreitender Differenzen zum Vorschein kommen läßt: »Das ist Chiasmus: die Reversibilität« (ebd.: 331). Diese Reversibilität, Umkehrbarkeit versteht sich ausdrücklich als ein allgemeines, im wahrsten Sinne des Wortes subversives Prinzip jenseits von Dialektik.83 Es läßt sich insb. an Umstülpungen exemplifizieren – nich nur von eher außergewöhnlichen Differenzen, wie einer Umkehrbarkeit von Wahrnehmung und Wahrgenommenen, sondern auch ganz simpel, z.B. ausgehend von einem Handschuh:84

80 Merleau Ponty spricht abstrakter von einer Artikulation der Welt ausgehend von einem positiven Zwischen, einem »Nullpunkt des Seins [...] der nicht nichts ist [...] weder im Fürsich noch im Ansich, sondern an ihrer Verbindungsstelle, dort, wo sich die vielfältigen Eingänge der Welt kreuzen« (ebd.: 327). Vgl. Waldenfels 2000: 19 zur Gegenüberstellung des Sartreschen ›Loch im Sein‹ vs. ›Höhlung‹/‹Faltung‹. Vgl. zu Fragen der Dialektik: Merleau-Ponty 1964: 75-130, 227f, passim. Vgl. zu Positivismus und Negativismus, aussagentechnisch unproduktiven wechselseitigen Übergängen ebd.: 160, zum Positivismus ebd.: 168. 81 Vgl. zu diesem Kontext: Lefort in Ders.: 361. 82 Er spricht von einer »Art Aufklaffen ins Zwiegeteilte«, einer Überlappung, wo »die Dinge in uns eingehen wie wir auf die Dinge eingehen« (ebd.: 164). 83 Vgl. Merleau-Pontys Rede von einer »Identität ohne Übergang« und einer »Differenz ohne Widerspruch« (ebd.: 178, sowie zur Totalität ebd.: 180), insofern eine »Dialektik ohne Synthese« (ebd.: 128), die sich der »Idealisierungen« (ebd.: 129) bewußt ist, die sie vollzieht. Vgl. hierzu auch Gehring 2000: 49f 84 Bekanntestes Beispiel einer solchen Überkreuzung ist das Wahrgenommene, das zurück schaut (ebd.: 183). Merleau Ponty baut seine Vorstellung der Reversibilität ganz grundlegend auf einer Verallgemeinerung (ebd.: 180/181) eines abstrakten »Selbstbezug« (ebd.: 185) oder »Narzißmus« auf, (ebd.: 183, vgl. hierzu ausführlich, auch gegenüber Freud Dreisholtkamp 2000: 83ff) ausgehend von bestimmten Phänomenen, wie z.B. durch Auflegen der rechten Hand die linke spürbar wird, während sie selbst ertastet (ebd.: 176, 185) oder der Sichtbarkeit der sehenden Augen (ebd.: 163). Uwe Dreisholtkamp hat dies im Kontext Geschichtsschreibung herausgearbeitet (Dreisholtkamp 2000, insb. 83ff). Merleau-

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»Einzig die Achse ist gegeben – die Spitze des Handschuhfingers ist Nichts, – aber Nichts, das man umkehren kann, und wo man dann Dinge sieht – Der einzige Ort, wo das Negative sich wirklich aufhält, ist die Falte, die Anwendung von Innen und Außen aufeinander, die Umschlagstelle« (ebd.: 331).

Merleau-Pontys Anliegen ist, (2) auf ein differentielles »Gefüge« (ebd.: 154) umkehrbarer Differenzen aufmerksam zu machen, das gewissermaßen ihren innerweltlichen Boden darstellt: Im »Zwischen [...] würde man auf das Gewebe stoßen, das sie unterfüttert, sie trägt, sie nährt und das selbst nicht Ding ist, sondern Möglichkeit, Latenz und Fleisch der Dinge« (ebd.: 175) – ein »formendes Milieu für Objekt und Subjekt« (193).85 Damit wiederum ist ein differenzielles, bedingendes Gefüge, eine Art »Bindegewebe der [...] Horizonte« (ebd.: 173) – genannt »Fleisch« (ebd. 182-184)86 – angesprochen, etwas, das gewissermaßen »dazwischengeschaltet« (ebd.: 178) ist, aus und mittels dem sich jegliche lebensweltlichen, körperlich-leiblichen und geistig-abstrakten Differenzen jewils in spezifischer Reversibilität entfalten. Es ist zugleich etwas wie deren »Kommunikationsmittel« (ebd.).87 Als solches wird es versucht, mittels der Ausdrücke »Element« (im Sinne eines der vier Elemente ebd.: 183), »Dimension« (ebd.: 187), »inkarniertes Prinzip« oder »generelles Ding, auf halbem Wege zwischen dem raumzeitlichen Individuum und der Idee« (ebd.: 183) zu veranschaulichen, gewissermaßen als eine innerweltlich-transzendentale, sichtbar-unsichtbare Bedingung der Möglichkeit:88 »Inauguration des Wo und des Wann, Möglich-

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Ponty betont zugleich eine prinzipielle Unerreichbarkeit einer solchen »Koinzidenz« (Merleau-Ponty 1964: 194) oder Deckungsgleichheit, die »Verwacklung« und den »Abstand« (ebd.), die Differenz, die auch in seiner Rede von den »zwei Blattseiten« (ebd.: 173) des Leibes und der Welt mitschwingt. Vgl. zum Konzept ›Zwischen‹ in historisch-filiativer Perspektive ›rückwärts‹, eine Linie, die hier partiell überschritten wird: Waldenfels 1992: 33. U.a. ist das Stichwort Merleau-Pontys einer »Phänomenologie der Phänomenologie« (zit. nach Faust 2007: 350) interessant. Vgl. zu einer Parallellektüre des späten Textes Merleau-Pontys Der Philosoph und sein Schatten, der ›Urdoxa‹ und ›natürliche Einstellung‹ im Kontext des ›Fleischs des Sinnlichen‹ faßt: Faust 2007: 349f Vgl., eindeutiger hinsichtlich Kybernetik, Meyer-Drawe 2000: 232. Z.B. dient ›das Fleisch‹ und das in ihn in Reversiblität inkarnierte Sein des Anderen als ›leiblicher‹ Mittler zum ›Geist‹ des Anderen, der sich mir durch Einfühlung eröffnen kann. Vgl. Faust 2007: 349, er spricht gar von einer ontologischen Suche Merleau-Pontys nach einem Sein als »Medium des natürlichen Lebens« (ebd.: 351), betont am Rand seine vorhergehenden Versuche eines jeweiligen Rekurses »auf die Vermittlungsmedien Leib, Sprache und Geschichte« (ebd.: 390). Der Leib wird Faust zu einem zentralen Ort von »Reflexivität« (ebd.: 398), verstanden von Reversibilität aus, insofern die ›Kategorie‹ Fleisch zu einem ›Kreuzpunkt‹ als Ausdruck und Movens solcher Reflexivität. Er spricht programmatisch auch von »transzendentaler Geologie« (ebd. 325)

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keit und Anspruch des Tatsächlichen, in einem Wort, Tatsächlichkeit, das, was die Tatsache zur Tatsache macht« (ebd.:184). Auch die sich in dieses ›Fleisch‹ einfaltenden differentiellen Entitäten oder Differenzen werden jeweils zum »Mittel« (ebd.) einer grundsätzlichen Reversibilität des Fleischs. Auch als Herausgelöste einer »Einfaltung« (ebd.: 199) partizipieren sie an dieser Logik, sind »zwar Individuum [...] aber auch Dimension und Universelles« (ebd.:187). Damit ist es nicht verwunderlich, daß diese Reversibilität dann auch stärker körperlich akzentuierte Elemente (Leib/Fleisch) und stärker geistig akzentuierte (Idee/Sprache/Rede) des Gefüges umfaßt: Sie werden als sich ebenfalls gegenseitig bedingend, als ›reversible‹ verstanden: Auch ›Reflexion‹ kann sinnliche Züge annehmen.89 Und umgekehrt. Indem sie vorstellig werden als sich wechselseitig Vorder- und Rückseite bietend, wird (3) eine grundsätzliche ›Münz‹-Logik entfaltet, jenseits von Materialismus und Idealismus Ideen zum inwendigen »Futter des Sichtbaren« (ebd.: 196), dem »Unsichtbaren dieser Welt« (ebd.: 198).90 Und auch umgekehrt ist deren Idealität »nicht ohne Fleisch« (ebd.: 200). MerleauPonty rekurriert auf ein immanentes, in der Mitte liegendes Feld des »wilden Seins« (ebd.: 161), dem auch und insb. die Ideen zugehören: »Es gibt keine Wesenheiten mehr über uns, positive Gegenstände, die sich einem geistigen Auge darböten, sondern es gibt fortan ein Wesen unter uns als gemeinsames Geäder von Signifikant und Signifikat, als Adhärenz und Reversibilität des einen für das andere – ebenso wie die sichtbaren Dinge die geheimen Falten unseres Fleisches sind, obwohl doch unser Leib ein sichtbares Ding unter anderen ist. [...] Ebenso wie das Geäder das Blatt von innen her und aus der Tiefe seines Fleisches trägt, bilden die Ideen die Textur der Erfahrung, ihren Stil, der zunächst stumm ist, dann ausgesprochen« (ebd.: 158/159).

›Fleisch‹ erhalten Ideen in einer »sekundären Sichtbarkeit« der Sprache: So als »würde die Sichtbarkeit, die die sinnliche Welt beseelt, auswandern [...] ihr Fleisch vertauschen, indem sie das des Leibes für das der Sprache aufgäbe und dadurch von jeder Bedingtheit freigesetzt, aber nicht entbunden wäre.« (ebd.: 200). Wie im Sinne Merleau-Pontys der einzelne, differentielle Leib an den Differenzen des Fleischs und ihrer Umkehrbarkeit vermittelt teilhat, hat auch die Sprache an einem »universellen Sprechen« (ebd.: 202) teil. Dieses Sprechen umfaßt in seiner Stummheit91 die Welt – wobei diese Logik auch die Phänomene des Sinns betrifft, die sich ausgehend von einer »Totalität des Gesagten« (ebd.: 203) erschließen. Und so ist in letzter In-

89 Vgl. Meyer-Drawe 2000: 239. 90 Geist wird als »andere Seite des Leibes« gefaßt: »Es gibt einen Leib des Geistes und einen Geist des Leibes und einen Chiasmus zwischen beiden. Die andere Seite ist [....] im Sinne einer Transzendenz des Negativen zum Sinnlichen« (326) 91 Vgl. hierzu bereits 1952 Merleau-Ponty 1969: 68.

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stanz Welt selbst sprachlich verfaßt, hat einen jeweiligen »Stil« (ebd.).92 Das jeweils Leibliche, rein Körperliche ist nicht ohne eine allgemeine, ideelle Struktur ihres Fleisches zu denken, das ihnen »Achsen, Tiefe, Dimensionen« (ebd.: 198) gibt: »in gewissem Sinne ist die Sprache alles [...] weil sie niemandes Stimme ist, weil sie die Stimme sogar der Dinge, der Wellen und Wälder ist. [...] keine dialektische Umkehrung [...] zwei Aspekte der Reversibilität, die letzte Wahrheit ist« (ebd.: 203).

Reversibilität und plural, differenziell verfaßtes Gefüge:93 Zusammenfassend deutet die Insistenz Merleau-Pontys auf Umkehrbarkeit, Reversibilität zum einen (a) auf einen Primat des Relationalen (vgl. hierzu insb. ebd.: 174), zum anderen (b) auf eine spezifische Akzentuierung dieses Relationalen als keineswegs jeweils einseitig schlicht kontingentes, sondern reversibles. Und die Insistenz auf einem (Bedingungs-)Gefüge, »Feld von Feldern« (ebd. 222) deutet (c) auf einen Primat des Strukturalen der späten Texte Merleau-Pontys.94 Ein struktureller Akzent wird artikuliert, der sich zum einen gegenüber dem zeitgenössischen Existentiellen positioniert und zum anderen – da er das Strukturale eben pragmatisch von der Reversibilität her denkt – jenseits der vermeintlichen Dominanz einer schlichten, quasisubjektiven Struktur, einem System zu stehen kommt – vorgezogen wird die Reflexion strukturaler, performanter Felder mit Horizonten.95 Zuletzt wird dieses Strukturale dann (d) als in sich differenziell (vgl. bspw. ebd. 222, 303)96 und plural verfaßt vorstellig, und (e) als innerweltlich-transzendentales gefaßt. Dabei stützt sich diese Logik selbst heuristisch wiederum jeweils (f) auf eine nichtdialektische, strukturale, integral reversible Verkörperungslogik,97 die verschiedenste Inseln von Geist und Körper immer wieder versucht zu fassen als sich gegenseitig in ihrer Differenz bedingende und ermöglichende, als jeweils zwei Seiten einer Medaille. Es ist nicht zuletzt diese Logik, die (g) den Akzent auf einer grundsätzlich sprachlichen Ver-

92 Vgl. hierzu Gehring 2000: 49f, sie erkennt auch die gestische Seite performativer Akte im Gefolge Austins. 93 ›Pluralismus‹ allein ist im Kontext zu wenig: Gehring hat insb. hinsichtlich Geschichte und Geschichtsschreibung auf einen »Widerstreit« (Gehring 2000: 54) aufmerksam gemacht zwischen einem »Pluralismus der ontologisch unabgefangenen Strukturen« und einem zumindest latent universalistischen Weltbegriff, diesen Widerstreit affirmiert; vgl. auch ebd. 56, sowie Merleau-Ponty 1969: 61 94 Vgl. weitergehend und einführend Waldenfels 2000: 22 95 Vgl. zu ähnlichen Interpretationen Faust 2007: 393, Waldenfels 2000: 22. Akzentuierung: eher ›hat‹ Welt uns als wir die Welt: Merleau Ponty 1964, passim. 96 Vgl. Meyer-Drawe 2000: 239/240 zum hier wichtigen Bild gegeneinander verschobener ›Wirbel‹ oder Kreise: Merleau-Ponty 1964: 181. Dreisholtkamp 2000: 84 spricht von »konstitutiven Differenzen«, einem »Differenzierungsgeschehen«. 97 Faust spricht von Insistenzen auf Paradoxa und Ambiguitäten: Faust 2007: 354.

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faßtheit von Welt mitvollzieht und fragmentarisch versucht reflexiv einzuholen in Tradition des linguistic turn in Folge Saussures.98 Diese entstandene Charakterisierung von Pontys Theorie ist selektiv durch Aussparen früherer Konzepte und kleinteiligerer phänomenologischer Exegesen. Denn auch die Theorie selbst liegt nur unvollständig, als ediertes Manuskript vor. Das ist kein Manko, fast ist das Fragmentarische selbst programmatisch zu werten. Dann vollzöge sich an der Textgestalt ihr ›Sinn‹ und umgekehrt: Selbst wenn Merleau-Ponty sein spätes phänomenologisches Unternehmen unter das Zeichen der Ontologie stellt, man das eigens betonen könnte,99 spricht aus den fragmentarischen Texten mittelbar ›nur‹ eine fragmentarische, »indirekte Ontologie«: »man kann keine direkte Ontologie machen« (ebd. 233). Ohne Rekonstruktion der Vollzugsform des Texts kann man sie auch eine »konkrete Metaphysik« (Faust 2007: 384) nennen – muß sie aber nicht so nutzen: Wenn Merleau-Pontys strukturale Phänomenologie ontologisch argumentiert, dann ist sie immer auch eine durchgestrichene Ontologie, die in Zwischenräumen und Differenzen überhaupt erst ihren jeweils begrenzten Ansatzpunkt, Ort des Sprechens finden kann. Als solche muß sie theoretisch und ›programmatisch‹ fast notwendig fragmentarisch bleiben, sind ihre Fundierungen immer nur vorläufig und lokal, ohne diese Fragmentarität, Vorläufigkeit, Revidierbarkeit, Reversibilität und Begrenztheit selbst apodiktisch setzen zu wollen. Merleau-Pontys Theorie, ein

98 Zum Stellenwert der Sprache in der Gesamtarchitektur: Merleau-Ponty 1964: 367; zum Verhältnis Sprache – Schweigen, ihrem Seins-Kontakt: ebd.: 166 (Unsichtbares: ebd.: 158). Vgl. zur Rezeption Saussures durch Merleau-Ponty: Faust 2007: 219ff. Zum Sprachdenken Merleau-Pontys einführend Waldenfels 2000: 23, weitergehend Oskui 2000: zur leiblichen Geste: ebd.: 114, gegenüber Chomski und Saussure: ebd.: 112, zu Syntax, Semantik, Pragmatik, Metaphern, Verschränkung im Anschluß Jakobsons: ebd.: 111; vgl. Merleau-Ponty 1963. 99 Wie es bspw. Faust 2007, in Gegenüberstellung zu Heidegger (›Sein‹/›wildes Sein‹) unternimmt: Zwar konstatiert er, daß Merleau-Pontys »konkretisierte Phänomenologie nicht zu den politischen Sachen selbst führt« (Faust 2007: 389). Positives Ergebnis ist aber, daß Merleau-Ponty »Heideggers Daseinsanalytik in produktiver Weise fehlinterpretiert hat« (Faust 2007: 389) und Heidegger für Faust (mit Hassan Givsan) zuvor eben »alles, was er von andern« aufgenommen hatte, »von Grund aus« verwandelt und umgedeutet, umgewendet hatte, »so dass kein Gedanke oder Wort in Heideggers Denken dasselbe oder das gleiche meine und bedeute wie vorher« (ebd.: 361), insb. das Wesen des Menschen betreffend. Unter dem Stichwort ›Ontologie‹ findet ein doppelter historischer Umstülpungsprozess mit produktiven Gewinnen statt – hieran konnte später dann, politisch gehaltvoller, Foucault anschließen. Vgl. zu einem reformulierten Anschluß Merleau-Pontys, z.B. einem »dort, wo beide Bewegungen sich kreuzen, dort wo ›es‹ etwas ›gibt‹« (Merleau-Ponty 1964: 130).

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»Denken in Lumpen« (Sartre),100 vollzieht sich tastend und feldhaft begrenzt. Es wird erst so konkreter lokal umsetzbar, anschlußfähig. Pontys Zugänge eignen sich auf immer neue Weise zur Eröffnung von Fragen, wie überhaupt jeweils konkreter Erfahrung »uns dem öffnet, was wir nicht sind« (Merleau-Ponty 1961: 208). Pontys Herausgeber Claude Lefort stellt fest, daß es ihnen darum ging aufzuzeigen, »daß die Wissenschaft souverän über ihren Gegenstand nur solange verfügt, als sie ihn anhand ihrer Definitionen und in Übereinstimmung mit ihrem Ideal des Messens konstruiert, daß sie aber gerade dann versagt, wenn es darum geht, die Welterfahrung zu erhellen, aus der sie stillschweigend schöpft« (Merleau-Ponty 1961: 363).

Auch insofern wurde Merleau-Pontys Texten und Konzepten nachgewiesen, daß sie versuchten, »Schließungsprozeduren des neuzeitlichen Denkens wieder zu öffnen« (Meyer-Drawe 2000: 238). Sie können mindestens an bestimmten Punkten wissenschaftlicher oder verwissenschaftlichter Welterfahrung erhellend wirken, z.B. an der »Illusion absoluter Überschau« (MerleauPonty 1964: 47). Es ist also nicht unbegründet, einen derartig ›programmatisch‹ unabgeschlossenen Zugang auf einem Feld einzusetzen, das sich immer wieder buchstäblich durch Eindeutigkeiten, Binarismen, algorithmische Zugangsweisen und Schließungen artikuliert, wie unausdrücklich und offen dabei immer vorgegangen werden mag. Die Wirkung und Weiterentwicklungen der Konzepte liefert zuletzt weitere undogmatische Anschlußpunkte. Neben Cornelius Castoriadis101 ist hier insb. Michel Foucault102 zu nennen. Damit ist nicht nur die Interpretation Gilles Deleuze’ angesprochen, die Foucault mittels Haut- und FaltungsMetaphern u.a. von Merleau-Ponty her liest (Deleuze 1986). Neben Interview-Hinweisen und einigen ausdrücklichen Absetzungsbewegungen103 sind bei Foucault subkutane Nähen zu Ponty bemerkenswert bei gleichzeitiger Weiterentwicklung.104 So versuchte er wohl auch, dessen Ansätze in mehrfacher Hinsicht mit historischen Indizes auszustatten,105 sie noch stärker

100 Zit. nach Faust 2007: 385 101 Darauf weist Alice Pechriggl zu Castoriadis’ Theorie einer radikalen Einbildungskraft hin, stärker noch zu seiner Textsammlung Durchs Labyrinth, die bereits im Titel der deutschen Übersetzung verschwunden ist: Vgl. Pechriggl 2006: 10 FN 4. Vgl. allgemeiner zur Linie Merleau-Ponty – Castoriadis, einer »politischen Phänomenologie«: Faust 2007: 178f sowie Waldenfels 1997: 167 und Waldenfels 2000: 21f. 102 Vgl. Parallelen im Verständnis von Geschichtsschreibung Gehring 2000, 62/63. 103 Vgl. Foucault 1966: 388; sowie den Hinweis in Gehring 2000: 58 (FN 29). 104 Vgl. zum Verständnis der Psychoanalyse von Pathologien/Normalisierung aus: Faust 2007: 200, 219. 105 Dazu muß man nicht erst beginnen bei der anfänglichen Husserlschen Rede vom ›historischen apriori‹ (Schnell 2000: 66) oder bei der Ordnung der Dinge,

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sprachlich, mittels Aussagen-, Diskursanalysen zu fassen und sie im selben Zug qua Machtanalysen politischer Problematisierung gegenüber zu öffnen. Bei gewichtigen Differenzen in der Gesamtarchitektur könnte man hier z.B. Foucaults Dispositiv-Analysen nennen – Analysen, die u.a. an spezifischen Orten von Pontys ›Fleisch‹ jeweils historisch wissensgesättigte Komplexe und deren spezifische (Macht-)Technologien rekonstruieren. In der von Foucault spezifisch rekonstruierten Form waren diese Komplexe jeweils historisch in der Lage, lebensweltlich relevante Orte, Mitten/Kreuzungen (zwischen Subjekt und Subjekt, aber auch Welt, Selbst und Gattung) hegemonial zu (re-)codieren. Eines dieser machtvoll geschaffenen Sicherheits-Gefüge, Dispositive zeichnet ein ›panoptisches‹ Diagramm, es wächst sich zu einem modernen Einsperrungssystem aus. Ein anderes orientiert rekonstruktiv Herkünfte und Ziele menschlichen Verhaltens nicht mehr ›pastoral‹, sondern rationaler, durch eine druck-/dampfmechanische Hinterwelt, durch neue Meistersignifikanten Sex/Sexualität hindurch. In beiden Fällen sind die Vollzüge von Foucaults Dispositiv-Analysen Versuche, auf rekonstruierten Feldern und deren Technologien reflexiv Residuen zu (re-)implementieren von ›offenerer‹ Reversibilität – durch spezifisch problematisierende Wendungen hindurch. An welchen ›Kreuzungspunkten‹ setzen neuere moderne Dispositive und ihre Wissensformen, Technologien an – mit welchen Macht-Effekten, welchen neuen epistemischen Problemhorizonten? Genug also der grundsätzlichen methodischen Reflexion bestimmter Hintergründe von ›Geschichten der Gegenwart‹ und ihrer ›Gegenstände‹. Ein Schritt näher auf den Vordergrund zu – und dort noch einen kleinen Schritt zurück vom konkreten Entstehen neuer ›Mitten‹ – von der später zur Disposition stehenden ›kybernetisch-informatischen‹ Sache, von spezifischen Kreuzungen von Diskursen und Praktiken, von ihren bis in humane Selbst- und Weltverhältnisse hinein ›reversiblen‹ Metaphoriken. Noch einige Klärungen, bevor dann eine detailliertere, u.a. diskursanalytische Untersuchung, ›Ausstülpung‹ versucht wird von neuen, durch diskursive Sedimentation und ›Materialisierung‹ eröffnete, strukturelle Grundlagen und Pragmatiken einer neuartig kontrollierten, lebensweltlichen ›Überkreuzung‹ im Rahmen eines Nachkriegsdispositivs der Kybernetisierung. Einige Begriffe sind noch offen, einige bestehende Zugänge und Analyseweisen im Gebiet noch zu klären. Neben dem Computer ist auch die Kybernetik in der Forschungliteratur kein Neuland.

den Dingen und den Worten (Foucault 1966, hier wird Sichtbarkeit/Sagbarkeit stärker historisch-disjunktiv als bei Merleau-Ponty entwickelt; zur Gegenüberstellung ›guter‹ menschlicher Ambiguität Merleau-Pontys mit Foucaults Konstatierung einer ›schlechten‹ der modernen ›empirisch-transzendentalen Dublette‹: Waldenfels 2000: 20), könnte u.U. auch, subtiler, im unveröffentlichten, 4. Band von Sexualität und Wahrheit, Geständnisse des Fleisches fündig werden.

»Die heutige Welt besteht aus BotschaftenCodes, Informationen. Welches Skalpell wird morgen unsere Welt zerteilen, um sie in einem neuen Raum von neuem zusammenzusetzen? Welche neue russische Puppe wird in ihm zum Vorschein treten?« FRANCOIS JACOB, 1970

»Es ist interessant zu sehen, wie jedes Werkzeug eine Genealogie hat« NORBERT WIENER, 1951

III. Dispositiv und Analyse »Eine Prognose stellen, heißt bereits die Situation verändern, der sie entspringt.« R. KOSELLECK »Könnten wir [...] nicht die Gesellschaft untersuchen [...] mit einer ganz neuartigen Genauigkeit und Intensität? Um daraus neue Prinzipien abzuleiten [...] wie von einem alles durchforschenden, einem alles durchdringenden, einem wissenschaftlichen Auge?« GIBSON/STERLING: DIFFERENCE ENGINE

Die zwischen 1940 und 1950 entstehende Kybernetik ist in ihrem Aufkommen von neuen Technologien und Artefakten begleitet – und umgekehrt. Immer weitflächiger kann u.a. der Einsatz von Maschinen beginnen, die später als Computer bezeichnet werden. Seinerzeit entstehen, so die These, Einsätze und Instrumente eines sich in ersten Zügen ausfaltenden, neuen Dispositivs. Insb. in epistemischen Implikationen und Effekten sind hierbei bestimmte Dynamiken um kybernetische Kristallisationspunkte herum politisch u.a. auf eine Weise, die Michel Foucault unter das Stichwort ›Biomacht‹ gebracht hat. Die folgende Nutzung der Begriffe ›Dispositiv‹ und ›Biomacht‹ als analytische Werkzeuge ermöglicht die weitere Eingrenzung zu untersuchender Gebiete und deren Fassung. Das wiederum ermöglicht der Thesenentwicklung zugleich eine zeitgenössische Reartikulation der Begriffe. Der Wissens- und Praxistyp Kybernetik stellt kein originär neues Untersuchungsgebiet dar: Deutlicher oder unausdrücklicher hat sich daran bereits eine ganze Generation von Philosophen abgearbeitet – angefangen bei Martin Heidegger (u.a. Heidegger 1954), Arnold Gehlen und seinem Schüler Gotthart Günther, über Max Bense und Günther Anders (Anders 1954,

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1980)1 bis hin zu einigen Überlegungen u.a. Hannah Arendts. An diese philosophischen Reflexion, die das Aufkommen wirksamer, kybernetisch inspirierter Praktiken und Diskurse begleiten, grenzen zudem Untersuchungen an wie die bis heute wegweisenden historischen Metaphern-Studien Otto Mayrs. Sie rekonstruieren eine technologische Filiation rückgekoppelt geregelter Maschinen bis zurück in die Antike (Mayr 1968) und leisten zugleich deren historisch-politische Kontextualisierung gegenüber liberalen oder autoritären, frühmodernen politischen Systemen. Das geschieht nicht zuletzt mittels kontrastiver Rekonstruktion der Technikmetaphern Waage und Uhr (Mayr 1986, vgl. auch HWP 5: 792). In einem zeitlichen Abstand von 50-70 Jahren wird das Gebiet der ersten Kybernetik abermals philosophisch und zugleich kulturwissenschaftlich bearbeitet. Bestimmte Hintergrundkoordinaten hierzu schlägt z.B. Pierre Levy im eigenen Vorgehen vor, wenn er in seiner historiographischen Untersuchung der Genese ›des Computers‹ Umwidmungsereignisse betont (vgl. Levy 1994). Kurz darauf gibt Michael Hagner allgemeiner epistemischen Untersuchungen die Fragerichtung auf, »in welchen historischen Konstellationen sich Spannungsfelder unterschiedlicher Praktiken, Theorien und Dispositive ergeben, wo bestimmte Barrieren errichtet, eingerissen oder gar nicht erst zugelassen werden. Genauer: in welchen Wissensräumen« die jeweils zu untersuchenden ›Gegenstände‹ »ins Licht gerückt, mit Bedeutung befrachtet, metaphorisiert oder als Chiffre für bestimmte Leitvorstellungen bzw. Programme instrumentalisiert« werden (Hagner 1999: 9). Durch eine Akzentuierung von Umwidmungsereignissen innerhalb bestimmter historischer Dynamiken können historiographisch also auch spezifische Implementierungen, Nutzungsweisen, Readjustierungen, Interdependenzen betont

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Anders begreift die von ihm geschilderte Antiquiertheit des Menschen auch ausgehend von der computing machine. In ihrem Kontext beschreibt er spezifische ›Matrizen‹, ihre prägende »Vorbereitungsleistung« (Anders 1980: 169) als »apriorische Bedingungs-Formen [...] nicht nur [...] der Anschauung [...] des Verstandes [...] des Gefühls [...] sondern auch des Benehmens und Handelns.« (ebd.): Geformt wird ihm dadurch »unsere gesamte Praxis überhaupt« (ebd.: 164). Jenseits einer Beschreibbarkeit durch den historischen Materialismus (ebd.: 6/7) entsteht ein »Makrogerät«, eine »Universalmaschine« (ebd.: 69, 110, 114) mit einer eigenen, prägenden Form des »Konformismus« (ebd.: 269): »Wem die präparierte Welt im flüssigen Zustand durch die Kehle fließt, wer nicht mehr zu schlucken braucht, der ist bereits so tief chloroformiert, daß keine Empfindung von Unfreiheit mehr in ihm aufsteigt. Beraubt sind wir eben des Gefühls des Beraubtseins – und dadurch scheinbar frei. – [...] wären wir in der Lage, die absolute Abhängigkeit von der bearbeiteten Welt, in der wir bis dahin gelebt hatten, wirklich zu durchschauen, wir würden wohl in Panik geraten: in die Panik des Zahnlosen, der, gewohnt an die Fütterung mit Brei, sich zwischen Broten, Äpfeln und Salamis dem Hungertode gegenübersähe.« (ebd.: 55). Vgl. zu Maschinenstürmern im spezifischen Kontext ebd.: 62f.

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werden – gesetzt den Fall, sie lassen sich historisch vorfinden und rekonstruieren. Insofern muß der untersuchte Gegenstand also nicht allein historischen Großlinien, quasi determinativen Entwicklungen folgen, müssen diskursive Dynamiken nicht notwendig allein in eine bestimmte Richtung deuten. Das sollte in Untersuchungen berücksichtigt werden, wenn es jeweils vorliegt – denn es braucht keine Notwendigkeit darzustellen. Insofern kann dann selbst eine (›post-)strukturalistische‹ Philosophie2 in bestimmte Verbindungen zur Kybernetik gebracht werden. Affirmative Anschlüsse und Nutzungsweisen bestimmter kybernetischer oder kybernetikaffiner Begriffe können disjunkt von Vermutungen neuer, dominanter epistemischer Bedingungen im kybernetischen Gefolge behandelt werden. Es werden Theoriebildungsprozesse denkbar, die sich partiell inspiriert auf Kybernetik stützen, deren neuen Statute aber auch teilweise gezielt umfunktionieren, anders einsetzen – und sie damit begrenzt ›gegen den Strich bürsten‹ können. Kybernetikaffine begriffliche Instrumente, ihre spezifischen Reproduktionsweisen des Übertrags vorherrschender Regularien können bestimmte genealogische Linien auch schlicht kreuzen, für Neuausrichtungen öffnen, ihre reflexive Rückwendung ins Herkunftsgebiet vorbereiten bis hin zur Eröffnung neuer identitätspolitischer Ziele auf entstandenen Feldern und ihren politischen Dynamiken.3 Zu voreilige Überlegungen im Zusammenhang

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Das ›post-‹ im Namen der – durch jeweils artikulierte Pluralitätsansprüche streckenweise illegitim singulären – Benennung Poststrukturalismus bedeutet, positiv betrachtet, neben einem ›nach‹ im Sinne zeitlicher Sukzession auch bestimmte Gesten der Theoriebildung: Kritische Überschreitung der Vorgänger, zugleich eine politische Programmatik der Subversion, der Diversifizierung, Umwendung des Vorhergehenden und ihrer Gegenwart. Einem undifferenzierten Allgemeinbegriff Poststrukturalismus fehlt allerdings oft Trennschärfe, z.B. gegenüber ›Konstruktivismus‹. Den sog. ›radikalen Konstruktivismus‹ in Tradition Försters und sozialkonstruktivistisch-poststrukturalistische Theoriebildungen verbindet kaum eine Grundaxiomatik, wenn man linguistische Traditionen mit einbezieht. Vgl. zur produktiven Auseinandersetzung mit postmodernen Identitätspolitiken unter besonderem Augenmerk auf Informatisierungsphänomene: Castells 2002. Jüngst wird im Feld allgemeiner eine »co-construction of users and technologies« (Oudshoorn/Pinch 2003: 21) proklamiert, insb. von »user identities, including gender, age, race, and ethnicity« (ebd. 25) von Technologien als »identity projects« (ebd.) – sie können durch active agents stabilisiert und destabilisiert werden, aber auch konstituiert. Über Beispiele wie gegenderte Rasierapparate hinaus (ebd.: 193ff) sollten im Kontext aber auch epistemische Grenzen und maximale subversive Möglichkeiten zu sondieren sein weitergehender identitätspolitischer Projekte. Castells 2002 hat u.a. mit dem weitgehenden Zusammenbruch des partriarchalen Familiarismus (Castells 2002: 151f, 237ff) einhergehende identitätspolitische Richtungen der Frauenbewegung (ebd.: 141f), Lesben/Schwulenbewegung (ebd.: 217 herausgearbeitet, allgemeiner auch die zur Befreiung von Sexualitäts- und Körperidentität (ebd.: 251ff) und zur Ökologie

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sollten im konkreten Fall mindestens Unterschiede zwischen früher kybernetischer Theoriebildung, jener der Kybernetik zweiter Ordnung und bestimmten (Post-)Stukturalisten detailliert einbeziehen. Die Kybernetik der 1940er Jahre wurde von ersten stark interdisziplinären Diskursen geprägt, sie trug vor 1948 noch keine irgendwie institutionalisierte Theorie.4 Dann allerdings trat sie mit starken Universalitätsansprüchen auf – nicht erst im Kontext einer später entstandenen Informatik.5 Zwischen 1940 und 1952 kommt es im Kontext bestimmter Diskurse zwar nicht zu einem vollständigen epistemischen Bruch, aber zu vielfältig vorbereiteten, stetig sich ausfaltenden, folgenschweren Transformation bestimmter epistemischer Annahmen innerhalb der westlichen Kultur. Aus ersten ›kybernetischen‹ Grundtexten heraus wurden neue Pespektivierungs- und Zugriffsweisen auf organische, technische und später soziale Probleme geboren. Neu relationierte technische, ›organische‹ und soziale Sichtbarkeiten und Sagbarkeiten entstanden, neue atomare Elemente, Kategorialraster und Ganzheiten, neue Ontologien. Ihnen sind mittels neuer Perspektivierungsweisen nicht nur assoziative Möglichkeiten über bisher distinkte ›Schnittstellen‹ hinaus immer schon eingeschrieben, sondern auch integrale Erweiterungen und

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(ebd.: 121f) – und vor allem neuere, explizit informatisch flankierte identitätspolischen Projekte: z.B. die Kommunikationspolitik der Zapatisten als »erster informationelle Guerillabewegung« (ebd.: 80ff), als »Prototypus des transnationalen gesellschaftlichen Netzkrieges des 21. Jahrhunderts« (ebd.: 80) – sowie der Krise 2006 in Chiapa/Mexiko, auf die Castells (vgl. ebd.: 293ff) in ihren kommunikationspolitischen Facetten (Internet-Berichterstattung und Solidarisierung) nicht mehr eingehen konnte, gleiches gilt für die Dynamiken in Lateinamerika einerseits und Afrika andererseits und ihre neuen Medienpolitiken und Kommunikationsformen (vgl. die begrifflich noch unklare, deleuzianische Perspektive Zelik 2006 auf ambivalenten Prozesse in Venezuela). Vgl. zu Umwendungen altbekannter sozialer Bewegungen zu konservativ-reaktionären Zwecken: ebd.: 31f, 57ff, 92ff, 106f, 260ff. Vgl. grundsätzliche Aussagen zu den kybernetischen Macy-Konferenzen: Dort wurde versucht, eine »atmosphere of free-floating security« einzurichten, die grundsätzlich experimentell verläuft: »New suggestions for research and working hypotheses are freely put forward, to be discarded, amended or subsequently tested by experiment.« (Macy 1953: 685). Was angestrebt wird ist ein »experiment in communication, still in progress« (ebd.: 687). Vgl. hierzu auch Holl 2004: 101. Die Gemengelage scheint fast Vorbild für die später durch Charles P. Snow angeregte third culture zu sein (vgl. Snow 1967; vgl. hierzu auch Greschonig 2007; vgl. zum Verhältnis Snows zum kybernetischen Diskurs und seiner Entwicklung zuletzt Hagner 2008: 42f.). Interdisziplinarität ist kein Spezifikum des kybernetischen Diskurses, es geht auf die Erfordernisse im Kontext der Macy-Foundation zurück: Heims 1991: 166. Vgl. zur These einer zweiten Welle der Kybernetik ab den 1960er Jahren: Karl Deutsch : xxi, FN 36. Vgl. zu dieser These implizit: Coy 2004, insb. 258ff.

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Verbesserungen bestimmter Orte und Funktionen. Die perspektivische Anwendung u.a. neuer ›technischer‹ Formate auf vielfältige Problemlagen eröffnete neuartige Sichtbarkeiten, Diskursivierungs- und Optimierungsoptionen vormaliger ›Natur‹. Sie ermöglichte ein sich rasch naturalisierendes Verschieben ehemaliger epistemischer Grenzen. Die Vorstellung eines ›Cyborg‹, eines konkreten cybernetic organism ist ein eher später Effekt des Felds. Zu Beginn wird noch reflexiv, lokal begrenzt an Überkreuzungen gearbeitet von avancierten zeitgenössischen ›Techniken‹ und ›organischen‹ Problemen. Zugleich werden neue Technologien aus neuartig technisch perspektivierten Kontexten abstrahiert, werden schrittweise Axiomatiken gebildet, in der sich ›Natur‹ neu technisiert denken läßt. Insofern brechen die neuen Perspektiven nicht vollständig mit Altem. Kybernetik bereitet sich konkreter zwischen 1940 und 1948 als epistemisch wirkungsmächtiger Diskurs vor aus diskursiven Überkreuzungen und Überblendungen disziplinär vielfältiger szientifischer Diskurse. Einige dieser Diskurse werden im folgenden, letzten Abschnitt des Buchs (IV.) hinsichtlich fundamentalen epistemischen und biopolitischen Facetten untersucht jeweils an einem einflussreichen diskursiven Kontext und seinen neuartigen kybernetischen Technologien. Zugänge zum dort Implizierten schafft der vorliegende Abschnitt (III.) mittels Begriffsklärungen und Durchsicht des aktuellen, konkreteren Forschungsstands. Nach einer spezifisch akzentuierten Rekonstruktion des Biomacht-Begriffs (1.) wird hier der Begriff Dispositiv näher konturiert (2.): In Rekonstruktion der medientheoretischen Nutzung des Begriffs in der durch F. Kittler geprägten technischen Medienthorie, mit kurzem Blick auf die Medientheorie K. Hickethiers (2.1), in analytischer Konkretion des Begriffs, mittels Durchgang durch die Position C. Hubigs, zuletzt durch Rekonstruktion eines begrifflichen Schärfungsversuchs in Technik-Kontexten durch A. Hetzel (2.2). In Folge werden bestimmte poststrukturalistische Theorien hinsichtlich ihrer jeweiligen Aufarbeitung der Felder Kybernetik, Computer und Informatisierung rekonstruiert (3.) sowie zentrale Diskursstellen und Problematisierungsformen vorgestellt von aktuellen, anschlußfähigen, philosophischen und kulturwissenschaftlichen Forschungen auf dem Gebiet der Kybernetik (4.). So gerahmt ist damit dann die Analyse von Vorausläufern früher kybernetischer Diskurse vorbereitet (IV.): ›Cybernetics‹, die Kybernetik der 1940er Jahre, spielt eine Hauptrolle bei der Rekonstruktion des Entstehens eines neuen Dispositivs. Sie wird vorgestellt als Bedingung der technologischen Rekonfiguration epistemischer Kontexte der sciences und zugleich als Movens einer bestimmten Form sozialer Kybernetisierung. Was aber bedeutet es nun, wenn das zu Untersuchende als ›Dispositiv‹ angesprochen wird, als hinsichtlich ›Biomacht‹ gewichtiges Dispositiv? Nachdem ›Biopolitik/Biomacht‹ konturiert wurde, wird ›Dispositiv‹ versucht begreifbarer zu gestalten.

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1. B EGRIFF : B IOMACHT , B IOPOLITIK [M. F OUCAULT ] »Karteien für die einzelnen Volksgenossen (Volkskartei, Gesundheitspaß, Arbeitsbuch usw.) [...] um daraus den Werdegang, das Leistungsvermögen und die tatsächliche Leistung zu erkennen« FRIEDRICH ZAHN,6 1940 »Others have described the laws and institutions of states, much as anatomists describe the skeleton or organs of a body. (we) concern [...] less with the bones or muscles of the body politic than with its nerves – its channels of communication and decision.« KARL DEUTSCH, 1963

Im Unterschied zum eher philosophisch zu verortenden Begriff Biomacht kann der Terminus Biopolitik in jüngster Zeit auch alltäglich begegnen. Weniger dann, wenn er, jetzt positiv, ökologisch besetzt, sogar im Supermarkt begegnet, eher in anderer, fundamentaler Hinsicht, z.B. in Zeitungen. Wie selbstverständlich wird dort noch vor kurzem davon gesprochen, daß der »Bundestag über den Kurs der deutschen Biopolitik bestimmt« (Deutsche Ärzte Zeitung, 21.02.03), »Biopolitiker« eine »deutsch-estnische Biopolitik« entwickeln (FAZ 21.01.2002) – oder gar für eine »europäische Biopolitik« (Körtner 2000) Weichen gestellt werden. Kurzfristig gab es sogar eine Deutsche Zeitschrift für Biopolitik.7 Offenbar werden mit einem solchen ›Biopolitik‹-Term praktische Bereiche einer Politik angesprochen, die auf spezifische Weise Leben (griechisch: bios) im nationalen Maßstab berührt und zugleich an konkreten Individuen praktiziert. Oftmals schwingen dann

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In der Weimarer Republik wurde im Kontext die Wendung geprägt: »Die Polizei, Dein Freund, Dein Helfer«. Hintergrund ist die Einführung einer Kartei, die eine vollständige Übersicht über alle Deutschen ermöglichen sollte. Vgl. Aly/Roth 1983: 44ff, hier 45 sowie 63f. Friedrich Zahn war von 1907 bis 1939 Präsident des Bayerischen Statistischen Landesamtes, ab 1933 Landeswahlleiter und Mitglied des bevölkerungspolitischen Ausschusses und der Gutachterkommission zur Arbeitslosenfrage. Als Herausgeber des Allgemeinen Statistischen Archivs, Vorsitzender der Deutschen Statistischen Gesellschaft, Ehrenmitglied der American Statistical Association, Präsident und Ehrenpräsident des Internationalen Statistischen Instituts, Honorarprofessor für Statistik und Sozialpolitik firmiert er bis heute als Ehrenbürger der Geburtsstadt Wunsiedel: Aly/Roth 1983: 28/29. Konkrete Nachfolger sind Zeitschriften z.B. ›über die neue Bio-Economy‹: http://www.biocom.de/biocom-verlag-gmbh/zeitschriften.html

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wie selbstverständlich Hinweise auf einen begleitenden, ›ethischen‹ Diskurs mit, eine bedachte Reflexion dieser spezifischen ›Politik‹ ist meistens immer schon geleistet. Bis hin zu Problemlagen wie ›Chancen und Risiken‹ neuer biologischer, insb. gentechnischer Forschungszweige, der Reproduktionsmedizin oder der Stammzellforschung: Probleme bestimmter, insb. humaner ›Anwendungsfragen‹ erscheinen auf nationalem Niveau, als pragmatisch behandelbar. Unspektakulär und politisch erwünscht begleiten diese Fragen und Praktiken dann zumeinst abrufbereit zielführende ›bioethische‹ Diskussionen – auch wenn Dispute zum politischen Stellenwert genau dessen weitgehend ausgespart bleiben, politische Charakteristika also hinter pragmatischen Ergebnissen zurücktreten. Denn in Expertengremien werden dann schlicht ›korrekte‹ praxisleitende ›Kompromisslösungen‹ zu bestimmten Fragen produziert, die offenbar gelten können als schlicht im Vorfeld mediierbar. Von bestimmten Arbeitsteilungen ausscherende Kritik, die sich in keiner vorgesehenen, diskursspezifischen Form und ihren Kanälen artikuliert, wird im Effekt medial marginalisiert: ›Öffentlichkeit‹ ist auf vernünftige, ›ethische‹ Form bereits in Diskurs- und Praxiskontinuen repräsentiert. Als Komplement einiger zeitgenössisch relevanten, ›biopolitischen‹ Fragen scheint ›Bioethik‹ die letztlich ›seriösere‹, ›partizipative‹ Möglichkeit zu sein, das Angedachte angemessen reflektieren und kritisieren zu können jenseits ›privater Überzeugungen‹ – um es pragmatisch umsetzbar zu gestalten. Die ›begrenzten Möglichkeiten‹ des Umgangs werden umgekehrt ebenfalls zum Faktum. Verfahren von Kritik und implementierender Praxis haben sich produktiv eingespielt, im Effekt ist eine ›zwanglos funktionierende‹ Alternativlosigkeit wahrzunehmen:8 In Spezialbereichen gibt es Experten, die auch hier um verantwortlichen Umgang immer schon Sorge getragen haben werden. Andere, unscheinbarere, postmoderne ›Lebenspolitik‹ im nationalstaatlichen Maßstab, z.B. jüngere familienpolitische Diskussionen und ihre bevölkerungspolitische Facetten werden heute eher selten ›biopolitisch‹ kontextualisiert begriffen, müssen daher wohl auch nicht ähnlich vorsorgend ›ethisch‹ behandelt werden. Was aber umfaßt der ›Begriff‹ dann überhaupt genau, jenseits des Alltags? ›Biopolitik‹ soll im Folgenden auf einen Begriff Michel Foucaults verweisen.9 Dieser wendet ihn verschoben an, in historischen Untersuchung bestimmter Praktiken und Diskurslinien, die u.a. das erstmalige ausdrückli-

8 9

Vgl. Gehring 2006: 110-127. Vgl. Foucault 1976a , insb. S. 159-173. Foucault führt die beiden Begriffe selbst im Jahr 1976 im Kontext eines Vortrags ein (Foucault 1976c). Im Kontext seiner Vorlesungen ergibt sich das Begriffspaar 1975/76 (Foucault 1976b, insb. 282312), als zweiter begrifflicher Schritt zum Konzept der Disziplinarmacht aus Foucault 1975. Das vorliegende Buch versucht, sich ohne Ausblendung der früheren und späteren Texte Foucaults auf dem Boden der bisherigen Debatte (vgl. bspw. Stingelin 2003; Canguilhem 1974; Jacob 2002, Magiros 1995/2004; Bröckling et al. 2000, zur Einführung: Gehring 2006) zu bewegen.

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che realhistorische Erscheinen des Terms selbst tragen. Denn bereits 1902 wird ›biologische Politik‹ beim Rassenhygieniker Schallmeyer thematisch – und in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts ist in Deutschland bevölkerungsstatistisch von ›biopolitischer Überlegenheit‹ und völkisch von ›biopolitischem Grenzkampf‹ die Rede.10 Mit einem genealogisch imprägnierten Begriff ›Biopolitik‹ versucht Foucault, historisch-politische Linien einer modernen Herrschaftsstruktur, Machtform zu untersuchen und problematisierbar zu machen. Diese Machtform nennt Foucault – zusammengesetzt aus ›Bios‹ und Macht – ›Biomacht‹: Es werden Grundlagen gelegt der Analyse einer »Lebensmacht« (»bio-pouvoir«). Einige Theoretiker entwickelten im Gefolge den Ansatz jeweils spezifisch weiter.11 Auch im subkulturellen Spektrum wird er stärker diskutiert.12 Grundsätzlich kann Foucaults Konzept dazu beitragen, in der Analyse bestimmter politischer Praktiken und Felder oftmals übersehene, wichtige Grundfiguren moderner politischer Praxis herauszuschälen. Denn diese Figuren fanden eine spezifische Hypertrophie im Faschismus, wirkten zugleich weit über ihn hinaus. Foucaults Biomacht-Konzept versucht einen modernen, auch epistemisch weit verwurzelten Verfahrenstyp auf den Begriff zu bringen. Ein moderner Typus von Macht wird thematisch, der u.a. das Phänomengebiet ›Leben‹ hervorbringt, codiert und ausrichtet. Es handelt sich nicht in erster Linie um einen rein ›negativen‹ Machttyp, z.B. einen Ausbeutungskontext oder einen ›verbietenden‹, ›juridischen‹ Praxiskomplex. Vielmehr unterstreicht das Konzept eine ›positive‹ Verfahrensform: Kein Entzug, Mangel, kein untersagendes ›Nein‹, keine Entfremdung sollen hier primär anklingen, keine ›Unterdrückung‹, eher spezifisch problematische Formen eines Ermöglichens und Hervorbringens. Diese moderne Machtform eröffnet Spielräume, vermeintlich natürliche Möglichkeitsräume, generiert Dispositionen u.a. mittels einen neuen Singularterm, einer neuen Singularität in ihrem Hintergrund: Dem Leben. Parallel zu diesem Lebens-Singular rückt Foucault kompatible historische Dispositionen eines Menschen im Kollektivsingular in den Blick – und das Wissen um seine biologische, kognitive und soziale Normalentwicklung. Hierbei weitet er historisch den Blick auf das konkrete ›Wie‹, die Funktionsweise der untersuchten modernen Machtstrukturen. Einige streben, so eine der Hauptthesen, eine Sorge um das Leben nationaler Bevölkerungen und ihren jeweiligen Menschen an: Um sie zu produktivieren, in ihrem Wert zu steigern. Foucault hat historisch ein jeweiliges ›Know-How‹, ein ›Macht-Wissen‹ erschlossen von bis heute weitgehend selbstverständlichen Diskursen, über die sich diese lebensspendende und le-

10 Vgl. zu Begriff und Geschichte Rölli 2002. 11 Vgl. Agamben 2002, Negri/Hardt 2002. 12 Vgl. Jungle World 51/52 ›Vive la Evolución‹; Phase 2., Zeitschrift gegen die Realität. 17/2005 ›Das regierte Leben. Die Bedeutung der Biopolitik nach Foucault‹; Fantomas 2/2002 ›Macht, Leben, Widerstand‹; iz3w 225/1997 ›Biopolitik‹; vgl. auch röteln 2006.

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benshegende, ›menschenfreundliche‹ moderne Macht äußert und vollzieht. Neben der modernen Leitwissenschaft politische Ökonomie und den Human- und Sozialwissenschaften wird dabei auch die Biologie thematisch.13 Im Zusammenhang einer kaum 200 Jahre alten biologischen Disziplin entstand für Foucault eine bestimmte, u.a. epistemisch relevante Matrix der Moderne. Hier nun werden Forscher nicht mehr nur, wie beim historischen Vorläufer, der neuzeitlichen ›Naturgeschichte‹, Lebewesen tabellarisch u.a. als ›lebendig‹ oder ›nicht lebendig‹, durch individuelle Zustandsvariablen notieren. Nach 1800 entsteht als Fundament eines biologischen Lebens eine Substantivierung, ein ›Leben‹ im Singular. ›Leben‹ kann dann als von Individualcharakteristika unabhängige, verdeckt erschließbare (Letzt-)Größe auftreten, erscheint im Hintergrund einer Vielzahl moderner Phänomene, beginnt im Laufe der Zeit zu etwas Ahistorisch-Metaphysischem zu gerinnen. Foucault zufolge schält sich im 19. Jahrhundert in der zeitgenössischen Zellbiologie ein Leittopos des Lebens heraus: Er tritt immer ausdrücklicher als Quasi-Sache auf, als ›natürlich‹ produktive, substantielle, quasi todlose Entität. Diese Quasi-Entität ›Leben‹, obwohl selbst nicht sichtbar, kann von nun an gedacht werden als etwas, das sich einzelner ›lebendiger‹ Individuen bedient, durch Reproduktion deren individuellen Tod überlebt, ihr jeweiliges Milieu durchzieht. Die Eigenschaft ›lebendig‹ wird hier also transitiv insofern, als sie sich substantivisch zu einer singulären Entität verdichtet. Diese Entität wird dann denkbar als sich artikuliernd aus einer Zone jenseits des Seins, durch ihr untergeordnete lebendige Individuen hindurch, z.B. mittels überindividueller, unsichtbarer Funktionen und Normen.14 Diese neuen Funktionen und Normen wurden anfangs durch Aufschneiden von Körperoberflächen in der neuen ›vergleichenden Anatomie‹ entdeckt, stetig sichtbar gemacht (vgl. Foucault 1963, insb. 137f). Durch wissenschatliche, genetische, molekularbiologische Fortschritte hindurch wurden sie später konzeptuell ausdifferenziert, in zuvor noch prinzipiell unsichtbaren Gebieten weiter detailliert. Ein die ganze Lebenswelt durchdringendes ›Leben‹ wird Foucault zufolge also erst in der Moderne geboren, von nun an ›rückdatiert‹. Es wird zur »Wurzel jeglicher Existenz [...] Es gibt Sein nur, weil es Leben gibt, und in dieser fundamentalen Bewegung, die sie dem Tod weiht, bilden sich die verstreuten und einen Moment festen Wesen [...], werden aber ihrerseits durch jene unerschöpfliche Kraft zerstört. Die Erfahrung des Lebens gibt sich also als allgemeinstes Gesetz der Wesen, als das Hervorbringen jener primitiven Kraft, von der her sie existieren. In Beziehung zum Leben sind die Wesen nur transitorische Gestalten [...] Infolgedessen ist [...] das Sein der Dinge Illusion, ein Schleier, den man zerreißen muß, um die stumme und unsichtbare Heftigkeit wiederzufinden, die sie in der Nacht verschlingt.« (Foucault 1969: 340)

13 Vgl. Foucault 1969: 269-366. 14 Vgl. Foucault 1969: 322-342; 425-439.

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Im Zusammenhang einer neuen, biologischen »Ontologie der Vernichtung der Wesen« (ebd.), einer neuen »Metaphysik des Lebens« (Foucault 1969: 383) betritt für Foucault der »Mensch des modernen Humanismus« (Foucault 1975: 181) die Bühne. Er beginnt sich als gewichtiger Teil dieses Lebens-Geschehens wahrzunehmen. Eine neue, u.a. biologisch geprägte Menschen-Form und zugleich eine neue politische Ökonomie beginnt ihr Spiel. Hier erst lernt der »abendländische Mensch [...] allmählich, was es heißt, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann« (Foucault 1976a: 170).

Mit Beginn der Moderne kommt es damit Foucault zufolge auch politisch zu einem folgenschweren Bruch.15 Hier kommt der moderne, abendländische

15 Produktiv gegenüber einer Rückdatierung von Biopolitik bei Agamben 2002 und jüngst Siegert 2006 führen Pechriggl 2006 biopolitische Lektüren in die Antike zurück: »Die Wirklichkeit der Formierung eines kollektiven ›Körpers‹ aus einer Vielzahl von Einzelkörpern erfordert eine Rückwendung auf die Körpermetapher und auf das in ihr transportierte Körperimaginäre, die in der Konstituierung des body politic oder der Politik und des sie konstituierenden Demos seit jeher (d.h. seit seiner expliziten Instituierung in der klassischen Antike) am Werk sind.« (Pechriggl 2006: 160; vgl. auch ebd.: 151-181, insb. 170 zur Konstitution und Topologie eines kollektiven Körpers an einem individuell tugendhaften, männlichen Modell). Neben Platon wird Aristoteles gestreift: Durch die Differenzierung der Begriffe Eidos und Genos (vgl. ebd.: 156f, 159f) wird er Pechriggl zur zentralen Figur einer historischen »Funktionalisierung und Biologisierung der Sexualität wie auch der Geschlechterverhältnisse« (ebd.: 29). Platon wird mit Eugenik in Verbindung gebracht: »Die geschlechtliche Verfasstheit des Körpers wird von Platon mit dem Verhältnis zwischen Körper und Seele, aber auch mit jenem zweischen Körper und Lebendigem (bios), ja dem Über/leben der ganzen Polis verbunden. Hier beginnt der Entwurf zur »Biopolitik« und in Verbindung damit zur Eugenik« (ebd.: 64; vgl. zu Eugenik umfassend und spezifischer Fittkau 2006). Pechriggl gilt die Einheit des politischen Kollektivs, des jeweiligen Volkskörpers als bereits in der Antike über die Einheit eines (männlichen) Einzelkörpers mediiert. Das Kollektiv besteht so einerseits aus egalitären Gliedern, z.B. einem Kriegercorps (Kritias 112b). Oder es gilt, für das vorliegenden Buch zentral, als vom ›Haupt‹ her rational gesteuertes oder regiertes: Der kybernetes, Steuermann tritt erstmals auf. Im Krieger- wie im kybernetischen Modell repräsentiert sich laut Pechriggl eine kollektive Einheit ausgehend von einem homogenen und als Totalität gestalteten Körper unter-/eingeordneter heterogener ›Organe‹, der prinzipiell vom ›Zerreißen‹ bedroht ist. Sie betont keinen bereits in der Antike zur Bildung eines homogenen Kollektiv-Körpers vorfindbaren Akzent der Erziehung eines objektivierten, vernuftgeleiteten ›Körpers‹ (vs. Husserls ›Leib‹)

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Mensch tendenziell ab vom aristotelischen Verständnis seiner selbst als eines zoon politikon. Er gilt sich selbst nun nicht mehr allein als »lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist« (Foucault 1976a: 171). Der moderne Mensch beginnt zum Individuum einer nationalstaatlich begrenzten, produktiv regulierten ›Bevölkerung‹ zu werden: Zum disziplinierten, identiär immer stärker verdateten, kontrollierten und regulierten Subjekt einer Biopolitik, in der er zugleich Objekt ist. Mit dem Erscheinen des Terms bei Foucault wird also eine moderne, nationalstaatlich orientierte Lebens-Politik thematisch, die sich fürsorglich und steigernd dem Leben jedes einzelnen annimmt und zugleich seiner als nun insb. biologisch gefaßtes Lebewesen. Diese Politik beginnt zugleich auf Ebenen auszugreifen, die zuvor biologisch rekontextualisiert wurden – und nun auch ›human‹ bestellbar werden können. In neuen, biopolitischen Kontexten wird der Mensch dadurch zu einem »Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.« (Foucault 1976a: 171).

der Vorbild stehenden Epheben (vgl. ebd.: 176 FN 47). Vielmehr sei dies bereits bei Platon geschehen »im Zeichen der Formierung eines zu Amorphheit und innerem Chaos der Begierden drängenden Leibes« (ebd.). Sie unterbietet damit die Leib-Körper Differenz durch eine für sie historische zentralere: Von »Leib als von Unbestimmbarkeit gezeichnetem Psyche-Soma einerseits, vom Körper als formiertem und begrenztem Soma andererseits.« (ebd.). Allein dieser letzte Körper wird mittels Leibesübungen zur Basis der »Einheitsgesellschaft« (ebd.), während die weiblich besetzte Amorpheit entweder zu verdrängen, abzuspalten oder zu sublimieren (männliche Philosophen) ist. Frauen figurieren als Repräsentanten eines Raums, der von Männer penetriert wird (ebd.: 181). Die formierten Männerkörper, Krieger, führen nach außen Stellvertreterkriege ums Ganze, d.h. auch den ›Randdemos‹, die Frauen und Sklaven. Dies ist Pechriggl zufolge erst im Zuge des Kapitalismus, der Entwicklung der Armee zu einem militärischindustriellen Komplex auf den gesamten Bevölkerungskörper ausgedehnt worden (ebd.: 177). Die Volksvertretung, Stellvertreter nach innen, versuchen hier wie dort stasis, Bürgerkrieg, abzuwenden (ebd.), indem sie sich im Halbkreis wechselseitiger Kommunikation widmen, eine »lebendige (nicht digitale oder sonst wie mediatisierte) Kommunikation in Großgruppen« statuieren, in der »alle einander sehen und hören können« (ebd.: 178). Heute orientiert man sich hier an der Architektur des griechischen Theaters, in der maskiert gesprochen wird, die Bühne als Spiegel der Polis figuriertt: Pechriggl nennt das Theatrokratie. Vgl. allgemeiner zu Schmerz bei Geburt (Frau) und Denken (Mann), bei diesem in Funktion »des Transportmittels in der Metapher« (ebd.: 55). Zentral bei Pechriggl ist ihr Hinweis auf eine antike kybernetisch-politische Körpermetapher: »Das Verhältnis zwischen Kopf und Körper wird auf die Polis vermittels der Analogie des kybernetes angewandt« (ebd.: 171, vgl. auch 23). Die antiken Kontexte werden ihr damit zu historischen Quellen »der sozialen Modelle von Kybernetik und Systemtheorie« (ebd.: 171).

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Umfasst der Term Biopolitik historisch spezifische, moderne politische Praktiken, dann dient der Term Biomacht allgemeiner der begrifflichen Verdichtung einer bestimmten modernen Epochensignatur. Unter BiomachtGesichtspunkten beginnt die Moderne dann, wenn moderne biopolitische Praktiken möglich werden. Das ist u.a. dann der Fall, wenn das Phänomen ›Bevölkerung‹ auftritt, eine weitere moderne Substantivierung dort, wo es zuvor schlicht das Verb ›bevölkern‹ gab. Die neue, nationalstaatlich begrenzte ›Bevölkerung‹ dringt in »das allgemeine Regime der Lebewesen vor« – was für Foucault dann geschieht, als man zu Beginn der Moderne »aufhört, die Menschen als menschliche Gattung anzusprechen, und anfängt, sie die menschliche Art zu nennen« (Foucault 1978b: 115). Bereits ab dem 17. Jahrhundert wurde damit begonnen, Individuen identitär zu erfassen, zu disziplinieren und verwaltungstechnisch akkumulierbar werden zu lassen. Hier beginnt für Foucault eine Dynamik, die Individuen integriert in sog. ›Disziplinarmilieus‹, in strukturelle Vorläufer der späteren Apparate Schule, Kaserne, Krankenhaus etc. Sie werden hier jeweils nach körperlichen Merkmalen und geistigen Leistungen rubriziert, daraus Verteilungen und Normen geschlossen, auf deren Linienführungen dann wieder neuerlich Individuen gemessen werden können, um diese dann ebenfalls, immer genauer, zu produktiven Subjekten werden zu lassen, sie normalisierend zu subjektivieren. Für Foucault stellt das Disziplinar-Geschehen und seine ›Anatomo-Politik‹ die Bedingung dafür dar, Individuen ab dem 19. Jahrhundert in nationalstaatliche Kontexte einzuschließen, mittels erster Vorformen biostatistischen Wissens als lebendig-produktive Bevölkerungspopulation erfassbar, vorhersehbar und planbar zu gestalten – um im Anschluß immer angepaßtere Kontrollen, Überwachungen und Produktivierungen zu ermöglichen. Foucault geht es mit seinen Aussagen zu bestimmten historischen Dynamiken im Vorlauf zum und im Procedere des modernen Nationalstaats um Analysen zur nicht trivialen Frage, »wie wir mittels einer politischen Technologie der Individuen dahin gelangt sind, uns selbst als Gesellschaft wahrzunehmen, als Teil eines sozialen Gebildes, einer Nation oder eines Staates« (Foucault 1982b: 169). Ob soziale Gebilde mit Nation und/oder Staat und deren Apparaten ihre letzte historische Form gefunden haben, lässt Foucault offen.16 Moderne Macht jedenfalls tritt als Biomacht nicht mehr allein wie die souveräne Macht des Absolutismus auf – gegenüber dem Individuum im äußersten Fall mit einem »Recht, sterben zu machen und leben zu lassen« (Foucault 1976: 162) sowie einer ›Abschöpfung‹ seiner Produkte. Vielmehr dominiert im modernen Kontext das politische Leben eine viel subtilere »Macht, leben zu machen und in den Tod zu stoßen« (ebd. 165). Neben produktivierender und typisierend-segregierender Individualisierung geht es um die Schaffung neuer, größerer, produktiver Einheiten und Untereinheiten. Biomacht wird vorstellig als ein Machttyp, der nicht alleine ein politisches

16 Vgl. zur Verbindung mit Kybernetik Tiqqun 2001: 31.

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Gesamt u.a. statistisch erfassen, denken und führen kann. Biomacht wird zugleich vorstellig als Bedingung des Gedankens, das neue Gesamt und seine Individuen sei zum Schutz ›ihres‹ Lebens, ihres sicheren Wachstums, ihrer Reproduktion und Prosperität auf vielfältigste Weise zu regulieren. Aktive Lebensproduktion, -erhaltung, -vorsorge und -wertschöpfung im über Normen vermittelten Medium ›Bevölkerung‹ bildeten für Foucault einen primärer Zug dieser Machtform – passives Sterben-lassen im Medium vereinzelter, für das Gesamt vermeintlich schädlicher, devianter Individuen/Gruppen ihren sekundären Zug. Dieses ›Sterben-lassen‹ muß nicht buchstäblich gelesen werden: Foucault beschreibt unausdrücklich Formen langsamen, sozialen Todes, z.B. mittels sozialer Isolation oder Ausgrenzung. Individuen werden also in der Biomacht-Moderne für Foucault nicht einfach machtvoll ›unterdrückt‹. Sie werden mittels neuer, historisch kontingenter und zugleich immer wieder naturalisierter Normen sozial subjektiviert – z.B. werden sie im Kontext einer weiteren modernen Hinterwelt, der »Metaphysik der Arbeit« (Foucault 1969: 383), zu gefügigen, arbeitenden Lebewesen diszipliniert.17 Diese Disziplinierung gilt als Bedingung, um sie als vertragsfähige Rechtssubjekte individueller, guter Selbstführung nationalstaatlich zu ›führen‹. Geführt nicht zuletzt mittels vielfältiger Formen von Wissen, z.B. Datensätzen im Rahmen der jeweiligen »politischen Arithmetik« (Foucault 1982b: 175). Durch immer umfassender erhobene statistische Daten und ihre Verknüpfung und Hochrechnung wird immer de-

17 Arbeit wird im Kontext, insb. in der Ordnung der Dinge, nicht ausgeblendet. Jenseits des modernen Kontexts sind Max Webers Analysen unerreicht und teilweise mit Foucault zu verbinden. Weber und Foucault sind in Details weniger voneinander entfernt, als angenommen wird und es Foucault nahezulegen versucht. Weber geht es in seiner Analyse protestantischer Sekten weniger, wie Foucault in seiner Geschichte der Sexualität nahelegt, »um eine Moral, die den Körper zu disqualifizieren schien« (Foucault 1976a: 169). Zentral sind ihm Formen des Ethos in christlicher Filiation, inwiefern ein bestimmter, insb. protestantischer Lebensstil zur europäischen Kulturentwicklung beitrug, z.B. qua Arbeitsethos: Der vermeintlich am Gnadenstand orientierten Berufung zur innerweltlichen Askese, unermüdlichen Arbeit jenseits hedonistischer und eudämonistischer Ziele, die historische Genese eines Ethos der Steigerung von Produktivität um der Produktivität willen. Weber rekonstruiert die Genese einer asketischen Orientierung an einem summum bonum, das eine überbordende Kapitalakkumulation bedingt, des »Erwerbs von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens« (Weber 1920: 35). Zugleich die Entwicklung und Verdichtung dessen zu einem kulturellen »Gehäuse« (ebd.: 37), zu etwas, das den Geist des Kapitalismus nicht unerheblich geprägt hat: Weber 1920, insb. 214 (Ethik und Ethos: ebd.: 33; Verinnerlichung der Beichte: ebd.: 123; Ziel eines ›asketischen Ethos‹ der Bildung von Persönlichkeit: ebd.: 117; Beruf als Selbstzweck ebd.: 46, 56). Weber muß also nicht negativistisch gelesen werden, was bereits im Blick auf Webers Methoden deutlich wird.

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taillierter ein dynamisch-lebendiger »Bevölkerungskörper« denk- und vorstellbar. Als neues Quasi-Subjekt kann dieser neue Körper nun ein Recht auf »Sicherung, Erhaltung und Entwicklung seines Lebens geltend machen« (Foucault 1976a: 163). Dieses ›Recht‹ auf Verbesserung allgemeiner Lebensqualität umfasst zuletzt auch ein negatives Recht gegenüber schwer Tragbaren: Einschluß, zuvor vor allem Ausschluss. So kann eine »Macht, die wesentlich die Hervorbringung von Leben zum Ziel hat, sterben lassen« (Foucault 1976b: 300). Hierzu werden Zäsuren nötig innerhalb und außerhalb des Bevölkerungskörpers, die u.a. aus Kolonialismus und Faschismus bekannt sind. Zäsuren insb. zwischen »dem was leben und dem, was sterben muß [...] Schon das biologische Kontinuum der menschlichen Gattung, das Auftauchen von Rassen, [...] die Bewertung bestimmter Rassen als gut und anderer als minderwertig, stellt eine Weise dar, das biologische Feld, das die Macht besetzt, zu fragmentieren; eine Art und Weise, im Innern der Bevölkerung Gruppen gegeneinander auszuspielen und eine Zäsur biologischen Typs in einen Bereich einzuführen, der sich eben als biologischer Bereich darstellt. Dies gestattet der Macht, die Bevölkerung als Rassenmischung zu behandeln.« (Foucault 1976b: 301)

Den Boden des modernen, lebensproduktiven Paradigmenwechsels administrativer Interventionen (vgl. Foucault 1982a) schuf die politische Artithmetik der Statistik, anfangs ganz buchstäblich eine Staatswissenschaft,18 zusammen mit der ›Policeywissenschaft‹, einer ordnenden und Wohlstand mehrenden Führung neu erfassbarer Kollektive mittels ›guter Policey‹. Galt im Kontext ›souveräner Macht‹ das Opfer des souveränen Tötungsrechts noch schlicht als politischer Gegner (»Feind«), wird der Gegner nun statistisch und medizinisch/biologisch sichtbar gemacht (»Kranker«, »Anormaler«). Dies geschieht in der modernen Logik gewissermaßen automatisch: Denn die negative Intervention, Auslöschung von ›Fremdkörpern‹ soll jetzt allein allgemeinen, positiven, z.B. hygienischen Zwecken dienen – einer durch Säuberung vermittelten Lebens-Wertsteigerung eines jeweiligen politischen Gesamts. Moderne, insb. nationalstaatliche Sozialität wird hinsichtlich ihrer mittels Bio-Macht vermittelten Reproduktionsweise als grundlegend und strukturell rassistisch rekonstruierbar: »der Imperativ des Todes kann in das System der Bio-Macht erst dann einziehen, wenn sie nicht nach dem Sieg über die politischen Gegner strebt, sondern danach, die biologische Gefahr zu beseitigen und die Gattung selbst oder die Rasse mit dieser Beseitigung direkt zu stärken. Rasse, Rassismus ist die Bedingung für die Akzeptanz des Tötens in einer Normalisierungsgesellschaft [...] Selbstverständlich verstehe ich unter Tötung nicht den direkten Mord, sondern auch alle Formen des indirekten Mordes: jemand der Gefahr des Todes ausliefern, für bestimmte Leute das Todesrisiko

18 Vgl. Hacking 1990.

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oder ganz einfach den politischen Tod, die Vertreibung, Abschiebung usw. erhöhen.« (Foucault 1976b: 302/303).

Foucault spricht im Kontext eine Art »politischer Grenznutzentheorie« an (Foucault 1982b: 176): Das nationalstaatlich eingeschlossene, moderne Individuum wird abgeleitet aus einer Lebens-Einheit, deren Schutz, Reproduktion und Wachstum es untergeordnet ist, umgekehrt trägt diese schützend um ihren Bestandteil Sorge – oder eben begründet gerade nicht mehr: »In der Sicht des Staates ist der Einzelne nur insofern von Belang, als das, was er tut, eine noch so geringe Veränderung in der Stärke des Staates herbeizuführen vermag, entweder positiv oder negativ. Nur soweit das Individuum in der Lage ist, eine derartige Veränderung zu bewirken, hat der Staat mit ihm zu tun.« (Foucault 1982b: 176).

Gegenüber dem souveränen Tötungsrecht können die das Kollektiv schwächenden, ›gefährlichen‹ Individuen erst dann vollends ausgeschlossen werden oder dem Tod ausgesetzt werden, wenn sie sich kenntlich machen lassen als Gefahr für Sicherheit, Reinheit und Prosperität des jeweiligen Ganzen, als keinen oder negativen Mehrwert fürs Ganze abwerfend. Diese Logik umfasst zuletzt ein offenes oder verdecktes rassistisches Identifizieren von radikal Fremdem als zugunsten der Steigerung des allgemeinen LebensWerts auszuschließende Anomalie – und sei es nur, um eine indirekte Steigerung zu bewirken, die Anwesenheit einer Schwächung auszumerzen. Ein bis zur Duldung des Todes reichendes Ausschließen des Anderen, Fremdem wird positiv begründbar mit Wohlergehen, Gesundheit oder Lebensqualität der Sozialität, des Kollektivs – der Ausschluß-Akt soll diese Größe quantitativ mehren können. Umgekehrt dient auch der wohlfahrtliche Einschluß in das bürokratisch, institutionell und klinisch reglementierte Apparate-System weniger der produktiven Sorge um das Individuum als der Vorhersehbarkeit und Aufrechterhaltung einer bestimmten Form von Sicherheit im kollektiven Maßstab. In Biomacht-Perspektive bleibt zuletzt auch im wirtschaftsliberalen ›laissez faire‹-Vertrauen auf eine ›unsichtbare Hand‹ diese strukturelle Logik identisch. Auch wenn also offenbar bewusst auf konkrete wohlfahrtliche Interventionen verzichtet wird, auf die Existenz selbstregulierender Effekte vertraut wird einer ›natürlichen‹ Pegelung, Reinigung (Foucault 1978b: 69f). Bei allen Spielarten der Lebens-Steigerung steht ein arithmetische Regel im Hintergrund. Eine Rechnungslogik der quantitativen Aufwertung, des Gewinns des Eigenen und seiner ›Gesundheit‹ durch stetiges Verschwinden des Anderen – ausdrücklich z.B. in einem ›negativen‹ Zug auf der Ebene von bereits entsprechend der Produktions- und Produktivitäts-Logik subjektivierten Individuen: »Der Tod des Anderen bedeutet nicht einfach mein Überleben in der Weise, dass er meine persönliche Sicherheit erhöht; der Tod des Anderen [...] wird das Leben allgemein gesünder machen; gesünder und reiner« (Foucault 1976b: 302).

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Foucault thematisiert damit eine mindestens dreifache Produktivierungslogik moderner Macht als Biomacht: (1) Die normalisierende Steigerung, Produktivierung an sich bereits produktiver Prozesse durch individuelle Disziplinierung. (2) Die akkumulative Vermittlung lebensproduktiv subjektivierter Individuen mit einem politischen Ganzen, seinen bestimmten Untergebilden. (3) Die reproduktive Steigerung und Regulation der Produktivität und Lebensqualität des Ganzen und des Einzelnen am Ort ihrer jeweiligen Kreuzung. Sie verlief bisher konkret (a) mittels einem Einschluß in Identitätsformen, die u.a. psychologisch auf eines schlichten ›Sex/Geschlecht‹-Binarismus rückführbar gedacht wurden sowie auf ›die Sexualität‹ und ihren Normen (vgl. Foucault 1976a); (b) mittels in-/direktem, radikalem Ausschluß oder therapeutischer Reintegration von Elementen, die von bisherigen Normen abweichen. Die Individuum, Einheit sowie deren Untergebilde mehrfach kreuzende moderne Logik der Produktion von Lebens-Mehrwert ist auch anderweitig relevant, jenseits ihres bisherigen Movens, einer eher schlichten, insb. sexuellbinären Reproduktionslogik und deren Matrix. Denn diese arithmetische Lebens-Mehrwerts-Logik kann zugleich gelten als Fundament der allgemeinen kapitalistischen Mehrwertproduktion des modernen Nationalstaats (vgl. Gehring 2006: 17-34): »Wenn die Entwicklung der großen Staatsapparate als Machtinstitutionen die Aufrechterhaltung der Produktionsverhältnisse ermöglicht hat, so haben die im 18. Jahrhundert entwickelten Ansätze zur politischen Anatomie und Biologie als Machttechniken, die auf allen Ebene des Gesellschaftskörpers von den verschiedensten Institutionen (Familie und Armee, Schule und Polizei, Individualmedizin und öffentliche Verwaltung)19 eingesetzt wurden, auf dem Niveau der ökonomischen Prozesse und der sie tragenden Kräfte gewirkt. Sie haben auch durch ihr Einwirken auf die verschiedenen Kräfte und durch die Sicherung von Herrschaftsbeziehungen und Hegemonien als Faktoren der gesellschaftlichen Absonderung und Hierarchisierung gewirkt. Die Abstimmung der Menschenakkumulation mit der Kapitalakkumulation, die Anpassung des Bevölkerungswachstums an die Expansion der Produktivkräfte und die Verteilung des Profits wurden auch durch Ausübung der Bio-Macht in ihren vielfältigen Formen und Verfahren ermöglicht. Die Besetzung und Bewertung des lebenden Körpers, die Verwaltung und Verteilung seiner Kräfte waren unentbehrliche Voraussetzungen« (Foucault 1976a: 168).

Mit dieser historischen Zielperspektive der modernen Machtform Biomacht vor Augen, beginnt Foucault zu Ende seines Lebens historisch Gegenkonzepte zu sondieren. Hatte Foucault anfangs bereits das aristotelische Konzept des zoon politikon gegenüber moderner Biopolitik betont, beginnen 19 Ebd. 1975: 181 FN9 nennt auch Kolonialismus, Sklavenwesen, Säuglingspflege.

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sich nun gegenüber der Situation vor Aufkommen des Christentums, in der Antike, weitere, zusätzliche Kontrastfolien deutlicher herauszuschälen. Das Augenmerk liegt insb. auf jeweils anderen politischen Vermittlungsfiguren und ihren spezifischen historischen Formen, um Subjekte zu konstituieren und Individuum und jeweilige Sozialität miteinander zu überkreuzen. Foucault konstatiert z.B. gegenüber der arithmetischen Lebens-Mehrwertslogik der Moderne und ihrer sexuell vermittelnden Assoziationsweisen einen Akzent auf ›ethische Gemeinschaft‹ in der Antike: »Die nach den Kriterien einer Grenznutzentheorie deklarierte Unterordnung des Individuums unter den Nutzen des Staats wird im modernen Staat nicht in Gestalt jener ethischen Gemeinschaft erreicht, die für die griechische Polis charakteristisch war.« (Foucault 1982b: 176)

Der Hinweis auf ›Ethik‹ im Kontext ist keine ›geläuterte Rückkehr‹ Foucaults zu Ethik und Subjekt. Der antike Kontext stellt ihm auch keinen verklärten Alternativhorizont dar (Foucault 1981). Im Kontext beginnen sich Suchbewegungen Foucaults zu entfalten, die historisch auf Möglichkeiten von Alternativen bezogen sind. Sie versuchen im Medium von Geschichte Aktualität problematisierend zu distanzieren, ohne zugleich dasjenige, das die Distanzierung ermöglicht, als Alternative zu empfehlen. Sichtbar wird, daß überhaupt Alternativen möglich sind. Aber die antike Situation zeigt zugleich Kontinuitäten, erste Bedingungen der aktuellen Lage (Foucault 1981: 313). Foucault betont Differenzen zwischen Antike und Moderne insb. bei Prozeduren der jeweiligen Apparate zur Überkreuzung von Individuum und (reguliertem) Kollektiv. Um biopolitisch »Apparate zu bauen, die das Produkt verschiedener Kräfte durch ihre kalkulierte Kombination vermehren« (Foucault 1975: 216) arbeitet die Moderne mit einer historisch singulären Form, einer »speziellen Technik« (Foucault 1982b: 177) – anfangs insb. der »Polizey«. So werden Grundzüge einer Differenz sichtbar zwischen einer um ausdrückliche Vorschriften gruppierten, eher ›codeorientierten Moral‹ (Christentum, später Polizey/Statistik, dann auch Sex/Sexualität) und einer stärker um die Entwicklung von Selbstverhältnissen, von Haltung gruppierten, ›ethikorientierten Moral‹ (›Gemeinschaften‹ der griechische Polis) – eine Leitdifferenz der beiden letzten Monographien (Foucault 1984a, 1984b). Der Hinweis auf die moderne Technik der Polizey exemplifiziert die Differenz von ›Techniken‹ und sie vorschriftsartig anleitenden Diskursen, ›Technologien‹ gegenüber ›Künsten‹. Vielleicht wollte Foucault im Biomacht-Kontext stärker Künste betonen (Deleuze 1991b), insb. einer neuen Form der Sorge um sich20 – und ihrem Komplement, der

20 »epimelia heautou« (Foucault 1981: 591). Zuvor hatte Foucault bereits MeisterSchüler-Verhältnisse disziplinärer Lehre gegenübergestellt (Foucault 1975: 201). Er untersucht sie später in vorbereitenden Linienführungen zur modernen Situation (Foucault 1981). Bei Versuchen konzeptueller Reaktualisierung in der Ge-

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parrhesia (Foucault 1982). Umgekehrt spricht Foucault terminologisch von modernen Technologien, insb. denjenigen der Disziplin (Foucault 1975: 175ff), ihrem konkreter Einsatz bei der historisch ersten Biomacht-Technologie, der disziplinarischen »Technologie des Körpers« (Foucault 1975: 209).21 Für die »Lebens-Macht-Technologien« (Foucault 1976a: 181) der Biomacht zentral sind ihm derart zwei »Pole dieser Technologie« (ebd.: 174) einer jeweiligen »Entwicklungsachse der politischen Technologie des Lebens« (ebd.: 173). Weniger Künste als »Regulierungsverfahren« (ebd.: 174) wurden hier zentral, politische »Techniken, welche den Einzelnen in die soziale Entität zu integrieren« ermöglichen (Foucault 1982b: 177). Sie besorgen ›anatomisch‹ eine »Verwaltung der Körper« als diszipliniert arbeitende biologische Maschinen und ›biologisch‹ die rationalisierende Kontrolle und »Regulierung der Bevölkerung« (ebd.: 166): Eine u.a. »rechnerische Planung des Lebens« (Foucault 1976a: 167) ist dabei Instrument und Effekt. Auf der jeweils »höchsten Stufe« (Foucault 1975: 216) beider Pole, der technologischen Gefüge von Biomacht spricht Foucault ausdrücklich von »Kunst« (ebd.): Militärische Taktik als Kunst des anatomisch-disziplinarischen Kontexts, »Staatskunst« im regulatorisch-biopolitischen Kontext – rationalisiert steuernde Künste fast eines ›steuermännisch‹-leviathanesken Bildes. In beiden Fällen ist sie nicht im jeweiligen körperlichen Nahbereich verortet: Einer Führung seiner selbst. Keine Kunst also, in der individuelles Lebendig-sein, eigener »bios Gegenstand einer techne« (Foucault 1981: 593), einer »techne tou biou« (ebd.: 591) wird,22 was spezifische Formen der Selbsterkenntnis und ihre Artikulation mit einschließen könnte (Antike: Foucault 1982b: 32). Den rationalen Steuer-›Künsten‹ im Kontext Biomacht sind bei Foucault eine Fülle von Technologien untergeordnet zur disziplinierten Hervorbringung und produktiven Integration der Individuen in ein Gesamt. Sie verlaufen mittels Verinnerlichung gußformartiger Stereotype, die selbst technologisch immer differenzierter werden. Im stetig verfeinerten Procedere der modernen Human- und »Sozialwissenschaften« (ebd.: 62) z.B. gilt Foucault bios nur als »Korrelat einer Prüfung, einer Erfahrung, einer Übung« (Foucault 1981: 593): Prüfergebnisse werden als jeweils übergeordnete Wahrheit der Subjekte innerhalb vorherrschender Erkenntniskategorien verortet, zugleich haben die Subjekte dieses Wissen als ›normative‹ Wahrheit zu inkorporieren.

genwart vermutet er die »Unmöglichkeit [...] heute eine Ethik des Selbst zu begründen, obwohl es doch eine dringende, grundlegende und politisch unabdingbare Aufgabe wäre, eine Ethik des Selbst zu begründen, wenn es denn wahr ist, daß es keinen anderen, ersten und letzten Punkt des Widerstands gegen die politische Macht gibt als die Beziehung seiner selbst zu sich« (Foucault 1981: 313). 21 Eine Technologie, die am Individualkörper ansetzt, ihn zellenförmig segregiert, misst, vergleicht, aufteilt, verbessert, neu kontextualisiert, ›bindend‹ nutzbar macht, das Ergebnis als »natürlich und ›organisch‹« (ebd.: 201) vorstellt. 22 Es sei denn für den Leviathan als Subjekt selbst.

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In der Linienführung Antike – Moderne hat für den Foucault der 1980er Jahre also ein kultureller Prozess einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, in dem techne nicht mehr individuellen bios zum Gegenstand hat. Sie dient nun dazu, »Welt« aus einer reinen Denk- in eine durch Wahrheit geprägte Erkenntnisrelation zum Subjekt zu bringen, so daß Welt »aufgehört hat gedacht zu werden, um vermittelt über eine techne erkannt zu werden.« (ebd.) In einer solchen Welt bringen sich nicht mehr Individuen künstlerisch, mittels verschiedenster Schulen einer techne tou biou als Subjekte selbst hervor,23 um u.a. Welt verschieden, plural zu denken. Es entsteht immer stärker eine Welt, in der sich das Subjekt als Erfahrungssubjekt in dem Maß bewährend zu behaupten hat, wie es als Erkenntnissubjekt Welt mittels techne zu etwas macht, das »erkannt, gemessen und beherrscht« (Foucault 1981: 592) werden kann: Subjekte unterliegen als Teil der Welt selbst einer tendenziell ›singulären‹ Wahrheitsdynamik. Sie vollzieht sich in der Moderne u.a. mittels biologischem Wissen um ein weltdurchdringendes Leben.24 Die Integration von Individuen in politische Ganzheiten wird mittels (bio-)politischer Technologien kontrolliert, gesteuert, reguliert, mediiert.25 Die vorbereitenden, in die biopolitische ›Staatskunst‹ hineinwachsenden, ihr untergeordneten Technologien durchlaufen laut Foucault jeweils historisch verschiedene Phasen ihrer Genese, Episoden des Real-Werdens. Holzschnitzartig wird differenziert zwischen anfänglicher Formen als ›utopische‹ Erfindung, einem Stadium pragmatischer Dienste für bestehende Apparate und zuletzt der eigenen disziplinären Instituierung. Sie werden geboren »als Traum oder als Utopie, sodann als Praxis oder Regelwerk für bestimmte reale Institutionen, schließlich als akademische Disziplin.« (Foucault 1982b: 178). Wie am ideelen Diagramm der Disziplin, dem Panopticon (vgl. zu seiner Utopie konkret: Foucault 1975: 288), schildert Foucault durch dieses Raster hindurch z.B. die Entwicklung der überkreuzenden Technologie ›Polizey‹. Sichtbar wird, wie sie bereits im utopischen Stadium »allgegenwärtig« konzipiert ist – genau das läßt ihn einen ›utopischen‹ Charakter zuschreiben. Denn hier soll bereits früh ermöglicht werden, daß möglichst umfassend »Menschen und Dinge [...] in ihrer wechselseitigen Beziehungen wahrgenommen« (ebd.: 179) und »reguliert« (ebd. 181) werden können. Die derart perspektivierten sozialen Beziehungen zwischen Menschen werden

23 Foucault spricht u.a. von ethopoietischen Praktiken (Foucault 1981: 297) und versteht unter Askese nicht Verzicht, sondern den Erwerb neuer Fähigkeiten, eine Aus-Rüstung (Foucault 1981: 393). Vgl. zur Differenz gegen Lacan, implizit: ebd.: 389f; zur Thematisierung »revolutionärer Subjektivität«: ebd.: 262ff. 24 Vgl. zum Verhältnis zum Anderen, das sich aus dem Selbstverhältnis ableitet: Foucault 1981: 250; sowie zum Subjekt/Objekt-Verhältnis auto to auto: ebd.: 78. Vgl. zur Parallele zwischen Selbst- und Naturerkenntnis in einer anderen Naturwissenschaft, bei Seneca: Foucault 1981: 345, 339, 299 (bei Epikur). 25 Vgl. Foucault 1981: 591-594, einschl. Fußnoten und Vorlesungsmanuskript.

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bereits beim Polizeytheoretiker Delamare, zwischen 1705 und 1719, als ›Gesellschaft‹ (ebd.) bezeichnet. Foucault läßt seine letzten, historisch in die Antike ausgreifenden Untersuchungen anheben mit einer Verortung von Geschlecht und Sexualität, einem Sexualitätsdispositiv (Foucault 1976a: 183) an einer politisch zentralen Stelle, einem »Scharnier zwischen den beiden Entwicklungsachsen der politischen Technologie des Lebens« (ebd.: 173) – zwischen ›Anatomo‹- und ›Biopolitik‹. Die moderne Bio-Machtform wird in ihrer zentralen Reproduktionsform also an einem spezifischen »Kreuzungspunkt von ›Körper‹ und ›Bevölkerung‹« (ebd.: 175) thematisch. Dieser Kreuzungspunkt ist durch diskursive Konstrukte ausgezeichnet – Sex/Geschlecht und Sexualität. Kaum noch Unterdrückungskontext oder juridisch mediiert, ist dieser Kreuzungspunkt nun ein hochgradig machtbesetzter Ort, an dem sich politische Konstrukte (re-)produzieren zugunsten der (Re-)Produktion einer modernen Machtform und ihrer Mehrwertproduktion. Widerstand ist möglich: Der ›Angriff‹ auf diese Machtform soll geschehen mittels Problematisierung der diskursiven Konstrukte, die an ihrem Kreuzungspunkt abgelagert sind. Könnte es in den kumulativen Prozessen moderner Macht-Formen und deren Geschichte weitere, neue ›Kreuzungspunkte‹ geben? Z.B. eine dispositionale Readjustierung entstandener Biomacht, die bisherige steuernde, ›steuermännisch‹-leviathaneske Elemente noch stärker betont, um sie eigens technologisch zu fundieren? Das würde eher auf eine spezifisch verortete ›Kybernetisierung‹ als auf eine neue ›Gouvernementalität‹ zielen. Könnten hierbei – teils gewollt, teils zufällig – zusätzliche hintergründige SingularEntitäten jenseits des Lebens enstanden sein zu dessen Detaillierung, Verbesserung? Könnten neuere, dynamischere, fließendere und zugleich ›höher auflösende‹ Formen dessen entstanden sein, was machtvoll überkreuzt wird – z.B. neue, plurale, teils sub-individuelle Elemente und deren neue politische Einheiten, u.a. communities, die sich auch jenseits bisheriger nationalstaatlicher Ebenen bewegen können? Enstand hierbei etwas wie eine postmoderne ›Kogno-Politik‹, die sich über den Menschen in seiner modern zentrierten Form hinaus bewegen kann? Eine Politik, in dem Maß eine Subsumtion human produktiver, ›künstlerischer‹ Prozesse unter eine neue Akkumulationslogik leistet, als sie gewissermaßen mittels einer ›Cyber-Macht‹ und einem neuen Kontroll-Dispositiv Matrizen bildet epistemischer Kontinua zwischen Menschen und Dingen in ›ihrem Milieu‹? Eine neue Machtform, die sich mittels deren fließender Produktivierung vollziehen kann? Die also neue Bedingungen kreativer Prozessen schafft und zugleich zu kontrollieren versucht?26

26 In dem Maß, in dem derart versucht worden wäre, den kreativen, subversiven ›Mehrwert‹ der Subjektstelle mittels kontrollierter Schnittstellen zur sich restrukturierenden Umgebung hin einzuebnen, hätte deren neue, immer unkörperlichere Warenform sich auf neue Weise ins Eingeebnete einzuschreiben, Kreativität neu-

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Erste Vermutungen. Konkreter, weniger konjunktivisch: Im vorliegenden Buch wird in behutsamer historischer Ausfaltung und streckenweiser Reformulierung einiger Hinweise von L. A. Kay und G. Treusch-Dieter, indirekt von A. Pechriggl und P. Gehring (vgl. differenzierter Abschnitt III.3.ff) u.a. Foucaults Rede vom ›Kreuzungspunkt‹ durch Überlegungen Merleau-Pontys hindurch aufgenommen und in der Analyse medien-, metapherntheoretisch und diskursanalytisch diversifiziert: Eine Hauptthese besteht in der Annahme einer im Gefolge der ›ersten‹ Kybernetik und ihrer Technologien entstandenen, neuen Form dann ausdrücklich steuernder, kontrollierender Macht. Im Folgenden werden bestimmte kybernetische Technologien als Teile neuer epistemischer Techniken und Ontologien hervortreten, die als ›biomächtig gewichtig‹ gelten können. Deren ›utopisches Stadium‹ liegt heute einen produktiven Zeitabstand von rund 70 Jahren zurück. Verfolgt wird die Annahme, daß sich dort erste neuartige, insb. epistemische Grundzüge bilden konnten eines (post-)modernen Dispositivs sozialer Kybernetisierung. Betont wird in diesem ›medialen‹ Kontext ein Dispositiv-Begriff: Das geschieht zum einen, wie im Folgenden zu sehen sein wird, aus dem Grund, daß dieser Begriff jeweils spezifische Widerstandsmöglichkeiten auf den Feldern des Entstehenden nicht ausschließt – kein ›Geschick‹. Zum anderen wird damit im ›medialen‹ Kontext weniger die Möglichkeit markiert, spezifische ›Gouvernementalitäten‹ zu untersuchen. Sondern, stärker ›foucaulttreu‹, ein neues ›Dispositiv der Kybernetisierung‹. Dessen eingesetzte Technologien können jeweils auch historisch und lokal spezifizierbare Gouvernementalitäten umfassen – aber eben auch vieles andere mehr. Die Rede von ›Gouvernementalität‹ ist bei Foucault, ganz entgegen einer bestimmten Episode der Rezeptionsgeschichte, schlicht Teil des Vorlaufs zu den letzten Monographien. Sie ist untergeordnet einer Fragestellung, die in DispositivDiagnosen begründet ihren Ausgang nahm. Sie ist aber vor allem nicht zu trennen von Fragen nach situierten ›Technologien‹, insb. denjenigen ›des Selbst‹. Das umfaßt, davon geht das Folgende aus, Widerstandsmöglichkeiten – auch im Rahmen der Dispositive einer neuen, transformierten post/modernen Machtform. Selbst-›Technologien‹ müssen nicht nur durchzogen sein von und buchstäblich bedingt sein durch, sondern können auch gerichtet sein gegen andere, in neuen Rahmen neu möglich werdende ›Technologien‹, ihre neuen Kontroll-, Steuerungs-, Regulierungs-, ›Regierungsweisen‹, ihre ›neue Ökonomie‹. Ob Widerstand im konkreten Fall allein ›umstülpend‹ verfahren muß, ist eine andere Frage, mindestens aber ist auch er situiert. Um die Analysen im letzten Abschnitt des Buchs weiter vorzubereiten: Wie ist der Dispositiv-Begriff nun genau zu verstehen – und bisher verstanden worden?

en Akkumulationsweisen zu unterstellen versucht. Bedingung und zugleich Vermittlungsinstanz dessen wären kybernetische Diskurse und ihre Sedimente.

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2. B EGRIFF : D ISPOSITIV »Man sieht mit den Beinen.« U. MATURANA »Was Marx sagt, daß die Geschichte nicht auf dem Kopfe geht, ist wahr, doch ist nicht minder wahr, daß sie nicht mit den Füßen denkt. Oder vielmehr: weder ihr ›Kopf‹ noch ihre ›Füße‹ gehen uns an, sondern ihr Leib als ganzer.« M. MERLEAU-PONTY

Der Begriff ›Dispositiv‹ wird seit Mitte der 90er Jahre wieder in philosophischen Kontexten, z.B. der politischen Philosophie, aber auch der Technikphilosophie genutzt. Dem ist eine verstärkte Nutzung in medientheorischen Kontexten vorausgegangen. Der Begriff geht in der heute üblichen Form zurück auf Rezeptionslinien von Theoriebildungsprozessen der 1970er Jahre, insb. um Foucault, Deleuze, Lyotard und insb. Baudry. Hier versuchte man filiative Überschreitungen marxistischer Theoriebildung auf Feldern, die u.a. durch Althusser geprägt worden waren. Während Foucault den Terminus ›Dispositiv‹ noch recht konkret und allgemein einführt und ihn weitläufiger an Beispielen veranschaulicht (vgl. Foucault 1975, Foucault 1976a), konkretisiert Deleuze später Foucaults Begriff in spezifischer Form (Deleuze 1991), nachdem er ihn bereits gegenüber seinem eigenen, ähnlich kontextualisierten Begriff »Gefüge« (Deleuze/Guattari 1980a: 698f) abgesetzt hatte. Dagegen exemplifiziert Lyotard seinen Dispositiv-Terminus eher unausdrücklich durch Sprache und Malerei (vgl. z.B. Lyotard 1982: 55f).27 Aber was ist mit Baudry? Und worum handelt es sich beim ›Begriff‹ genau? Insbesondere gegenüber Rezeptionlinien der Baudryschen Nutzung von ›Dispositiv‹ ist einsichtig und leicht ironisch festgehalten worden, daß es sich teilweise vielleicht auch schlicht um eine kreativ gelöste Übersetzungsproblematik handeln könnte. Ausgehend von vereindeutigenden Übersetzungen habe man damit Wort zuviel Gewicht beigemessen, es zu einem »Lexem als Tabula rasa« dekontextualisiert und »mit enormer Aura belegt«. So aber wurde es dann »zugleich völlig leer, unbeschrieben, beschreibbar aber nun doch, Beschreibbarkeit geradezu anbietend« (Dammann 2002: 6). Die Unterstellung lautet, daß das Wort mittels »interlingualer Magie« der Übersetzung erst eine »deutsche Karriere« (ebd.) als Begriff antreten konnte. Prinzipiell deuteten originalsprachliche Funde nicht in Richtung eines Begriffs, sondern hätten je nach Kontext eine nicht auf einen eindeutigeren Nenner zu bringende Bedeutung: Anlage, Apparat, Vorrichtung, Abfolge, Trick. Dennoch wird konstruktiv geschlossen: »das Wort ist nicht mehr auf-

27 Bezeichnenderweise geschieht das am Beispiel »Schaltkreis«: ebd.: 56.

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zuhalten.« (ebd.) Mit Einschränkungen ist diesem Befund zuzustimmen: Im Folgenden ist nicht eine ›eigentliche Bedeutung‹ des Begriffs zentral, eher wird er ausgehend von tradierten diskursiven Linien hervortreten und deren Nutzungsweisen. Durch Oliver Marchart, teilweise Hartmut Winkler wird jüngst in den fraglichen Texten u.a. Baudrys weniger an einem Terminus Dispositiv, als an einem allgemeineren Apparat angeschlossen, der sog. Apparatus-Theorie der 1970er Jahre. Abermals im Rekurs insb. an Althusser wird damit wieder stärker politische Relevanz im Kontext stark zu machen versucht (vgl. Marchart 2005; Winkler 2003). Die teilweise technischen Konnotationen des Begriffs Dispositiv (Apparat, Vorrichtung, Anlage) spezifizieren einen wichtigen Kernbereich und verweisen auf grundlegende Theorieentscheidungen der diskursiven Kontexte, aus denen er zu Beginn seiner Geschichte hervorging. Foucault, Deleuze und Lyotard nutzten hier nicht nur technische Begriffe zur Beschreibung sozialer Sachverhalte, sondern nahmen zudem eine (sozial-)technische und -technologische Struktur von Sozialität überhaupt an. Eine Struktur, die nicht an das alltägliche Verständnis von Technik und Technologie anschloß, es vielmehr umgekehrt in einem neuen politischen Horizont zu problematisieren versuchte (vgl. Foucault 1982b: 177, Deleuze 1986, passim). Eine zu untersuchende soziale Struktur konnte damit vor jeder ›konkreten‹ Technik und Technologie, ihren Instrumenten und Nutzungsweisen, immer bereits als ›soziale Maschine‹ gelten. Die jeweilige historische ›Maschine‹ ist hierbei zugleich auf konkrete Techniken und Technologien rückverwiesen, im Wechselspiel zu entschlüsseln. Wenn sie damit forschungsleitend sozialen ›Maschinen‹ nachgeordnet gedacht werden, lassen sich umgekehrt spezifische historische Konstellationen erst ausgehend von ihnen rekonstruieren. »Die Maschine bildet ein Nachbarschaftsgefüge zwischen Mensch, Werkzeug, Tier und Ding. Sie ist diesen Elementen gegenüber das Primäre, da sie die abstrakte Linie darstellt, die durch jene hindurch verläuft und sie in einen gemeinsamen Funktionszusammenhang bringt. Sie ist (…) stets ein mehrere Strukturen Übergreifendes. Kraft ihres Anspruchs auf Heterogenität der Nachbarschaftselemente weist die Maschine über die Strukturen mit deren Voraussetzung minimaler Homogenität hinaus. Es existiert allemal eine gegenüber den Menschen und den Tieren primäre Gesellschaftsmaschine, die jene in ihr ›Phylum‹ einfügt. […] Die Maschine macht das Werkzeug erst zum Werkzeug, nicht umgekehrt das Werkzeug die Maschine. Jene angebliche Entwicklungslinie vom Menschen zum Werkzeug, vom Werkzeug zur technischen Maschine ist bare Einbildung.« (Deleuze 1980a: 113).

Zur Analyse einer kybernetisch imprägnierten, politischen ›Maschine‹ der Gegenwart muß also offenbar auch auf einige kybernetikaffine Konzepte zurückgegriffen werden, die ein Umfassen und Durchdringen der ehemals distinkten Grenzen zwischen Mensch, Tier und Maschine überhaupt erst ermöglichten. Das Verständnis der spezifischen, insb. kybernetischen Sozi-

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altechnologien28 wiederum wird dadurch aber ebenfalls möglich, also ausgehend von zeitgenössisch avanciertem Herrschaftswissen, von ›konkreten‹ technischen und medialen Ensembles, die weitgehend wertfrei auf ihre sozialtechnologische ›Möglichkeitsbedingung‹ hin zu befragen sind. Dieses ›subversive‹ und modaltheoretische Technik- und Technologie-Verständnis ermöglicht z.B. Foucault seine historischen Analysen historischer Menschen-Formen (Seitter), historisch/kontextuell verschiedener Subjektivations-Praktiken einer »Geschichte der Subjektivität« (Foucault 1981: 391), ihre Ausfaltung in Termen von »Technologien des Selbst« (Foucault 1982b). Der Dispositiv-Begriff hat nicht nur eine jeweilige technisch/technologische Komponente, die sich z.B. über die Maschinen-Konzepte Deleuze’ herschreiben läßt. Über seinen Vorläufer ›episteme‹ – er gilt als Spezialfall eines Dispositivs – verweist er auf weitere, gebrochene Filiationslinien. Zum Einen auf die Theorie der ISA, der ideologischen Staatsapparate seines marxistischen Lehrers Althusser (vgl. Althusser 1977). Dessen Konzepte werden bei Foucault konkretisiert, diversifiziert, pluralisiert und über staatliche Kontexte hinaus anwendbar, um neuere Konstellationen zu fassen (vgl. insb. Foucault 1978/1979). Wenn man wollte, könnte man Foucaults Begriff andererseits auch an Heideggers Rede vom »Ge-Stell« anschließen lassen (vgl. Heidegger 1955) – dann aber möglichst konzeptuell und politisch sensibilisiert, gewendet, plural diversifiziert, historisch de- und respezifiziert (Rheinberger 2006b).29 Mit dem (Un-)Wort »Ge-Stell« ist bei Heidegger eine technische Epoche eines bestimmten historischen ›Seinsgeschicks‹ spezifisch ›kritisch‹ benannt. Auch in ihr spielt Kybernetik, wenn auch anders gewichtet, keine unerhebliche Rolle.30

28 Foucault spricht heuristisch gleichberechtigt von Technologien der Produktion und der Zeichensysteme, der Macht und des Selbst: Foucault 1982b: 26. 29 Vgl. Foucault 1981, Deleuze 1986: 159f; medientheoretisch: Dienst 2006; zu Heideggers Technikphilosophie/-kritik einführend: Langenegger 1990: 181-236. 30 Vgl. die Umkehrung subjektphilosophischer Selbstverständlichkeiten Heideggers: »die Auffassung […] daß die Technik in ihrem Wesen etwas sei, was der Mensch in der Hand hat […] ist nach meiner Meinung nicht möglich. Die Technik in ihrem Wesen ist etwas, was der Mensch von sich aus nicht bewältigt. […] Die moderne Technik ist kein ›Werkzeug‹ und hat es auch nicht mehr mit Werkzeugen zu tun.« (Heidegger 1966: 669). Die Kybernetik spielt als berechnendes Denken im Kontext insofern eine zentrale Rolle, als in ihr unausdrücklich Metaphysik und damit der Humanismus einen hohen Wert erhalten. Die Kritik Heideggers an der Kybernetik wird heute z.B. von Dupuy wahrgenommen, der mittels Parallelisierung mit Technoscience fast politische Rezeptionslinien für Gouvernementalitätstheoretiker eröffnet: »Cybernetics is precisely that which calculates – computes – in order to govern, in the nautical sense.« (Dupuy 1994: 17). Die von Heidegger vorgegebenen Richtung, Kybernetik als Klimax (Ge-Stell) von Metaphysik zu erkennen, wird Dupuy zufolge in ihrer Ambiguität gegenüber

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In beiden Linien gibt es zuletzt Ähnlichkeiten in der Rezeption, z.B. hinsichtlich Fragen nach dem Stellenwert individueller Einflußmöglichkeiten auf das jeweils Geschilderte, die jeweilige Rolle des Menschen im Kontext,31 Fragen nach der Verortung von spezifischen Typen unterwerfender Subjektivierung (Althusser 1977). Die Frage nach dem Stellenwert des Subjekts, auch beim Konzept Dispositiv, ist aktuell zugleich eine zentralere Streitfrage in Zusammenhängen seiner Aufnahme z.B. in der Medientheorie und den neuen Fragekomplexen der ›cultural studies‹. Der ›Begriff‹ sowie Nähen und Differenzen seiner konkreten Nutzung werden im Folgenden im Durchgang durch einen zentralen Diskurs der deutschen Medienwissenschaft und einen weiteren, medienwissenschaftlichen Diskurs weiter konturiert. Beides bereitet eine analytischere Begriffsrekonstruktion vor und einen ausdrücklichen Anwendungsversuch auf technische Felder.

2.1 Dispositive der Medienwissenschaft [F. Kittler, K. Hickethier] Friedrich Kittler genießt insb. nach zwei wichtigen Monographien (Kittler 1985; Kittler 1986) spätestens seit Mitte/Ende der 1980er Jahre eine zentrale Stellung im deutschsprachigen medientheoretischen/-wissenschaftlichen Bereich.32 Seine Schriften führten verschiedene diskursive Elemente verschiedener Autoren (u.a. Foucault, Derrida, Lacan, McLuhan, Schmitt, Heidegger, Nietzsche) unter Mediengesichtspunkten zusammen. Ihm sind glänzen-

einer Destabilisierung von Anthropozentrik weitergeführt durch Philippe Breton, Jean-Clade Beaune und Gilbert Hottois, u.a. in Tradition Elluls: ebd.: 109. Vgl. zu Heideggers und Elluls Technikkritik, einführend: Langenegger 1990. 31 Heidegger weist nicht nur stereotyp auf einen Prozeß wachsender Rettungsmöglichkeiten im Angesicht wachsender Gefahren hin (Heidegger 1955: 35), sondern auch auf eine gegenseitige Bedürftigkeit von Gestell/Technik (Sein) und Mensch: »Das Walten des Ge-stells besagt: Der Mensch ist gestellt, beansprucht und herausgefordert von einer Macht, die im Wesen der Technik offenbar wird. Gerade in der Erfahrung dieses Gestelltseins des Menschen von etwas, was er selbst nicht ist und was er selbst nicht beherrscht, zeigt sich ihm die Möglichkeit der Einsicht, daß der Mensch vom Sein gebraucht wird. In dem, was das Eigenste der modernen Technik ausmacht, verbirgt sich gerade die Möglichkeit der Erfahrung, des Gebrauchtseins und des Bereitseins für diese neuen Möglichkeiten. Zu dieser Einsicht zu verhelfen: mehr vermag das Denken nicht, und die Philosophie ist zu Ende.« (Heidegger 1966: 672) 32 Vgl. u.a. die wichtige Streitschrift Kittler 1980, die im Kontext akademischer Unruhen um die antihumanistische, poststrukturalistische Gefahr Stellung bezog.

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de Arbeiten geglückt,33 deren diskursives Amalgam sich in den 1990ern verbreitert hat zu einem sich bis heute ausfaltenden Diskurs (vgl. paradigmatisch Kittler/Bolz/Tholen 1994). Bis Ende des Jahrtausends entstand damit u.a. die diskursive Schule der »technischen Medienwissenschaft« (Maresch 1999: 269). Wahrscheinlich durch ihre Produktivität an zentralen Orten deutscher medienwissenschaftlicher Institute und einigen Spezifika des Diskurses wurde sie von bösen Zungen bereits mit dem Etikett »KittlerJugend« versehen.34 Bis heute haben sich jedoch, immer eigenständigere Diskursstränge entfaltet, z.B. in neueren Texten Bernhard Siegerts (Siegert 2003, Siegert 2006), die zum aktuellen Zeitpunkt retrospektiv nur noch ausschnitthaft, auf die 1980/90er Jahre bezogen, von einem homogeneren Diskurs sprechen lassen. Heuristisch lassen sich insb. für diese Zeit Eckpunkte eines »Medienmaterialismus«-Diskurses (Mersch 2006: 190) herausarbeiten. Im ersten Schritt wird im Folgenden versucht, einige zentrale Topoi des Diskurses selektiv zu umreißen, um sich seinem spezifischen DispositivBegriff zu nähern. Ein Zentrum des Diskurses bildet (1) eine grundsätzliche, foucaultaffine Abweisung (a) anthropologischer Fragestellungen: Insb. jede Rede von »Dem Menschen« im Kollektivsingular wird mit negativem Vorzeichen versehen. Dieses Spezifikum ist (b) kontextualisiert in medialen Zusammenhängen sog. Aufschreibesysteme – einem Konzept, das offenbar Foucaults bereits anthropologiekritischen Konzepte, z.B. Diskursanalyse, seine Rede von Dispositiven und Epistemen, transzendental zu überbieten, besser: zu ›unterbieten‹ versucht.35 Denn mittels der Annahme (c) noch fundamentalerer, technisch-materieller (Medien-)Systeme soll das diskursiv-epistemische Geschehen Foucaults ein weiteres mal einklammert sein, auf spezifische Weise einer Regulation unterliegen.36 Besonderer Stellenwert kommt hierbei

33 Erinnert sei nicht zuletzt an die überzeugende Arbeit zur ›Lautiermethode‹, der Abwertung der Dialekte, einer Norm-Entwicklung deutscher Hochsprache, die um 1800 ›neuen Müttern‹ entstehender Kernfamilien zugewiesen wurde, um Phonemaussprache zu normalisierenden. Sie wird vorgestellt als Vorbereitung der deutschen Romantik, als notwendiger, fundierender Gegenpol des patriarchalen Beamten-Staats. U.a. diese Analyse ist eingebettet in eine Untersuchung der ›Aufschreibesysteme‹ von 1800 und 1900: Kittler 1985, insb. 37-88. 34 Vgl. zum Terminus: Bartz 2004. Zur Situierung des Diskurses im medienwissenschaftlichen Kontext, polemisch: Marchart 2004: 36ff. Nicht unerheblich zu den polemischen Spitzen dürfte, neben teilweise ›rechten‹ Bezugspunkten, ein bestimmter, bis 2000 immer lauter werdender Ton beigetragen haben, mancher pluralis majestatis ist aus dem Kontext wenig einleuchtend (vgl. selektiv Maresch 2004: 269, passim). 35 Vgl. zur Konkretion von Foucaults Aussagenanalyse in informatischen Zeiten, zum Einstieg: Kittler 1986: 331f, sowie kürzlich Heidenreich 2004: 117. 36 Umgekehrt wird auch die Disziplinierungsleistung des alten Mediums Schrift (im modernen Kontext der allgemeinen Schulpflicht) erwähnt: Kittler 1986: 17.

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der spezifischen Materialität und Technizität jeweils eingesetzter Artefakte zu, deren jeweiliger Technologie. Artefakte sind derart für diesen Diskurs (d) gerade nicht als ›Black Boxes‹ zu behandeln – sie sind vielmehr zu ›öffnen‹, in ihrer materiellen Funktionsweise jenseits der phänomenalen (Benutzer-)Oberfläche nachvollziehend zu diskursivieren. Dies impliziert ausdrücklich lebensweltlich bekannte technogene Felder und Diskurse, umfasst ›technischen Schriften‹ und ›Technologien‹ im u.a. umgangssprachlichen Sinn, insb. im Bereich der ›neuen Medien‹. Denn in den Artefakten, insb. dem Computer als neuem historischem Leitmedium/›Aufschreibesystem‹, so die implizite These, habe sich (e) bürokratische Praxis auf neue Weise ›kristallisiert‹, mittels Unsichtbarwerden der Kritik entzogen. Aktuelle Machtanalysen hätten diesem Faktum Rechnung zu tragen: Für Kittler hat sich in Computer-Chiparchitektur die »Vorgeschichte der Firmenbürokratie umstandslos in Hardware kristallisiert« (Kittler 1994: 131) so »folgt für die Analyse von Machtsystemen, diese große von Foucault hinterlassene Aufgabe […: Es] sollte versucht werden, Macht nicht mehr wie üblich als eine Funktion der sogenannten Gesellschaft zu denken, sondern umgekehrt die Soziologie von den Chiparchitekturen her aufzubauen. […] Die Macht hat mit ihrem Umzug aus Vorzimmern und Alltagssprachen in den Mikrometerbereich auch die Verfahren und Angriffsflächen verändert« (ebd.: 215)37

37 Vgl. das Verständnis von Mainframes als »geronnene Arbeitssysteme, deren militärische Abkunft auch organisatorisch erkennbar bleibt« (Coy 1994, 26). Sowie jüngst, hinsichtlich des Taylorismus, bis hinein in die Entwicklung der SU: »While, in 1936, Alan Turing adressed the notion of mathematical algorithms with a translation into machines, in the same year Emil Post – an American methematician – chose the metaphor of the assembly line for this process, thus revealing the imbeddedness of formalistic mathematics in the contemporary economy.[…] Vitaljevich Kantorovich developed the cocept of linear programming from a similar context of production automation in factories and in 1939 his book on mathematical methods of planning and organizing industrial production.« (Trogemann 2001: 17). Vgl. hierzu, ein wenig in Tradition Beningers, auch folgendes: »Die Informationsgesellschaft hat also zur primären Technologie der Güterproduktion eine sekundäre Verwaltungs- und Steuerungstechnologie entwickelt. [...] Was das Militär an Kommando- und Kontrolltechniken für sehr komplexe strategische und taktische Operationen entwickelt hat, lässt sich offenbar in geeigneter Weise adaptieren für zivile System der Steuerung und Verwaltung [und die virtuelle Kriegsrealität für die] Unterhaltungsindustrie« (Bernhardt/Ruhmann 1994, 205/206). Vgl. jüngst, etwas ernüchtert, Kittler 2005: 75: »Wir, die wir allen Soziologen zum Trotz keine Gesellschaft mehr sind, sondern eine Symbiose zwischen Leuten und Programmen, Kohlenstoff- und Siliziumsymbionten [...] Aus den Drachenzähnen, die Kadmos säte, sind Menschen hervorgegangen, die gleichzeitig Buchstaben waren.«

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Damit äußert sich subtil eine weitere Stoßrichtung des Diskurses, heutigen ›Sprechern‹ (f) verborgene Rahmen-Regularien wieder transparent machen zu wollen: Im Diskurs scheint sich teils das Anliegen einer (Wieder)Aneignung der Geräte zu artikulieren, gewissermaßen mittels Bewußtwerdung ihrer bisherigen, gesetzten Grenzen, mittels Einblick in unselbstverständliche Vorgeschichten und technisches ›Know-How‹ auf mehreren Ebenen. Eine solche Aneignungsthese wird allerdings niemals direkt thematisch, da sie voraussichtlich in Widerspruch zu recht eindeutigen, ausdrücklicheren Abwehrgesten treten würde gegenüber bestimmten Implikationen dessen (Intentionalität, Reversibilität, Interdependenz). Die unausdrückliche These und Forderung des Diskurses – Geisteswissenschaftler zur Aneignung informatischen Handwerkszeugs, Know-Hows zu bewegen – ist in ihrer Tragweite ohne einige (u.a. aufklärerische) Vorannahmen und Vorentscheidungen schwer verständlich: »moderne Geisteswissenschaftler [müssen] allererst programmieren lernen, jene Sprachenlehre also, die den Diskurs desjenigen modernen Menschen ausmacht, die längst und überall schon funktioniert, ohne dass sie (in der Regel) im mindesten wissen wie.« (Hagen 1994: 157).

In dem Maß, in dem z.B. hier in Anspruch genommene IntentionaliätsReminiszenzen im Diskurs weitgehend verschwunden zu sein scheinen, tendiert er in einiger Nähe zu Hacker-Diskursen u.a. dazu, einige fast verschwörungstheoretische Motive auf (US-)Regierungs-/Militär- und Unternehmensebene (Microsoft, Intel) thesenplausibilisierend einzuflechten.38 Foucault hatte früh versucht, das anthropologische Projekt/Konzept ›Mensch‹ im Kollektivsingular zu demaskieren, ein kollektives Geschichtssubjekt der Moderne, dessen Endlichkeit in endlosem Bezug zu sich selbst steht, der mit seinem Denken zwischen Empirischem und Transzendentalen oszilliert (Foucault 1969: 384). Diese in einer spezifisch herausgehobenen Position stehende Menschenform, die sich selbst immer kleinteiliger zerlegt, wird sichtbar als prinzipiell kontingentes, vorübergehendes Epochenphänomen einer bestimmten modernen Struktur und ihrer epistemischen Konstellation, einer historisch begrenzten, modernen ›episteme‹. Dieser Zusammenhang wird im Diskurs der technischen Medientheorie versucht, (g) unter Mediengesichtspunkten zu reformulieren: Plakativ ausgedrückt, gilt es den Menschen (und seinen ›Geist‹, jeweils im Kollektivsingular) auszutreiben, insb. hinsichtlich ›seines‹ vermeintlich instrumentellen Umgangs mit technisch-medialen Artefakten und Ensembles. Es wird nun umgekehrt davon ausgegangen, daß (h) die medialen Ensembles, ›Aufschreibesysteme‹ den Menschen, seine Sprechhandlungen und ihren Sinn in spezifischer, insb.

38 Es wurde bereits einn »zwischen system-, emergenz-, technologie- und verschwörungstheoretischen Tendenzen hin- und herpendelnde[r] Medien-MachtDiskurs« (Schmitt 1999: 116) ausgemacht.

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mathematischer Form hervorbringen und regulieren: »materiell und standardisiert, unterlaufen Zeichenvorräte tatsächlich den sogenannten Menschen mit seinen Intentionen und die sogenannte Welt mit ihrem Sinn« (Kittler 1986a: 332).39 Hier findet also ebenfalls zugleich ein bestimmter Abschied statt von einer bestimmten Phänomenologie und Hermeneutik. Einige subversive Züge des frühen Diskurses leben aktuell, im Ansatz moderater, kaum situierter,40 in Aussagen Kittlers fort: »Nicht der Mensch, wie Aristoteles lehrte, hat den logos oder Sprache, sondern unaussprechliche Codes haben, über oder ohne den Umweg namens Sprache, unter anderem uns Menschen...« (Kittler 2005: 75).41 Eines der zentralsten medialen Ensembles, die den Gegenstandsbereich des Diskurses prägten, ist (2) der Computer. Er und seine Entwicklungsgeschichte wird vielfältigen archäologischen Untersuchungen unterzogen, wobei für Außentstehende teils recht unzugängliche mathematische Diskurse vom Beginn der Sattelzeit an herangezogen werden,42 angefangen bei Babbage, Boole, Turing, um die zentralen Funktionsweisen des Computers (Digitalität, Sequenzialität, Universalität, Algorithmizität) in ihrem Entstehensprozess zu rekapitulieren und verständlicher zu machen, sie auch jenseits technischer Diskurse kulturgeschichtlich zu verorten. Aus welcher diskursiven Position eine solche Aufklärung geschieht und was sie umgekehrt ermöglicht, bleibt diskursintern im Dunklen – jenseits von Aussagen über den ›eigenen‹ Umgang mit frühen Textverarbeitungen unter DOS oder dem ›Protected Mode‹ auf ›Maschinenebene‹. Am Phänomen ›des Computers‹ entzünden sich teils recht stereotypisierbare Thesen des Diskurses, die sich selektiver wie folgt zusammenfassen lassen: (a) An der Genealogie des Computers zeigt sich eine erneute, überspringende Verdoppelung der empirisch/transzendentale Dublette des Menschen – hin gewissermaßen zu dem Programm und der Maschine. Der Computer verdoppelt in seiner Software/Hardware-Trennung die Kantsche Differenz von (empirischer) Anthropologie und Transzendentalphilosophie. Er treibt das anthropologische Problem der Moderne auf neuer Ebene weiter (Dublettenkontinuierungsthese).43 Es geht dann z.B. Dotzler darum, 44

39 Vgl., traditionell situiert, von Nietzsche her: Kittler 1986a: 305/306f. 40 Die ist Rede von »uns« Menschen, wo zuvor oft »Der Mensch« genannt wurde. 41 Vgl. zu einer Abschwächung: Kittler 2007. Dort wird der gegenwärtige Codebegriff historisch zurückverfolgt bis in die römische Antike. An die vormals prominente Diskursstelle der universellen Maschine scheint nun, wie die Herausgebern anmerken, der »binäre Universalcode unserer Tage« zu treten, »der im Begriff ist, sich [...] nur mit den Ziffern 0 und 1 bewaffnet alle mediale Äußerungen und vielleicht den Menschen selbst zu unterwerfen« (Brüning/Knobloch 2005: 11). 42 Jüngst auch ausdrücklich darüber hinaus, mit Beginn der Neuzeit: Siegert 2003. 43 Auch Claus Pias scheint diese These durchaus nahezulegen: Pias 2004a: 16. 44 Vgl. zum Kontext auch Tholen 1994.

156 | B LACK B OX C OMPUTER »zu sehen, wie bei ihm [Kant, R.B.] eine Form des Wissens erscheint, die das historische Apriori der Wissenschaft Des Menschen und zugleich der Kybernetik ausmacht. Kant und Turing, Transzendentalphilosophie und Kybernetik sind zusammenzubringen, nicht weil auch Kant schon Denken als Datenverarbeitung beschreibt [...], sondern weil sie tatsächlich nebeneinander, d.h. auf demselben Boden sich befinden.« (Dotzler 1987: 155).

Diese epistemische Kontinuitätsthese wird wie folgt plausibilisiert: »Die Transzendentalphilosophie und die Anthropologie Kants stehen in spiegelbildlichem Verhältnis zueinander. Thematisiert jene die oberen Erkenntnisvermögen und setzt Den Menschen als Interpretans ein, so hat diese Den Menschen zum Interpretandum und tritt als ›Vermögenstheorie‹ auf. In der Turing-Maschine […] erfährt dieser doppelte Wissensbezug seine Verdopplung.« (Dotzler 1987: 156).45

In Turings berühmter Versuchsanordnung eines Imitationsspiels, bei dem anhand der Antworten auf durch Menschen gestellte Fragen entschieden werden soll, ob es sich beim Respondenten um einen (männlichen oder weiblichen) Menschen oder einen Gender simulierenden46 Computer handelt, beweist gerade die »Imitierbarkeit die Anwesenheit Des Menschen. Erst die Umkehrung von Turings Versuchsanordnung, erst das Verschwinden Des Menschen verspricht eine Lösung, verspricht sogar – ›eine andere Welt‹« (ebd.: 160/161). Transzendentalphilosophie wird damit zur »Bedingung der Möglichkeit der Kybernetik« (ebd.). Umgekehrt bricht letztere nicht mit der modernen (anthropologischen) Episteme, sondern vertieft sie gewissermaßen auf neue, verschobene Weise.47 (b) Am Computer läßt sich zudem beispielhaft für den technischmedienwissenschaftlichen Diskurs eine angenommene, primär bellizistische

45 Vgl. zur Kontextualisierung der Turing-Maschine: u.a. Kittler 1986: 32f. 46 Auch unabhängig von diesem Diskurs, der das bisher eher ausparte, ist auf geschlechterspezifische Konnotationen des Turingtests in der Forschungsliteratur bisher kaum eingegangen worden. Weniger um Konnotationen, handelt es sich um eine der zentralen Implikation dieses Tests, ob Maschinen denken können: Denn der Test »is played with three people, a man (A), a woman (B), and an interrogator (C) who may be of either sex. The interrogator stays in a room apart from the other two. The object of the game for the interrogator is to determine which of the other two is the man and which is the woman. [...] We now ask the question, What will happen when a machine takes the part of A in this game? Will the interrogator decide wrongly as often when the game is played like this as he does when the game is played between a man and a woman? These questions replace our original, Can machines think?« (Turing 1950) Die geschlechtsspezifischen Konnotationen im Kontext ließen sich mit Kritiklinien wie denen Searles (chinese room) in produktive Verbindung bringen. 47 Vgl. Dotzler 2006: 29-60; mit verschobenen Prämissen: Siegert 2003.

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Herkunft sämtlicher Medien aufzeigen (Kriegsthese): Mediengeschichte wird grundlegend »Kriegsgeschichte […] Die Informatik [...] hat [...] eine knallharte militärische Herkunft.« (Bolz 1994, 15). Der Computer kann herausgestellt werden in »kriegsinnovative[r, r.b.] Funktion« (Tholen 1994, 123), als »nukleare Gebärwaffe« (Hagen 1994, 147), er wird als »plötzliches Produkt des 2. Weltkriegs und der Entwicklung der Atombombe« (ebd.: 140) herausgestellt: »der digitale Computer in der uns vertrauten VonNeumann-Architektur war eine hochgezüchtete Maschine für Rechenaufgaben zur Bewältigung der H-Bombe in Los Alamos, wo Zählfehler tödlich waren.« (Ernst 2004: 61)48 Der Diskurs, der sich insb. in diesem Fall auf herkömmlichere Technikgeschichtsschreibung von Artefakten und ihren Einsatzbereichen stützt, deckt sich zugleich weitläufiger, wenn auch abstrakter und medial affirmativer, mit den Untersuchungslinien computerkritischer Diskurse der Friedensbewegung der 1980er Jahre.49

48 Vgl. hierzu jüngst: »Von Neumann war der operative Mathematiker der Atombombe von Nagasaki. Es war von Neumann, der den komplexen Zuschnitt der hochexplosiven ›Linsen‹ in der ›Fat Man‹-Bombe berechnet hatte – und zwar weitgehend ohne computergestützte Hilfe.« (Hagen 2002: 69). Kriege werden im Diskurs auch zur Erklärung gesellschaftlicher Phänomene herangezogen, z.B. der Emanzipation von Sekretärinnen im vormals männlich dominierten Beruf: Kittler 1986a: 275f. Es finden sich im Diskurs nur verstreut Hinweise auf das, was Foucault Biomacht nennt. Ausnahme, sehr implizit: Kittler 1986: 146. 49 Vgl. paradigmatische Aussagen der Diskurse der deutschen Friedensbewegung zur Informatik: »Fast keine entscheidende Entwicklung der Informatik ist ohne Initiierung bzw. ohne massive Unterstützung durch das Militär zustande gekommen.« (Bickenbach et al. 1985: 3), »Die Informatik wurde militarisiert in dem Maße, wie das Militär informatisiert wurde« (ebd.: 1), »Tatsächlich ist die Informatik nicht militarisiert worden, so wie man etwa ein wildes Pferd zähmt und sich zu Diensten macht. Die Entwicklung der ersten Computer ebenso wie die Ausdifferenzierung einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin erfolgt von Anfang an im Kontext militärischer Anforderungen. Zwar gibt es Hinweise, daß bestimmte technologische Entwicklungen unabhängig vom aktuellen militärischen Verwertungskontext betrachtet werden können, doch zeigt die Geschichte auch, daß dieser Kontext immer wieder durchschlägt und sich prägend selbst bei anscheinend rein technischen Problemen bemerkbar macht. Die Geschichte des Computers kann nicht ohne die Geschichte der militärstrategischen und rüstungstechnologischen Entwicklung geschrieben werden.« (Keil-Slawik 1985: 33). Auch hier wird auf das historische Faktum rückgegriffen, daß »der militärische Einfluß« auf die Informatik »so umfassend ausgeprägt« war und ist, »daß die Wissenschaftlergemeinschaft der Informatiker in Anlehnung an die ›royal society‹ vergangener Jahrhunderte als ›military society‹ charakterisiert werden kann.« (Keil-Slawik 1985: 10). Noch für die Forschung der BRD 1984 gelte: »[…] selbst zivile Forschungsprogramme werden von vornherein auf die jeweiligen militärischen Erfordernisse abgestimmt« (ebd.: 31). Bei beiden Diskursen

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Der Computer-Komplex und ihm untergeordnete Dispositive stellen für den Diskurs (c) eine neue, technische, epistemisch-apriorische Struktur dar (quasi-Determinismusthese):50 Der Computer ist damit, gemeinsam mit anderen »technische Medien [...] das historische Apriori unserer ›geistigen Tätigkeit‹« (Bolz 1994: 16).51 Durch die neuen, technischen Medien werden bisherige Episteme-Konzeptualisierungen hinfällig: Durch »technischen Medien sinken historische aprioris reihenweise dahin« (Kittler 1987: 7). Der Computer rückt im Diskurs damit stetig (d) in eine umfassende mediale Zentralposition ein, indem er sich mittels digitalen Codes sämtliche zuvor separaten Medien einverleibt (Universalmediumsthese): »In der allgemeinen Digitalisierung von Nachrichten und Kanälen verschwinden die Unterschiede zwischen einzelnen Medien. Nur noch als Oberflächeneffekte […] gibt es Ton und Bild, Stimme und Text. […] Und wenn die Verkabelung bislang getrennter Datenflüsse alle auf eine digital standardisierte Zahlenfolge bringt, kann jedes Medium in jedes andere übergehen [...] Ein totaler Medienverbund auf Digitalbasis wird den Begriff Medium selber kassieren.« (Kittler 1986a: 7/8).

läßt sich mit Einschränkungen Schröter zustimmen: »Es stellt sich die Frage, ob und in welchem Sinn die militärische Herkunft einer Technik alle ihre (auch späteren) Einsatzgebiete und Effekte vorbestimmt« (Schröter 2004: 44). Die militärische Herkunft eines genealogisch untersuchten Phänomens ist ein wichtiges Faktum, aber sie determiniert kaum vollständig die weitere Entwicklung, wenn auch bestimmte Perspektiven. Dies muß aber auch nicht umgekehrt zu Dogmatismus ausarten: Kann ein untersuchtes Phänomen ›Massenvernichtungswaffe‹ eine Umwidmung im zivilen Bereich erfahren? Beim Computer wird vorgeschlagen, sich auf diskursive Bezugspunkte im Kontext der Kybernetik einzulassen, um nicht bestimmte neue Perspektivierungen zu übersehen: Trotz deren partiell militärischer Hintergründe, einschließlich ihrer szientifischen Einflußbereiche, auch im Bereich des Humanen. Vielleicht lassen sich so Aussagen wie die folgende relativieren, weiter kontextualisieren, Dynamiken besser aneignen: »›computer‹ in los alamos [...] hatten die Ermittlung der ›kritischen Masse‹ von Uranspaltbomben zum Gegenstand […] sowie das Verhalten einer Uranbombe, wenn diese eine ›Fusionsbombe‹ also eine Bombe voll Wasserstoff zünden sollte […] zusammen mit […] der Erstellung von Geschütztabellen entstand der Computer […] John von Neumann – wie die meisten Atombomben-Wissenschaftler Emigrant aus Europa, Professor in Princeton, Mathematikgenie und Weltkoryphäe der Spieltheorie, Quanten-Mathematik und Hydrodynamik – war zweifellos der rechnende Kopf von Los Alamos« (Hagen 1994: 65) 50 Vgl. Mersch 2006: 190f, Marchart 2004: 38ff. 51 Vgl. zum statistischen Determinismus in Folge Turings: Kittler 1986: 355.

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Der Computer wird so zum »Medium der Medienintegration« (Bolz 1994: 15) und unausdrücklich totalitär konnotierbar, z.B. als »abstraktes Totalmedium« (Hagen 1994: 145).52 So wichtig und wegweisend der streckenweise düster klingende Diskurs für das vorliegende Buch ist hinsichtlich einiger Thesen und Entwicklungslinien des Gegenstandsfelds – u.a. in Kontexten kybernetischer Metaphernumwertung, neuer Modi der Behandlung von Sprachen -53 es bestehen nicht allein im Detail gewichtige Differenzen. Einige der heuristisch erst einmal separat rekonstruierten Thesen des Diskurses werden im Buch, teilweise unausdrücklich, teilweise im Vollzug, teilweise in Fußnoten, versucht spezifisch produktiv zu kritisieren, re-perspektiviert auftreten zu lassen. Neben anderem nutzt der Diskurs der technischen Medientheorie recht selektiv den Begriff Dispositiv, scheint ihn aber selten in einer Form einzusetzen, wie sie von Foucault gegenüber dem Begriff episteme genutzt wurde. Vielmehr scheint dann, wenn im- oder explizit von Dispositiv gesprochen wird, nicht das ›flexiblere‹, ›offenere‹ Konzept eingesetzt zu werden, sondern im Hintergrund zentrale Annahmen eines historischen Großkonzepts konnotiert zu sein, einschließlich vielfältiger Implikationen und spezifischen Rezeptionslagen. Die Rekurse auf Foucaults Machtanalysen gehen teils ein wenig

52 Vgl., anders situiert, mit ähnlichem Argument, der These eines Distinktionsverlusts des Medien-Begriffs gegenüber Technologien: Heidenreich 2004: 26. Winkler spricht von »Unifizierungsphantasien« (Winkler 1997: 55-54, 75-80), betont die performative Seite des Computers: »In dem Maße, wie Technik sich auch in der Sphäre des Symbolischen nach vorne drängt […] nimmt die Signifikantenseite Schritt für Schritt an Gewicht zu. Als technische Implementierungen sind die Medien in die technischen Praxen augenfällig involviert; und damit in jenes Tatsächliche, dem das Symbolische gegenübertreten sollte. […] auch die Performativität muss mit der Technisierung der Medien zwangsläufig zunehmen, allerdings nicht als ein Praktischwerden der Botschaft, sondern als ein Praktischwerden der technisch-medialen Anordnung selbst, die erst in der Folge der Botschaft, und zwar unabhängig von ihrem Inhalt, eine größere Durchschlagkraft und einen zunehmend zwingenden Charakter verschafft. […] Der Computer ist das performative Medium schlechthin.« (ebd.: 106) 53 Vgl., historisch konnotiert: »Schon der von Neumannsche Entwurf eines Computers, und so erst recht seine heutigen Implementierungen, kann als Beschreibung der Stuktur eines jeglichen Mediums gelesen werden. Wenn nämlich, streng informationstheoretisch, ein Medium (ein Kanal) hinreichend dadurch definiert ist, dass es ein (möglichst störfreies) unitäres System von Wandlung, Übertragung und Speicherung darstellt, so gibt die von Neumann-Architektur, diesseits der Grenze alles Berechenbaren, auch hier den strukturellen Prototyp.« (Hagen 1994, 145). Vgl. zur Umwendung von Geschichte/Erzählung: »Das Digitale bringt uns auf den Weg zu einer anderen Zeitkultur: von Zeit als Medium der Erzählung zur diskreten Zeit […] […] story [wird] zu storage […] Das Digitale macht Schluß mit den Metaphern der erzählenden Vernunft« (Ernst 2004: 64/65).

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unter gegenüber Rekursen auf archäologisch-epistemische Arbeiten trotz ausdrücklich gegenteiliger Beteuerungen. Spezifika des Foucaultschen Dispositiv-Begriffs können nicht weit genug zur Geltung kommen, manchen Phänomenen wird trotz teils anderer Konnotation eine starke, quasideterminative Wirkung in historischen und epistemischen Kontexten angetragen. Bei allen Zweifeln zu Grenzen und Historizität auch dieser Konzepte: Kontingenz und situierte Umwidmungsereignisse finden in diesem Diskurs jenseits bellizistischer Residuen auf expliziteren diskursiven Ebenen selten einen Platz, sie werden stärker unausdrücklich verhandelt mit teilweise Hintergrundannahmen zuwiderlaufenden Konnotationen. Einige der untersuchten Gegenstandsbereiche werden genealogisch stark auf elitäre mathematische Kontexte begrenzt, was hermetisch wirken kann. Und das wiederum ist zuletzt teils ein wenig kontraproduktiv gegenüber manchem anscheinend hintergründig bestehenden Anspruch gewissermaßen auf eine – frei nach Enzensberger – Rückalphabetisierung des untersuchten Gebiets.54 Neben der stärkeren Aufwertung u.a. des Dispositiv-Begriffs soll im Folgenden vor allem zugleich vermieden werden, eine Einseitigkeit der Untersuchungspragmatik zugunsten von »discursive dispositives of mathematical thinking« (Trogemann et al 2001: 3) auszuprägen. Neben einem ausdrücklichen, weiterführenden Hinweis auf die Arbeiten Hartmut Winklers, insb. seinen Sedimentationsbegriff (Winkler 2002), kurz noch eine zusätzliche letzte Überlegung an einem verschobenen, alternativen Diskurs im medientheoretischen Bereich. Gegenüber der spezifisch »materialgesättigten Mediengeschichtsschreibung« (Hickethier 2002a: 30) der technischen Medientheorie etabliert sich ab Beginn der 1990er Jahre der Dispositiv-Begriff in verschobener Form u.a. auch durch Texte Knuth Hickethiers (Hickethier 1991 und Hickethier 1992, vgl. die implizite Replik Kittler 2005: 73). Dessen Versuche einer produktiven »Weiterentwicklung des Konzepts als einem medientheoretischen Modell« (Hickethier 2002b: 3), die nicht allein »von der begriffsgenauen Exegese der Foucaultschen Schriften lebt« (Hickethier 2002a: 30), dienen weiteren »deutschen Dispositivtheoretikern« (ebd.: 29) als Leitfolie. Es entstanden Arbeiten zum »Dispositiv Fernsehen« (Elsner/Müller/Spangenberg 1993), zu Kino (Paech/Paech 2000) und Rundfunk als Dispositiv (Lenk 1997), einem »Internet-Dispositiv« (Neumann 2002), sogar halbironisch zu einem »Dispositiv ›Medienkultur‹« (Bade 2002). Diese halbironische Geste macht deutlich, daß es hier zu einer Anwendung des Konzepts auf den Diskurs selbst gekommen ist. Stärker als in der technischen Medientheorie wurde reflexiv die eigene Sprecher-, Diskursposition ausdrücklicher thematisch hinsichtlich ihrer Verortung in Konstellationen auch jener Gefüge, die eigens diskursiv konzeptualisiert und untersucht werden. Hickethier bringt das auf den Punkt, wenn er gegenüber Konzepten einer spezifischen, z.B. schlicht subversiven Dezentrierung ›des‹

54 Vgl. Brüning/Knobloch 2005: 8.

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Subjekts Erfordernisse moderaterer Subjektkonzepte in einem durch ›Dispositiv‹-Konzepte informierten, medientheoretischen Bereich skizziert:55 »Die Annahme der Frankfurter Schule, das Publikum könne nicht unabhängig von den Medien etwas wollen, hat sich als falsch erwiesen, und auch die Vorstellung von einem im Mediendispositiv oder im Diskurs gefangenen Menschen ist nicht zutreffend. Wäre es so, könnte es z.B. keine diesen Zustand kritisch reflektierende Medientheorie geben, weil diese ja dann selbst ›gefangen‹ wäre und keine Position außerhalb diese Zusammenhangs beziehen könnte.« (Hickethier 2002a: 29)

Neben weitgehend dunklen Verweisen auf die Ergebnisse der Cultural Studies56 und Bourdieus Habitus-Konzept gibt er jedoch kaum weitere Hinweise, macht vielmehr aufmerksam auf ein Desiderat weiterer Forschungen. In einem anderen diskursiven ›Framework‹ als z.B. dem der technischer Medientheorie sollen sie konzeptuell konkretisieren können, daß es »nicht immer nur um bloße ›Re-Adjustierungen‹ des Dispositivs geht, sondern dass die Menschen sehr unterschiedliche gesellschaftliche Praktiken im Gebrauch der Medien entwickelt haben« (Hickethier 2002a: 30) – und eben nicht vollständig in der ihnen zugewiesenen »Subjektposition« (Hickethier 2002a: 29) aufgehen. Was aktuell noch eher selten im medientheoretischen Feld vollzogen wird oder vorliegt, wird im technikphilosophischen Bereich aktuell stärker diskutiert, auch über die engere, von Hickethier aufgeworfene Frage nach dem Subjekt hinaus. Das zuletzt mit Hickethier umrissene Feld eines spezifisch gewichteten Einsatzes von Dispositiv-Konzepten weist in konzeptuellen Details bereits wieder über viele der durch die ›technische Medientheorie‹ ausbuchstabierten Kontexte hinaus. Um die Fragestellung des vorliegenden Buchs weiterzuführen und begrifflich noch genauer anzugehen, wird nun das Konzept ›Dispositiv‹ analytischer vorgestellt, im Durchgang durch Positionen Christoph Hubigs, um es sich dann kurz noch einmal eigens in genuinen TechnikKontexten anzusehen, durch Positionen Andreas Hetzels hindurch.

55 Die Rede ist von einem schwachen, dezentrierten, nicht »sich selbst setzenden«, gegen »Medienanthropologie« (Hickethier 2002a: 30) gerichteten Subjekt. 56 Ihre aktuelle Rezeption wird als strategischer Versuch gewertet, durch den sich die »nächste Nachwuchswissenschaftler-Generation« als »innovativ durchzusetzen« (Hickethier 2002: 29) gewillt ist, was stärker soziologische Koordinaten des Betriebs anführt als begriffliche Kreativität, diskursive Produktivität.

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2.2 Begriffsrekonstruktion [C. Hubig, A. Hetzel] Christoph Hubigs Versuch einer begrifflichen Klärung des Ausdrucks ›Dispositiv‹ hebt ab auf eine Rekonstruktion von Foucaults Machtanalyse. Sie ist eingeschränkt auf zentrale Texte Foucaults. Kontrastiert wird hierbei Dispositiv (1) gegenüber episteme (sowie Archiv), wobei Dispositiv auch (2) ausgehend vom Spätwerk Foucaults gelesen wird.57 So entsteht (3) die begriffliche Konkretion von Dispositiv (a) als einer historischen Analyseform und Kategorie, die gegenüber Foucaults früherer, episteme, weniger stark mit ›großen‹ epistemischen Diskontinuitäten und Brüchen arbeitet. Vielmehr vollzieht sie sich (b) im Medium ›kleinteiliger‹ Subversionen, eher kontinuierlicher Transformationen. Hubig liest Foucault damit neben seinem hauptsächlich historischen Interesse auch produktiv identitätspolitisch.58 Es rekonstruiert (c) eine jedem Dispositiv prinzipiell inhärierende Subversionsmöglichkeit. Das führt dazu, daß rückwirkend (d) Foucaults Archiv-Konzept (ähnlich wie der episteme-Begriff) machtanalytisch reformuliert wird als jeweilige Exemplifikation und zugleich Manifestation diskursiver Macht. Hubigs Text läuft über das begrifflich-kategorial spezifizierte Dispositiv-Konzept (e) auf ein bestimmtes Moderne-Konzept hinaus. Wie geht er genau vor? Bereits grundsätzlich zeigt sich ein Akzent auf Praxis: Hubig versucht Dispositiv begrifflich als realhistorische Kategorie (Hubig 2000: 9) zu begreifen. Als eine Kategorie, die jeweils spezifische epistemische und pragmatische Regeln, Regelsysteme der Synthesis generiert, prädisponiert und reguliert: Nicht, wie bei Kant, der Subsumption von Anschauungen unter Begriffe, sondern von prinzipiell Heterogenem unter wirksame Vorstellungen, von Anschauungen unter Praxisvollzüge (ebd.: 5). So wird ein Dispositiv nicht nur als Exemplifikation, sondern auch als jeweils spezifische, dynamische Manifestation von Macht verstanden. Es soll auch jenseits von Diskursen Rückschlüsse auf Macht und ihre Dispositionen zulassen können (ebd.: 4). Denn es umfaßt gegenüber ›Archiv‹ und ›episteme‹ für Hubig vor allem praktische Elemente. Zu diesen Überlegungen konkretisiert er die modaltheoretische Metaphorik Foucaults begrifflich. Zur formalen Konkretion und differentiellen Einkreisung eines jeweiligen Dispositivs unterscheidet er heuristisch (1) seine extensionale Ebene von (2) einer intensionalen und (3) einer intentionalen Ebene. Von dieser intentionalen Ebene aus verleiht er der jeweiligen Einheit eines Dispositivs sukzessive (4) eine Mittel- und (5) eine Zweckdimension. Dunkel schließt sich (6) eine eher unausdrückliche Topologie von Dispositiven an. Ein Dispositiv lässt sich in Hubigs Foucault-Rekonstruktion begrifflich einkreisen (1) durch seinen Umfang (Extension). Hubig verzichtet hier weitestgehend auf die Thematisierung eines weiteren Charakteristikums von Dispositiven: Grundlegend plural verfaßt zu sein. Nicht zuletzt historisch 57 Hubig erkennt kontinuierliche Genealogien historischer Subjektivierungstypen. 58 Vgl. ähnlich, stärker von situierten Subjekten ausgehend: Hauskeller 1999.

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stehen Dispositive in Feldern weiterer Dispositive, ändern sich angesichts neu entstehender Ziele, sie sind interdependent. Für Hubig kann sich nun ein spezifisches Dispositiv zusammensetzen aus einer Menge an Diskursen (Aussagen bis hin zu moralischen Sätze), Praktiken (juridisch, administrativ, allgemein reglementierend), Institutionen, Architekturen u.a. Das deckt sich (1.1) mit der Definition, bei einem Dispositiv handele es sich um »ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Enscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze umfaßt« (Foucault 1975b: 119/120).

Hubig handelt zudem eine engere Definition ab, bei der ein Dispositiv »Gesagtes ebenso wie Ungesagtes«, also diskursive wie auch im weitesten Sinne nicht-diskursive Elemente umfaßt. Auf dieses Spezifikum geht der Kontext der Definition Foucaults ein (ebd.: 124f), was ermöglicht, Dispositiv von epistemai abzuheben, diese können ihnen als ›diskursive Dispositive‹ zugeordnet werden. Das unterstreicht im Umkehrschluß Hubigs Zugang. Inhaltlich (Intension) handelt es sich bei einem Dispositiv laut Hubig (2) um eine Struktur, die ein dynamisches Netz von Elementen beeinhaltet. Diese Elemente sind (2.1) zur Positionsveränderung fähig und können (2.2) funktionale Relationen untereinander unterhalten. Hubig scheint zu übersehen, daß Foucault zu diesen beiden Charakteristika kommt im Zusammenhang konkreterer Bestimmungen der Relationen dieser Elemente, der »Natur der Verbindung« (ebd.). Hiervon ausgehend betont er eine grundsätzliche Heterogenität dieser Elemente und ihre grundsätzliche Fungibilität, ein »Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen« (ebd.: 120). Hinzuzufügen wäre also: Die Relationen der (2.3) heterogenen Elemente eines Dispositivs sind (2.4) in ihrem funktionalen und positionalen Aspekt prinzipiell unbestimmt. Ihre jeweilige funktionale Positionierung ist damit prinzipiell (2.5) in Grenzen reversibel und alterierbar.59 Hubigs intentionale Ebene (3) schillert begrifflich ein wenig, hätte weitgehender entwickelt werden können hinsichtlich dessen, was Foucault die »Genese« eines Dispositiv nennt. Hubig zufolge soll die intentionale Ebene eines Dispositivs seine intensionale Ebene (3.1) durch eine Funktion vereinheitlichend ausrichten, um dort (3.2) Relationen strategisch funktionalisieren zu können. Die konkrete Funktion eines Dispositivs, die bei Hubig forschungsleitend die zu rekonstruierende Einheit herausschält, scheint sich, das bleibt implizit, reaktiv zu entwickeln. Hubig weist eher schlicht darauf hin, daß ein Dispositiv seine Elemente funktional daraufhin ausrichtet, (3.3) auf einen »Notstand« zu antworten, ihn zu beheben. Als Beispiel nannte Foucault z.B. die »Resorption einer freigesetzten Volksmasse« als »strategischen Imperativ, der die Matrix für ein Dispositiv abgab« (ebd.: 120). Hubig

59 Vgl. Foucault 1969; einführend Gehring 2004; in Anwendung ebd. 2006: 128f.

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scheint ›Matrix‹, seinem analytischen Ansatz entsprechend, stärker mathematisch zu verstehen, weniger weitläufig auch als ›Mutterboden‹ eines Dispositivs, der sich angesichts eines Notstands bildet – ein Hinweis auf die Dispositivgenese. Dennoch konturiert er einen nicht personalen, strategischen Imperativ eines Dispositivs, dessen »intendierte« funktionale Ausrichtung und die weitere spezifische Ausfaltung betroffener Elemente: Aus der Gegenwart jeweiliger Untersuchungen, ihrer Rekonstruktion des ehemaligen »Notstands« heraus sind Rückschlüße möglich (Hubig: 5). Ausgehend von Hubigs Überlegungen zur intentionalen Ebene von Dispositiven, deren kategorialer Ausfaltung mittels konventioneller ZweckMittel-Relationen, werden zwei weitere Punkte sichtbar. Aus (4) der Frage des jeweiligen ›Wie‹ eines Dispositivs, als seinem »Mitteleinsatz« (ebd.), seiner jeweiligen Strategie und deren Eingriffen in Kräfteverhältnisse qua spezifischer Manipulation, wird ihm (5) eine implizite Zweckdimension von Dispositiven erschließbar. Hierbei sollen (5.1) epistemische Dispositive generiert werden – sie werden in Nähe zu Kuhns Paradigma-Begriff entwickelt. Auf sie können sich »allgemeinere« (Hubig: 5) Dispositive stützen und/oder werden sie von diesen benötigt. Deren »Institutionen« wiederum sind dann (5.2) als stark implizit vermittelte, eher nicht-diskursive, praktische ›Zwangssysteme‹ zu verstehen, die spezifisch konformes Verhalten einüben. Folgeprobleme lassen sich gegenüber Hubig vermeiden, Foucaults Einsatz wahren, wenn man eher dispositionale Institutionalisierungen anspricht, die sich institutionell verdichten können. Hubigs Geste, Foucaults spätere Differenzierung, Rekontextualisierung zwischen Dispositiven und epistemai auszudehnen zu einer neuerlichen strikteren Differenz zwischen diskursiven und nichtdiskursiven Kontexten, ist problematisch dort, wo sie neben einem theoriestrategisch päßlicheren Praxisbezug eine Rede von »höher- und niederstufige(n)« (Hubig 2000: 6) Dispositiven zu tragen hilft und dabei die interdependentere Rede Foucaults von ›Macht-Wissen-Komplexen‹ ausblendet. Diese Interpretation Foucaults, die am Vollzug der Texte (Foucault 1976a und folgende) nur begrenzt ablesbar ist – man könnte auch an pluraleren Problemlagen zwischen Dispositiven ansetzen – ist dann ein Problem, wenn sie nicht mehr allein analytischen Zwecken dient, sondern Vorbild ist neuerer Dispositivanalysen, deren jeweils anderen Erkenntnisinteressen und jeweiligen Gegenwarten. Denn nicht jede hat selbstverständlich Moderne und Praxisformen der Modernisierung auf der Zielgeraden (Latour 2008). An der Konkretion von Dispositiv als »Manifestation von Macht überhaupt« (Hubig 2000: 3) demonstriert Hubig seine Lesart einer modernen, Synthesis leistenden Kategorie. Ausgehend vom begrifflich konkretisierten Dispositiv-Modell Foucaults und dessen späteren, u.a. die ›Ausübung‹ von Macht stärker betonenden Überlegungen60 wird Macht im Dispositivkontext gedacht. Macht wird hier nun als nicht-personale Eigenschaft oder Modalität

60 Vgl. Foucault 1982c.

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praktischer Einwirkung gedacht, als ›Disposition‹, die von Bedingungen ihrer Verwirklichung abhängig ist. Eine solche Macht ist – wie Biomacht dem Sexualitätsdispositiv – Dispositiven angegliedert. Macht schreibt sich also mittels spezifischer Strategien verwirklichend in ein Möglichkeitsfeld ein, was günstige Bedingungen, reale Möglichkeiten, Potentiale voraussetzt – deren Existenz läßt sich von Manifestationen oder ihrem Ausbleiben ausgehend rekonstruieren. Liegt eine Realisierung bestimmter Dispositionen vor, können diese wiederum auf deren Struktur rückwirken, z.B. eine Stärkung auslösen. So können dann wiederum auch Dispositive selbst Macht produzieren – z.B. eine konkrete neue Kategorie, z.B. die Sexualität. Ein solcher Effekt kann in seinem jeweiligen Artikulationsmodus dann wiederum die Bindung zwischen Macht und jeweiligem Dispositiv stärken oder eben nicht, u.U. kann eine andere, (Gegen-)Macht entstehen: »Macht ist eine Disposition, die sich in einem Dispositiv verwirklicht (Machtausübung), sofern das Dispositiv seinerseits Bedingungen bereitstellt für eben diese Verwirklichung.« (Hubig 2000: 6). Hubigs modaltheoretischer Durchgang von Foucaults Dispositiv-Kontext thematisiert die dispositionalen Potentiale von Machtausübung und die zumeist unsichtbar bleibende, quasi-transzendentale Macht eines Dispositivs. Sie wird selektiv empirisch sichtbar in Form einzelner faktischer Aktualisierungen, Verwirklichungen von Macht. Für Hubig ist ausgehend von diesen Ereignissen machtvoller Realisierung, ihrer »Exemplifikation«, überhaupt erst ihre Ermöglichungsform rekonstruierbar.61 Nun steht bei Hubig ein Subversions-Konzept im Hintergrund, das entlang der Termini funktioneller ›Über-‹ und ›Unterdeterminierung‹ entwickelt ist (Foucault 1975: 121). Zugleich erfolgt ein interpretativer Rekurs auf Regelkonzepte Wittgensteins, der Foucaults Konzept »strategischer Wiederauffüllung« (ebd.) spezifizieren soll. Was Foucault in Termen der »Genese« (ebd.) von Dispositiven andeutet, buchstabiert Hubig aus, indem er dessen genetische Perspektive in eine bestimmte Richtung bewegt, die über ihn hinausweist. Foucault erkennt an einer bestimmten »Prävalenz einer strategischen Zielsetzung« die Konstitution eines Dispositivs, wenn ein Bündel von an sich verschiedensten Interessenlagen vorliegt, das durch eine Strategie umsetzbar zu sein scheint. Keine einzelne personale Intentionalität, vielmehr zusammengeführte Interessen artikulieren damit unterschiedlichsten Veränderungsbedarf am Punkt einer »Gefahr«. Als Effekt der stetigen Kristallisation einer überindividuellen Strategie findet eine stetige Bündelung jeweiliger Ergebnisse von Aktivitäten in einem Netz von Kräfteverhältnissen statt, das die Gefahr spezifisch zu bannen versucht. Das ist dann der Fall, wenn ein stabiler Mechanismus entstanden ist, der zugleich als »siegreiche Lösung« jenseits individueller Zielsetzungen gelten kann. Es ist hierzu also eine funktionale Überdetermination von Elementen erforderlich, die wiede-

61 Vgl. »Exemplifikation von Macht«: Hubig 2000, Foucault 1968: 187.

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rum permanente Ausrichtungs- und Abstimmungsprozesse günstiger/ungünstiger Wirkungen nötig macht. In diesem Mechanismus kann eine »strategische Wiederauffüllung« (ebd.) geschehen, wenn »unfreiwillige und negative Effekt(e)« an den Punkten des strategischen Zugriff des Dispositivs entstanden sind. Hubigs Interpretation legt nahe, daß es sich dann mit neuen ›Gefahren‹ ›aufgefüllt‹ hat, sein Zugriff neu justiert werden muß (ebd.: 122) – das Spiel beginnt von neuem. Hubig sieht im Kontext »Wiederauffüllung« Wechselwirkungen am Werk zwischen Über- und Unterdeterminierheit der regelgeleitet verstanden, »siegreichen« Ordnungsmechanismen im Netz und seinen Elementen, die immer auch zu Widerstandspunkten62 werden können. Er beschreibt sie mit Wittgenstein: »Weil keine Regel ihre Anwendung ihrerseits zu regulieren vermag, ist sie offen für das, was Foucault des Prozeß der strategischen Wiederauffüllung nennt« (Hubig 2000: 8).63 Indem Hubig Fragen der ›Wiederauffüllung‹ von Dispositiven auf diese Weise liest, sind Dispositive für ihn notwendig umkämpft, gerade weil ihre jeweilige Strategie überindividuell verläuft, ihr Funktionieren ›überdeterminiert‹ ist. Hubigs Geste, dieses auf weitgehend produktive, anschlußfähige Weise begriffene Dispositiv-Konzept auszuweiten zum Signum der Moderne, versuchsweise gar als »Motor von Geschichte« (Hubig 2000: 10) zu verstehen, greift als Verallgemeinerung aber etwas weit. Kein Grund in der Sache legt nahe, eine solche Verallgemeinerung dieses zeitgenössisch begriffenen begrifflichen Werkzeugs zugunsten einer abstrakten Geschichtstheorie zu betreiben. In dem Maß, in dem hier abermals eher unausdrücklich bestimmte Vollzugscharakteristika von ›Dispositiven‹ auf neue Weise praktisch ausdehnt werden nach Maßgaben in Nähe des historischen Großkonzepts ›episteme‹ (abzüglich seiner Diskontinuitäts-Implikationen), tendieren folgende Rekonstruktionen u.U. dazu, historisch ausrichtbar, begrifflich-topologisch hierarchisiert werden zu können – was auf eine konzeptuelle und/oder sachliche Singular-Form hinauslaufen kann, möglicherweise auf deren Naturalisierung. Von hier aus läßt sich umgekehrt auch wieder Hubigs Betonung von Praxis auf ihre Grenzen hin befragen, werden wieder stärker epistemische Zusammenhänge gleichberechtigt im Dispositiv-Kontext betonbar, die in seiner Perspektivierung ein wenig aus dem Blickfeld rückten. Das schmälert nicht die Vorteile des explizierten Dispositiv-Modells, betont vielmehr bestimmte Grenzen der Anwendung im konkreten Fall und ihrem jeweiligen pragmatischen Hintergrund. An der bei Hubig skizzierten Subversivität von Dispositiven läßt sich kritisch anschließen, ohne eine ›Ahistorisierung‹ des Modells zu betreiben, die im konkreten Fall kontraproduktiv wäre und zugleich, fehlverstanden, eine fast selbstverständliche Notwendigkeit von Widerstand nahelegen könnte. ›Dispositiv‹ ist bei Foucault in erster Linie ein pragmatisches Kon-

62 Vgl. Gehring 2004. 63 Ist Kybernetik im Anspruch eine Ausnahme? Vgl. ›Lernen‹: Wiener 1952: 67.

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zept zur politisch sensiblen Untersuchung u.a. von ›Zwangsapparaten‹ – die oft gerade dort am stärksten wirken, wo zeitgenössisch gerne von ›Freiheiten‹, auch des Widerstands, die Rede ist. Und solche modernen Dispositive, wie idealtypisch sie auch immer entwickelt werden, erledigen sich nicht einfach von selbst, durch ihre eigenen Widersprüche hindurch, noch müssen es diese sein, die sie antreiben. Sie machen schlicht selten ein Ende denkbar, das wirklich ein neuer Anfang wäre, aber noch lange keine radikale Diskontinuität sein muß. Abstraktionen und Verallgemeinerungen zu all dem finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern innerhalb des Beschriebenen selbst, sie haben einen Einsatz. Bei Foucault werden neben Figuren eines stetigen historischen Ineinandergreifens spezifizierter Dispositive auch historische Abfolgen von Dispositiven thematisch, die über die Moderne hinausreichen und methodisch wie abstrakt verschieden verfahren, z.B. weniger ›positiv‹. Damit ist es letztlich auch theoriepolitisch motiviert, Untersuchungen von Möglichkeiten und ›Fakten‹ historischer Dispositive und ihrer Abfolgen/Kontinuitäten – ganz wie bei Familien – durchaus zum Ende eines, dem Beginn eines Neuen kommen lassen zu können. Eine bestimmte, allzu ›homöostatisch‹-geläuterte, geschichtsoptimistische Sicht jedenfalls könnte vergangene und kommende historische Fremdheiten unterschätzen. Eine weitere, letzte Vermutung noch, zur Frage nach einer ›Regel, die ihre eigene Anwendung regulieren‹ kann: Was wäre, wenn bestimmte Regeln eine ›kybernetische‹ Form annehmen könnten, wenn sie insofern Regel würden, als sie sich entlang Feedbackprozessen zur eigenen Anwendung vollziehen könnten? Wenn sie z.B. keine schlichte Gußform vorgeben, sondern eine ›Wolke‹ flexibler Ströme, die nicht nur ›voreilend‹-interpolativ verfahren, sondern in die möglichst immer wieder auch aktuelle Zustandsund Reaktionstypen eingehen können? Wo situierte Subjekte in übenden Akten der Readjustierung ihrer gesetzten Regeln von einer kybernetischen Sozialität begleitet werden, ist die Antizipation eines Zeitpunkts z.B. einer zukünftigen ›technologische Singularität‹ (Kurzweil), an dem die soziale Geschwindigkeit eine subjektive Aneignung ihrer Effekte nur noch zum Preis einer körperlichen Inkorporation des Taktgebers geschehen läßt, weniger von der Hand zu weisen, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Eine Vermutung, die den Versuch des vorliegenden Buchs unterstreicht, Linien und Episoden historisch zu individualisieren, in denen u.a. solche ›Taktgeber‹ erscheinen konnten. Noch kurz zurück zum Begriff Dispositiv in stärker genuin technischen Zusammenhängen. Der Philosoph Andreas Hetzel geht den DispositivBegriff weniger mit dem Ziel einer weiteren begrifflichen Klärung an. Er leistet vielmehr eine ausweitende Applikation des Konzepts auf ›Technik überhaupt‹. Zugleich legt er Vorschläge vor, wie dadurch der traditionelle Technikbegriff produktiv weiterentwickelt werden könnte. Sein Text schlägt hauptsächlich Transformationen im begrifflichen Verständnis von Technik vor. Er ist in seiner Ausrichtung auf die ›Wirksamkeit‹ von Technik um drei »Wirksamkeiten der Faktizität, der Wahrnehmung und der Imagination«

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(Hetzel 2005: 294) rein ›technischer Dispositive‹ herum organisiert. Er geht dazu teilweise weit über Foucault hinaus. Denn diesen kennzeichne tendenziell ein »(zumindest latente[r]) Mechanismus« (Hetzel 2005: 290). Dies wird jedoch nicht als Kritikpunkt ins Feld geführt, sondern dient u.a. als Einstiegspunkt zur Differenzierung verschiedener Dispositiv-Begriffe bei Foucault, Lyotard und Deleuze hinsichtlich des mit ihnen jeweils verschieden perspektivierten begrifflichen Bereichs und Einsatzes. Ist es laut Hetzel bei Foucault eine stärker auf »Invarianz und Stabilität« (ebd.: 294) eines Dispositivs zielende Perspektive, so ist es bei Deleuze umgekehrt eine stärker auf »die Möglichkeit seiner Subversion, Transformation und Umdefinition« (ebd.: 291) gerichtete Dynamik.64 Bei Deleuze sei das Dispositiv »als Szene und Organon« etwas »umkämpftes«, das »selbst mitkämpft« (ebd.). Lyotard betont Hetzel zufolge dann zudem noch stärker energetische Transformationen. Gegenüber Foucault sollen hier ausdrücklich Vermittlungsleistungen konkreter Dispositive stärker unterstrichen werden können. Während der Foucault Hubigs begrifflich noch eher zugunsten deren grundsätzlicher Umkehrbarkeit zu argumentieren schien, bringt für Hetzel Foucault stärker eine Transzendentalkategorie Dispositiv in Anschlag, die erst bei Lyotard »entmaterialisiert und detranszendentalisiert« (ebd.: 290) worden sein soll. Zugleich seien erst dort Dispositive einer durch sie selbst ausgelösten Dynamik unterworfen: Als »wandelbare Operatoren unterliegen sie selbst den von ihnen initiierten Transformationsprozessen, sie kontrollieren die Felder des Sinns und des Handelns nicht von außen.« (ebd.: 291). Zuletzt wird es für Hetzel erst mit Lyotard möglich, »die energetischen, phantasmatischen, narrativen und libidinösen Anteile« (ebd.: 289) eines technischen Dispositivs zu fassen, das nicht nur transzendental, ›von außen‹ wirkt. Sein Text versucht ausdrücklich, den Dispositiv-Begriff so zu konturieren, daß spezifische Techniken nicht, wie noch bei Foucault, als spezifischer Teil von jeweils spezifischen Dispositiven in Erscheinung treten. Vielmehr wird hier Technik selbst als ein Dispositiv konzipiert: Um deren technische »Wirksamkeit dechiffrierbar« (ebd.: 289) machen zu können. Hierdurch soll der traditionelle Technik-Begriff und seine Implikate – Technik als Mittel eines sie zugunsten eines selbstgesetzten Zwecks nutzenden Subjekts – nun gerade nicht umgekehrt werden hinsichtlich Technik auf einer Subjektposition, wie es z.B. bei Heideggers Technikphilosophie geschieht. Vielmehr soll der Technik-Begriff durch Ummantelung mit Hetzels DispositivKonzept zu einer neuen, mittleren Position gelangen: »keine Macht und kein Dispositiv lässt sich widerspruchsfrei totalisieren; es gibt immer Risse, Aneignungsmöglichkeiten, Möglichkeiten der Umdefinition und Umwertung. Das Dispositiv ist in sich heteronom und agonal verfasst, die vielfältigen Wirksamkeiten konvergieren nie in einer letzten Intention« (ebd.: 294).

64 Vgl. das ähnliche Argument: Leistert 2002.

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Hetzel betont hier also Elemente, die auch Hubig bereits im Foucaultschen Dispositiv-Begriff als zumindest angelegt markierte. So produktiv sein Versuch einer Einklammerung bestimmter traditioneller Technik-Begriffe durch den Dispositiv-Begriff im Versuch einer Neuausrichtung technikphilosophischer Grundannahmen ist, das konkret entstehende Konzept tendiert, mindestens in einem Zwischenschritt, teils auch ein wenig heraus aus der angestrebten mittleren Position. Teils geschieht dies in dem Maß, in dem Technik nicht als Dispositiv-Bestandteil, sondern als Singularterm den Begriff besetzen soll, das Ergebnis gegenüber anderen Dispositiv-Sorten verortbar wird. Teils kann der Eindruck entstehen, als trete Technik damit auf diejenige aktivische Position, die der traditionelle Subjektbegriff inne hatte: »Eine als Dispositiv verstandene Technik untersteht nicht länger den Intentionen autonomer Akteure, sondern schafft sich eine Umwelt, die ihrer Selbsterhaltung und -reproduktion günstig ist und zu der auch Akteure und Intentionen gehören können« (ebd.: 289).

Zum ausdrücklichen Ausgleich, der angemahnten Reziprozität im Technikkontext kommt es durch Rekurs auf u.a. Pickerings agency-Begriff (Pickering 2007). Dieser Begriff schwankt hierbei zwischen neuem und integralem Bestandteil des Dispositiv-Begriffs und einem ausgleichenden Gegengewicht: »Dispositiv und Agency bilden keine Gegensätze, sondern sind sich wechselseitig Bedingung der Möglichkeit und Unmöglichkeit zugleich« (ebd.: 293). Wie bei Hubig zu sehen, ist eine solche Komponente prinzipiell gar nicht zwingend notwendig, zumal sie u.U. Einsichten Pickerings dekonstruktiv überblenden könnte, die den Begriff selbst betreffen (Ebd.: 17ff). Unausdrücklich bleiben zugleich die Gründe für eine weitergehende Äquivalenz, die Hetzel offenbar herstellt zwischen »kybernetischer Vernetzung von Mensch und Maschine« (ebd.: 290) und Deleuze’ Versuch, »die Grenzen von Mensch und Natur sowie von Mensch und Technik zu unterlaufen« (ebd.: 291). Diese Äquivalenz stellt teils einen Anschluß an bestimmte Thesen z.B. Baudrillards dar. Dieser hatte Deleuze u.a. kritisch eine »merkwürdige Komplizenschaft mit der Kybernetik« (Baudrillard 1983: 42) angetragen. Das Koordinatennetz der von Hetzel beibehaltenen Äquivalenz Deleuze – Kybernetik stellt kaum Differenzen, z.B. der subversiven Aneignung, zwischen beiden vor. Und es läßt dagegen auch kaum Kritiklinien erkennen, die sich jenseits einer vermeintlich auf die alte Subjektmetaphysik zurückfallenden, ihr Ende betrauernden, »finsteren« (Hetzel 2005: 292) Fundamentalopposition von Günther Anders oder Paul Virilio abspielen. Beide werden hierbei dem Bereich der »konservativen Kultur- und Technikkritik« (ebd.: 292) zugeschlagen – wozu dann offenbar auch Baudrillard zu rechnen wäre. Hier prägt also offenbar eine Opposition Subjektphilosophie vs. (krypto-)kybernetische Theoriebildung die Perspektivierung. Vielleicht auch aus diesem Grund artikuliert der Text gegenüber der Informatisierung kaum Ambivalenz. Der binär grundierte Informations-

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Monismus von G. Günthers Kybernetik-Zugang wird z.B. eher als »Triangulation« der binären abendländischen Metaphysik verstanden, bestimmte kybernetische Rhetoriken werden kaum weiter abgeklopft: Information partizipiere an einer neuen »Idee von Freiheit« (ebd.: 292), erst durch die »kybernetische Überwindung des Gegensatzes von Mensch und Maschine« komme »so etwas wie Freiheit in die Welt« (ebd.: 293). Das neue, informationstheoretische »Maß an Information« tritt als »Maß an Freiheit« auf, diskursspezifische Aussagen, damit komme eine »prinzipielle Unvoraussagbarkeit« (ebd.) in die Welt, werden kaum in ihrer informationstheoretischen Situiertheit problematisiert. Dadurch schränkt sich, kaum systematisch begründet, dieser Freiheitsbegriff kybernetisch ein, ausdrücklich subversive Anschlüße an Kybernetik werden dagegen kaum sichtbar. Hetzels Diktum, eine als Dispositiv verstandene Technik sei nicht notwendig Herrschaftstechnik, sie könne, gut identitätspolitisch gedacht, als »Medium der Selbststeigerung« genutzt werden, kann nur zugestimmt werden. Welche Formen diese Selbststeigerung konkret annimmt, welche Differenzen zwischen Selbst und Anderem diese jeweils transportieren, wie jeweils auch widerständige Subjektivität entwickelt werden könnte, bleibt dennoch offen. Die proklamierte »datensetzende Macht der technischen Fakten« (ebd.: 294) wird zur »Wirksamkeit der Faktizität«, z.B. ließen sich die Auswirkungen einer als Dispositiv verstandene (Atom-)Technik »räumlich und zeitlich nicht mehr begrenzen« (ebd.: 294): »Die Atomtechnologie nötigt uns dazu, bei der Atomtechnologie zu bleiben. Jeder radikale Ausstieg späterer Generationen aus der Nukleartechnik wäre verheerend, weil die Auswirkungen des von unserer Generation in die Welt gesetzten nuklearen Materials in diesem Falle nicht mehr bewältigt werden könnten« (ebd.: 295).

Das bedeutet sicher keinen kategorialen Ausschluss bestimmter Möglichkeiten. Versteht man Aussagen wie diese jedoch zu buchstäblich, könnte sich unfreiwillig wohl auch mancher Eindruck von ›Technik als Dispositiv‹ auf bestimmenden historischen Positionen verdichten. Der ›Dispositiv‹-Begriff Foucaults eröffnet jedoch, das wird auch bei Hetzel deutlich, zur Lösung dieses Problems begriffliche Potentiale. Er integriert Technik als potentiellen Teil und stellt ihn in einen weiteren, insb. epistemischen Rahmen, der über konkrete Technologien hinaus gleichberechtigt verweist auf jeweilige spezifische Macht-Wissens-Konstellationen, Dispositive, auf ihre ›Handlungsmacht‹ und Widerstandspunkte. Christoph Hubig und Andreas Hetzel legen argumentativ schlüssige und kreative Lesarten vor, die in neue Richtungen weisen. Hetzels Problemstellung ist eine Schärfung und Weiterentwicklung bestimmter Perspektiven und Fragen im Technik-Kontext zu verdanken. Hubigs Dispositiv-Rekonstruktion erweist sich im konkreten Dispositiv-Kontext als mit Einschränkungen anschlußfähig. Weder (Selbst-)Anwendungsfragen noch abstraktere Überlegungen zur

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begrifflichen Fassung des Dispositiv-Konzepts laufen aktuellen philosophischen Forschungsansätzen zuwider.

3. P ROBLEME : P OSTSTRUKTURALISMUS UND K YBERNETIK »Der Wille zum Konstrukt geht auf Glättung und Festigung, auf Belastbarkeit und Tragkraft der Oberfläche aus, will nichts aus der Tiefe und alles gegen die Tiefe. Dabei wird den tragenden Grund optisch alles verleugnen, was auf ihm errichtet ist und durch ihn dauert. Fundamente, kaum dass sie gelegt sind, verschwinden unter der Verborgenheit ihrer Funktion; man legt sie erst frei wenn das Bauwerk Risse zeigt. Optisch weist jedes Konstrukt die Zumutung ab, an seiner Stelle könne jemals noch etwas anderes stehen oder gedeihen« H. BLUMENBERG

Im Durchgang durch ›Dispositiv‹-Konzepte hat sich der Zugriff auf das ›Gegenstandsfeld‹ des Buchs weiter geschärft. Dieses Feld ist kein ununtersuchtes ›Neuland‹. Insb. durch ›poststrukturalistische‹ Theoriebildungen hindurch ist es immer wieder angeklungen, teilweise bereits ansatzweise problematisiert worden. Im Folgenden werden mittels drei Schritten diese und weitere Zugangsweisen zum untersuchten Gebiet vorgestellt. In einer Bewegung, die von allgemeineren auf eingegrenztere Perspektiven zu führt, werden Vorentscheidungen sichtbar jeweiliger Zugänge zum historischen Gebiet und seinen Elementen. Den Beginn (III. 3.) markiert eine erster Sondierung ›poststrukturalistischer‹ Zugänge der jüngeren Gegenwart, eine erste Horizonteröffnung philosophischer Positionen mit Gegenständen im Gebiet Kybernetik. Hier artikulieren sich einmal mehr, einmal weniger ausdrücklich Verhältnisse zum später untersuchten Komplex. Im folgenden Schritt (III. 4.) werden Zugänge vorgestellt, die sich dem Gebiet in jüngster Zeit perspektivisch eingeengter widmen, teils sogar als ausdrücklichem Untersuchungsgegenstand. Einige dieser und weiterer Linien werden im letzten Schritt (IV.) mittels fünf diskursanalytischer Versuche (IV. 1.-5.) auf kybernetisches Gebiet ausgeweitet. Sichtbar werden Vorstufen der Herausbildung von ›Kybernetik‹ als kulturgeschichtlicher Dynamik, vor deren Hintergrund der Computer entstand. Im ersten Schritt werden also kurz, entlang ›poststrukturalistisch‹ genannter Theorielinien, wirkmächtige Verhältnisse zum Gebiet Kybernetik entfaltet, teilweise bereits erstaunlich problemorientierte Zugänge. Die intel-

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lektuelle Lage gegenüber der ›Universal-Wissenschaft‹ der 1950er Jahre ist ein wenig unübersichtlich, aber bei weitem nicht allein affirmativ. Eher affirmativ und relativ konkret nutzt 1954/55 z.B. der Psychoanalytiker Jacques Lacan kybernetische Konzepte im Zusammenhang seines zweiten ›Seminars‹ (Lacan 1954). Er nutzt sie zur Fundierung und Erläuterung einiger seiner Axiome. Das geschieht teils ausdrücklich,65 teils unausdrücklich: Später wurde z.B. auf eine Ähnlichkeit seines Konzepts der ›Signifikantenkette‹ mit einer stochastischen Markov-Kette hingewiesen: Also einem Konzept, das auch in der Informationstheorie an prominenter Stelle äußerst fruchtbar wurde.66 Zugleich ist eine streckenweise Deckungsgleichheit der Konzeptualisierung Lacans einer psychoanalytischen Kategorie des ›Realen‹ mit informationstheoretischem ›Rauschen‹ angedeutet worden.67 Hieraus läßt sich jedoch noch keine epistemische Determination schließen: In beiden Diskursen wirkt leicht modifiziert und angepaßt ein bestimmtes statistisches Konzept (vgl. IV.1.). Es kann kulturgeschichtliche Relevanz weiter ausbauen, beginnt seine Reformulierungen auf psychoanalytischem Gebiet. Ähnlich wie Lacan auf besondere Weise in strukturalistischer Tradition de Saussures stehend (vgl. z.B. de Sausurre 1912), sucht ab 1948 auch Claude Lévi-Strauss (vgl. Lévi-Strauss 1948) eine teilweise implizite, teilweise ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Kybernetik. Sie wird aktuell ebenfalls stärker untersucht.68 Spätestens 1967 läßt dann Jacques Derrida Kybernetik ausdrücklicher thematisch werden an unscheinbarer, aber dennoch zentraler Stelle. Als Dekonstruktion noch schlicht als »Desedimentierung« (Derrida 1967: 23) aufgefaßt wurde, in der Grammatologie, lanciert er den Hinweis, daß im Zusammenhang der eigenen Schrift-

65 Vgl. Lacan 1954, sowie Lacan 1955 (Kybernetik und Natur der Sprache). Hier wird insbesondere, darauf weist Dupuy hin, der bei Freund mit dem Todestrieb verbundene Wiederholungszwang zu einem maschinellen Wiederholungsautomatismus, unbewußte Todeswünsche zu Funktionen einer Maschine: Vgl. Dupuy 1994: 19. Inwiefern nicht bereits bei Freud die Rede vom noch dampfmaschinenähnlichen psychischen Apparat ähnliche Gedanken nahelegt, sei dahingestellt. Vgl. zur umfassenden, systematisch-kritischen Rekonstruktion Lacans unter Leitfragen des Verhältnisses zur Kybernetik: Bitsch 2004, in anderer Hinsicht Kittler 1986a: 28ff sowie Kittler 2000: 333: »Lacans Universum des Symbolischen verdankt dieser Nachrichtentheorie (der Shannons, RB) der Sprache alles«. und Kittler 2005: 71. Vgl. allgemein zum Problem Lacan/Kybernetik; Dupuy 1994: 108f 66 Vgl. Juskevic 1971: 79, allg. Tholen 1994; Kittler 1986a: 30; Pias 2000: 429. 67 Vgl. Pias: ebd., Bitsch 2004 : 162: »Shannons Mathematik der Signale und Wieners Kriegsmathematik des Rauschens formatieren Lacans strukturale Psychoanalyse, [...] die […] ein technisch-mathematisches Wissen postuliert.« 68 Das Verhältnis Lévi-Strauss – Kybernetik hat Ute Holl im Kontext des Verhältnisses von Kybernetik und Anthropologie untersucht: Holl 2003, 103f. Vgl. zur Kontextualisierung Lévi-Strauss im Kontext Kybernetik, von kybernetischen Vorhersagetheorien in den Sozialwissenschaften: Lévi-Strauss 1997: 68.

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mystik nicht mehr ein bestimmter »Begriff der Technik ohne weiteres den Begriff der Schrift erhellen« kann. Vielmehr soll nun umgekehrt die Frage nach Schrift der nach ›Technik‹ voran gestellt sein (Derrida 1967: 19): Eine als »Programm« (ebd.: 21) verstandene Kybernetik bringt ihm also keineswegs die bisherige »Epoche des Zeichens« (Derrida 1967: 28) an ihr Ende. Vieles sei an dieser Kybernetik trotz gegenteiliger schriftlicher Äußerungen z.B. eines der Hauptprotagonisten, Norbert Wieners, noch immer »historisch-metaphysisch« (Derrida 1967: 21). Damit wird für Derrida auch das kybernetische Gebiet ausdrücklich von phonetischer Schrift und ihrer Geschichte beherrscht, markiert keineswegs ihr Ende. Vielmehr versteht nun Derrida, ein wenig in Nähe Heideggers, Kybernetik als potenzierte Verkörperung einer solchen Geschichte.69 Das »nicht zufällige Zusammentreffen von Kybernetik und Humanwissenschaften der Schrift« (Derrida 1967: 23) dränge nämlich z.B. darauf, die Statute der phonetischen Schrift »noch denjenigen kulturellen Bereichen aufzuzwingen, die sich ihr bisher entziehen konnten« (Derrida 1967: 23). Dies soll insb. aufgrund des Anspruches und der Weite informationstheoretischer Konzepte geschehen: Dadurch »vergrößert die Entwicklung der Informationspraktiken auch die Möglichkeiten dessen, was man ›message‹ nennt« (ebd.). Derridas Problem macht eindrücklich kybernetische Einsätze in Kontexten der Nachkriegsgenetik sichtbar, z.B. im Gefolge bestimmter binärer »Pro-Gramme« (Derrida 1967: 21) beginnen zelluläre Informationsprozesse als Schrift verstanden zu werden.70 Es ist Jean-Françoise Lyotard, der 1979 ausgehend von der Diagnose einer zeitgenössischen »Hegemonie der Informatik« (Lyotard 1979: 13) seine wirkungsmächtige und folgenschwere Postmoderne-Diagnose trifft. Er charakterisiert sie ausdrücklich als »Zeitalter der Informatik« (Lyotard 1979: 20). Im Kontext der Einführung seines Postmoderne-Begriffs wird zugleich eine Kritik an einer zeitgenössischen »Ökonomisierung des Wissens« (Lyotard 1979: 14) lanciert: Wissen tritt ihm zufolge nun immer stärker in »informatisierter Warenform« (ebd.) auf. Die historische Rolle der Kybernetik bei dieser »technologischen Transformation« (Lyotard 1979: 11) ist ihm nun schlicht keineswegs mehr von der Hand zu weisen. Wegweisend ist hierbei abermals, in verschobener Hinsicht, Lyotards Hinweis, daß die im kybernetischen Gefolge neu entstehenden Leitwissenschaften der Nachkriegszeit gemeinschaftlich Sprache zum Gegenstand haben. Lyotards postmodern-informatische Umstrukturierung des Wissens geht dabei zugleich mit einer Verwissenschaftlichung von Sprache selbst einher. In die-

69 Kybernetik und Informationstheorie sind in dieser derridaschen Tradition durch ihre »Struktur des Wissens, die willentlich auf binären Oppositionen aufgebaut sind« bereits als »die Epitome des Logozentrismus« dargestellt worden, als »Niederschlag aller logozentrischen Eigenschaften in einer singulären Gestalt« (Kay 2001: 495), vgl. auch Gasché 1986: Kap. 8. 70 Vgl. den unmittelbar nach der Monographie erschienen und noch expliziteren Aufsatz: Kay 2001, insb. 494ff; vgl. auch Kay 2004.

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sem Prozess werden ihm zufolge hinsichtlich bestimmter Prozesse der Inund Exklusion von Aussagenkomplexen »die Funktionen der Regulierung und daher der Reproduktion mehr und mehr den Verwaltern entzogen und Automaten anvertraut« (Lyotard 1979: 31). Eine auch in postmodernen Kontexten noch immer selbstverständliche Regulation von Diskursen und die spezifischen Regularien ihrer Reproduktion werden im Zusammenhang der lyotardschen Postmoderne-Diagnose ausdrücklich und buchstäblich mit informationstechnischer Automatisierung verknüpft: Einer Automatisierung, die ihre Wurzeln in der Kybernetik hat. In Postmoderne-Debatten ist von diesem Faktum selten die Rede. Jean Baudrillard sprach zuvor, 1972, noch ein wenig undifferenzierter einen aus der Kybernetik entstehenden sozialen Komplex an, einen »dezentralisierten Totalitarismus« (Baudrillard 1972: 295).71 Konstruktiver verfolgt spätestens ab 1980 z.B. Michel Serres’ Parasit eine indirekte Auseinandersetzung mit der Kybernetik. Eine von Serres mitherausgegebene epistemologische Untersuchung zum Entstehen des Computers deutet später diese Kontexte methodisch von einer Kontingenz und Umwidmung betonenden Geschichtsschreibung ausgehend (vgl. Levy 1994). Michel Foucaults Texte greifen parallel, zwischen den 1960er und den 1980er Jahren, nicht zuletzt diagnostisch zentrale kybernetische Begriffe wie Code, Relais, De- und Encodierung auf.72 Foucaults Diagnosen setzen tastender und, ähnlich wie zeitgleich Deleuze, grundsätzlicher an, auf eher nicht regelkonforme Weise. Im Besonderen seine Texte von 1978/79 zur sog. ›Gouvernementalität‹ lassen sich lesen als Versuche der Prozeduralisierung und Dynamisierung von Staats-Phänomenen unter Gesichtspunkten von Biomacht, z.B. einer historischen Diversifikation der Analyse von ›Staatsapparaten‹ in neuen, um Subjekte herum gruppierten, immer wieder neu ansetzenden Frameworks. Aus der Perspektive der Spätphilosophie werden diese

71 Vgl. den Schlüsseltext, der Foucault und Deleuze eine »merkwürdigen Komplizenschaft mit der Kybernetik« (Baudrillard 1983: 42) anträgt. 72 Vgl. zur Parallelisierung Foucaults mit dem Informationsphänomen: Poster 1983: 53ff, 146ff. Foucault erschließt laut Poster den neuen historischen Kontext nicht mehr eines neuen mode of production, sondern eines neuen mode of information, in dem strukturell die working population in einer Dynamik aufgehe, in der »people acting on information and information acting on people«. Z.B in devianten Gruppen werde »Surveillance [...] accomplished by setting in place a flow of information from the object under scrutiny to the authorities and to the collection of that information in files or memory banks.« (Poster 1983: 163). Dieser neuen Dynamik sind quasi-ideologisch alte, obsolete Positionen eingezeichnet, die längst in anderer Weise funktionieren: »The mode of information renders obsolete positions which depict human being as rational ghosts in corporal machines or laboring animals acting against nature in an alienating social fabric.« (Poster 1983: 169). Vgl. zum Verhältnis von Informationsgesellschaft und Panoptismus: Wunderlich 1999; ebd.: 364ff zu Posters informatischem Superpanopticon.

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zugleich als Mittler sichtbar zu späten Untersuchungen historischer Subjektformierungen. Foucaults Texte zwischen 1978 und 1983 können damit auch gelesen werden als immer differenziertere, historisch ausgreifendere, genealogische Versuche der Rekonstruktion bestimmter ›Technologien‹ des ›Regierens‹ und des ›Selbst‹, die sich mit Geburt und Kontinuierung spezifischer Produktionsweisen und Verlaufsformen dessen beschäftigen, was er zuvor, historisch spezifisch, Biopolitik und Biomacht nannte. Das läßt sich heute auch produktiv auf Gegenwart und ihre Geschichte beziehen: Was Norbert Wiener in Kontext seiner Wortprägung ›Kybernetik‹ implikationsreich personal benennt, rationale Künste des Lenkens, Lenkers, Steuermanns, des kybernetes können unausdrücklich mit angesprochen werden, nicht allein in der Wurzel eines Teils der kryptischen Wortneubildung Foucaults.73 Ihre lenkende Rationalität orientierte sich dann, im übertragenen Sinn, stärker am Kopf als am Körper, auch wenn sie diesen durchzieht – zugleich ist sie nicht personal konnotiert, eher funktional gesehen ›Kapita-

73 Brian Holmes bringt es treffend auf den Punkt: Es handelt sich um eine spezifische moderne Konstellation, in der lokale Praxisbereiche und ihre Subjektivierungsstrategien mittels Feedback hömoöstatisch befriedet werden. Also um soziale und politische Techologien, die etwas auslösen, das »essentially a feedback process« ist: »the endlessly renegotiated balances of a "microphysics of power" in which each individual contributes a vital force to the production of the social frameworks that condition his or her behavior.« (Holmes 2004). Claus Pias und Joseph Vogl haben, partiell aus foucaultscher Perspektive viele Vorarbeiten u.a. im ›kybernetischen‹ Gebiet vorgelegt. Z.B. hat Claus Pias implikationsreiche Überlegungen am Beispiel Chiles der frühen 70er Jahre, dem kybernetischen Regierungssystem cyberdyne durchgespielt: Pias 2003b; Pias 2005. Joseph Vogl hat den Kontext zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert einer ersten Sondierung unterzogen: Vogl 2004. Eine produktiv weiterführende Analyse von moderner ›Regelungstechnik‹ und ›-kunst‹ könnte, u.a. im Ausgang Otto Mayrs, u.a. bestimmte mediale Artefakte als vermittelnde Sedimente neuerer Dispositive heranziehen. Mit teilweise Weberschem Einschlag versuchte jüngst bereits John Agar (2003) traditionellere gouvernementalitätstheoretische Prämissen (vgl. Burchell, Gordon, Miller 1991) anhand dem Entstehen von Computern in Großbritannien zu reformulieren, ausgehend und in Wechselwirkung mit einer bürokratischen ›Regierungsmaschine‹. Begreift man den Gouvernementalitäts-Kontext stärker vom Dispositiv-Kontext aus, wird nicht nur die späte Historisierung von Typen eines situierten, humanen Selbstbezugs verständlicher, ohne Machtanalyse zugunsten einer neuen Leitkategorie ›Subjekt‹ hintanzustellen. Es werden Analysen denkbar, die sich nicht allein an ›Staats‹- oder ›Regierungs‹-Apparaten vollziehen, sondern auch weitere politische ›Apparate‹ fassen, die eine andere Dimension haben oder historisch folgen. Das Wort ›Gouvernementalität‹ wird strapaziert: Es geht weniger um die Analyse einer ›gouverneMentalität‹ als um spezifische Formen des ›gouvernement‹, neuen Formen seiner ›Institutionalisierung‹ im digitalen 21. Jahrhundert.

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le‹. Verschiedene (›Gouvernementalitäts‹-)Formen von nun ausdrücklichen, kybernetischen ›Steuerungs‹-Konzepten vollziehen sich spezifisch ›technologisch‹, ohne daß sich die jeweilige historische Rekonstruktion ihrer Technologien notwendig an der jeweiligen diskursinternen historischen Periodisierung orientieren müßte (z.B. Wiener 1949 passim; Wiener 1952: 20). In Nähe zu Foucault, hinsichtlich ›Staat‹ in Zeiten des Terrorismus in Streitpunkte verwickelt, entwickelt Gilles Deleuze parallel ein Maschinenkonzept, das ermöglicht, ›Technologie‹ in Wechselspielen vorgängigen Sozialtechnologien zu rubrizieren, einem historischen Wandel zentraler ›sozialer Maschinen‹ zu unterstellen: »Die Technologie ist folglich eher sozial als technisch.« (Deleuze 1986: 60; instruktiv: Lösch, Spreen et al. 2001). Deleuze schließt hierbei u.a. an den genauen, unkonventionellen und distanzierten Kybernetik-Kenner Gilbert Simondon an. Simondon hatte 1958 eine generelle Phänomenologie von Maschinen entwickelt, um bestimmte kybernetische Verkürzungen zu überwinden. Simondons Leitkritik reibt sich an kybernetischen Rubrizierungsversuchen von Technologien nach Genera und Arten. Ihm zufolge vollzieht sie sich so unter Absehen des historischen Werdens, einer Reversibilität, Interdependenz und Überdeterminiertheit der von ihm ›seriell‹ verstandenen technischen Individualitäten, ihren spezifischen Existenzmodi, funktionalen Diagrammen.74 Deleuze’ Maschinenkonzept ist ebenfalls in einer solchen Linie zu verorten, insofern in Nähe und zugleich subversiver Distanz zur Kybernetik (vgl. Deleuze 1980). Aufbauend auf einer subkutanen und nur teilweise deutlichen Kybernetik-Kritik, teils in ausdrücklicher Anlehnung an Virilio und Foucault, entsteht bei Deleuze zwischen 1980 und 1990 die Vorstellung des »gestreute(n) Aufbau(s) einer neuen Herrschaftsform« nach dem zweiten Weltkrieg, einer »Kontrollgesellschaft«: »Kontrollgesellschaften operieren mit Maschinen der dritten Art, Informationsmaschinen und Computern« (Deleuze 1990b: 260). Diesem neuen Typ wird ausdrücklich ein informatischer und kybernetischer Charakter zugeschrieben. Die im Gefolge der Kybernetik entstandene, neuartig ›reversible‹, feedback-bestimmte Form schlägt Deleuze als historische Folge einer foucaultschen Disziplinarmacht vor: »Während die Antriebsmaschinen das zweite Zeitalter der technischen Maschinen dargestellt haben, stellen die Maschinen der Kybernetik und Informatik ein drittes Zeitalter dar, das ein Regime allgemeiner Unterjochung wiederherstellt: rückläufige und umkehrbare Menschen-Maschinen-Systeme ersetzen die alten, nicht rückläufigen und nicht umkehrbaren Beziehungen zwischen den beiden Teilen. Die Beziehung zwischen Mensch und Maschine beruht auf wechselseitiger, innerer Kommunikation, und nicht mehr auf Benutzung oder Tätigkeit [...] Wenn [...] durch die Automatisierung das konstante Kapital proportional immer stärker zunimmt, der Mehrwert ein

74 Eine neue Botanik des Technischen, keine neue Technik der Beobachtung. Vgl. Simondon 1958, Dupuy 1994: 120 sowie einleitend Schmidgen 2004; zur Kritik vgl. Abschnitt IV.3. (textuelle Vollzüge einer Präparierung neuer Objektklassen).

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maschineller Mehrwert wird und der Rahmen sich auf die ganze Gesellschaft erstreckt, findet eine neue Unterjochung statt. Man könnte auch sagen, daß ein bißchen Subjektivierung uns von der maschinellen Unterjochung fortgeführt hat, während sehr viel davon uns dorthin zurückführt« (Deleuze/Guattari 1980a: 634/635)

Die Zusammenhänge der Verwendung der neuen, dritten, nun ›universellen‹ Maschinen kann unter der Hand quasi einer Apotheose nahekommen, macht dann ihre ›Nutzer‹ zu Teilen einer neuen »Maschine zur Fabrikation des Göttlichen«. Umgekehrt haben diese Maschinen das Potential, zu einer »Maschine zur Fabrikation des Sklaven« (Deleuze 1962: 172, 68) zu werden, einer neuen ›abstrakten Maschine‹ mit neuen Subjektivierungstypen. In dem Maß, in dem »der Mensch [...] mit [...] Kräften [...] des Silizium in der Maschine [...] in Beziehung tritt« (Deleuze 1990a: 160) streben die neuen ›universellen Maschinen‹ nicht mehr, wie bei ›Gott‹ und ›Mensch‹, »um die Erhebung ins Unendliche, noch [...] die Endlichkeit«. Vielmehr handelt es sich nun »um ein Unbegrenzt-Endliches [...] in der eine endliche Anzahl von Komponenten eine praktisch unbegrenzte Vielfalt von Kombinationen ergibt. Ihr Mechanismus bestünde weder in einer Faltung noch einer Entfaltung, sondern in so etwas wie einer Überfaltung, die sich zu erkennen gibt in den Ketten des genetischen Codes, in den Potentialitäten des Siliziums in den Maschinen der dritten Art ebenso wie in den Konturen des Satzes in der modernen Literatur« (Deleuze 1986: 188)

In der modernen Literatur hat sich Sprache wie in der Informationstheorie befreit »sogar von dem, was sie zu sagen hat« (ebd.: 189). Wie später Foucault selbst, teilt Deleuze dessen anfängliche Euphorie gegenüber der Sprache moderner Literatur nicht mehr, betont sogar das Gegenteil: Was ihm in Filiation der Kybernetik geschieht, »ist die Ankunft einer neuen Form, weder Gott noch Mensch, von der man hoffen mag, daß sie nicht schlimmer sein wird als die beiden vorausgehenden.« (ebd.) Diese neue Form bedient sich an menschlichen Subjektivierungspunkten einer Verbindung von »Informatik [... und] Humanwissenschaften« als »abstrakten Übercodierungsmaschinen« (Deleuze 1980: 140). Sie arbeitet nicht mehr allein, wie Foucault es 1975 beschrieben hatte, mit disziplinarischen »Gußformen«, vielmehr mit dynamischen, wellenhaften, zu besurfenden »Modulationen« (Deleuze 1990b: 256), sich kontrolliert transformierenden und zugleich immer stärker detaillierenden Formen. Deleuze verortet sie nun jenseits des Staates und der Fabrik, in der Nähe des Markts und von Unternehmen.75 Die neue kybernetisch-informatische Machtform rückt für Deleuze von der Bildung von Organismen im Makromaßstab ab, vollzieht sich stärker im Mittelfeld: In jeweils lokalen Strukturen des konkreten Umfelds der sich dauerhaft und unabschließbar einer digitalen »Dividuation« unterwer-

75 Vgl. Differenzen zw. Deleuze 1980 (teilw. 1986) und 1990a, 1990b.

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fenden Individuen. Das bildet Deleuze zuletzt eine weiterreichende und immer ›punktuellere‹ Basis neuer statistischer Verdatungen von neuartig begrenzten Massenphänomenen (Deleuze 1990b: 258). Fast parallel, 1987, explizierten Michel de Certeaus theoretische Fiktionen eine ebenfalls deutliche Kritik der Informatik. Im Unterschied kapriziert er sich hierbei stärker auf neue Wahrheitspraktiken einer sich informatisierenden Geschichtsschreibung, ihre neue Objektivitätstypen. Certeau sieht hierdurch Geschichtsschreibung einer bestimmten ›fiktionalen‹, genealogischen Provenienz gefährdet (Certeau 1991). Paul Virilio erkennt dann zwischen 1994 und heute einen sich von der Kybernetik herschreibenden (Virilio 2011: 89) »Informationskomplex« (Virilio 1994: 31, vgl. Virilio 2011: 36/37), spricht ausdrücklich eine »Herrschaft der Informatik« (Virilio 1994: 125) an. Eine ihrer Hauptverlaufsform sind ihm »Biotechnologien der Information« (ebd. 137; Virilio 2011: 62). Mittels Kolonisierung des Körpers entwickelt sich ihm zufolge ein »Metadesign des Bewußtseins und der Wahrnehmungsfähigkeiten, bei dem die Herrschaft der Informatik schließlich den Köper [...] diesseits der Kleidung und Uniform erreicht« (Virilio 1994: 125). Subversiver und ironischer begann bereits 1985 Donna Haraways Cyborg eine breitere Wirkungsgeschichte. Dieser ›Cyborg‹ ist situiert in der kybernetisch-informatisch geprägten Welt einer »Informatik der Herrschaft« (Haraway 1991, 48, 1985: 254, passim). In dieser Welt herrscht ihr zufolge u.a. eine Kommunikationstheorie der ›universal translation‹, die alles zerlegen, rekombinieren und mit allem in Verbindung setzen kann: Ein neuer, umfassender Verwertungszusammenhang. In einer solchen Welt ubiquitärer Informationscodes versucht Haraway identitätspolitische Widerstandspunkte auszumachen, die Subversion ermöglichen können, u.a. eine ›Cyborg‹Menschenform. Denn für Haraway verläuft Macht nun nicht mehr in »den bequemen, alten, hierarchischen Formen« (Edb.), sondern in neue, kybernetisch geprägte. Ihr Schüler Paul Edwards untersucht ab 1996 neben der CyborgMetapher historisch die Computerentwicklung im Gefolge des 2. Weltkriegs, mit besonderem Akzent auf Entwicklungen im Gefolge der Kybernetik, im ›kalten Krieg‹. Eine seiner Thesen besteht in der Annahme eines gemeinsamen Entstehens von Computertechnik und diesem politischen Zustand:76 Der Computer wird auch verstanden als eine (Ab-)SchließungsMetapher (›Closed World›), entstanden ausgehend von Roosevelts Containment-Doktrin, dem Versuch eines globalen ›Einschlusses‹ des zeitgenössischen politischen Anderen, des kommunistischen Blocks. Gegenüber üblichen ideengeschichtlichen und/oder technologiegeschichtlichen Darstellungen legt Edwards Gegengeschichte Wert auf die Rekonstruktion spezifischer Phänomene wie des SAGE-Abwehrsystems (semi-automatic ground environment) in seiner Entwicklung hin zu C3I (communications, command,

76 Neben Haraway Einflüsse vob Kay, White, Winograd, Turkle, Latour, Dreyfuß.

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control and intelligence), betont dabei kybernetische Implikationen und den kognitiven humanwissenschaftlichen Ansatz. An Haraway anschließend vertieft er seine beiden Hauptuntersuchungsgegenstände ›Cyborg‹ und ›Computer‹ als Diskurse und als Metaphern, als strategische Haupteinsätze einer militärisch ›geschlossenen‹ ›closed World‹ – der einer alternative, (basis-)demokratische, offene ›green World‹ gegenübersteht. Der ›Cyborg‹ gerät dabei als Menschenform in Zusammenhängen des Entstehens einer technokratisch-kognitivistischen Anthropologie in den Blick.77 Hier hat dann zuletzt, abermals von der Kybernetik ausgehend, Jean-Pierre Dupuy eine genauere historische Analyse insb. dieses Kognitivismus geleistet. Parallel ist 1994 mit Peter Galisons Ontologie des Feindes eine heute einschlägige Grundlage weiterer Auseinandersetzungen mit der Kybernetik erschienen. Weniger offen humanistisch als die frühere Kritik des Informatikpioniers Joseph Weizenbaum (Weizenbaum 1978) ist Galisons Hauptthese, die im Folgenden ebenfalls noch einmal genauer zur Sprache kommt, plakativ gesagt, daß sich im kybernetischen Gefolge auf Kontrolle und Überwachung basierende soziale (Vorhersage-)Dynamiken ausbreiten. Hierbei wird ausdrücklich eine im Kollektivsingular auftretende, poststrukturalistische Theorie kritisch in eine kybernetische Linie gestellt. Moderatere kybernetikkritische Linien verbreitern sich in den 1990er Jahren mit gewichtigen Nuancen: Während fast zeitgleich, 1996, Evelyn Fox-Keller die Kybernetik im Feld der Lebenswissenschaften durch Schrödinger und Jacob hindurch untersucht hatte, ist es zur Jahrtausendwende Lily E. Kay, die eine durch Foucault und Derrida inspirierte Diskursanalyse zur Entwicklung der Nachkriegsgenetik vorlegt. Kybernetik tritt als Machtrelais eines weiten epistemischen Bruchs der Sprachauffassung auf, in ihrem Gefolge spricht Kay von einem neuen »Epistem des Informationszeitalters« (Kay 2004: 187). Der seit dem 14. Jahrhundert mit einsichtiger und unterweisender Charakter- und Geistbildung verbundene »Begriff der Information« wurde durch die Informationstheorie »selbst in eine Metapher verwandelt« (Kay 2000: 41). Im Gefolge sei es durch Diffusion eines »Informationsdiskurs« (ebd.: 9), mittels Einschleppung eines zentralen Begriffs aus der Kybernetik in die Molekularbiologie und dann die Biochemie zu einer signifikanten »Rekonfiguration des gesamten Darstellungsraums und Diskurses der Enzymregulation und Proteinsynthese« (ebd.: 315) gekommen. Hierdurch wird Foucaults modernen Schlüsselbegriff »Spezifität durch einen metaphorischen Ausdruck ersetzt« (ebd.: 439 FN11) – den der Information. Für Kay bildet sich hierbei eine »neue Form von Bio-Macht« (ebd.: 387): »Oberhalb der zähen Materialiät der organischen Substanz angesiedelt und als Gedächtnis ihrer Form und ihres Logos geltend, hat Information seither andere Stufen der Kontrolle von Körpern und Populationen in Aussicht gestellt« (ebd.: 387). Am »Ort der Steuerung und Kontrolle des Le-

77 Einige Aspekte des Kontexts Cyborg werden an Filmanalysen, z.B. James Camerons ›Terminator‹, entfaltet, die Entwicklung des Internet ist noch ausgeblendet.

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bens« (ebd.: 20) entstehen Interventionsmöglichkeiten einer regulierenden »Bio-Textverarbeitung« (ebd.), informatisierte Sprachkonzepte des genetischen Codes gelten als Index »für das Auftauchen des Informationszeitalters« (ebd.: 17). Kay bezieht sich auf ein von Hans Blumenberg erstmals untersuchtes Gebiet (1986, insb. 372-410) und amalgamiert es subversiv u.a. mit Teilen von Galisons Kybernetik-Kritik – ohne dessen Kritik, z.B. an der poststrukturalistischen Theorie, vollständig teilen zu müssen. Joseph Vogl schlägt zur Jahrtausendwende in partieller Filiation von Lyotards informatisch-postmoderner »Transformation des Wissens« ähnliche, moderatere Töne an. Für ihn begründet die »Entstehung neuer Leitwissenschaften – Informatik und Kybernetik (…) eine spezifische Ausgangsbedingung für die Erhebung, Übertragung und Speicherung von Daten. In Zusammenhang mit elektronischen Rechenmaschinen und mit der sprachanalytischen Wende der Humanwissenschaften diktiert die informatische Ökonomie […] nicht zuletzt eine Art digital turn, mit dem sich die Kommunikations- und Verkehrsformen postindustrieller Gesellschaften, aber auch das Format für die Vergangenheit und Zukunft unseres Wissens neu definieren.« (Vogl 2000: 485).

Vogl konstatiert das Auftauchen eines »Zeichensystem[s] zweiter Ordnung«, das in dem Maß die Geschichte der eigenen ›Institution‹ vergessen läßt, als es an einem Gedächtnis aller prozessierten Daten laboriert: Das sich »zu einer ›Pseudonatur‹ verdichtet und als Menge unbefragter Wahrheiten und Wertsetzungen die Spuren seiner Verfestigung und seines Vertriebs fortwährend löscht.« (ebd.) Mit Foucaults Biomacht/Biopolitik-Konzept im Hintergrund erkundet Vogl diesen Kontext (Vogl 2005). Claus Pias leistet parallel u.a. Editionsarbeit zentraler Texte der Kybernetik (Pias 2003a, Pias 2004). Ähnlich wie Deleuze, Baudrillard, Virilio, Kay, Haraway und, radikaler, jüngst Tiqqun (Tiqqun 2001) geht auch er von der Geburt eines neuen »Typus von Macht« im kybernetischen Kontext aus. Ihm zufolge vollzieht er sich mittels des kybernetischen Informations-Begriffs, als eine neue, kontrollierende Regulationsform, die über Feedbackschleifen verfährt: »Grundlage dieser Kontrollmacht der steuernden über die gesteuerten Ströme aller Art (Begehren, Elektrizität oder Kapital) ist die Rückkopplung, durch die die Differenz zwischen aktuellem Zustand und Sollzustand eines Systems wieder in dieses eingespeist wird. Dieser Informationsfluß ermöglicht die permanente Laufzeitkorrektur eines Systems und läßt zugleich Fehler oder Pathologien als Störung von Rückkopplungsschleifen und damit als Kommunikationsproblem erscheinen. Die Kybernetik ersetzt also Begriffe wie Bewußtsein, Leben und Seele durch Nachricht, Kontrolle und Rückkopplung und geht damit wesentlich über den traditionellen biologischen Materialismus und über vorangehende Homöostaten hinaus.« (Pias 2000: 428)

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Diagnosen zur Machtförmigkeit des Kontexts, teils bereits in Nähe zu Biomacht-Fragen,78 werden aktuell auch und insb. in Pias’ und Vogls Zugängen weiter unterstrichen und untersucht. Die Positionen, die im Gefolge ›poststrukturalistisch‹ informierter philosophischer Positionen entstandenen sind, erkennen also fast durchgängig ein neues Dispositiv oder mindestens die Genese einer neuen, kybernetisch fundierten Machtform. Teilweise sind damit also bereits erste Protagonisten berührt eines Kybernetik untersuchenden Gegenwartsdiskurses. Bevor ein analytischer Durchgang durch das frühe kybernetische Gebiet selbst beginnt, wird noch kurz genauer auf einige der aktuell relevantesten Zugänge und Perspektivierungen des kybernetischen Felds eingegangen, um dort vorliegende Problemstellungen, Arbeitsschwerpunkte und Linienführungen stärker zu verdeutlichen. In Auswahl, Anordnung und Darstellung wird damit eine letzte Einengung und Perspektivierung des Feldes möglich, zugleich letztmals partielle Kontrast- und Anlehnungsfolien zu den dann folgenden Analysen zur frühen kybernetischen Landschaft – als einem zentralen historischen Hintergrund des Entstehens des Computers.

4. F ORSCHUNGSSTAND : P HILOSOPHIE , K ULTURWISSENSCHAFT 4.1 Postmoderne: Informationsgesellschaft [J.-F. Lyotard] »Es ist nicht einzusehen, welche andere Orientierung die zeitgenössischen Technologien annehmen könnten, die sich als Alternative zur Informatisierung der Gesellschaft anbieten würde.« J.-F. LYOTARD

Der folgende Überblick zentraler Positionen der aktuellen Forschungslandschaft beginnt klassisch, mit einem philosophischen Text Jean-Françoise Lyotards. Lyotard konkretisiert bereits 1979 in einer Auftragsarbeit für den Universitätsrat der Quebecschen Regierung »über das Wissen in den höchst entwickelten Gesellschaften«79 (Lyotard 1979: 9), dem postmodernen Wissen, eine neue Form, ein neues Wissens-»Statut« (Lyotard 1979: 10). Es wird nun vorgestellt als kybernetisch bestimmt.

78 Vgl. zur impliziteren Parallelisierung, neben Texten Haraways, teilw. Hayles’ und Virilios, jüngst Rötzer 1996, Pias 2000, Pias 2004, Kay 2004, Vogl 2004. 79 Gesellschaft wird bei Lyotard nicht als integrierte Ganzheit, sondern als Maschine verstanden. Vgl. den Hinweis zu Mumford: Lyotard 1979: 30.

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Lyotard betont grundsätzlich eine Unterordnung wissenschaftlichen Wissens unter den Diskurs, d.h. Sprachspiele allgemein (vgl. ebd.: 21ff).80 Dies geschieht nun allerdings mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß in der postindustriell werdenden Nachkriegszeit, in einem sich in den hochentwickelten Ländern eröffnenden »Zeitalter der Informatik« (ebd.: 20), neue Leitwissenschaften entstehen. Diese Wissenschaften haben nun allesamt Sprache selbst zum Gegenstand. Lyotard gibt Hinweise, auf welche Weise, mit welchen Mitteln dieser neue wissenschaftliche Gegenstandsbezug vollzogen wird, in dem sich Wissen transformiert: Er unterstreicht eine »Charakteristik, [...] die unser Objekt sofort bestimmt« (ebd.). Die für Lyotard relevantesten Wissenschaften der Nachkriegszeit sind nur in zwei von neun Fällen nicht ausdrücklich durch Informationstechnologie bestimmt. Alle Fälle wurden mindestens epistemisch durch die Kybernetik geprägt: Linguistik und der Konstruktivismus im Gefolge Watzlawiks stehen als zwar kybernetisch geprägte, aber (noch) nicht explizit informationstechnisch flankierte Wissenschaften neben der neuen Leitwissenschaft Kybernetik selbst, neben einer neuen Kommunikationstheorie, der modernen Algebra und Informatik, neben Programmiersprachen, Sprachübersetzung, Datenbankpflege und Telematik als neuen, postindustriellen Leitwissenschaften. Es ist eine primär informationelle, »technologische Transformation« (ebd.: 11), die Lyotard zufolge im selben Maß, in dem Wissen »sein Statut wechselt« (ebd.) eine »Hegemonie der Informatik« (ebd.: 13) ausprägt. Hierbei transformiert sich ›Wissen‹, zum einen die Forschung selbst, z.B. die Nachkriegsgenetik, zum anderen wird eine Transformation der »Übermittlung« (ebd.: 11) des gesammten Erkenntnisprozeßes konstatierbar vom Erwerb bis zur Nutzbarmachung. Hierdurch verfällt nicht nur das klassische Prinzip einer »Bildung des Geistes« (ebd.). Wissen verliert zugleich seinen ›Gebrauchswert‹. In dem Maß, in dem es nicht mehr zu verinnerlichen ist,81 sondern durch eine »starke Veräußerlichung« (Lyotard 1979: 13) geprägt

80 Lyotards Versuch einer pragmatischen Fundierung von Sprache (Lyotard 1979: 21) ist eingebettet in ein Sender-Empfänger-Referent Modell, das seine Grundgedanken zu Sprechakten und Sprachspielen (agon, Wettstreit) tendenziell in bestimmtes Licht rückt (vgl. zum Verhältnis von Sprachspiel und sozialen Relationen: ebd.: 34ff.). Dennoch geht Lyotard davon aus, daß Sprachspiele nicht in einer Mitteilungsfunktion für Information aufgehen, vielmehr die kybernetische Informationstheorie den agonistischen Aspekt von Sprachspielen unter den Tisch fallen läßt (ebd.: 35). Institutionen und ihre Grenzen gelten als »Resultat und Einsatz durchgeführter Sprachstrategien« (ebd.: 37), also von Sprachspielen. Wie sich dazu die konstatierte »Atomisierung des Sozialen« weniger in Individualatome als »lockere Netze des Sprachspiels« (ebd.: 36) verträgt und ob hier dann noch zu grundlegende institutionelle Veränderung möglich ist, bleibt offen. 81 Vgl. zur Veränderung von veränderten liberalen Subjektivierungsprozessen, einem schwachen Selbst am Leitfaden Musils Mann: Lyotard 1979: 32f (FN 54).

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ist, wird ›Wissen‹ zum Konsumartikel: Aussagen werden zu »Waren par excellence« (Lyotard 1979: 137). Wissen beginnt für Lyotard also im Tauschwert aufzugehen und zugleich zu einer Produktivkraft zu werden: Das »wissenschaftliche und technische Wissen [...] akkumuliert« (ebd.: 18) sich auf neue Weise.82 Das kann allerdings nur unter der Bedingung geschehen, daß Wissen, insb. das narrative (vgl. ebd.:19f), ins neue Paradigma »übersetzbar« (ebd.: 12) ist, neuartig quantifizierbar wird. Der neuen, »informatisierten Warenform« entspricht also eine »Ökonomisierung des Wissens« (ebd.: 14) – was später in anderer Perspektive schlichter einer neuen, »postfordistischen« Formation (Hirsch/Roth 1986: 136) des Kapitalismus unterstellt wird.83

82 Parallel erkennt Lyotard eine Veränderung staatlicher Funktionen: »Der Staat wird für die Ideologie der kommunikativen Transparenz, die mit der Kommerzialisierung des Wissens einhergeht, als ein Faktor der Undurchsichtigkeit und des Rauschens erscheinen« (Lyotard 1979: 15f sowie ebd.: 31ff). 83 Bestimmte neo-marxistische und neo-adornitische Theorien unterstellen, daß man es bei der Entwicklung der Informationstechnologien mit neuen politischen Ökonomien, Arbeitstypen, Subjektivationsformen zu tun hat, die – im Gegensatz zur Durchschlagskraft dialektischer und materialistischer Traditionen – mit poststrukturalistischer Theoriebildung nicht mehr hinreichend zu fassen und kritisieren sind. Eine fundamentale Kritik der neuen Formation ist dem Poststrukturalismus verunmöglicht durch dessen Verwurzelung, er kann sich quasi nicht mehr weit genug aus dem Fenster gegenwärtiger epistemische Bedingungen hinauslehnen und hat zugleich dialektische Methoden verworfen. Damit ist er Teil einer filiative Linie, die man versucht theoretisch zu bekämpfen. Hierbei besteht nun die Gefahr, sich mittels Determinationsthesen eines reflexiven Überschusses des vermeintlich determinierten zu berauben. Antikapitalistische Kritik funktioniert auch in Rekurs auf poststukturalistische Theorie (jüngst: Tiqqun 2001), wenn auch teilweise eher im »schwarzen Block« (Tiqqun 2000b: 111). Die Performanz bestimmter puristisch-kritischer Theoriebildung treibt entgegen ihrem avantgardistischen Auftreten so auch Stagnation voran, dient teilweise stärker der Reproduktion von Schulbildungsprozessen als praktischer Intervention: Ebenefalls ein postmodernes, identitätspolitisches Ziel. Weder gibt es den rechten Klassen-, noch den technik-/medientheoretischen Standpunkt. Vgl., traditioneller, zum ›fordistischen‹ und ›postfordistischen‹ Kontext, u.a. auch zu Gentech: Hirsch/Roth 1986: 115, allg. ebd. 106ff. Neben einer »Flexibilisierung von Mensch und Maschine« (ebd.: 106) wird hier eine »mikroelektronische Akkumulationsstrategie« (ebd.: 114) verfolgt, die zu einer »Entgesellschaftlichung der Gesellschaft« (ebd.: 119), einer neuen Stufe der »Kolonialisierung der Lebenswelt« (ebd.: 120) führt, einer neuen »Durchstaatlichung der Gesellschaft« (ebd.: 143), einem neuen Typ von »Überwachungsstaat« (ebd.: 146). Mikroelektronik gilt hier als »entscheidender Einschnitt in der Geschichte des Kapitalismus« (ebd.). Der flankierende Subjektivationstyp nach dem »Zusammenbruch des keynesianischen Hegemonieprojekts« (ebd.: 77) ist die »Kon-

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Aber auch bereits bei Lyotard wird eine neue Logik des Verhältnisses transnationaler Unternehmen gegenüber Staaten untersucht, die mit dem Erstarken des Liberalismus,84 dem Niedergang des Wohlfahrtsstaates einherging (vgl. Lyotard 1979: 15f). Sämtliche Ereignisse werden bei Lyotard einer Logik informatischer Hegemonie rubriziert:85 Sie erläßt »ein Gefüge von Präskriptionen« (ebd.: 13) zu »akzeptierten Aussagen« (ebd.), um parallel In-/Exklusionsprozesse zum neuen Wissensmodus technisch automatisiert zu regulieren, wobei »die Funktionen der Regulierung und daher der Reproduktion mehr und mehr den Verwaltern entzogen und Automaten anvertraut« (ebd.: 31) wird. Entscheidend ist zuletzt Lyotards Aufarbeitung der ›postmodernen‹ Informatisierung selbst. Er konstatiert eine weitreichende Transformation jeglicher Forschung. Die Nachkriegsgenetik gilt dabei als Paradebeispiel, da sie ihr »theoretisches Paradigma der Kybernetik verdankt« (ebd.: 11). Auf den Erkenntnisprozeß bezogen zeichnet sich die Transformation durch eine »Normalisierung, Miniaturisierung und Kommerzialisierung der Geräte« aus: Informatische Geräte, Computer, »Informationsmaschinen« (ebd.: 12). Lyotard ist äußerst konkret im ›Bericht‹ von 1979, der die »Ordnung beobachtbarer Realitäten« (ebd.: 17) konstatiert des neuen, postmodernen Wissens: Informatische Hegemonie und Logik eines neuen Typs der Wissensakkumulation und -subversion, kybernetisch fundiertes Paradigma der Genetik, kybernetische Transformation theoretischer Grundlagen ganzer Disziplinen, informatische Transformation möglichst jeglicher Forschungsaktivität mittels Computern. Lyotards Rekurse auf Kybernetik und Informa-

summonade« (ebd.: 61/62), ein »minimal self« (ebd.: 91). Vgl. zur Verflüssigung von Machtbeziehungen in Rekurs auf Castells: ebd.: 166; in Rekurs auf Foucault ebd.: 146ff: »Die postfordistische Vergesellschaftungsform verändert auch die Mikrophysik der Macht: in einer sozial atomisierten und heterogenisierten Selbstüberwachungsgesellschaft gewinnt auch der Begriff des autoritären Staats neue und komplexere Dimensionen.« (ebd.: 148). Wolfgang Coy sind dann Computer »geronnene Kontrollinstrumente tayloristischer und fordistischer Arbeitssysteme« (Coy 1994, 26). Vgl. zum Taylorismus, anders gewichtet: Haraway 1985: 239, zur Verbindung von Computer und Kapitalismus Chandler/Cortada 2000: 215: »the next turn of the knob on the nature of capitalism«. 84 Vgl. die gegen eine lyotardsche und teils foucaultsche Perspektive gerichtete, krypo-adornitische Perspektivierung: Röteln 2004, traditioneller Fraser. Vgl. zur traditionelleren Neoliberalismus-Kritik, Lyotard nur streifend: Boltanski/Chiapello 1999, Hirsch/Roth 1986, Bröckling/Krasmann/Lemke 2000, in besonderen Lemke 2000, allgemeiner Reichert 2004. 85 Vgl. den Hinweis, daß Kybernetik Gesellschaft als lebenden Organismus verständlich macht (Lyotard 1979: 25) sowie zu einem Luhmann, der soziale Krisen als Verbesserung des »Lebens des Systems« (ebd.: 26) entwirft. Vgl. die »Transformation der Kämpfe und ihrer Organe in Regulatoren des Systems«: ebd.: 29.

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tisierung sind zentraler Ausgangspunkt seiner wirkungsmächtigen ›Postmoderne-Diagnose‹. Warum wurde das eher selten im Auge behalten?

4.2 Fundamentalkritik [P. Galison] »Ich habe den Eindruck gewonnen, daß wir hier vor andersartigen sozialen Möglichkeiten stehen, die von unerhörter Wichtigkeit für Gut und Böse sind.« N. WIENER

15 Jahre nach Lyotard, 1994, wird Peter Galisons Text Ontologie des Feindes. Norbert Wiener und die Vision der Kybernetik publiziert. Mittlerweile gehört er zu den einflussreichsten Texten der gegenwärtigen Forschungslandschaft. Galison leistet archivarische Quellenarbeit, insb. zu Norbert Wiener und dem soziokulturellen Milieu einer zwischen Entstehen und Institutionalisierung begriffenen Kybernetik. Die Durchdringung dieses Materials ist hier spezifisch ausgerichtet. Anschließend an eine Charakterisierung Norbert Wieners zu den Achsenfeinden des 2. Weltkriegs als ›manichäische‹ und ›augustinische Teufel‹ wird ein Feld von »Kriegswissenschaften« (Galison 1994: 437) angesprochen: operations research, Spieltheorie und Kybernetik kommen als »manichäische Wissenschaften« (ebd.) in den Blick. »Wissenschaft im Kriegszustand« (ebd.: 440) wird artikuliert: Diese Wissenschaften bilden Galison zwischen 2. Weltkrieg und ›kaltem Krieg‹ eine wirkmächtige »Ontologie des Feindes« (ebd.: 474) heraus.86 Zentral ist Galison hierbei eine Veränderung in der Struktur der Bildung moderner Feindbilder, eine Verschiebung leitender anthropologischer Grundannahmen zur Strukturierung von ›Feind‹-Schemata. In Galisons Perspektive vollzieht sich diese Verschiebung durch bestimmte ›manichäische‹ Wissenschaften hindurch, unter Federführung der Kybernetik. Galisons Text geht davon aus, daß sich offen rassistische Stereotype zum jeweiligen, feindlichen alter hierdurch in dem Maß zurückziehen können, in dem alter und ego nun gleichermaßen kybernetisch aufgefaßt werden können, als servomechanische Systeme, als spiegelbildlich »kaltblütiger, machinenartiger Opponent« (ebd.: 435). Der vormals schlicht rassistisch perspektivierte Feind wird stetig als eine feindliche Mensch-Maschine-Symbiose modellierbar. Ausgehend von Norbert Wieners Kriegsforschung, einer Integration von Flakhelfern in einen zielführenden Feedback-Automaten, anti-aircraftpredictor, kann nun der ›Feind‹ nicht mehr »losgelöst von [...] Bombern und

86 Galisons rekurriert auf operations research, Optimierungen zur Ortung/Zerstörung im U-Boot-Krieg, spieltheorische Ansätze der Analyse eines rationalen Verhaltens, ›feindlich‹ verstandener Gegenüber – und der kybernetische AApredictor zur statistischen, feedbackgesteuerten Feindbewegungsvorhersage.

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Flugabwehreinheiten« (ebd.: 458) in den Blick geraten: »Mensch, Rechner und Feuerkraft« werden in ein »integriertes System« (ebd.: 440) zusammengefaßt. Parallel zum Entstehen der Kybernetik entsteht ein abgeschlossenes »Mensch-Flugzeug-Radar-Prädiktor-Artillerie-System« (ebd.: 460).87 Die so situierten ego und alter werden verortbar in einer wenig vertrauensvollen (Krieg-)Welt der aufkommenden ›Spieltheorie‹: »vollkommen intelligente, vollkommen rücksichtslose Operatoren« (ebd.: 475). Für Galison implizieren die neuen kybernetischen Wissenschaften in ihrer Einebnung vormals zentraler Differenzen zwischen Mensch, Tier und Maschine ein »agonistisches« (ebd.: 467) Interaktionskonzept. Hierbei sind nun alle Relata sämtlicher Relationen, auch der ›Feind‹, prinzipiell identisch verfaßt: Eine »theoretische Darstellung« ist im Entstehen, »in der Information, Statistik und Strategien auf Züge und Gegenzüge angewandt werden, in einer Welt von gegnerischen, aber grundlegend gleichartigen Kräften« (ebd.: 475). Wenn so »Monade gegen Monade, Nachricht gegen Nachricht, mechanisierter Mann gegen servomechanischen Feind« kämpft (ebd.: 468), kommt für Galison »die Opposition im Kern jeder menschlichen Beziehung zur Außenwelt zu liegen« (ebd.: 477). Mittels kybernetischer Konzepte sollen die derart verorteten Beziehungen zugleich vorhersehbar und kontrollierbar werden. Neue Zugriffstypen ermöglichen eine Antizipation potentieller Reaktionen auf verschiedenste Zugriffsoptionen, erlauben eine immer weitreichendere Optimierung, Anpassung an die jeweiligen Freiheitsgrade des ›Feindes‹. Zufall soll ausgeschlossen werden. Bedingt durch einen solchen, kybernetischen »Engel der Kontrolle« (ebd.: 478) finden Galison zufolge weitreichende »Veränderung unsere(r) Beziehung zur Welt« (ebd.) statt. Kybernetische Servomechanismen werden »zum Prototypen für die menschliche Physiologie und schließlich für alles Menschliche« (ebd.: 437). Eine »Totalisierung« (ebd.), »Universalisierung« (ebd.: 434) der zugrundeliegenden kybernetischen Axiomatik bereitet sich vor. Das geschieht Galison bereits bei Wiener, mittels einer neuen »Philosophie der Natur« (ebd.: 437) – und zugleich gerät ›Poststrukturalismus‹ in Verdacht der kybernetischen Filiation.88 Wie Otto Mayr reiht auch Galison Kybernetik in eine politische Geschichte von Rückkopplungssystemen ein, sieht in ihr die Artikulation einer politisch »liberalen Einstellung« (ebd.: 472, vgl. Mayr 1967: 122).89 Kyber-

87 Vgl. die Studien zum geschlossenen, ›kalten‹ Nachkriegssystem: Edwards 1996. 88 Historiker der Kybernetik wie Heims artikulieren implizit Zweifel an dieser These, z.B. zu Foucault Heims 1991: 66. 89 Vgl. Wiener 1968: 63: »Wenn das 17. und das frühe 18. Jahrhundert das Zeitalter der Uhren war und das späte 18. und 19. Jahrhundert das Zeitalter Dampfmaschinen, so ist die gegenwärtige Zeit das Zeitalter der Kommunikation und Regelung«, ein »Zeitalter der Servomechanismen« (ebd. 68). Uhrenzeitalter wird mit Newtonischer Physik, Dampfmaschinenzeitalter mit Thermodynamik, Kommu-

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netik geht ihm also ebenfalls nicht in etwas rein Technischem auf. Hier entstehe ein »abstrakter Begriff der Rückkopplungssysteme« (Galison 1994: 472) zu dem es kein frühmodernes oder sonstiges historisches Äquivalent gäbe. Als soziokulturelles Spezifikum der Kybernetik stellt er heraus, daß sie »explizit auf Kriegserfahrung beruhte« (ebd.: 473). Es ist die kriegsrelevante Entwicklung »selbstregulierter Waffen« (ebd.: 474), die eine neue Machtpraxis prägten: Gewissermaßen eine vorhersagende Praxis-Hermeneutik. Ihr Ziel besteht darin, den »versteckten Feind entziffern« zu können, indem sie zu prädiktiven, letztlich ausschaltenden Zwecken anhand bisher angefallener Daten »seine Handlungen« (ebd.: 473) kalkulativ antizipieren. Mittels Gleichschaltung von Intentionalität und ›selbstkorrigierenden‹ Feedbackprozessen wird hierbei noch nicht das traditionelle Intentionalitätsmodell überwunden. Es kann vielmehr als kybernetischer Ausgangspunkt verstanden werden. Ein Ausgangspunkt, der systematisch ausgerichtet wird mittels einem technogenen Teleologie-Begriff in Verbindung mit neuen, handlungsantizipierenden Zerstörungswaffen (vgl. IV. 2). Galison wird das »manichäische Weltdrama« (ebd.) des 2. Weltkriegs und des folgenden kalten Krieges also zur Geburtsstätte neuer, sich bis zur Epochensignatur verdichtenden, »kybernetischen Technologien«: »Regler, Thermostaten und Spannungsregler konnten ein kybernetisches Zeitalter nicht einleiten – Waffen konnten es.« (ebd.). Ihr Entstehen entstammt einem Problem, das Entscheidungen auf Leben oder Tod notwendig machte: »Der Zweite Weltkrieg machte das Verständnis der feindlichen Intentionen zu einer Frage des Überlebens« (ebd.: 473). Dadurch beginnt hier jede signifikante politische Differenz, jedes »Durcheinander, Rauschen und Unkontrollierbarkeit« (ebd.: 477) wissenschaftlich behandelbar zu werden in dem Maß, in dem es als feindlich gelten kann. Galisons Perspektivierung der Kybernetik schließt mit emphatischen Bekenntnissen zu Kontingenz. Galisons Text fordert Kritik heraus. Er geht in seinen bellizistischen Grundkoordinaten moderater vor, betritt das Feld aber teils stark komplexitätsreduktiv. Nicht zuletzt personal-intentionale Zuschreibungsmethoden und die Auseinandersetzung mit ›dem Poststrukturalismus‹ ist problematisch. Das Kaprizieren des Textes insb. auf Wiener ist zwar begründet, macht wichtiges Archivmaterial lesbar und versucht allgemeinere Verbindungen der Kybernetik bis hinein in die Philosophie zu thematisieren. Manches davon geschieht allerdings stark vereindeutigend, z.B. ist die Bearbeitung Lyotards streckenweise oberflächlich, die konstatierte Ähnlichkeit ausgewählter Kategorien seiner Gegenüberstellung zur Kybernetik (vgl. ebd.: 466) besagt letztlich kaum etwas zur These einer Strukturäquivalenz oder gar Filiation und wird zugleich eher kursorisch gestreift. Galisons Referat Haraways zeigt zwar manches tiefere Verständnis für deren ambivalente,

nikations- und servomechanisches Zeitalter mit Kybernetik assoziiert: ebd. 62/63. Wiener parallelisiert dazu Automatentypen (Spieluhr, Wärmemaschine, automatische Türöffnung/Geschützleitung/Berechnungsautomat): ebd. 64.

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subversiv-ironische Zugänge auf das Gebiet, zugleich ist es grundiert von einem eher traditionellen humanistischen Modernismus (ebd.: 471). Neben der vergeblichen Suche nach subjektphilosophischen Axiomen und neben Verantwortungs-Appellen im Kontext wird tendenziell eine komplette Aussetzung des beschriebenen Kontexts nahegelegt, subversive Umwidmungen des Gegenstandsfelds werden, wenig anschlußfähig, eher verworfen. Der Text bündelt damit auf kreative und kritische Weise zeitgenössisch neue Thesen und teilweise seltenes Material. Er eröffnete eine Debatte, also verschieden gewichtete theoretische Anschlüsse weiterer Untersuchungen. Galisons Text ist rezeptionspolitisch zentral, schuf neues Problembewußtsein.

4.3 Strategem Cyborg [D.-J. Haraway] »Normierung verwandelt sich in Automation [...] Moderne Maschinen sind quintessentiell mikroelektronische Geräte, allgegenwärtig und unsichtbar. [...] Miniaturisierung hat sich als Macht herausgestellt.« D.-J. HARAWAY

Jüngst wurde oft betont, daß die ehemalige Leitwissenschaft Kybernetik zu Beginn/Mitte der 1980er Jahre seltsam aus der Diskussion verschwunden ist. Dieses Verschwinden wird teils als unheimlich empfunden.90 Ist seither eine Diversifikation eingetreten, ist sie im Mainstream angekommen, ist ihre z.B. epistemische Signifikanz ›blind‹ geworden? Zum selben Zeitpunkt empfiehlt sich erstmals das Präfix ›Cyber‹ zum Signum fortschrittlicher Diskurs- und Praxisgebiete. Spätestens mit der Geburt des ›Cyberpunk‹ (Gibson 1984),91 selbst Geburtort erster Vorstellungen von ›Cyberspace‹ und ›Cybersex‹, deutet die Vorsilbe auf eine immer stärker zwischen Science und (Techno-)Fiction changierende Populärkultur und ihre sich ausfaltende Diskurslandschaft. Das neue ›Cyber‹-Präfix scheint nun als Scharnier zu funktionieren zwischen bestimmten, (technik)wissenschaftlichen Ansätzen und neuen Formen der (Science-)Fiktion, die sie teilweise antreiben. Mit dem ›Cyber‹-Präfix ausgestattete Ausdrücke beginnen 10-15 Jahre vor der Popularisierung des Internet präformiert zu werden. Lange vor einer Zeit also, in der ›Cyberwar‹ und ›Cyberattacken‹ diskutiert werden: In einer Zeit, als erstmals ›Cyborgs‹ zur populärkulturellen Ikone werden, z.B. in Camerons Film Terminator von 1984.92

90 Vgl., als Indiz für den medialen Charakter der Kybernetik, Krämer 2005. 91 Vgl. zum für das Buch nicht unwichtigen Gebiet des sog. Steampunk, retrospektiv fiktionalisierten Maschinenstürmereien im Zeitalter von Dampfmaschine und Lochkarte: Gibson/Sterling 1990. 92 Vgl. die hervorragende Analyse des Films: Edwards 1996.

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Cyborgs, ›cybernetic organisms‹ ziehen aber nicht nur in die Populärkultur ein,93 sie fordern parallel auch bereits Kritik heraus. Und zwar insb. in der Form, in der sie in Raumfahrtprogrammen diskutiert werden, im Kontext der amerikanischen ›strategischen Verteidigungsinitiative‹, SDI, und durch militärische C3I-Forschungen hindurch.94 Am Kreuzungspunkt der gegenseitigen Durchdringung von ›Cybernetics‹ und den bisher noch eher schlicht als ›Organism‹ verstandenen Körpern verortet sich auch Donna Haraways ›Cyborg‹-Artikulation. 1985 erscheint ihr halbironisches ›Cyborg-Manifesto‹. Während ›Cyborg‹ als Instrument und Effekt des kybernetischen Verschwimmens bestimmter ehemaliger Grenzen zwischen Mensch, Tier und Maschine Furore macht, versucht sich Haraways ›Cyborg‹ in einem politischen Kontext zu situieren, der Überbietung feiert. Ihr ›Cyborg‹ kann weiter rezipiert werden, z.B. in feministischen, radikalökologischen, sozialistischen, anarchistischen und spezifischen technikphilosophischen Kontexten. Haraways identitätspolitisch aus-

93 Erste cyborgs im übertragenen Sinn sind Erfindungen von Kybernetikern, z.B. Shannons mazesolving rat. Sie galten als Versuche der Verkörperung kybernetischer Logik. Vgl. weiterführend Dupuy 1994: 79, 137 sowie IV.5. 94 Vgl. zu C3I, »command, control, communications, intelligence«, z.B. die seit Mitte der 1980er Jahre erscheinende, amerikanische Zeitschrift: Defence Electronics 1988. Hier gibt es detaillierte Texte zu Komponenten wie »Mobile Subscriber Equipment« (Defence Electronics 1988: 113f), »Army/Air Force joint Tactical Fusion Program« (ebd.: 129f), »Nuclear Electromagnetic Effects on Defense Communications« (ebd.: 147f), eine Waagen-Grafik zum Status von C3I im Gleichgewicht der Kräfte des kalten Kriegs (US-SU, 179). Bezeichnend ist die Werbung: Z.B. eine cyborgisierte, C3I-»We want you«-Kampagne (Der fingerzeigende Herr trägt ein erstes Headset, ebd.: 181), neue, mobile Computer (»build to take it... so you can take it anywhere« (ebd.: 232), der für C3I typische, elektronische Schritt-zurück-Überblick (»sometimes you have to stand back to see things clearly« ebd.: 245), Werbung, die die Sicherheit »of the free world« gegen Spiel verortet (»Dont gamble when the chips are down« (ebd.: 246)) und eine sprechende Werbung Boeings zum neuen Kontrollphantasma: »Once they sent in the marines. Now they send up AWACS. [...] AWACS ist the first C3 system dispatched when theres trouble. It eleminates the element of surprise and is a stabilizing influence in volatiles operations. [...] the system is selfcontained with sensors, processors and men-in-a-loop to make decisions and issue commands.« (Defence Electronics 1988: 2/3) resp. die AEGs: »Excellent probability of detection at an execeptionally low false alarm rate is only one of the outstanding features which make possible highly efficient reconnaissance even in a dense signal environment.« (ebd.: 141). Vgl. zu veranschlagten USVerteidigungsausgaben bei C3I-Projekten 1987-1989 in jeweils dreistelliger Millardenhöhe: ebd.: 198-228. Seinerzeit betrug der prozentuale Anteil dieser Projekte am Gesamtbudget einzelner militärischer Sektoren (Army/Navy/AirForce) 15-25% (ebd.: 198).

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gerichtete Aufnahme des Terms entwickelt sich über mehrere Texte zwischen 1984 und 1992 hindurch, u.a. durch einen Zentraltext, das ›Manifest‹ von 1985. Haraway antwortet aneignend zeitgenössischen politischen Dynamiken. Später bewegt sie sich stärker zu auf eine subversive Affirmationen des neuen Ausdrucks ›Hybridität‹, wenn z.B. verschiedenste ›monsters‹ beleuchtet werden. Gegenwärtig stellt Haraway ihre überbordende Integration unkonventioneller Praktiken, die von Macht nicht vorgesehenen oder ausgeschlossen sind und deren Differenz-/Alteritäts-Erfahrung in symbiotische, ›hybride‹ Konstellationen. Sie reichen über tradierte, z.B. biologische Spezies-Grenzen hinaus (Haraway 2003 sowie Haraway 2007). Auch hier betreibt sie die Affirmation der Alteritätserfahrungen abweichender Identitätsformen, deren bodenloser Strukturen situierter Abhängigkeit. Artikuliert werden soll all das u.a. mittels »Technologien der Freiheitsherstellung für das jeweilige Gegenüber« (Haraway 2007: 99). Haraways ›Cyborg‹ hat sich heute also durch reartikulierte Konzepte der Hybridität hindurch transformiert und erweitert. Das Konzept ist weniger ironisch, stärker ausdrücklich geworden. Die hinterfragende Geste aber blieb gegenüber jeweils zeitgenössisch eingespielten Grenzziehungen zwischen verschiedensten Körpern, Körpertypen und ›Arten‹ in hochspezifischen ›Symbiosen‹, ›Verkettungen‹ und jüngst ›Begegnungen‹95 von Mensch, Tier und Maschine auf andere als vorgesehene Weise. Denn die tradierten Modalitäten schreiben sich, selbst im kybernetischen Kontext, von bestimmten anthropologischen Implikationen her. Neue, ungewöhnliche Beziehungen zu Maschinen und Tieren können bereits früh thematisch werden: »Vielleicht können wir auf ironische Weise aus unseren Verschmelzungen mit Tieren und Maschinen lernen, etwas Anderes als der Mensch, die Verkörperung des westlichen Logos, zu sein« (Haraway 1985: 266).

Durch subversive Problematisierungen normierter Grenzziehungs- und Verkettungstypen hindurch teilt Haraway mindestens manche Geste und Haltung mit Foucaults Körper- und Deleuze’ Maschinenkonzept.96 Haraway

95 Neben der Differenz von Gebrauchswert und Tauschwert wird jüngst die Kategorie des ›Begegnungswerts‹ (Haraway 2007: 82) zwischen ›Spezies‹ eingeführt. 96 Dem (technoiden) Cyborg als »von jeder Abhängigkeit entbundenen, endgültigen Selbst« stellt Haraway die Cyborg als »Anhänger/-in von Partialität, Ironie und Perversität« (Haraway 1985: 240) entgegen: »Cyborgs definieren eine technologische Polis, die zum großen Teil auf einer Revolution der sozialen Beziehungen im oikos, dem Haushalt, beruht« (ebd.). Einer eher eingeschränkten Rezeption von Deleuze’ ›Tier-Werden‹ korrespondiert eine rudimentäre Wahrnehmung von Haraways 2003 und 2007, Tier-Mensch-Symbiosen in Aufrechterhaltung von Andersheit, Werden und Historizität. Vgl. hierzu Deleuze 1980a, Haraway 2003, sowie jüngst, in ausdrücklichem, aber kritischen Rekurs auf Deleuze, Haraway

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geht sehr ausdrücklich vor, wenn sie sich positioniert gegenüber gegenwärtigen epistemischen Bedingungen, sozialen Entdifferenzierungs- und Recodierungsschüben, ihren Implementierungs- und Reproduktionsformen. Selbst wenn sie deren Herkunft beschreibt, interveniert sie zugleich, zeigt andere Richtungen auf: »Die alten Herrschaftsverhältnisse des weißen kapitalistischen Patriarchats wirken heute auf nostalgische Weise unschuldig [...] Der fortgeschrittene Kapitalismus und der Postmodernismus entlassen die Heterogenität ohne Norm, wir selbst sind verflacht, ohne Subjektivität, die Tiefe erforderte [...] Es ist Zeit, den Tod der Klinik zu schreiben [...] Unsere Herrschaftsverhältnisse vermitteln sich [...] über Vernetzung, den Neuentwurf von Kommunikationszusammenhängen und Stressmanagment. Normierung verwandelt sich in Automation.« (Haraway 1985: 243 FN2). Sie versucht »dem Planeten ein endgültiges Koordinatensystem der Kontrolle aufzuzwingen, die endgültige Abstraktion« (Haraway 1985: 245)

Engagierte Theorien konstatieren nicht nur, ihr Texte handeln zugleich auf besondere Weise. Das kann bereits darin bestehen, eine Weile anscheinend abgegriffene Ausdrücke wie Kapitalismus, Patriarchat und Naturbeherrschung/-zerstörung reflexiv zu reartikulieren: »Klasse, Rasse und Geschlecht werden neu entworfen in multinationalen, wissenschaftlich gestützten Ausbeutungsverhältnissen; die Auswirkungen reichen bis in unsere intimsten Lebensbereiche im Alltag und beeinflussen die Worte und Bilder, nach denen wir leben und uns die Welt erklären« (Haraway 1984: 167)

In dieser politepistemischen Gemengelage werden ironisch »Cyborgs für das irdische Überleben« (Haraway 1995: 10) empfohlen. Der Ausdruck Cyborg ist hier weder maskulin, noch singulär, noch identitär zu lesen, teils wird eine weibliche Form nahgelegt, teils plurale Subsumtionsmöglichkeiten unterstrichen, indem ein hermaphroditischer Zug mitschwingt: »Zwitterwesen« (Haraway 1984: 165). Der Ausdruck verliert damit seinen technoid besetzten Zug, kann Dynamiken umfassen der Vermengung vormals distinkt und normiert gedachter Genera. Für Haraway gilt es schlicht, im »Durcheinandergeraten aller Grenzen zu genießen« – um diese Grenzen zugleich »verantwortungsbewußt mit abzustecken.« (ebd., vgl. Haraway 1985: 240). Haraways ›Cyborg‹-Ausdruck ist und bietet zugleich einen Ort aneignender, subversiver Performanz. In die Einheit eines bereits syntaktisch gebrochenen, distinkten Ausdrucks faltet sie mittels reflexiver Brechung ein weiteres Mal eine grundsätzliche Kategorialdiffusion hinein, die seine bisherige (technoide) Besetzung mit umfaßt:

2008: 27ff. Vgl. zur historischen Signifikanz von Tier-Experimentalsymbiosen/verkettungen für die abendländische Wissenschaftspraxis: Bühler/Rieger 2006.

192 | B LACK B OX C OMPUTER »Die Diskurse der Biopolitik verwandeln sich in Techno-Geplapper, in die Sprache der gespaltenen Substantive. Kein Substantiv wird [...] verschont. [...] Wenn wir Gefangene der Sprache sind, dann benötigen wir für die Flucht aus diesem Gefängnis Sprachpoet/-innen, eine Art kulturelles Restriktionsenzym, das den Code zerschneidet. Die Vielzüngigkeit der Cyborgs ist eine Form radikaler Kulturpolitik.« (Haraway 1985: 243 FN2)

Als spezifisch reartikulierter Topos schreibt Haraways Cyborg ein neues Paradigma, einen »ironischen, politischen Mythos«, einen »Traum« (Haraway 1985: 238) an. Von einer hochgradigen Konstruktion ausgehend kann eine gewendete, neue Ursprungs-Fiktion entstehen, in der Welt wieder angeeignet werden kann: Insofern sind wir dann immer schon Cyborgs gewesen – »Geist, Körper und Werkzeug sind auf innigste vereint« (Haraway 1984: 167).97 Zeitgenössisch herrschende Dynamiken zeigen ihre Aneignungspotentiale: Im gegenwärtigen Feld wurden zuvor herrschende Konzepte in ihrer vermeintlichen Einheitlichkeit, Opazität und Distinktion weitgehend transparent – »Identitäten erscheinen als widersprüchlich, partiell und strategisch« (Haraway 1995: 10). Zugleich ziehen neuartige, kleinteilig normierte, digitale Identitätsformen ein, Haraways ›Cyborg‹ trägt zur weiteren Pluralisierung des Entstehenden bei: »Sieg über den einen Gott« (ebd.: 166). Die harawaysche Gegenerzählung entsteht auf dem Hintergrund des Entstehens einer bestimmten, reaktionären Reinskription, der es zu begegnen gilt, einem bestimmten »Neuentwurf von Kyborgs, d.h. der Gentechnologie« (ebd.): Strategie der Gegenbesetzung.98 Eine bestimmte Gefahr wird neben weiteren Implementierungsorten Produktion und Militär also auch auf einem medizinisch-biologischen Feld benannt. Eine Machtdynamik deutet sich an, die bisherige weit in den Schatten stellen könnte: »die moderne Medizin ist voller Cyborgs, Verkopplungen aus Organismus und Maschine, in denen beide als programmierbare Geräte erscheinen, die mit einer Intimität und einer Macht miteinander verbunden sind, wie sie die Geschichte der Sexualität nicht hervorbringen konnte. [...] Die Biopolitik Foucaults ist nur eine schwache Vorahnung des viel weiteren Feldes der Cyborg-Politik.« (Haraway 1985: 239)

Haraway betreibt keine liberal gehegte Affirmation. Sie handelt libertär, anarchisch. Denn die entstehende neue soziale Formation tendiert, ähnlich

97 Vgl. zu Naturalisierungsstrategien einer solchen Aussage: Hayles 1999: 279. 98 Haraway benennt die Genealogie des cyborg-Konzepts aus patriarchalem Kapitalismus, Staatssozialismus und Militarismus, um den Begriff neu zu besetzen: »illegitime Abkömmlinge sind ihrer Herkunft gegenüber häufig nicht allzu loyal. Ihre Väter sind letzten Endes unwesentlich.« (Haraway 1985: 241). Vgl. zur Gentechnologie als skripturalem, kryptographischen, informatischen Verfahren, zu biotischen Komponenten als »Sonderklasse von Informationsverarbeitungssystemen«, zu Information als ihrer Grundeinheit: Haraway 1985: 257.

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wie in Lyotards Diagnose, zu einem neu grundierten, informatischen Universalismus, einer neuen Akkumulationsstrategie. Im Feld neuer Kommunikationstechnologien wird deutlich: »Die Kommunikations- und Biotechnologien [...] tragen einen gemeinsamen Zug: die Übersetzung der Welt in ein Kodierungsproblem, in eine Suche nach einer gemeinsamen Sprache, einem Universalschlüssel, der alles einer instrumentellen Kontrolle unterwirft und durch den alle Heterogenität auseinandergenommen, neu zusammengesetzt und ausgetauscht werden kann. Die Logik dieser Art Praxis und Erkenntnis nenne ich die Informatik der Herrschaft« (Haraway 1984: 167)

Diese neue Form wird durch Haraway genealogisch insb. mit militärischen C3I-Projekten in Verbindung gebracht, einer im historischen Gefolge der Kybernetik enstandenen Planungpragmatik, die Lebenswelt in ihrem Sinne umgestaltend zu durchdringen versucht. Jeder Widerstand gegen diese Bewegung wird durch die neuen Technologien als Kommunikationsstörung verständlich gemacht. Er gilt als potentiell inkorporierbar, als Defizienz, etwas antizipativ vermeidbares: Ausschaltung von ›Störungen‹, die ›Transparenz‹ schafft.99 Es sind also auch Kommunikationsstörungen, die für Haraway zum Residuum von Widerständen gegen neue Identitätsformen neuartiger Kommunikationsweisen werden. Die Herstellung effektiver und ›gelingender Kommunikation‹ kann als synonym betrachtet werden. Solche ›Kommunikation‹ greift weit über das aus, was im Alltag darunter verstanden wird, sie soll allumfassend werden, um eine neue Form umfassender Verwertung anreihen zu können: »Jedes beliebige Objekt und jede Person kann auf angemessene Weise unter der Perspektive von Zerlegung und Rekombination betrachtet werden, keine natürlichen Architekturen beschränken die mögliche Gestaltung des Systems. [...] Das gesamte Universum möglicher Objekte muss als kommunikationstechnisches (aus der Perspektive der Manager/-innen) oder als texttheoretisches Problem (aus der Perspektive des Widerstands) reformuliert werden. Jede beliebige Komponente kann mit jeder anderen verschaltet werden, wenn eine passende Norm oder ein passender Code konstruiert werden kann, um Signale in einer gemeinsamen Sprache auszutauschen. Der Austausch in dieser Welt transzendiert die durch die kapitalistischen Märkte bedingte universelle Übersetzung, die Marx so klar analysiert hat.« (Haraway 1985: 255/256)

Haraway betreibt auch in dieser Konstellation subversive Affirmation. Diskurspragmatisch wird etwas ›manifestiert‹, das ironische, überbordende Affirmation und zugleich Umwidmung vollzieht. Im Ergebnis wird so ein Ausmaß an Kritik in die neuartig normierten Bereiche getragen, das vorher

99 Vgl., aussagekräftig, Haraway 1985: 257 sowie jüngst, zu Habermas’ Diskurstheorie und kybernetischen Kontexten, Tiqqun 2001.

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dort undenkbar schien. Es wird möglich, zugleich »affirmativ und kritisch Stellung [zu] beziehen« (Haraway 1992a: 132), um eine »abwesende, aber vielleicht mögliche andere Gegenwart« (Haraway 1992b: 11) als denkbar zu artikulieren. Technologien sind dabei nicht schlicht abzulehnen, vielmehr reflexiv, ausgehend von ihrer tendenziellen Hybris einzuhegen. Da sie als »Formationen verstanden werden, d.h. als gefrorene Momente einer fließenden sozialen Interaktion, die sie konstituiert« (Haraway 1984: 167), gilt es, diese technologischen Formationen als »Instrumente zur Durchsetzung von Bedeutung« (ebd.) anzueignen. Insofern ist die oft proklamierte soziale ›Unabhängigkeit‹ ihrer Entwicklung und die ›Autonomie‹ ihrer Verwendung zum einen patriarchal konnotiert, zum anderen keineswegs ortlos. Haraways subversive Affirmation erfordert Sozialität: Das Knüpfen von »Netze[n] von Schmerz, Lebenskraft und Versprechen« ermöglicht dort, wo man schon immer Cyborg ist, sich der »Einschränkung von Freiheit auf Marktfreiheit, von Natur auf Patente und Warenzeichen [... zu] widersetzen« (Haraway 1995: 10). Im neu entstehenden »Bauch des Ungeheuers« gilt es Bündnisse zu schmieden, um in seiner Blutbahn, den »vereinigten Netzwerken von Informatik und Biologie« (Haraway 1995: 9) ein widerständiges ›Geschwür‹ entstehen zu lassen, diesen Netzwerken andere Netze entgegenzusetzen, um sie von innen heraus zu verändern. Der Weg zurück zu Essentialismen ist versperrt: »Wir haben [...] keinen anderen Weg zur Verbindung [...] als den, der über die radikale Zergliederung und Entortung unserer Namen und unserer Körper geht« (Haraway 1992a: 121). Zu ›strategischen Essentialismen‹ äußert sich Haraway nicht. In einer von christlich-eschatologischen Motiven auch im technologischen Bereich weitgehend zu befreienden »Welt ohne Ende« (Haraway 1985: 240) kann es keine unentfremdete Zukunft geben. Zugleich haben auch rückwärtsgerichtete Konzepte ursprünglicher Natur ihren Sinn verloren. Haraway geht es darum, »etwas Neues zu weben, etwas anderes als das Leichentuch für die Zeit nach der Apokalypse erfüllter Herrschaft.« (Haraway 1984: 166). Sie äußert strategische Andeutungen zu einem neuen humanen Projekt: »Der Weg in den alten Humanismus ist ungangbar« geworden, eine neue, »nicht gattungsfixierte, nicht ursprüngliche Humanität« (ebd.: 133) muß erfunden werden, ohne ›transhuman‹ anschlußfähig zu sein.100 Sie will die herrschende »Entidentifizierung und [...] Verstümmelung in den Dienst einer neu artikulierten Humanität« (ebd.: 128) stellen. Der neu entstehende, globale Apparat hat für Haraway sein reproduktives Moment insb. in einem reformulierten biopolitischen Kontext, in »materiell-semiotischen Praxen, die zeugungsfähige Atome zu einem transnationalen Modell zusammenfügen« (ebd.). Ein »Bio-Kapital«, »lebendiges Kapital« wird angedeutet, ein »Biokapital, Band I« (Haraway 2007: 102) sei

100 Haraway konkretisiert dies jüngst am Term ›Gefährtenspezies‹. Bei ihrem ironischen ›Humanismus‹ geht es nicht mehr um eine »humanistische Doktrin, die nur Menschen als wahre Subjekte mit Historie begreift« (Haraway 2007: 102)

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noch zu schreiben (Sunder Rajan 2009). Außergewöhnlich ist hierbei nicht allein die Charakterisierung derjenigen Elemente, aus denen sich der neue globale Apparat zusammensetzen soll: »Fötus, Gen, Chip, Samen, Datenbank, Gehirn« (ebd.), jüngst ergänzt durch Speichelabstrich und RFID-Chip ›jenseits der Spezies‹ (Haraway 2007: 81). Außergewöhnlich ist die ausdrücklich texttechnologische Charakterisierung eines der zentralen Elemente des »mit großem Nachdruck auf Universalisierung« (Haraway 1992a: 119) drängenden neuen Apparats selbst. Es handelt sich für Haraway um einen Apparat, der eine neue Menschenform hervorbringen wird: »der transnationale, millardendollarschwere, hochautomatisierte postmoderne Apparat – eine Sprachtechnologie im buchstäblichen Sinne – zur Produktion dessen, was als das Menschliche gelten wird, d.h. das Human Genome Project mit seiner überwältigenden Macht, aus den endlosen Varianten von Fragmenten des genetischen Kodes das einzigartige Heilige Ebenbild, den einen wahren Menschen, den Maßstab – katalogisiert, in Banken gelagert und mit dem Copyright versehen – herauszupräparieren.« (Haraway 1992a: 120)

Es sind Problematisierungen wissenschaftlicher Diskurse notwendig, um die Grundelemente und Strategien des ›Bio-Kapitals‹ fassen und kritisierbar machen zu können – um sie dann, im nächsten Schritt, durch progressive Aneignung anders besetzen zu können. An dieser Stelle verorten sich Effekte von Haraways Manifesten, z.B. Cyborgs: Deren Konzept ist als Versuch zu begreifen, ein institutionalisiertes Konzept und seinen Hof zu affimieren und zugleich ironisch gegen den Strich zu lesen, es neu und weiter zu kontextualisieren, es identitätspolitisch zu ›wenden‹. Texte werden dabei als »Handwerkszeuge«, »Sehhilfen (sighting devices)« zu verstehen gegeben – sie sollen zur Problematisierung eingeübter Sichtweisen einladen: denn »optische Instrumente verschieben Gegenstände« (Haraway 1992b: 12). Die wuchernde Keimzelle Cyborg ist von einer provozierenden Kernthese flankiert. Der neue globale Apparat vollzöge sich nicht mehr in erster Linie mittels Atomisierungen von Individuen, vielmehr habe man es nun mit bestimmten Hybridisierungen zu tun: Wir »leben nicht in einem Zustand der Fragmentierung, sondern in dem einer intensivierten, gefährlichen und fruchtbaren Fusion.« (Haraway 1995: 10). Haraway lädt zur erfinderischen (Neu-)Ausrichtung dieser ›Hybride‹, ihrer Neukonstitution ein, eine Identitätspolitik jenseits der Identifikation mit vorgegebenen Matrizen und ihrer Verknüfung.101 Das schließt Interpretationskämpfe, sub-

101 Vgl. die Abkehr von der lacanianischen Identitätsbildungsmatrix: »Es gibt [...] noch einen anderen Weg. [...] Dieser Weg führt nicht durch die Frau, das Primitive, den Nullpunkt, das Spiegelstadium und dessen Imaginäres.« Es gilt, »die ideologischen Ressourcen der Opferung zurückzuweisen, um überhaupt ein reales Leben führen zu können« (Haraway 1985: 271).

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versive Lektüre- und Schreibpraktiken ein, ein »Spiel des Lesarten« (Haraway 1985: 271), deren Einsatz »das Überleben« (ebd.) ist: »Cyborg-Politik bedeutet, zugleich für eine Sprache und gegen die perfekte Kommunikation zu kämpfen, gegen das zentrale Dogma des Phallogozentrismus, den einen Code, der jede Bedeutung perfekt überträgt. Daher besteht die Cyborg-Politik auf dem Rauschen und auf der Verschmutzung und bejubelt die illegitime Verschmelzung [... So] sind wir in das Spiel des Texts ohne endgültige, privilegierte Lesweise und ohne Heilsgeschichte eingeschrieben und erkennen uns selbst als etwas vollkommen innerweltliches an, [...] befreit [...] Politik in Identifikation [...] zu begründen.« (ebd.: 270)

Letztinstanzlich geht es einerseits um die Aneignung bestehender Ensembles, einen »Willen zum Überleben, nicht auf der Grundlage ursprünglicher Unschuld, sondern durch das Ergreifen eben jener Werkzeuge, die die Welt markieren, die sie als Andere markiert.« (ebd.: 269). Andererseits geht es programmatisch um eine Art performative politische Fiktion, die zugleich ausgestellt und vollzogen wird: Gewissermaßen eine ›vorhersagende‹, widerständige Inskription bestehender Realität, die diese in dem Maß kategorial subversiv umformt, in dem sie Zustimmung gewinnt. In einer neuen historischen Etappe von Biomacht im Gefolge der Kybernetik gehen neue Mythen respektlos mit vorherrschenden wissenschaftlichen und technologischen Konzepten und ihren Besetzungen um: »Wir alle sind zutiefst verletzt worden. Wir brauchen Regeneration, nicht Wiedergeburt [...] Es gibt ein Mythensystem, das darauf wartet, eine politische Sprache zu werden, die eine andere Sichtweise auf Wissenschaft und Technologie begründet und die Informatik der Herrschaft zum Kampf herausfordert« (ebd.: 275)

Haraways Perspektivierung informatischer Kontexte, einem »polymorphen Informationssystem« und seinen »neuen Netzwerken« (Haraway 1985: 254) sind wegweisend. Ein wenig überpointiert sind die Gegenüberstellungen der neuen Machtform mit einer vorhergehenden, »organischen Industriegesellschaft« (ebd.) und deren Paradigmen, z.B. der Einsperrung. Eine solche Gegenüberstellung prägt bereits den Text von 1985, u.a. mittels tabellarischer Gegenüberstellung. Wie vieles andere auch bei Haraway ist diese Differenz eher der Versuch einer ersten Kontrastfolie zum besseren Erkennen neuer Phänomene denn wirklicher, buchstäblich konstatierter Epochenbruch. Der historischen Dichotomisierung Haraways und ihrer strategischen Funktion können differenzierte Arbeiten folgen. Stellte man hierbei zu stark historische Brüche in den Vordergrund, verlöre man u.U. einige Kontinuitäten der neuen Formation aus den Augen, z.B. im Biomacht-Bereich, der nicht als vollständig neu kontextualisiert gelten muß. Das deutet Haraway auch selbst ex negativo an, z.B. dort, wo bestimmte, heute neu denkbare Assoziationstypen über tradierte Grenzen hinweg schlicht nicht toleriert werden. Auch

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Haraway betont weite kulturelle Kontinuitäten. Sie betreffen nicht zuletzt grundlegende Identitäts-Fragen. Haraways Perspektivierungen der Kybernetik und ihrer Effekte zeigen sich als anschlußfähig auch dort, wo sie immer bereits von Aneignungen durchzogen sind. Bestimmte historische Perspektiven lassen sich hierbei differenzieren, u.a. Kontinuitäten und Brüche moderater entwickeln, ohne an Radikalität einzubüßen.

4.4 Perspektivierung im .RQWH[W Molekularbiologie [L. Kay] »das Nächstliegende nicht nur bevorzugen vor dem Entferntesten und Erhabensten, sondern zur wesentlichen Bedingung für dessen Erscheinungsweise machen« H. BLUMENBERG

Nachdem im Gefolge Lyotards auch Haraway bestimmte Gebiete eindringlich markiert hat, die durch eine neue, kybernetische Machtform geprägte wurden, sind es Lily E. Kays Untersuchungen, die hier um die Jahrtausendwende Ausweitungen, genaue Analysen unternehmen, insb. auf dem Feld der Molekularbiologie (Kay 2000, vgl. auch Rheinberger 2006a). Filigran und strategisch klug sollen sie eine »Genealogie der Zukunft« vollziehen. Kay hat sich hierbei mehrmals ausdrücklich zur Kybernetik geäußert (Kay 2004). Der Zusammenhang Kybernetik und Molekularbiologie wird erstmals rekonstruiert in einer »Geschichte der Lebens- und Informationswissenschaften und Informationstechnologien« (Kay 2001: 8). Diese ›genealogische‹ Geschichte wird bestimmt von einem Kreuzungspunkt verschiedener wissenschaftlicher und kulturgeschichtlicher Gebiete, aus einem »Zusammenhang einer Geschichte der Lebenswissenschaften, [...] der neu entstehenden Kommunikations-Technowissenschaften (Kybernetik, Informationstheorie, Computer), der Überschneidung von Kryptoanalyse und Linguistik sowie der Sozialgeschichte der Vereinigten Staaten und Europas in der Nachkriegszeit« (Kay 2001: 7)

Auf dem detailliert untersuchten Gebiet der entstehenden Molekularbiologie ist es für Kay nicht nur die ›Schlüsselschrift‹ des Physikers Erwin Schrödinger, die in der Nachkriegszeit das aktuelle DNA-Paradigma vorbereitet (Kay 2001: 20, vgl. Dupuy 1994: 77/78, Heims 1991: 8f). Von der sozialgeschichtlichen Situation nicht zu trennen, bildet sich für Kay dieses Paradigma in seinen Grundzügen bereit früh heraus als ein neues »Leitsymbol biologischer Befehls- und Kontrollgewalt« (Kay 2001: 26): Rund um »Informationstheorie, Kybernetik, Systemanalysen, elektronische Computer und Simulationstechniken«. Dem DNA-Paradigma geht für Kay ein ›epistemi-

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scher Bruch‹ voraus, der mit dem Beginn des kalten Krieges und der McCarthy-Ära ausgefaltet ist – in einer Nachkriegs-Weltordnung also, die durch akademisch-militärisch-industrielle Komplexe (J.W. Fulbright) geprägt ist.102 Auf dem Boden dieses Bruchs vollziehen sich weitreichende Veränderungen in der Biologie, in deren Folge sich »die Vorstellungen von belebten und unbelebten Phänomenen grundlegend« (ebd.: 20) verändern. Gegenüber der Informationstheorie dieser Zeit wird ein »Informationsdiskurs« hervorgehoben, der bei dieser Umstrukturierung zum »stimulierenden Primum Mobile« (ebd.) wird. Für Kay ist es dieser Informationsdiskurs, der vermittelt durch Henry Quastler die mathematische Informationstheorie in die Molekularbiologie einführt. Dies geschieht in einer gewendeten und von mathematischer Spezifik entleerten Form, in metaphorischer Gestalt. Kay hält hierbei gegenüber Blumenberg stark am Begriff fest:103 Die biologische ›Information‹ wird zur Metapher einer Metapher, zu einer Katachrese, der letztlich kein Referent entspricht. Kay zufolge vollziehen sich zentrale Ereignisse dann in zwei Etappen. In einem ersten Schritt, zwischen 1953 und 1961, entfaltet sich Watson/Cricks Theorie bis hin zu Konzepten von Sanger und Nirenberg/Matthaei zur kryptographischen Entschlüsselung mittels Input/Output-Analyse, nach dem Modell einer ›Black Box‹. Eine zweite Etappe schließt sich zwischen 1961 und 1967 an, wenn es zu einer Restrukturierung der biochemischen Praxis kommt durch Rekonstruktion synthetischer Enzyme als neuen Werkzeugen zur Konstruktion von Senden/Boten. Zugleich vollzieht sich erstmals deren Einsatz zur Manipulation und Bestimmung, z.B. durch synthetische RNAMessenger und die Arbeit mit standardisierten e.Coli-Mutanten – gewissermaßen als Rosetta-Steinen, die ›Entzifferung‹ ermöglichen. Der ›genetische Code‹ wird Kay zufolge im Durchgang durch diese beiden Etappen als Informations-Code sichtbar gemacht. Wie im Bereich physikalischer Grundlagenforschung wird das finanziell unterstützt durch die Wissenschaftsförderung des US-Verteidigungsministeriums, der Atomenergiebehörde, der NASA, später immer stärker des amerikanischen Gesundheitsamts (ebd.: 32, vgl. den Rekurs auf Edwards ebd.: 27). Auch so unterstützt, kann der genetische Code für Kay als ein »Ort der Steuerung und Kontrolle des Lebens« (ebd.: 20) modellierbar gemacht werden: Der Begriff einer biologisch/chemischen Spezifität wird dabei durch Information ersetzt. Das Genom tritt als textualisierte Größe auf. Das geschieht mittels neuer »skripturaler Technologien« (ebd.: 22), technisch unterstützt durch einen der ersten Computer, den MANIAC in Los Alamos (ebd.: 26). Parallel reformulieren Konzepte der Information, der kay’sche ›Informationsdiskurs‹ stetig die Linguistik – insb. bei Roman Jakobson (ebd.: 23). Zentral ist der theoretische Rahmen von Kays Untersuchung: Sie versucht in den untersuchten Kontexten ausdrücklich eine neu entstehende

102 Dupuy betont eine »intermediary« (Dupuy 1994: 78) Funktion der Kybernetik. 103 Vgl. zum metaphorologischen Verständnis: Blumenberg 1981.

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Machtform zu analysieren, die sie im Gefolge von Foucaults Bio-MachtKonzept verortet. Kay versucht, »eine neu entstehende Bio-Macht, die Macht genetischer Information« (ebd.: 9) einzuführen. Deren Geburtsstunde datiert sie um 1950: An einem »Wendepunkt« (ebd.: 8), an dem bisherige materielle und energetische Lebens-Repräsentationen durch den »Informationsdiskurs« (ebd.: 8) partiell ergänzt und partiell reformuliert wurden. Für Kay besteht die Spezifik ihrer neuen Form von Bio-Macht gegenüber der vorhergehenden, offenbar teils weiterbestehenden, in einer ergänzenden Ausweitung von Verwertungszonen. Das geschieht mittels Verfeinerung des Zugriffs, auf einer neuen Ebene des Überblicks: »Über die materielle Kontrolle des Lebens hinaus geht es nun um das Kontrollieren von Information« (ebd.: 7) – hinsichtlich ›Leben‹ hat sich damit eine neue »Aussicht auf die Kontrolle seiner Form und seines Logos, seiner Form.« (ebd.: 18) ergeben. Kay skizziert eine neue, distanziertere, vermitteltere, ›klinischere‹ Form von Bio-Macht, die sich gegenüber dem bisherigen Zugriff auf einer »schmutzigen« Ebene des »Durcheinanders von Körpern und Bevölkerungen« nun auf einer sauberen, »unverdorbenen Metaebene« vollzieht: »in der Kontrolle des Informationsflusses, der Sequenz, des Wortes und Textes« (ebd.: 55). Kays Konzept einer subtileren Form und Vollzugsweise einer neuartigen BioMacht und ihrer informationstheoretischen Bedingung ist gut begründet, kommt ungeheuer materialgesättigt daher. Ähnlich wie bereits durch Deleuze, Lyotard und Haraway konstatiert, vollziehen sich diese Ereignisse in dem Maß nicht mehr primär auf den Feldern von ›Arbeit‹ und ›Leben‹, als ihr Haupteinsatz nun auf dem Feld von ›Sprache‹ verortet ist. Die für Kay das biologische Konzept der Spezifität ersetzenden, historisch neuen Entitäten informationscodierter DNASequenzen und ihr techno-dispositionales Umfeld eröffnen einen neuen Repräsentationsraum für »techno-epistemische Ereignisse« (ebd.: 11). Durch die im Gefolge der Kybernetik möglich werdende Konzeptualisierung von ›DNA‹ als Sprache wird wissenschaftlich nahegelegt, daß die neuen Sagbarkeiten in zwei Hinsichten wörtlich zu nehmen sind. Zum Einen als sprachlicher Text: Das Genom wird als Schrift, als »Logos des Lebens« (ebd.: 7) begreifbar. Zum Anderen soll diese Schrift als eine spezifische UrForm von Schrift (DNA-Sprache) verständlich werden. Sie wird vorgestellt als von jeder Metaphorizität befreit. Damit können ihr phantastische Spezifika angetragen werden: Sie ist rein syntaktisch codiert, semantisch kontextunabhängig entziffer-/lesbar und verfolgt pragmatisch relativ eindeutige ›Programme‹.104 Diese Genom-Schrift/DNA-Sprache bar jeder Kontextabhängigkeit tritt als ›neue Seite‹ in der Geschichte des ›Buch des Lebens‹ auf. Gegenüber ihrem informationstheoretischen Vorbild ist für Kay diese neue Sprache einseitig determinativ entwickelt: Sie artikuliert pragmatisch einen Befehlston. Einer solchen sprachlichen Kreativität, die bestimmte Aspekte von »Dichtung« (ebd.: 12) verloren hat, korrespondiert Kay, in Nähe Hara-

104 Vgl. Blumenberg 1981; Hayles 1999: 28/29f.

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ways, ein mit Allmachtanspruch auftretender Command and ControlImperativ der bipolaren Nachkriegszeit. Der genetische Code ist auch eine politische Chiffre, das erste »Anzeichen für das Auftauchen des Informationszeitalters« (ebd.: 17) In dem Maß, in dem das Genom in Rekurs auf die mathematischkybernetische Informationstheorie als ›sprachliches‹ Informationssystem konzeptualisiert wurde, entfaltet sich für Kay eine neue Dimension von BioMacht: Erst die »Biosemiotik« (ebd.: 11) dieses informatischen Kommunikationskonzepts kann DNA als Sprache sichtbar machen: Eine Sprache, deren Text alle biologischen Individuen als Individuen determinieren soll. Diese textuelle Determination kann nicht nur Rückschlüsse auf die Gattung zulassen, sondern schreibt sich umgekehrt selbst aus ihrem Bereich her. Im Gefolge der Kybernetik verklammert sich also ein neu formuliertes, nun informationstheoretisch ausbuchstabierendes Gattungsgeschehen mit neuartig technologisch fundierten, textuellen Wahrheitspraktiken und ihren Elementen auf Individualebene, u.a. sind so »Informations-Menschen« (ebd.: 15) im Entstehen. Die neue Pragmatik und ihre neue sprachliche Modalität der Verklammerung und Überkreuzung von Einzelnem und Ganzem steht in kybernetischer Filiation: Sie wurde kybernetisch-informationstheoretisch inspiriert formuliert, konkrete Untersuchungstechnologien stehen immer stärker in deren technologischer Filiation werden. So entsteht parallel auch eine neue, biologisch geprägte Form von Geschichtsschreibung, die als Exegese einer alten, quasi ewigen, fundamentalen Schrift auftritt. Diese Schrift soll nicht allein Vergangenheit bestimmen, sondern immer stärker auch Zukunft. Mittels neuer Normen grenzt sie zu erwartende Realitäten von Möglichkeiten ab, bestimmt zukünftige Möglichkeitshorizonte: Eine neue Form biologischer Objektivität und Wahrheit nimmt Einzug in das Wissen der Geschichtsschreibung. Kritische Geschichten zu schreiben des historischen Entstehens nicht zuletzt einer solchen ›Geschichtsexegese‹ ist eines der grundliegenden Anliegen Kays. Das ist einer der Gründe, warum sie weniger von einer Geschichte der Gegenwart spricht als von einer ›Genealogie der Zukunft‹. Problematisch in Kays Untersuchung sind allein Details, z.B. so die stärker von Derrida her kommende Metaphernproblematik am Ort der Informationstheorie (vgl. IV.1). Kays Untersuchungen sind in Material- und Detailfülle, vor allem aber in ihrer analytischen Durchdringung der neuen Überkreuzungen zwischen Kybernetik und Biologie zentrale Grundlagenarbeiten auch im kybernetischen Gebiet. Weniger Kays Annahme eines neuen, kybernetisch-informationstheoretisch vermittelten, epistemischen Bruchs als die Annahme einer neuen Form von Bio-Macht bietet sich Anschlüssen an und ist ebenfalls unerreicht in Materialsättigung und Detaillierungsgrad. Die Annahme eines neuen, »postindustriellen Epistems« (Kay 2004: 187)105 läßt sich Forschungen zu epistemischen Dispositionen einordnen, die zugleich

105 Vgl. kritisch gegen die epistemologische Bruchthese: Dupuy 194: 188, passim.

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Grundzüge, Genese und Ausläufer kybernetisch geprägter Dispositive untersuchen. Lily Kays Untersuchungen sind schlicht wegweisend für weitere Untersuchungen wirkungsmächtiger Ausläufer des kybernetischen Diskurses in der Nachkriegszeit, erster Überkreuzungen neuer kybernetischer Dispositionen mit organischen Konzepten. Vor allem aber können Kays angenommene epistemische Diskontinuitäten auch produktiv gelesen werden als Kontrastmittel zur Schaffung eines epistemologischen Problembewußtseins, um bestimmte Kontinuitäten im Gebiet nicht aus den Augen zu verlieren.

4.5 Kognitivismus ideengeschichtlich [J.-P. Dupuy] Untersuchen Lily Kays Texte das Entstehen eines im Gefolge der Kybernetik neu entstehenden, biologischen (Kontroll-)Paradigmas der Molekularbiologie, dann sind Jean-Pierre Dupuy in jüngster Zeit weitere philosophische Untersuchungen zu frühen Ausläufern kybernetischer Kontexte zu verdanken. Sie widmen sich einem anderen neuen wissenschaftlichen Paradigma, diesmal auf dem Feld der Humanwissenschaften. Dupuys Vorgehen kreist weniger um Diskurse als um Fragen nach Subjekten. Sein Text gruppiert sich um Material, das stärker ideengeschichtlich als diskursanalytisch durchdrungen ist. Abgeschwächter und zugleich offener strategisch als bei Galison wird Kybernetik mit einer illustren Riege von Philosophen in Verbindung gebracht, insb. ›Poststrukturalisten‹: Sie sollen dann ›ebenfalls‹ einen »subjectless processes« thematisieren. Kybernetik wird damit, z.B. anhand der beiden Antipoden Hayek und Althusser (Dupuy 1994: 156), in ein dichtes Verhältnis zu ›antihumanistischen‹ Positionen gerückt, vermeintliche Filiationen von ›(Post-)Strukturalisten‹ diskutiert (ebd.: 19f).106 Diese Linienführung wird nicht von ungefähr verfolgt. Die zentral untersuchte These ist, daß Kybernetik die Wurzel der ›kognitiv‹ reformulierten Humanwissenschaften der Nachkriegszeit bildet, die »root of cognitive science« (ebd.: 20). Kybernetik gilt abermals als Geburtshelfer eines neuen Paradigmas, diesmal auf dem Feld eines sog. Kognitivismus, einer neuen »mechanistic und materialistic science of mind« (ebd.: 40). Hauptbezugspunkt und Bedingung dieser Entwicklung ist für Dupuy Turings Hypothese der universellen Maschine (ebd.: 53). Dazu untersucht er im frühen kybernetischen Kontext Diskursstellen, die eine bestimmte Überkreuzung des ›Denkens‹ von Maschine und Gehirn nahelegen. Ausgehend von einer dortigen Assimilation des ›Geists‹ an eine ›logische Maschine‹ (McCulloch),107 über eine strukturelle und funktionale Äquivalenzbildung zwischen solchen ›Geist‹ tragende ›Gehirne‹ an Turingmaschinen (von 106 Vgl. zur Psychoanalysekritik und anderen ›Antizipationen‹: ebd.: 139 107 Verwiesen wird auf eine Mechanisierung des Organismus als Maschine, eine Äquivalenz zwischen organischer ›Gehirn‹-Struktur, deren ›Geist‹-Funktion und ›Computer‹-Maschinen als ›logische‹ Maschinen (Turing/McCulloch).

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Neumann) wird im Kontext ein derart kybernetisch als ›Geist‹ verstandenes Gehirn zugleich als mechanische (Turing-)›Maschine‹ begreifbar. Im selben Schritt wird umgekehrt die Turingmachine als maschineller ›Geist‹, als ›Elektronen-Gehirn‹ modellierbar. Eine gegenseitige Metaphorisierung wird sichtbar. Wo solche neuen Modelle von ›Geist‹, ›Gehirn‹ und ›Computer‹ entstehen, entsteht zugleich das neue humanwissenschaftliche Paradigma des Kognitivismus. Im Gefolge der Kybernetik wird damit ›Denken‹ und ›Geist‹ stetig in informationstheoretischen Termen beschreibbar, gewissermaßen nach dem Modell des ›Computers‹. Das Fundament des neuen Paradigmas ist Dupuy zufolge begleitet vom Entstehen einer informationstheoretisch fundierten ›Philosophie des Geistes‹. Geist der Kybernetik: Indem Dupuy Kybernetik zum Fundament für Kognitivismus und zugleich der ›analytischen Philosophie des Geistes‹ ansetzt (ebd.: 22), soll ein produktiver Dialog zwischen zeitgenössischer analytischer und poststrukturalistischer (›kontinentaler‹) Philosophie eingeleitet werden. Beide werden auf Hintergründe im kybernetischen Kontext bezogen, in beiden Fällen soll ein diesbezüglicher blinder Fleck das jeweilige Selbstverständnis prägen. Von der kybernetischen ›Mechanisierung‹ des ›Geistes‹ aus wird zugleich eine Verbindung rekonstruiert zwischen einer Mechanisierung des ›Lebens‹ und des ›Geistes‹, eine »connection between the mechanization of life and the mechanization of the mind« (ebd.: 20). Eine eigentümliche Situation im Zusammenhang der Kybernetik steht im Raum. Neue Naturalisierungsgesten vollziehen sich mittels kybernetischer Artifizialisierungsmodelle. Für Dupuy geht die neue, analytisch-›mentalistische‹ Naturalisierung des ›Geists‹ einher mit hochgradig artifiziellen wissenschaftlichen Forschungen, z.B. im Feld der ›künstlichen Intelligenz‹ (KI). Dupuy untersucht auch hier, auf welche Weise sich ›der Mensch‹ im Durchgang durch die Kybernetik als ›Geist‹ zu verstehen beginnt. Ein neues ›Geist‹/›Mind‹-Konzept beginnt ihn wissenschaftlich zu prägen, in dem ›Geist‹ auf neue Weise materialistisch, als neuartig mechanisiert verstandenes Objekt auftritt (ebd.: 21/22). Um die historischen Verästelungen im Gefolge der Kybernetik zu untersuchen, schlägt Dupuy methodisch den Weg einer Ideengeschichte ein. Die entstehende Geschichtsschreibung arbeitet sich an Autoren und ihren Verbindungen ab: »only a few researchers [...] are needed to move mountains in the history of ideas« (ebd.: 38, 22ff). Dupuy unterscheidet historisch drei Phasen der Entstehens der Kybernetik: (1) Die ›Paläokybernetik‹ der Zeit zwischen dem zweiten Weltkrieg und Beginn des kalten Krieges. (2) Die ›Kybernetik zweiter Ordnung‹, datiert in ihrer Anfängen auf das Alpbach-Symposium von 1968, von Ashby her entwickelt. (3) Die neurophysiologischen Forschungen und Entwicklungen des sog. Neo-Konnektivismus, zu neuronalen Netzwerken. Sie werden gedacht als aufbauend auf ›autonomen‹ Entitäten/Automaten in Tradition von Neumanns und McCullochs (ebd.: 104).

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Gegenüber Hayles blendet Dupuy ›Artificial Life‹-Forschungen (AL) aus gegenüber ›Artificial Intelligence‹ (AI, vgl. Dreyfus 1972). Ähnlich den Arbeiten Steve J. Heims’, die insb. in The Cybernetics Group (Heims 1991) weiterführendes Material liefern, bietet auch Dupuy eine Fülle unerläßlicher, detaillierter Erörterungen zum Entstehen der ersten Kybernetik. Er nennt sie ›Paläokybernetik‹. Stärker als Heims, der in John von Neumann und Norbert Wiener (Heims 1980) stark biographisch zwei ›Autoren‹, ›Erfinder‹ und ihre Verhältnisse vorstellt, argumentiert Dupuy ideengeschichtlich. Das markiert auch die Hauptdifferenz zu jüngst Conway/Siegelman, die auf fast literarische Weise eine Quasi-Biographie Norbert Wieners als dem Kybernetiker vorlegten mit gegenwartsrelevanten Zügen (Conway/Siegelman 2005). Dupuys strategischer Anspruch, ein gemeinsames Problem ›Kybernetik‹ in kontinentaler und analytischer Philosophie zu rekonstruieren, ließe sich in einer weniger an Ideen und Autoren orientierten, stärker diskursanalytischen Methode schwerer umsetzen. Seine zur historischen Rekonstruktion kognitiver humanwissenschaftlicher Paradigmen wegweisende Arbeit hat erheblich zum philosophischen Problembewußtsein im kybernetischen Gebiet beigetragen. Bestimmte aufgeworfene wissenschaftshistorische, wissensökonomische und epistemologische Probleme lassen sich diskursanalytisch weiter schärfen.

4.6 Das Posthumane der Kybernetik [N.-K. Hayles] Neben L. Kay und J. P. Dupuy nähern sich auch die Texte N. Katherine Hayles der Kybernetik ›konkreter‹. Auch sie sind für Untersuchungen im kybernetischen Gebiet schlicht prägend. Hayles arbeitet zugleich aus literaturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive. Gegenüber Haraway impliziter vorgehend, strebt Hayles in ihren Arbeiten ebenfalls eine Neubesetzung des Ausdrucks ›Cyborg‹ an. Auch sie nutzt den Ausdruck kritisch, zur Bezeichnung neuer Subjektivierungsweisen, die gewissermaßen aus einem kybernetisch-organischen ›Crossover‹ entstehen. Hierbei wird nicht allein die technoide Seite zeitgenössischer Überkreuzungsüberlegungen von Kybernetik und Biologie betont. Analog zu Kays umgekehrt akzentuierten ›Biosemiotik‹-Thesen in der Molekularbiologie wird die aus der Kybernetik entstehende Informatik als Herrschaftswissen kenntlich.108 Kybernetik, ›Informatisierung‹ und ihre Effekte werden bei Hayles stark aus fiktionalen literarischen Texten und ihrer jeweiligen Verbindung zu neuen Technologien herausgearbeitet. Das erweitert ihre Thematisierung der Kybernetik gewinnbringend um ›imaginäre‹ Elemente. Streckenweise ver-

108 Vgl., anschließend an Haraways ›Informatik der Herrschaft‹: Hayles 1999: 29; zum Cyborg: ebd.: 84/85f.

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liert sie hierbei allerdings teils gewichtige realhistorische Diskursereignisse der ersten Kybernetik und deren diskursive Strategien aus den Augen. Auch sie waren auf ihrem Untersuchungsgebiet einflußreich. Hayles bisher vorgelegte Texte überschreiten begründet den Bereich der ›ersten Kybernetik‹, umfassen weitere historische Linien. In ihren Etappen oder Stadien sollen sich diese Linien jenseits einer Begreifbarkeit durch Kuhnsche oder Foucaultsche Modelle aufhalten (Hayles 1999: 14). Hayles datiert die erste Kybernetik zwischen 1945-1960, versteht sie als eine Konstellation, die sich um das Konzept der Homöostase herum gruppiert (ebd.: 51, passim). Das führt sie fast direkt zu einer späteren Kybernetik zwischen 1960-1980, die Kybernetik zweiter Ordnung. Sie wird mittels ausdrücklich erst hier entstandenen Konzepten von Reflexivität klar gegenüber der ersten Kybernetik abgrenzt (ebd.: 70, passim). Hayles greift dann noch einmal zurück auf einen weiteren, späteren Kontext zwischen 1980 und der Gegenwart. Er ist durch Virtualität und Artificial Life, künstlichem Leben bestimmt. (ebd.: 222ff, passim; Hayles 2005: 28, passim; allgemeiner ebd.: 7f, 16). Wie auch bei Dupuy und anderen werden also die jüngsten Überlegungen im Feld zu ambient und ubiquitous computing noch nicht thematisch, quasi zu einer Umstülpung von Virtualität als reale Einschreibung. Äußerst kritisch gegenüber der ersten Kybernetik positioniert, artikuliert der Hayles’sche Zugriff ambivalentere Akzente eher auf Feldern der Kybernetik zweiter Ordnung. Zwar wird deren Beitrag zur Herausbildung eines ›Posthumanen‹ klar herausgearbeitet, zugleich aber werden subversive Potentiale der Theorien unterstrichen insb. in feministischer und wissenschaftskritischer Perspektive (Hayles 1999: 288/289). Auf dem dritten Feld von ›Artificial Life‹ positioniert sie sich wieder eindeutiger kritisch. Im Anschluß an Haraway ergibt sich für Hayles das ›Posthumane‹ als neue ›Menschenform‹ im Umfeld einer Überkreuzung der Materialität informatischer Technologie mit vermeintlich ›unkörperlicher‹ Information – einem »crossing of the materiality of informatics with the immateriality of information« (ebd.: 193). Die neue, ›posthumane‹ Menschenform ist Hayles von Grund auf durch einen neuartigen Verlust von Materialität gekennzeichnet. Das geschieht insb. durch Verkörperung eines Konzepts von ›Information‹, die nun als vermeintlich körperlos und dekontextualisiert verstanden wird (ebd.: 203ff).109 Für Hayles werden dadurch Lacans Signifi-

109 Vgl. Hayles 1999: 27 für Beispiele wie programmgesteuerte Fabriken, genetische Vaterschaftstests, Bevorzugung von DNA-Tests gegenüber Augenzeugenberichten, rechtliche Fragen des Zugangs zu Computernetzwerken gegen Datenbesitz, computermediierte Partnerschaften. Vgl. auch Hayles Foucaultkritik, der in ihren Augen nicht weit genug Widerstandsmöglichkeiten, Kontextabhängigkeiten verkörperter Einschreibungen berücksichtigt, was im Informations-Kontext problematisch wird: Hayles 1999: 192ff, insb. 198. Kritisierbar liest Hayles Foucault hinsichtlich Denaturalisierung von Körperkonzepten, ihm entgingen Spezifika jeweiliger Mechanismen u.a. medialer Verkörperung, nur

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kantenketten zu immer rapideren Aktualisierungen eines Signifikantenflickerns, sie spricht von »flickering signifiers« (ebd.: 30ff, passim). Damit spricht sie Signifikanten an, die sich jenseits von An-/Abwesenheit bewegen, die in Kontinua von Mustern und Zufall verortet sind.110 Bezogen auf eine resultierende Wunschökonomie bedeutet das, daß der neue, exakte Reproduzierbarkeit ermöglichende Informationstyp gegenüber ›Waren‹ nicht mehr um Besitz kreist, sondern um Zugang (ebd.: 39). Gegenüber diesen Informationen wird menschliche Aufmerksamkeit eine seltene ›Ware‹ (ebd.: 287).111 Für Hayles (re-)produziert humane Interaktion mit den ›flickernden‹ Informationen einen Wertverlust von Materialität ›auf beiden Seiten‹, einen neuen, verkappten, proto-essentialistischen Idealismus. Für Hayles werden dabei phänomenale Präsenzen mittels ›Muster‹-Konstrukten (›pattern‹) ›überwältigt‹. Effekt sind neue ›Immaterialitäten‹ jenseits von Geist und Bewußtsein (ebd.: 35). Auch aus diesem Grund sind die neuen Informations-Konzepte nicht von ungefähr und nicht allein literarisch mit unwirtlichen, ›körperlich‹ unbewohnbaren Welten verschwistert, die keine Welt mehr im herkömmlichen Sinn sind. Ob im Science Fiction oder der kriegerischen Geschichte der beschriebenen Konzepte selbst, Nähen zum 2. Weltkrieg und folgendenden, u.a. atomaren Planspielen (ebd.: 37) spricht für Hayles Bände. Die in Computer-Artefakten und ihrem Umgang verkörperte Macht der ›ersten‹ Kybernetik als deren ›fundamentaler‹ Beitrag, als erste Bedingung einer Ausprägung eines ›Posthumanen‹ ist in den Überlegungen Hayles eher ausgespart. Teils wird nahegelegt, daß einiges in folgenden Dynamiken überwunden wurde. Die Kybernetisierung wird in ihrer Entwicklung und ihren Effekten eher konstativ mit den neuen Konstrukten der Kybernetik zweiter Ordnung verbunden, ›altes‹ scheint ›ersetzt‹ worden zu sein: »emergence replaces teleology; reflexive epistemology replaces objectivism; distributed cognition replaces autonomous will; embodiment replaces a body seen as a support system for the mind; and a dynamic partnership between humans and intelligent machines replaces the liberal humanist subject’s manifest destiny to dominate and control nature« (Hayles 1999: 288)

Weniger Ersetzung als stetige, sich synthetisierende Ebenen: Das Gebiet der Kybernetik ›erster Ordnung‹ läßt sich in seiner Wirkungsmächtigkeit gegenüber Hayles auch stärker herausarbeiten. Die sich hier der Möglichkeit nach ausprägenden Konzepte brechen (noch?) nicht immer eindeutig mit der ›liberal-humanistischen‹ Tradition und Subjektform, sind an das vorherge-

jeweiliger ›Content‹ werde angreifbar, die Reflexion von Verkörperungsmodi erschwert: ebd.: 198. 110 Gegen Lacan werden jüngst Übergänge von Konzepten der ›Kastration‹ zu ›Mutation‹ betont: Hayles 1999: 33. 111 Vgl. implizite Überlegungen zu ubiquitous computing: Hayles 1999: 287.

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hende anschließbar, können es, teils transformiert, weiterführen. Ähnlich der ›Postmoderne‹ kann hier ein Überkreuzung angesetzt werden von Brüchen und Kontinuitäten. Man kann im Kontext zwar die späteren Entwicklungen betonen im Bereich der Theorien der Kybernetik zweiter Ordnung und begleitender fiktionalen Diskurse, sie so stark machen wie möglich, wie Hayles z.B. gegenüber ›liberalen‹ Kritikern/Apologeten wie Joseph Weizenbaum (Hayles 1999: 288) und Hans Moravec (ebd.: 283, 287f). Dann aber besteht die Gefahr, manche weniger philosophische als gesamtkulturelle Dynamik aus den Augen zu verlieren, die in den 1940er Jahren beginnt – 20-30 Jahre vor den Dynamiken dieser selbstreflexiven ›zweiten Kybernetik‹. In den 1940ern wird nicht nur die Kybernetik zweiter Ordnung konzeptuell vorbereitet, sondern viel entscheidender werden auch erste Bedingungen geschaffen für spätere soziale und wissenschaftliche Kybernetisierungen. Diese kybernetischen Diskurse konnten im ersten Schritt einen viel weiteren Einsatzbereich gewinnen, als es für die späteren, reflexiven Konzepte der ›Kybernetik zweiter Ordnung‹ jemals denkbar war. Auch insofern ist die Wirkungsmacht fundamentaler Felder der ›ersten Kybernetik‹ frappant in reformulierten wissenschaftlichen und sozialen Kontexten, in Bedingungen neuer Subjektivationsweisen und zugleich Sedimenten heutiger Computerarchitektur, die bis hinein in Vernetzungen, den alltäglichen, reflexiven, imaginativen und körperlichen Umgang Effekte prägten. Noch vor neuen Reflexionsformen entstehen Grundelemente und -züge einer neuen Wissensform. Im Kontext der Kybernetik beginnt, wie im Folgenden zu sehen sein wird, (1) die Einführung eines mithin als »Weltformel« (Meyer-Drawe 2000: 229) verstandenen, weitestgehend bis heute unveränderten ›Informations‹-Konzepts mit vielfältigen Effekten. Zudem versuchen sich zwischen 1943 und 1948 (2) spezifisch reformulierte ›teleologische‹ Konzepte neuartig in verschiedenste Phänomene einzuschreiben.112 Abermals können Fragen nach dem Subjekt gestellt werden, auch ein bestimmter wissenschaftlicher Objektivismus wird zwar spezifisch reformuliert, zugleich aber mit neuen, amplifizierten Mitteln und verstreuten, kleinteiligeren Zugriffsebenen ausgestattet. Neue kybernetische Konzepte können weiterhin (3) huma-

112 Vgl. zur Betonung von Kontingenz und Unvorhersehbarkeit: Hayles 1999: 285. Interessant wäre ein überkreuzte Lektüre der anfänglichen teleologischen Kybernetik mit der bei Hayles thematisierten Derridaschen Reflexion von Anwesenheit (ebd.). Hayles liest Dekonstruktion als »child of information age« (ebd.: 44), was durch das ›Sichtbarwerden‹ von An-/Abwesenheit in informatischen Mustern bedingt sei: Es werden hier nicht mehr zum Fundament, sondern zum Gegenstand des Diskurses. Wo Hayles davon ausgeht, daß mit der Informatisierung das Problem von An/Abwesenheit und der damit arbeitenden Formation stetig verschwindet (ebd.: 28), muß keine Transformation/›Ablösung‹ stattfinden, insb. nicht in der digitalen Informationstheorie, die Hayles zum Vorbild der neuen, auf ›Pattern/Randomness‹ beruhenden Formation (ebd.) macht.

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nen, subjektiven ›Willen‹ addressieren, der andernorts technisch obsolot zu werden scheint. Parallel verdichtet sich (4) eine bestimmte neue, vermeintlich plurale Form der ›Verkörperung‹, die einem quasi-transzendenten ›Geist‹-Konzept unterstellt ist.113 Die Konzepte zu dessen Instantiation, ›Verkörperung‹ können leicht mit anderen Traditionen verwechselt werden. Die Gesamtentwicklung wird (5) z.B. durch Norbert Wiener in ein traditionelles, liberal-humanistisches ›Verantwortungs‹-Gebäude eingetragen, selbst wenn die stattfindenden Transformationen und ihre Implikationen gegen diesen Schritt sprechen, auf eine neue Leerstelle hinweisen.114 Aus implizit markt-›liberalistischer‹ Perspektive zehrt zuletzt (6) eine neue, transformierte, ökonomische Theorie gesellschaftlicher ›Spiele‹, die sich hier perspektivisch neu fundiert. Gegenüber früheren Traditionen ist im Zusammenhang der Kybernetik ein vielfältiges Feld im Entstehen begriffen. Die Bedingungen einer Kybernetisierung des Sozialen müssen nicht mit dem strategische Einsatz der Kybernetik zweiter Ordnung verwechselt werden. Teilweise entstehen Mißverständnisse durch eine bestimmte retrospektive Romatisierung des kybernetischen Felds, wie sie durch Heinz von Foerster vorbuchstabiert wurde.115 Erste und zweite Kybernetik gehen kaum ineinander auf, sprechen selten von ähnlichen Dingen. Neue Wissenssedimente – und andererseits neue zeitgenössische Dinge: Inwiefern laufen ›parallele Computer‹ heute parallel? Was begründet heute die Entwicklungen im Bereich von AI/KI und AL/KL, rein technisch gesprochen, als ›emulierte‹? Was begründet die Insistenz einer fundamentalen Anordnungsform, ›Architektur‹ seit den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts? Jenseits Miniaturisierungen, Optimierungen, I/O-Anpassungen, neuen Reihungstypen ist noch immer ein Verschaltungstyp prägend der ›universellen Maschine‹, der unter dem Namen John von Neumanns – resp. Wieners116 – parallel zu den kybernetischen Macy-Konferenzen geformt wurde. Jede alternative Entwicklung zerschellte bisher an dieser Norm, z.B. TernärArchitekturen, in Rußland erprobt.117

113 Vgl. Hayles 1999: 5f. 114 Vgl. Hayles 1999: 7f, passim 115 Lutz Dammbeck spricht in einem Feld, zu dessen Dämonisierung er teilweise beigetragen hat, punktuell Klartext: »Die Macy-Konferenzen waren also kein Kränzchen verhuschter Serapions-Brüder oder weltfremder Gelehrter, wie es in den Schnurren von Heinz von Foerster gelegentlich erscheint.« 116 Vgl. den Satz »had Bush circulated the Wiener Memorandum, we might today be talking about the [...] Wiener-von Neumann, if not the Wiener machine, instead of the von Neumann machine« (WCW IV: 147f). Vgl. dazu IV.V. 117 Vgl. Trogemann 2001 zu weiteren Differenzen: »The design of many Soviet special computers did not exactly follow von Neuman’s principles. In many machines, the memory for statements and the memory for numbers were separated and worked independently. Such a structure increased the performance and eliminated possible accidents with programs (including penetration by vi-

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Im ersten Text ihrer Trilogie zur kulturgeschichtlichen Genese des sog. ›Posthumanen‹ von 1999 spricht Hayles, auf die frühe Kybernetik bezogen, anschlußfähig von bestimmten »crossroads«, ›Kreuzungen‹ der sog. ›MacyKonferenzen‹, aus denen die Kybernetik hervorging. Auf ihnen fand ihr zufolge ab 1946 spezifischer »traffic« statt – zwischen »cybernetic models and artifacts« (ebd.: 50). Dieses fundamentale Verständnis von Kybernetik ist wegweisend, auch dann, wenn es streckenweise anschlußfähig bleibt an konventionellere Perspektiven auf Kybernetik unter ›Robotik‹-Fragen, ausgehend u.a. von der historisch späteren KI. Unter die mit kybernetischen Modellen überkreuzten ›artifacts‹ fallen für Hayles erste kybernetische Automaten, die zwischen 1948 und 1952 von einigen Teilnehmern der kybernetischen Konferenzen entwickelt wurden. Erwähnung finden der Labyrinthrätsel lösende Apparat des Informationstheorie-Pioniers Shannon oder der noch recht einfach aufgebaute ›Homöostat‹ Ross Ashbys – einer der Macy-Partizipanten, die erst im Kontext der Kybernetik 2. Ordnung umfassender Aufmerksamkeit auf ihre Thesen ziehen konnten. Hayles ›cybernetic artifacts‹ verweisen also noch relativ traditionell auf Anfänge kybernetisch informierter Robotik und ihre ›Erfinder‹. Andere kybernetische ›Artefakte‹, die ebenfalls im Zusammenhang erster kybernetischer Diskurse und Forschungen entstehen, treten nicht in den Blick. Die ersten ›Elektronengehirne‹ – Dupuy läßt sich mit Hayles verbinden und weiterführen – erhalten hier parallel ebenfalls erstmals eine bestimmten Norm-Gestalt. Ihre jeweiligen Gestalten müssen nicht notwendig hinsichtlich einzelner ›Erfinder‹ vereindeutigt werden, z.B. nach dem Vorbild der in groben Zügen bis heute zentralen, nach John von Neumann benannten Maschinen-›Architektur‹. Denn die diskursiven Konstellationen, die damals im Begriff waren sich Kybernetik zu nennen, bilden teilweise eben auch das diskursive ›Milieu‹ bestimmter Artefakte und deren neuer, formender ›Architektur‹. Insofern gilt auch hinsichtlich diesen Artefakten das, was Hayles im Hinblick auf ›crossroads‹ zwischen ihren traditionelleren artifacts und models herausstellt: Auch die ersten Norm-Rechner und ihre Architektur konnte wirkungsvoll eine gelingende Kybernetik ›funktionierend‹ vor Augen führen, auch sie konnten als ›Exemplifikation‹ wahrgenommen werden. Auch dort wird an bestimmten ›crossroads‹, Kreuzungspunkten das Funktionieren der neuen kybernetischen Theorie veranschaulicht mittels neuer artifacts, neuer ›Elektronengehirne‹. Eine solche, an Hayles anschließende These wird im vorliegenden Buch untergründig entfaltet: Der artifact ›Computer‹ als etwas, das zum Zeitpunkt seines Entstehens in Rekurs auf avancierte wissenschaftliche, kybernetische Diskursen wahrgenommen werden konnte – und zugleich als Faktum ersten ›Funktionierens‹ kybernetischer models.

ruses). It was also an an additional protection from undesirable human actions.« (ebd.: 2)

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Die folgenden Untersuchungen schließen an die in den vorausliegenden Kapiteln gestreiften Forschungen an, versuchen einige ihrer Ergebnisse zurückzuführen auf erste konkrete Herkunfts-/Bedingungsfelder der Kybernetisierung der Nachkriegszeit. Haraways und Hayles’ Strategie des Umgangs mit Kybernetik wird unterstrichen abseits eines Rahmens bloßen ›survivals‹: »Although some current versions of the posthuman point toward the anti-human and the apocalyptic, we can craft others that will be coductive to the long-range survival of humans and of the other life-forms, biological and artificial, with whom we share the planet and ourselves« (Hayles 1999: 291)

Hayles spricht jüngst politischer von einem »regime of computation« (Hayles 2005: 8, passim). In Rekurs auf Kybernetik konstatiert sie: »An important contribution of mid-twentieth-century cybernetics was the construction of theories and workable technologies that instantiated feedback loops connecting human and machine, dominator and dominated, subject and object« (Hayles 2005: 241)

Kontinuitäten/Brüche: Hayles deutet an, daß es zwar zum ›Kreuzen‹ tradierter Grenzen gekommen ist, sie selbst aber wissenschaftlich zentral blieben (ebd.: 242), sich auf neue Felder ausbreiteten. Nicht zuletzt dieses Ergebnis legt eine differenzierte Arbeit mit einem ›reversiblen‹ Dispositiv-Begriff als analytischem Hintergrund nahe. Den letzten Teil des Buchs bilden fünf Diskursanalysen verschiedener Diskursstränge und Technologien der Kybernetik, die zwischen den frühen 1940er und 1950er Jahren geboren wurde. Als Effekt und Instrument einer neu entstehenden, kybernetischen Ökonomie entsteht in ihrem Vordergrund auch der Computer – und umgekehrt.

»The sound procedure is to obtain first utmost precision and mastery in a limited field, and then to proceed to another, somewhat wider one, and so on.« JOHN VON NEUMANN

IV. Paleo-Kybernetik: Diskurse, Sedimente »We had dreamed for years of an institution of independent scientists, working together in one of these backwoods of science [...] joined by the desire [...] to understand the region as a whole, and to lend one another the strength of that understanding. [...] the deciding factor in this new step was the war.« N. WIENER »Als erfänden wir in genau diesem Augenblick die ganze Geschichte neu; jeder Schritt einer Abenteuer, jede Übereinkunft ein Ereignis.« H. V. FOERSTER, 1948

Vor der wissenschaftlichen Popularisierung und interdisziplinären Weiterentwicklung eines regelgeleiteten kybernetischen Diskurses, im Vorfeld des weiteren Ausschwärmens seiner neuen Regularien und Technologien ist eine vielschichtige diskursive Gemengelage bemerkenswert.1 Sie führt überhaupt erst zu einer Konvergenz zuvor noch verschiedener, ehemals separat entstandener diskursiver Stränge zu einem einzelnen, heute individualisierbaren Diskurs. Hier entstehen neue Technologien, »eine Reihe von Techniken, ein Korpus von Verfahren und Wissen, von Beschreibungen, Rezepten und Daten« (Foucault 1975: 181). Im Folgenden tritt Kybernetik als ein im Entstehen begriffener Diskurs hervor. Es werden forschungsleitend fünf gesonderte, auf sie zulaufende diskursive Stränge rekonstruktiv differenziert. Diskursanalysen werden unternommen: Im Ergebnis werden genealogische Zusammenhänge des Ent-

1

Vgl. typische Versuche historischer Linienführung des (späten) Diskurses selbst: Flechtner 1966: 3ff, insb. 8; Ashby 1954; einschlägig Wiener 1948, passim.

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stehens neuer kybernetischer Technologien sichtbar, die in jeweils einem Unterkapitel anhand folgender Leitausdrücke operationalisiert werden.2 (1) Information/Kommunikation (1932-1948) (2) Teleologie (1943-1949) (3) Regulierung/Homöostase (1800-1932, 1948) (4) Spiel (1871-1952) (5) (ideale) Verkörperung (1943-1952)

[IV. 1.] [IV. 2.] [IV. 3.] [IV. 4.] [IV. 5.]

Zusammenfassend gesprochen: Ein erster, ›Kybernetik‹ vorbereitender diskursiver Strang – einige Effekte wurden bereits gestreift – entsteht (1) um den Ausdruck ›Information‹ und ›Kommunikation‹. Dieser Strang kulminiert über entropietheoretisch-statistische und nachrichtentechnische Axiome z.B. beim Populationsgenetiker Fisher, den Bell-Labs-Ingenieuren Hartley und Nyquist 1948 in Shannon/Weavers Informationstheorie. Zentrale Vermittlung hierzu ist die statistische Vorhersagetheorie Wieners, die einsatzfähig wird in Zusammenhängen der Entwicklung eines sog. ›Voreilrückkopplungs‹-Apparat im zweiten Weltkrieg, zwischen 1941 und 1943. Ein weiterer Strang vollzieht gegenüber vormaligen Verständnissen (2) eine spezifische technische Akzentsetzung des Ausdrucks Teleologie. Er ist ebenfalls vermittelt über den ›dachbildenden‹ ›Voreilrückkopplungs‹-Apparat, der eine ersten Annäherung der fünf Stränge erlaubt. Der ›teleologische Kontext‹ verdichtet sich in einem zentralen Text Wiener/Bigelow/ Rosenblueths, der prägende Bedeutung zur Ausfaltung von Kybernetik hat. In diesem Diskursstrang werden federführend einige seiner zentralen Topoi, Grundfiguren und Haltungen vorbereitet. Die ersten Anfänge spezifischer Konzepte einer sog. Selbstregulation bietet hierfür eine Grundlage. Ein dritter kybernetischer Diskursstrang (3) entwirft bereits Herkunftsaspekte kybernetischer Selbstbeschreibungen. Hier wird u.a. eine rein technisch verstandene Vorgeschichte kybernetischer Theorien artikuliert. So wird Rekurs genommen auf eine historische Linie Waage-metaphorisierter Technik, beginnend insb. bei der Steuerung von Dampfmaschinen durch James Watts ›Governor‹ ab 1788. Ausgehend von technisch Konstanz ermöglichenden Regulationstechniken wie diesem Fliehkraftregler, vermittelt über John C. Maxwells Text on governors von 18673 sowie medizinischen Konzepten Claude Bernards zum ›inneren Mileu‹ (1865) entsteht im Diskurs retrospektiv eine autohistorisierende Linie. Sie wird später bei Norbert Wiener herangezogen und bildet einen ersten initiativen Durchgangs- und Selbstbeschreibungsort des kybernetischen Diskurses. Durch Vermittlung seines Schülers Rosenblueths4 wird der durch

2 3 4

Vgl. zum Einstieg in kybernetische Metaphorisierungen: Heims 1991: 248f. Vgl. zu Watt und Maxwell: Rieger 2003: 38, insb. zu Maxwells sozialen Übertragungen, die Foucaults empirisch-transzendentale Dublette ausleuchten. Vgl. Dupuy 1994: 45.

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Walter Cannon 1932 geprägte Homöostase-Begriff im kybernetischen Diskurs seine primär organischen Konnotationen mit einem neuen mechanistischen Technologie-Hof kreuzen, der nun auf ›Rückkopplung‹ basiert. Objekte können thematisch werden, die eine solche Homöostase technisch nachbilden sollen. Sie werden verstanden als ›selbstregulierende‹ Apparate. Solche ersten Konzepte und ihre historische Selbstbeschreibung hat später insb. bei Wiener bestimmte theoretische Überlegungen zum Effekt zur konkreteren Überkreuzung technischer und organischer Entitäten. Kulminationspunkt dessen sind in den späten 1940er Jahren u.a. Phantasien neuer, u.a. medizinischer Artefakte, an die humane Organismen bei Krankheiten ihrer körperlichen Homöostase angeschlossen werden können, um externen Regulierung zu gewährleisten. Bei der humanen Applikationen des Konzepts werden zugleich bislang fehlende, ungenügende, ›behinderte‹ Funktionen sichtbar. Die verschiedenen Konzeptualisierungen sind von Beginn an mit Möglichkeiten prinzipieller technischer Verbesserung imprägniert. Ein weiterer kybernetischer Diskursstrang ist (4) krypto-utilitaristisch imprägniert. Er ist abermals stark mathematischer, wahrscheinlichkeitstheoretischer Natur, kreuzt die anderen Stränge 1943/1944 peripher. Später bekannt als Neumann/Morgensternsche ›Spieltheorie‹ entsteht mittels einer stochastisch-kalkulativ (re-)konstruierenden Rationalitätform eine erste neue, haushälterische Matrix der Anordnung, Fremd- und Selbst-Relationierung sozialer Monaden. Sie ist eingebettet in eine wahrscheinlichkeitstheoretisch reformulierte soziale Physik, deren anzustrebendes, historischevolutionäres Gleichgewicht nun u.a. vermittelt gilt durch Strategien individueller Nutzenmaximierung. Was sich konstruktiv und reflexiv als Überbau anbietet einer neuartigen kybernetischen (Sozial-)Kombinatorik der im Kontext neu (re-)konstruierbar werdenden sozialen Elemente, entwickelt später, parallel zum Ausschwärmen des kybernetischen Diskurses, u.a. das Theorem des sog. Gefangenendilemma. In Analogie vom Einzelnen aufs Ganze werden damit im anbrechenden kalten Krieg, den US-amerikanischen Strategien des ›Containment‹, der Möglichkeit nach auch Strategien zum Verhältnis der neuen Mega-Einheiten der Blockkonfrontation denkbar. Zuletzt entsteht (5) ein Diskursstrang, der über neu konzeptualisierte Modelle des Gehirns boolsche Algebra in frühe kybernetischen Kontexte einbringt. Er artikuliert sich u.a. mittels zeitgenössisch avancierten, positivistischen Formen und Axiomen. Ab Beginn der 1940er Jahre entstehen in einer sich reformulierenden Hirnforschung u.a. erste Grundlagen, etwas wie ›neuronale Netze‹ zu denken. Boolsche, also digitale Algebra wird dann als logisches Kalkül gefaßt, die These verfolgt, daß sich durch sie ewige Ideen artikulieren können, die sich in spezifischen materiellen Formen verkörpert vorfinden lassen – und zugleich geplant material verkörpert werden können: Im Gehirn, in neu konzeptualisierten synaptischen ›Schaltungstypen‹ genau so wie in ›Elektronengehirnen‹ und ihrem neuen Verschaltungstyp. Eine metaphorische Vermittlung beider symmetrisch eingeführter Typen ergibt sich 1943 in Texten McCulloch/Pitts entlang Digitalität und ideellen Kalkü-

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len. Kalküle werden artikuliert durch partiell transformierte Formen des logischen Positivismus hindurch, insb. mittels Notationsformen Carnaps bzw. Russels.5 Politische Exilanten aus diesem theoretischen Kontext wie Carnap und Quine prägen zugleich als Gäste der Macy-Konferenzen den späteren kybernetischen Diskurs. Auch das bleibt weder formal noch argumentativ folgenlos in den u.a. über die Informationstheorie reformulierten Wissensformen der Nachkriegs-Hirnforschung, Genetik und in den neuen, kognitiven Humanwissenschaften.6 Soweit der erste Überblick zu den folgenden Analysen. Die Anordnung der fünf Diskursstränge hat sachliche Gründe in bestimmten zeitgenössischen Diskursen und ihren partiellen Konvergenzbewegungen. Kybernetik bildet sich als Diskurs heraus an mehreren Kreuzungspunkten vormals separater diskursiver Strömungen. Wo stetig ein Diskurs mit eigenen Aussageregularien entsteht, ermöglicht das Entstehende selbst weitere Überkreuzung vielfältiger vormals distinkter Konzepte und Entitäten. Die anfänglichen Diskursstränge konvergieren zwischen 1943, dem »propitious year of cybernetics« (Dupuy 1994: 66) und 1948, dem Geburtsjahr einer populär wirksamen Kybernetik. Wie zu sehen sein wird, spielen Überlegungen zu einer sog. teleological society und globale Gesundheits-Initiativen eine gewichtige Rolle noch vor den ersten kybernetischen, sog. Macy-Konferenzen. Die im folgenden Zugang zum kybernetischen Diskurs gewählte Anordnung diskursiver Stränge dient heuristisch der Differenzierung vielfältiger Dynamiken im Vorlauf des kybernetischen Diskurses – kurz bevor er, kohärenter, greifbarer geworden, ausschwärmen kann.7 Die Konvergenz der diskursiven Stränge ab 1948 vollzieht sich parallel zum Entstehen der ersten elektronischen ›Elektronengehirne‹, Computer. Unter anderem im Gefolge des protokybernetischen AA-Predictors steuern diese Apparate, durch den Rechner ENIAC hindurch, auf John von Neumanns EDVAC zu. Wo sich um 1948 erste diskursive Regularien von ›Cybernetics‹ zeigen, rahmt den ›Computer‹ nun eine erste spezifische Norm-Form. Beide Prozesse wirken dann, teilweise im Verbund, teilweise komplementär ein auf vielfältige folgende Strömungen der Technik-, Technologie- und Wissensentwicklung.8

5

6 7 8

Alle zentralen Kybernetiker hatten eine handfeste Ausbildung in philosophischer Logik in Nähe zum logischen Positivismus: Hatte von Neumann bereits bei Hilbert in Göttingen studiert, dann Wiener bei Russel in Cambridge, Pitts bei Carnap in Chicago. McCulloch hatte neben Moore und Peirce auch den Tractatus Wittgensteins und Russel studiert. Vgl. Wiener 1968: 34; Dupuy 1994: 105. Vgl. den Überblick über sämtliche Teilnehmer: Dupuy 1994: 76/77. Vgl. Tiqqun 2001: 31f. Vgl. zur herkömmlichen, autor-orientierten Darstellung der vielfältigen Verzweigungen Heims 1991: 273ff. Dupuy spricht hier davon, Kybernetik habe »shaped our era to an unrivaled degree.« (Dupuy 1994: 43), er erkennt in ihr den Hauptvertreter gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Veränderungen im Gefolge des 2. Weltkriegs. Er nennt, neben den Grundlagen datenverarbeitender

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Aktuelle Forschungsansätze wurden bereits kurz angeschnitten: Nicht nur ist der kybernetische Kontext nachhaltig geprägt von ersten Schritten einer neuen Hirnforschung, die für die parallel entstehenden informationstheoretischen Paradigmen offen ist und die eine gegenseitige Metaphorisierung von Gehirn und Rechenmaschine ermöglicht. Durch die entstehende Kybernetik gewinnt auch die Hirnforschung selbst ein neues Gesicht – aber nicht nur sie. Die durch Computer-Metaphern und Konzepte reformulierten kognitiven Humanwissenschaften und die informationstheoretisch textualisierte, regulatorisch kybernetisierte Biologie sind einige weitere zentrale Beispiele, die aktuell detailliert untersucht werden. Die popularisierte Kybernetik des kalten Krieges kann hierbei parallel immer wieder Felder für Rekurse anbieten – und damit potentiell Kompatibilität auf jeweiligem Differenzierungsniveau gewährleisten. Hinweise auf diese und weitere Dynamiken sowie Anschlüsse und Anschlußarbeiten werden hauptsächlich – wie bereits geschehen – in Fußnoten kenntlich gemacht. Das gilt auch im Vorfeld des analysierten. Zwar werden teils einige bislang in der Forschung kaum erwähnte Kontexte besprochen, die vorliegenden Analysen bestimmter protokybernetischer, diskursiver Stränge finden aber spätestens dort Grenzen, wo zum einen weitere kulturhistorische Linien, zum anderen noch kleinteiligere erste Konvergenzen noch genauer untersucht werden müßten. Im zweiten kybernetischen Strang z.B., der neue technologische Ausrichtungen der Ausdrücke Teleologie und Rückkopplung vollzieht, wird bereits 1942/43 unausdrücklich vorgedeutet auf von Neumanns/Morgensterns Spieltheorie hinsichtlich Verhalten und Zweckmäßigkeit9 – und auf Walter Cannons Homöostase-Konzept zurückgegriffen. Solche Querverbindungen, Wechselwirkungsprozesse, Überschneidungen/Überkreuzungen sind unerläßlich zur detaillierten Rekonstruktion des Entstehens diskursiver Regularien bis hin zu ersten Verdichtungsprozessen am Ende der sog. Macy-Konferenzen. Sie

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Maschinen und AI, die Hirnforschung (»introducing the logico-mathematical style of formalism and conceptualization to the sciences of the brain and the nervous system«) sowie später durch Systemtheorie transformierte Sozial- und Humanwissenschaften (»from family therapy to culural anthropology«) und allgemeine diskursive Konzepte (»in economics, operations research, game theory decision and rational coice theory, political science, sociology«). Kybernetik prägt ihm zuletzt zentrale Metaphern folgender Paradigmenwechsel: »[...] providing several of the scientific revolutions [...] ranging from molecular biology to Lacans reinterpretation of Freud with the metaphors they needed to annouce their break with established paradigms« (ebd. 43/44). Eine dort nur angelegte These zur Genese neuer Regularien und Disziplinen neuer Formen von Anthropotechniken muß stärker herausgearbeitet werden, z.B. ausgehend von aus Kybernetik hervorgehenden (informationstechnischen) Metaphernprägungen im Kontext entstehender Molekularbiologie (vgl. Kay 2001, 2004). Im Folgenden werden Bedingungen und Grundelemente solcher und weiterer Technologien untersucht. Vgl., den 1943er-Text weiter konturierend: Wiener 1950b: 325.

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können nur in weiteren Analysen herausgearbeitet werden. Die untersuchten, vorbereitenden fünf Diskursstränge und ihre initialen Technologien, ihre Texte und Kontexte unter einer solchen, weiterführenden Perspektive zu analysieren ist im vorliegenden Buch nicht zu leisten. Im Rahmen der skizzierten Heuristik konnten nur die für die markierten Kontexte nachweislich zentralsten (Kon-)Texte auf einem bestimmten Relationsniveau analysiert werden. Das hindert nicht an Hypothesen im erschlossenen Gebiet. Ein letztes Mal ein Hinweis zum Einstieg in die Analyse: Bei der im Folgenden untersuchten Kybernetik handelt es sich weder um erste Schritte einer neuen Robotik noch um das, was 25 bis 30 Jahre später Theoretiker einer Kybernetik 2. Ordnung, insb. Heinz von Förster, unter Kybernetik verstehen werden. Eher handelt es sich um das Entstehen erster zentraler Elemente von Diskursen, um Bedingungen neuer Sozial-, Anthropo-, Kogno-, Bio- und Techno-Technologien. Die Diskurse der Kybernetik 2. Ordnung stellen also nur eine von mehreren späteren Filationen des analysierten diskursiven Geschehens dar – beileibe nicht die einflußreichsten.10 Zudem ist jeder Versuch einer Identifikation der ersten Kybernetik mit einem Autor, z.B. Norbert Wiener,11 einzuklammern. Personal markierte Diskursstellen sind für die folgenden Analysen weitgehend irrelevant. »Die Körper befinden sich in einer kleinen Welt von Signalen« (Foucault 1975: 214): Eine neue Kontrollform macht sich zunächst an eine neue Form des Verteilens und Tranchierens von Mitteilungen. Auch zu diesem Zweck setzt sie Technologien ein. Der rekonstruktive Durchgang durch fünf bis 1948 entstehende, zentrale Elemente des kybernetischen Diskurses beginnt am Ort der Konkretion von etwas, das später in einem Feld der Informationstheorie kulminieren wird.

10 Was in Kontext, Umfeld und Folge der Kybernetik 2. Ordnung unter Selbstorganisation verstanden wird, ist teils in ausdrücklicher Gegenstellung zum anfänglichen kybernetischen Diskurs und seinen Auswirkungen entstanden. Die Forschung von Dupuy bis Hayles betont, daß hier u.a. nicht von Selbstorganisation, sondern von Selbstregulation die Rede ist. Angedeutet ist nicht nur eine forschungsperspektivische Gegenstellung sondern auch eine politische: vgl. Dupuy 1994: 10, 18, 130. Dupuy wird hier, ähnlich Galison, nicht gefolgt bei Annahmen kybernetischer Filiation des Poststrukturalismus: ebd. 139, 157f; »an ignorance of cybernetics that is widely shared – and which unfortunate choice of the very name cybernetics (... implying a theory of command, governance, and master) cannot excuse« (Dupuy 1994: 110). Weder existiert der Poststrukturalismus, noch eine eindeutige, quasi-determinative Filiation. Radikal-konstruktivistische Texte aussen vor: Poststrukturalismus läßt sich nicht historisch mit einem aus der Kybernetik hervorgegangenen Konstruktivismus identifizieren. Sie sind auf linguistische, teils phänomenologische Texte bezogen, ähnlich Dupuys HauptGewährsmann Levi-Strauss: Vgl. ebd.: 1994: 107f. Systemtheoretische Theoriebildung bleibt im Folgenden außer Acht (vgl. Dupuy 1994: 145, 131f). 11 Vgl. den bibliographischen Überblick zu Wieners Texten: Masani 1976.

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1. ›I NFORMATION ‹: T ECHNOLOGIE UNIVERSELLER Ü BERSETZUNG »Ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicierten Begriffsdoms gelingt; freilich um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau, wie aus Spinnefäden sein, so zwar, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden.« F. NIETZSCHE

1.1 Information historisch »Er spricht derart, daß man ihn von überall her hört und niemand mehr ein Wort zu sagen vermag.« M. SERRES

Die erste kybernetische Lektüre widmet sich Grundlagen des Begriffs der ›Information‹ und ihrer ›Übertragung‹. Die Lektüre zielt auf eine Problematisierung des sich ausgehend von diesem Begriff im kybernetischen Gefolge kristallisierenden, neuen Verständnisses von ›Kommunikation‹. Diese neue Form beginnt als fundamental, universell und zugleich logisch-rational gedacht werden zu können. Sie und ihre Technologien sollen im kybernetischen Gefolge sämtliche Probleme von Schrift und Sprache umfassen, einschließlich jeweiliger Mitteilungen, Kontexte und identischer Transfers. Der »(definierende) Fundamentalbegriff« (HWP 4: 1468) der Kybernetik, Information, ist keine Neuprägung der Kybernetik. Er kann auf eine lange historische Tradition zurückblicken. Zurückgehend auf das lateinische informatio trägt der Begriff bestimmte Bedeutungskomponenten. Von der Antike bis in die Moderne integral semantisch geprägt, bezieht er sich zum einen auf jeweils bestimmte Worte begleitende Vorstellungen. Zum anderen, insb. im Gefolge Ciceros, bezeichnet er einen Prozeß des Bildens oder der Bildung, der in spezifisch gewendeter Form noch bis heute in Konnotationen wie »Belehrung, Anweisung, In-Kenntnis-Setzen« (HWP 4: 356) fortlebt. Information hat historisch betrachtet also neben einer semantischen auch eine angeleitet hervorbringende Bedeutung, betrifft Charakterbildung. Während diese Bildungskomponente später abstrakt durch die Scholastik artikuliert wird mittels Konzepten der Gestaltung von Stoff/Materie durch Form, wird die semantische Komponente stärker durch die Rhetorik betont.

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Hier wird die Hervorhebung charakteristischer Merkmale eines sprachlichen topos, dem charakterismos, unterstrichen. Semantische und hervorbringende Komponente von ›Information‹ werden erst im Kontext derjenigen neuen Kommunikationstheorie neuen Bedeutungen zugeführt, die sich im Gefolge der Kybernetik ausprägt. Sie können sich in Folge auch außerhalb technik- und ingenieurswissenschaftlicher Bereiche popularisieren. In der Rede von Information hält sich dann dort zwar noch immer auch die Bedeutung von semantischen Komponenten durch. Jene hervorbringende Komponente allerdings wird dann zusehends weniger verstanden in Richtung eines Prozesses, der auch Subjektbildung umfaßt. Sondern immer stärker als eine Dynamik, die an gegebene Relata rein syntaktische Formen beliebig überträgt, beliebig entfernt hervorbringt. Ein historischer Umwendungs- oder Umstülpungsprozess des Begriffs, seiner Bedeutung und seiner Konzepte findet statt. Vermittelnder Wendepunkt ist eine durch vielfältige diskursive und technisch-mediale Ereignisfolgen und Dynamiken vorbereitete, primär statistisch-mathematische Informationstheorie. Im Zuge der Kybernetik kommt es zu einer stetigen Popularisierung und Diffusion der neuen Konzepte in Alltagsdiskurse. Heute herrschen im Alltagsverständnis Vorstellungen vor z.B. von WissensBlöcken, die in Lernprozeßen als ›Input‹ aufzunehmen sind und als ›Output‹ in gleicher Form zu repetieren: Als objektive, von Vermittlungsform und Charakterbildung abstrahierbare Informationen, Quasi-Stoffe, die sich ohne Veränderungen in Gehalt und Träger gewissermaßen als, aus und in Container verladen lassen. Das zeigt sich z.B. in der Rede vom informatischen ›Content‹ als einer heute populären Wissensform, die, quasi-physikalisch und informatisch-flexibel bestimmt, in ihren Implikationen weitestgehend subjektivierungsfrei denkbar wurde.12 Erstmals in einer tendenziell noch heute gültigen, vereinheitlichten Form artikuliert werden zentrale Axiome des gewendeten Informationskonzepts in der Informationstheorie der späten 1940er Jahre. Auch diskursiv betrachtet geschieht das in einem kybernetischen ›Milieu‹. Eine Epochenschwelle scheint markiert, wenn gegenüber Materie und Energie ein weiteres, neues, nicht-physikalisches Konzept, das der Information statuiert werden kann.13 Das neue Konzept wird mit energetischen Lehrsätzen zu Entropie parallelisiert. Leo Szilard hatte 1929 erstmals eine theoretische Beziehung zwischen

12 Ein »Paradigma der Informationsverarbeitung«, in dem »Intelligenz, Gehirn und Rechnen [...] gleichgesetzt sind.« (Weber 2005: 247) Wie Donna Haraway hinsichtlich eines seiner Effekte, der genetischen Information bemerkt hat, prägt es etwas aus, das mitsamt seinem containerhaften Objektstatus vergleichbar ist, mit dem, was man früher wohl Warenform genannt hätte. Ausgehend von den neuen Entwicklungen wäre diese Form neu zu bestimmen. Das ist hier nicht zu leisten. 13 Vgl. Wiener 1952: 166.

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Entropie, Gedächtnis und Information hergestellt (Szilard 1929),14 die 1949 durch Shannon/Weavers Theorie in eine Form gebracht wird, die bis heute aktuell ist. Information stellt hier zwar genaugenommen keine neue physikalische Gegebenheit dar. Allerdings werden nun z.B. strukturelle Relationen zwischen gegebenen Sachverhalten als transkontextuell ›übertragbar‹ vorgestellt: Rein syntaktisch betrachtete Symbolkonfigurationen werden »in andere Konfigurationen überführt« (HWP 4: 356). Sie werden gedacht als beliebig lös- und propfbar.15 U.a. entstehen implikationsreiche Transportfragen. Historisch vorbereitet wurden zentrale Implikationen, insb. eine statistische Konzeptualisierungsform, spätestens 1918 durch den Statistiker, Eugeniker und Gründer der quantitativen Populationsgenetik Ronald Fisher und sein erstes Konzept eines konkreten Informationsgehalts.16 Neben der maximum-likelyhood-Methode führt er erstmals ein quantitatives Maß für den Informationsgehalt bei experimentellen Daten ein (Fisher 1918). Aus dem Kontext der Nachrichtenübertragung von Telegrafen bei den amerikanischen Bell Telephony Labs (Western Electric/AT&T) stammen zehn Jahre später Arbeiten von Ralph Hartley über die Proportionalität des Frequenzbands und der Übertragungsdauer zur maximal übertragbaren Informationsmenge (Hartly 1928) sowie der hierfür teils grundlegende Text von Harry Nyquist zu thermischem Rauschen, Intelligence und maximaler Kanalkapazität rauschbelasteter Kanäle (Nyquist 1928). 17 In Zusammenhängen konkreter Einsatzgebiete liefert Claude Shannon kurz vor Beginn des zweiten Weltkriegs, 1937, seine berühmte Masterarbeit, die eine Übertragung boolescher Algebra auf Schaltkreise versucht.18 Zwei

14 Szilard beruft sich u.a. auf den Maxwellschen Dämon, stellt die These auf, daß – wenn der Dämon Informationen über die zu sortierenden Moleküle benötigt, weil er sie nicht ›sieht‹ – die Energie zum Erkennen der Moleküle, also zur Informationserhebung größer ist als diejenige, die durch ihre Sortierung gewonnen wird, also Entropie steigt, je mehr Information verfügbar ist, der 2. Satz der Thermodynamik aufrechterhalten werden kann. Vgl. hierzu Hayles 1999: 101ff. 15 Es ist ein logozentrisch gedachter Transfer quantifizierbarer Eigenschaftsblöcke unter intentionalen Potenzen vollständiger Kontextkontrolle, die eine mehrerer Differenzen gegen Derridas Schrift-Problematisierungen markiert, auf weitere hat u.a. L. Kay hingewiesen. V. Grassmuck scheint an Vorstellungen einer physikalischen Substanz anzuschließen, wenn er Shannons Theorie nahelegt, daß »Signale [...] ins Reich der Physik und nicht in das der Semantik (Claude E. Shannon)« gehören (Grassmuck 1999: 234). 16 Fisher wird von Wiener als historischer Bezugspunkt genannt: Wiener 1948, 18; Das Entstehen des Binär- also Digitalcodes wird heute oftmals mit dem Namen des englischen (Lebens-)Versicherungsstatistikers William Phillips und seiner Arbeit von 1936 verbunden wird. Wiener rekuriert 1948 auf Gauss und Darwin jeweils als »Leibniz des 19. Jahrhunderts«: Wiener 1952: 21 17 Vgl. den hist. Überblick: Juskevic 1971, 71f (Nyquist, Hartley, Kotelnikov). 18 Sie gilt als »folgenreichste Magisterarbeit aller Zeiten« (Kittler 2000: 331).

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Jahre später entwickelt Stibitz, ebenfalls bei Bell, das erste digitale Relais. Zuvor war das Relais aus Zusammenhängen von Pferdewetten und Telefonswitching technisch zweckentfremdet worden. Shannons Doktorarbeit zur mathematischen Algebra-Theorie der Genetik aus dem ersten Kriegsjahr ist im untersuchten Kontext dann erst einmal zu vernachlässigen.19 Anschließend an die vorhergehende Dynamik ergibt sich in den 1940er Jahren ›Information‹ stetig zu erkennen als Folge grundsätzlich technisierbarer Entscheidungs-/Selektionsakte. Eine bestimmte Mitteilung wird aus weiteren möglichen ausgewählt – sie wird dabei zugleich statistisch/wahrscheinlichkeitstheoretisch fundiert und gilt mathematisch als binär grundiert. Letztlich ist der Möglichkeitshorizont einer solchen Information, ihre selektive Entscheidungsmatrix grundsätzlich auf zwei und nur auf zwei Optionen, nämlich »ja« oder »nein« beschränkt. Hierauf aufbauend kann sich erst das informationstheoretische »filing cabinet of possibilities« (MacKay 2003: 512) ergeben.20 Was ist der Zusammenhang, in dem solche Perspektivierungen, neue Möglichkeiten und Beschränkungen entstehen?

1.2 Shannon/Weaver: Theory of Information (1948) »Ein Gespräch ist nicht Austausch oder Konfrontation von Gedanken, so als formte ein jeder zuerst seine eigenen Gedanken, zeigte sie danach dem anderen, betrachtete sodann die ihrigen und käme zuletzt auf seine eigenen zurück, um sie zu berichtigen... Sobald einer spricht, sind die Anderen nur noch gewisse Abweichungen im Vergleich zu seinen Worten, und er selbst präzisiert seine Abweichungen im Verhältnis zu jenen« M. MERLEAU-PONTY

Der Informations-Begriff wird 1948 im Zusammenhang der Kommunikationstheorie Claude Shannons und Warren Weavers in eine bis heute gültige Form gebracht (Shannon/Weaver 1949). Im Zuge der Informatisierung wurde sie weitgehend popularisiert.21 Im Anschluß an vorhergehende, noch begrenztere Dynamiken gelingt die erste, wirkmächtige Vereinheitlichung und

19 Vgl. Shannon 1937 und Shannon 1938. 20 Vgl. den Verzweigungsbaum: Weltner 1966: 1; sowie den Shannongraf: ebd.: 2. 21 Vgl. zur Subsumption Shannon/Weavers zum kybernetischen Kernbestand: Dupuy 1994: 76, 116f. Im folgenden wird davon ausgegangen, daß die Theorien unter dem Namen Donald McKay, Yehoshua Bar-Hillel und Henry Quastler, da alle Teilnehmer der Macy-Konferenzen, begrenzt auf Shannon/Weaver rekurrieren.

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Popularisierung der Theorie ein Jahr nach Entstehen des Transistors. 1948 durch Shannon in Fachkreisen publiziert, im Bell-Labs-Journal, im Anschluß mit Warren Weaver zusammen redigiert und vermehrt, erreicht sie 1949 unter dem Titel »The Mathematical Theory of Communication« (dt. 1976) eine breitere Öffentlichkeit. Das erste Erscheinen der neuen Kommunikationstheorie fällt also zusammen mit Wieners Cybernetics von 1948 (Wiener 1948).22 Die folgende Analyse beschränkt sich zumeist auf Beiträge Weavers, da Shannons Passagen stark mathematisch verfahren und Weaver stärker mittels Metaphern argumentiert.23 Mittels Metaphern, die für die weitere Verbreitung ebenso zentral gewesen sind wie die stochastisch geprägte Theorie selbst.

1.3 Syntax, Semantik, Pragmatik »Der Sinn liegt nicht auf dem Satz wie die Butter auf dem Brot« M. MERLEAU-PONTY

Obwohl Weaver ausgeht von Reziprozitäten zwischen den Kategorien Syntax, Semantik und Pragmatik und diese einschätzt als »so beträchtlich, daß die Trennung in die drei Ebenen letzten Endes als künstlich und erwünscht erscheint« (Shannon/Weaver 1949: 35), wird Kommunikation im Text erst einmal heuristisch, später dann auch grundsätzlich syntaktisch verortet.24 Kommunikation wird damit zumeist ausdrücklich jenseits semantischer und pragmatischer Kontexte thematisch. Semantik und Pragmatik werden zugleich aber nicht, wie oft behauptet,25 einfach ausgeblendet (ebd.: 14/15). Im ersten Zugang der Theorie wird der syntaktische Bereich bezeichnet als »Ebene A – technisch«, der semantische als »Ebene B – semantisch«, der pragmatische Bereich als »Ebene C – Effektivität« (ebd.). In einem eher allgemeinen Teil des Textes wird nun der syntaktische Bereich – Ebene A – auf technische Problemstellungen festgelegt, der semantische auf eine identische Reproduktion des zu Übertragenden und der pragmatische auf eine Beeinflussung. Pragmatisch geht es um den »Erfolg« eindeutig verständlicher Kommunikation. Dieser Erfolg wird primär mittels

22 Kay sieht durch Cybernetics das Entstehen eines ersten »Meta-Diskurses zum Problem der Information« (Kay 2001: 504) gegeben. Von einer solchen MetaPerspektive kann im Folgenden abstrahiert werden zugunsten der Thematisierung von Shannon/Weavers Kommunikationstheorie in diskursiven Interdependenzen. 23 Vgl., ambivalent, Wiener zu Mathematik als Metapher: Hayles 1999: 93. Kryptopersonalistisch wird Weaver oft anhand einer Begabung für »Wissensmanagement« für eine Popularisierung verantwortlich gemacht: Kay 2001: 505. 24 Vgl., heuristisch, nicht systematisch: Shannon/Weaver 1949: 12. 25 Vgl. implizit Pias 2000: 428.

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Ausdrücken wie Befehl und Befehlsausführung thematisch: Er ist dann gegeben, wenn »die Nachricht, die dem Empfänger übermittelt wurde, zu einem vom Sender beabsichtigten Verhalten führt«. Entscheidend wird also, ob »Kommunikation entweder das Verhalten beeinflußt oder aber ohne irgendeine ersichtliche und wahrscheinliche Wirkung bleibt.« (Shannon/ Weaver 1949: 13/14). Parallel konnotiert auch Norbert Wiener militärische Befehlsgewalt, Befehlsempfang eines »Blockwärters«:26 »Dies ist das mechanische Äquivalent zu der Wiederholung von Befehlen bei der Flotte gemäß einem Code, bei dem jeder Untergebene nach Empfang eines Befehls ihn seinem Vorgesetzten wiederholen muß, um zu zeigen, daß er ihn gehört und verstanden hat. Auf Grund solcher wiederholter Befehle muß der Blockwärter handeln« (Wiener 1952: 126)

Folgerichtig spricht Janich im Kontext ein »pragmatische[s] Defizit des Nachrichtenkomplexes« (Janich 1999: 87) dieser Theorie an, unabhängig davon, ob man seine subjektzentrierte Kritik und ihre Hintergründe gutheißt.27 Die auf eine spezifische Form der Wirksamkeit eingeschränkte pragmatische Ebene des Shannon/Weaverschen Kommunikationskonzepts umfaßt »Technik des Stils über all die psychologischen und emotionalen Gesichtspunkte der Propagandatheorie bis hin zu [...] Wertvorstellungen« (Shannon/Weaver 1949: 14). Im Hintergrund allgemeiner Textteile fällt auf, daß Nachrichtenquelle und Sender resp. Nachrichtenziel und Empfänger partiell synonym verwendet werden. Implikationsreich entstehen Äquivalenzen, die im strengeren Teil strikt different thematisch werden. Wenn nun die konzipierte kommunikative Syntax und Semantik im ersten Schritt tech-

26 Vgl. spätere Überlegungen Wieners, der bekanntlich Sprache als Differenzierungskriterium zwischen Mensch und Tier ansetzt: Wiener 1950a: 14, 78f, passim. Vgl. zu neuen Möglichkeiten räumlich weitreichender Befehle, bis hin zu Überlegungen zu einem Weltstaat: ebd.: 93f, 95ff. Vgl. Überlegungen Blumenbergs zur imperativischen christlichen Tradition gegenüber der antiken, griechischen (demiurgischen) Kosmogonie: »Der Herr befiehlt, und es geschieht. Er muß sagen, was geschehen soll, aber nicht, wie es zu geschehen hat. [...] Dem gebietenden Geist entspricht, daß der Schöpfer hinterdrein nachsieht, ob der Befehl befolgt wurde und wie gut alles geworden ist.« (Blumenberg 1981: 22/23) 27 Neben dem logischen Empirismus wird bei Janich Shannon/Weavers Theorie (Janich 1999: 46f) als Teil eines »Degenerationsprozeß« (ebd.: 48) verstanden. Sie wird amalgamiert mit Morris’ Semiotik als vermeintlichem Vorläufer und ausgedeutet ausgehend von syntaxbezogenen Elementen (ebd.: 44ff, 71ff, 79f). Es entsteht eine Kritik gegenüber (1) einem monologischen Sprachverständnis (ebd.: 64), (2) einem ›schwebenden‹ Beobachterstandpunkt und, ausgehend von Janichs subjektzentrierter Perspektive (ebd.: 67, 86), (3) gegenüber Bezeichnungen als Zeichen und Signal, »wo in Wahrheit naturwissenschaftlich-technische, kausal definierte Wirkungsausbreitungen vorliegen.« (ebd.: 82, 84)

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nisch auf eine eindeutige Übertragung und die kommunikative Semantik und Pragmatik tendenziell auf einen identisch zu haltenden Kommandoton und seine einseitig beeinflussenden Effekte beschränkt werden, gilt zwar der syntaktisch-technische Bereich der Ebene A noch nicht als streng determinierend. Aber er wird insb. technisch als grundsätzlichere Ebene verstanden gegenüber den beiden anderen.28 Ein wenig dunkel, offenbar mit verschwommenen Rändern umfaßt dann Ebene A Semantik und Pragmatik: Sie ist »zumindest in einem bedeutsamen Grad auch eine Theorie der Ebenen B und C.« (Shannon/Weaver 1949: 14/15).29 Wenn man Weavers Aussage ernst nimmt, daß Ebene B und C den »philosophischen Gehalt der Kommunikationstheorie einschließen« (ebd.), könnte man die These aufstellen, daß zwar jeweilige Semantik, technisch betrachtet, prinzipiell unbestimmt erscheinen mag in dem Maß, in dem hier kommunikative Syntax technisch verhandelt wird zugunsten einer statistisch optimierten, identischen Übertragung und ihrem spezifischen Erfolg. Sie wird dabei aber zugleich eingeschränkt auf prinzipiell überhaupt instruktionsfähige, eindeutige Sachverhalte. Die Semantik erfährt hier also nicht nur, wie von Shan-non/Weaver konkretisiert, ausgehend von der zu ›übertragenden‹ syntaktischen Ebene konkrete Einschränkungen. Es ist wohl auch ein bestimmter pragmatischer Ton, der eine nicht notwendige Ausrichtung und Einklammerung der Möglichkeiten des semantischen Aspekts forciert – und zwar nicht allein hinsichtlich seiner möglichst eindeutig, identisch und einseitig zu haltenden Bedeutung. Durch diesen Akzent auf Syntax-Fragen bleiben jene Ebenen B und C im weiteren Textverlauf fast vollständig ausgeblendet. Die neue Kommunikationsform wird damit konnotiert als technisch übertragbar, in ihrer Identität kontrollierbar, als eindeutig verständlich und zugleich als einseitig beeinflussend. Katherine Hayles behandelt eine solche ›Definition‹ nachvollziehbar als essentialistisch durchsetzt. Sie erkennt in ihr, das wird später noch genauer zu sehen sein, politische Tendenzen einer Betonung von Stabilität, von Homöostase vorgezeichnet (Hayles 1999: 56).

28 Weaver schlägt eine Ausweitung des Konzepts vor bei technischen Problemen im Umgang mit Semantik. In das Ensemble des Kommunikationssystem soll zusätzlich ein weiterer semantischer Dekoder-»Block« zwischen Empfänger und Ziel integriert werden, dieser »semantische Empfänger«, soll »die statistischsemantischen Eigenschaften« der Nachricht »den statistisch semantischen Fähigkeiten der Gesamtheit der Empfänger anpassen«. Empfänger werden angesprochen als etwas, das »man beeinflussen will« (Shannon/Weaver 1948: 37). 29 Der technisch-syntaktische Standpunkt impliziert wahrscheinlichkeitstheoretische Einschänkungen der Semantik, zwar soll »ein Kommunikationssystem jede Nachricht verarbeiten können [...], die die Quelle erzeugen kann. Wenn es nicht möglich [...] ist, ein System zu entwerfen, das alles perfekt verarbeiten kann, dann sollte das System so entworfen werden, da es alle die Arbeiten erledigen kann, die am wahrscheinlichsten anfallen, und man sollte sich damit abfinden, da es nicht effizient genug für seltenere Aufgaben ist.« (Shannon/Weaver 1949: 24)

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1.4 Kommunikationstheorie: Einsatzbereich »Eine technische Kommunikationstheorie ist so wie eine gute und diskrete Postangestellte, die Ihre Telegramme annimmt. Sie achtet nicht auf die Bedeutung, ob sie nun traurig oder fröhlich oder unangenehm ist. Aber sie muß bereit sein, sich um alles zu kümmern, was auf den Schreibtisch kommt« SHANNON/WEAVER

Im Einsatzbereich der Kommunikationstheorie Weaver/Shannons zeigt sich also nicht nur eine universalistische Weite des Konzepts, die vorhergehende Traditionen sprengt: Es soll ein »Beitrag zu jeder möglichen allgemeinen Kommunikationstheorie« (Shannon/Weaver 1949: 36) entstehen. Es macht sich auch Einengung geltend von pragmatischen Kommunikationsebenen. Im ersten Zugriff sollen zwar diejenigen Vorgänge mit dem neuen Konzept umfasst werden können »durch die gedankliche Vorstellungen einander beeinflussen können. (… also) Sprache in Wort und Schrift, Musik, Malerei, Theater und Ballett, alles menschliche Verhalten.« (ebd.: 12). Auf dem Fuß wird das Konzept dann aber auch wieder eingeschränkt auf sprachliche Kommunikation (vgl. ebd.). Neben der Weite des eigentlich angedachten Zugriffsbereichs und der forschungsleitenden Einschänkung auf sprachliche Kommunikation soll als Ergebnis der Heuristik zuletzt wieder eine Ausweitung stehen können. Und zwar so, daß sie »Vorgänge mit einschließ[t,] durch die eine Maschine (z.B. ein Automat, der ein Flugzeug aufspürt und dessen wahrscheinliche zukünftige Position berechnet) eine andere Maschine beeinflußt (z.B. eine Lenkwaffe, die dieses Flugzeug verfolgt)« (ebd.: 12).

Diese Passage frappiert nicht allein wegen ihrer Konzeptualisierung von ›Kommunikation‹ zwischen Maschinen. Gewichtiger ist die konkrete Charakterisierung dieser Maschinen. Man könnte sie in dem Maß übersehen, in dem sich mögliche Kritik z.B. kapriziert allein auf das Faktum eines maschinell ausgeweiteten Kommunikationsbegriffs. Hier leisten Shannon/ Weaver die Charakterisierung eines gewichtigen, ersten konkreten praktischen Einsatzbereichs ihrer Kommunikationstheorie – und zwar rund um den sog. AA-Predictor Norbert Wieners im zweiten Weltkrieg, um 1942. Kurz umrissen wird etwas, aus dem sich diskursive Dynamiken der Theorie in der statistisch vereinheitlichten Form von 1949 herschreiben konnten: Bestimmte Kontexte hatten bereits zu einer Vereinheitlichung diskursiver Konzepte geführt, die dann auf Shannon/Weavers Theorie zuläuft. Kommunikation wird hier zwar begonnen jenseits zwischenmenschlicher

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Kommunikation zu begreifen, sie wird u.a. auf Maschinen ausweitbar. Das geschieht aber bezeichnenderweise gerade durch eine (Rück-)›Übertragung‹ dieser Theorie auf Kontexte rückgekoppelte Systeme, die ›teleologisch‹ der statistischen Vorhersage zukünftiger Feindbewegungen dienten, um Geschoßleitsysteme der Feind-Zerstörung antizipativ auszurichten durch sog. »Voreilrückkopplungen« (Wiener 1952: 144). Leicht verklausuliert werden diese Maschinen ausdrücklich als letztinstanzliches Beispiel und Einsatzfeld der Theorie genannt. Ein bemerkenswerter Hinweis weniger auf visionäre Potentiale und Perspektiven der Informationstheorie. Eher deutet er zurück auf kybernetische Herkünfte. Archive sind deutlich: Shannon/Weavers Kommunikationstheorie hat ihre diskursiv verallgemeinerte, ihre statistische, binär-quantifizierende Form von 1948 annehmen können mittels Konvergenz vormals separater diskursiver Stränge aus der quantifizierenden Populationsgenetik (Ronald Fisher) der Telegraphie (Hartley/Nyquist) – und vermittels problemorientierter Weiterentwicklung im Gefolge des Baus von Zielkontrollapparaten für Luftabwehrgeschosse, die zur Ausschaltung feindlicher Gefahren deren zukünftige Bewegungen vorausberechnen sollten. Der Text rekurriert ausdrücklich nicht nur auf die »allgemeinen Probleme [... von] Wieners Kybernetik (1948)« (Shannon/Weaver 1949: 98). Sondern ebenfalls auf Wieners »elegante Lösung der Probleme der Filterung und Vorhersage von stationären Ensembles« in einem National Defence Research Council-Report, der ihn »beträchtlich beeinflußt« (ebd.: 130) hat.30 Bei diesem Report handelt es sich um den Text Extrapolation, Interpolation and Smoothing of Stationary Time Series, MIT-intern 1943 publiziert. Er ist das inoffizielle Gründungsdokument des Vorläufers der kybernetischen Macy-Group, der sog. Teleological Society, floß in Behavior, Purpose and Teleology ein. Auch davon wird im nächsten Kapitel genauer die Rede sein.31 Beide Texte können als zentrale Diskurssedimente der Praxis von Mathematikern gelten, die – von Vannevar Bush neben dem Manhattan-Projekt koordiniert – nicht nur Bombardierungs- und Raketenexaktheit, Druckwellentheorie und neuartige Steuerungs- und Kontrollsysteme weiterentwickelten. Sondern auch eine unter dem Namen Wiener und Bigelow entstandene statistische Vorhersagetheorie – forecasting of the future – zur antizipativen Kontrolle und Ausschaltung von ›Feinden‹ (vgl. Wiener 1948: 11f; Wiener

30 Vgl. die spätere Würdigung Wieners gegenüber Shannon: Wiener 1968: 94. 31 Vgl. zur Macy-Foundation: Heims 1991:165. Der deutlichste archivarische Hinweis zum praktischen Kontext – »initial effort« zur Entwicklung der Kybernetik im Umfeld von »unpublished but now declassified documents of the U.S. Department of Defense« (Masani 1985: 141) – findet sich in den gesammelten Werken Wieners, in einem umfänglichen Kommentar: Masani 1985. Vgl. Wiener 1948: 10ff; Wiener 1968: 37ff, 39, 63/64; 87; vgl. zur Verortung Wiener 1952: 67; vgl. zu den Theoremen Wiener 1968: 86-124, insb. 96/97. Vgl. zur Aufnahme: Kittler 2000: 332f; Kittler 2005, insb. 68f.

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1950; Flechtner 1966: 8f; Hayles 1999: 98; Kay 2000: 117f; Galison 2001). Wiener konkretisiert dieses Projekt 1948 rückblickend – einen »fire-control apparatus. [...] I found myself engaged in a war project, in which Mr. Julian Bigelow and myself were partners in the investigation of the theory of predictions and of the construction of apparatus to embody these theories« (Wiener 1948: 13).

Das Problem war die Entwicklung von Methoden zur Vorhersage zukünftiger Positionen feindlicher Flugzeuge, to »find some method of prediciting the future position«. Es war dem Ziel untergeordnet, Feinde möglichst erfolgversprechend auszuschalten, indem ein Geschoß in eine vorausberechnete Position ihres zukünftigen Bewegungsraums geschossen wird – to »shoot the missile, not at the target, but in such a way that missile and target may come together in space at some time in the future.« (Wiener 1948: 11).32 Eine statistische Vorhersagetheorie zukünftiger Ereignisse mußte gefunden und einsetzbar gemacht werden als integraler Bestandteil eines neuen, vormalige menschliche Funktionen usurpierenden Systems, eines »mechanico-electrical system which was designed to usurp a specifically human function – [...] the execution of a complicated pattern of computation [...] the forecasting of the future.« (Wiener 1948: 13). Eine begrenzte Zukunftsvorhersage mit dem Ziel weitestmöglicher Reduktion kontingenter Ereignisse sollte möglich werden mittels Abtastung bisherigen ›feindlichen‹ Verhaltens, um extrapolativ annähernde Überblicke auszuschaltender zukünftiger Möglichkeits- und Wahrscheinlichkeitsräume zu gewinnen (Wiener 1952: 122, 123). Es ist dieses Charakteristikum des entstehenden ›Apparatus‹, das ihn Wiener erst zu einem der neuen, »lernende[n] Automaten« (ebd.: 164) adelt. Darauf hat jüngst auch Andrew Pickering aufmerksam gemacht. Das neue, ›menschliche Funktionen usurpierende‹ System »lived in real time, but always looking backwards to extract a trend that it could project in the future, and, in extracting that trend, chance (chaos, noise, fluctuation) was the enemy, a confusing disturbance that one had to struggle to counteract, mathematically and technologically.« (Pickering 1998: 5).

Wiener charakterisiert die Maschine: Sie soll »nicht nur aus ihren eigenen Fehlern, sondern auch aus ihres Gegners Erfolgen« (Wiener 1952: 208) lernen können. Dazu ist einiges zu sagen. Auch diese Herkunft der statistischen Vorhersagetheorie liegt also Warren Weavers klarer »Formulierung der Kommunikationstheorie als ein statistisches Problem [...] über Operationen an Zeitfolgen [und …] linearen Vorhersagen« (Shannon/Weaver 1949: 98)33 von 1948 zugrunde. Sie erst

32 Vgl., instruktiv: Wiener 1952: 24, 67f. 33 Vgl., Zeitfolgenkontext: Wiener 1948: 16f.

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eröffnet ihr Problem- und Gegenstandsfeld. In Folge können Konkretionen und Verallgemeinerungen der statistischen Kommunikationstheorie Shannon/ Weavers einen zukunftsweisenden Informations- und Kommunikationsbegriff prägen. Zeitgenössisch alternative Informationsbegriffe – von Carnap/Bar-Hillel (Diskussion auf der 10. kybernetischen Konferenz) oder derjenige MacKays (Diskussion auf der 7./8. Konferenz) – werden im Folgenden nicht diskutiert, da ihre historische Wirkung gegenüber der Theorie Shannon/Weavers gering eingeschätzt werden kann. Die neben semantischen auch performative Dimensionen einbeziehende Theorie MacKays wird bei Katherine Hayles umfassender behandelt.34

1.5 Information statistisch: Thermodynamisches Fundament »6. Wort-Näherung zweiter Ordnung. Die Wort-Übergangswahrscheinlichkeiten sind korrekt, jedoch ist keine weitere Strukturierung inbegriffen: THE HEAD AND IN FRONTAL ATTACK ON AN ENGLISH WRITER THAT THE CHARACTER OF THIS POINT IS THEREFORE ANOTHER METHOD FOR THE LETTERS THAT THE TIME OF WHO EVER TOLD THE PROBLEM FOR AN UNEXPECTED« SHANNON/WEAVER

Als ausdrückliche konzeptionelle Grundeinheit wird Information eindeutiger eingeführt in einem genauer auf ›technische‹ sprachliche Kontexte eingeschränkten, explikativen Feld der Kommunikationstheorie Shannon/

34 Vgl. das Verhältnis der Semantik berücksichtigenden Informationstheorie BarHillels resp. MacKay zu derjenigen Shannon/Weavers als neuem »industry standard« (Hayles 1999: 19): Dupuy 1994: 121f. Eine Relevanz der Theorien MacKays bis in die Gegenwart, ihre kurzfristige Dominanz in Großbritannien unterstreicht Hayles insb. hinsichtlich semantischen Problemen, die aus Sicht Shannon/Weavers Informationswerte veränden, da vom jeweiligen Kontext gerade nicht abstrahiert wird und sich somit Komplexität erhöht: Hayles 1999: 53. Das MacKay-Modell ist dreiwertig: Reflexivität, Information, Bedeutung. Es betont eine Information und Bedeutung mediierende Subjektivität, trifft gegenüber Shannon/Weaver aber keine quasi-essentielle Aussage darüber, was eine Information ist, sondern eher darüber, was sie tut. Kontextsensitiv jenseits ›Befehlen‹ werden weitere performative Dimensionen umfaßt (ebd.: 56). Zum subversiven Anschluß an MacKay: Hayles 2005: 34f, als Alternative: Hayles 1999: 18f, 54ff.

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Weavers von 1948.35 Hier im Besonderen gilt sie eindeutig als nicht semantisch bestimmt: Information darf in diesem Feld »nicht mit seiner gewöhnlichen Verwendung [...] nicht mit Bedeutung verwechselt werden« (Shannon/Weaver 1948: 18). Information wird hier ausdrücklich vorgestellt als Modalkategorie. Sie bezieht sich nicht in erster Linie auf das, was konkret gesagt wird, sondern »auf das, was gesagt werden könnte« (ebd.). Ihr Gegenstandsbereich ist z.B. nicht »eine einzelne Nachricht«, sondern eine »Situation als Ganzes« (ebd.), genauer: »statistische Eigenschaften einer Gesamtheit von Nachrichten« (ebd.: 38).36 Das ausdrücklich werdende Informationskonzept und seine Axiome können nicht nur gelten als Instrumente und Techniken ›neutraler‹ Situationsdeskription. Sondern grundlegender auch als spezifisch ausgerichtete, fundamentale Entfaltung einer technologischen Programmatik. Sie umfaßt die (Re-)Konstruktion von Bedingungsgefügen vorhersehbarer und kontrollierbarer kommunikativer Formen und ihren Möglichkeitshorizonten. Der Informationsbegriff wird hierbei konzeptuell erstmals grundsätzlich binär fundiert. Das ist ersichtlich an Weavers Konkretion des Begriffs einer Informationsmenge anhand dem jeweiligen Logarithmus, der Umkehrung einer Potenzierung, nicht zur Basis 10, sondern zur Basis 2 – und nur zur Basis 2. Dieses Konzept der Informationsmenge ist also bereits in seiner wiederkehrenden Basis beschränkt auf eine jeweils eindeutige Ja/Nein Entscheidung. Diese binäre Basis gilt als unverzichtbare Grundlage für das allgemeine informationstheoretische Konzept, Information als Maß für Freiheit zu beschreiben. Das ist keineswegs als neu hinzukommendes Maß an Freiheit zu verstehen. Information als Maß für Freiheit ist ein eindeutig mathematisches Maß. Es ist eine Maßeinheit zur spezifisch gerahmten Bestimmung von Freiheitsspielräumen. Es bezeichnet die Zahl wählbarer Optionen – z.B. bei einer personalen, intentional »beabsichtigten« (ebd.: 17) Auswahl einer Botschaft oder eines Zeichens. Dieses Maß wird mittels eines weiteren Begriffs, der neu geschaffenen Grund- und Zähleinheit »ein ›bit‹ genannt; wobei dieses Wort, das zuerst von John W. Tukey vorgeschlagen wurde, eine Abkürzung für ›binary digit‹ ist. Zur Darstellung von Zahlen im Binärsystem benötigt man nur zwei Ziffern, nämlich 0 und 1 [… sie] können symbolisch benutzt werden, je eine von zwei Wahlen darzustellen […] so daß das ›binary digit‹

35 Vgl., diskursanalytisch: Kay 2001: 504f sowie, traditioneller, Janichs Arbeit zu »Information als Legende« (Janich 1999: 109). Janich betont Information als heute quasi-religiöser »Naturgegenstand« (ebd.: 11, 13), der »Wallfahrtsorte« und »Heilige« (ebd.) umfaßt. Er hebt insb. auf den Sachverhalt ab, wie ›Information‹ programmatisch »exklusiv und primär als Gegenstand der Naturwissenschaften reklamiert wird« (ebd.: 13), betont ein spezifisches »Diktat der Metaphern« (ebd.: 51), das er bis zur Kybernetik rückverfolgt. 36 Im Kontext kontinuierlicher Informationen spricht Shannon aktivischer von »Operationen an Ensembles von Funktionen« (Shannon/Weaver 1948: 99).

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oder ›bit‹ direkt verbunden ist mit der Situation der Binärwahl, die genau eine Informationseinheit darstellt.« (Shannon/Weaver 1949: 19)

Im Zentrum dieser Informationstheorie steht also eine eindeutig bestimmte Einheit, eine »Standard- oder Einheitsgröße« (ebd.: 18) – das Bit. Sie repräsentiert die Einheit einer Unterscheidung: Eine grundsätzlich binär entwickelte Entscheidungs- oder Möglichkeitsmatrix kann sich anschließen an die Basis jeder informationstheoretisch (re-)konstruierten, vollzogenen und/oder grundierten Operation.37 In jeder diskursiven Praxis, die auf fremde, binär verstandene ›Information‹ zurückgreift, wird diese Einheit angesetzt.38 Das konkrete Maß, die jeweilige sog. Informationsmenge, ergibt sich anhand eines Nachvollzugs jeweils (re-)konstruktiv entfalteter Optionsverästelungen, mittels einer Quantifizierung der binären Basiseinheit 2, durch ihre Potenzierung zur jeweiligen Zahl von Verästelungsoptionen, die baumartig zu entwickeln sind.39 Hat man z.B. 256 Optionen als Möglichkeiten (re)konstruiert, ist die Informationsmenge Log2256, also 28 = 8 bit. Mit dieser quantifizierenden Angabe prinzipiell wählbarer Optionen ist noch nichts über die Wahrscheinlichkeit jeweiliger faktischer Wahlen gesagt. Für Weaver ist daher auch eine »Notwendigkeit« gegeben »die statistische Natur der Gesamtmenge von Nachrichten zu charakterisieren, die eine

37 Vgl. Wiener 1968: 36; Friedrich Kittler ist zwar zuzustimmen, daß hier der Grundstein gelegt wird, um »technikgeschichtliche Grundtatsachen des 20. Jahrhunderts zur Welt« zu bringen (Kittler 2000: 332) und so »das bit das universale Maß für Wahlfreiheit und Information« (ebd.) wird. Jedoch ist weder in Shannons Text selbst ausdrücklich Universalität angeschrieben noch der Proklamation eine Notwendigkeit: Das »Maß der Kommunikation, nach dem sich heute alle Kämpfe um Bandbreiten und Bits per second rechnen« (ebd.) muß nicht notwendig problematisiert werden gewissermaßen als Technikgeschick. 38 Janich spricht hier folgerichtig von einem »nachrichtentechnischen Atom«: Janich 1999: 82. Vgl. Haraway 1985: 257: »Die Welt ist durch Grenzen unterteilt, die eine verschiedene Durchlässigkeit für Information besitzen. Information ist genau dasjenige quantifizierbare Element (Einheit, Grundlage von Einheit), auf dessen Basis universelle Übersetzung und damit unbehinderte [...] Macht (auch bekannt als effektive Kommunikation) möglich ist. Die größte Bedrohung dieser Macht besteht in der Störung der Kommunikation«. Haraway erkennt hier das Scharnier, an dem eine »Übersetzung von Arbeit in Robotik und Textverarbeitung, von Sexualität/Fortpflanzung in Gen- und Reproduktionstechnologien und von Geist in Künstliche Intelligenz und Entscheidungsprozesse« (ebd.: 258) stattfindet und eine Umordnungen der Kategorien Rasse, Sex und Klasse, allesamt jenseits der bisherigen »durch die kapitalistischen Märkte bedingten universelle Übersetzung« (ebd.: 256). 39 Vgl. dagegen das Konzept des Rhizoms: »Rar sind [...] Wissenschaftsdisziplinen, die, anders als Biologie, Informatik und Linguistik (die Automaten oder zentrierte Systeme), nicht über ›Baumschemata‹ verlaufen« (Deleuze 1980: 33).

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gegebene Klasse von Quellen erzeugen kann und wird« (ebd.: 24). Die die Senderinstanz kommunikativ ›beliefernde‹ Nachrichtenquelle soll zugunsten optimaler Codierung und kontrollierter Übertragung der zu übertragenden Nachricht mittels einem statistischen Maß in ›ihrer Wahlfreiheit‹ vorhersehbar werden. Zentral werden wahrscheinliche Wahlen konkreter Nachrichten aus einer jeweiligen Menge möglicher Nachrichten. Die angesprochene Wahlfreiheit muß also in der gewählten Rationalitätsform induktiv überhaupt rekonstruierbar werden können. Der Informationsausdruck H gibt dann – mit negativem Vorzeichen – die Summe der möglichen und wahrscheinlichen Wahlen an einer (implizit personal entwickelten) Nachrichten-›Quell‹-Instanz, ein Maß der »Ungewissheit« (ebd.: 25) gegenüber ihrer faktischen Wahl. Residuen rekonstruierbarer Wahl-Ungewißheiten werden konzeptuell darstellbar und ihrerseits meßbar. Vorausgesetzt, eine reale Kommunikation aktualisiert die jeweils aktual mögliche Kommunikationsform im Rahmen eines (re-)konstruierenden Rasters, dann beginnt aufgrund von bestimmten Faktoren die Wahlfreiheit der Nachrichtenquelle zu sinken und damit auch die ihr gegenüber messbare ›Ungewissheit‹. Das gilt z.B. dann, wenn »man stark zugunsten einer bestimmten Entscheidung beeinflußt wird« (ebd.: 25). Das gilt auch und insb. bei wiederholt aufeinander folgenden Wahlen, z.B. einem Fluß bestimmter, in einer bestimmten Logik aufeinander folgender Buchstaben und Wörter. Denn hier entsteht Weaver zufolge eine hohe Vorbestimmtheit von Wahlen, die kaum mehr ›Wahlfreiheit‹ zuläßt, da die jeweils aktuelle Wahl dann nicht nur als stark von der vorhergehenden eingeschränkt gelten kann, sondern auch durch die »statistische Struktur der Sprache« (ebd.:23) weitestgehend vorbestimmt. Solche stetig begrenzteren Prozesse werden als sog. ›ergodische Prozesse‹ bezeichnet, als ›MarkoffKetten‹ einer hohe »statistischen Homogenität« (ebd.: 57).40 Hier steigt zugleich die sog. ›Redundanz‹, die prinzipielle Überflüssigkeit von Nachrichtenteilen. Denn die Wahl einzelner Elemente wird statistisch stark vorhersehbar. Dieser Teil von Nachrichten ist für die Informationstheorie »unnötig«. Denn »wenn er nicht vorhanden wäre«, wäre »die Nachricht immer noch im wesentlichen vollständig« oder könnte mittels bekannter statistischer Regeln wieder rekonstruiert und »vervollständigt werden« (ebd.: 23). Als Beispiel einer begrenzten Anwendung dessen können die zitierten, teils proto-dadaistischen Wort- und Buchstabenkaskaden des Einstiegszitats gelten. Sie begleiten im Text trockene Formelfelder. Mittels statistischer Hintergrundtheoreme und ruhend auf dem Konzept der theoretischen Informationsbasis und deren binärer Einheit wird Weaver/Shannons Informations-Konzept mit dem zeitgenössischen thermodynamischen Entropie-Konzept amalgamiert.41 In explizitem Rekurs auf Boltz-

40 Vgl. die graphische Darstellung: Shannon/Weaver 1949: 55ff. 41 Information wird als negative Entropie gefaßt im Rückgriff auf Szilard 1929.

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mann (ebd.: 10, 22)42 wird der Begriff ›Information‹ mit dem Konzept von Entropie analogisiert:43 »Die Größe, die in einzigartiger Weise den natürlichen Anforderungen genügt, die man an die ›Information‹ stellt, ist genau jene, die in der Thermodynamik als Entropie bekannt ist« (ebd.: 21/22). Wiener setzt hier implikationsreich umgekehrt ein negatives Vorzeichen: Negentropie.44 Beide Analogisierungen geschehen mittels der wahrscheinlichkeitstheoretischen Konzept-Prämissen zur Wahlfreiheit, die bei jeder

42 Boltzmanns Arbeiten zur statistischen Physik/Mechanik werden lesbar als Kontexte, in denen »Entropie sich auf fehlende Informationen bezieht, und zwar insoweit, als sie die Anzahl von Alternativen betrifft, die für ein physikalisches System noch offen bleiben, nachdem alle makroskopisch beobachtbare, das System betreffende Information aufgezeichnet ist.« (Shannon/Weaver 1948: 9). Hier findet ein Rekurs auf von Neumanns mathematical foundation of quantum physics (1932) statt. Vgl. in Rekurs auf Boltzmann: Wiener 1952: 33. 43 Hingewiesen wurde auf »sensationelle« Strukturähnlichkeiten zwischen Thermodynamik und Informationstheorie im Kontext Ungewißheit, daß zumindest Shannons Rekurs auf Entropie einem strategischen Rat von Neumanns folgte, letztlich einem »wissenschaftlichen Scherz« (ebd.: 58): »niemand weiß, was Entropie wirklich ist, so daß Sie in einer Debatte immer im Vorteil sein werden« (Janich 2006: 59, vgl. insb. ebd.: 57-65). Janichs angemahnte »Verblüffungsresistenz« (ebd.: 60) ist im Kontext sicher nicht unangebracht: Vgl. Hayles 1999: 100ff. Vgl. Pias 2000: 428, der nicht Wieners, sondern Shannon/Weavers Kontext von Entropie und Information umreißt: »Wo die Unordnung zunimmt […] steigt mit ihr die Information eines Systems«. Dagegen Wiener: »Ein Maß für Information ist ein Maß für Ordnung, sein Entgegengesetztes wird ein Maß für Unordnung sein und wird eine negative Zahl sein.« (Wiener 1950a: 30) und, ebd.: 32: »Der Informationsbetrag ist ein Maß des Ordnungsgrades, der besonders bei jenen Schemata zu finden ist, die als Nachricht zeitlich verteilt sind. [...] Das positive Unordnungsmaß ist [...] das was wir [...] Entropie genannt haben.«. Vgl. allgemeiner, bis hin zu Urheberschaftsstreiten gegenüber der Informationstheorie: Kay 2000: 136. Vgl. zum Verhältnis von Entopie/Negentropie und Materialität/Selbstorganisation: Hayles 1999: 102f; allg.: Meyer-Drawe 2000: 229. 44 Brillouin führt 1951 das Konzept negentropischer Information ein. Vgl. Wiener 1948: 18: »Just as the amount of information in a system is a measure of its degree of organization, so the entropy of a system is a measure of its degree of disorganization; and the one is simply the negative of the other.«; vgl. zum Vorzeichen: Wiener 1952: 118. Vgl. zu französischen Kontakten Wieners um 1947, die »thermodynamische Aspekte insoweit [bearbeiten, rb], als sie das allgemeinere Problem der Natur des Lebens selbst berühren« (Wiener 1968; 46): ebd.: 122ff; Wiener 1952: 80/81, 117ff. Dupuy spricht von einem Versuch Wieners, eine Physik der Information und der Geräte zu schaffen, der von Information als physikalischem Konzept in biologischen und sozialen Zusammenhängen ausgeht – ein physikalischer Reduktionismus: Dupuy 1994: 114/115; zu Naturalisierungsbewegungen ausgehend von den Macy-Konferenzen ebd.: 188ff.

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konkreten Quantifizierung jeweiliger Informationsmengen herangezogen werden: Entropie »wird als Funktion der verschiedenen hier vorkommenden Wahrscheinlichkeiten ausgedrückt [… und zugleich] enthält der Ausdruck den Logarithmus der Wahrscheinlichkeiten, so daß die Entropie eine natürliche Verallgemeinerung des logarithmischen Maßes ist« (ebd.). Das Konzept wird genutzt, wenn die »Wahlfreiheit [...] einer bestimmten Nachrichtenquelle berechnet« (ebd.: 23) worden ist, um die Quelle als errechenbare, strukturell-organisierte Größe darstellen zu können. Bei Wiener negativ markiert, weist Shannon/Weavers InformationsGröße über eine Gleichsetzung mit Entropie auf ein jeweiliges Maß von Organisation der sog. Nachrichtenquelle. Sie ist zentral hinsichtlich der Vorhersehbarkeit/Kontrollierbarkeit der ›Quelle‹. So kann man »auch für eine Nachrichtenquelle sagen, […] wie man es von einem thermodynamischen System feststellen würde: Diese Situation ist klar organisiert, sie ist nicht durch ein großes Maß an Zufälligkeit oder Auswahlmöglichkeit charakterisiert – das heißt, die Information (oder die Entropie) ist niedrig.« (ebd.: 22/23).

Das Konzept kapriziert sich also nicht emphatisch auf Elemente kommunikativer (Wahl-)Freiheit, vielmehr umgekehrt auf ihre grundsätzliche Vorhersage und Kontrolle. Das geschieht im gewählten Rahmen an implikationsreich als wahlfrei konzipierten statistischen Residuen. Sie sollen im Idealfall möglichst umfassend dem »Traum eines Demoskopen« (ebd.: 21), der Redundanz ›ergodischer Prozesse‹ nahekommen, wenn eine Situation als »klar organisiert« (ebd.: 22/23) gekennzeichnet werden soll. Wahlfreiheit und »Zufälligkeit« (ebd.) als kommunikative Ereignisse stellen im Kontext also nicht nur Phänomene dar, die deskriptiv in der konkreten Potentialität ihres Erscheinens gerahmt werden sollen. Ihr prinzipiell ereignishaftes Erscheinen im Rahmen der aktualisierten Form wird mittels des konzeptuell gewählten allgemeinen Kategorialrasters und seiner Technologien zugleich immer auch möglichst (vor-)strukturiert, potentielle Abweichung möglichst minimiert. Das ist die Bedingung, um im jeweils konkreten Rahmen überhaupt erst spezifisch codierfähige Nachrichten zu erhalten. Was als »präskriptive Kontext-Vorschrift« (Grammelberger/Schulz: 3) bezeichnet wurde, eine implizite Normierung von Wahlmöglichkeiten der Nachrichtenquelle, geschieht dann, wenn grundsätzliche Rückschlüsse auf die prinzipielle Weite von Wahlen und Wahlwahrscheinlichkeiten notwendig sind. So werden überhaupt erst nachrichtencodierende Kommunikationssysteme entwerfbar, die einem Idealfall nahe kommen sollen, die »jede Nachricht verarbeiten können, die die Quelle erzeugen kann« (ebd.: 23). Implikationen sind offensichtlich. Liegen für das niemals in diesem Sinn ideal funktionierende mediale System »Arbeiten« vor, die gerade nicht »am wahrscheinlichsten anfallen«, kann es evtl. auch »nicht effizient genug für seltenere Aufgaben« (ebd.: 24) funktionieren. Einiges bleibt notgedrungen nicht prozessierbar: Eine »stillschweigende Voraussetzung [... von] Inkorpo-

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rierbarkeit in das tool system« (Grammelberger/Schulz: 3) kommt sprachlos an eine Grenze. Gelingt dennoch eine Inkorporation, fallen im Zuge stereotyp statistisch prozedierender Codierung im Codierungsprozess Besonderheiten der aus der Perspektive des Codes »redundanten« Kommunikationsteile immer wieder aus dem Raster. Eie Prozessierung bestimmter seltener Ereignisse wird schlicht übergangen, wenn sie gar nicht erst in jeweils codierbare Möglichkeitsraster passen, wenn z.B. »Auflösung« zu gering gewählt ist. Durch das Konzept werden Ausnahmen in dem Maß reduziert, in dem konzeptuell der Versuch unternommen wird, jeweils umfassende Gesamtheiten von Möglichkeiten vorhersehbar zu gestalten. Angesichts entstehender Options-Antizipationen wird jede Möglichkeit ihren Platz finden müssen, Platzanweisung: Im »Angesicht der inkorporierten [...] Vielfältigkeit« geschieht eine »konzeptuelle Schließung [...] oder [...] Amputation« (Grammelberger/Schulz: 3). Wie allgemein im kybernetischen Bereich geht es auch bei der informationstheoretischen Kommunikationstheorie zwar darum, nicht einfach nur einen neuen, sondern ganz grundsätzlich einen »Ansatz zu entwickeln, der vor allem Dynamik und Komplexität thematisiert« (Weber 2005 : 246). Dieser Ansatz aber erfolgt in seiner Innovationskraft keineswegs zielfrei, er versucht auf Probleme zu antworten. Beides, einfangende Dynamiken und eingefangene Komplexität, wird versucht fungibel und vorhersehbar zu gestalten – Konzepte sind fundamental »motiviert vom Wunsch, [...] dynamische[s], schwer oder gar nicht vorhersehbare[s] Verhalten [...] unter Kontrolle zu bekommen.« (Ebd). Wiener hat dann auch Erfordernisse an die zeitgenössische Informationstheorie gegenüber ihrer »Vorhersage« (Wiener 1952: 29) mit dem von ihm entwickelten Flakvorhersagegerät verglichen. Ihm zufolge geht es im Angesicht der neuen Kommunikationsformen hier wie dort um eine neue, subtil ausgepegelte Form der Kontrolle, ein Kontrolle, die »weder statisch noch (zu) zentralisiert sein darf, wenn sie mit unerwarteten, dynamischen Entwicklungen umgehen will.« (ebd.) Diese neue Form der Kontrolle setzt auf einen neuen, auch in biopolitischen Kontexten hochinteressanten, integral binären Zug. Er ist nicht zuletzt insofern neu, als sein Auflösungsvermögen nun statistisch weit skaliert werden kann. Wo immer er ›kommunikativ‹ an analoge Pole und ihr Spektrum heranreichen kann, nähern sich die baum- und treppenhaft aufgespannten Inkorporierungsbewegungen seiner Verfolgung in kalkulierender Vorausschau.45

45 Die rückgefütterten und recodiert-durchgearbeiteten ›Automatismen‹ der freien Assoziation, des freien Kommunikationsflußes des Subjekts und ihr vormaliges, pastorales Medium können in Folge ›jenseits des Subjekts‹, jenseits seiner bisherigen Grenzen vervielfacht werden. Nach Blut- und Libido-Strömen beginnen binär anschlußfähige, rekonstruierbare Codes, informationelle Kommunikationströme kontrolliert zu fließen, die u.a. das ZNS befeuern, Erbsubstanzen codieren und das Unbewußte durchziehen. Intentional können Gefälle gebildet werden, neue Fließspiele geleitet, Markierungen, Begrenzungen und Propfungen einge-

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Zu solchen neuen, filigran-ausgewogenen, subtilen kommunikativen Kontrollprozessen auf Modalbasis ist viel zu sagen. Uneindeutigeit, zaudern, radikale Alterität zuletzt ist ein Problem im Kontext: In neuen, informationstheoretisch fundierten, weitmöglich dynamischen Problemlösungen gilt »Rauschen, die Störung der Kommunikation, als verbunden mit Entropie, Verfall und Tod. Zu unberechenbar soll die Welt dann doch nicht sein.« (Weber 2005 : 247)46

1.6 Relationen: Kanal, Spezifik, Rauschen »Wenn der Informationsfluß und das Kommunikationsgeschehen im Netzwerk an Grenzen stößt, so sind es Kapazitätsgrenzen. Die Fremdheit meldet sich einzig als Störfaktor, der den normalen Fluß der Informationen unterbricht. Doch auch Störungen lassen sich als willkommene Stimulanzien in den jeweiligen Code einbauen.« B. WALDENFELS

Abseits bestimmter Rezeptionsperspektiven auf die kybernetische Informationstheorie überraschen personale Hintergrundannahmen des Übertragungsmodells. Neben der spiegelbildlichen Symmetrie der technischen Elemente Sender und Empfänger eröffnet das übertragende Kommunikationssystem an den von ihnen abgehobenen Elementen von Nachrichtenquelle und Nachrichtenziel immer wieder auch personale Subjektpositionen. Die Metaphern von Quelle und Ziel skandieren parallel räumlich und deuten jeweils austauschbare, aber einseitige Richtungen an. Am Ort der Quelle wird

führt, Richtungen und Stärken von Fluchtlinien ausgemessen. Im Ergebnis muß auch aus dieser Vielzahl von Strömen nur wieder der Umriß von Gesichtern entstehen können, voraussehbare Vielfalt zu (verbesserbaren) Einheiten synthetisiert werden können mit Option auf Individualprognose. Wo der schwule Turing noch eine Differenz problematisierte durch ein ›Spiel‹, ob anhand des Textoutputs einer Kommunikation über eine Tastatur ein ›Gender spielender‹ Computer von einem ›faktisch gegenderten‹ Menschen unterscheidbar ist, war es der Humanist Joseph Weizenbaum, der 1966 mit ›Eliza‹ das erste, neuartig zum Geständnis anreizende, ausdrücklich einen Therapeuten ersetzenden Computerprogramm schuf: Fragen des Gender werden nun auch auf der Oberfläche nebensächlich, Binarismen erreichen weitere Abstraktionshöhe, Daten werden von Subjekten lustvoll abgeworfen. Weizenbaums Programm war so erfolgreich, daß Datenlöschung, ›Schweigepflicht‹ nötig wurde. Am Problem laboriert man noch heute – weniger an Anreizungs-Fragen und ihren Bedingungen. 46 Vgl. zu Wieners moralischem Umgang mit Entropie: Hayles 1999: 103.

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zuletzt subjektive Wahlfreiheit betont im Rahmen von Optionsmengen: Daß »man vollkommen frei und unbeeinflußt wählen kann« (ebd.: 24) hat Implikationen. Umgekehrt bleiben die u.a. politischen Hintergründe partieller Vorbestimmtheiten solcher Wahlen ausgeblendet, bis auf Hinweise sprachlicher Determination (Markov-Ketten), die durch Lacans Psychoanalyse implikationsreich aufgegriffenen wurden.47 Grundsätzlich werden nicht fundamental reziproke, besser: reversible, Kommunikationsformen skizziert.48 (Re-)Konstruiert wird im ersten Schritt

47 Vgl. Hintergründe des 1906/1907 vom russischen Mathematiker Markov entwickelten Konzept zu »Folgen von zu einer Kette verknüpfter zufälliger Versuche«: Juskevic/Juskevic 1971:79f. Vgl. zu Lacan: Bitsch 2004, insb. S. 155: »Es war Jacques Lacan, der das Unbewußte Freuds algorithmisiert hat: ein operationales Subjekt, ein im Sein implementierter, aber im Sein weder materialistisch noch metaphysisch nachweisbarer Begehrenscode, ein in diskreten Schritten im Realen prozessierendes Unbewußtes, eine ›zwischen Haut und Fleisch‹ (VII, 77) eingeschriebene Botschaft, die nach den Regeln der Digitalisierung funktioniert. [...] Der Schlüssel zum Code des unbewußten S liegt in den Diskursen und Notationen der Computermathematik und der digitalen Signalverarbeitung, die ein Zentrum des kybernetischen Dispositivs darstellen. Lacan formalisiert das Unbewußte – ohne es jemals auf diese Weise exegetisieren oder auf eine aseptische Binärformel reduzieren zu wollen – gemäß den Prinzipien digitaler Rechenmaschinen. Das unbewußte Subjekt kann als sprechendes wie ein Computer nur symbolische bzw. digitale Werte verarbeiten und übertragen. Die Möglichkeitsbedingung der Verarbeitung diskreter Symbolketten, die Möglichkeitsbedingung des Sprechens ist ein subjektinterner Schalter, die Einschreibung jenes Spalts, Zugs, Bruchs, der als diskret operierendes vom Subjekt nicht getrennt werden kann, der im Moment der Einschreibung das Subjekt als operationalisiertes, als sprechendes emergieren läßt.«. Vgl. dagegen Deleuze: »Die vier progressiven Veränderungen, die wir beobachten konnten: Übergang von der Familie zum Netzwerk, Ersetzung des Vertrags durch den Status, Entdeckung einer genuin psychoanalytischen Ordnung, Bündnis mit der Linguistik, bilden Marksteine jenes ehrgeizigen Bestrebens, an der Kontrolle der Verkettungen von Begehren und Äußerung zu partizipieren, ja, mehr noch im Rahmen dieser Kontrolle eine dominante Stellung zu erobern.« (Deleuze 1980b: 96). 48 Vgl., neben Serres 2000, Marchart 2004: 53ff, die Kritik am kommunikativen »Transmissionsmodell« (Marchart 2004: 55) aus Perspektive der Cultural Studies, hauptsächlich angewandt auf ein »behavioristisches Kommunikationsmodell« nach Art von Stimulus – Organism – Response. Als Alternative wird ein Modell von »Kommunikation als sharing (wechselseitige Teilhabe)« angeboten, wobei »kulturelles Vorbild hierfür [...] nicht der Vertrag, sondern das Ritual oder die Zeremonie der Kommunion« ist (ebd.: 65). Religiösen Konnotationen dieser »Konstruktion von Gemeinschaft in sich wiederholenden kulturellen Riten« (ebd.) sind problematisch. Marcharts Durchgänge durch »die Modelle der Imagined Community (Anderson), der Ideologischen Staatsapparate (Althusser) und

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ein einseitig verlaufender, semantisch eindeutig zu haltender, prinzipiell spiegelbildlich umkehrbarer kommunikativer Fluß von A nach B und zugleich post festum ausgehend von Quell- und Ziel-Entitäten, die jenseits räumlicher Distanz immer bereits vorgängig ›privat‹ existiert haben werden. Einen Rahmen bildet eine pragmatische Ebene einseitiger Beeinflussung. Geduldet wird hierbei auch konzeptuell keine zufällige oder durch ›Fehler‹ verursachte Veränderung von Codes.49 Versteht man unter dem ›Fluß‹ der Information von A nach B umgekehrt eine vorgängige und unhintergehbare kommunikative Relation, dann ist es bei Shannon/Weaver nun wohl genau diese Relation selbst, die Signal-Störungen in der Kommunikation der Rela-

der meaning structures (Hall, Fiske) sowie der active audience (Morley et al)« (ebd.: 67) sind bereichernd hinsichtlich Überlegungen zum Stellenwert des Subjekts in Medien-Kontexten (vgl. hierzu ebd.: 38ff). Vgl. auch die mittels Reversibilität reformulierte Kommunikationstheorie Shannon/Weavers in Nähe Habermas’: Janich 2006: 143. Janichs Kritik besteht u.a. in der These, daß heute mit Definitionsmacht ausgestattete Wissenschaften im Feld eher ihr Selbstverständnis präsentieren, als wirklich Folgerungen aus ihren Ergebnissen zu ziehen (Janich 2006: 143). Mittels einer streckenweise im Vergleich eher traditionellen und zugleich praktischen »kulturalistischen Theorie der Kommunikation« (ebd.: 178) will Janich mancher Naturalisierung bestimmter Informations- und Kommunikationsbegriffe begegnen. Er bietet »methodische Reparaturversuche naturalistischer Mißverständnisse« (Janich 2006: 147) im Kontext an: Mittels Rekonstruktion eines »Störungsvermeidungs- und Störungsbeseitigungswissens« soll die Definition eines »ungestörten Idealfalls« (ebd.: 145) von Kommunikation angestrebt werden. Sie umfaßt lebensweltliche (Alltags-)Kommunikation zwischen Subjekten, wird entwickelt ausgehend von ihrer »Einbettung« (ebd.: 165, 171) in eine »Vollzugsperspektive« (ebd.: 152/153f, passim). Innerhalb einer tendenziell instrumentell gedachten communitas ist sie »Mittel [...] Kooperation zu organisieren« (ebd.: 147). Kommunikation wird »programmatisch auf menschliche Sprache begrenzt« (148), als Gelingende spielt sie kollektiv, bei »Beteiligungsund [...] Gemeinschaftshandlungen eine fundamentale Rolle« (ebd.: 151). Der Vollzugs-, Handlungscharakter von Sprache wird gegen deskriptive Kommunikation und ihre performativen Selbstwidersprüche (ebd.: 154) gestellt. Janich betont eine Involviertheit, Teilnahme und -habe der »Praxen« (ebd.: 157) kommunikativer Handlungen, die reversibel sind (ebd.: 155). Diese Reversibilität ist auf Subjektpositionen zugeschnitten, die von einem »Gelingen oder Mißlingen von Aufforderungen« (ebd.: 156) sprechen lassen und damit streckenweise dem Shannon/Weaverschen Verständnis unfreiwillig nahekommen. Janich betont praktisch eine Geltungs- und Zuweisungskomponente von Sprachhandlungen (ebd.: 157), die sie zu ›eigentlicher‹, begrifflich klarer Kommunikation adelt, Maschinen involvierende Kommunikation wird als »nur« (ebd.: 164) »metaphorisch« (ebd.: 161) verständlich. So wichtig Hinweise im Kontext durch Janich sind, es empfiehlt sich als Gegengewicht ausdrücklich die Lektüre: Derrida 1972. 49 Vgl. die Diskussionen auf der siebten Macy-Konferenz: Dupuy 1994: 119.

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ta zu forcieren können scheint und Fragen aufwirft nach der Codierbarkeit der Nachrichten-Entropie des Senders in ein Signal: Neues System der Ordnung/Unordnung. Spezifika des Kanals und seine weitere Eingebundenheit in Relationengeflechte werden zum Problem, auch sie müssen normiert werden.50 Störend sind offenbar weniger externe Einflüsse auf kommunizierende Relata, die als Relata selbst der Relation vorausgehend gedacht werden, um dann erst einen bereits bestehenden Abstand kommunikativ zu überbrücken.51 Störend sind Charakteristika des ›Kanals‹, die ihn gegenüber der herzustellenden, geordneten Kommunikation davon abhalten, ein »störungsfreier Kanal« (ebd.: 27) zu sein – Charakteristika, die seine »Signalfreiheit beschränken« (ebd.): Ordnung der Freiheit. Nicht nur sind Übertragungs- und Codierungsprozesse strikt auszuschließen, die die Kanalkapazität überschreiten, also die zu einem gewählten Augenblick maximal übertragbare Informationsmenge, z.B. durch eine schnellere Anlieferung von Information, als der Kanal in einer bestimmten Zeitspanne maximal übertragen kann: denial of service. Vielmehr berechnet sich die maximale Kapazität des Kanals selbst überhaupt erst dadurch, daß seine materiellen Charakteristika nur thematisch werden hinsichtlich der Nutzungsgrenze für geordnet zu übertragende Information. Als Relation ist er wohl jenseits dieser Nutzbarkeit schlicht ein Störfaktor. Ihre spezifischen Charakteristika sowie Materialität52 sind auszublenden als zu minimierendes Rauschen. Hayles erkennt hier einen »conservative bias« (Hayles 1999: 63) der Theorie.53 Diese Kommunikationstheorie hat Wurzeln auch in »Geheimsprache«. die nun gilt als »eine Form der Codierung«: Für sie »liefert [...] diese Theorie [...] ihre Grundlage« (ebd.: 36). Prinzipielle Fremdheiten innerhalb kommunikativer Relationen werden kalkulativ auf eine identisch zu übertra-

50 Akzentuiert man die kommunikative Relation gegenüber den Relata, z.B. im alltäglichen, selbstverständlichen »Reden und Handeln«, das in eine »Schicht des Namenlosen, des Anonymen hineinreicht«, dann liegt hier der Versuch einer Umkehrung dessen vor, was Waldenfels treffend beschreibt gewissermaßen als Kreativitätsbremse im Bereich gelingender Responsivität: »Je codierter ein Verhalten ist, um so genauer läßt sich der Prozeß auf Sender und Empfänger aufteilen, je erfinderischer er ist, desto weniger ist das möglich« (Waldenfels 1987: 132). Läßt das Modell Shannon/Weavers zu, die eigene theoretische Grundlagenklammer selbst als reversibel und alterierbar zu verstehen oder neigt es in der seiner Ordnungsherstellung stärker schlicht zu Reproduktion (vgl. hierzu auch den Neuheitszwang von ›Mode‹ (ebd.: 160/161) einerseits, ›reinem Erfinden‹ andererseits (ebd.: 169f) sowie Gegenordnungen (ebd.: 187f))? 51 Vgl. Merleau-Ponty 1969: 64: »Das erste Wort hat sich nicht in einem kommunikationsfreien Raum niedergelassen, denn es ging hervor aus Verhaltensweisen, die schon gemeinsam waren, und es schlug Wurzeln in einer sinnlichen Welt, die schon keine Privatwelt mehr war.« Vgl. zum ›Algorithmischen‹: ebd. 133ff. 52 Vgl. Hayles 1999: 19ff, die Rede vom »lost body« (ebd.: 21). 53 Vgl. zur impliziten Norm auch Hayles 1999: 21f.

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gende Codestruktur und ihre Information reduzierbar.54 Ist die stetige Dominanz digitaler gegenüber analoger Technologien auf deren bessere Kontrollierbarkeit von und partielle Immunisierbarkeit gegen ›Noise‹ zurückzuführen (Aspray 1990: 195)? Stellt eine Aufwertung des Rauschens heute noch eine Subversion dar (Weber 2005: 259)? Also eine kontextuell unübertragbare, analoge ›Noise‹? Answers will not be televised.

1.7 Subvertieren, Information »Nur wenn wir Umwege einschlagen, können wir existieren. [...] Die Umwege sind es [...], die der Kultur die Funktion der Humanisierung des Lebens geben. Die vermeintliche Lebenskunst der kürzesten Wege ist in der Konsequenz ihrer Ausschlüsse Barbarei.« H. BLUMENBERG

Es ist bemerkenswert, wie Shannon/Weavers Konzept erlaubt Kommunikation in Kleinsteinheiten zu atomisieren, intentional kontrollierbaren Dezisionsmatrizen zu unterstellen und zugleich möglichst vorhersehbar zu gestalten. Das neue kybernetische Übertragungskonzept ist zugleich zukünftig wegweisend.55 Weniger als »um die exakte Berechnung« geht es ihm um

54 Vgl. Waldenfels 1997: 51. 55 Der gesamte Kontext ist abseits bio-, kogno- und neurowissenschaftlicher Wirkungen u.a. Bedingung früher Vorformen etwas skurillerer, u.a. von Hans Moravec geprägter Überlegungen, z.B. zum menschlichen ›Up‹- und ›Download‹. Sie schließen an Wieners Phantasien an, nicht nur Informationen, sondern auch Menschen verlustfrei einscannen und anderswo wieder ausgeben zu können, der »Übertragung menschlicher Körper« (Wiener 1952: 101). Unerreicht sind Wieners Vorstellungen der körperlichen Übertragung von Menschen analog zu Informationen – gewissermaßen durch die Telefonleitung. Eine spezielle Relation zwischen Information und Raum wird körperlich expliziert: »die Tatsache, daß wir das Schema eines Menschen nicht von einem Ort zu einem anderen telegraphieren können, liegt wahrscheinlich an technischen Schwierigkeiten und insbesondere an der Schwierigkeit, einen Organismus während solch einer umfassenden Rekonstruktion am Leben zu erhalten. Sie liegt nicht an der Unmöglichkeit der Idee [... es ist] schwer [...] einen viel tiefer greifenden Um- und Wiederaufbau zu finden als den eines Schmetterlings während seiner Puppungsperiode« (Wiener 1952: 100/101). Florian Rötzer zu dieser Vorstellung: »Ließe sich das kognitive System als digitalisierte Information beschreiben, dann wäre die Voraussetzung dafür erfüllt, daß Menschen nicht nur Nachrichten senden und empfangen, sondern daß sie selbst zu einer Nachricht werden, die man codieren, sen-

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Näherungen, eine »probabilistische Einschätzung« (Weber 2005: 273) von Sprachereignissen unter Bedingungen, die ausdrücklich Kontingenz umfassen und zugleich reduzieren. Syntaktisch soll Sprache in eindeutige Einheiten zerlegt und auf einen binären Nenner gebracht werden können, um zugunsten ihrer ›Übertragung‹ im Aufkommen weitestmöglich statistisch vorhersagbar zu werden. Unsicherheit, wiewohl ihre Bedingung, wird in der neuen Kommunikationstheorie versucht reduzierbar zu gestalten. Versucht wird, das Konzept einer technologischen Metasprache möglichst eindeutig zu haltender Übertragung einzuführen, indem gewissermaßen eine »Sprache der Sprache« (Shannon/Weaver 1948: 39) entwickelt wird, die »ihre Aufgabe auf statistische Art lösen« (ebd.: 38) können soll. Nietzsche versucht 1873 fast spiegelverkehrt der Metapher einen zentralen Platz einzuräumen in der Sprachtheorie von Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. Die Metapher, die uneigentliche, übertragene Bedeutung wird erklärt zur vorgängigen Instanz gegenüber dem Begriff als Ausdruck eigentlicher Bedeutung: Nicht nur sind alle Begriffe anfangs Metaphern, die sich verfestigt haben, »nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich« (KSA 1: 880) geworden. Die Metapher verbindet für Nietzsche zugleich Bereiche, die durch prinzipiell unvereinbare Abgründe voneinander getrennt sind, sie soll den prinzipiell unmöglichen Sprung zwischen ihnen ermöglichen: »Jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue« (ebd.: 879). Ihre eigentliche Bedeutung kommt einer prinzipiellen Unmöglichkeit eigentlicher und eindeutiger Bedeutung nah, ihr ist eine Unvereinbarkeit als Unübersetzbarkeit und Unübertragbarkeit zwischen differenten Bereichen eingeschrieben: Bei ihr kommt es »nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten Ausdruck an« (ebd.). Dieser Umkehrung trägt sie Rechnung, spitzt sie zu, indem ihre Bedeutung metaphorisch ist. Selbst Ausdruck einer Unmöglichkeit der prinzipiellen Unvermittelbarkeit eines »individualisierten Urerlebnisses« (ebd.), trägt sie es in einen anderen Bereich und verliert es wieder zugunsten einer unüberwindlichen Differenz. Die Metapher als übertragene Bedeutung und als ›übertragende‹ Methode hat ihr Charakteristikum in einer Nichtübertragbarkeit und ›Unübersetzbarkeit‹ ihrer Bedeutung. Wo Nietzsche Sprache auflöst in ein Metapherngeschehen, Wahrheit zum »Heer von Metaphern« (ebd.: 880) wird, versucht die Informationstheorie differenziel-

den, decodieren und vor allem in einer anderen jedenfalls nicht identischen Hardware implementieren kann. Für das Paradigma der Information ist der Funktionalismus daher ein zentrales Dogma« (Rötzer 1996: 319). Vgl. zum Shannon/ Weaver-Kontext als Grundlage: Pias 2003b, Kay 2001: 110ff; 310ff. Vgl. zu Moravec: Hayles 1999: 283ff; zur spätestens seit Star Trek bekannten kulturelle Ikone des ›Beamens‹: ebd.: 1/2; zu Richard Doyle, der hier davon spricht »to install discursive, material, and social mechanisms for the anticipation of an externalized self«: Hayles 2005: 22; zu Moravecs Vorstellung einer »Transformation des Menschen in eine Geistmaschine«: Meyer-Drawe 2000: 231.

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les Geschehen spezifisch einzuklammern und zu vereindeutigen, in übertragbaren binären Einheiten identifizierend einzufrieren: Ordnung, Sicherheitstechnologie. Der Code, dem eine Übertragung ermöglicht wird, läßt sich als vieles verstehen, kaum aber als Metapher. Wo Strukturen übertragbar gemacht werden, werden mittels statistischer Beschreibung Prozesse dieser Übertragung versucht fixierbar und vorhersehbar zu gestalten. »Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.« (ebd.: 879). Weaver findet knapp 70 Jahre später für übertragene Bedeutung einen neuen Akzent, eine desemantisiert und depragmatisiert eingeklammerte Übertragungstechnologie von Bedeutendem: »Wenn ich zu ihnen spreche, ist mein Gehirn die Nachrichtenquelle und das Ihre das Ziel; meine Stimmbänder sind der Sender und ihre Ohren und die damit verbundenen Gehörnerven sind der Empfänger« (Shannon/Weaver 1948: 17).56 Quelle und Ziel verbindet differenzierend keine Metapher, zwischen ihnen verläuft ein Kanal, auf dem zu identischem Code geronnene Nachrichten sicher verschifft werden sollen. Wo Uneigentliches war oder sein konnte, wird temporär eigentliches sein, auf der Seite von Unvereinbarem kommt stabilisierte Eindeutigkeit zum Stehen. Technische Dynamiken werden nun getragen von einer binären Statik, wo zerbrechlich-statische Phänomene die Oberfläche eines grundsätzlich artistischen Stroms bildeten. Von dort aus betrachtet ist der informationstheoretische Ausdruck Übertragung und sein ›Übertragen der Bedeutung‹ wohl als »Hart- und Starr-Werden einer Metapher« (884) zu verstehen. Der übertragene Code, die ›übergesetzte‹ Nachricht hat nun im Prozess des Übertragens »die starre Regelmäßigkeit eines römischen Columbariums und athmet in der Logik jene Strenge und Kühle aus, die der Mathematik zu eigen ist« (882).57 Ironiefreie Kopisten-Akte des Übertragens erschließen sich unter neuen Regularien informationstheoretischer Klarheit und Distinktheit nun schlicht ingeniösen Ingenieuren, der poetische ›Genius‹ ist ausgetrieben.58 Automatisierbar werdend, weitgehend vorhersehbar und kontrollierbar wird Übertragung von einem neuen Rahmen eingeklammert und getaktet.59 Als neues Element kybernetischer Technologien begin-

56 Vgl. elaborierter, partiell linguistisch, ähnlich strukturiert: Wiener 1952: 81ff. 57 »Der Abstand zwischen dem Wörterbuch der Umgangssprache und dem Verzeichnis der klaren, zur Fixierung und Kombinierung präziser Erkenntnisse sorgfältig zubereiteter Begriffe beginnt fühlbar zu werden.// Schon liegt Dämmerung über dem Unbestimmten, schon tagt das Reich des Unmenschlichen, das hervorgehen wird aus der Klarheit, der Strenge und der Reinheit in den menschlichen Bezügen.« (Valery 1941: 40). 58 Vgl. zur (technischen) Kontextualisierung von lat. ingenium: Mayr 1986: 151. 59 Deleuze spricht, leicht verschoben, von einer Formalisierung: »wenn Informatik und Linguistik so umstandslos eine unterdrückerische Rolle spielen, so deshalb,

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nen neu kontrollierbare Bedingungen auch des Aussagens zu entstehen. Sie beginnt immer weiter auszuholen. Der ›poetische‹ Aspekt des neuen Kommunikationsbegriffs stellt mittels neuen, binär quantifizierbaren Container- und Codeformen neue, ›dynamische‹ Objekt- und Subjektformen in Aussicht. Artistisches darf sich dann auf neuen Oberflächen begrifflicher Klammern bewegen von neuen Metaphern übertragener Bedeutung.60 Neue wissenschaftliche Weisen definieren Grenzen des wirklichen, wahren Einsatz, stellen ihn sicher.

weil sie [...] selbst als Binärmaschine fungieren, weil sie statt einer Wissenschaft linguistischer Einheiten oder abstrakter Informationsinhalte Formalisierungen von Befehlen und Parolen darstellen.« (Deleuze 1980a: 30). Das situiert er historisch an einen Zeitpunkt, als die »Informatik sich als Macht festsetzte und ihr Bild von Denken und Sprache, konform mit der Weitergabe von Befehlen und der Organisation von Redundanzen, verallgemeinerte. Es macht wahrhaftig keinen Sinn, sich zu fragen, ob die Philosophie tot sei, da doch eine Reihe anderer Disziplinen deren Funktion bereits übernehmen.« (ebd.: 21) 60 »Gestus des Einklammerns, der etwas sehen läßt auf Kosten von allem anderen« (Dienst 2006: 35).

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2. ›T ELEOLOGIE ‹: T ECHNOLOGIE Z IELFÜHRUNG

VORAUSEILENDER

»Die Geschoßbahn der Frage: Was ist der Mensch? auf dem Feld der Philosophie vollendet sich in der Antwort, die sie zurückweist, entwaffnet: der Übermensch.« M. FOUCAULT

2.1 Chinesische Enzyklopädien populärer Kybernetik »Sollwertgeber, der den Willen des übergeordneten Auftraggebers in ein für den Regler verständliches Signal (die Führungsgröße) umwandelt. [...] Aufgabe der Regelung ist, eine Größe einer vorgegebenen Größe gleich zu machen, [...] Ausführung eines Befehls. [...] Der Zweck eines Rückkopplungsmechanismus besteht darin, ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Er erfüllt diese Aufgabe auf eine subtile und undramatische Weise: Wenn er sie am besten erfüllt, scheint es, als tue er nichts. Seine sichtbaren Teile sind unscheinbar, und gewöhnlich ist er nur ein Bestandteil einer größeren Maschine.« O. MAYR

Fast könnte ist der Eindruck einer chinesisches Enzyklopädie gerechtfertigt (vgl. Foucault 1966): Blutgaskonzentration und Spaghettikochen, Lernleistung und Raketenflug, Chemorezeptoren und Erziehungssituation, Rakete und Kochtopf. All das findet sich offenbar in nur einer einzigen Schublade, in nur einer Klasse von Objekten. Das jedenfalls könnte der erste Eindruck sein, wenn man sich popularisierte Darstellungen der Kybernetik aus den 1960er/70er-Jahren erstmals anschaut (vgl. Pias 2004). Auf den ersten Blick gibt es offenbar Nichts, das dort nicht potentiell eingeordnet wäre, was die neue Wissenschaft nicht umfassen könnte. Spricht also eine neue Universalwissenschaft? Diese Frage ist ein eher randständiges Thema späterer, ins kybernetische Gebiet einführender Texte William Ross-Ashbys (Ashby 1956), in Deutschland Hans-Joachim Flechtners (Flechtner 1966) oder des späteren Informatikpioniers Karl Steinbuch (Steinbuch 1971). Und auch im philosopischen Bereich wird sie eher am Rand thematisch, z.B. beim Geh-

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len- und Schelsky-Schüler Gotthart Günther, der 1959 eine neue, dialektiknahe Metaphysik auf der Kybernetik aufbaut.61 Der Eindruck einer Universalwissenschaft verdichtet sich stärker in späteren, populären Texten des kybernetischen Diskurses.62 Eher unausdrücklich durchziehen hier Universalitätsansprüche die Textvollzüge. Sie zeigen sich z.B. in einer Vehemenz, mit der auf den ersten Blick offenbar alles und jedes, Dinge und Menschen als Teile kybernetischer, sog. zirkulärrückgekoppelter Systeme dar- und vorgestellt werden. In diesen neuen Zusammenhängen kann offenbar alles mit allem in Verbindung treten, optimal ›reguliert‹ einem ›Ziel‹ folgen. Abstrahiert und artikuliert wird offenbar eine neue Form der Verknüpfung von Dingen. Der Diskurs bewegt sich damit im zeitgenössischen Hauptstrom materialistisch-physikalistischer Technikwissenschaft (Dupuy 1994: 47). Viele der in dieser Zeit vorfindbaren, subsumptiven Darstellungen und Diagramme dienen nicht nur illustrativen Zwe-

61 Günther promovierte 1933 nach einem intensivem Flirt mit dem Nationalsozialismus bei Spranger über Hegel. Vgl. zu Günther und der Kybernetik am Beispiel von Handmaschinen (›Klassisch‹: Vorkybernetik, Arbeit) und Gehirnmaschinen (›Trans-Klassisch‹: Kybernetik, Information): Hörl 2008: 184f. Hörl macht einsichtig, daß für Günther die erste Kybernetik tendenziell im klassischen, ›europäischen‹ Bereich bleibt. Günther konstatiert ungeduldiges Warten, »dass neue Leistungen, die man bisher ausschließlich den mit Leben begabten biologischen Systemen zugeschrieben hat, endlich auch im Bereich des Seelenlosen und Toten hervorgebracht werden« (Hörl 2008: 188). Eine der ›transklassischen Maschine‹ korrespondierende ›zweite Logik‹ wird angeregt. Hörl entdeckt in Günthers Theorie zugleich eine Erneuerung der »konstitutive[n] sokratische[n] Absage an die Poesie« (ebd.: 193). Ob Günthers Vorschlag, die Tranzendentalphilosophie buchstäblich an die Kybernetik zu verkaufen, ironisch zu lesen ist? »Im Ausland sucht man, ohne es zu wissen, nach einer Transzendentallogik, die auf Maschinen anwendbar ist. Die praktische Aufgabe der deutschen Philosophie läge also darin, die überkommene Transzendentallogik so umzugestalten, dass sie zu einer brauchbaren Exportware für kybernetische Bedürfnisse würde. Das gäbe Deutschland die Möglichkeit, sich an jener kybernetischen Patentwelle zu beteiligen, deren industrieller Wert auch bei vorsichtiger Schätzung auf mehr als 100 Milliarden Dollar jährlich zu beziffern wäre. [...] Ergreift die deutsche Wissenschaft diese Gelegenheit in den kommenden zehn Jahren nicht, so wird sie in selbstgewähltem Provinzialismus stagnieren und Deutschland wird industriell auf ein Niveau herabsinken, in dem es einen schwer lastenden Tribut an kybernetischen Lizenzgebühren jährlich an das Ausland zu zahlen hat. Die deutsche Philosophie und mit ihr die deutsche Wissenschaft steht heute an einem Scheideweg. Gott gebe ihr die Kraft zum rechten Entschluß.« (ebd.: 194) 62 Vgl. bereits den verkappten Universalimus Wieners, der 1948 von einem »alle Wissenschaften umfassenden Institut« spricht (Wiener 1948: 28 C).

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cken.63 Subtil bereiten sie zugleich bestimmte Ansprüche kybernetischer Erklärungsmuster mit vor. Wenn mit ihnen die Einordnung eines auf den ersten Blick skurrillen Sammelsuriums verschiedenster Entitäten in das Konzept immer bereits gelingend vollzogen ist, ist Hauptaussage dessen ganz grundsätzlich die Plausibilität dieses Schritts, sein grundsätzliches Funktionieren. Frühe kybernetische Populärdarstellungen sind getragen von einer seltsamen Selbstverständlichkeit des neuen, kybernetischen Verständnisses eines Ganzen, das prinzipiell heterogene Teile umfassen kann. Die zugehörigen theoretischen Gesten stellen die vergleichsweise hochgradige Artifizialität ihrer Setzungen immer bereits als etwas quasi-natürliches vor. Auch damit tritt ein nicht zuletzt in seinem Umfang seltsam alternativlos scheinender, technologisch-formaler Anordnungstyp auf, der das optimale ›Funktionieren des Funktionierenden‹ als seinen Gegenstand vorzustellen verspricht: Texte einer wissenschaftlichen Avantgarde, deren pragmatisch trivialisierten Gesten immer bereits die Zukunft zu gehören scheint. Stellt sie Ihren Anspruch auch auf diese Weise aus, unterstreicht und vollzieht die neue Disziplin Kybernetik zur Zeit der ›kalten‹ Blockkonfrontation zugleich ihren diskursiven Anspruch auf einen Platz im Zentrum der Wissenschaftsdisziplinen (vgl. das Schaubild in: Pias 2004). Allen weiteren Disziplinen kann ein kleinster gemeinsamer Nenner, ein gemeinsames Vokabular angeboten werden, ein neuer, gemeinsamer Boden natur- und geisteswissenschaftlicher Forschung. Dieses zeitlich recht frühe kultivieren einer ›dritten Kultur‹ u.a. in populären medialen Kanälen bleibt nicht folgenlos.64 Befeuert wird es zuletzt durch Antworten einiger zeitgenössischer Philosophen auf den kybernetischen Hegemonie-Anspruch. Stärker als einer Problematisierung und Begrenzung wird unausdrücklich einer Anerkennung zugearbeitet, wenn Kybernetik z.B. als »Metaphysik des Atomzeitalters« (Heidegger) bezeichnet wird. Wenn diese neue Metaphysik Spaghettikochen und Raketenflug, Rakete und Kochtopf dann zumindest in einem Punkt einen kann, geschieht dies mittels deren gemeinsamer abstrakter Einordnung als Elemente spezifisch zusammengesetzter Serien zirkulär-rückgekoppelter, kontrolliert regulierbarer ›Regelkreise‹. Die derart eingeordneten Elemente können jeweils dyna-

63 Vgl. hinsichtlich einer nicht interdisziplinären Vollzugsform des Diskurses auf den frühen Macy-Konferenzen, ihrem Hintergrund einer unification of science: Dupuy 1994: 81. Die Unifizierung bestand, wie durch von Förster berichtet, in einer Problem-, nicht in der Lösungssicht: ebd.: 88. Entgegen popularisierten Auffassungen stand bereits früh der Versuch im Vordergrund einer Subordination zeitgenössischer psychologischer Wissenschaften wie Gestalttheorie, Phänomenologie und Psychoanalyse durch Mathematik und Physik als neuen Leitdisziplinen: ebd.: 85f. Zentral war eine naturwissenschaftliche Logik der Herangehensweise an Probleme, vgl. z.B. Dispute um Thesen Köhlers: ebd.: 106. 64 Snows third culture (1959) wird jüngst kybernetisch rekontextualisiert: »Snow erscheint fast wie ein zu spät gekommener Epigone Wieners« (Hagner 2008: 46).

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misch auf mindestens fünf Positionen verteilt werden: Die chinesische Enzyklopädie wirkt zusehends aufgeräumt, differenziert sich, ein roter Faden entsteht. (Populär-)Kybernetische Regelkreise beginnen dann aus Objekten zu bestehen, die miteinander in Beziehung gesetzt sind, indem jeweils bestimmte vorgegebene Positionen besetzt werden können: (a) die Position eines Ziels, auf das hin das kybernetisch zu regulierende Ensemble ausgerichtet ist (schmackhaft Spaghetti kochen/ zum Mond fliegen). (b) die Position einer Regelstrecke, die den zu regulierenden Prozeß umfaßt (das Kochen der Spaghetti im Kochtopf/ der Flug zum Mond mit Rakete) (c) die Position seines Ist-Werts, die sog. Regelgröße, über einen Fühler erfaßt (aktueller Spaghetti-Zustand/ Raketen-Position/ Zustand auf dem Weg) (d) die Position eines Reglers, der den gemessenen Ist-Wert mit dem angestrebten Soll-Wert vergleicht, um einen Stellwert auszugeben (Koch, der den aktuellen Spaghetti-Zustand mit der Vorstellung ›schmackhaft‹ vergleicht; Houston, den aktuellen Positions- und Zustandswert der Rakete mit einem optimalen Zustand vergleichend) (e) Dieser Stellwert, der als Verkörperung der Differenz von Ist- und Soll-Wert in Funktion eines Stellglied erscheint, leistet die Ausrichtung und Anpassung des Prozesses, eine Annäherung von Ist-Wert an Soll-Wert (noch nötige Würze, Austarieren der Triebwerke auf optimalen Kurs)

Der kybernetische Regelkreis reiht (b) bis (d) hintereinander an, um sie ›zirkulär‹ zu einem Kreisprozess zu schließen. Er erhält seine jeweilige Ausrichtung von der ersten Position (a), die sich tendenziell außerhalb des Kreises befindet. Innerhalb des Kreisprozesses können die elementaren Einzelpositionen aufeinander folgen, werden zielorientiert verknüpft, in regulierte Bewegung gebracht. Ein gewissermaßen von außerhalb des Prozesses, jeweils von ›oberhalb‹ in den Kreis eingeschriebenes Ziel bildet ein formal, aber noch nicht inhaltlich bestimmtes, abwesendes ›Zentrum‹. Es verschafft dem Kreisprozess eine Ausrichtung, eine prinzipielle Ausstülpung in eine zeitliche Dimension. Für die Dauer konkreter Prozesse wird sie positiv repräsentiert durch den Soll-Wert, negativ durch Abweichungs-Werte. Kybernetische, zirkulär-rückgekoppelte Prozesse werden damit populär vorgestellt als jeweils spezifisch angeordnete Ensembles, deren Rahmen eine dynamische Verschaltung von Entitäten gestattet und zugleich in spezifischer Form notwendig macht. In diesen Verschaltungen verlaufen dann spezifisch ausgerichtete, stetig optimaler werdende Regulationprozesse von Prozessen, die aus Einzelelementen zusammengefügten sind. Ohne einen im Detail konkret vorbestimmten Plan werden sie quasi wie von unsichtbarer Hand einem Ziel zugeführt.65

65 Vgl. zum parallelen Entstehen liberaler Ordnungsvorstellungen und rückgekoppelter Maschinen, der Metapher einer unsichtbaren Hand und Rückkopplungskonzepten bei Adam Smith: Mayr 1986: 197ff.

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Auch wenn es im ersten Zugang so erscheinen mag, ist dieses Procedere erst einmal eher nicht mit dem eines Heizungsthermostaten vergleichbar. Denn dort wird ein möglichst dauerhafter Prozess aufrechterhalten, indem Abweichungen jeweils automatisch auf einen voreingestellten Mittelwert zurückregulieren werden: Prozess-Konstanz in gewissen Grenzen. Regulierung stellt dabei eher einen sekundärer Zug eines primär dauerhaften Thermostat-Prozesses dar. Im kybernetischen Modell hingegen geschieht zwar ebenfalls eine automatische Anpassung und Einpegelung aktualer Ist-Werte in Richtung eines Zielwerts. Dieser Prozess ist allerdings in erster Linie erst einmal einem Prinzip untergeordnet seiner regulativen Ausrichtung. Zwar bezieht auch hier die Verschaltung der verteilten Elemente ihre Dynamik gewissermaßen vom ›gefühlten‹ Aktualzustand, der in einem Wissen um ein jeweiliges zukünftiges ›Ziel‹ eingebettet ist. Dieses Ziel ist nun jedoch primär im Sinn des Endes einer Wegstrecke zu verstehen. Der sensorisch gefühlte Aktualzustand ist hier wie dort zwar Bedingung dafür, regulierte Prozesse überhaupt mit dem Ziel zur Deckung zu bringen. Das Ziel bleibt im kybernetischen Kontext bei seiner Erreichung aber nicht mehr integraler Teil eines prinzipiell dauerhaften Prozesses. Der Prozess bezieht hier aus dem Ziel sein Dynamik, aber erschöpft sich auch in ihm. Mehrere solcher Prozesse können Konstanz dann nur insofern gewinnen, als sie seriell hintereinander geschaltet werden. Die sich hierbei jeweils frei auf die sensorische Zielverfolgung einpegelnde Dynamik läßt einen grob-mechanischen, linear abzuarbeitenden, detailliert vorgegebenen Lösungsplan zur ZielErreichung obsolet werden: Emanzipation vom mechanisch abzuschreitenden und ausbuchstabierten Plan, Blaupause eines zumindest prinzipiell in Grenzen ›autonomen‹ Apparats. Sieht man ab vom formalen Rahmen genau dieser Blaupause. Das kybernetische Ensemble will in allen Stadien seiner formal neu gerahmten Passage gut ›gelenkt‹ sein. Denn die Frage nach der jeweiligen konkreten Verschaltung seiner spezifischen Teilelelemente wird sekundär gegenüber der prinzipiellen Orientierung am optimalen Ergebnis. Im populären Modell tritt damit der jeweilige Aktualzustand allein hinsichtlich Abweichungen vom prinzipiellen Kurs auf, zugunsten optimal zielführender Prozesse. Frei vom Ballast zu weitreichender Vorgaben soll das ›Schiff‹ erst einmal schlicht seinen vorgesehenen ›Hafen‹ erreichen. Diese Freiheit soll optimale Ergebnisse selbst dann noch erreichen, wenn unplanbare Ausnahmen detaillierte Pläne durchkreuzen könnten. Der gesamte frei ›selbst‹regulierte Prozess, jeder seiner Aktualzustände wird damit unter dem aus der ›eigenen‹ Zukunft fallenden Schatten immer bereits gestanden haben. Dennoch erscheinen die formalen Matrizen der Verschaltung und Relationierung seiner Elemente in ein zirkuläres Rückkopplungssystem in ihrer anfänglichen Komplexität als unspektakulär, wie umgekehrt ihr Verfahren

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Freiheit von einer totalitär/ autoritär konnotierten Planungs-Kausalität nach Vorbild des ›Uhrwerks‹ nahezulegen verspricht.66 An dem mittels Wahrnehmungs-Sensorik eingespeisten Aktualzustand kommt es also weniger auf Spezifika des jeweiligen (technischen) Implementierungstyps an – die Weite des Gegenstandsfelds spricht Bände. In dem Maß, in dem konkrete technische Zielerreichungs-Procedere sekundär werden können, lädt sich ihre prinzipielle Zielorientierung mit Wert auf. Zentral ist das Einbinden der Elemente in das kybernetisches System und seinem Ziel. Denn die tendenziell gewonnene Freiheit von vorherbestimmten Zielerreichungsprozeduren und eine bestimmte Implementierungsoffenheit ist schlicht motiviert von Fragen der Zielerreichung überhaupt. Sie wird greifbar an der Position des Regler-Elements im Regelkreis, das im Vergleich zwischen gefühltem Ist- und angepeiltem Sollwert beide Werte überhaupt erst kommentierend miteinander vermittelt.67 Diese Vermittlung geschieht über ein Konzept namens ›negatives Feedback‹. Rigide schlägt hier die jeweilige konkrete Abweichung, der Stellwert, direkt auf den zu regulierenden Prozess selbst durch, reguliert ihn in Ausrichtung auf die Zielvorgabe. Keineswegs ist bei diesem teleologischen Konzept kybernetischer Regelkreise also bereits ihr Procedere an sich freier Selbstzweck, was durch Betonung eines zirkulären Konzepts nahegelegt sein könnte. Der kybernetische Regelkreis und sein Signalweg ist gruppiert um eine bestimmbare ›Soll‹Leerstelle, von deren Mitte er beleuchtet und beschattet wird, von der aus er sich einstülpt und ausrichtet auf ein zu erreichendes Außerhalb, sein Ziel. Weniger abstrakt hört sich das im populären Diskurs der Kybernetik ganz ›praktisch‹ an: »Kochen heißt regeln: immer wieder muß der Ist-Wert geprüft, mit dem vorgestellten Soll-Wert verglichen und die richtige Steuerung vorgenommen werden. Ist die Köchin nicht selbst Kapitän, befolgt sie als Regler ein Rezept« (Pias 2004: 23/24). Beim Kochen – und nicht nur dort – kommt es über die ganze Dauer des Prozesses auf das Ergebnis an. Der Prozeß und seine Dauer selbst treten in den Hintergrund, im Vordergrund steht, inwiefern jegliche Episode dem Ziel dienlich ist.68 Wie in den Regelkreis der prinzipiell austauschbaren Elemente des kybernetischen Systems das Ziel jeweils ›hineinkommt‹, ist ebenfalls eine sekundäre Frage. Seine Existenz ist Bedingung des Systems, nicht die intern konkret (vor-) bestimmte Position von Ziel und Zielgabe. Die inhaltlich und positional prinzipiell unbestimmte (Leer-)Stelle eines Soll-Werts, um die die zirkulären Prozesse des kybernetischen Rückkopplungs-Modells letztlich gruppiert sind, kann teilweise das Modell überstrahlen. Die Zirkularität jedes Rückkopplungsprozesses wird von dort aus mit Endlichkeit imprägniert und zu-

66 Vgl. Mayr 1983: 17-166; insb. 127ff, gegen die Uhrmetapher: Wiener 1950a: 22. 67 Vgl. »allgemeine Regelungskunde«: Schmitt 1940: 82f; USA: Wiener 1952: 127. 68 Stefan Rieger spricht implikationsreich von der Übertragung des »Sich-vorwegSeins in ein Kalkül« (Rieger 2003: 35). Das Problem insistiert vor diskursiven Verzweigungen zu Theorien der Selbstorganisation: Ashby 1956: 317f.

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gleich mit anderen additiv verknüpfbar: Ein solcher zielgerichteter, ›zirkulärer‹ Prozess kann verbunden werden mit einem anderen und einem anderen und etc. Spezifisch temporal und topologisch finalisierte, ›zirkuläre‹ Prozesse können seriell angeordnet werden. Zugleich können Modelle der Anordnung von Elementen abseits negativ rückgekoppelter Zielorientierung als defizitär sichtbar und klassifizierbar werden. Ihnen fehlt dann schlicht eine zentrale Position des Modells. Sie weichen ab. Nur am Rand ist es auch diese späte, populärkybernetische Artikulationsform, die als Teil einer »kybernetischen Epistemologie« (Pias) der Nachkriegszeit in fundamentalen Zügen vorbereitet wird durch einen weiteren Strang des kybernetischen Diskurses, der um 1940 erste regulierte Konturen gewinnt. Seine folgende Analyse ist weniger zu verstehen als Kritik einer kybernetischen ›Verzweckungstechnik‹ (›instrumentelle Vernunft‹). Vielmehr werden Fragen relevant nach dem Wie vorbereitender Diskurse, ihren neuen Regularien und Modalhorizonten, ihren neuen Technologien. Versucht wird schlicht eine historisch positive, phänomennahe Rekonstruktion eines kybernetischen Diskursstrangs und dem, was er ermöglichen soll. Wenn zugleich einiges sichtbar werden sollte zum »looseness of reasoning« und »lack of precision of thinking« (Pias 2004: 11) des kybernetischen Diskurses wird die Näherung an das Gebiet dennoch nicht in logischen Untersuchungen von Argumentationsmusters und deren Plausibilität bestehen.69 Es wird schlicht versucht, einen weiteren kybernetischen Diskursstrang in der Positivität bestimmter Stadien seines Entstehens zu skizzieren. Leitfrage bleibt, auf welche Weise der entstehende Diskurs bis weit in die Mitte der 1970er Jahre hinein diskursiv und epistemisch relevant werden konnte nicht nur auf populärem Gebiet, sondern auch in wissenschaftlichen Kontexten und zentralen Zusammenhängen der Technikentwicklung. Wie, wann und wie situiert konnte sich ein bestimmtes, stetig als ›kybernetisch‹ expliziertes Regelkreis- und Regulierungsmodell erstmals zeigen? Der folgende Abschnitt beschränkt sich auf die Rekonstruktion eines weiteren, einzelnen, diesmal teleologischen Vorläuferstrangs des kybernetischen Diskurses. Kybernetik tritt hier idealerweise abermals weniger am Leitfaden von Leitpersönlichkeiten hervor mit Namen wie Norbert Wiener, Arturo Rosenblueth, John von Neumann, Julian Bigelow, Walter Pitts und Warren McCulloch (vgl. zu den Personen Heims 2001). Ein weiteres diskursives Element des Entstehens eines gewichtigen Diskurses wird sichtbar.

69 Vgl., zu Zirkelschlüssen: Kay 2000: 122.

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2.2 Vorausläufer: Macy-Foundation, AA-Predictor »The development of effective communication across the scientific disciplines is perhaps the most urgent need of our era. [...] Until [...] science [...] developed the ultimate weapons of hostility can communicate with [...] science have developed the greatest understanding of the nature and control of hostility – until both these groups of scientists can communicate [...] there will be no hope of applying the principles of science and logic to the problem of social behavior and world peace« F. FREMONT-SMITH, 6. MACY-KONFERENZ »social conflicts are actually symptoms of underlying causes. The insights and methods of psychiatry, psychology and cultural anthropology elucidate the emotional disturbances of the world« WILLARD C. RAPPLEYE, 1955 (PRÄSIDENT J. MACY JR. FOUNDATION)

Historisch wieder einen Schritt zurück. Als einer der Schlüsseltexte zum Gebiet der Kybernetik gilt im Folgenden der Text einer Textserie, der 1942/43 im amerikanischen Journal Philosophy and Science publiziert wurde unter dem Namen des Mathematikers Norbert Wiener, des IBMIngenieurs Julian Bigelow, des Arzts und Neurophysiologen Arturo Rosenblueth (Wiener et al 1943b): Behavior, Purpose and Teleology. Er stellt bereits im Titel zentrale Begriffe vor, die hier diskursiv auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet werden. Der Text hat, wie ansatzweise im letzten Kapitel zu sehen war, prägende Auswirkungen auf den kurz darauf entstehenden, informations- und kommunikationstheoretisch relevanten Text Wieners zu statistisch extra- und interpolierender Vorhersage und Filterung stationärer Zeitserien, zu »Time series [...] of quantitative data assigned to specific moments in time and studied with respect to the statistics of their distribution in time« (Wiener et al 1943a: 1). Während dieser Zeitserientext kurz nach 1943 für die Entwicklung kybernetisch geprägter Gebiete der Informationstheorie von entscheidender Bedeutung sein wird, gilt ähnliches beim Teleologie-Text für grundlegende Aussagenregularien des gesamten Felds dessen, was später Kybernetik genannt wird. Auf den Zeitserientext und auf den ihm vorausgehenden Teleologie-Text trifft zu, was Wiener später beim Zeitserientext bereits in der Einleitung vermerkt: 1943 entstanden, sind beide Texte von »vital importance in the present emergency« (ebd.) – sie ant-

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worten auf einen Notstand. Bei Publikation 1948 wird der erwähnte Notstand nicht mehr als derjenige des zweiten Weltkriegs identifiziert werden können, sondern als einer des kalten Kriegs. Grundsätzlich betrachtet ist der Teleologie-Text historisch angesiedelt noch vor Beginn der zehn kybernetischen Konferenzen, die später eine gewisse Berühmtheit erlangten, den sog. Macy-Konferenzen, die zwischen 1946 und 1953 stattfanden.70 Zwar gelten die Macy-Konferenzen, wie Wieners Text von 1948, Cybernetics or control and communication in the animal and the machine, im Allgemeinen als Geburtsstunde der Kybernetik in den USA. Bereits bestimmte Umstände der Macy-Konferenzen aber machen deutlich, daß ihnen einige Jahre zuvor ein diskurspragmatischer Kontext vorausging, dessen erste Regularien und Ergebnisse später, also retrospektiv betrachtet, unter dem Schlagwort Cybernetics, Kybernetik, dann ebenfalls mit angesprochen wurden. Es gab also unmittelbare Vorläufe. Behavior, Purpose and Teleology, genaugenommen zentrales Element im Aussagengefüge einer umgebenden, diskursiv verbundenen Textserie, stellt 1943 als vermeintlich abgeschlossener Text eine Quintessenz von Überlegungen und Forschungen aus, die insb. zwischen 1940 und 1942 von Wiener und Julian Bigelow71 unternommen wurden – unter der Ägide des späteren Ahnherrns der Informationstheorie, Warren Weaver. Das Textgefüge hat in vielen Gebieten diskursive Ausläufer, die bis hinein in die anfangs »eher medizinisch ausgerichteten« (Pias 2004: 9, Dupuy 1994: 70) Grundlagenbereiche der späteren Konferenzen reichen. Denn bereits 1942 fand eine von der Macy Foundation gesponsorte Konferenz »on cerebelar inhibition« (Dupuy 1994: 70) statt, auf der sich die späteren ›Kybernetiker‹ Arturo Rosenblueth, Warren McCulloch, Frank Fremonth-Smith, Lawrence Frank, Lawrence Kubie, Gregory Bateson und Margaret Mead erstmals begegneten. Die Konferenz stellt den Ort dar, auf dem der fragliche Kontext erstmals öffentlich diskutiert wurde – und Effekte hatte (Kay 2001: 174). Im Anschluß an die Konferenz, in Rekurs auf entstandene erste zentrale begriffliche Axiome und Gelenkstellen plant 1944 der Neurophysiologe und Mitautor Arturo Rosenblueth72 die Gründung einer sog. Teleological Society. Zusätzlich soll ein Forschungszentrum aufgebaut und eine Zeitschrift Teleologia herausgegeben werden (Kay 2000: 121; Heims 1991: 51, Kay 2001: 179). Auch ein research center ist im Gespräch (ebd.; Dupuy

70 Von den Konferenzen existieren für die Zeit zwischen 1949 und 1953 VortragsTranskripte: Pias 2003a. Vgl., zu den ersten drei Jahreskonferenzen der sog. Teleological Society Zusammenfassungen in: McCulloch 1947, McCulloch 1974, literarisch: von Foerster 2002. Zur 1. Macy-Konferenz: Heims 1991: 14ff. 71 Bigelow wird den für die Entwicklung seiner Theorie neben dem EDVAC folgenschweren Rechner JONIAC von Neumanns am Institute of Advanced Study in Princeton als Chefentwickler mitgestalten. Er ist für die Entwicklung der H(ydrogen-)Bombe von zentraler Bedeutung: Dupuy 1994: 45. 72 Vgl. Heims 1991: 50f.

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1994: 71). Mit diesen Plänen und kritischer Unterstützung durch die Medical Science Division der Rockefeller-Stiftung73 werden Gelder der sog. Macy-Foundation eingeworben mit dem Anspruch des zukünftigen Einsatzes bestimmter Konzepte insb. in der biologischen Disziplin. Rosenblueth und Wiener können als Veranstalter die ersten fünf Macy-Konferenzen zwischen 1946 und 1949 ausstaffieren.74 Die Konferenzen werden teilweise als »substitute« (Dupuy 1994: 71) angesehen für nicht realisierbare, vorhergehende Ziele, z.B. den teleologischen research center. Der hierfür gewonnene Sponsor, die Josiah Macy jr. Foundation, wurde 1930 gegründet von der Tochter eines Quäkers gleichen Namens. Die Stiftung ist in Verbindung zu Rockefeller Enterprises aus Ölgeschäften entstanden.75 »Health Care« (Heims 1991: 165) ist das erste Anliegen der bis heute existierenden Stiftung, die nun Untersuchungen verschrieben ist von »traumatic shock and war-related psychiatric disorders, geriatrics and aging, arteriosclerosis, genetics and human development, and psychosomatic medicine«.76 Gegenüber »psychobiological and sociological research« arbeitete sie bereits 1946 mit eindeutigem Schwerpunkt auf »biochemical and physiological research«. Auf diesem Hintergrund versucht die Stiftung, einem zeitgenössischen »urgent need for integration of knowledge and practice« (Heims 1991: 165) entgegenzukommen. ›Praxis‹ und ›Wissen‹ sollen in einem Komplex befördert werden. Gelingen soll das durch einen »organismic approach«. Es sollen hierbei »operational concepts« zur Verfügung gestellt werden können, »by which biology is reinterpreting phenomena of the living organism« (ebd.). Gegenüber Finanziers im Hintergrund mit dem ausdrücklichen Ziel einer Forschung an operationalisierbaren, ›praktischen‹ Konzepten ›organismischer‹ Herangehensweisen, um Phänomene lebendiger Organismen reinterpretieren zu können, entsteht zugleich ein neues »movement [...] that sought to assure world peace and universal mental health by means of a bizarre cocktail concoded from psychoanalysis, cultural anthropology, advanced physics, and the new thinking associated with the Cybernetics Group« (Dupuy 1994: 22).

Auf dem Hintergrund der Macy-Stiftung entsteht zur Zeit des zweiten Weltkriegs eine Bewegung, die eine bestimmte, stetig entstehende »Group of experts« umfaßt. U.a. hatte man sich auf die Fahne geschrieben »to make global mental health into a new technocratic ideology« (Heims 1991: 163). Unter Schirmherschafft der Stiftung und ausdrücklich in ihrem Geist werden die ersten fünf noch nicht ausdrücklich ›kybernetisch‹ bezeichneten Konfe-

73 Dort, wo Homöostase durch negatives Feedback bestimmt wird: Kay 2000: 123. 74 Die Macy-Konferenzen gehen auch auf eine 1942 von Rosenblueth vorgetragene Frühform des Textes zurück, deren Wirkung auf McCulloch: Dupuy 1994: 70. 75 Vgl. Heims 1991: 164ff. 76 Vgl. http://www.asc-cybernetics.org/foundations/history/MacySummary.htm

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renzen abgehalten.77 Was entsteht, wird von Teilnehmern bezeichnet als nichts geringeres als »a new conceptual frame of references for scientific investigation in the life sciences« (Dupuy 1994: 72).78 Im Umfeld entsteht 1948 u.a. die World Federation of Mental Health (WFMH). Sie wird die World Health Organisation (WHO) z.B. dabei unterstützen, nach den Ereignissen des zweiten Weltkeigs der psychiatrischen Disziplin neue Legitimität zu verschaffen.79 Wieners Cybernetics-Monographie markiert 1948 den Zeitpunkt einer ersten Uniformierung des kybernetischen Diskurses. Erst nach Erscheinen beginnen die dann nur noch einjährig stattfindenden Macy-Konferenzen nicht mehr unter teleological mechanisms (›... in society‹, ›... and circular causal systems‹) geführt zu werden (McCulloch 1947: 335). Dann erst werden sie in Anlehnung an Wieners Haupttext unter dem Namen Cybernetics geführt. Angeregt wird das unter dem Namen Heinz von Förster. Er war erst um 1949 über McCulloch zum Kontext hinzugestoßen. nachdem er im physikalischen Grundlagenbereich der NS-Rüstungsforschung gearbeitet hatte (von Foerster 2002: 47, Hayles 1999: 132f, Müller 2000: 11f.). In Folge wird Cybernetics als Titel beibehalten – selbst nach Wieners Verwerfungen mit der Gruppe und nach seinem Ausscheiden um 1952. Die 1948 eingeführte Zusatzbezeichnung ›circular causal, and feedback mechanisms in biological and social systems‹ weist also, nach einmaliger Erwähnung auf der ersten Konferenz, erst ab der vierten Konferenz ausdrücklicher über den Teleologieakzent der Anfangs-Benennung hinaus. Dann erst wird er getilgt.80 Im unmittelbaren Vorlauf des Entstehens des kybernetischen Gebiets ist also u.a. die Relevanz eines bestimmten Teleologie-Begriffs bemerkenswert.81 Dupuy, Heims und Masani, weise ausdrücklich auf die Tragweite

77 Vgl. Teilnehmerliste: Dupuy 1994: 175 FN34. Nach Disziplinen: ebd.: 77. In Folge der späteren, kybernetischen Konferenzen wird die Macy Foundation auch Untersuchungen unterstützen zu »basic reproductive biology, human reproduction, and family planning«, nicht zuletzt um deren »incorporation into the biological, behavioral, and social science bases« bestimmter Gebiete voranzutreiben. 78 Wichtig auch Text-Diskussionen beim Hixon-Symposium 1948, vor Disziplinkoryphäen aus Neurophysiologie, Psychologie und Embryologie: Dupuy 1994: 73. 79 Vgl. Heims 1991: 170, Ramchandani 1998. Ausgehend von der Genese der WFMH, gelten jüngst Theorien u.a. Batesons politisch als »neue gesellschaftliche Cheferzieher der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« (Tiqqun 2001: 32/33). 80 Vgl. Dupuy 1994: 8/9; Heims 1991: 49; Kay 2000, 2001, 2003; Pias 2004c: 399/400; zur Teleologie-Relevanz: Janich 1999: 49f, 51ff; Rieger 2003: 249. 81 Rekonstruktionen gründen u.a. im Versuch, Thesen zur Entwicklung der »first cybernetics« (Dupuy 1994: 11, passim) zu differenzieren wie »Cybernetics [...] was made possible by advanced and parallel developments in neurophysiology and psychology, in mathematics and in electrical engineering, and by the growing need for cooperation among these and other sciences« (Deutsch 1963: 84).

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von Behavior, Purpose and Teleology und Kontexten hin.82 Der Herausgeber von Wieners Werkausgabe stellt ihn als ersten Kulminationspunkt eines »initial effort« desjenigen Gebiets heraus, das 1948 cybernetics benannt wird. Aus ihm und weiteren, vorhergehenden Texten, einer Serie von heute teilweise »declassified documents of the U.S. Department of Defense« (Masani 1985: 141) »emerges« – neudeutsch: emergiert – ihm nicht nur fünf Jahre später der »cybernetical point of view«. Im Kontext wird ihm auch damit begonnen, das bisher bekannt »face of engineering« nachhaltig zu verändern (ebd.). Ein Paradigmenwechsel bahnt sich in Kontexten an, in denen zugleich das Entstehen erster »universeller« Computer voranschreitet. Der zwischen 1940 bis 1943 entstandene, proto-kybernetische DiskursKontext wurde bezeichnet als eine der wichtigsten »Nilquellen« (Holl 2004: 97) der Kybernetik. Man ist erstaunt, wie ein auf den ersten Blick recht unscheinbares Projekt wie das Wieners und Bigelows jener Zeit später »fundamental research of tremendous depth and philosophical import« (Masani 1985: 142) auslösen konnte. Die zu Beginn des kalten Krieges beginnenden, dann ausdrücklich ›kybernetischen‹ Reformulierungen zentraler wissenschaftlicher Wissensformen auf den Macy-Konferenzen finden hier einen weiteren, wenn nicht ihren zentralen ersten Ort. Ab 1948/1949 erst sind es ›kybernetische‹ Konferenzen, die den zuvor aus verschiedenen Strängen enstandenen diskursiven Boden flankierend vertiefen und zugleich seine interdisziplinär anschlußfähige Differenzierung vorantreiben. Ab Beginn der 50er Jahre läßt sich dann ein erstes umfassenderes ›Nildelta‹ kybernetischer Diskurse konstatieren, spezifische diskursive Ausläufer neuer interdisziplinärer Wissensformen.83 Sie sind zusehends rekonstruktiv anschließbar an Forschungsdesigns in Neurophysiologie, Molekularbiologie, stetig kognitiv werdende Humanwissenschaften, neu orientierte Ingenieurs- und Wirtschaftswissenschaften, teilweise operations research. Im Gefolge beginnen zuletzt populäre Kybernetik-Texte zu entstehen. Erste ausdrücklichere Anfänge dieser Dynamik sind von einer experimentellen Methode getragen: Es wird nicht einfach ein technisches Endprodukt vorgestellt, es werden Fehlschläge, Schwierigkeiten, falsch eingeschlagene Wege verfolgt und inoffiziell dokumentiert. Ein sich stetig korrigierendes work in progress entfaltet sich in einer Text-Serie. Sie artikuliert zwischen Ende 1940 und einem internen Endbericht von 1942 aufeinander aufbauende Einzelstudien. Im Kontext Informationstheorie war es bereits angeklungen: In Zeiten deutscher Luft-Übermacht gegenüber den Alliierten hatte sich der Mathematiker Norbert Wiener einer Gruppe von Servomecha-

82 »Founding texts« laut Dupuy 1994: 47. Der Kontext und McCulloch/Pitts’ »had generated the cybernetics conferences in the first place« laut Heims 1991: 267. 83 Hayles macht auf die Strategie aufmerksam, sich zugleich als »content-free« (Hayles 1999: 96) zu präsentieren, andererseits aber Praktiken anzubieten, die »content-rich« (ebd.) sind, um eine maximale »penetration« (ebd.) der Wissenschaftslandschaft zu erreichen, ein ›interdisziplinäres‹ Paradigma zu schaffen.

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nikern um Julian Bigelow am MIT angeschlossen. Sie arbeiteten abseits ausdrücklicher administrativer oder militärischer Vorgaben an Problemen der Feuerleitung und Geschoßbahnberechnung (›trajectory‹).84 Aufmerksamkeit des National Defense Research Committee (NDRC) in Washington wurde geweckt, es entstand das DIC-Project 5980 »on antiaircraft Directors« (Masani 1985: 141).85 Aufgabe war hierbei, neue technische Instrumente zu entwickeln, um den Angriff auf feindliche Flugzeuge mit Artillerie zu optimieren. Zielgenauigkeit stand im Zentrum des Projekts.86 Geschoße sollten nicht nur derart abgefeuert werden können, daß sie zu einem zukünftigen Zeitpunkt in einer zuvor berechneten Position möglichst optimal auf das zu zerstörende feindliche Flugzeug treffen – solche Probleme von ›Verfolgungskurven‹ wurden bereits seit dem 16. Jahrhundert verfolgt (KeilSlavik 1985: 9). Eine weitere Optimierung dieser (Zerstörungs-)Prozesse wurde anvisiert. Hier ist Wieners berühmtes, später u.a. informationstheoretisch gewichtiges Vorhersageproblem verortet.87 Wieners und Bigelows Ansatz greift weit aus. Anhand von Untersuchungen des bisherigen Flugverhaltens feindlicher Flugzeuge und Studien zu Grenzen von Ausweichpotentialen sind statistische Voraussagen zum wahrscheinlichen zukünftigen Verhalten feindlicher Piloten zu unternehmen. Vorherberechnete Freiheitsgrade sind in die Flugbahn des potentiell zerstörenden Geschoßes einzuberechnen, um die Trefferwahrscheinlichkeit zu steigern. Das Verfahren eilt kalkulativ zu erwartenden Ausweichmanövern des feindlichen Systems voraus, berechnet Grenzen, die jeweils überlebenstechnisch zur Verfügung stehen könnten. Auch ausgehend von der Analyse bisherigen Flugverhaltens werden Extrapolationen in die Geschoßbahnberechnungen mit einkalkuliert. Optimale Zielgenauigkeit und Reaktionszeit soll bei Abschuß des Projektils gewährleist sein. prediction of the future. Das Wiener/Bigelowschen Verfahren bindet den gesamten Zielverfolgungsmechanismus in eine Rückkopplungsschleife ein. Sie bildet eine ›ler-

84 Vgl. ähnliche Forschungen des Briten John Stroud: Heims 1991: 257. Vgl. zwei seiner Beiträge auf den Macy-Konferenzen von 1949 und 1950: Pias 2004. 85 Vgl. die Fotographie: Edwards 1996: 174. 86 Vgl. zum Format des AA-predictors: Masani/Phillips 1985: 158f. Zum deutschen Verständnis von Regelungstechnik im Kontexten der »Regelung des Laufes der Torpedos« vs. Jagden auf Gegner, deren Kurs kaum extrapolierbar ist: Schmitt 1944: 82, 85. Womöglich rekuriert Gottfried Benn in Der Radardenker auf den AA-predictor im Kontext »der neuen Schöpfungswissenschaft« Kybernetik: Hagner 2006: 195; zu Hinweisen auf kybernetische Kenntnisse Benns durch Max Bense: Hagner 2008: 52. Wiener zum predictor: Wiener 1950a: 24, 65 passim. 87 Vgl. die historische Entwicklung prädiktiver gunnery computer: Aspray 1990: 186f. Nach der Entwicklung von mechanisch-analogen (special purpose) zu automatischen Lösungen (anfangs teils analog, teils bereits general purpose) hat die Gruppe Rosenblueth/Wiener mit u.a. digitalen Ausgaben von Bushs Differential Analyzern gearbeitet: Aspray 1990: 190; Wiener 1952: 23.

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nende‹ Klammer um das vorhergehende Verfahren. automatic control. Eine weitere Optimierung der Treffergenauigkeit des technischen Systems soll gewährleistet werden. Das in das Verfahren eingebundene Abschußgerät lernt mittels rückgekoppelter Daten, ob mittels berechneter Variablen der Zweck erfüllt ist, ob noch weitere Anpassungen notwendig sind: feed-back. Neue Apparate, »Voreilrückkopplungen« (Wiener 1952: 144) entstehen. Das neue »Flakrechengerät« (ebd.: 162) soll das »menschliche Element soweit als möglich [...] entfernen und es nur da einsetzen, wo es absolut unentbehrlich ist, nämlich ganz am Anfang und ganz am Schluß« (ebd.: 150). Mit ihrem in Kompensationsversuche der deutschen Luftübermacht auf alliiertem Boden eingebetteten Problem einer zu optimierender Flugabwehr stand Wiener/Bigelows Gruppe in Forschungs-Konkurrenz. Eine weitere Gruppe um Bode verfolgte ein ähnliches Problem, allerdings mit eher traditionellem Theoriedesign (Masani 1985). Ausgehend von einer dreimonatigen Untersuchung mit »elektrischen Netzwerken« als Basis von Vorhersagemechanismen, gefolgt von einer Nützlichkeitsstudie, entfaltet sich zwischen 1940 und 1942/43 eine Serie von Texten. Behavior, Purpose and Teleology von Norbert Wiener, Julian Bigelow und dem später hinzukommenen Arzt und Neurophysiologen Arthuro Rosenblueth ist nicht dekontextualisiert von seinem Entstehen zu betrachten, auch wenn das bestimmte rhetorische Textelemente nahezulegen versuchen. Denn der Text ist mit keinen ausdrücklichen Hinweisen auf Entstehenskontexte imprägniert. Er stellt eine Quintessenz vorausgehender diskursiver Schritte aus. Und er bleibt für folgende Forschungen und Anschlüsse offen. Die ihm vorausgehenden Texte, die u.a. ein bestimmtes trial and error-Verfahren dokumentieren, lassen auf eine diskursive Serie schließen: Dezember 1940: Studien Wiener/Bigelow: Vorhersage durch elektrische Netzwerke; Nutzen von Vorhersagemechanismen bei Anti-Aircraft-Luftgeschützfeuer. Beginn DIC-Project 5980 »on antiaircraft Directors«. Februar 1941: Eingeschränkt einsehbarer Text Wiener/Bigelow: »Analyse des Flugpfad-Vorhersageproblems, einschließlich fundamentaler DesignFormulierung und Theorie des Linear-Instruments«. März 1941: Studie des AA-Problems, nun auch hinsichtlich PilotenVerhalten (Streß-Situationen), Fehlerquellen und zufälligem Rauschen. Juni 1941: Diskussion auf einer Bell-Konferenz mit der Bode-Gruppe. Juli 1941: (a) Konstruktion Apparat-Komponenten [Nov.: Schaltkreis-Diagramm] (b) Studie gebräuchlicher Eingabe-Funktionen zum Test des Apparats (c) Entwicklung eines Zufallskurvengenerators, der aus einem Lichtpunkt und einem Verfolger besteht (Untersuchung menschlicher Faktor, spezifisches Individualverhalten des Piloten [auto-, kreuzkorreliert], z.B. beim Bombardieren, vs. perfektes Manövrieren. [Masani 1985: 156/157]). Januar 1942: Eingeschränkte Publikation Wiener: Handbuch über Theorie und Praxis von Zeitserien und Communications Engineering.

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Februar 1942: Eingeschränkte Publikation Wiener: Interpolation, Extrapolation of linear Time Series and Communication Engineering.88 Februar 1942: Studie zu Berechnungsproblemen bei der vorgesehenen Arbeit des Geräts der entwickelten Theorie zufolge. Juli 1942: Demonstration AA-p-Prototyp am MIT. Rücksprache mit dem Neurophysiologen A. Rosenblueth bei W. Cannon/Harvard [neuronale Pathologien, Auftreten von ›Intentionstremor‹ als ›homöostatisches‹ Problem] (Wiener 1948, passim; Dupuy 1994: 45; Heims 1991: 166). Herbst 1942: Statistische Studie zum Flugverhalten wirklicher Kriegsflugzeuge, Studie zu Steuerungspraktiken (Camp Davis, Langley Field, Naval Ordinance Bureau, Aberdeen Proving Ground). Dezember 1942: Abschlußbericht.89 1943: Wiener, Bigelow, Rosenblueth: Behavior, Purpose and Teleology Dem gereinigten Zentraltext vorausgehend werden im inoffiziellen Abschlußbericht erste Ergebnisse einer statistischen Evaluation des Mitte 1942 vorliegenden AA-p-Prototyps diskutiert. Wiener/Bigelows statistische Verfahren konnten unter Bedingungen weit zu überbrückender Entfernungen des Zielobjekts keine Effektivitätsvorteile aufweisen gegenüber dem traditionellen Forschungsdesign der konkurrierenden Gruppe. In weniger weiten Distanzen und bei schnellen Bewegungen in naher Distanz waren sie hinsichtlich Treffergenauigkeit dem traditionell orientierten Ansatz aber deutlich überlegen. Ein Beobachter der ›Nah‹-Experimente mit Wiener und Bigelows Feindbewegungs-Vorhersage-Rechensystem war fast verängstigt von der Reaktionsgenauigkeit (Masani 1985). Beschränkungen im Fall weiterer Distanzen, bei Zuwachs an Komplexität, können zurückgeführt werden auf zeitgenössisch noch mangelhafte Berechnungskapazitäten für umfangreichere statistische Kalkulationen. Und das, obwohl bereits 1940 Wiener eine Nachricht an Vannevar Bush adressiert hatte »on the scope, etc., of a suggested computing machine« (WCW IV: 122ff), zum Bau einer für den Kontext »idealen Rechenmaschine« (Wiener 1952: 150). In diesem Text werden absehbare Notwendigkeiten des einzusetzenden »apparatus« gefordert (WCW IV: 122ff, Wiener 1952: 23). Es ist dieser Text, der ebenfalls als maßgeblich aufzufassen ist für die Entwicklung einer der zentralsten Vorgängerzweige der entstehenden Rechenmaschinen, Computer. Sie waren zu dieser Zeit auf dem Weg zur »universellen Maschine« von 1948, was bis heute noch immer quasi-teleologisch gedacht wird.90 Für Masani ist Wieners

88 Vgl. zu Differenzen zu Wiener 1943a: Masani 1985: 144. 89 Vgl. zum Aufzählungs-Kontext: Masani 1985: 144/145. 90 Wieners Forderungen zum Bau einer »idealen Rechenmaschine« (Wiener 1952: 150) umfassen erstmals (1) digitale, binäre Arithmetik und Speicherung, (2) diskrete numerischer Algorithmen mittels (3) einer elektronischen Arithmetikeinheit auf (4) einer klassischen Turing-Maschinen-Architektur mit (5) Magnetbändern noch (6) ohne ›stored program‹. Die Forderungen Wieners an Bush werden um-

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Adresse an Bush für das Entstehen maßgeblicher als spätere Überlegungen John von Neumanns. Spezifisch autorintentional gedacht soll der Name Neumann bisher eine gründende Verbindung stiften zur entstehenden, singulären ›Ur-Apparate-Form‹, ihrem Siegeszug. Computer in der heutigen Form liegen im Kontext also noch nicht vor. Sie entstehen hier erst parallel. Wenn man nicht im Manufakturmaßstab mit händischen Berechnungen arbeitet, werden rudimentär Rechenapparate eingesetzt, die zumeist noch analog funktionieren. In einer Zeit, in der Computer noch als Berufsbezeichnung primär weiblicher Mathematikerinnen aufgefaßt wird,91 wird jenseits von Kriegsforschungen noch oft auf Lochkartenmaschinen zurückgegriffen. U.a. Lochkartensysteme des IBM-Vorläufers Hollerith werden eingesetzt z.B. in Versicherungskontexten (Yates 1994), zur Planung, Einführung und Berechnung der US-Social Security und bei Volkszählungen (Aly/Roth 1984; Black 2001). Die VoreilrückkopplungsApparate Wiener/Bigelows konnten im 2. Weltkrieg nicht mehr eingesetzt werden. Das Forschungsdesign der Apparate hatte danach starken ›unmittelbaren‹ Einfluß auf Radarentwicklung und Rauschfilterung insb. im Kommunikationsbereich (Masani 1985: 144). Formaler prägte es neben Folgeforschungen das erste Atombombenfrühwarn- und -Abwehrsystem SAGE (Semi-Automatic-Ground-Environment), allgemeiner den Kontext C3I (Command, Control, Communications and Intelligence, Edwards 1996). Weitere technologische Filiationen einerseits, diskursive kontextuelle Beiträge zur Kybernetik andererseits werden später genauer thematisch.92

gesetzt in einer digitalen Version von Bushs differential analyzer ab 1942 unter Mauchly/Eckert an der Moore School of Electrical Engineering der University of Pennsylvania zur Geschoßbahnberechnung (Ferry/Saeks in WCW IV: 147f). 1943 arbeitet von Neumann dort als ›Consultant‹ am erstmals vollständig digital, aber noch dezimal und parallel arbeitenden Nachfolger, dem ENIAC Machlys/Eckerts am Ballistics Research Center des Aberdeen Proving Ground mit. Am späteren, sequentiell und binär arbeitenden und das ›stored program‹Konzept, die Situierung von Programm und Daten auf einer (Speicher-)Ebene eröffnenden EDVAC John von Neumanns abstrahiert dieser 1945 erst den damals classified publizierten first draft (Neumann 1945). Er gilt heute als diskursiver Prototyp der ›von Neumann-Maschine‹, der bis in die Gegenwart ubiquitär gewordenen Norm von Computerarchitekturen. 91 Vgl. weibliche Aneignungen männlich dominierter, ›Computer‹- vorausgehender Stenographen- und Maschinenschreiber-Berufe: Kittler 1986: 272f; Hayles 2005. 92 Das geschieht differenziert vor allem in Fußnoten im letzten Kapitel.

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2.3 Wiener/Rosenblueth: Behavior, Purpose, Teleology (1943) Wie von Behavior, Purpose and Teleology Wiener/Bigelow/Rosenblueths (1943) nahegelegt, wird der Text nun dekontextualisiert vom diskursiven Kontext betrachtet werden.93 Zwei Ziele markieren seinen ausdrücklichen Rahmen: Erstens setzt er sich zur Aufgabe, zugunsten einer neuen Klassifizierung von Verhalten eine prinzipielle Nützlichkeit von behavioristischen, also verhaltensanalytischen Studien und deren neuartiger Begriffe herauszustellen. Der Text grenzt dazu zweitens grundsätzlich seinen ausdrücklich behavioristischen Ansatz ab gegenüber funktionalistischen. Denn während bei funktionalistischen Analysen einzig die intrinsische Organisation und Struktur eines Objekts und seiner Bestandteile im Raum stünde, soll dies nun umgekehrt beim neuen behavioristischen Ansatz gerade ausgeblendet werden. Hier wird keine innere, sondern eine äußere Zergliederung zu untersuchender Objekte und deren Verhalten notwendig. Im ersten Schritt wird die segregative Dekontextualisierung des Untersuchungsobjekts projektiert, um es dingfest und untersuchbar zu gestalten. 1943 zählt kein Aufschneiden des Objekts, sondern sein Abschneiden vom Kontext. So fundiert, wird im zweiten Schritt die Untersuchung eines Output des Objekts zum Hauptansatzpunkt. Als Output gilt jede vom Objekt fabrizierte Modifikation seiner Umgebung, jeder »change produced in the surroundings by the object« (Wiener 1943b: 327). Untersucht wird das Verhältnis dieses Outputs zu einem jeweiligen Input. Definitorisch gilt Input als ein jeweils dem Objekt externes Ereignis. Umgekehrt zum Output soll dieser Input das Objekt selbst modifizieren. Thematisch wird ein »event external to the object that modifies this object in any manner« (ebd.: 327). Damit entfaltet sich an einer sog. Black Box – etwas, das gegenüber funktionalistischen Ansätzen von außen nicht eingesehen, nicht geöffnet werden soll – eine Reiz/Reaktionsanalyse in Begriffen von Input und Output.94 Das mittels dieser Analyseform untersuchbare Verhalten soll abstrakt rekonstruiert werden. Was gilt hier nun als Verhalten? Definiert wird es (1) als jeweiliges Gesamt verschiedener, zu untersuchender Wechselwirkungsprozesse zwischen In- und Output. Verhalten gilt im ersten Schritt als eine extern feststellbare Veränderung einer Entität, die in deren Umgebung stattfindet: »any modification of an object, detectable externally, may be denoted as behavior.« (ebd.). Diese noch recht vage Verhaltens-Definition wird klassifikatorisch weiter ausdifferenenziert in verschiedene Typen. Ein Klassifikationsast entsteht, der aus binären Oppositionen hierarchisch aufsteigend entwickelt wird (Wiener 1943b: 330). 93 Im Folgenden wird daneben auf Wiener 1950b zurückgegriffen, der den Kontext als Antwort Wiener/Rosenblueths auf Einwände nach 1943 erhellt. 94 Zur Black Box-Simulation ›white box‹, »die potentiell die Charakteristiken jedes beliebigen nichtlinearen Übertragers annehmen kann«: Wiener 1952: 217.

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Der Verhalten (re-)konstruktiv klassifizierende Ast findet dort einen Aufstieg zur nächst höheren Ebene, wo sich eine Klasse binär in zwei Subklassen teilt. Eine dieser Subklassen wird jeweils oberhalb einer als defizient markierten Klasse sichtbar und positioniert. Die jeweils defiziente Klasse beendet in ihrem Kontext einen Fortlauf der Klassifikation, erfährt keine weiteren Differenzierungen. Letztlich bildet sie keine wirkliche, ausdrückliche Klasse, die Rede ist von einer jeweiligen »non-class«. Sie gilt als formlos: Bezeichnet wird ein amorpher Rest, ein »amorphous remainder« (ebd.: 330). Was auf der jeweiligen Stufe als defizient amorph zu gelten hat, soll letztlich komplett aus dem Analyseraster heraus fallen. Überlegungen werden eingefügt zum Verhältnis von Energieveränderungen gegenüber zu untersuchendem Verhalten. Sie bilden den Hintergrund der weiteren Zwievergabelungen, Bifurkationen des Klassifikationsasts. Wo von Energieveränderungen die Rede ist, ist noch nicht von Information die Rede. Ein Austausch mit der Informationstheorie steht diskursiv noch aus. Behavior, Verhalten wird in einer ersten Verzweigung des Klassifikationsasts grundlegend dichotomisiert in aktives und passives Verhalten. Zwischen aktivem und passivem Verhalten vermittelt die Vorstellung einer Energie-Hortbarkeit in einem »reservoir« (ebd.: 323). Verbleibt Energie zumindest einige Zeit im Objekt und wird nach Aufschub abgeführt, soll aktives Verhalten vorliegen. Geschieht das nicht, schlägt also jeweiliger Input direkt zu einem Output durch, ist passives Verhalten gegeben. Passives Verhalten bildet die erste »non-class« des 1943er-Konzepts. Als Beispiel hierfür soll ein Stein bei einem Wurf dienen. Er selbst ist passiv, die benötigte Wurfenergie geht nicht von ihm selbst aus. Das als aktiv markierte Verhalten führt die aufsteigende Linie fort zu einer Verästelung (2) in zwei weitere Klassen. Zufälliges oder purposeless Verhalten gilt hier als neue, defiziente »non-class« und scheidet aus. Über zufälligem Verhalten tritt purposeful Verhalten als neue, volle Klasse aktiven Verhaltens hervor. Es benennt ein Verhalten, das auch als Akt bezeichnet wird. Es gilt als ausgerichtet auf eine spezifische Zielerreichung. Ihr jeweiliges Ziel wird durch einen neu hinzugekommenen, dritten Term eingeschränkt, dem einer »final condition«, einem Endzustand. In diesem finalen Zustand, Endzustand soll ein sich verhaltendes Objekt eine bestimmte zeitliche oder räumliche Korrelation zu einem anderen Ereignis oder Objekt erreichen. Umgekehrt ist Kriterium zur Rubrikation unter die defiziente Kategorie, daß ein untersuchtes Verhalten nicht als ausgerichtet (»directed«) auf ein Ziel (»goal«) eines finalen Zustands interpretiert werden kann. Goal, Ziel wird also im Durchgang der zweiten (Nicht-)Kategorie expliziert. Auf dieser Stufe des Verhaltens-Konzepts von 1943 wird zugleich eine bis dahin noch implizit gebliebene Beobachterrelativität gegenüber der Kategorisierungsleistungen des Konzept obsolet: Aktives Verhaltens entweder als purposeful oder purposeless zu bewerten sei kein willkürlicher Akt. Fundament des »purpose«-Begriffs des neuen, behavioristischen Untersuchungssprozesses wird also eine untrügliche Erkennbarkeit willentlicher

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Aktivität. Sie wird unter der Hand synonym mit der Kategorie aktiven Verhaltens. Zugleich wird sie als physiologisches Faktum eingeführt. Was bedeutet purpose in diesen Zusammenhängen genau? Mit dem entwickelten Konzept einer potentiellen purposefulness zu untersuchenden Verhaltens werden selbstverständliche Kategorisierungen obsolet. Überraschend wird Rouletterädern und Uhren abgesprochen, purposeful zu sein. Ist ein Rouletterad nicht purposeful für Glücksspiele, eine Uhr zur Zeitmessung und Zeit-Anzeige? Das soll gerade nicht der Fall sein. Semantisch wird der Begriff purpose gebunden an eine selbständige, quasi-autonome »performance« (ebd.: 328) desjenigen Gesamtensembles, in dem er jeweils situiert sein soll. Diese performance des jeweiligen Gesamtensembles wird nach einem bestimmten Kriterium beurteilt. Entscheidend ist, ob sie an einem willentlichen purpose ausgerichtet ist – oder nicht. Entscheidend ist, ob sie diesen purpose selbständig, aus sich selbst heraus anstrebt – oder nicht. Das Autonomie-Kriterium gegenüber dem Vollzug eines Ensembles führt zurück zur Nicht-Klasse. Hier streben zu subsumierende performances keiner final condition zu, die intrinsisch motiviert verfolgt wird. Sie sind purposeless. Wiener/Bigelow/Rosenblueth geht es offenbar nicht wirklich darum, ob etwas einen Zweck erfüllt. Eher darum, ob etwas in sich, autonom und selbstreguliert einem finalen Zustand zusteuert – seinem purpose. Bezeichnendes Beispiel ist die performance einer Pistole. Eine Zielerreichung sei ihr nicht intrinsisch, da mit ihr auch zielfreies, zufälliges Schießen möglich ist. Auch eine herkömmliche Uhr könne nicht als purposeful gelten, da sie in ihrem Procedere kein Ziel verfolge, auf das sie aus sich heraus ausgerichtet ist. Sie könne sich nicht wieder selbstständig auf einen zielverfolgenden Weg machen, nicht die Uhrzeit nachjustieren, wenn man sie einige Minuten aussetzt (Wiener 1943b: 322). Ein anderes Vorgehen ist 1943 gegeben bei einem »torpedo with a target-seeking mechanism« (ebd. 328). Eine Zielorientierung wird sichtbar, die dem Text vorzuschweben scheint. Bei der performance eines zielverfolgenden Torpedos liegt Zielgerichtetheit auf der Hand, das Verfolgen eines Ziels, ein Streben nach einem finalen Zustand und eine automatische Adaption. Der ganz buchstäblich zielsuchende Apparat Torpedo stellt in actu eine ›performance‹ aus, die als unausdrückliches Vorbild der nicht-amorphen Verhaltens-Kategorie puposeful, active behavior gelten kann – zielgerichteten, aktiven Verhaltens. Der Text hält weitere Beispiele bereit: Neben einer Kanninchenjagd mit natürlichen und mechanischen Jagdhunden z.B. »a car following a man along a road with the clear purpose of running him down«. Hier ist es schlicht irrelevant, ob das geschilderte verfolgende Auto »is driven by a human being, or [...] guided by the appropriate mechanical sense organs and mechanical controls« (ebd.: 319). Exemplifiziert wird der Term purposeful an weiteren Beispielen. Wie eine offenbar nur begrenzt unpassende Reaktion auf unheimliche, nächtliche Begegnungen: »If a man wakes up at night and shoots his gun at his image in the mirror, his reaction is quite as purposeful as if he had shot at a burglar« (ebd.: 321).

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purpose wird denkbar als intrinsische, willentliche Aktivität jenseits menschlicher Zweck-/Mittel-Relationen, die faktisch einfach vorliegt oder nicht: In dem Maß, in dem sich damit jede humane Beurteilungen jeweiligen purpose verflüchtigt, gelangt das purpose-Konzept an einer neuen Position. Sie ist nur noch gerahmt durch Optimierungen weitestmöglicher Fehlerfreiheit. Wo die Rede davon ist, to »minimize an error« (ebd.: 324) werden ehemals menschliche Zwecke ersetzt durch ein Konzept optimaler Fehlerreduktion eines Zielerreichungsprozederes zugunsten eines jeweils angestrebten Ziels: »The emphasis on human purposes is irrelevant. The purpose of the designer of a radar-controlled gun may have been to have the gun seek an enemy plane, but if the gun seeks the car of the commanding officer of the post, as this officer drives by, and destroys it, surely the purpose of the gun differs from that of the designer.« (ebd.: 318)

Auch an solchen Beispielen wird deutlich, das the »approach does not imply the philosophical belief in final causes.« (Wiener 1943a: 326). Begriffe wie purpose werden in ihrer Herkunft zwar ausdrücklich als »humanistic terms« (ebd.: 318) vorgestellt. Sie werden aber so gewendet, daß mittels ihnen deutlich werden soll, daß nun keine Differenzen mehr existieren zwischen Mensch und Maschine – daß »as objects of scientific enquiry, humans do not differ from machines.« (ebd.). Die gewendeten Begriffe sollen auf den Bereich der humanistic terms zurückwirken können (Dupuy 1994: 49). Menschen nutzen damit dann wohl auch Maschinen auf eine Weise für ihre Zwecke, die keine Differenz mehr kennt zu Zielerreichungsprozeduren bestimmter (neuer) Maschinen. Wie die Objekte der so gewendeten wissenschaftlichen Untersuchungen auftreten und sich konkret verorten, führen die Beispiele des Texts anschaulich vor Augen. Fast alle Beispiele buchstabieren quasi-animalische Überlebenskämpfe aus, marginal nur noch Differenzen zwischen Mensch und Maschine. Ausgehend von Fragen des Überlebens werden Beispiele in maschinelle Kontexte übertragen. Also auf die Ebene, die ausdrücklich begrifflich verhandelt wird. Ein späterer, um Einwände gruppierter Text von 1950 weist konsequent auf Neumann/Morgensterns Spieltheorie hin (Wiener 1950b). Mittels ausgeweiteter Analogisierung menschlichen und tierischen Jagd-/Kampfverhaltens werden lebende Organismen allgemein adressiert, die Charakterisierung auf Bereiche nicht-lebendiger Entitäten ausgedehnt. Differenzen werden zwar ebenfalls benannt, sie gelten aber als irrelevant für den Fortgang der Argumentation. Wo eine applizierbare Korrespondenz hergestellt ist, können teils positiv, teils negativ zur Konstitution der Korrespondenz herangezogene, traditionelle Differenzen verwischt werden: »if the notion of purpose is applicable to living organisms, it is also applicable to non-living entities when they show the same observable traits of behavior [...] The

262 | B LACK B OX C OMPUTER animals and the machine differ in many other respects, but those differences will be irrelevant to our analysis of their behavior« (Wiener 1943a: 323).

In Folge der hergestellten Korrespondenz werden Begriffe wie purpose semantisch klarer. Er bezeichnet weniger eine anfangs noch naheliegende Bezeichnung Zweck, purposeful nicht Zweckmäßigkeit. purposeful beschreibt den Versuch, rein formal eine Klasse von Verhaltensprozessen herauszuarbeiten und fundierend (wieder-)einzuführen, die von jeder Interpretierbarkeit gereinigt sind und eine materielle Quasi-Faktizität eigener Zielorientiertheit aufweisen sollen. Als Verhaltens-performances erschöpfen sie sich konzeptuell in eigengeleiteter Zielerreichung eines ›objektiven‹ Finalzustands, eines »attainment of a goal« (vgl. ebd.: 328).95 Alle davon abweichenden Verhaltensprozesse sind irrelevant, fallen in defiziente Klassen. Die Klasse quasi-autonomer, willentlich dem Erreichen solcher Finalzustände zustrebender Zielerreichungsprozesse macht deutlich, daß der term purposeful als ›objektiv‹ eigengeleitet-zielgerichtet zu verstehen gegeben wird. So wird er jenseits traditioneller Differenzen von Tier, Mensch und Maschine in Anschlag gebracht. Auf der nächsten Abstraktionsebene des Texts (3) wird die bislang höchste Klasse des Verhaltens-Klassifikationsasts – zielgerichtetes, aktives Verhalten – nochmals differenziert. Teleologisches/Feedback- und nichtteleologisches/nicht-Feedback-Verhalten tritt auf. Während die ausdrücklich teleologisch bezeichnete Komponente bereits zuvor als spezifisch zielgerichtet eingeführt wurde, erfährt der Term feedback weitere Konkretion. Wo zuvor »no single word for that general idea [...] have existed« (ebd.) wird noch nicht positives Feedback konzeptualisiert – also die Zurückleitung eines Teils eines Outputs von Verhaltensprozessen als deren neuer Input. Eine solche Verstärkung von Verhalten wird konzeptuell sogar ausgeschlossen. Die prägende Bedeutung von Feedback als Informationen zu einem outcome (Heims 1991: 271) von Aktivitäten wird ausdrücklich als negatives Feed-

95 Die Kommentatoren der Gesamtausgabe sprechen von purpose als einem »goal or ›final cause‹«, von einer »idea of purpose (Aristotle’s ›final cause‹)« (Masani/Phillips 1985: 170). Dieser Topos wird zu einer zentralen diskursiven Anschlussstellen im kybernetischen Diskurs, z.B. zur Konzeptualisierung des Gehirns als Teil des Nervensystems und seiner Konzeptualisierbarkeit als Computer: »These ideas when combined with those advanced by McCulloch and Pitts [...] cast a new light on ›the performance of the nervous system as an integrated whole‹ [...] the brains operation comprises a sequence of feedback cycles from brain to muscle, to effector organ, to outside world, to receptor organ, and back to the brain. Each cycle allows the brain to know how much it has missed accomplishing ist objective, and results in the issuance of fresh corrective orders to the effector organs, pretty much as in servomechanism. The proximity of the ideas of McCulloch and Pitts [...] with [...] Shannon [...] made Winer aware of deep similarities between the brain and the electronic computer« (ebd.).

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back eingeführt: »the signals from the goal are used to restrict outputs which would otherwise go beyond the goal.« (Wiener 1943a: 328). Zurückgefüttert wird, wie es später Karl Deutsch gegenüber dem Typ goal-changing feedback abhebt, ein »goal-seeking feedback« (Deutsch 1963: 92). Differenzkalkulation zwischen vorgegenem Ziel und gegenwärtigem Verhalten: Das Ergebnis allein dieser Kalkulation zählt. Als jeweils konkretes, negatives Feedback hat es den alleinigen Zweck, aktuell vorliegendes Verhalten potentiell zu restringieren, es immer wieder neu auszurichten, um es optimal auf das ›eigentliche‹ Ziel des Verhaltensprozesses hin zu lenken, zu führen. Das Ziel ist im ersten Schritt von jeder Veränderbarkeit ausgenommen. Es scheint gegenüber dem untersuchten Verhaltensprozess extern vorgegeben zu sein. Jenseits der vorgesehenen, korrigierbaren Zusammenhänge existieren fixe, im Voraus arrangierte Anordnungen: Das Ziel ist »given once for all by certain internal arrangements [...] these arrangements remain fixed throughout its life« (ebd.). Jenseits konkreter Umsetzungen determiniert ein abstraktes Diagramm die abstrakte Orientierung an einer extern vorgenommenen Zielgabe. Sie ist fest verdrahtet innerhalb des Arrangements. Unter die parallel eröffnete, defiziente Klasse dieser Stufe – nicht feedback-gesteuertes, nicht teleologisches Verhalten – fällt dann Verhalten, bei dem kein negatives Feedback Teil des untersuchten Arrangements ist. Bei dem also keine kalkulierten Signale vom ›gegebenen‹ Ziel aus die Aktivität des Objekts steuern. Zwar mag es hier ebenfalls einen spezifischen Kurs des Verhaltens geben. Er fällt aber eindeutig in die Negativ-Klasse, da er nicht eigengeleitet auf das gegebene Ziel hin geführt ist und, entscheidender, nicht mittels Feedback von diesem her kontrolliert wird – »in which there are no signals from the goal which modify the activity of the object in the course of the behavior« (Wiener 1943a: 328). Negativ-Beispiele sind das FliegenfangVerhalten eines Froschs und eine Maschine, die ein beleuchtetes Objekt verfolgen soll, hierzu aber über keinen Sensor verfügt. Ein ganz offensichtlich fehlerhaftes, defizitäres Feedback-Design. Liegen für das Konzept keine stationären Ziele vor, wird aus Gründen besserer Effektivität, Nützlichkeit, zusätzlich klassifikatorisch ein weiteres Charakteristikum des Feedback-Designs angeregt: permanentes Feedback. Durch die Permanenz einer Aneinanderreihung von Differenzkalkulationen soll das Verhalten dauerhaft modifizierend geführt werden. Wenn hierbei jedoch nicht genügend ›Dämpfung‹ berücksichtigt ist – z.B., wenn die Zeitspannen zwischen den jeweiligen Ziel-Differenzkalkulationen nicht sensibel genug gewählt sind – kann ein weiterer Mangel auftreten. Eine permanente Oszillation in Extremen kann sich zeigen, eine oszillatorische Abweichung. Anschaulich analogisiert wird das an einer neurologischen CerebellarPathologie, z.B. einem sog. Intentions-Tremor. Hier läßt die willentliche Absicht zum Greifen und Trinken eines Glas Wasser die genutzte Hand stark zittern. Das Zittern entsteht aus oszillierenden Abweichungen vom vorgesehenen Weg des Glases zum Mund. Das Wasser ist dann längst seitlich aus dem Glas geschüttet, wenn das Glas den Mund erreicht hat. Die mit

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zeitgenössischen neurologischen Vorstellungen analogisierte FeedbackPathologie permanenter Feedbackprozesse muß mittels deren Dämpfung vermieden werden. Sie sollen wohl balanciert ablaufen. Auf der vierten Ebene des Klassifikationsasts (4) wird die vorhergehende Klasse – über negatives Feedback gesteuertes, insofern zielorientiertes Verhalten – nochmals dichotomisiert in vorhersagendes, extrapolatives Verhalten und nicht vorhersagend-extrapolatives. Die defiziente Klasse wird an virologischen Tropismen verdeutlicht, an wild wuchernden, infektiösen Einzeller-Viren. Als umgekehrtes Beispiel berechnend-vorausschauender Vorhersage gilt eine Maus jagende Katze. Denn um die Maus zu fangen, springt die Katze nicht dorthin, wo sich die Maus gerade befindet. Die Katze springt in eine vorherberechnete, zukünftige Position der Maus: sie »moves toward an extrapolated future position« (ebd.: 329). Zuletzt wird eine weitere, letzt höhere Klassifikationsebene (5) benannt – und keine defiziente Klasse mehr. Denn hier werden schlicht der vorhergehenden, optimalen Ebene – vorhersagenden, extrapolativen Verhaltens – weitere, prinzipiell endlose Entwicklungen eröffnet. Sie tritt ein in prinzipiell endlose Rekursionen, in Vorhersagen zweiter bis n-ter Ordnung. Die letzte Ebene des aufsteigenden Verhaltens-Klassifikationsasts findet also keine Schließung mehr. Die Beispiele dieser Ebene entwickeln sich kaskadenförmig: Begonnen wird mit dem Wurf eines Steins auf ein bewegliches Objekt – 2 Elemente müssen berechnend vorhergesehen werden: Zielbewegung und Steinpfad. Beispiele höherer Ordnungen schließen sich an, z.B. mit 3, 4, n Elementen. Auf er höchsten Klassifikationsebene des protokybernetischen, teleologischen Verhaltenskonzepts sollen Grenzen allein in den Grenzen einer jeweils notwendigen ›Sensorik‹ liegen. Z.B. sei im Zielsuchprozess das olfaktorische Sensorium eines Jagdhundes auf räumliche Aspekte beschränkt, was zeitliche Vorhersagen erschwere. Auf der endlos rekursiven Gipfelklasse wird zur weiteren Optimierung zielsuchenden Verhaltens insb. eine Kopplung (von Sensoren etc.) angeregt. Trotz der ausdrücklichen Einschränkungen des entstandenen Konzepts und seiner amorphous non-classes wird eine Gleichheit, eine Identität des Verhaltens von Maschinen und lebenden Organismen statuiert: »The broad classes of behavior are the same in machines and in living organisms« (ebd.: 331). Einwände werden thematisch. Zwar bestehen die einen aus einem Gallert aus Proteinen, sind die anderen metallisch. Zwar haben die einen sehr spezifische und schnelle Energieverteilung, während die anderen Energie eher gleichmäßig und immobil verteilen. Zwar sind die einen elektronisch, die anderen ionisch. Zwar sind die Nervenfasern der einen umfangreich, aber schnell – während die der anderen kompakt, aber langsam sind. Letztlich aber überwiegen im neuen Modell Ähnlichkeiten, nicht traditionellere oder wissenschaftlich neu vorgestellte Differenzen.96 In Analogie zum neu-

96 Überkreuzungen von Organismen und Maschine werden noch eher ironisch behandelt, »no living organism is known that rolls on wheels« (Wiener 1943a:

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en, ›voreilenden‹ Maschinentyp läuft das neue Verhaltens-Modell von 1943 auf eine klassifikative Ausfaltung spezifisch selektierter Verhaltensklassen hinaus. Im (re-)konstruktiv aufsteigenden Klassifikationsast bilden die positiv selektierten Verhaltensklassen eine Kette, die in prinzipiell endlos gedachten Spiralen einer rekursiven Krone münden. Klassifikative NegationsZeichen schließen zugleich abweichende Formen aus. Das spezifisch gerahmte Modell gestattet im Ergebnis erstmals die Idee eines übergreifenden Kreuzens vormaliger Genera-Grenzen. Traditionelle Differenzen werden denkbar als technisch überwindbar. Das noch ausdrücklich behavioristisch verortete, protokybernetische Konzept artikuliert erstmals ausdrücklich den Anspruch, auf Maschinen und Lebewesen gleichermaßen anwendbar zu sein.97 Kybernetische Illusionen entstehen: Säugetiere werden als reproduzierbar vorgestellt in anderen als gewachsenen organischen Strukturen: »The ultimate model of a cat is of couse another cat, whether it be born of still another cat or synthesized in a laboratory.« (ebd.: 331). Bereits 1943 entstehen erste Träume von etwas, das später cybernetic organism, Cyborg genannt wird: Überlegungen z.B. zu autonom-zielverfolgenden Robotern, »robots, roughly similar in behavior to an animal organism« (ebd.). Eine baumartig aufsteigend hierarchisierte, hochgradig selektive (Re-)Konstruktionsweise beginnt universelle Ansprüche zu stellen. Grundzüge eines neuen Monismus?98 1943 ist diskursiv ein frühes kybernetisches Verhaltensmodell im Entstehen. Es ist nicht primär zirkulär-rekursiv, sondern ausdrücklich teleologisch gekrönt auf Linien endlos potenzierter Vorhersagen und Extrapolationen. Später entsteht aus einer noch dunkel behavioristischen eine kybernetische Landschaft. Sie hat nicht allein Ausläufer in die biologischen Disziplinen. In ihren humanwissenschaftlichen Ausläufern wird sie einen zuvor noch vorherrschenden Behaviorismus, aber auch die Gestalttheorie und die Psychoanalyse rekonfigurieren durch ein neues Paradigma des Kognitivismus hindurch. Auch gegenüber neuartig verobjektivierbaren Seiten menschlichen Geists sollen dann teils erhebliche Machtgewinne resultieren: »In mechanizing the mind, in treating it as an artifact, the mind presumes to exercise power over this artifact to a degree that no psychology claiming to be scientific has ever dreamed of attaining« (Dupuy 1994: 20).

331), keine »engineers had insisted [...] to put legs and feet in their locomotives, instead of wheels« (ebd.). Die Phantasie des Texts ist noch nicht gänzlich in einem Möglichkeitsrahmen angelangt, der hier stetig denkbar zu werden beginnt. 97 Vgl. Mißverständnisse gegenüber Kybernetik, wenn Sie aus dem Blickwinkel der Kybernetik zweiter Ordnung in den Blick genommen wird, einem einzelnen Ausläufer: Dupuy 1994: 10, 44f, 129. Zu Mißverständnissen aus der Tradition von Försters: Dupuy 1994: 136, 46; Heims 1991: 283f; Hayles 1999: 131ff, 141ff. 98 Vgl. die kybernetische »inability to imagine any other form of totality [...] the monism implicit [...] was intransigently held to be universal and to apply to any kind of organized totality« (Dupuy 1994: 128).

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Im frühen Vorfeld, in einem der anfangs leitenden Texte eines vorbereitenden diskursiven Strangs wird noch schlicht die Vereinzelung von fünf Verhaltensklassen anvisiert. An diesen Klassen wird erstmals eine möglichst gleichermaßen Maschinen und Organismen umfassende Verhaltensanalyse vorgestellt, »that a uniform behavioristic analysis is applicable to both machines and living organisms, regardless of the complexity of the behavior« (Wiener 1943a: 330). Die zu (re-)konstruierenden Klassen verdeutlichen, daß der Ausdruck Teleologie in einem technisch ausgeweiteten Wirkungskreis nutzbar wird. Teleologie gilt nun als synonym mit einer Form von Zielgerichtetheit, die mittels negativem Feedback kontrollierbar wird: »teleology was used as synonymous with purpose controlled by feed-back« (ebd.: 331). Das philosophische Konzept einer Wirkursache – Wer hat den Schaum in die Flasche hineingebracht (HWP 10: 973)? – ist im Kontext längst obsolet. Ein alltagspraktisch profanisiertes Konzept einer causa finalis aber wird im Text von 1943 keineswegs als Diskursstelle gänzlich aufgelöst.99 Es wird vielmehr rekontextualisiert, neu ausgerichtet, kann zu einer neuen normierten Form werden, die Maschinen, Tiere und Menschen gleichermaßen umfassen können soll. Zwar keine conditio finalis, aber eine final condition. purposefulness gilt zwar ausdrücklich nicht mehr als Term, der auf Kausalkategorien verweist. Er ist nicht mehr zu verstehen als Zweckmäßigkeit von etwas – Handlung, Verhalten oder Objekt – zu einem Zweck. Er ist nicht mehr eingebunden in ein human zugeschnittenes kausales Kategorialsystem von Zwecken oder Mitteln, von immanenten oder transzendenten Wirk- oder Zweckursachen: »purposefullness [...] is quite independent of causality, initial or final.« (ebd.: 331). Innerhalb des neu verorteten, des teils hochselektiven, teils hoch verallgemeinerten teleologischen Nutzen- und Ziel-Rahmens bilden purpose und purposefulness weiterhin eine zentrale diskursive Position. Die historische Aufgabe von teleologischen Konzepten überhaupt wird zurückgewiesen. Zu kritisierender Fakt sei, daß »when [...] teleology was dismissed, [...] recognition of the importance of purpose was also unfortunately discarded« (ebd.).100 Die vollständige Rückweisung traditionell human/humanistisch gerahmter Teleologie-Konzepte wird im Diskurs ausdrücklich nicht betrieben. Sie wird vielmehr beklagt und zurückgewiesen. Hier geht es nicht um ein vollständiges Verschwinden. Eher, trotz und wegen aller Reduktionen und Einseitigkeiten, um eine Umschrift, die Ausweitung bestimmter Koordinaten einer spezifisch ausgerichteten, akkumulativen Wertlogik. Dupuy bezeichnet das Vorgehen als rebaptizing (Dupuy 1994: 47), Hayles entdeckt eine transformierte ›Kosmologie‹ (Hayles 1999: 95). Umschrift, Form von

99 Rosenblueth stellt das später fest: comment in WCW IV: 196; vgl. ebd.: 170. 100 Dieser Punkt wird beim kybernetisch geprägten Karl Deutsch hervorgehoben: »Cybernetics offers [...] a possibility of restoring to problems of purpose their full share of attention« (Deutsch 1963: 91).

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Verschwinden: Später erst ausdrücklich kybernetisch benannt, entfaltet ein reformuliertes Teleologie-Konzept bestimmte Reminiszenzen. Bei aller Rede von Zirkularität und Feedback liegt im protokybernetischen Konzept von 1943 kein ausdrücklicher Akzent auf Kreisbewegungen. Zwar keineswegs von Determinismus, aber von bestimmten Kausalitätstypen befreit herrscht noch immer ein in die Zukunft gerichteter (Zeit-)Pfeil: »The concept of teleology shares [...] one thing with the concept of causality: a time axis« (Wiener 1943a: 332). Hinsichtlich seines fixen, goalseeking feedback-Typs wird diesem frühen kybernetischen Kontext später Karl Deutsch eine »Aristotelian teleology« (Deutsch 1963: 92) nachsagen. Erst 30 Jahre später treten als ob-Figuren in kybernetikfiliativen Stängen auf, die dann das Konzept der Selbstorganisation betonen.101

101 Ausgehend auch von diesen »basic convictions of cybernetics« (Dupuy 1994: 7), konnte später erst das Emergenz-Konzept und das der Selbstorganisation einschließlich einer als-ob-Teleologie entstehen mitsamt einem Akzent auf positivem, nicht negativen Feedback. Eine erste zentrale Konferenz scheint hier nach Försters Ordnung aus Chaos-Prinzip von 1950 (1951: Macy 8 xiii) und vor Henri Atlans Konzept von 1979 (Atlan 1979) Arthur Koestlers 1968er Alpbach Symposium »beyond reductionism« zu sein (Teilnehmer Bertalanffy, Weiss, Hayek, Waddington): Dupuy 1994: 76, 103f; Hayles 1999: 78. Selbstorganisation folgt also erst einige Zeit später: »It is said of these systems that they are endowed with autonomy, that they are self-organizing, that their path tend toward attractors, that the have intentionality and directionality – as if their paths were guided by an end that gives meaning and direction to them even it has not yet been reached; as if, to borrow Aristotelian categories, purely efficient causes were capable of producing effects that mimic the effects of a final cause.« (ebd., vgl. ebd.: 18 zur Filiation; zum als ob, verschiedenen Richtungen der ersten Kybernetik in Verbindung zur zweiten: ebd.: 10). von Försters Rede von nicht-trivialen Maschinen spielt auf die erst später popularisierte Form von Turing-Maschinen an, der anfänglich behavioristische Kontext des Teleologie-Konzepts (Reaktion auf ein Signal, s.o.) wird erst durch Annahme einer intern informationsverarbeitenden Maschine verlassen (nicht-trivial, erst durch die aus der Kybernetik entstehende Computermetapher berührt). Erst dann kann von positivem Feedback (oder gar Pertubationen eines informationell geschlossenen Systems), gar von »Autonomie« gesprochen werden. Es wäre schlicht historisch falsch, bis heute dominierende Konzepte der Selbstorganisation mit ihrer beobachterspezifischen Einklammerung der teleologischen Komponente (als ob) mit den früheren, behavioristisch-kybernetischen Konzepten technischer Selbstregulation zu identifizieren, die das Beobachterproblem noch gar nicht aufwarfen (vgl. ebd.: 80). Vielmehr ist diese Einklammerung erst Spezifikum späterer Entwicklungen, nicht jedoch der ersten Kybernetik. In der historischen Diskursentwicklung mußten behavioristische Axiome erst von innen heraus rekonfiguriert werden mittels Wechselwirkungen innerhalb des Diskurses und seiner Stränge, deren Komplexität hier nicht dargestellt

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Schaut man sich die soziokulturelle Umgebung des Konzepts von 1943 an und die Beispiele des Texts, bleibt zur Konkretion des Terms purpose kaum mehr ein profan verstandener Endzweck stehen, findet sich selten mehr als der blanke Knochen einer conditio finalis – wohl auch eine Endlichkeitsfigur: »final condition, in which the behaving object reaches a definite correlation in time or in space with respect to another event« (Wiener 1943a: 332). Selbst wenn man abstrahiert vom Vorlauf des Konzepts unter dem Stichwort Voreilrückkopplung, wird auch textimmanent in fast allen Fällen in den Analysen ein gewaltsames Ende konnotiert, etwas das dem (eigenen, fremden, feindlichen) Tod nahekommt. Das wird in späteren Texten abstrakter hervortreten als schlichter Stoppunkt einer Finitheit eines spezifischen rückgekoppelten Prozesses, der additiv verkettbar ist: Ein finiter, zielgerichteter Verhaltens-Prozess und ein anderer und ein anderer etc. Vielleicht beginnt auch hier bereits eine kybernetische Epistemologie zu entstehen, die Fremdes im Eigenen und im Fremden hauptsächlich in den Blick bekommen, analysieren und konzeptualisieren kann als kontingentes Rauschen, das mittels Fehlerkorrektur und regulierender Kontrolle bestmöglich zu reduzieren ist.102 Bemerkenswert ist eine Erweiterung von Zugriffsoptionen auf Linien zwischen Organismus und Maschine, in kriegerischer Sicht und unter Verwertungsaspekten. Bemerkenswert sind zugleich Beschränkungen – das, was aus dem neuen Konzept spätestens an den Orten der ›Nicht-Klassen‹ herausfallen muß. Schmaler Saum der Inklusion, (noch) nicht verwertbare Ränder: Traditionelle Form des Exkludierten, aber auch konzeptuelle Exklusion alles nicht Verwertbaren (passiv, nichtzielgerichtet, nichtautonom, nichtvorausplanend). Insofern führt auch dieses Element späterer Kybernetik wohl nicht hinaus aus dem, was Foucault Biomacht nennt.103 Es stellt neue Techniken einer Potenzierung, Verflüssigung und Ausweitung bereit.

werden kann. Der Rekurs des kybernetischen Frühtexts ist nicht zufällig oder unüberlegt anachronistisch, sondern symptomatisch. 102 In der kompromißlosen, anfänglichen Form wird sie später, im realpolitischen Block-Containment, im Ergebnis eingepegelt durch spieltheoretische Konzepte sog. win-win Situationen: Gleichgewicht des Schreckens, bei dem beide Seiten gewinnen; optimale Wertschöpfung für die eigene und für beide Seiten entsteht angesichts einer potentiellen eigenen Vernichtung und der des Feindes. 103 Wo von Ziel und Soll-Wert gesprochen wird, könnte die Rede nicht nur von zukunftsgerichteter Leistungsorientierung, sondern auch von zukünftigem MehrWert sein. Was dann zielführend zählt, ist eine spezifisch ausgerichtete und anschlußfähige, grundlegend optimierende Produktivierung bereits an sich produktiver Prozesse. Vgl. zu Versuchen computergestützten Lernens: Pias 2004: 29. Welche konkrete Leistungsorientierung bei ersten Texten zu telelearning im Hintergrund gestanden haben mag, wird auch in kybernetischen LernOptimierungs-diskursen dieser Zeit deutlich, z.B. beim Verhaltensbiologen Felix von Cube. Nach Einführung in die Kybernetik von 1966 entsteht 1968 Ky-

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2.4 Verantwortung: Human Use of Human Beings (1950) »Die Macht bindet den Körper und das manipulierte Objekt fest aneinander [...] Es geht weniger um Ausbeutung als um Synthese, weniger um Entwindung des Produkts als um Zwangsbindung an den Produktionsapparat« M. FOUCAULT, 1975 »Der Computer ist unser Kind, er ist daher auch unsere Verantwortung!« K. NICKEL, 1971104 »Wir haben zu der Einführung einer neuen Wissenschaft beigesteuert, die [...] technische Entwicklungen mit großen Möglichkeiten für Gut oder Böse umschließt.« N. WIENER, 1950 »These new Technologies will require a whole ethics to be elaborated [...] But to speak of ethics [...] the will – is this not to speak of the triumph of the subject?« J. P. DUPUY

Einige Texte des Technikphilosophen Gilbert Simondon sind wichtiger Bezugspunkt von Überlegungen Gilles Deleuze. Simondon schrieb teils parallel mit der Popularisierung der ersten Kybernetik – und auch über sie. In einem Text von 1954 betont er einen besonderen kulturhistorischen Stellenwert von Fragen nach Finalität, Ziel- und Zweckorientierung für kybernetische Modelle und ihre Umsetzung.105 Ein bestimmter, oft übersehener Zug von Kybernetik wird thematisch. Problem für Simondon ist die im vorge-

bernetische Grundlagen des Lernens und Lehrens. Cube tritt jüngt hervor mit Titeln wie Führen durch Fordern – Die BioLogik des Erfolgs; Lust an Leistung – Die Naturgesetze der Führung; Fordern statt Verwöhnen – Die Erkenntnisse der Verhaltensbiologie in der Erziehung. Vgl. zur ›kybernetischen Biologie‹, ›teleonomischen‹ Lernprozessen: Hassenstein 1971. 104 Vgl. die Computer-Charakterisierung Nickels zwischen »Weihnachtsmann« und »Sündenbock« (»in früheren Jahrhunderten hatten wir Bilderstürmer, heute gibt es Computer-Pogrome«) Nickel 1971: 394. Vgl. den Hinweis auf das frühe Virus Kill Hydra als Beispiel eines »Missbrauchs« der Technologie: ebd.: 395. 105 Wie weit die Popularisierung nach Cybernetics ging, verdeutlicht C. Olsons mit kybernetischen Termen arbeitendes Gedicht: Heims 1991: 271.

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stellten Teleologie-Modell ausgeblendete Frage nach der genaueren Charakterisierung einer bestimmten Position innerhalb der Konzepte. Genauer die Frage nach der jeweiligen Instanz zur konkreten Setzung und Bestimmung von Zielpositionen in selbstregulierten, negativ rückgekoppelten Regelkreisen.106 Von woher kommt der konkrete Sollwert eines kybernetischen Systems überhaupt genau, wie wird er bestimmt?107 Die Position, die das jeweilige kybernetische Ensemble jeweils fungibel und veränderbar gestaltet, in dieser Fungibilität ausrichtet, bleibt im Modell unbestimmt, wird rein formal angesprochen. Wie technisch formal diese Position auch immer vorgestellt wird, das bedeutet nicht, daß sie nicht auch durch traditionellere Formen besetzt werden könnte. Simondon gibt implizit eine Anwort: »Cybernetics [...] frees man from his immemorial fascination with the notion of finality [or teleological purpose]. Whereas appeal to a higher end, and to the order that realizes this end used to be considered the final step in an attempt at justification – since at a time when technological processes were merely causal, life was confused with finality – the introduction of technological schemas of finality plays a cathartic role. Nothing that can be fabricated can provide a final justification« (Simondon 1954: 104/105).108

Für Simondon wird Kybernetik in menschheitsgeschichtlicher Perspektive zu einem spezifisch bestimmten Ort, einem Umschlagspunkt. Wo die technologische Fabrizierbarkeit eines formal technisierten Finalitätskonzepts erscheint, können bisherige Finalitätsformen und verbundene Probleme zu schillern beginnen in ihrer vermeintlichen Natürlichkeit. Der Mensch kann heraustreten aus seiner früheren Unterordnung unter fremdgesetzte Ziele und Zweckbestimmungen. Das gilt u.a. für seine soziale Organisation, konkrete Ausrichtungen seiner bisherigen sozialen Organisations- und Totalitätsformen, deren vorherrschende Formen der Anordnung von Elementen – und für Naturalisierungsstrategien, die hierbei bisher notwendig wurden. Soziale Organisation wird im kybernetischen Kontext zwar nicht grundsätzlich disponibel, aber für den Menschen gestaltbar. Sie kann mit eigenen Zielen versehen werden. Eine neue Form der ›Modernisierung‹ (Krämer 2005) tritt auf: Mittels seiner neuen Maschinen ist es nun der Mensch selbst, der

106 Ashby spricht später, kurz vor ersten Verzweigungen zur Kybernetik 2. Ordnung davon, daß, »einem technischen Regelkreis [...] das Ziel durch andere Erwägungen gegeben« wird, allgemein »vorausgesetzt« ist »daß von außerhalb kommende Erwägungen bereits festgelegt haben, was das Ziel ist.« (Ashby 1956: 317) 107 Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß das konkrete, allgemeine ›Ziel‹ kybernetischer Apparate politisch hauptsächlich in der Herstellung gesellschaftlicher Stabilität, ›Homöostase‹ lag, wie Hayles betont (Hayles 1999: 64). Ob es das allein war und in welcher Hinsicht ist eine andere Frage. 108 Zitiert nach Dupuy 1994: 127.

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aus vormaliger Subordination und Passivität heraustreten kann, entwerfend aktiv wird. Er kann selbst beginnen, bestimmende Zielsetzungen zu entwickeln. Zum einen durch den Umweg über die Fabrikation ziel-/zweckorientierter, technologischer Schemata und Technologien. Zum anderen über konkrete, technisch mediierte Zielsetzungen des jeweiligen Sozialen selbst. Beides tritt verknüpft auf. Simondon hierzu: »Man escapes the condition of being subordinated to the finality of the whole in learning to fabricate finality, to design and fashion a purposive whole that he assess and evaluate, in order to avoid having to submit passively to a preexisting state of affairs. Cybernetics [...] liberates man from the prison of organization by giving him the capacity to judge it [...] in being able for the first time to consciously shape finality, man transcends his subordination« (Simondon 1954: 103).

Nicht nur lernt der Mensch für Simondon ausgehend von kybernetischen Systemen neue Formen des Entwurfs kennen. Er kann dabei auch erkennen, daß er selbst es ist, der den jeweils konkreten Sollwert eines Systems zu geben vermag, ihn jeweils setzt. Weniger als ein einzelner Mensch entwirft hierbei die Menschheit, die Gattung. Und zwar nicht nur allgemeine Sinnund Zielhorizonte, sondern letztlich auch sich selbst. Und zwar teilweise, in Zukunft dann prinzipiell wohl auch ganz buchstäblich materiell. Zwei Jahre nach Simondon wird ein Aspekt dieses Gesichtspunkts bei H. Schaefer als zentrales Differenzierungskriterium zwischen organischen und technischen Regelungssystemen identifiziert: Bei technischen Apparaten gilt nun, gut subjektphilosophisch, »der Sollwert der Regelung [als] ›psychologisch‹ bestimmt«. Denn diese Apparate sind »für geplante, zwecksetzende Eingriffe konstruiert« (HWP 8: 493). Daß dieser Sachverhalt auch im Umfeld der Macy-Konferenzen ähnlich aufgenommen wurde, deutet nicht zuletzt die Aussage eines Teilnehmers an, des einzigen disziplinären Philosophen im Feld. F. S. C. Northrop gegenüber Norbert Wiener:109 »Mit dieser ganzen Ideologisiererei (den sozialen Implikationen der Kybernetik) wird doch nur im Nachhinein das wüste machtpolitische Aufeinandereindreschen bemäntelt und rationalisiert. Wenn man das einfach stillschweigend hinnimmt, führt das zur

109 Vgl. zu Northrop: Dupuy 1994: 105. Er vertrat, u.a. kulturvergleichend, die Ansicht, daß seine zugunsten einer Theory of the Ends of Human Action wissenschaftlich ermittelten, institutionell und ethisch gute Normen nicht allein auf Weltfrieden hinauslaufen sollten, sondern auch, daß sie mit jeweils verhandelten Dingen in Übereinstimmungs-Relation stünden: Heims 1991: 266. Zu seinem z.B. gegenüber Mead universalistischen Hintergrund, der auf kulturelle Homogenisierung, die Herausbildung einer Weltreligion, einer Weltphilosophie hinauslaufen sollte: ebd.: 268-270. Zu weiteren Hintergründen des Philosophen Northrop, der seine Dissertation über Organisation in Biologie auf dem Hintergrund homöostatischer Mechanismen schrieb: Heims 1991: 262f.

272 | B LACK B OX C OMPUTER Fortdauer einer Situation, in der statt kundiger Wissenschaftler die Machtpolitiker, die Militaristen, der Maschine grundlegende teleologische Anweisungen geben«.110

Neben diesen implikationsreichen Sätzen betont Northrop im Kontext zugleich seine Überzeugung, als allgemeinstes Ziel negativ rückgekoppelten Verhaltens sei eine Befolgung kultureller Normen anzusetzen – daß bei »purposive behavior with negative feedback [...] the goal to be attained is compliance with a cultural norm or ideology, which are themselbes ideas.« (Heims 1991: 268). Im Kontext gelten diese und andere Ideen bereits als in Neuronen verkörpert, die »particular determine human behavior« (ebd.). Wie in Kürze genauer zu sehen sein wird, finden hier Rückgriffe statt auf McCulloch/Pitts protokybernetische, neurophysiologische Theoreme. Grundzüge einer Neuroethik entstehen, diskursive Fundamente zur ethischen Einschätzung invasiver Verfahren, die parallel erstmals in neuen Zügen denkbar werden. Bereits kurz nach Namenstaufe, 1949, tritt Kybernetik in ihrem sich stetig popularisierenden Selbstverständnis ein in zwei punktierte Linien: Es besteht die Gefahr ihres Mißbrauchs durch ›dunkle Mächte‹ – prinzipiell aber wird in ihr die Chance menschheitlicher Befreiung erkannt. An den Enden beider Linien ist ›der Mensch‹ positioniert. Bereits im Umkreis der MacyKonferenzen entsteht eine kybernetische Selbstwahrnehmung, daß es die Gemeinschaft der Kybernetiker selbst ist, die sich in ihrem hier noch esoterischen Zirkel allgemeiner Ziele annehmen müssen. Aus ihren Ideen soll keine Welt entstehen, die gewissermaßen von robotenden Menschen bevölkert ist – vielmehr sollen menschliche Roboter entwickelt werden können. Später erst entsteht das Konzept ›Cyborg‹. Bereits der Geist der Macy-Foundation bahnt in seinem neutralen Jargon Wege zu dieser kybernetischen Selbsteinschätzung: Die institutionelle Zielsetzung der Stiftung bestand von Beginn an in einer Suche nach ›operationalisierbaren praktischen Konzepten organismischer Annäherungen an Phänomene lebender Organismen‹, um sie re-interpretierbar werden zu lassen.111

110 Zit. nach Kay 2001: 180. Vgl. McCulloch, der über die Macy-Konferenzen berichtet als einen Kampf gegen »post-hegelianische Ideologien, von denen wir keine Ahnung hatten außer ihrer erfolgreichen Anwendung in Maschinen des Todes und der Zerstörung« (McCulloch 1953: 337). 111 Janich spricht von einer materialistischen Naturalisierungsstrategie der »Reduktion des Menschen auf das Tierische und des Menschen und des Tiers auf das Organismische, letztlich maschinentheoretisch Modellierbare« (Janich 2006: 55), einer mit »einem universellen Alleinvertretungsanspruch« auftretenden »Technikwissenschaft der zielverfolgenden Maschinen [...] die ihrerseits die Modelle für die natürlichen Aspekte von Tieren und von Menschen liefern, sofern diese wiederum als Organismen mit Maschinenmodellen beschrieben werden« (ebd.). Er greift hier bereits teilweise auf Theorien der Kybernetik 2. Ord-

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Selbst der ansonsten sehr zurückhaltende Macy-Teilnehmer Walter Pitts beschwört auf den Macy-Konferenzen ein ›Wir‹ rund um die bis dato noch nicht öffentlich wahrgenommenen Kernbestände des Diskurses, oder, wie es Dupuy beschreibt, rund um den »secret treasure, for which he and other cyberneticians had taken personal responsibility – a precious gift, sent from above« (Dupuy 1994: 54). Um die kybernetischen Konzepte und die parallel Konturen annehmende, noch riesige Materialität der ersten ›universellen Maschinen‹ wird in Folge der ›Schatz‹ des Diskurses zusehends öffentlich, populär, nicht zuletzt nach Wieners Cybernetics-Monographie, ab 1948. In Folge eines immer populärer werdenden kybernetischen Diskurses werden in Folge auch Fragen der Bestimmung und des Verhaltens zentral, beginnt Ethik auf den Plan zu treten: Nicht allein Texte Norbert Wieners aus dieser Folgezeit unterstreichen Simondons Vermutungen zum kulturhistorischen Stellenwert der Kybernetik – indem sie bei Befürchtungen wie denen Northrops ansetzen. Versucht wird, aus dem sich in Pitts Statement artikulierenden Problembewusstsein der ehemaligen kybernetischen In-Group ein anschlußfähiges, öffentlichkeitspraktikables Programm zu entwickeln. Es läßt bis hinein in späte Texte Wieners den Macy-Geist nachhallen. Hierzu beigetragen haben aber nicht nur Texte Norbert Wieners als großer kybernetischer Popularisierungsinstanz. Steve J. Heims hat darauf hingewiesen, daß der kybernetische Diskurs selbst unter dem Eindruck des amerikanischen ›New Deal‹ und des zeitgenössischen Keynesianismus entstanden ist. Beide hatten gezeigt, daß »conscious social programs – whether instituted by government or private foundations – could ameliorate the human condition« (Heims 1991: 170). Diese Vorstellung einer Verbesserbarkeit der human condition durch soziale Programme wird durch den kybernetischen Diskurs keineswegs hinterfragt. Neue Programme humanen Selbstentwurfs treten technologisch amplifiziert auf, werden auf neue Weise artikulierbar: »scientists at the Macy meetings [...] regarded it as an obvious truth that research in psychiatry, sociology, and anthropology could provide the scientific knowledge base needed to achieve the desired humane objectives. Cybernetics, information theory, and game theory were to advance scientific understanding of people and societies« (Heims 1991: 170)

Der kybernetische Diskurs ist in den USA in einer politischen Großwetterlage entstanden, in der keynesianische Programme verfolgt wurden. Im Weltkriegszusammenhang wurden humane soziale Totalitäten betont. Der kybernetische Diskurs ist zu gleichen Teilen kompatibel mit zeitgenössischem Liberalismus und Keynesianismus und läßt mitsamt seinen Effekten

nung vor, wenn er im gleichen Atemzug Theorien der Emergenz kritisiert (ebd.: 56, aristotelisch, handlungs-/zweckorientiertes Gegenkonzept: ebd.: 65, 66, 143f, 166).

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Rekonfigurationen deren jeweiliger Basis zu.112 Auch auf diesen neuen Fundamenten können dann, abermals in Wechselwirkung, später neue kybernetische Programme entstehen, z.B. der Kybernetik zweiter Ordnung im Kontext eines erstarkten Neo-Liberalismus Mitte/Ende der 1970er Jahre. Zuvor aber ist nicht allein von Neumanns Spieltheorie von 1943 bereits eine von mehreren Schnittstellen zu und Rekonfigurationselement von zeitgenössischen (markt-)liberaleren kybernetischen Kontextualisierungen und deren stetig neu ausbuchstabiertem Vorrang spezifisch individualisierender Technologien.113 Zugleich gewinnt im ersten kybernetischen Diskurs eine bestimmte, moderne Rationalisierungsdynamik, gewinnen bestimmte Rationalitätstypen neue Formen. Parallel werden neue Medien als hierzu prinzipiell kompatibel sichtbar, beginnen als spezifisch nutzbare, neue Instrumente aufgefaßt zu werden und sich anzubieten. In beiden Fällen entsteht ein rekonfigurierter Boden politischer, neuartig ›wissenschaftlich‹ fundierter, nicht zuletzt humaner Selbstentwürfe mit neuen human objectives. Norbert Wiener beginnt bereits ab 1950 dem Geschehen durch und in Gefolge der ersten Kybernetik eine über das ›Ganze‹ vermittelte Selbstzweckgebung, eine weitere Kreisbewegung zu verordnen. Der Kontext soll durch ethische Fragen gekrönt sein rund um Individuum, ›race‹ und ›Verantwortung‹. Bereits 1948 – zeitgleich mit dem Aufkommen eines regulierten kybernetischen Diskurses und der Herausbildung der von-NeumannArchitektur bei Rechenmaschinen – wird unter leitendem Einfluß der Kybernetiker und Macy-Partizipanten Frank, Mead und Fremont-Smith dann u.a. die World Federation for Mental Health (WFMH) gegründet. Finanziell unterstützt wird sie durch die Macy-Foundation zusammen mit der USamerikanischen und britischen Regierung. 1943, im US-amerikanischen National Committee for Mental Hygiene, war bereits eine international tätige Organisation für die Nachkriegszeit geplant worden. Im Bericht zu einer zentralen Vorbereitungskonferenz des sich globalisierenden Committee wird »human nature« bestimmt als »much more plastic and flexible than has been heretofore recognized« – Licklider/Taylors spätere, teils noch visionäre Charakterisierung des Computers als »plastic and moldable medium« (Licklider/Taylor 1968: 22) scheint hier bereits teils vorbuchstabiert zu sein.114 In

112 Vgl. zu einer analog zu ›Regulation‹ verfahrenden Aufarbeitung von ›Planung‹, einschließlich Gegenüberstellung: van Laak 2006. 113 Vgl. Heims 1991: 178: Hier gelten neben dem Rosenblueth/Wiener/BigelowModell auch das McCulloch/Pitts-Modell, die informationstheoretische Kommunikationstheorie und die Spieltheorie als atomisierende Individualisierungstechnologien. Aus diesen kybernetischen Ingredienzen sollen inspirierte, spätere Theorien Lazarsfelds und Parsons’ (Gleichgewichtszustände) immer stärker gesellschaftliche Ebenen ins Spiel bringen. Vgl. auch Dupuy 1994: 156/157f. 114 Später heißt es: »Creative interactive communication requires a plastic or moldable medium the can be modeled, a dynamic medium in which premises will flow into consequences, and above all a common medium that can be con-

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präziser Analogie zwischen Individuum und Gesellschaft heißt es im Bericht von 1943, daß »the goal of mental health has been enlarged from the concern for the development of healthy personalities to the larger task of creating a healthy society« (Heims 1991: 173).115 In einem ausdrücklich kybernetisch geprägten, sich stetig ganz buchstäblich globalisierenden, ›programmatischen‹ Diskursstrang beginnt menschliche Natur ausdrücklich als artifiziell und formbar zu gelten.116 Auch hierdurch vermittelt erscheinen neue Individual- und Gesellschaftsnormen am Horizont. Beginnt hier eine im Selbstverständnis ›neutrale‹ und ›apolitische‹ Kybernetik eingesetzt zu werden zugunsten einer Transformation der »political and foreign policy issues in terms of mental health«? Und zwar aus dem Grund, eine »liberal humanistic alternative to the Marxist view« (ebd. 175) entstehen zu lassen?117 Heims interpretiert die neuen, ersten kyberneti-

tributed to and experimented with by all. Such a medium is at hand – the programmed digital computer. [...] The importance of improving decision making processes – not only in government, but throughout business and the professions – is so great as to warrant every effort. […] [A] particular form of digital computer organization […] constitutes the dynamic, moldable medium that can […] improve the effectiveness of communication« (Licklider/Taylor 22/25). 115 Vgl. Heims 1991: 170ff. Das Joint Committee on Post War Problems and Opportunities hatte Frank als Vorsitzenden gewählt. Bereits im Februar 1944 hatte eine informelle Gruppe um Frank, Kubie, Fremoth-Smith, Mead, Bateson und Lewin auch Probleme des Umgangs mit dem besiegten Deutschland diskutiert. In der Nachkriegszeit waren d die Macy-Teilnehmer Mead, Brosin, Harrower, Kluckhohn unter dem Vize-Präsident und Vorsitzenden des Exekutivkomittes, Fremont-Smith im Verwaltungsrat des International Committee on Mental Hygiene vertreten, das seit 1909 durch Gründung durch Clifford Beers und William James bestand (Ramchandani 1998). Sie bereiteten u.a. die ebenfalls durch die Macy-Foundation, die britische und US-amerikanische Regierung getragene, in Verbindung mit der WHO vorgeschlagene (ebd.) VorbereitungsKonferenz zur WFMH von 1947 in London vor, wobei ihnen 351 Vorbereitungsgruppen mit 4000 Menschen in 35 Ländern zuarbeiteten. In der Zusammenfassung des reports zur Konferenz heißt es: »human nature [...] is much more plastic and flexible than has been heretofore recognized [...] the social, political, economic, legal and other aspects of society should be reexamined in terms of the dynamic theory of personality [...] research must be conducted is such a way that the psychiatrist and social scientist are brought into the closest possible contact with the administrator and political leader [...] The goal of mental health has been enlarged form the concern for the development of healthy personalities to the larger task of creating a healthy society« (Heims 1991: 173). Das WFMH-Gründungsdokument nennt sich lapidar »Mental Health and World Citizenship« (Ramchandani 1998). 116 Vgl. Heims 1991: 178. 117 Vgl. umgekehrt protokybernetische Elemente bei Marx: Heims 1991: 178.

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schen (Sozial-)Technologien als liberal-humanistische Kompensationstechnologien kapitalistischer Kolonisierung, als Ausdruck und Movens einer zeitgenössischen Form der Pax Americana. Sie mündet in einen Einschluß, der zeitgenössischen Containment-Doktrin gegenüber dem großen (politischen) Anderen, dem kommunistischen Block (Edwards 1997): »The imlicit premise was that [...] techniques of mental health were appropriate means of resolving the political conflicts generated by aggressive, expanding American capitalism impinging on indigenous societies. The hidden political agenda was the U.S. policy of containing communism« (ebd. 174).

Bereits 1943, nach ersten Vorstellungen des proto-kybernetischen Texts zu negativem Feedback und technisch zu implementierenden, automatisierten Teleologie-Konzepten, entsteht eine schillernde Lage. Faktisch werden die in diesem Text zu Verhalten, Zielgerichtetheit und Teleologie kulminierenden Forschungen und Forschungsergebnisse zum AA-p-Apparat der Gruppe um Wiener/Bigelow einen kybernetischen Diskurs in zentralen Punkten prägen, der immer deutlicher im Entstehen begriffen ist. Parallel entstehen stetig u.a. neue Strategien militärischer automatic control, frühe Apparate des amerikanischen SAGE-Interkontinental-Rakten-Frühwarnsystems werden vorbereitet,118 Vorläufer des ArpaNet, aus dem später, in der Hochzeit der Kybernetik zweiter Ordnung, das Internet hervorgehen wird. Der erste kybernetische Diskurs besitzt ab 1948/1949, ab der ausdrücklich kybernetischen Namensgebung der Macy-Konferenzen, eine ausgebildete erste Regelhaftigkeit.119 Flankierende Popularisierungen artikulieren in spezifisch gewendeter Form humanistisch getönte Diskursstellen. Auch hier dominieren kontrollierbare Entwicklungen: Appelle an verantwortliches, humanes Handeln und zielführende Erziehung werden u.a. bei Wiener lanciert.120 Gefahren sollen gebannt werden – z.B. die Gefahr, eine neue, potentiell mit kybernetischen Mitteln entstehende, automatisierte »Regierungsmaschine«, nicht in neuem »Faschismus« (Wiener 1952: 195) enden zu las-

118 Eine digitale Generation des differential-analyser ist ab 1940 auf Nachfrage Wieners bei Bush entstanden, frühe Whirlwind-Computer, Vorstufen des späteren SAGE-Programms. Vgl. zum SAGE-Programm im Kontext der Entwicklung des Computers und der Containment-Doktrin: Edwards 1996. 119 Vgl. McCulloch 1953; zu Schwierigkeiten, eine gemeinsame Sprache zu finden, zu Ausschlußmechanismen: Pias 2004a: 12/13, 15. 120 Vgl. zu weiteren Strategien, auf Autorebene, Heims 1991: 176/177. An dieser Stelle wird oftmals auch eine Differenz unterstrichen zwischen dem technokratisch-militaristischen Gebrauch der neuen Maschinerie durch Personen wie von Neumann vs. ethisch-humanistisch geläuterten Warnern wie Wiener (vgl. Heims 1994). Die vorliegende Text betrachtet beide Richtungen als grundiert in einem kybernetischen Diskurs, sie sind nicht voneinander separierbar.

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sen.121 Um befürchtete Gefahren wie diese zu bannen, soll ›die Menschheit‹ sich und ihren neuen Technologien ein ›menschliches‹ Ziel geben können. Wo aber noch keine soziale Informatisierung stattgefunden hat, ist die vorgestellte Gefahr in ihren grundsätzlichen Zügen überhaupt noch nicht unmittelbar einleuchtend und verständlich, es herrscht noch ein »imperfect understanding of the structure and mode of operation of modern machines« (Wiener 1960: 718) vor: Eine Ausbildung ›des Ganzen‹ und seiner Teile wird angeregt – Norbert Wiener bereits 1950 hierzu: »Das Beste, was wir für die Bevölkerung im Großen erhoffen können, ist eine lange und wahrscheinlich unwillkommene Erziehung in den Naturwissenschaften mit ihren politischen Hintergründen und in den uns unmittelbar drohenden Gefahren. Für Wissenschaftler und Gelehrte wie mich ergibt sich die Aufgabe, diese Erziehung durchzuführen« (ebd.).

Denn Wiener zufolge haben die zeitgenössischen geisteswissenschaftlichen Intellektuellen die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung im Allgemeinen und im Besonderen die kybernetisch geprägten Entwicklungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit schlicht verschlafen. Er spricht in Bildern eines zeitgenössischen Romans: »Die zarten und verfeinerten Wesen hatten sich so daran gewöhnt, von einer größeren und brutaleren Rasse aufgefressen zu werden, daß sie ihr Schicksal als natürlich und ihnen gemäß hinnahmen und die Axt willkommen hießen, die ihnen den Kopf abschlug« (Wiener 1952: 149).

Manichäisch wird die Entscheidung beschworen: »Die Stunde drängt, Gut und Böse pochen an unsere Tür; wir müssen uns entscheiden« (Wiener 1952: 194). Eine neue Basis an Axiomen, die kybernetischen, sollen beginnen zwischen Geistes- und Natur-/Ingenieurswissenschaften zu vermitteln, eine ›neue Kultur‹ hervorzubringen.122 Auch hierzu soll ›Erziehung‹ dienen. In der deutschen VDI-Zeitschrift hatte bereits 10 Jahre zuvor, 1940, Hermann Schmidt ähnliches ausbuchstabiert unter dem Stichwort »Schaffung einer allgemeinen Regelungskunde« in »synthetischer Funktion« (Schmidt 1940: 81, 85). Neben allgemeinen ›technischen Regelungsaufgaben‹ und spezifischen Vorschlägen zum Staat als »Regler des freien Kräftespiels« steht dort »Regelung in der Pflanze, beim Tier und beim Menschen«

121 Vgl. zum Versuch Wieners einer Wiedereinschreibung von Kybernetik in ein liberal-humanistisches Projekt, des ›Selbst‹ in die Maschine: Hayles 1999: 86f, sowie den dortigen Anschluß an Otto Mayr und James Beninger: ebd.: 90. 122 Snows third culture (1959) wird jüngst kybernetisch rekontextualisiert: »Snow erscheint fast wie ein zu spät gekommener Epigone Wieners« (Hagner 2008: 46)

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im Zentrum, durch »eine gemeinsame Sprache« (ebd.: 86) hindurch wird ähnliches vorgeschlagen: »Angesichts der Vollendung der technischen Welt werden wir zu einer Wissenschaft geführt, in der die Kategorien der Naturwissenschaften [...] sich mit denen der Geisteswissenschaften, unter ihnen vor allem die Begriffe der Gestalt und der Finalität, unter einer höheren Einheit zusammenfinden. Damit aber schicken wir uns an, den wichtigsten Beitrag zur Einheit unserer Wissenschaften im Ganzen unseres Kulturbewußtseins zu leisten, zu einer Einheit, die auch die Technische Hochschule und die Universität zu einer Gesamtanstalt deutschen gestaltenden und erkennenden Geistes verbinden wird« (Schmitt 1940: 88).

Es ist u.a. das Verhältnis der jeweils gewählten Zukunftsperspekte zur jeweiligen Gewichtung des Subjekts, das den neueren kybernetischen Ansatz vom älteren, deutschen, ›regelungstechnischen‹ unterscheidet, der parallel zu den Anfängen des kybernetischen Diskurses enstanden ist. Beim deutschen Weg, in den »Grenzen des neuen deutschen Wirtschaftsraums« (ebd.: 88), findet 1940 auch hier projektierte WissenschaftsUnifizierung allerdings fast schicksalshaft statt, gewissermaßen mittels eines (Regelungs-)Technik-Geschicks. Hier steht kein Menschheits-Subjekt, sondern die Befreiung eines völkisch-nationalen Subjekts aus bisherigen, entfremdenden Bindungen an Maschinen zur Disposition. Aber auch hier ist eine »Brücke, auf der sich Natur und Geist begegnen« (ebd.) im Entstehen. Was unter dem deutschen Motto »Bekanntes zu erfinden, ist unverantwortliche Vergeudeung besten nationalen Gutes« (ebd.: 86) in Rekurs auf Leibniz und Maxwell (ebd.) mitten im 2. Weltkrieg im Raum steht, ist dennoch kein einfacher reaktionärer Weg zurück zum Handwerk. Vorgestellt wird das »hindurchschreiten« durch eine neue, ebenfalls als potentiell emanzipativ gedachte Technikform – hin »zur vollständig selbsttätigen Lösung des technischen Problems, die das Subjekt aus dem Bereich der technischen Mittel entläßt und in Freiheit setzt« (ebd.).123 Was nun aber zum Erreichen dieser reichsdeutschen Vision zählt, sind keine Anreize des Bedenkens, sondern eine unbeirrbare Konsequenz in der Umsetzung des Neuen: Damit erhält »mitten im zukunftsgewissen Erleben des Entstehens des großdeutschen Sozialstaats [...] der Techniker in der Förderung der Regelungstechnik [...] einen sozialpolitischen Auftrag höchster Verantwortung« (ebd.). Die deutschen Regelungstechniker stehen vor Aufgaben, die »naturgemäß sind« – sie stehen »bei alledem in dem höheren Dienste der Natur«, einem »Weg der Natur durch uns hindurch« (ebd.). In Deutschland wird damit 1940 »Regelung« zum »Grundproblem des Lebens«. Der VDI widmet der »grund-

123 »Durch die Regelungstechnik wird die natürliche Rangordnung zwischen Leben und Maschine wieder hergestellt, die Tyrannei der Maschine beseitigt und unmöglich gemacht. Die Maschine hat die soziale Frage der europäischen Völker geschaffen, die Regelungstechnik löst sie.« (ebd.)

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sätzliche[n] Bedeutung der Regelungsvorgänge für das Leben« (ebd.:81) eine ganze Vortragsreihe. In der späteren BRD wird Hermann Schmidt 1965 einen wegweisenden, implizit geläuterten Text veröffentlichen – über die anthropologische Bedeutung der Kybernetik (Schmidt 1965). Bis in die 90’er Jahre hinein wird er im deutschsprachigen Raum gemeinsam mit Wiener als Ahnherr der Kybernetik behandelt (vgl. z.B. Pietrovski 1994). Allerdings mit Einschränkungen: Vorherrschend wurde der US-amerikanische, kybernetische Weg und dessen Selbstverständnis. Der aber ließ den früheren deutschen Automaten- und Automatismus-Optimismus wenn überhaupt, dann nur sehr gedämpft auftreten. Wo im reichsdeutschen Zusammenhang optimistisch ein Geschick betont wurde, begann hier, ›liberaler‹, eine Betonung des Subjekts. Subjekte sollen einen prinzipiell ähnlich skizzierten Zukunftsprozess weniger laufen lassen als ihn selbst steuern und kontrollieren. Der ethisch bedachte Einsatz der neuen Technologien – eine reeducation des Subjekts innerhalb neuer technologischer Prozesse und zugunsten passender Verständnisse – soll hier nun umgekehrt befürchtete totalitäre Gefahren bannen. Es sind auch solche Gefahren, die hier potentiell aus diesem Prozess selbst entstehen können sollen, die ihn auch aus diesem Grund überhaupt erst zur humanen Betreuung prädestinieren. Nicht nur im Bereich der zeitgenössisch parallel und mit ›kybernetischer Unterstützung‹ entstandenen Massenvernichtungswaffen, sondern auch im Bereich der neuen (Computer-)Technologien selbst stehen nun ausdrücklich bestimmte Begleit-Vorstellungen im Raum. 1961 wird von Wiener ein allgemeines wissenschaftliches Forschungsethos, ein »good scientific institute« (Wiener 1960: 775) der »social responsibility« (ebd.) angeregt, das im Kontext auf eine verantwortlich eingerichtete menschliche Zukunft zielt. Gegenüber der Einrichtung des Überlebens der menschlichen Rasse (race), die »socially minded« (ebd.) umzusetzen sein soll, wird eine prinzipielle Insignifikanz individueller Zwecke und Bestrebungen betont: »Our purpose in life must go beyond that of continued individual existence [...] Perhaps we may supplement it by the demand for continued racial existence. [...] The records of geological history are as full of extinct races as our own experience is of dead individuals« (Wiener 1960: 773).124

124 Vgl. zur Argumentation, die im Rekurs auf Claude Bernard vorgetragen wird: Wiener 1953a: 386, Wiener 1953b: 391; »Das Individuum ist ein Zeiger, der zeitlich in eine Richtung deutet, und die Rasse ist gleichermaßen von der Vergangenheit in die Zukunft gerichtet« (Wiener 1968: 59). Vgl. zum Verantwortungsbegriff Wieners, der – wie im Fall des Flüchtlings Haldane – bereits früh in Kontexten einer »private philanthropy« stand: Wiener 1935: 927. Im Fall der wissenschaftlichen Flüchtlinge wird sie monetär, als price worth the gain thematisch, solche capitalization ist ein »price well worth paying«: Wiener 1934: 925.

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Längst ist noch keine, u.a. (neo-)liberal kompatible ›KybernEthik‹ (Förster) entstanden: Bereits bei den für das Entstehen der Kybernetik ausschlaggebenden, frühen, proto-kybernetischen Texten u.a. Wieners – und nicht nur dort – ist ein Auseinanderdriften diskursiver Elemente bemerkenswert zum unmittelbaren Einsatz skizzierter Technologien einerseits. Andererseits propagieren abseits davon weitere diskursive Elemente im selben Diskurs die praktische Nutzung seiner potentiellen Ergebnisse nur unter Vorbehalt verantwortungsvollen Handelns und einer passgerechten Propädeutik, Erziehung. Beide, pragmatisch-affirmative und moralisch-kritische Elemente des Diskurses, beziehen ›den Menschen‹ als Objekt und Subjekt mit ein. Bereits die kurz auf Wieners Cybernetics folgenden Monographie, im deutschen Mensch und Menschmaschine, trägt den Untertitel Kybernetik und Gesellschaft (Wiener 1952). Der englische Originaltitel artikuliert das neue Problemfeld noch deutlicher: Hier geht es ausdrücklich um ein human use of human beings (Wiener 1950a).125 Wiener schreibt nach Cybernetics »ein ähnliches Buch für Laien«, das »mathematische Symbolik und Ideen soweit wie möglich vermeiden« soll, dafür dann aber »die nicht unbeträchtlichen sozialen Folgerungen meines Standpunkts betont« (Wiener 1950a: 11). Auf das weitestgehend mit Formeln durchzogene Cybernetics von 1948 folgt also 1950 eine popularisierte, stärker alltagssprachliche Form. Diskursstellen und Diskursivierungsformen treten auf, die vorangegangene mathematische Kontexte im Erklärungsansatz eher transzendieren als explizieren, rückübersetzen. Vorbildung vorausgesetzt, können die Formeln entschlüsselt werden.126 Es ist zu vermuten, daß einigen der hier artikulierten Beispiel- und Befürchtungsdiskurse der ›ersten‹ Kybernetik ebenfalls ein Teil deren Popularisierung und späteren Popularität zu verdanken ist. U.a. in Texten Wieners artikulieren sich ausgehend von diesen Befürchtungen Verantwortungsappelle zugunsten einer humanen Zukunft gegenüber Techniken und Diskursen, die dadurch zum Einen überhaupt erst mit einer bestimmten Signifikanz aufgeladen werden. Zum anderen können sie dann aber als solche nur mit Ingeniers- oder Mathematikerausbildung in Gänze verständlich werden – und machen daher, um neue, zukünftig allgemeinrelevant werdende Basics verständlich zu gestalten, zusehends dann eben auch eine allgemeine Erziehung notwendig. Diese Erziehung benötigt zudem eine bestimmte Geschwindigkeit der Umsetzung, damit – Ray Kurzweil argumentiert jüngst umgekehrt – die lenkende und kontrollierende Instanz der Entwicklung mit dem Entwicklungstakt mithalten, drohende Desaster verhindern kann:

125 McCulloch spricht später konsequenterweise von Versuchen des »humanizing the machine« (Heims 1991: 37), entwickelt ab 1952 Ideen zu ethical robots. 126 Vgl. Wiener 1952: 128f.

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»To be effective in warding off disastrous consequences, our understanding of our man-made machines should in general develop pari passu with the performance of the machine. By the very slowness of our human actions, our effective control of our machines may be nullified. By the time we are able to react to information conveyed by our senses and stop the car we are driving, it may already have run head on into the wall« (Wiener 1960: 718).

Entstehen auch so Technologien eines immer stärker nun auch ausdrücklich humanen Cyber-Zoos? Das zeitgenössisch als entstehend Konstatierte jedenfalls soll post festum naturwissenschaftlicher und human-kybernetischer Erziehung und Aufmerksamkeit bedürfen, um das Entstehen adäquater Verständnisse und passender ›Verantwortung‹ zu gewährleisten.127 Diese Auf-

127 Der Kontext betrifft später auch ausdrücklich ›verantwortliche‹ KontrollEnsembles, u.a.im Anschluß an erstmals auf den Macy-Konferenzen geäußerte Überlegungen des auch in Frankfurt nicht unbekannten Soziologen Paul Lazarsfeld zum Einsatz des Rückkopplungsmodells zur Stärkung politischer Partizipation. Einen erster Peak dessen stellen politischen RückkopplungsExperimente zwischen 1971 und 1973 dar, insb. das Cyberdine-System des noch von Allende regierten Chile (Pias 2005). Es sollte eine ganze Nationalökonomie verdrahtet, sozialistisch über Feedback regulierbar werden. Dies geschah parallel, teilweise ausdrücklich gegenüber dem aus dem SAGE-System entstandenen militärischen ARPA-Kommunikationsnetz (ab den 60er Jahren Internetvorläufer, ARPA als Advanced Research Projects Agency wurde 1958 als Reaktion auf den Sputnik-Schock gegründet, 1972 in Defence ARPA umbenannt) resp. gegenüber Versuchen computergestützter Boden-Vollaufklärung in Korea oder im Vietnam-Krieg (Edwards 1996, passim). Das Arpa-Netz sollte ein System darstellen, das »selbst im Falle größte Zerstörungen (analog zum Fall Pearl Harbour) weiter funktionieren würde. Beim Telefonnetz wird eine direkte Verbindung zwischen Sender und Empfänger hergestellt; ist die Leitung unterbrochen, kommt keine Verbindung zustande. Im Gegensatz dazu wird bei dem Konzept des ›packet switching‹ eine zu übertragende Nachricht in mehrere Pakete aufgeteilt, die bei Bedarf vervielfältigt werden. Diese Pakete wandern auf verschiedenen Wegen zu Verteilstationen (Netzknoten), wo sie identifiziert und weiter verteilt werden. Erst beim Empfänger wird die vollständige Nachricht zusammengesetzt [...] eine Technologie, die sicherstellt, daß auch für den Fall, daß bereits 70-80% des Territoriums zerstört und die Bevölkerung vernichtet ist, die Militärmaschine weiterlaufen kann.« (Keil-Slavik 1985: 28). Keil-Slavik akzentiert das Entstehen von packet-switching als Strategie der Vernetzung, zugleich Wissens-Infrastruktur: »Der dominierende Einfluß des Militärs wird [in den 1960er Jahren] weniger bei den Rechnern selbst als vielmehr in der Entwicklung von Basistechnologien, der Entwicklung großer Softwaresysteme und beim Aufbau von Rechnernetzen spürbar sowie in der Finanzierung neuer Forschungsbereiche […] Dabei werden durch Großprojekte Entwicklungslinien festgelegt und technische Realisierungen standardisiert. Ein

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gabe wird als Faktum konstatiert, das möglichst rasch um sich greifen soll. Dann erst soll es einer selbstlaufenden Dynamik ein humanes ›Subjekt‹ geben können – um überhaupt das entstehende Ganze auch der »Promotion of Human Welfare« (Wiener 1960) dienen zu lassen. Wiener leistet Protest »gegen [...] unmenschliche Verwendung menschlicher Wesen [...] denn in meinen Augen ist jede Verwendung eines Menschen, bei der weniger von ihm verlangt und ihm weniger beigemessen wird, als ihm entspricht, Herabsetzung und Verschwendung« (Wiener 1950a: 27).

Für Wiener ist eine solche Ignoranz gegenüber menschlicher Lern- und Verbesserungsfähigkeit auch »wirtschaftlich gesehen Verschwendung der größten und menschlichsten Werte« (ebd.: 57). Nicht nur angesichts eines sicher zu erwartenden Wärmetods seines Heimatplaneten pflegt er »menschliche Anständigkeit«: »Wir werden untergehen, aber laßt es uns so tun, wie es unserer Menschenwürde entspricht« (ebd.: 36). Von anderer Seite ist darauf hingewiesen worden, daß im kybernetischen Diskurs nicht unerhebliche »Widersprüche zwischen einem dem idealistischen 19. Jahrhundert entliehenen Humanismus und der Kriegstechnologie des Zweiten Weltkriegs« (Holl 2004: 101) existieren.128 In einem spe-

Beispiel dafür ist das Konzept der Paketverteilung (packet switching) für Rechnernetze. Das erste Rechnernetz mit diesem Konzept ist das Arpanet, das für die ARPA entwickelt wird. Angeschlossen an dieses Netz sind alle relevanten Firmen, Universitäten und militärische Institutionen, die sich maßgeblich oder ausschließlich mit militärischer Forschung und Entwicklung beschäftigen.« (Keil-Slavik 1985: 27). War es u.a. diese neue, effiziente Wissens-Verteilungs-/ Akkumulations-Technologie die begann, eine »Zerstörung des Machtgleichgewichts zwischen den Supermächten« auszulösen durch »mikroelektronische Neuerungen« (Bickenbach et al. 1985: 3)? »Until the time of its political deconstruction the USSR had – except for systems of aerial defence – not developed a functioning global computer network« (Trogemann 2001: 19). 128 Vgl. Hayles 1999: 105ff, sie führt kybernetische Entwicklungen auf die Unterscheidung Wieners von augustinischen (regelgeleitet) und manichäischen Feinden (lernend-manipulativ) zurück. Als Kriegsphänomene sind sie dem bekämpften Feind ähnlich geworden, Wiener hätte also unfreiwillig eben jene manichäische Wissenschaft geschaffen, die er später so entschieden bekämpfte. Vgl. Hayles’ Auseinandersetzung mit Kybernetik unter dem Zeichen einer Transformation liberaler Humanismen bei parallelem Versuch der Aufrechterhaltung eines liberalen Subjekts: Hayles 1999: 84ff. Man kann hier, wie es Dupuy nahelegt, autorintentional die Geschichte differenzieren in einen verantwortungsbewußten, Technik als Instrument verstehenden Wiener und dagegen einen stereotyp-ingeniershaften McCulloch als kybernetische Hauptfigur stark machen. Und tatsächlich gab es auch eine nicht unerhebliche Differenz beider nach 1951, die jüngst psychologisch auf Manipulationen durch Wieners Frau

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zifischen, neuen, wissenschaftlichen Jargon begleiten und prägen einige elementare Diskurselemente die sich zeitgenössisch rekonfigurierenden Technikwissenschaften. Im selben Diskurs begleiten diese Elemente zugleich weitere, die formal recht alltagssprachlich anschlußfähig auftreten. Auf dem Boden prospektiv unternommener Befürchtungsnarrative artikulieren sie bereits Ansprüche möglichst effizienter humaner Involiertheit in das Geschehen. Bei allem entstehenden Problembewußtsein: Könnten diese Elemente nicht auch als Teile des Problemfelds selbst verstanden werden, weniger bereits als praktikable Lösungsansätze? Eine doppelte Stoßrichtung ist bei Wiener bereits um 1950 vorgezeichnet: Mitreden können verantwortungsvoll diejenigen, die sich auf bestimmte, neue, wissenschaftliche Diskurse weitestgehend eingelassen haben – oder überhaupt einlassen können. Hierzu – und dann auch zu einer kybernetisch geläuterten und domestizierten Verantwortung – ist Erziehung notwendig. Technikutopien popularisierter Kybernetik und ihre jeweils neuesten Spielzeuge leisten ihr übriges, können Vorstellungen und Wünschen einen neuen Rahmen geben, ihre propädeutischen Strategien verlaufen impliziter.129 Worauf der kybernetische Diskurs der USA zu Beginn des cold war trotz seiner Fundierung und Ausrichtung, auch und insb. durch humanethische ›Hegung‹ – und Anreizung zur Partizipation? – ganz grundsätzlich hinauslaufen soll, stellen unmißverständlich die letzten Zeilen von Wieners humaner Nutzung menschlicher Wesen fest:130 Es ist das Ziel einer Entwicklung hin zu einem neuen, vollen, ganzheitlichen,131 einem spezifisch natio-

rückgeführt wurde (Conway/Siegelmann 2006: 217ff). Wie man es auch immer auf Subjekt-/Autorebene perspektiviert, zentral in hier derkybernetische Diskurs und sein Entstehen. Neben stetig regelhafter Reproduktion zentraler Begriffe (vgl. Dupuy 1994: 111) wurden Hauptakzente zwar durch Texte gesetzt, die unter dem Namen Wieners erschienen, insb. um 1950, sie wären jedoch ohne weitere Texte des Diskurses unsagbar gewesen. Die diskursiven Bewegungen zwischen 1943 und ’48, in der sämtliche prominenten und begriffsprägenden Haupttexte entstehen, sind geprägt durch eine Aussagen-Ereignisfülle mit regulierter Ausdifferenzierung in verschiedene Bereiche, Niveaus und zeitweilige antagonistische Pole. 129 Vgl. zur Durchdringung z.B. von Computerspielen und ihrer spezifischen Matrix von Möglichkeitshorizonten, instruktiv nutzbar: Pias 1999, 413f. Vgl. auch die Apparatus-Analyse von first-person-shooters: Morris 2002. 130 Vgl.: »menschenwürdige Verwendung des Menschen«: Wiener 1950a: 14. 131 Vgl. »ganzheitliche« Vorstellungen Wieners zu Kommunikation und den »kommunikativen Eigenschaften des Menschen« (Wiener 1950a: 150), entgegengestellt einer Informations-Hortbarkeit: Wiener 1950a: 149, 121f (Warenförmigkeit von Information), 114 (Information als Inhalt eines Austauschs mit der Umwelt zum Zweck der Anpassung), 123 (nationale, kriegerische Dimension, im Kontext von Geheimhaltungs- und Codierungsfunktionen). Vgl. zum »humanitären Fortschritt« durch zentrale Technologien: ebd.: 154, im Ver-

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nalen132 Mensch-Sein. Sozial und technologisch anzuvisierendes Ziel ist es u.a., ein bestimmtes, zukünftiges Amerika zu schaffen: to »create a future America in which man can live and can grow to be a human being in the fullest and richest sense of the word« (Wiener 1950: 229). Der kybernetische Diskurs aber hat einen nicht national begrenzbaren impact. Mittels der im Folgenden detailliert weiter vorgestellten Kontexte bestimmter Basis-Technologien der entstehenden Kybernetik – sie sind letztlich immer auch human anschlußfähig – findet weder der ›Tod des Menschen‹ statt noch die technische ›Austreibung‹ seines Geists, mind. Hier wird eine rekonfigurierte, optimierte (Mehr-)Wertlogik vorstellig, die sich neuer Sinnhorizonte, deren Vermittlung und zugleich neuer Menschenformen bedient – aber beileibe nicht ihnen allein. Neue Technologien humaner Subjektivation entstehen – als hinsichtlich Norm und Abweichung formal immer detaillierter skalierbares Objekt und zugleich als erzieherisch eingesetztes, mächtiges Subjekt, das auf der entstandenen Basis fähig wird zu individuellem und kollektivem Selbstbezug und -entwurf. Vorläufig ›gekrönt‹ ist der Diskurs durch Überlegungen, neue humane ›Gattungs‹-Ziele gestaltbar, implementierbar werden zu lassen. Auch der neue, der kybernetische, der in kybernetisierte Umwelten zu integrierende und integrierbare Mensch ist selbst bereits Instrument und Effekt einer bestimmten neuen politischen Ökonomie. Mittels neuer kybernetischer Technologien und auf deren Basis beginnt er sich der Möglichkeit nach in dieser Zeit herauszubilden. Die neuen Technologien reproduzieren zugleich bei aller Neuheit teils gravierende kulturhistorische Kontinuitäten. Die neue kybernetische Wissens-Ökonomie und ihr Rationalitätstyp, die neuen Machtformen und ihre Programmatiken setzen sich ausdrücklich u.a. zum Ziel, zu verbessernden, optimierenden Zwecken Organisches und Technisches als technologisch kompatibilisierbar zu gestalten, selbst über zuvor unüberwindbar gedachte Genera-Grenzen hinweg. Im Zuge des Entstehens erster Bedingungen dieser fundamentalen sozialen (Post-)Modernisierung entsteht zugleich ein neuer Typ von Apparat, ein neues Dispositiv. Was hier wie dort neben purposes zählt, was Einsätze bilden wird, sind vorgesehene und abweichende Codierungen. ›Antihumanistische‹, z.B. poststrukturalistische Theoriebildungsprozesse mögen manche diskursiven Wurzeln auch in der Kybernetik haben. Sie besitzten zugleich aber immer auch subversive Potentiale. Durch nichtregelgeleitete, angeeignete Nutzung bestimmter geprägter Begriffe kann sich auch Problembewußtsein entfalten. Ein in einer solchen Tradition dereguliert vollzogene Rekonstruktion des ab den späten 1940er Jahren mit Großanspruch auftretenden kybernetischen Diskurses kann vielleicht eine besonderen Art der Filiation eröffnen.

gleich zu Sklavenarbeit: ebd.: 172f. Wiener begreift Recht als »ethische Seite der Kommunikation« (ebd.: 102), Rechtsprobleme als kybernetische und kommunikative: ebd.: 107. 132 Vgl. Wieners Rede von den »Bedürfnissen der Nation«: Wiener 1950a: 130.

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3. ›R EGULATION , H OMÖOSTASE ‹: T ECHNOLOGIE DES G LEICHGEWICHTS »The steersman of a ship should receive correct information about storms, rocks, unexpected leaks in the hull or other dangers, and should (using the ships equipment, pattern of social organization, and resources) function effectively to keep the ship afloat and intact and maintain the wellbeing of its crew. [...] a deviation from the course would be seen as a malignant process [...] from a more inclusive perspective this misdirection served a desired purpose« J. HEIMS »Es geht insbesondere darum, Regulationsmechanismen einzuführen, die in dieser globalen Bevölkerung mit ihrem Zufallsfaktor ein Gleichgewicht herstellen, ein Mittelmaß wahren, eine Art Homöostase etablieren und einen Ausgleich garantieren können; es geht kurz gesagt darum, Sicherheitsmechanismen um dieses Zufallsmoment herum [...] zu errichten und das Leben zu optimieren [...] Das Individuum soll [...] durch globale Mechanismen gepackt werden; man soll [...] so handeln, dass globale Gleichgewichtszustände und Regelmäßigkeiten erzielt werden« M. FOUCAULT, 1976 »Unschuldige oder neutrale Benennungen gibt es nicht« G. CANGUILHEM, 1974

Eine neue Form der Selbstregulation bildet ein zentrales kybernetisches Konzept. Es ist auf spezifische Ziele hin orientiert. In enger Verbindung mit der Untersuchung dessen, was im kybernetischen Diskurs unter Regulation verstanden wird, wird im Folgenden ein weiterer früher Strang des kybernetischen Diskurses rekonstruiert. Neben Technologien einer neuen Form der Kommunikation und der Zielorientierung laufen diese Zusammenhänge auf Technologien des Gleichgewichts zu, u.a. auf einen neuen, kybernetisch geprägten Begriff ›Homöostase‹. Die neuen Technologien arbeiten dann bereits mit Elementen der neuen Technologie universeller Übersetzung, ent-

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wickeln sich weiter in Wechselwirkung mit bestimmten, ›vorausschauenden‹ Elementen voreilender Zielführung. Auch dieses diskursive Geschehen entfaltet sich v.a. in Kontexten der Berechenbarkeit. Ab Beginn der 1950er Jahre üben u.a. kybernetische Automaten wie Ashbys ›Homöostat‹ eine die erste Kybernetik popularisierende Wirkung aus. Bereits ab der erstmals relativ homogenen Entwicklung des Diskurses um 1947/1948 wird in Fragen der historischen Fundierung von Kybernetik hierbei immer wieder auf den Namen Walter Cannon verwiesen. Die historische Selbstverortung des kybernetischen Diskurses setzt damit u.a. bei Fragen von ›Homöostase‹ ein, mit denen sich Cannon beschäftigte. Einer der ›Väter‹ der Paleokybernetik, Arthuro Rosenblueth, war selbst Schüler Cannons (Heims 1991: 166f). Auch mittels ›Abstammung‹ sollen offenbar in diesem Kontext ebenfalls Fragen unterstrichen werden nach funktionierender Innovation, nach prinzipiellem Nutzen, nach der Nutzbarkeit kybernetischer Theorien. Was ist angesprochen? In kybernetischen Zusammenhängen wird unter Homöostase etwas wie ein Gleichgewichtszustand verstanden. Und unter Selbstregulation werden Mechanismen bezeichnet, die als hierzu notwendig gedacht werden. Eine Geschichte desjenigen Ausdrucks Regulation, auf den sich die Kybernetik hinsichtlich eigener Konzeptfiliation immer wieder bezieht, muß sich aber auch abseits kybernetischer Kontexte bewegen können, um deren Spezifika deutlicher konturieren zu können. Erst durch eine spezifische (Wissens-)Geschichte hindurch können kybernetische Verständnisse genauer hervortreten. Und damit dann auch die neuen, sozialtechnologischen Phantasien in einem anderen Licht erscheinen, die mit kybernetischen Konzepten wie jenen der Regulation und Homöostase verbunden sind. Eine solche Geschichte muß also nicht notwendig so auftreten, wie es im kybernetischen Gebiet vorbuchstabiert wird.

3.1 Geschichte: Regeln, Regler, Regulierung Der Epistemologe Georges Canguilhem rekonstruiert anschlußfähig das Entstehen des Terms ›Regulation‹.133 Einige seiner Texte und weiterer zu-

133 Vgl. zum Term Regel: HWP 8: 427f; vgl. van Laak 2006, insb. 427/428 zum Überblick zur Entwicklung des Terms ›Planung‹ unter Einbezug des Liberalismus des 18. Jahrhundert – entstehend aus der Vorstellung einer ›planen‹ Fläche und dem ›Planieren‹. Im 19. Jahrhundert wird dieser Term genutzt bei staatlichen Steuerungsversuche im Zusammenhang der ›Schrittmachentechnologien‹ Eisenbahn, Verkehrswesen, bei ersten ›Planwirtschaftlern‹ wie Saint-Simon und ersten ›Policey‹-Staaten. Im 20. Jahrhundert läßt er sich verorten in Kommunikationsinfrastrukturen späterer ›Vorsorge‹- und ›Risikogesellschaften‹.

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sammenziehend, lassen sich Eckpunkte benennen.134 So kann einsichtig werden, daß der Term ›Kybernetik‹ in seinem ersten Erscheinen älteren Datums ist als ein ›Regulations‹-Begriff: Kybernetik wird erstmals 1834 von Ampére als »Bezeichnung für die Wissenschaft von den Mitteln der Regierung« vorgeschlagen (Canguilhem 1974: 90).135 Der Term ›Regulation‹ aber wird erst 1872 erstmals eigens in Texten geführt. In Émile M. P. Littrés Dictionnaire de la langue française verweist er auf eine regelnde Tätigkeit in insowohl politischer als auch mechanischer Hinsicht. Eine physiologische Bedeutung von ›Regulation‹, auf die sich historisierende Kybernetiker beziehen, wird in Umrissen erstmals 1876 bei Claude Bernard genutzt.136 ›Regulation‹ weist in der Zeit zuvor noch auf ein stärker politisches und mechanisches Feld zurück, auf eine spezifische Vollzugsform. Jenseits des 19. Jahrhundert besteht das Problem, daß einer entlang von ›Regulation‹ entwickelten Geneaologie ein Kreuzen der modernen Epochenschwelle mangels früherer Fundstellen verunmöglicht ist. Regulation als Substantiv ist ein originär moderner Begriff, geht zurück auf vorhergehende, u.a. verbale Verwendung, regulieren.137 Wo mit dem Beginn der Moderne retrospektive historische Selbstverortungen des kybernetischen Gebiets abbrechen – um dann ›Regler‹ und ›Regulation‹ in rein technisch-physiologischer Form rückzudatieren – eröffnet erst eine Rekonstruktion des Entstehens der Begriffe ›Regulator‹/›Regler‹ neue Linien.

134 Vgl. Adolph 1961; Schmitt 1941; HWP 8: 427-450, 474-476, 490-495; Rothschuh 1971 u.a. Gegenüber letzterer Rekonstruktion ist entscheidende Einschränkung, daß dort nicht historische Kontexte epistemologisch aus dem jeweiligen Kontext zu erklären versucht werden. Hier werden implikationsreiche Terme wie der der Information in die Rekonstruktion eingeflochten und zugleich durch deren konzeptuelle Brille auf Geschichte geblickt. So geht die »Darstellung« z.B. davon »aus«, »daß es sich bei den zur Diskussion gestellten Prozessen um informationsgesteuerte, selbsttätig arbeitende Kreisprozesse handelt, welche an der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Betriebsordnung im Lebendingen wesentlichen Anteil haben« (ebd.: 92). 135 »The convergence of cybernetics and state reasoning (the art of control in general) was expressed by André Marie Ampère as early as in 1838, in his principal work on the classification of sciences, by the polish philosopher Bronislav Trentowski in 1843 and by the cultural historian Ernst Kapp in Germany 1877« (Trogemann 2001: 18). 136 Vgl. Canguilhem 1974: 104. Das Verb regulieren taucht bei Bernard 1858 auf: Bernard 1858: 79; HWP 8: 491. 137 »Das Nervensystem [...] reguliert in jedem Organ den Blutfluß entsprechend den besonderen chemischen Funktionen der Organe« (Bernard 1858: 79). Vgl. HWP 8: 475: »Für selbsttätige Regelung in der Technik, aber auch andere Mechanismen der Konstanthaltung, war im 19. Jahrhundert und ist auch heute vorwiegend das Wort regulieren in Gebrauch, desgleichen dessen Ableitungen Regulation und Regulator«.

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Erst im 18./19. Jahrhundert – durch James Watts Fliehkraftregler (1788) und James Clark Maxwells ›Dämon‹ (1871)138 – entsteht ein physiologisches und technisches Konnotationsfeld ›Regler‹, das später auch kybernetisch geprägt wird. Der Kontext und sein Hauptterm wird hier überhaupt erst historisch als etwas ›Objekt-haftes‹ vorstellbar. Denn bis ins 18., teilweise bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts hinein war er vor allem durch politisch-religiöse Konnotationen bestimmt. 1678, in Ralph Cudworth The True Intellectual System of the Universe, gilt noch Gott als »Regulator und Lenker (Governour, Regulator, Methodizer)« (Canguilhem 1974: 92), als »Urheber der Bewegung« in der Welt. Die Welt und ihre Bewegungen wird zeitgenössisch noch anhand von Christiaan Huygens Unruhefedern metaphorisiert. Sie erhalten 1704, im Lexicon technicum John Harris, erstmals eine technisch-mechanische Bezeichnung: »regulator (Regler)« (ebd.).139 Nicht mehr eine Pendeluhr, 1640 noch zentral für René Descartes’ Konzeption der Tier-Maschine, wird zu Beginn des 18. Jahrhunderts genutzt, um das Verhältnis von Gott und seiner Schöpfung zu metaphorisieren.140 Es ist nun die Unruhefeder einer individuell in der Tasche tragbar gewordenen Federuhr, die eine Hauptmetapher Leibniz’ prägt in einer Polemik gegen Newtons Gottes- und Schöpfungsvorstellung: Hier müsse Gott offenbar »von Zeit zu Zeit seine Uhr aufziehen«, »sonst bliebe sie stehen« (ebd.). Denn nach Cudworth, Newton, Clarke u.a. ist im Universum ein göttlicher Regulator erforderlich, »den Sein Sensorium (der Raum) von den Schwächen unterrichtet, die Seine Vorsehung sodann behebt« (Canguilhem 1974: 92). Gegen diese Vorstellung insistiert Leibniz auf einem Universum, in dem »Gott im voraus alle Dinge auf einmal geregelt hat« (Leibniz 1710: 22), das »von Anbeginn restlos reguliert« (Ders: 91) ist. Zu Beginn der 18. Jahrhunderts steht dem vorausplanenden Gott Leibniz’ – er unterlegt der Natur vorab eine geregelte Ordnung – eine Gottesvorstellung Newtons, Cudworth’ u.a. gegenüber. Sie sehen einen lenkenden Regulator am Werk – einem Werk als einem prinzipiell aufsichtspflichtigem Prozess, dessen ›Uhrwerk‹ also auch post festum Aufmerksamkeit seitens eines eingreifenden Gottes verlangen kann. Leibniz Regulator-Konzept dagegen ist bestimmt durch eine Identifikation von Regel und Regelmäßigkeit, Norm und Normerfüllung, die jede Abweichung von Beginn an ausschließt. Leibniz Harmonie, sein angenommenes Gleichgewicht ist, einmal statuiert, nicht mehr aus den Fugen zu bringen, es ist gewissermaßen seine eigene Erhaltung und Beständigkeit:

138 Vgl. zur Genese selbsttätiger informationsgesteuerter Regelung, teils kybernetikgeschichtlich: Rothschuh 1972: 93f. Vgl. auch Wiener 1950a: 162/163. 139 In England geht ab 1702 ›Regler‹ ein in mechanische Verständnisse bei Getreidemühlen und Bergwerken (Canguilhem 1974: 96, Schmitt 1940: 81). Ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Kontexte des italienischen Schiffahrts-Kanalwesens. 140 Hier findet sich eine subtilere Metaphernverschiebung, die für Anschlüsse an Mayr (Mayr 1968, 1986) Aufmerksamkeit verdient, da dort kaum beachtet.

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Regulation ist Gleichgewicht, das immer schon (vor-)›reguliert‹ ist. Die »Verifizierung der Newtonschen Theorie im 18. Jahrhundert« (Ders.: 94) bestätigt im Detail ironischerweise Leibniz: Regulatorische Kräfte innerhalb des Kosmos lassen nun äußere Eingriffe überflüssig erscheinen. Der Laplacesche Dämon und sein Gesetzesdeterminismus beginnen nun eine neue Kosmologie zu artikulieren. Laplaces neues, ›prinzipielles‹, regelndes Prinzip der Bewegung übernimmt diejenige Funktion einer (Vor)Regulation, die Leibniz noch seinem Gott zuordnete. Der Erhalt erster Bedingungen geht damit auf einen wissenschaftlichen ›Dämon‹ über. Ein immer ausdrücklicher technisch werdendes ›Regelungs‹-Konzept kann an die Subjektposition einer vorherrschenden Kosmologie zu rücken beginnen, die zugleich wahrscheinlichkeitstheoretische Konturen zu gewinnen beginnt. Regler, Regulatoren und Regulationen stehen dann zwar noch immer unter dem Vorzeichen des Erhalts anfänglicher Bedingungen, von ›wiederherstellendem‹ Gleichgewicht, werden aber immer stärker historisch dynamisiert. Kurz vor Maxwells Arbeiten (1871), in einem Text von 1864 zu physiologischen Experimenten zur Wirkung des Gifts Curare, hat dann Claude Bernard erstmals, das wird noch genauer zu sehen sein, auch eine biologisch zu verstehende Regulation skizziert (Bernard 1864). Regulation wird dann nicht mehr allein von der klassischen Erhaltungsfunktion aus gedacht. Sie wird zugleich als freie ›Anpassung‹ verständlich. Zuvor hatten sich bereits kontextuelle Konzepte verschränkt zwischen einem ökonomischen Gleichgewicht der Natur und einem ökonomischen Gleichgewicht der Tiere. Denn in Rekurs auf den Newtonschen Theologen William Derham und dessen Physico-Theologie (1713) sowie auf Buffons Überlegungen zur gleichbleibenden Menge organischer Molküle im Universum hatte die Linné-Schule 1749 eine oeconomia naturae proklamiert: Ein Gleichgewicht der Natur, die Aufrechterhaltung, zeitlich gleich bleibende Proportion der Existenz, partiellen Zerstörung, Ausbreitung und Strukturierung aller Tier- und Pflanzenarten.141 Georg Ernst Stahl hatte gegen Leibniz, gegen vorhergehende Metaphorisierungen des organischen Körpers als Pendel- oder Federuhr, ein neues Modell gesetzt. Stahls Konzept einer ›hydropneumatischen Feuermaschine‹ wird 1789 durch Lavoisier aufgenommen, teils entvitalisiert und durch Rückgriffe auf Regler-Konzepte analogisiert mit »der Wirkungsweise einer mechanischen Vorrichtung zur Ausgleichung und Regulation« (Canguilhem 1974: 98; Rothschuh 1972: 93). Gleichgewicht, ›Steuerung‹ und ›Regler‹ schießen hier zusammen in der Annahme dreier Hauptregler der ›tierischen Maschine‹.142 Bis ins mittlere 19. Jahrhundert hinein anschlussfähig beschreibt Lavoisier die Wirkungsweise die-

141 Keine Frühform Darwins: Canguilem 1974: 100, Foucault 1966: 195. 142 Atmung (Erzeugung Wärme), Transpiration (Erhalt der Temperatur), Verdauung (Kompensation des Blutes für Verluste durch Atmung und Transpiration).

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ser Regler in Gleichgewichts-Termen.143 Lavoisier weist jedoch noch nicht hinaus über einzelne Exemplare einer solchen tierischen Maschine. Seine natürliche Regulation prägen auch noch keine Charakteristika, die bereits Leibniz’ vorregulierte Erhaltung überschreiten könnten.144 Das ›Gleichgewicht‹, das Lavoisiers ›Regulation‹ mittels Verfahren des ›Ausgleichs‹ herstellt, ist in sich selbst, ist in Gesetzen fundiert: Natur hat zwar ›überall Regler eingebaut‹, diese Regulation hat aber noch keinen ›freien‹ Eigenwert, ist »nur ein Aspekt der ›unveränderlichen Gesetzen unterworfenen und schon lange zu einem nicht zu störenden Gleichgewichtszustand gelangten physikalischen Ordnung« (Ders.: 99). Lavoisier überträgt allerdings bereits erstmals seinen noch in einer naturgesetzlichen Ordnungs-Form verorteten Regulations-Ansatz in Analogie zum Einzelorganismus ansatzweise auf gesellschaftliche Kontexte: Dann funktioniert auch die ›moralische Ordnung‹ der prästabilierten natürlichen Ökonomie analog.145 Vor Linnés oeconima naturae (1749) hatte 1659 in seiner Naturgeschichte der englische Arzt Walter Charlton eine oeconomia animali, eine ›Ökonomie der Tiere‹ angeregt. Über Linné und Lavoisier wurden Überlegungen zum koordinierten Zusammenwirken tierischer Maschinen und ihrer Teile tradierbares Element – ein Gleichgewicht, das Gemeinwohl sichert. Bei Charlton prägen anschlußfähig technische und ›organische‹ Konnotationen und zugleich ökonomische und politische das Bedeutungsfeld des Terms Regler. Neben physiologisch-technischen sind es nun auch haushälterisch-gesellschaftliche Analogievorstellung, in denen sich organische und technische Elemente durchdringen. Sie werden anschlußfähig bis in erste Konzepte gesellschaftlicher Arbeitsteilung des beginnenden 19. Jahrhunderts hinein. Verbindungen zwischen Physiologie und Regler werden vorbereitet: Wie verhält sich das beobachtbare Faktum, daß individuelle Krankheit durch einWiederherstellen von Gesundheit beendet wird, zum abstrakten Zusammenwirken der kosmischen Mechanik Newtons? Die Annahme einer steuernd-regelnden physiologischen Selbsterhaltungskraft, einer vis medicatrix naturae entsteht. Im Durchgang durch Stahls vitale Feuermaschine entvitalisiert Lavoisier diese Kraft, versucht sie mechanisch, anhand dreier Regler begreifbar zu machen und läßt zugleich die tradierte Gesellschaftsanalogie intakt.146 Am Beginn des 19. Jahrhunderts kann dann bei Malthus eine ›vis medicatrix rei publicae‹ (Canguilem 1974: 100) auftreten, ein »großes Prinzip der Gesundheit« (ebd.), das staatlichen Dingen dienlich ist.

143 »gestörtes Gleichgewicht, wiederhergestelltes Gleichgewicht; Gleichgewicht und Regelmäßigkeit; variable Mittel, deren Wirkungen sich ausgleichen; Mittel des Ausgleichs; Gesundheit [...] Zustand, in dem alle von Natur eingerichteten Ausgleichsprozesse leicht und mühelos ablaufen.« (Canguilhem 1974: 98). 144 Vgl. Foucault 1966: 190. 145 Sonst hätten »menschliche Gesellschaften [...] niemals bestanden« (ebd.). 146 Vgl. Lavoisiers Analogie physische/moralische Ordnung: HWP 8: 491.

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Individuelle reproduktive Enthaltsamkeit und allgemeine Wohlfahrt werden miteinander verknüpft über ›Vorteile‹. Utility beginnt »sozialer Regler« (ebd.) zu werden des Gleichgewichts neuer, naturgesetzlicher Bevölkerungsprinzipien. Bisherige ›ewige‹, naturgesetzliche Selbstverständlichkeiten beginnen nun in einem historisch-konfliktuellem Licht zu erscheinen.

3.2 Moderne, Bernard : In neres Milieu, verzeitlichte Stabilität, Regulation von Leben und Tod Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzt August Comte in Rekurs auf die Kosmologien von Laplace und Newton in seinem Gebrauch des Terms ›Regler‹ erstmals ein gewisses Quantum an Freiheit und Veränderung an. Er prägt im Kontext die entstehende Soziologie mit. Er betont kosmologisch jedoch noch immer eher Konstanz und Invarianz, also Erhaltungsprinzipien, proklamiert allein eine »Regulation von oben und von außen (Ders. 103)«. Geschichte und Fortschritt erscheinen noch immer im Licht einer geregelt erhaltenden Entfaltung von Ordnung, die eine (vor-)geregelte Perfektibilisierung menschlicher Natur umfaßt. Eine ›Umwelt‹ wird thematisch, die mittels der von ihr erwarteten Statik zum »wichtigsten Regler des Organismus« (ebd.) wird. Erst durch statische Umwelten wird in Grenzen variables Leben von Organismen möglich, kann überhaupt biologische, soziale und geistige Konstanz, also Gesundheit erzielt werden. Umgekehrt ist es eine zu starke Varianz, unklare Regulation äußerer Umwelten, die Organismen krank macht: Comte proklamiert 1824 im System der positiven Politik, daß Wahnsinn entstehe, wenn »das äußere nicht das Innere zu steuern vermag.« (ebd.: 102). Religion wird als »sozialer Regler« (ebd.: 103) gefaßt, sie übernimmt die Funktion eines Regelns individueller Existenzen, ermöglicht deren Assoziation. Das Gehirn als oberste körperliche Instanz, als ein Äußeres im Inneren, kann nun regelnde Funktionen übernehmen, »das Innere gemäß dem Äußeren zu steuern«. Comtes »biologische Philosophie« (ebd.: 101) prägte Mediziner wie Charles Robin und Luis Segond, die 1848 zu den Gründern der ersten Société de Biologie zählten. Sie trafen dort mit dem Physiologen Claude Bernard zusammen. Sein Konzept eines inneren Milieus – eine innere Umwelt, die durch Regulation freies Leben auf Individualebene ermöglicht – wendet Comtes Regulationsansatz buchstäblich ins Körperliche. Experimentalbiologisch kann ›Regulation‹ auf physiologischem Boden zu stehen kommen (Canguilhem 1979: 86/87). Unter dem Stichwort des Fortbestehens greift kurz zuvor, 1840, der Physiker Jean Baptiste Biot noch zurück auf die Vorstellung eines Erhalts des Lebens, insb. der Atmung, mittels Anpassung an die »unterschiedlichsten physikalischen Bedingungen« (Canguilhem 1974: 106). Er läßt den drei Hauptreglern Lavoisiers weitere Charakteristika zukommen, ohne bereits

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eigens Regulation zu benennen.147 Gegen die zeitgenössisch prominente Idee einer Lebenskraft gerichtet, beschreibt 1842 Hermann Lotze in einem Handbuchartikel über Leben und Lebenskraft eine »Regulation, die durch mechanische Processe provociert oder ausgelöst wird« (Rothschuh 1972: 100f). Am Leitfaden von ›Regulation‹ beschreibt er gewissermaßen mittels Feedback verlaufende, mechanische Funktionen: Sie dienen dem Ausgleich »von Störungen durch Rückwirkungen nervösen Ursprungs« (ebd.). Zwischen 1855 und 59 gebraucht dann Claude Bernard in einer Reihe von Forschungen zur Zuckerbildungsfunktion der Leber, später an Milz, Schilddrüse und Nebennieren erstmals einen Term ›innere Sekretion‹, der spezifisch ausgleichend kontextualisiert ist. 1877 spricht er in Zusammenhängen von Diabetes ausdrücklich von ›Regelung‹, von Schwankungen, die von einem regulierenden Gesetz beherrscht sind und von einer Art labilen Gleichgewichts (Canguilhem 1974: 105). 1878 nutzt Bernard im Kontext von Ausgleichsfunktionen die Ausdrücke Gleichgewicht, Ausgleich, Balance. Solche Ausgleichsfunktionen sollen ›freies Leben‹ erst ermöglichen. Wo keine derartige Funktion ›freies Leben‹ möglich macht, ist nun von ›latentem‹ oder ›oszillierendem Leben‹ die Rede (vgl. Bernard 1878). Zur Fundierung des gesamten Komplexes skizziert Bernard einen neuen Ausdruck, der im Laufe seiner Forschungen entstanden war: Nach der ›inneren Sekretion‹ von 1855 sprach er 1857 von einem ›inneren Flüssigkeitsmilieu‹ – und ab 1865 von einem ›inneren Milieu‹. Wenn es im Gleichgewicht bleibt, gilt dieses ›innere Milieu‹, wie Bernard 1878 betont, als Bedingung für ›freies Leben‹. ›Regulation‹ wird sichtbar nicht mehr in äußeren Umwelten, sondern auf dem Boden der Physiologie, jenseits einer zu öffnenden Hautoberfläche: Innere Bedingungen, innere Elemente werden zentral hinsichtlich ihres gemeinsamen Zusammenwirkens. Eine für das Überleben eines jeweiligen individuellen Ganzen notwendige Stabilisierung innerer Relationen, eines nun ›inneren Milieus‹ wird aussagbar. 1867 spricht Bernard am Vorbild des Druckreglers von einem ›nervösen Selbstregler‹ der Arbeit des Herzens. 1878 spricht er in Anlehnung an einen damals Thermorheostat genannten Apparat von einer ›Wärmeregulation‹. In seinen durch Tierexperimente entwickelten Verfahren wendet sich Bernard gegen zeitgenössisch herrschende mathematische, physikalische und chemische Ansätze (Canguilhem 1979: 77f). Die auch aus diesen Ansätzen hervorgehende Biologie reformuliert das später weiter (Canguilhem 1971, insb. 148; Biochemie: HWP 8: 491). Bernards Verfahren arbeiten erstmals konsequent experimentell. Sie können als »Methode nicht getrennt von den Untersuchungen, aus denen sie hervorgegangen ist, formuliert werden« (Canguilhem 1979: 80). Der physiologisch gewendete Begriff der ›Regulation‹ begründet diese experimentelle Technik in funktionalistischer Form. Zufalls-Elemente können nun erstmals in den Begriff integriert werden. Canguilhem spricht auch insofern von Ber-

147 Vgl. vorhergehend, insb. in der Stoffwechselphysiologie: HWP 8: 491, 493.

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nard als dem »Newton des lebenden Organismus« (ebd.: 81). Er prägt eine Vorstellung von Regulation als einer nun inneren Stabilisierung lebenswichtiger Funktionen. Hierdurch soll es dem Organismus erst möglich sein, ein freies Leben zu führen, »den Zufällen der Umgebung zu begegnen, weil sie [die Regulation] in einem Mechanismus des Ausgleichs der Unterschiede besteht« (Canguilem 1974: 106). Eine Vorstellung von Regulation bereitet sich vor, die den heute geläufigen zu ähneln beginnt – als »Oberbegriff für Mechnismen, die je nach Einrichtung der Zelle oder des gesamten Organismus [...] unter je gegebenen Bedingungen die Ordnung und Aufrechterhaltung der Vielfalt der organischen Vorgänge ermöglicht.« (HWP 8: 490) Stabilitätsvorstellungen werden also bei Bernard umgestülpt, verinnerlicht und verzeitlicht. Hierdurch kann historisch erstmals ausdrücklich ein ›freies Leben‹ auf Makroebenen von Organismen angenommen werden. Nicht mehr allein gut vorstabilierte, sondern stabilisierende ›Regulationen‹ werden angesprochen. Regulation ist nicht mehr verortet in einer äußeren Relation zwischen ›Umwelt‹ und ›Individuum‹, bei der die ›erhaltende‹ Stabilität einer Umwelt erst geordnete Entwicklung, Leben ermöglicht. Eine innere Relation, ein ›inneres Milieu‹, eine innere ›Umwelt‹ reagiert nun in Maßen auf äußere Veränderungen, auf eine Variabilität der Umwelt. Dem korrespondiert eine äußere Freiheit derjenigen Organismen, die mit einem ›inneren Milieu‹ ausgestattet sind. ›Freies Leben‹ kann sich entfalten über die Bedingungen freien Lebens eines jeden. Mit Bernards Texten von 1864/1865 wird die Emanzipation einer experimentellen Biologie eingeleitet: »ohne die Idee der inneren Sekretion keine Idee des inneren Milieus und ohne die Idee des inneren Milieus keine Autonomie der Physiologie als Wissenschaft« (Canguilhem 1979: 80).148 Mit ›subkutanem‹ Determinismus richtet sich die neue funktionsanalytische Wissenschaft ausdrücklich gegen bisherige materialistische, mechanistisch/physikalistische und vitalistische149 Methoden. Sie ordnet sich die vergleichende Anatomie unter.150 Das kann der neuen »experimentellen biologischen Wissenschaft« (ebd.: 80) dadurch gelingen, daß sie sich mit der zeitgenössischen Zelltheorie verschwistert.151 Strukturmorphologien werden beschreibbar, die jenseits bisheriger maschinistischer Vorstellungen von Fabrik oder Maschine liegen.152 Im jeweiligen Verhältnis von Teilen zum

148 Vgl. umgekehrt Kontinuitäten, z.B. beim Aufbau des Texts: Canguilhem 1979: 85; sowie bei diskursiven Gattungsspezifika: ebd.: 86. Einige allgemeine Linien der »experimentellen Medizin« (ebd.: 75) wurden bereits zuvor entwickelt durch Differenzen zwischen ›empirischer‹ und ›rationeller Medizin‹ (Malebranche, Mariotte, Condorcet). Historisch zum ›Vivisektionismus‹: ebd.: 80. 149 Rothschuh 1972: 93f: Vitalismus/psychomorph, Mechanismus/mechanomoph. 150 Vgl. gegen maschinelle Analogiebildungen: Canguilhem 1979: 81/82; Determinismus: ebd.: 81; vergleichende Anatomie: ebd.: 83. 151 Canguilhem, genauer Gehring 2004: V, VI, weisen auf diesen Sachverhalt hin. 152 Vgl. das ›technomorphe‹ Modell, einschl. Bernard: Rothschuh 1972: 98f.

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Ganzen gewinnen die untersuchten Phänomene Charakteristika, die bisherige Konzepte überschreiten. Strukturen und Funktionen werden beschreibbar, die sich jenseits bisheriger Grenzen individueller Organismen entfalten, über sie hinausreichen, durch sie hindurch gehen. Sie können gedacht werden z.B. als neue ›regulatorische‹ Funktionen zwischen Organismus und Umwelt/›dem Leben‹.153 Mit wachsender Komplexität der Organismen gewinnen die neu beschreibbaren Phänomene an Distinktion, ihre Funktion kann stetig besser hervortreten. Chemische, physikalische und mechanische Konzepte und Praktiken werden hierbei zu reinen Mitteln experimenteller Eingriffe in organische ›Ganzheiten‹. Invasive Eingriffe in lebendige Körper können zugleich als tendenziell unbeeinträchtigend verständlich werden. Zu reinen Mitteln geworden, gelten bisherige chemische, physikalische und mechanische Konzepte jetzt nicht mehr als theoretisches und praktisches Fundament von Theorie. Experimentelle Herangehensweisen werden pragmatischer, man soll sich ihrer gut bedienen können. Auch mit diesem Effekt hatte Bernard Vergiftungsexperimente mit dem lähmenden Gift Curare unternommen, an die sich Vivisektionen anschlossen (vgl. Bernard 1864). An der Reaktion verschiedener Teile, Organe der geöffneten und teils vergifteten, lebendigen Versuchs-Tiere konnten jeweilige organische Reaktionstypen auf das Gift lokalisiert und bestimmt werden. Verschiedene Funktionsebenen des Gesamtorganismus konnten differenziert werden. Ausgehend von den trotz der Vergiftung jeweils unbeeinträchtigt bleibenden Funktionen bestimmter Teile des jeweiligen Organismus wurde geschlossen auf jeweils beeinträchtigte Funktionen und Strukturen, die dadurch überhaupt erst klassifikativ sichtbar werden konnten. Immer genauer lokalisierbare und eingrenzbare Ausfälle konnten temporär durch Funktionsäquivalente ersetzt werden. Z.B. konnten durch Experimente an inneren Organen lebendiger Hunde erste Experimente zu dem unternommen werden, was heute als ›Anästhesie‹ bekannt ist. Mittels experimenteller Auspegelung angewandter Gift-Mengen und des Ort der Anwendung wurden ausfallende Funktionen lokalisierbar und dann auch extern kompensierbar, z.B. die Atmung. Bis zur Auswaschung des dosiert eingeleiteten Gifts aus dem geöffneten Körper, bis zum Wiederanspringen der inneren Funktion im Organismus konnten externe Kompensationen greifen. Das von Bernard benutzte Curare-Gift war dabei »vom Gift zum Medikament« übergegangen: »Wir können das Tier vollständig oder teilweise, ja sogar zu einem Drittel oder Viertel usw. vergiften« (Bernard 1864: 126). Gift, das zuvor schlicht tötete, wurde nach ausgreifenden Experimentalserien zum Mittel der Regulation des Todes. Durch eine Regelung der GiftDosis kann der regulierte Tod einer temporären Nutzung unterliegen: er kann »beliebig abgestuft und zum vornherein genau bestimmt werden« (ebd.). Der Einsatz von zuvor schlicht tötenden Verfahren zu medizinischen Zwecken kündigt sich an.

153 »Haushalt, offene Ökonomie« zellbiol. rückwirkend: Gehring 2004: XI, 12.

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»Gift und Tod sind kontrollierbar geworden: Diese Gewissheit stärkt das Selbstbewusstsein des Forschers, das Leben sei letzten Endes eben doch wie alle anderen naturwissenschaftlichen Erscheinungen beherrschbar – wenn man nur seinen spezifischen Gleichgewichtscharakter begreift« (Gehring 2004: XI, 11).

Tod wird depotenzierbar, wird als »reversibel« (ebd.: 14) vorstellig. Mittels Experimenten werden spezifische »Bedingungen von Leben und Tod« (Bernard 1864: 99) einzelner Elemente und Funktionen der Organismen präparierbar. Wie der Tod werden sie damit medizinischer Manipulation, dem neu entstehenden biologischen Herrschaftswissen zugänglich.154 Mit Bernard tritt eine experimentelle »philosophische Theorie der Wissenschaft vom Leben« (Canguilhem 1979: 87) auf. Parallel zur Statuierung des neuen Begriffs eines ›inneren Milieu‹ und seiner innerlichen ›Regulation‹ schreitet eine ergebnisoffene, experimentelle Methode zugunsten weiterer Begriffsbildung voran.155 Den neuen Annahmen zu einem in strukturellen Grenzen determinierten ›inneren Milieu‹ und der neuen ›Freiheit‹ des Gesamtorganismus korrespondiert eine neue, pragmatische Forschungsfreiheit und Experimentierfreudigkeit von Forschern einer neuen Disziplin in deren neuen Grenzen. Die neue Biologie gewinnt an ihrer experimentellen Freiheit einen Zug, der sie aus der bisherigen, klassischen Betonung der ›Erhaltung‹ anfänglicher Bedingungen emanzipiert. In Folge der »prometheischen Idee der experimentellen Medizin« in Bernards Schrift von 1865 gibt sich nun der Kollektivsingular ›Mensch‹ in der Rolle des Experimentators zu erkennen. Er greift nicht nur zu Gesundheit ›erhaltenden‹ oder wiederherstellenden medizinischen Zwecken ein. Mittels eines neuen, pragmatischen Wissenstyps kann er jetzt auch zu einem »Erfinder von Phänomenen«, einem »Vorarbeiter der Schöpfung« (Canguilhem 1979: 87) werden. Die experimentelle Biologie wird hierbei von Beginn an flankiert durch eine Ethik, eine »Philosophie der Einwirkung der Wissenschaft auf das Leben« (ebd.). Wissenschaftliche Praxis und passgerechte Moralphilosophie gehen Hand in Hand. Einerseits steht die ab Mitte des 19. Jahrhunderts sich im Kontext des neues Konzepts der ›Regulation‹ experimentell emanzipierende Wissenschaft des Lebens immer stärker in historischen Linien, die einer ›Emanzipation‹ von Konzepten des ›Lebens‹ zuarbeiten. Biologische Konzepte eines Lebens und seiner ›Funktionen‹ emanzipieren sich aus pluralen, alltäglichen, lebensweltlichen Zusammenhängen. Parallel hierzu beginnt eine »regulatorische Auffassung des Lebens« (Gehring 2004: VI, 12) zu entstehen, die eine neue ›Freiheit‹ experimenteller Methoden eröffnet – und sich und ihre Grenzen damit selbst verunsichtbart. Andererseits wird auf physiologischem Gebiet im Ausklang kosmologischer Konzepte weltlicher (Vor-)›Regulation‹ erstmals ein ›freier Organismus‹ konzipierbar. Er

154 Vgl. Gehring 2004: VI, 9ff. 155 Vgl. parallele Arbeiten Hering/Breuers zur ›Selbststeuerung der Atmung‹ (1868), Linkes technische Regulationskonzepte (1879): Rothschuh 1972: 103.

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findet seinen Ausgang in der ›experimentellen‹ Öffnung und Vergiftung von Tieren. Neben weitere, defizitäre Typen tritt ein innerlich reguliertes, freies Leben. Parallel setzt sich der Mensch als Subjekt einer ›freien‹ Praxis der neuen biologischen Experimentalwissenschaft ein und beginnt Gegenstand dieser neuen Wissenschaft zu werden. Die in ihren Grundlagen Mitte des 19. Jahrhunderts, bei Bernard, experimentell werdende biologische Disziplin gewinnt in Folge weitere Einflüsse. Im Jahr der Vorstellung von Bernards Konzept des ›inneren Milieus‹ erscheint Charles Darwins Origin of Species und Rudolf Virchows Cellularpathologie.156 Der biologische Regulationbegriff wird ab Beginn des 20. Jahrhunderts in mindestens drei Subdisziplinen weiter ausformuliert: In Fragen der Ontogenese bei W. Schleip (1927), in der Biochemie durch L. Onsager (1931), in der Neurophysiologie im Gefolge eines Texts Pawlows zur kontinuierlichen Anpassung des ZNS an die Umwelt (1894; HWP 8: 491/492/494). In Folge der anatomischen Öffnung menschlicher Körper zu Beginn des Jahrhunderts, nach Forschungen zur Zellbiologie und ›regulativen‹ Funktionen des ›freien Lebens‹ zu dessen Mitte, nach der Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung des Regulationsbegriffs zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist eine immer umfassendere Dynamik der Sichtbarmachung im Gange. Diese Sichtbarmachung von zuvor noch unsichtbaren, ungreifbaren Phänomenen wird nun immer stärker mathematische Einflüsse geltend machen. Sie findet ihren ersten Fluchtpunkt Mitte des 20. Jahrhunderts im Gefolge der ersten Kybernetik und einer beginnenden algorithmischen Automatisierung und mathematisch-statistischen Computerisierung wissenschaftlicher Forschung und ihrer Gegenstände: »Die Physiologie, die bislang Vivisektionistin war, wurde nun Mathematikerin. Was Auge und Hand nicht mehr zu unterscheiden oder zu fassen vermochten, wurde den Fähigkeiten von Detektorapparaten anvertraut« (Canguilhem 1971: 153). Mitte des 20. Jahrhundert vollzieht sich eine Unifizierung diskursiver Ergebnisse neuer biologischer Gebiete wie Genetik, Mikrobiologie und Biochemie (Canghuilhem 1971: 143). Die Molekularbiologie wird geboren (Kay 2000, 2001, 2004).157 Denkbar wurde das durch diskursive und technologische Übertragungs- und Vermittlungsleistungen der Kybernetik:

156 Haeckels Schriften zu Arbeitsteilung und Schöpfungsgeschichte erscheinen 10 Jahre später. Vgl. Zur Verbindung »Zellenstaat, Zellengesellschaft, Zellenrepublik« bei Virchow, Bernard, Haeckel: Canguilhem 1971: 145. 157 Vgl. »cybernetic metaphors by molecular biology: genes and enzymes [...] are considered to be capable of informing, regulating, directing, transcribing, and translating« (Dupuy 1994: 20, 78, 129; 146). Vgl. eine Linie gegen die Aufnahme dieser Metaphern in der Molekularbiologie nach Schrödingers Was ist Leben?, u.a. im Gefolge Max Delbrücks (ebd.: 77ff): Neben Klüver und Köhler greift der Embryologe Paul Weis frontal die kybernetische »mechanization of biology« (ebd.: 130) mittels Molekularbiologie an. Dupuy punktiert theoretisch

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»Die Möglichkeit einer solchen Neugestaltung verdankt sich dem Einfluß, den die Informationstheorie und die Kybernetik sehr schnell auf das wissenschaftliche Denken im allgemeinen gewannen. Es versteht sich von selbst, dass es ohne den Einsatz von Techniken, die noch vor einem halben Jahrhundert unvorstellbar waren, [...] unmöglich gewesen wäre, jene Gesamtheit von Forschungen durchzuführen, die es am Ende ermöglicht haben, die bewahrenden und innovativen Funktionen der Vererbung in der Desoxyribonukleinsäure zu lokalisieren« (Canguilhem 1971: 144).

3.3 Kybernetik I: Cannons Homöostase (1929, 1948-52) »the future is terribly unreal to the majority of us. And how shall it not be, when the past is equally unreal to us?« NORBERT WIENER 1951

Es ist der Physiologe Walter Cannon, dem oft ein gewichtiger Einfluß auf bestimmte Regulations-Konzepte des kybernetischen Diskurses nachgesagt wird.158 Gemeinsam u.a. mit seinem Schüler Arturo Rosenblueth arbeitete und publizierte er in einer Arbeitsgruppe bis mindestens 1949. Einige beeinflußte, protokybernetische Konzepte wurden bereits kurz vorgestellt. Cannon war ein vielseitiger Physiologe. Er hat als einer der ersten Röntgenbilder in der Physiologie genutzt. Wenn er seinen Patienten chemisch angereicherte Nahrung verabreichte, um den Kontrast entstehender Bilder zu steigern, diente das z.B. seiner Untersuchung der mechanischen Faktoren der Verdauung (1911). Seine Arbeiten mit Veteranen des ersten Weltkrieges mündeten in ersten Studien zu etwas, das als traumatischer Schock (1923) bezeichnet wurde. Cannon griff beim 1929 beginnenden Prägen des Ausdrucks ›Homöostase‹ teilweise auf Vorarbeiten zurück, u.a. auf eigene, 1915 entstandene. Sie beschäftigten sich mit der Arbeitsweise des Zentralnervessystems, körperlichen Veränderungen bei Schmerz, Hunger, Furcht und Wut. Als Gegenstände seiner frühen Untersuchungen gingen diese sog. Grundemotionen u.a. in eine Theorie der Emotionen ein: Zentralnervöse, später als rekursiv-kausal bezeichnete Erklärungen des Sachverhalts, daß Menschen auf Emotionen folgend handeln, also erst nachdem sie Emotionen empfinden. Und nicht umgekehrt (Cannon 1932: xiii). Cannon leistete aber vor allem eine weitere Abstraktion der Vorstellungen Claude Bernards zu physiologischer Regulation. Er führte im Kontext u.a. den Ausdruck ›Homöostase‹ ein. Damit wird abstrakt ein Gleichstand oder Gleichgewichtszustand bezeichnet. Weitergehende Abstraktionen he-

weiter bis zum 1968er Alpbach Symposium, um dort, mit Unterstützung Bertalanffys, das Modell ›Selbstorganisation‹, Theorien der Autopoiesis, Kybernetik zweiter Ordnung mit vorbereitet zu sehen: Dupuy 1994: 129-133. 158 Der Einfluß gilt in der Literatur als argumentativer Kernbestand: HWP 6: 1185.

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ben an. Cannon versteht nun unter Homöostase allgemeiner einen Zustand des Gleichgewichts, der durch Regulation erreicht wird. Im kybernetischen Diskurs wird dieser Kontext später konzeptuell und in Analogie aufgenommen. Cannon konzipiert zugleich erstmals einen spezifischen Regulationstyp und bringt ihn auf einen Begriff. Dieser Regulationstyp strebt konstant und zugleich dynamisch auf Gleichgewichtszustände zu und deren Erhalt. An Bernard anschließend prägt 1929 Cannon in einem Zeitschriftenartikel (Cannon 1929), 1932 in Wisdom of the Body den Begriff eines Gleichstands, einer organischen Homöostase. In zugleich rekonzeptualisierter und rekontextualisierter Form wird dieser Begriff zentrale Bedeutung entwickeln für den kybernetischen Regulations-Begriff, der Technisches und Organisches später in Analogie begreift und zugleich von einem ähnlich rekonzeptualisierten ›Homöostase‹-Begriff begleitet wird. 1932 definiert Cannon Homöostase erstmals gegenüber equilibrium in geschlossenen Systemen: »The coördinated physiological processes which maintain most of the steady states in the organism are so complex and so peculiar to living beings [...] that I have suggested a special designation for these states, homeostasis.« (Cannon 1932: 24).

Unter Homöostase wird kein irgendwie ›stehender‹, ›immobiler‹ Zustand bezeichnet. Vielmehr ein Zustand, der veränderbar ist und dennoch relativ konstant bleibt: »The word does not imply something set and immobile, a stagnation. It means a condition – a condition which may vary, but which is relatively constant.« (ebd.). Der Term selbst sagt jedoch noch nichts aus über jeweils spezifische Formen, mittels denen der mit ihm bezeichnete ›Zustand‹ erreicht werden soll, über jeweils notwendige regulative Mechanismen. Diese Mechanismen werden erst vorgestellt in Zusammenhängen des ›inneren Milieus‹ höherer (Säuge-)Tiere, sie sollen der Aufrechterhaltung von etwas dienen, das nun ›innere Ökonomie‹ benannten wird. Neben einer Vielfalt physiologischer Details prägen Cannons Text von 1932 u.a. soziale Analogien. In ihrem Zusammenhang kann erstmals dunkel die Vermutung umfassenderer, ›genereller Prinzipien‹ erscheinen: »It seems not impossible that the means employed by the more highly evolved animals for preserving uniform and stable their internal economy [...] may present some general principles for the establishment, regulation and control of steady states, that would be suggestive for other kinds of organization – even social and industrial – which suffer from distressing perturbations« (ebd. 24/25).

In Folge der Vorarbeiten u.a. Bernards beginnt bei Cannon ›Regelung‹ (control) erstmals ausdrücklicher einzutreten in ein Bedeutungsfeld, das eine Vorsilbe ›Selbst‹ kultivieren kann. Die Rede ist dann von einer ›selbsttätigen Regelung‹ oder einer ›Selbstregulation‹ (Cannon 1932: xiv, passim). Bezeichnet wird allerdings oft auch noch schlicht eine Form des »selfrighting« (ebd.: 25, passim). Im Sinne des ersten Falls individualisiert, soll

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Selbstregulierung z.B. Traumen verhindern. Der Begriff wird dann thematisch insb. in Kontexten von Stress sog. ›komplexer Organisationen‹, dort, wo eine »complex organization [...] is subjected to stress« (ebd.). Zwischen Generalisierung und Individualisierung umfaßt der Term ›Homöostase‹ bei Cannon ein weites Feld. Er kann gerade dadurch grundlegend für kybernetisch geprägte Weiterverwendungen anschlußfähig werden, die dann zusätzlich auch technisch kontextualisiert sind.159 Cannon spricht im Kontext jedoch weder bereits terminologisch oder ›technisch‹ Rückkopplungen an. Allgemeinere Überlegungen werden thematisch zu hier noch rein physiologischen Prinzipien. Es sind Überlegungen zu Zusammenhängen, wie wir es heute bezeichnen würden, wie »lebende Systeme gewisse Parameter konstant halten« (HWP 6: 1184). Cannons Ausgangspunkt ist 1929 die Frage, wie die Körpertemperatur von Warmblütern auf 37oC ›eingepegelt‹ wird. 1932 umgreift seine Fragestellung neben der Körpertemperatur bereits Bereiche des Wasser- und Salzgehalt des Blutes, der Aufrechterhaltung der Sauerstoffversorgung und des Blutzuckerspiegels, dem Protein-, Fett- und Kalzium-Gleichgewicht des Bluts (Cannon 1932: 177f). Bei Cannon beginnen hierbei ›general functions‹ und ›bodily structures‹ aufzutreten in Hinblick auf eine Verallgemeinerung der Frage, wie solche organischen Funktionen und Strukturen regulativ in einer jeweiligen sicheren ›Marge‹, einer »margin of safety« (ebd.: 231, passim) gehalten werden. Es ist dieser Bereich von safety und begleitende kontextuelle Konzepte und Fragestellungen, die bei Cannon bereits 1932 ausdrücklich auch an sozialen Konstellationen veranschaulicht werden, teils probeweise auf sie übertragen. Kybernetisch anschlußfähig, sollen zwischen biologischer und sozialer ›Homöostase‹ ausdrücklich bestimmte Verhältnisse bestehen, werden »relations of biological and social homeostasis« (ebd.: 305) angenommen. An bestimmten organischen ›Gerätschaften‹, die ausdrücklich im Gefolge von Bernards Arbeiten zum ›inneren Milieu‹ (ebd.: 287) rekonstuiert werden, eröffnet Cannon seine sozialen Transfers noch etwas sperrig, vorbei an Konjunktiv-Gestrüpp: »May not the devices developed in the animal organism for preserving steady states illustrate methods which are used, or which could be used, elsewhere?« (ebd.). In Cannons Augen dienen ›stetige‹ Zustände, ›steady states‹ offensichtlich der ›Wohlfahrt‹ des Organismus und seiner Steigerung. Wo die Homöostase innerer Umwelten erhalten wird, wird schlicht die Wohlfahrt des Organismus ›bevorzugt‹: »favor the welfare of the organism by preserving homeostasis of the internal environment« (ebd.: 297). Im Kontext verweist Cannons bereits auf »analogies between the body physiologic and the body politic« (ebd.: 305). Einsichten der Or-

159 Dort sind es dann Vorgänge, die »einen bestimmten Sollzustand (Soll-Wert) trotz der Wirkung verändernder Einflüsse dadurch aufrechterhalten, daß jede Abweichung gesetzmäßig, also selbsttätig, über einen gesonderten Funktionsweg (Rückkopplung) eine Gegenwirkung verursacht« (HWP 8: 474).

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ganisationsform von Individualkörpern könnten u.U. dem Verständnis des Körpers z.B. von Gemeinwesen dienlich werden, auch hinsichtlich bestimmter ›Defekte‹: »Might it not be useful to examine other forms of organization – industrial, domestic or social – in the light of the organization of the body? [...] May not the new insight into the devices for stabilizing the human organism [...] offer new insight into defects of social organization and into possible modes of dealing with them?« (ebd.: 305/306).

Cannon zufolge ist in den Zellen eines Zellverbands alles harmonisch geregelt: Nahrungsaufnahme dient dem Aufbau, Erhalt und der Reparatur der Struktur, ›Müll‹ eigener Aktivitäten wird entsorgt, Energiespeicherung und Sicherung dient dem Zweck von »special services for the organism as a whole« (ebd.). Alles funktioniert, ist arbeitsteilig verfaßt und durch inhärente Automatismen gut reguliert, ist »well regulated by inherent automatisms« einer allgemeinen »division of labor« (ebd.: 307). Die gut regulierte Arbeitsteilung zwischen den Zellen läßt fatigue, Erschöpfung selten aufkommen und verhindert auch insofern eine ›Ineffektivität‹ des Gesamts. Fast prägt eine sozialdemokratische Wohlfahrt Cannons Homöostase-Konzept: Selbst Zellen, die eine allgemeine Konstanz des Gesamtorganismus kontrollieren, leben nicht für ihre Eigeninteresse. Vielmehr ist dieses durch die allgemeine Wohlfahrt andernorts vermittelt, für »the welfare of the cells in other organs essential for the body, and also for their own welfare« (ebd.: 309). Angesichts der Alternative eigener Unfähigkeit und Nutzlosigkeit beruhen gut regulierte, gegenseitige zelluläre Abhängigkeiten in Organismen auf individueller Rechtschaffenheit: »the integrity of the organism as a whole rests on the integrity of the individual elements, and the elements, in turn, are impotent and useless save as parts of the organized whole« (ebd.). Isolierte Zellen und primitive menschliche Gruppen teilen Cannon zufolge eine Abhängigkeit von Umweltbedingungen. Das schmälert ihren grundsätzlichen Vorteil einer großen räumlichen Bewegungsfreiheit enorm. Daher sind es nur große ›Aggregationen‹ von Menschen, die den Vorteil von Organismen erfahren. Denn nur Organismen können unter Bedingungen von Arbeitsteilung und Wohlfahrt eine interne Organisation entwickeln, die gewissermaßen eine ›wohlige‹ Ausbildung individueller Fähigkeiten zuläßt: »the welfare of the large community and the welfare of its individual members are reciprocal« (ebd.: 310). Im Sozialen existieren nun aber z.B. auch ökonomische Fluktuationen, fehlt Stabilität. Ganz im Gegensatz dazu hat es der Organismus gelernt, sich gegen Störungen zu schützen: Er weiß, wie man »protect itself for decades against perturbations« (ebd.: 311). Im Bereich des Sozialen existieren für Cannon zwar bereits Frühformen ›sozialer Homöostase‹, sie sind allerdings in ihrer bisherigen Entwicklung noch eher denen niederer Tiere vergleichbar. Daß ist ihm ein Grund dafür, daß im Sozialen noch immer radikalen Revolten starker Konservativismus folgt und

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umgekehrt, eine dauernde Abfolge von »social swings and their reversal« (ebd.: 312) keinen Ausgleich findet. Cannon vermutet, daß die soziale Organisation, verglichen mit bereits bestehenden organischen Mechanismen, eher rudimentär ausgeprägt ist: »Is it not possible that social organization, like that of the lower animals, is still in a rudimentary stage of development?« (ebd.). Experimentelle Weiterentwicklung durch »trial, error and correction« (ebd.: 318) könnten daher notwendig werden. Denn auf gesellschaftlicher Ebene fehlt offenbar noch etwas, das der ›fluid matrix‹ des Organismus entspricht, ein Verteilungssystem, ein »system of distribution«. Diesem Ideal ähnlich sind bisher nur Beförderungswege und deren ›Ströme‹, beliefernde und entnehmende Tauschformen von Waren und ihre Medien Geld und Schuld (ebd.: 314, 318: »processes of commerce«). Ob in Kommunismus, Sozialismus oder den zeitgenössischen Überlegungen zum amerikanischen Wohlfahrtsstaat (ebd. 321): Eine stabile und kontinuierliche ›Belieferung‹ humaner Grundbedürfnisse (Essen, Kleidung, Wärme, Krankheitsversorgung, dauerhaftes (Grund-)Einkommen für sinnvolle Arbeit) muß erst noch sichergestellt werden. Um allerdings soziale ›Perturbationen‹ zu verhindern, müssen – wenn die jeweils betrachtete soziale Gruppe nicht von ›Krankheitskeimen‹ geschwächt werden will – Mechanismen entwickelt werden, die Angebot an Nachfrage regulieren, die für Krisen Vorräte anlegen, monetär Arbeitslosigkeit vorsorgen, Fähigkeiten für neue Arbeit trainieren, Waren-Distribution und -Produktion steuern. Kurz: Die ›normale Zustände‹ wiederherstellen. Eine derartige Stabilisierung wird Cannon zufolge in Organismen bereits durch einfache, niedere Automatismen des Gehirns sichergestellt. Eine soziale ›Evolution‹ könnte geschehen, die sich hieran ein Beispiel nimmt: »Intelligence, and the example of successful stabilizing processes already in action, may make the evolution in society rapid.« (ebd.: 319). Um keine unbegrenzt wachsenden ›Geschwüre‹ entstehen zu lassen, ist aber eine ›Erdung‹ und eine nach Innen und nach Außen quantitativ regulierte, stabile Population notwendig. Anzustreben ist eine »population which is adjusted to reasonably assured means of subsistence and which is undisturbed by large increases from either local or foreign sources.« (ebd.). Ein zentraler Unterschied trennt 1932 noch Cannons Organismen vom Sozialen: der Tod. Er wird im einzelnen Organismus durch eine langsame Zelldegeneration ausgelöst, die selbst stabilisierende Elemente umfaßt. Dadurch müssen sich die regulativen Anpassungskräfte immer stärker abschwächen: »homeostatic devices, [...] powers of adjustment [...] are greatly restricted as one grows older« (ebd.: 206). Staatliche Gebilde sind bereits fortschrittlicher, dort findet an dieser Stelle ein permanenter ›refresh‹ der Kräfte statt: »a state or a nation, does not need to contemplate its own end, because its units are ceaselessly refreshed.« (ebd. 320). Selbst wenn ein solches, zumindest prinzipiell politisch todloses System durch Wettbewerb, Egoismus oder technologische Fortschritte immer wieder zu regulierende Elemente aufweist, kann es stabilisierende Prozesse permanent aufrecht-

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erhalten. Die soziale Organisation bleibt stabil. Indem politische homöostatische Regulationen solche Grundbedürfnisse zu stillen versuchen, die selbst wiederum die individuelle ›körperliche‹ Homöostase unterstützen, stellen sie auf der Ebene des Sozialen und des Organismus das zentrale Gut sicher einer Freiheit von ›Knechtschaft‹ unter die ›basics‹. Effekt und Movens dessen sind stabile Zustände im politischen Ganzen und seinen Individuen: »With homeostatic devices, that keep essential bodily processes steady, we as individuals are free from slavery [...] the main service of social homeostasis would be to support bodily homeostasis. [...] With essential needs assured the priceless unessentials could be freely sought. [...] steady states in society as a whole and steady states in its members are closely linked [...] for the discovery of a statisfactory and invigorating social milieu« (ebd.: 323).

Aus Theorien wie diesen wird später versucht, Technologien entstehen zu lassen. Auch an diesem ausdrücklich sozial, humanistisch konnotierten Cannonschen Begriff ›Homöostase‹ und seine Herkunft wird sich der kybernetische Diskurs zu Beginn der 1940er Jahre anschließen. Die skizzierten ›sozialen‹ Überlegungen Cannons von 1932 werden dann aber nicht mehr ausdrücklich benannt. Ihre politische Dimension aber bleibt von Gewicht.160 Weniger als von einem bestimmten Politikverständnis aus Technologien zu untersuchen wird es spätestens im Gefolge der ersten Kybernetik notwendig, jeweils plural verortete politische Dimensionen neu entstehender, wirkungsmächtiger Technologien und ihrer Diskurse zu untersuchen. Auf dem Boden ihrer jeweiligen Wissensökonomie sind jeweils technologiennahe Programmatiken und deren Politiken typologisch zu rekonstruieren (jeweilige Dispositive und diskursive Gouvernementalitäten), historisch zu periodisieren bis hin zu jeweiligen Interaktionen mit anderen. Auf die sich u.a. an Cannon anschließende, erste Kybernetik folgend ist kein Ende absehbar. Neben dem später u.a. mit Demographie-Extra-

160 Ganz buchstäblich abseitiges Negativbeispiel ist Hermann Schmidt, der 1940 im deutschen Reich, parallel zu den amerikanischen Entwicklungen im frühen kybernetischen Diskurs, erste ausdrückliche Analogiebildungen entwickelt zwischen biologischen und technischen Regelungsprozessen – und sie überträgt, z.B. im Kontext der Verwaltung großer Betriebe. Die »Aufrechterhaltung/Wiederher-stellung einer Betriebsordnung« (Rothschuh 1972: 92) wandert hierbei wieder aus der Zelle aus. Regelungstechnik wird dann im deutschen Kontext zu einer Instanz, die die Lösung der »sozialen Frage« (Schmidt 1940: 88) in Aussicht stellt. Ist das ein allein als »zeitbedingt« (HWP 8: 475) verständlich zu machendes Phänomen? Ist es bei allen gravierenden Unterschieden alleine die deutsche ›Regelungstechnik‹ die ›politische‹ Züge aufweist durch Aussagen wie »im Hinblick auf die Wirtschaft und die Sozialpolitik ist es die verpflichtende Aufgabe des Technikers: Alles regeln, was regelbar ist, und das nicht Regelbare regelbar machen« (ebd.)?

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polationen beschäftigen Heinz von Förster ist auch William Rosh-Ashby eher Kybernetiker der zweiten als der ersten Stunde.161 Einer Kybernetik, die in den neoliberalen 1980er Jahren, parallel zur Ausbreitung der ›persönlichen‹ Computer, Mainstream-Wirkungen entfalten wird – teils gegenüber gegenkulturellen ökologischen Kybernetismen, teils im Gefolge ihrer Verwissenschaftlichung. Abseits vom engeren kybernetischen Kreis entwickelt Ashby 1947 erste Grundzüge einer Theorie von etwas, das später als ›selbstorganisierende Systeme‹ bezeichnet wird.162 Für Dupuy beginnt bereits hier eine erste ›rupture‹ gegenüber bisheriger Kybernetik zu entstehen (Dupuy 1994: 153), Grundlagen erster Ausläufer hin zur Kybernetik zweiter

161 Die zweite Kybernetik wird in einem gewichtigen Zweig durch Heinz von Förster propagiert und initiiert. Er war bis 1945 an Grundlagenforschung zu NS-Rüstungsprojekten beschäftigt, knapp an der Dissertation gescheitert durch Fehlen des Arierausweises. 1949 war er durch Vermittlung McCullochs zu den Macy-Konferenzen hinzugekommenen – und hatte sie Cybernetics benannt. Von Förster hat ab 1953 versucht, »nach den Ende der Macy-Group (1953) [...] ihr Erbe weiterzuführen« (Müller 2000: 13). Wenn er zeitgleich noch bei McCulloch und Rosenblueth arbeitete, geschah dies anfangs parallel zur Arbeit im Electron Tube Lab, aus dem ab 1958 das BCL, das Biological Computer Laboratory, eine eigene Abteilung innerhalb des Depatments of Electrical Engineering an der University of Illinois wurde. Hier entstehen später neben Weiterentwicklungen der Systemtheorie erste Theorien der Bionik u.a. in Rekurs auf McCulloch/Pitts (ebd.: 20). Als eines der zentralen Projekte ist dabei weniger das nicht umgesetzte, dezentrale, natürlichsprachig adressierbare Alltagswissens-Suchmaschinen-Projekt SOLON (vgl. ebd.: 219) zu nennen. Zentral ist das sog. Doomsday-Projekt. Es sollte prognostisch die demographische Entwicklung der Weltbevölkerung besser extrapolieren als herkömmliche Verfahren, was ihm offenbar bis weit in die 1980er Jahre hinein gelang (von Förster 1959, 1961a, 1961b). Diese Arbeiten schaffte dem BCL Resonanz und Öffentlichkeit. Das BCL wurde bis 1970 finanziert über medizinische Programme, die US-Airforce und US-Navy. Ähnlich wie Gotthart Günther durch McCulloch ans BCL kam, hatte Ross-Ashby dort bis 1972 eine Professur inne. Maturana wird dort 1970 nach einer Cognitive Studies and Artificial Intelligence Research-Konferenz (1969) einen der ersten Texte zu Autopoiesis entwickeln, parallel von Förster Texte zur Kybernetik zweiter Ordnung. Vgl. weiterführend: Müller 2000: 10; zu dort entstandenen Wahrnehmungs-Maschinen: ebd.: 24f. Nach BCL-Schließung arbeitet Förster bei Bateson, ebenfalls Macy-Partizipant, im Mental Research Institute Palo Altos. Vgl. Details zum Entstehen Kybernetik zweiter Ordnung im Gefolge Ashbys: Dupuy 1994: 148f; fundamentale Mißverständnisse der Kulturanthropologie Batesons/Meads: ebd. 156. 162 Vgl. Ashby 1947, hier wird der Term Selbstorganisation adverbial genutzt: ›self-organisating‹, vgl. Ashby 1952: 595. Vgl. zu Ashby im Verhältnis zur englischen Kybernetik: Pickering 2007: 87f; Dupuy 1994: 148ff.

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Ordnung, neue Konzepte, die später mit einer neuen »physics of populations‹ – wheter automata or molecules« (ebd.: 154) kompatibel sind. In einem Text von 1948 konkretisiert Ashby erstmals einen sog. ›Homöostaten‹, der als einer der ersten ›kybernetischen Artefakte‹ wahrgenommen wurde. Der Apparat entsteht noch vor den ausdrücklicher im ersten kybernetischen Gebiet entstandenen wie Grey Walters ›lichtsuchende Schildkröten‹ Elmer und Elsie (1948/1949) und Shannons Theseus, einer elektrischen ›Ratte‹, die selbständig ›lernen‹ soll, Labyrinthrätsel zu lösen (Shannon 1952: 289). Will man Kybernetik nicht nur in Anfängen einer neuen Robotik aufgehen lassen, dann konnten diese Artefakte auf den Macy-Konferenzen wohl auch erstmals einen Eindruck von Evidenz erwecken, daß Kybernetik einlösen konnte, was sie versprach, daß »Cybernetics was powerful, because it worked« (Hayles 1999: 62). Prototypen als sinnfälliges Zeichen allgemeinerer Wirksamkeit, als Bestärkungsinstrument, als Medium wirksamen, auch öffentlichkeitsmächtigen Für-wahr-haltens? 163 Ross-Ashbys Artefakt von 1952 jedenfalls scheint nicht ›griffig‹ genug gewesen zu sein, um im kybernetischen Kontext umfänglicher Gehör zu finden. Er war abstrakter und zugleich einfacher aufgebaut. Ashbys ›Homöostat‹ bestand aus vier untereinander verbundenen Magneten, die auf externe Störungen ihrer Operationen reagierten, indem sie durch gegenseitige Rückkopplung untereinander ihren anfänglichen stabilen Zustand wieder herstellten.164 Gegenüber den anderen Artefakten, die nachvollziehbare, lebensweltlich konkrete Ziele verfolgten, war das einzige ›Ziel‹ von Ashbys Apparat – so wurde es verstanden – schlicht die Aufrechterhaltung der eigenen Operationsbedingungen, das Anstreben eines stabilen, statischen Zu-

163 Da theoretische Konzepte der Voreilrückkopplungen 1943 nicht öffentlich werden konnten, war es McCullochs Modell menschlich/maschinell verkörperter ›idealer‹ Neuronen, das zuvor in eine bestärkende Mittelposition gerückt worden war (Frage: was ist eine Zahl, daß der Mensch sie verstehen kann, und ein Mensch, daß er eine Zahl kennen kann). Ab 1948 sind es ganz handfest ›funktionierende‹ Maschinen, in denen nicht nur abstrakt und theoretisch das bisher zusammengetragene diskursive kybernetische Gesamt, eine Äquivalenz zwischen Mensch und Maschine für wahr gehalten werden konnte: »both humans and cybernetic machines are goal-seeking mechanisms that learn, through corrective feedback, to reach a stable state.« (Hayles 1999: 65, 63). Ab 1948 bildete die verkörperte Theorie der Artefakte selbst eine Mitte zwischen Mensch und Maschine: ›Loop‹ zurück zu Wieners Ausgangspunkt, Menschen in die Mitte zwischen Maschinen zu setzten, dem maschinenkompatiblen Konzept des ›man in the middle‹ als »operator sandwiched between a radar-tracking device on one side and an antiaircraft gun on the other« (Hayles 1999: 68), das später, auf der 6. Macy-Konferenz 1949 wieder diskutiert wurde: »what kind of a machine have we put in the middle?« (Stroud 1949; Hayles 1999: 68). 164 Vgl. Ashby 1948, sowie Hayles 1999: 65. Im Internet finden sich zum Homeostat Skizzen Ashbys und eine interaktive Java-Applikation zum Nachvollzug.

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stands. Er wurde später darstellbar als erstes Exempel eines ›ultrastabilen‹ Mechanismus. Bis 1960 konnte Ashby die in seinem ersten Artefakt verkörperte Theorie weiter ausarbeiten. Abseits von Konzepten ›einfachen‹ negativen Feedbacks entstanden Theorien adaptiven Verhaltens auf mehreren FeedbackEbenen, von Stabilität höherer Ordnung.165 Sie gingen bereits, u.a. durch Einfluß von Theorien eines ›Fließgleichgewichts‹, über den Kontext der Paleo-Kybernetik hinaus (Ashby 1960). Bereits 1952 spricht Ashby auf einer Macy-Konferenz bei der Diskussion seiner Thesen zum ›Homöostaten‹ von der »adaptive reaction« (Ashby 1952: 595, Dupuy 1994: 149) des Apparats, versteht ihn zugleich anschlußfähiger als ein »mechanical brain« (ebd.: 605; Ashbys 1952b). Die hier bereits ausdrücklich intendierte Anpassungsleistung dieses ›Gehirns‹ an seine Umwelt soll über »corrective feedback« (ebd.: 602) verlaufen, über »self-correcting power« (ebd.: 607) eines ›Systems‹ mit »second order feedback« (ebd.).166 Diese Anpassung wird nun beschrieben als ein »struggle with its environment« (ebd.: 393), in Analogie zum biologischen struggle zwischen Organismus und Umwelt. Konstant gehalten werden müssen »essential variables« (ebd.): »Let the enviroment be represented by the operator, E. The organism’s problem is to convert its brain into an operator, which might be represented by E-1. It must be the inverse operator, in a sense to E, because if a disturbance [...] throws the essential variables off their proper values [...] the effect must be negative so as to get the inverse change coming back to the essential variables« (ebd.: 594).

Das von Ashby 1952 auf der Basis seines Apparats offenbar aufgeworfene Problem nach Anpassung an Umwelten entwickelt sich im kybernetischen Macy-Kontext zu einer von Leben und Tod überschatteten Frage: »given E, the organism’s problem is to find E-1. If E-1 is multiple, it must find one of them. If it solves this problem; it lives, if not it dies.« (ebd.: 595). Ashbys Anliegen ist, abstrakt und rekonstruierbar die adaptive ›Brain‹-Reaktion E-1 als einen Lernprozeß der Selbsterhaltung (ebd.: 599) zu formalisieren. Trotz seines Versuchs, im kybernetischen Kontext Fragen nach Komplexität zu thematisieren (ebd.: 596, 613), kritisiert die Macy-Reaktion gerade – eine der hitzigsten in ihrer Geschichte167 – fast einhellig eine Reduktion: »He has frozen the environment« (ebd.: 599).168 Der Apparat wird versucht zu verstehen in Analogie zu tierischem Jagdverhalten (ebd.: 611f), ihn verlässt nach Lernprozessen allerdings immer wieder die Erinnerung (ebd.: 615; zum McCulloch-Modell: ebd.: 618/619). Die zu Beginn noch separat eingeführten Variablen Umwelt und Organismus – das System versucht

165 166 167 168

Erstes Schiffsmodell kybernetischer Steuerungsmetaphern: Ashby 1952: 593. Es ist Objekt und Umwelt, »machine within a machine« (Ashby 1952: 609). Vgl. Müller 2000: 13. Vgl. Dupuy 1994: 149.

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Umwelteinflüsse hineinzuholen und zugleich ab- und auszugleichen – können, so die vorherrschende Meinung, in ihrer formalen Konzeptualisierung nur dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn von einer kontrollierten und reduzierten Umgebung ausgegangen wird, die sich überhaupt in einigen Variablen repräsentieren lässt (vgl. ebd.: 601), die ›unbeweglich‹, als kaum variabel gedacht wird (vgl. ebd.: 603). Ashybs Überlegungen zu ›korrektiven‹ Feedbackschleifen zweiter Ordnung (ebd.: 607) gehen im Kontext fast vollständig unter. Ashbys ›Homöstat‹ scheint entgegen den vorgestellten, ›animalisch‹ anmutenden Geräten nicht verstanden worden zu sein als ein den vorherrschenden paleokybernetischen Vorstellungen von Selbstregulation und Zielsuche angemessener, insofern ›homöostatischer‹ Apparat.169

3.4 Kybernetik II: Automaten, public health, Pathologie (1949-52) »Erfindung ist uns nicht etwa nur Hilfe und Erleichterung, ohne sie wären wir bereits dem Mangel zum Opfer gefallen. [...] In wenigen Generationen wird die Befriedigung der lebensnotwendigen Bedürfnisse der Menschen von Erfindungen abhängen, die erst noch gemacht werden müssen.« N. WIENER, 1950 »Wir müssen schöpferisches Leben kultivieren, wie wir in der Verwaltung die Leistungsfähigkeit gepflegt haben. [...] Wir brauchen eine Organisation, die ein waches Auge sowohl auf die Tatsachen des Erfindens als auch auf unsere immer größer werdende Abhängigkeit von weiteren Erfindungen hat« N. WIENER, 1952

1948 stellt Norbert Wiener im Kapitel ›Information, Sprache und Gesellschaft‹ der einflußreichen Monographie Cybernetics mehrere Überlegungen an. Sie beschäftigen sich u.a. mit Informationsflüssen in bestimmten Formen von Organisationen, »deren Elemente selbst kleine Organisationen sind« (Wiener 1968: 191). Seine Rekonstruktion durchläuft mehrere Ebenen. In Rekurs auf Hobbes’ Leviathan beginnt sie bei staatlichen Gebilden, einem 169 Vgl. die These, Ashby bringe die erste Kybernetik als einziger mit starkem ›Mentalismus‹ in die Defensive überschreite sie zugleich in Tradition Leibniz: Dupuy 1994: 150. Vgl. zum neuen Konzept ›Organisation‹: ebd.: 151.

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»aus niederen Menschen aufgebaute[n] Staatmensch« (ebd.). Wie bei ähnlichen Formen, z.B. Tieren und Pflanzen, ist die Ebene der ›niederen Menschen‹ nun selbst wiederum »aus Einheiten, Zellen aufgebaut« (ebd.). Und zugleich durchziehen die ›Oberflächen‹ der Elementarkörper abgleichende Informationsströme.170 Wiener vergleicht sie z.B. mit Sexualhormonen von Bienen (ebd.: 193), der Geruchskommunikation von Ameisen (ebd.: 192). Wiener versucht z.B. die Rekonstruktion von etwas, das er als ›rassisches Informationsmaß‹ individualisiert.171 Oder er versucht, »die Autonomie einer Gruppe zu messen« (ebd.). Andererseits wird befürchtet, Gesellschaften könnten sich in Folge und mit einer Kybernetik, die solche Rekonstruktionen ermöglicht, durch deren neue Instrumente und Konzeptualisierungsweisen hindurch gewissermaßen in neue Formen von Ameisenstaaten verwandeln. Als Korrektiv gegenüber dem Befürchteten wird versucht, eine Aufwertung des Individuums zu betreiben – oder besser: gegenüber Kollektiven ein liberales, verantwortungsbewußtes Subjekt stärker zu akzentuieren. Durch Wieners Basis-Axiome hindurch scheint prinzipiell keine signifikante Differenz in der Sache mehr gegeben oder statuierbar zu sein zwischen menschlicher Verständigung und derjenigen z.B. von Ameisen. Graduelle Differenzen werden thematisch, z.B. der Komplexität (ebd.: 192). U.a. körper- und geschlechterpolitisch motiviert hat Katherine Hayles an diesem Punkt die Versuche des Mannes Wieners herausgearbeitet, in seiner Rekonstruktion trotz einiger genau gegenteiliger theoretischer Implikationen an einem autonomen, liberalen Subjekt festzuhalten. Sie versteht es als Residuum von Kontrolle, das u.a. den geschilderten ›Strömen‹ gegenübergestellt werden kann (Hayles 1999: 108). Hayles weist auf den Sachverhalt hin, daß hier Implikationen von Wieners Aufarbeitung des Feldes konfligieren mit Kategorien der Beurteilung. Paradoxe Bilder entstehen. Auf der Ebene menschlicher Kollektive existiert ihm zudem ein Problem, das er ›mangelnde Homöostase‹ nennt. Es ist deren Abwesenheit oder ihr fehlerhaftes Funktionieren, die größere menschliche Kollektive für Wiener noch als vieles erscheinen läßt, schwer aber als optimal funktionierender ›Ameisenhaufen‹. Noch findet man ein Feld, »wo die ›Herren aller Dinge‹ sich vor dem Hunger durch Reichtum, vor der öffentlichen Meinung durch Geheimhaltung und Anonymität, vor persönlicher Kritik durch die Beleidigungsklage und den Besitz der Nachrichtenmittel schützen« (ebd.: 198). Wenn menschlichen Kollektive eine gewisse Größe erreicht haben, tendieren sie Wiener zufolge zu einer gewissen informationellen Dummheit: »Wie das Wolfrudel ist der Staat, obgleich, wie wir hoffen wollen, zu einem

170 Vgl. Hayles 1999: 2. 171 »So hängt die Frage, ob ein Stück Information rassisch oder von rein persönlicher Gültigkeit ist, davon ab, ob es in dem aufnehmenden Individuum eine Form von Aktivität zur Folge hat, die durch andere Mitglieder der Rasse als eine klare Form von Aktivität erkannt werden kann in dem Sinne, daß sie wiederum auf deren Aktivität einwirken kann u.s.f.« (ebd.: 194).

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weniger hohen Grad, dümmer als die meisten seiner Komponenten« (ebd.: 199). Der »Organismus« (ebd.: 198) größerer menschlicher Kollektive krankt noch an einer »Beherrschung der Nachrichtenmittel« (ebd.), einem der wichtigsten »antihomöostatischen Faktoren in der Gesellschaft« (ebd.). In derjenigen Form von »Gesellschaft, die für den direkten Kontakt ihrer Mitglieder zu groß ist« (ebd.), sind es ihm zufolge die herrschenden Medien, die ein Problem darstellen. Denn diese Medien sind noch »in den Händen der eng begrenzten Klasse der Reichen«, weswegen sie »natürlicherweise die Meinungen jener Klasse ausdrücken« (ebd.: 199). Das Problem der zeitgenössischen Medien besteht für Wiener noch darin, daß sie als »Hauptstraßen zur politischen und persönlichen Macht [...] jene anziehen, die nach dieser Macht trachten«, die »am stärksten an dem Spiel um Macht und Geld beteiligt sind« (ebd.: 199). Folgerichtig schenkt Wiener einer Suche nach »Sitten« mit einem »bestimmten homöostatischen Wert« (ebd.: 197) einige Aufmerksamkeit. Erste Fehlanzeige dieser Suche: Für ihn ist im Kontext einer liberalen Gesellschaft der »Glaube«, das »Dogma« eines freien Wettbewerbs Adam Smith’ als »homöostatischem Prozeß« (ebd.: 195) einer ›unsichtbaren Hand‹ nicht mehr wirklich weiter verfolgenswert: »Leider steht die Wirklichkeit dieser einfältigen Theorie entgegen« (ebd.). Eine zweite, aktuellere Anzeige wird bereits ambivalenter thematisch: Dem Markt ist für Wiener zwar nicht mit Smith, aber mit zeitgenössischen Kollegen besser beizukommen, er ist »streng der allgemeinen Theorie der Spiele unterworfen, die von Neumann und Morgenstern entwickelten« (ebd.). Aber auch deren Bild eines »Marktspiels« (ebd.: 196) – es konzipiert mittels Überlegungen zur Maximierung eines individuellen Nutzens und bei maximaler Unkenntnis sozialer ›Gegners‹ diese jeweils als »vollkommen skrupellose Person« – ist eine »Abstraktion und eine Verdrehung der Tatsachen.« (ebd.: 195). Folgte man ihm blind, änderte auch dies nichts am »Bild des höheren Geschäftslebens oder des engverwandten Lebens der Politik, der Diplomatie und des Krieges«. Im stetigen Auf und Ab wird bisher noch keine stabile ›Mitte‹ gefunden: »Es gibt keine wie auch immer geartete Homöostase. Wir sind in den Wirtschaftszyklen des Aufschwungs und Niedergangs verwickelt, in das Aufeinanderfolgen von Diktatur und Revolution, in die Kriege, die jeder verliert« (ebd.: 146). Neumanns Theorie greift ihm schlicht zu weit aus, seine ubiquitär konzipierten ›Gauner‹ sind immer auch von ›Narren‹ begleitet. Gibt es genug ›Narren‹, werden sie zum »Ausbeutungsgegenstand für die Gauner« (ebd.).172 Für die ›Gauner‹ muß eine mit statistischen Verfahren arbeitende »Maschinerie« (ebd.: 197) den Dienst übernehmen, die ›Narren‹ vorhersagen, besser in ihr Kalkül einbinden zu können: neuerliches Ungleichgewicht. Wiener lehnt »in der Anarchie der modernen Gesellschaft« (ebd.: 199) aber auch eine Ausweitung statistischer Verfahren auf staatlicher Ebene ab (ebd.: 200). Dagegen schwebt Wiener eine ›Homöostase‹ vor, wie sie

172 Zu Wiener als an »Fernlenkgeschossen« arbeitender ›Narr‹: ebd.: 197.

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noch »in einer kleinen Landgemeinde« (ebd.) durch soziale Kontrolle unter Beteiligten praktiziert wird. Wieners Problemkonstellation ›soziale Homöostase‹ bleibt ungelöst, Suchbewegungen werden sichtbar. Es ist abermals Wiener, der drei Jahre später, 1951, u.a. dem Publikum der Zeitschrift Science and Tomorrow, später klinischem Publikum, beispielhaft erste öffentlichkeitswirksame, ›humane‹ Anwendungsbereiche von Kybernetik verdeutlicht. Es wird u.a. eine neue ›public health‹ empfohlen, die Vision einer neuen »mathematical-physical medicine« (Wiener 1952a: 389) artikuliert einschließlich erster Vorschläge zur Ausbildung und neuen ›careers‹ von Ärzten. Geistige und biologische Funktionen gelten nun nicht mehr schlicht als organisch lokalisierbar. »phrenologists« sind verdächtig geworden (ebd.: 385; Wiener 1952: 178), Lokalisierbarkeitsthesen gelten nun als »too crude [...] to give a completely satisfactory physiological account« (ebd.: 385/ 386). Anschließend an Warren McCullochs Forschungen wird das Nervensystem bei Wiener durch einen »parallelism« (ebd.) zur »electronic computing machine« (ebd.) gefasst. Die neuen Maschinen »do not show a strict localization of function« (ebd.). Geht man, wie Wiener hier offenbar noch eher versuchsweise,173 von einer Nichtlokalisierbarkeit von Funktionen aus, werden umfassendere Blickwinkel der Problematisierung deutlich, die den medizinischen Mehrwert der neuen Theoriebildung ausmachen sollen. Versprochen wird eine erweiternde Verbesserung, eine Ergänzung vormaliger Prozeduren, eine komplexere Überblicksbildung: »over and above the localizable physiology and pathology of the elements [...] there is a grand [...] physiology and pathology of the system as a whole. [...] I repeat, functional disease may [...] have a localizable organic basis and yet the full concequences of this organic injury may only come to light if we consider the secondary consequences on the whole chain of organization« (Wiener 1952b: 394).

Wieners neuem Ansatz geht es darum, auch dort Probleme faßbarer machen zu können, wo in bisherigen Zugängen offenbar noch schlicht organisch ›gesunde‹ Zusammenhänge erscheinen. Denn auch was nach der herrschenden Sichtweise als gesund gilt, »show no pathology« (ebd. 395) kann Wiener zufolge ›krank‹ sein. Krankheiten, die »would not be disclosed by the usual pathological examination« (ebd.) werden thematisch, sie liegen »beyond anything that the doctor or the postmortem surgeon can evaluate«

173 Cybernetics spricht gegenteilig von ›physiologisch lokalisierbaren Fehlfunktionen‹, z.B. bei dreifacher Rechnungsführung zeitgenössischer Rechenmaschinen in drei verschiedenen Teilen, bei Ergebnis-Vergleich (Wiener 1952: 179/180). Wenn nicht identisch, wenn das »Minoritätsergebnis vom Majoritätsergebnis abweicht« (ebd.: 180) war ein Rückschluß auf den »Fehler« (ebd.) einer Röhre, dem »fehlerhaften Teil« (ebd.: 179) möglich. Effekt: »Entfernen und Ersetzen von defekten Elementen« (ebd.). Vgl. Heims 1981: 304; Heims 1991: 249.

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(ebd.: 396). Wie konkretisiert Wiener solche zuvor noch ›unsichtbaren‹ Krankheiten? Auch durch eine übermäßige Belastung prinzipiell organisch gesunder Elemente und Funktionen kann eine Gesamtorganisation leiden und überlastet werden, der zeitgenössische Traumabegriff wird weiter spezifiziert: »To a trauma there may well be functional sequelae as well as organic sequelae« (ebd.). Mittels Wieners visionärer neuer Medizin soll ein neues Gesundheitskonzept, sollen Krankheiten neuer Ganzheiten, sollen neue, gesundende Regulationsformen thematisch werden können. Hierzu müssen sie aber überhaupt erst einmal allgemeiner begreifbar werden. Im Kontext wird anschaulich klar, was Wiener unter der traditionsreichen SchiffahrtsMetaphorik der neuen Steuermannskunst Kybernetik verstanden haben will. Denn die steuernde, regelnde Stimme soll hier jegliches Ensemble, das ›Schiff‹ vollständig durchdringen. Steuernde Ströme vollziehen ihre Effekte auf gesteuerte Ströme subkutan und zugleich umfassend: »The important thing for our purpose is that the voice of the ship is vested in the ship as a whole, and is not located in any particular member or member of its structure« (ebd.).

Es ist eine »structure as a whole«, die auf neue Weise zählt.174 Im Zusammenhang einer neuen »relation between organic and functional disorders« (ebd.: 393) werden Strukturen als »organization« angesprochen (ebd.; Wiener 1952b: 392). Letztlich thematisieren Wieners Analysen eine bestimmte Funktion organisierter ›Gesamtheiten‹: ›Homöostase‹. Wie dezentralisiert sie auch immer auftritt, sie ist die ›Zentralfunktion‹. Ihr allein dient die »self-regulatory function of the living organism« (ebd.).175 Sie ist »not confined to any one locus or to any small number of loci in the organism, but belongs to the latter as a whole.« (Wiener 1952a: 387; Wiener 1950a: 181). Das Fundament jener generellen Form von ›Homöostase‹ bildet ein biologisch-physiologisches Faktum, die negativ rückgekoppelte Regulation. Sie gewinnt einen fast allumfassenden Einsatzbereich: »In short, the concept of the negative feedback is almost ubiquitous in physiology« (ebd.). In Rekurs auf kybernetische Konzepte negativer Rückkopplung und statistischer Normvorstellungen wird Homöostase kybernetisch definierbar als etwas, das schlicht notwendig zu sein scheint, um Organismen die »quite narrow limits for contuinued life to be possible« nicht überschreiten zu lassen (ebd.: 386).176 Kybernetisch informierte, negativ rückgekoppelte Homö-

174 Vgl. zu neuen ›Strömen die andere Ströme regulieren‹: Hayles 1999: 104. 175 Waldenfels betont, daß hier Selbstregulierung als etwas begriffen wird, dessen »Funktionalität an kein lebendiges Substrat mehr gebunden ist und doch einen Bezug aufrechterhält zu dem traditionellen Begriff der Natur als Inbegriff sich selbst bewegender und regeneriernder Wesen« (Meyer-Drawe 2000: 230). 176 Vgl. z.B. Blut-Kohlendioxydgehalt, Stehen/Laufen: Wiener 1952b: 392f; Pupillenanpassung an Lichtverhältnisse: Wiener 1952: 168.

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ostase gilt hier ausdrücklich als allgemeiner Normalisierungsmechanismus, als »an effective mechanism such that any serious departure from the normal initiates a process tending to bring conditions back to normal« (Wiener 1952a: 388). Umgekehrt wird zugleich eine defiziente Homöostase, werden bestimmte Krankheitsformen konzeptualisierbar. Krankheiten gelten der neuen ›mathematischen Medizin‹ Wieners als Folge eines Zusammenbruchs normalisierender Homöostase-Mechanismen: »important part of the disease is a rather complicated breakdown in a homeostatic mechanism« (ebd.). Sie liegen vor, wenn einer oder mehrere dieser Mechanismen »has been removed or rendered incapable of action« (Wiener 1952b: 392). Das Homöostase-Konzept wird im medizinischen Grundbinarismus verortet. Es wird »fact when there is a physiology of homeostasis there is also a pathology of homeostasis« (ebd.). Eine Krankheit tritt ausdrücklich auf den Plan: Weniger als lokalisierbarere Teile betrifft die homöostatische ›Pathologie‹ stärker die ganze ›Organisation‹ – »a disease of organization rather than a disease which we can locate in a particular part« (ebd.: 393). Die Hauptgefahr einer solchen Pathologie besteht in einer Unvorhersehbarkeit betroffener Mechanismen, wenn z.B. die »nervous and mental machinery in unforeseen or unforeseeable ways« (ebd.: 396) funktioniert. Die neu sichtbar gewordenen ›disorders‹ sollen mittels neuer Konzepte behandelbar werden. Das Problem besteht im Finden jeweils angepaßter Prozeduren, to »restore the disordered system to a normal level« (ebd.: 392).177 Konsequent werden kranke, nicht-korrigierte Prozesse als in sich kreisende Bewegung, als »vicious circle«, Teufelskreise bezeichnet, ›normale‹, geordnete Prozesse hingegen als »virtuous circles« (ebd.). Solche Regelkreise tragen immer bereits ein Tendenz der Rückkehr ins Normale in sich, eine »tendency to return us to the normal, or at least the viable« (ebd.). Führen die »vicious circles« zum Verlusts des Gleichgewichts, dann die »virtuous circles« zurück zu Normalwerten: Sie sind dann ›viabel‹, brauchbar, existenz-, entwicklungs- und vor allem lebensfähig. Sie funktionieren ›proper‹, angemessen, echt und ordnungsgemäß. Aufbauend auf kybernetischen Telelogie-Konzepten – negative Rückkopplung führt zur Erreichung eines Sollwerts – gilt auch im kybernetischen Kontext Homöostase: »Regelung beruht wesentlich auf der Weitergabe von Nachrichten, die den Zustand des Systems ändern« (Wiener 1950a: 20). Solche Rückmeldungen vollziehen sich auf der Grundlage einer »tatsächlichen statt [...] erwarteten« (ebd.: 23), nicht einer »beabsichtigte[n] Tätigkeit« (ebd.: 26). Indem sie »zum zentralen Regulationsapparat« (ebd.) zurückgemeldet werden, wird

177 Hier werden nicht nur Analogien zu mechanischen Kontexten erscheinen. Zur Wiederherstellung normaler Zustände sind »correcting signals« notwendig, die eine Verstärkung durchlaufen, elektronische Röhren können genutzt werden: »present electronic techniques of engineering differ from the techniques available in other periods[...] for the first time we have in the electronic tube [...] tools which can be freeley used to amplify signals« (Wiener 1952b: 393).

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selbstverständlich und exakt eine Normalisierung ihrer jeweiligen Tendenz eingeleitet. Kybernetische Regulation wird im Kontext Homöostase und der neuen, formalen Krankheitslehre medizinisch kontextualisierbar.178 Mit Claude Bernard und Walter Cannon als Ahnherren wird ein gemeinsamerer »general purpose« konstatiert: »physiological dynamic equilibrium« (Wiener 1960: 772). Dieser generelle Zweck wird gedacht als über ein weiteres »goal« vermittelt, über den jeweiligen individuellen Lebenszweck, »purpose of life« (Wiener 1960: 774). Er stellt nicht das Weiterbestehen der Menschheit in Frage, optiert immer wieder zugunsten einer »continued existence as men and as the human race in the face of our ever-changing environment« (ebd.). In Individual- und Gattungsperspektive gilt, was Wiener bereits 1948 in Cybernetics festgestellt hat: Homöostase ist »für die Fortdauer des Lebens wesentlich« (Wiener 1952: 146), da »die Bedingungen, unter denen Leben, besonders gesundes Leben in den höheren Tieren, fortdauern kann, [...] eng begrenzt« (ebd.) sind. Aus diesen letzten Gründen erscheint es Wiener selbstverständlich, daß »jedes vollständige Lehrbuch über Kybernetik [...] eine sorgfältige, detaillierte Erörterung der homöostatischen Prozesse enthalten« sollte (ebd.: 147). Hinsichtlich der Konzeptualisierung homöostatischer Mechanismen können kybernetische Technologien Wiener zufolge Beiträge zu letzten Fragen der Gattung leisten. Bereits 1951 tritt Wiener, noch immer auf medizinischem Gebiet, experimenteller auf. In Fragen von Homöostase beginnt er nun gewissermaßen dort, wo Bernard geendet hatte – in Kontexten der Anästhesie. In Analogie zum Thermostat (Wiener 1952a: 387) stellt er wohlwollend einen zeitgenössisch neuen »right way to regulate anaesthesia« (Wiener 1951: 66) zur Diskussion. Die schwierige Aufgabe der Handhabung wird nun nicht mehr der Erfahrung, »art« und »handycraft« (Wiener 1952: 384) ausgebildeter Anästhesisten anvertraut. Begeistert zur Diskussion gestellt wird ein neu in Entwicklung befindlicher Apparat, ein »mechanical anaesthetist« (ebd.). Bei entstehenden Peaks der gelesenen EEG-Nerventätigkeit anästhesierter Patienten werden sie mittels neuerlicher Injektion ins ›Gleichgewicht‹ künstlichen Komas zurückgeholt, bewusstlos ›gepegelt‹. Der Apparat »regulates the depth of anaesthesia of an animal or a human by an injection device which injects barbiturates into the veins, or ether into the breathing mask, and the injection is measured in accordance with the depth of anaesthesia of the animal as made manifest through its electroencephalogram, which is directly interpreted into a mechanical basis for injection.« (Ebd; Wiener 1952b: 399; Wiener 1952a: 389).

Nun ist es nicht mehr das Subjekt des biologischen Experimentators, das mittels Öffnen lebendiger Tiere und gezielt protokollierter Injektion von Gift per Zufall Anästhesie ›entdeckt‹. Hier werden nicht mehr anhand verschiedener Reaktionen von Elementen teilzerlegter Organismen verschiede-

178 Vgl. die Rekonzeptualisierung selbst der Säuglingsforschung: Heims 1991: 63.

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ne organische, später als ›(selbst-)regulierend‹ geltende Funktionen sichtund sagbar gestaltet. Selbstregulation funktioniert bereits abstrakt unter einer formalen, nun zusehends mathematisierten Prozeßnorm mit dem Namen Homöostase. Abstraktes Wissen soll in spezifischen Begriffen und zugleich bereits in ersten Elementen eines Automatenparks verkörpert werden. Regulative Operationen des Individuums beginnen sich mittels einem abstrakten und zugleich detaillierten right way, einem kybernetischen Algorithmus extern automatisiert zu vollziehen. Diese Apparate sollen ihr eigenes Procedere selbst regulieren können.179 Insofern ist es kein Wunder, daß Wiener Phantasien zu entfalten beginnt einer humanen Integration in homöostatische Gleichgewichts-Apparate, die mittels »artificial feedback« (Wiener 1952a: 389) eine »artificial homeostasis« (ebd.: 390) automatisiert lenken, die »steer a narrow course« zwischen ›vorgegebenen‹ »Scylla [...] and Charybdis«-Werten (ebd.). Nicht nur im Einsatz gegen Leukämie und Diabetes werden solche ›homöostatischen Apparate‹ thematisch, um interne Funktionen extern auszugleichen. Vielleicht lassen sich auch bisher intern gänzlich fehlende Funktionen extern kompensieren oder anschließen? Verglichen mit der zeitgenössischen ›eisernen Lunge‹ sollen die hierzu notwendig werdenden neuen Apparaten selbstregulativ funktionieren – und sie sollen ›handlicher‹ und unscheinbarer werden (Wiener 1952b: 397). Wiener schlägt hier nicht allein die – z.B. gegenüber dem ›kalten Krieger‹ von Neumann, zu dem er zeitgleich den Kontakt abgebrochen hatte (Heims 1982)180 – vielzitierten Hör-, Seh- und Laufgeräte für jeweils derart ›amputierte‹ vor (Wiener 1951; Wiener 1952a: 389; Heims 1980: 224). Seine Phantasie geht weiter. Wie ist es mit Bereichen, die bisher grundsätzlich jenseits jeder menschlichen Wahrnehmbarkeit liegen, »in which we are all deaf and blind« (Wiener 1951: 67)? Um die Fremdheit dieses Themenbereichs zu umreißen, wählt Wiener Analogien, z.B. zu einem Menschen, der durch eine Frontal-Lobotomie ›homöostatische Funktionen‹ verloren hat (Wiener 1960: 774). Oder zu einem Menschen, der von Geburt an nie ein Schmerzempfinden hatte. Muß ein solcher, ›primordial amputierter‹ Mensch nicht permanent künstlich versuchen, handelnd ›Homöostase‹ anzustreben? »No fate is more terrible than that of the individual suffering from an absence of the sense of pain. He must avoid cuts and burns, not by an automatic pain-reflex, but by a conscious withdrawal from all situations which are likely to wound him. His body is a mass of old wounds – all unfelt – and his life is short« (Wiener 1960: 774).

Fühlbarmachen prinzipiell unfühlbarer, aber für das Leben gewichtiger Sachverhalte, sinnliche Erweiterung: Kurz vor Ashbys ›Homöostat‹ schlägt Wiener ein homöostatisches ›Public-Health-Gerät‹ vor. Er wählt hierzu eine

179 Vgl. Wiener 1952: 387. 180 Wiener als dark hero of information age: Conway/Siegelmann 2006. In Folge Verwerfungen mit Neumann stand er unter polizeiliche Beobachtung (ebd.).

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Analogie zum Geiger-Zähler. Der Apparat soll offenbar subkutan funktionieren und ganz prinzipiell unspürbare Frühformen von Krankheiten melden. Und zwar so melden, daß beim Nutzer ein frühes, homöostatisches Umlenken riskanten Verhaltens forciert wird, das ansonsten potentiell zukünftige Krankheiten provozieren könnte. Wie einen potentiellen zukünftigen Schmerz spürbar machen? Indem man ihn in die Gegenwart verlegt: »If we could only make the incipient stages of cancer or of heart disease desperately painful, we should go far to eliminate them from the list of killers. [...] With all the power that we now possess, the body corporeal does not posses an adequate homeostasis for all its needs. Even less does the body politic. The body politic is not without homeostasis, or at least the intention of having homeostasis. This is what we mean [...] by calling the Constitution of the United States a constitution of checks and balances« (ebd.)

Was Wiener vorschlägt, scheint etwas wie ein prospektiver Konditionierungsapparat zu sein.181 Auf den ›Empfang‹ verschiedener potentieller Krankheiten eingestellt, prüft er gewissenhaft aktuelles Verhalten und Gewohnheiten statistisch darauf, ob sie nicht, längerfristig kumuliert, mit bestimmter Wahrscheinlichkeit zu einer schweren Krankheit führen könnten. Wo Sinn für gesundes Leben und seine beherzte Aufrechterhaltung noch ganz grundsätzlich fehlt, soll er nachträglich eingebaut werden können. Angesichts solcher Visionen und Apparate wird jeder immer bereits behindert gewesen sein, mit seinen Defiziten aber nie wieder konfrontiert werden müssen. Für Wiener bestehen keine Zweifel, daß solche Geräte dringend notwendig sind. Denn die in ihrem Licht erscheinenden »sensory defects [...] lead to a short life« (Wiener 1960: 774). Wer hätte unter diesen Umständen Einwände gegen eine Maximierung seiner individuellen Lebenszeit? Die Apparate optimieren ›sinnlich‹ – und immer auch quantitativ. Um berechenbare Zuwächse an Lebenszeit zu erreichen, müssen jeweils individuell statistisch extrapolierbare Krankheits- und Todeswahrscheinlichkeiten nach bestem Wissen möglichst umfassend identifizierbar werden und zugleich kontrollierbar, regulierbar. Sie sind der Einsatz visionärer homöostatischer Technologien einer Regulation individueller innerer ›Milieus‹, die optimal extern reguliert werden können. Hochkumulierte Todeswahrscheinlichkeiten bestimmter Verhaltensprozesse sind dannder Reiz, bei dem durch Wieners Gerät derjenige Schmerz als Antwort erklingt, der aller Voraussicht nach zu imaginieren ist am Ende einer Aufrechterhaltung des jeweils als zu regulierend identifizierten Fehlverhaltens und seiner angenommenen Habitualisierung. Wiener ist Menschenfreund: Sollte dank des Apparats wirklich einmal aus der berechneten Zukunft heraus diese Melodie erklungen sein, dann will sie sicher wohl niemand je wieder hören müssen.

181 Vgl. zu Konditionierung (Elektrozäune bei Tieren): Wiener 1950a: 72f.

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Ohne viele Zwischenschritte gelangt Wiener über Fragen des Gedächtnisses zur body politic der amerikanischen Verfassung, auf USamerikanische »national traditions«. Zu Beginn des kalten Krieges wird angesichts einer potentiellen »future catastophe« der Appell formuliert zum Erhalt des »social memory« eines nationalen »mode of life« (Wiener 1951: 383). Es gilt als zentraler Bestandteil politischer ›homöostatischer Mechanismen‹. Kurz darauf wird an dieser Stelle nicht nur von einer »informational homeostasis of the community« (Wiener 1960: 774) gesprochen, sondern, fast prophetisch, in Analogie zur Signifikanz des Nervensystems für das Individuum, die ganze Gattung/Rasse verpflichtet auf einen wissenschaftlichen Erhalt ihres Wissens, des collective memory: »What the nervous system is to the individual, the ability to acquire knowledge by scientific observation, to store it and combine it in the collective memory of books, and to use it judiciously for human purposes, is to the race. The race acts as if to secure ends of racial survival« (Wiener 1960: 774).

Wiener lebt in einem »difficult age« (Wiener 1952a: 386) mit »sehr geringen Aussichten für einen längeren Bestand der Menschheit« (ebd.: 27). Angesichts eines potentiellen Krieges, der nicht nur Staaten, sondern die gesamte ›menschliche Rasse‹ auslöschen kann, einem möglichen »future doom«, (Wiener 1960: 773) ist er auf kulturelle Kontinuität und die Untersuchung deren Bedingungen bedacht.182 Angesichts dieses potentiellen Krieges wäre es der Verlust der eigenen kulturellen Tradition und ihrer Werte, der einen wirklichen »death beyond death« (Wiener 1951: 383) bedeuten würde. Dieser kulturelle Tod ist zu vermeiden. Vielleicht auch, um die Wahrscheinlichkeit eines wirklichen, politischen zu senken. Wiener konnte noch nicht aus eigener Erfahrung wissen, daß der ›kalte Krieg‹ zwischen den beiden ›Blöcken‹ eine eigene politische Makro-Form des ›Gleichgewichts‹ finden würde. 1952 bleibt Wieners visionäre ›mathematical medicine‹ nicht bei den Überlegungen zu gesundheitspolitischen Mikro-Homöostaten stehen.183 Sie plant nicht nur individuell, sondern auch ins Kollektive hinein. Geht es beim Individuellen noch darum »each symptom of departure from the norm as it occurs« zu ›attackieren‹, soll ein weiterer Schritt einen Rahmen bilden: »The next, more complicated, is to put the patient in an environmental situation which is itself more or less automatically homeostatic and will tend to counter serious departures from equilibrium« (Wiener 1952b: 399).

182 Vgl. Anspielungen auf die Sowjetunion und »Russia«: Wiener 1960: 775f. 183 Analog zum Umgang mit »mental and psychic disorders«: Wiener 1952b: 399.

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Es entsteht die Vision einer automatischen, homöostatischen Umwelt, die zu stabilem Gleichgewicht tendiert und jeder ernsthaften, individuellen Abweichung entgegentritt. Ihre Gestaltung aber hat Grenzen: Untersuchungen sind notwendig zu den »actual homeostatic mechanism of the body politic in its actual working« (Wiener 1960: 774). Wie später Heinz von Förster propagiert Wiener Untersuchungen zu Stabilisierungsprozessen im Inneren sozialer Gemeinwesen:184 »observe the stabilization of the community as we have it, with a relative suspension of judgement as to the closed purposes of its stabilization« (ebd.). Wiener hegt kaum Befürchtungen, seine Überlegungen könnten »some fixed program« dienen, das auf andere als intendierte Weise »prescibes its use« (ebd.).185 Er legt schlicht ein Forschungsethos nahe, zu »resist the temptation to use any information [...] merely because there is a way to use it« (ebd.). Kybernetische ›Homöostase‹-Konzepte werden bereits ab 1950 vielfältig politisch anschlußfähig: »Confirming traditional ideas of how science should be done in a postwar atmosphere that was already clouded by the hysteria of McCarthyism, homeostasis implied a return to normalcy in more than one sense« (Hayles 1999: 69).

Auf kybernetischen Kontexten aufbauend greift 1953 Bertalanffy die Terme ›Homöostasis‹ und ›Rückkopplung‹ auf, um sich, ebenfalls mit Rekurs auf Cannon (Bertalanffy 1953: 37f), abzugrenzen. Homöostase wird unterschieden vom auf Bernard rekurrierenden Konzept »dynamischen Gleichgewichts« (ebd.: 2) in offenen Systemen. Ein spezifischer Regulationstyp der Rückkopplung qua Information wird abgegrenzt von »dynamischen Prinzipien kinetischer Natur« (ebd.: 39), empirisch zur sekundären Form.186 Varela und Maturana werden im Gefolge Ashbys, Försters u.a. neben Homöostase ›Homöodynamik‹ stellen. Zuvor entstehen Forschungen mit McCulloch, Pitts, Lettvin zum visuellen System von Fröschen (McCulloch 1959). Eine zweite, nicht verfolgte Welle der Kybernetik steht dann weniger unter dem Stichwort ›Selbstregulation‹187 als ›Selbstorganisation‹ (Hayles 1999: 131; Dupuy 1994: 106).188

184 Vgl. die extrapolative Populationforschung: Foerster 1959, 1961a und 1961b. 185 Vgl. das Cyberdine-Projekt im Chile der 70er Jahre: Pias 2005. Linke soziologische US-Studien wurden durch US-Gegensysteme genutzt zur Evaluation optimaler Gegenstrategien, regten Allendes Sturz an. 186 Vgl. die Abgrenzung Bertalanffys gegen eine Identifizierung von Systemtheorie und Kybernetik: »The best known of the various systems approaches is the theory of ›communication and control« (Dupuy 1994: 132). Vgl. ebd.: 185. 187 Vgl. zur Gegenüberstellung von Axiomen erster Kybernetik mit denen zweiter Ordnung, z.B. ›Teleologie‹, ›Autopoiesis‹ und ›allopoietisch‹, im jew. gespannten Verhältnis zu liberal konzipierter Subjektivität: Hayles 1999: 141ff. Vgl. zu kybernetischen Reminiszenzen kapitalistisch-humanistischer PossessivIndividuen bei Maturana, hin zu ›anarchistisch-utopischen‹ Konzepten organi-

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4. ›S PIEL ‹: T ECHNOLOGIEN

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S ELBST /A NDEREN

Neumann, Morgenstern: Theory of Games (1944) »Der Mensch ist fast immer auf Hilfe angewiesen [...] der Mitmenschen [...]. Er wird sein Ziel [...] erreichen, wenn er deren Eigenliebe zu seinen Gunsten zu nutzen versteht, indem er ihnen zeigt, daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, das für ihn zu tun, was er von ihnen wünscht« A. SMITH, 1776 »Once a fuller understanding of economic behavior has been archieved with the aid of a theory which makes use of this instrument, the life of the individual might be materially affected.« J. VON NEUMANN, 1952 »The value of information? Why, this is nothing other than its cash value!« L. SAVAGE, 8. MACY-KONFERENZ »Die atomare Situation [...]: die Macht, eine Bevölkerung dem allgemeinen Tod auszusetzen, ist die Kehrseite der Macht einer anderen Bevölkerung ihr Überleben zu sichern. Das Prinzip ›töten um zu leben‹, auf dem die Taktik der Gefechte beruhte, ist zum Prinzip der Strategie zwischen Staaten geworden; auf dem Spiel steht [...] die biologische Existenz der Bevölkerung.« M. FOUCAULT, 1976

In der Erstausgabe der Abstammung des Menschen verfolgt Charles Darwin 1871 eine Vermutung. Sie betrifft einen bestimmten ›binär‹ fundierten, nasationeller Schließung, Reflexivität: ebd.: 146f; zur Subversion teleologischer Modell, insb. ›Black Box‹-Modellen: ebd.: 160f; Information als verkörpert zu erschließende Abstraktion: ebd.: 149. 188 Vgl. umgekehrt zur Geschichte von Planung: van Laak 2006: 434ff. Vgl. historische Linien zur soziologischen Systemtheorie Luhmanns: Gehring 2006b, Kybernetik: ebd.: 342ff, 350ff; gegenüber naturwissenschaftlichen Konzepten: ebd.: 352.

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türlichen Mechanismus des Gleichgewichts. Darwin vermutet 1871 die Existenz eines regulativen Mechanismus, der eine equalisation der beiden Geschlechter erreicht. Er soll ihr quantitatives Verhältnis, die relative Zahl männlicher gegenüber weiblicher Individuen der humanen Spezies regeln. Evolutionär betrachtet vollzieht sich für Darwin die Selbsterhaltung einer Spezies in the long run auch mittels einer Mechanik der Auspegelung. Angestrebt wird hierbei ein Mittelwert. Er soll immer wieder ein ausgeglichenes quantitatives Verhältnis beider Geschlechter sicherstellen. Ein solcher Mechanismus hat weitreichende Implikationen für Fragen der Reproduktion. Die evolutionär bedingte, selbständig auf Ausgleich bedachte, quantitative Pegelung des relativen Verhältnisses der Geschlechter strebt immer ein relatives Verhältnis von 1:1 an. Es ist für Fertilitätsfragen der Spezies entscheidend: »We may conclude that natural selection will always tend, through sometimes inefficiently, to equalise the relative numbers of the two sexes« (Darwin 1871: 318) Darwin gelangt zu seiner Überlegung, indem er versuchsweise ein geschlechtliches Ungleichgewicht annimmt, z.B. eine quantitative Überzahl des männlichen Geschlechts. Ein regulativer Ausgleichsmechanismus wird angenommen. Er müßte einen Ausschlag in die jeweils entgegengesetzte Richtung bewirken und dem Konzept natürlicher Selektion unterstellt sein: »Let us now take the case of a species producing from the unknown causes just alluded to, an excess of one sex -we will say of males- these being superfluous and useless, or nearly useless. Could the sexes be equalised through natural selection?« (Darwin 1871: 316)

Einige Paare, z.B. einer in quantitativer Hinsicht ›männlich überladenen‹ Spezies, tendieren weniger als die anderen zu männlichen Nachfahren. Während im Allgemeinen die Zahl des Nachwuchses prinzipiell konstant bleibt, produzieren diese Paare immer stärker weibliche Nachfahren. Dadurch sind sie im Vergleich produktiver, im Vorteil, die anderen Paare geraten umgekehrt proportional in Nachteil. Denn nach Darwin ist es im Beispiel nun der weibliche Nachwuchs der von der männlichen Allgemeintendenz tendenziell ausscherenden Paare, die einen paarungstechnischen Vorteil tragen. Ihr Nachwuchs hat schlicht eine höhere Wahrscheinlichkeit, einen gegengeschlechtlichen Fortpflanzungspartner zu finden. Diese gegenüber der Tendenz des Gesamts komplementäre (Nachwuchsgeschlechts-)Tendenz der Eltern – im Beispiel also weniger Männer als Frauen zu zeugen – wird damit zugleich vererbt. Und zwar so lange, bis sich schließlich auf Populationsebene die Tendenz umzukehren beginnt. Dann wiederum ist zu erwarten, daß der Mechanismus im umgekehrten Sinn zu funktionieren beginnt, usw. Als Effekt natürlicher Selektion können sich damit, abstrakt betrachtet, immer wieder Tendenzen in Richtung eines quantitativen Ausgleichs, einer Auspegelung auf Populationsniveau artikulieren. In the long run eliminieren sich

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Vor- und Nachteile stetig gegenseitig. Es entsteht damit letztlich immer wieder eine Tendenz zu einem relativen ›Gleichgewicht der Geschlechter‹: »We may feel sure, from all characters being variable, that certain pairs would produce a somewhat less excess of males over females than other pairs. The former, supposing the actual number of the offspring to remain constant, would necessarily produce more females, and would therefore be more productive. On the doctrine of chances a greater number of the offspring of the more productive pairs would survive; and these would inherit a tendency to procreate fewer males and more females. Thus a tendency towards the equalisation of the sexes would be brought about.« (Darwin 1871: ebd.)

Hat sich in einer solchen Sphäre sexueller Reproduktion durch ›natürliche Regulation‹ annähernd ein stabiler Zustand, ein ungefähres 1:1 Verhältnis männlicher und weiblicher Individuen ergeben, dann hat sich zugleich der vorherige Vorteil jener Individuen verloren, die eine Tendenz mitbrachten zum zuvor reproduktiv noch eher ermangelten Geschlecht des Nachwuchses. Mittels natürlicher Selektion kann nun in Folge ihr ehemaliger Vorteil zu einem individuellen Nachteil werden. Darwin artikuliert auch so eine erste Theorie eines ›produktiven‹ reproduktiven Gleichgewichts mit evolutionärem Mehrwert zur Aufrechterhaltung einer Spezies oder Population. Er skizziert erstmals abstrakt einen regulativen Mechanismus sich ausgleichender Vor- und Nachteile, der später noch weitaus allgemeiner auftreten wird. Gemeinhin wird diese Theorie zur Regulation des sex-ratio aus Gründen der Population nicht Darwin zugeschrieben. Am Leitfaden natürlicher Selektion verlaufende, evolutionäre Überlegungen zu regulativen Prozessen in Fragen des Geschlechterverhältnisses wurden bisher Texten eines Populationsgenetikers zugeschrieben, der auch im Bereich der Informationstheorie einflußreich wurde. Es handelt sich um Ronald Fisher, seiner 1930 erschienenen genetischen Theorie der natürlichen Selektion (Fisher 1930). Fisher selbst zitiert die 2. Ausgabe von Darwins Abstammung von 1874. In dieser Ausgabe war Darwin gegenüber der 1. Ausgabe, da nicht empirisch belegbar, weitgehend von seinen Thesen zurückgetreten.189 Darwin hatte hinsichtlich dieses Problems entschieden »it is safer to leave its solution for the future« (Darwin 1874: 252f). Darauf bezog sich 1930 Fisher, der bis heute als Hauptbezugspunkt dieser Richtung der Evolutionsbiologie gilt. Im Folgenden ein Exkurs zu Elementen einer bestimmten Rationalitätsform und ihrer Argumentationslogik. Sie hat ab 1944 in ihrer Wirkungsmacht längst evolutionsbiologische Kontexte verlassen. In ökonomischen Kontexten hatte Francis Edgeworth bereits 10 Jahre nach Darwin in seiner mathematical psychics: an essay on the application of mathematics to the moral eine bestimmte Matrix konturiert von ökonomischen Gleichgewichtsprozessen, die ebenfalls als kompetitiv gerahmt gelten.

189 Vgl. Osborne 1996.

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Zwei Waren- wurden hier zwei Konsumententypen gegenübergestellt. Durch einige mengentheoretische Entwicklungsschritte hindurch (Zermelo, Kalmar, Borel) konzipiert dann 1928 John von Neumann im Aufsatz Zur Theorie der Gesellschaftsspiele (Neumann 1928) abstrakter ein Gleichgewicht, das zwischen zwei Spielern bestehen kann. Summiert man bei bestimmten Gesellschaftsspielen arithmetisch Gewinne und Verluste beider Spieler, ist das Ergebnis ›Null‹ – das Konzept ›Nullsummenspiel‹ entsteht. In Folge eines weiteren Beitrags des Populationsgenetikers Fishers von 1934 schließen 1943 John von Neumann und Oskar Morgenstern ihren Text Theory of Games and Economic Behavior ab. Die Gemeinschaftsarbeit Neumanns mit dem österreichischen Ökonomen, der intensiv mit dem Wiener Kreis vertraut war,190 wurde 1944 erstmals publiziert. Der Text trägt ab den 1950er Jahren zu einer Vereinheitlichung und Popularisierung des Gebiets bei. Einige Konzepte werden in Ökonomie, Statistik und operations research,191 später in kognitiven Humanwissenschaften, mathematisierten Sozialwissenschaften und in einigen Bereichen der Biologie maßgeblich.192 Angefangen bei 2-Spieler-Spielen werden 1944 bei Neumann/Morgenstern bereits ›Nullsummenspiele‹ mit drei, vier oder n-Spielern thematisch. Geschaffen wird die allgemeine Konstruktion und ›Dekomposition‹ solcher Spiele, ihre generelle Theorie (Neumann 1944: 504ff). Bereits 1928 hatte Neumann eine »allgemeine Theorie« projektiert, die alle ›Gesellschaftsspiele‹ gegenüber den primär über Zufall verlaufenden Glücksspielen (Neumann 1928: 298) »auf eine letzte natürliche Normalform« (ebd.: 319) bringen sollte. Im Umfeld der spezifisch mathematisch abstrahierten ›Gesellschaftsspiele‹ und deren »elementary problems« (Neumann 1944: 7) arbeitet die neue, verallgemeinerte Theorie – »mathematically rigorous and conceptually general« – nun, 1944, mit den Termen utility, loss und gain, mit Nutzen, Gewinn und Verlust.193 Es deutet sich eine Ausweitung zentraler Axiomen an von individuellen Spielern zu allgemeineren ökonomischen Fragen. Ins Auge gefasst werden z.B. Marktsituationen oder Fragen nach Güterteilung (ebd.:555f) bis hin zu zwischenstaatlichen Fragen (ebd.: 7 FN1). Als ein Hauptproblem gelten »social phenomena« (ebd. 6). Fragen der Ökonomie sollen hierbei ausdrücklich in höherem Maß mathematisierbar werden können als bis dato möglich. Das Beispiel einer Nach-Newtonschen Physik steht dazu Pate (ebd.: 3f), als letztes Ziel gilt der »success: genuine predicition by theory« (ebd.: 8). Was aber soll vorhersagbar gemacht werden?

190 191 192 193

Vgl. Heims 1981: 292. Vgl. Simons Rezension (1945), L. Savage: Foundations of Statistics (1954). Vgl. Heims 1981: 293. Spieltheorie artikuliert, konzeptuell reformuliert (»greatest possible good for the greatest possible number«: Neumann 1944: 11), utilitaristische Strömungen: Heims 1981: 296. Vgl. konventionell zu Utilitarismus/Protestantismus: Weber 1920: 101, 141, 205; rationaler Lebensführung/Wirtschaftsmensch: ebd.: 195; allg.: Kay 2001: 179; dagegen Tiqqun 2001: 35.

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In Tradition Eugen Böhm-Bawerks, der Österreichischen Schule für Nationalökonomie – bekanntester Vertreter ist Ludwig von Mises (ebd.: 9) – ist 1944 bei Neumann/Morgenstern ein bestimmtes rationales Verhalten Ausgangspunkt. Es wird Spieler-Subjekten unterstellt, die als rational kalkulierend gelten und zu (re-)konstruieren sind. Angenommen wird, daß das Verhalten dieser Subjekte insofern als rational gelten könne, als es grundsätzlich ökonomisch zu verstehen sei. Es soll nicht im ökonomischen Kontext eines »Robinson Crusoe« (ebd.: 13) verstanden werden – einem solitären Subjekt auf einer einsamen Insel. Als Subjekte einer »social exchange economy« (ebd.), sind Spieler-Subjekte »relations of exchange with others« (ebd.: 11) verschrieben. Zur (Re-)Konstruktion ihres Rationalitätstyps wird eine neuartige »theory of free competition« (ebd.: 15) entwickelt. Sie soll zurückliegenden Entwicklungen von Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik nun auch auf ökonomischem Gebiet Rechnung tragen: Es gilt, eine sich bietende »excellent possibility of applying the laws of statistics and probabilities« (ebd.) zu ergreifen. Eine Theorie entsteht, die im Anschluß an die österreichische Schule und Vilfredo Pareto (ebd.: 18) die »klassische Nationalökonomie« (Neumann 1928: 295) und Adam Smith beerben können soll. Sie soll grundlegende Problemlagen liberaler Gesellschaften genauer zu konzeptualisieren und weiter zu konkretisieren helfen.194 In bestimmten Zusammenhängen soll eine größere Vorhersagbarkeit ermöglicht werden.195 Das Verfahren trägt streckenweise ein normativer Unterton: Wo 1928 noch ausdrücklich von einem »absolut egoistische[n] homo oeconomicus« (ebd.) die Rede war, werden nun schlichter Subjekte thematisch, die hinsichtlich ihres Verhaltens berechenbar werden sollen. Angesichts zukünftiger »events« (ebd.: 19) sollen z.B. grundsätzlich ihre gegenwärtigen preferences, Präferenzen erfasst werden können. Sie werden gedacht als mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auftretende, kalkulierbare Variablen. Diese Präferenzen und events treten nun nur als marginal sozial vermittelt auf

194 Vgl. Heims 1981: 298 195 »Das Bild von der unsichtbaren Hand ist keine rechtfertigende Fiktion mehr, sondern das tatsächliche Prinzip der gesellschaftlichen Produktion der Gesellschaft, wie sie sich in den Prozeduren des Computers manifestiert. Die Vermittlungstechniken im Handel und im Finanzbereich sind automatisiert worden. Das Internet ermöglicht es gleichzeitig, die Präferenzen des Konsumenten zu erkennen und sie durch die Werbung zu steuern. [...] Jeder Akteuer der kapitalistischen Valorisierung ist der Träger von quasi permanenten FeedbackSchleifen in Echtzeit.« (Tiqqun 2001: 37). In aktuellen, einführenden Publikationen zur Spieltheorie werden wahrscheinlichkeitstheoretische Akzente betont, auf die Arbeit mit Möglichkeiten hingewiesen: Hier soll es weniger ausdrücklich darum gehen, to »tell us what must happen. Rather it tells us what can happen« (Rasmusen 1989: 3). Vgl. ebd. zur aktuellen Relevanz der Theorie in der Ökonomie und zur historischen Selbstverortung hinsichtlich Fisher und von Neumann.

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(ebd.: 10). Die jeweiligen individuellen Präferenzen jedoch sollen ganz selbstverständlich prozedural starr und widerspruchsfrei vorliegen. Ein zu rekonstruierendes »system of individual preferences« soll durch »completeness« (ebd.: 19) ausgezeichnet sein. Das gilt insb. hinsichtlich solchen Präferenzen, die mittels numerischer Gewichtung ihres jeweiligen individuellen Nutzens zu repräsentieren sind: Welchen Nutzen verspricht jedes der jeweils mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit erwarteten Ereignisse, »imagined events« (ebd.: 20)? Die jeweiligen numerischen Nutzenwerte müssen in ihrer Rangfolge statisch und widerspruchsfrei vorliegen, um zur Prozessierung durch die Theorie geeignet zu sein. Der numerisch repräsentierte individuelle Nutzen muß also eindeutig skalierbar sein, jeweilige Vorzüge logisch stimmig gefaßt. Denn ist das nicht der Fall, kann es zu Problemen kommen in demjenigen Bereich von Wert und Mehr-Wert, dem die Theorie von 1944 ausdrücklich zuarbeiten will. So wären widersprüchliche, uneindeutige Bewertungen »pointless for the entrepreneuer«, »who calculate in terms of (monetary) costs and profits« (ebd.). Ist die NutzenRangordnung dann aber stimmig, eröffnet sich bereits 1928 eine Vielfalt von »Spielen«, z.B. zwischen drei Parteien: »Um die Summe [...] zu gewinnen, brauchen sich nur [...] drei Spieler zusammenzutun, sie können dann den dritten ohne weiteres ausplündern, trotzdem die Spielregel absolut symmetrisch, d.h. das Spiel formal gerecht ist [...] ein in praxi recht häufiger und charakteristischer Fall.« (Neumann 1928: 313)

Ein »Hobbesian picture of human behavior« (Heims 1981: 296)? In der Theorie von 1944 soll Nutzen nicht nur ›gegeben‹ sein wie »physical data (wants and commodities)« (Neumann 1944: 10) und resultieren in »maximum [...] satisfaction« (ebd.). Nutzen gilt auch ganz prinzipiell als spezifisch ausgerichtet, hat letztlich sein Äquivalent in cash: »the consumer desires to obtain a maximum of utility or satisfaction and the entrepreneuer a maximum of profits [...] we [...] assume that the aim of all participants [...] consumers as well as entrepreneuers, is money, or equivalently a single monetary commodity.« (ebd.: 8)

Die neue, verallgemeinernde Theorie der Spiele und individuellen Verhaltens will offen neue praktische Lösungen und Standards suchen, »solution and standards of behavior« (Neumann 1944: 31ff). In Analogie zur thermodynamisch reformulierten Physik sollen in ihrem axiomatischen Rahmen ›natürliche Operationen‹ mathematisch beschreibbar werden: Naturalisierung des Gegenstandsfeldes, eine neue, numerisch rekonstruierende, möglichst erfolgreiche, prädiktive Quasi-Physik sozialen Verhaltens?

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»This [...] is done by finding a mathematical model for the [...] domain in question within which those quantities are defined by numbers, so that in the model the mathematical operation describes the synonymous natural operation« (ebd.: 21)

Das Theoriedesign der »theory of games of strategy« (ebd.: 12) vpn 1944 macht nun einen möglichst vollständig kalkulierbaren Überblick notwendig. Nutzenpräferenzen atomisiert betrachteter Individuen sind zu rekonstruieren, paradoxerweise trotz und gerade wegen eines angestrebten AnalogieVerhältnisses zur zeitgenössischen Physik. 1928 galt es noch, konkretere Gesellschaftsspiele »vollständig zu beschreiben« (Neumann 1928: 296, 299). Nun wird ausdrücklich eine Überblicksbildung avisiert, standardisierbare Augenblicke jeweiliger sozialer Handlungen sind zu rekonstruieren, jeweils individuell erwartete events und deren Bewertung hinsichtlich Präferenzen, was numerisch quantifizierbar vorliegen soll, stochastisch zu fassen ist: »It seems, however, that [...] difficulties can be obviated by locating all events in which we are interested at one and the same, standardized, moment preferably in the immediate future.« (ebd.: 19) Bereits 1928 wurde projektiert, die untersuchten gesellschaftlichen Spiele in eine »Normalform [zu] bringen; sozusagen auf die einfachst-denkbare Form überhaupt« (Neumann 1928: 299). Je nach dem, ob jeweils für die einzelnen Spieler un/vollständige, un/vollkommene, un/sichere Informationen vorliegen (vgl. Rasmusen 1989: 45f): Der jeweilige Kontext soll so standardisierbar sein, daß sämtliche möglichen numerischen Informationen einschließlich ihrer Verästelung zu verschiedenen Zeitpunkte möglichst vollständig vorliegen – z.B. zu erwarteten Ereignissen, deren angenommener Wahrscheinlichkeit und deren jeweiliger individueller NutzenBewertung. Eine solche Standardisierung läßt sich lösen, indem ein jeweils entscheidender Kontext formalisiert, als Matrix repräsentiert wird: Jeder Zelle korrespondiert eine untersuchte Optionsverkettung. Dies macht umfangreiche Berechnungen notwendig, das Generieren weitverzweigter Baumdiagramme möglicher Ereigniskaskaden um jeweils spezifische, individuelle Nutzenerwartungen herum. Diese Berechnungen, ihre Formalisierung und beginnende Algorithmisierung machen einen beträchtlichen Teil der Texte Neumann/Morgensterns aus. Rhetorisch wurde gefragt: »What pattern of decision making could be more congenial to a bureaucratic organization? [...] no organization could ask for more« (Heims 1981: 297) Nach Ausklammern von Glückspielen wie Roulette und Bakkarat, der Hinwendung zu eher zufallsfreien Spielen wie Bridge und Schach (Neumann 1928: 295, 298) sind die Spiele, von denen Neumann/Morgen-sterns Thesen im Jahr 1944 vermeintlich anzuheben beginnen, Spiele wie Poker (Neumann 1944: 186ff; Neumann 1928: 320). Bei allen in Erwägung gezogenen Spielen spielt bereits 1928 ein Subjekt eine Rolle, von dem ein »absolut freie[r] Wille vorausgesetzt« (ebd.: 296) werden kann. Bei diesen Spielen dominiert dieses Subjekt, nicht der Zufall: »In unserem Fall ist der unvoraussehbare Zufall noch der leichter zu beherrschende Faktor« (ebd.: 297).

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Der freie Wille dieses Subjekts zählt insofern, als es als »Spieler auf die Resultate aller anderen einen Einfluß hat und dabei nur am eigenen interessiert ist« (ebd.: 298). Im Laufe des Spiels ist zwar eine »Beschränkung seiner Willensfreiheit und eine Änderung (Verschlechterung) seiner Chancen« (ebd.: 299) möglich, aber wenn möglich zu vermeiden. Zu untersuchen ist ein jeweiliger, individueller »Entschluß«. Er gilt als »wesentlich dadurch beeinflußt [...] wie die Resultate derjenigen Ziehungen und Schritte waren, von denen er im Momente [...] Kenntnis hat« (ebd.). Der Einfluß des freien Willens des spielenden Subjekts gilt im Kontext also als spezifisch motiviert. Das gilt auch umgekehrt für die Mitspieler. Auch »deren Benehmen« ist »von genau denselben egoistischen Motiven beherrscht«. Diese Motive will die Theorie von Neumanns »beim ersten Spieler bestimmen« (ebd.: 296): »ein einfaches Maximumproblem« (ebd.: 298) erscheint – eine Maximierung, ein Mehr des eigenen Resultats, ein jeweils »möglichst großer Wert« (ebd.: 297). Gilt dieses Maximumproblem bei allen Spielern, gleichen sich, allgemein betrachtet, Gewinn- und Verlust-Summen aus. Eine erste »Spielregel« größter »Allgemeinheit« ist gefunden. Sie schließt jeden weiterreichenden Zufall aus: »Vom Glücksspiel ist nichts mehr da: die Handlungen aller Spieler bestimmen das Resultat restlos« (ebd.: 302). In den produktiven Prozeduren der ins Auge gefaßten gesellschaftlichen Spiele summieren sich Gewinne und Verluste auf Null: Nullsummenspiele.196 Individuell erwartete Gewinne und Verluste von Spiel-Subjekten, die keinen Einblick in den outcome jeweiliger Wahlen der Mitspieler besitzen, sind nur noch bedingt von den bereits getätigten Wahlen sämtlicher anderer Teilnehmer des gesellschaftlichen Spiels und den ihnen jeweils zugrundeliegenden Strategien. Im theoretischen Rahmen der Spieltheorie sind es an Maxima, an Steigerung, an Maximierung orientierte, durch individuelles Nutzenkalkül bestimmte, individuelle Präferenzen innerhalb des jeweiligen Spiels, sind es zuletzt an einem probabilistisch gegebenen, subjektiven Erwartungswert getätigte, strategisch geprägte Wahlen, die solche gesellschaftlichen Spiele restlos bestimmen sollen. Als bestimmt gedacht werden sie in letzter Instanz durch jeweilige Entscheidungen von Subjekten, die mit begrenzter Information handeln und zugleich restlos auf Eigennutz setzen. Und umgekehrt soll es jeweils ein solcher genereller, rekonstruktiver Rahmen sein – idealerweise möglichst vollständig informiert, das Geschehen der Spiele selbst überblickend – der ermöglichen soll, das wahrscheinliche Verhalten jedes dieser Spiel-Subjekte in verschiedensten Konstellationen vorhersagbar zu gestalten. Unter den genannten Subjekt-Prämissen geht es bereits 1928 darum, generell und abstrakt den Satz einer bestimmten Strategie zu bestimmen und später zu algorithmisieren. Diese Strategie selbst soll bei optimal spielenden

196 Vgl. zum Kontext traditioneller ökonomischer Theorie, humaner Begrenztheit, Ressourcenknappheit (Leben, Zeit, Energie): Heims 1981: 298/299.

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Gegnern die Möglichkeit auszuschöpfen gestatten eines Maximums individuellen Gewinns. Maximales Minimum oder minimales Maximum (Max Min = Min Max; Neumann 1928: 306ff): Die Wahl derjenigen Option ist zentral, bei der individueller Nutzen (vermutlich) immer noch höher ist, als wenn eine schlechtere Option gewählt würde. Zur Aufarbeitung eines solchen Feldes wird eine Entscheidungsmatrix entwickelt. Sie umfaßt jeweils mögliche Entscheidungsoptionen, deren Eintrittswahrscheinlichkeiten und die Gewinnerwartungen unter Einschluß von Optionen, Maxima und Minima auch der Gegner. Die Methode einer solchen Entscheidungsmatrix wird oft mit dem Namen John Forbes Nash jr. verbunden. In partieller Tradition des axiomatischen Rahmens Neumann/ Morgensterns von 1944 wird um 1950 das sog. Nash-Gleichgewicht benannt. Es wurde populär u.a. in Folge des sog. ›Gefangenendilemmas‹ Flood/Dreshers (1950). Das Beispiel Darwins zum evolutionär ausgeglichenen sex-ratio und seinen Vorteilen für die Spezies wird heute in Kontext dieses Dilemmas verstanden.197 Alle reproduktionsmedizinischen ›Zufallsfaktoren‹ sind ausgesperrt. Um Kontexte faktischen Gleichgewichts zu veranschaulichen, sollen abermals besondere, binäre Dilemma-Fälle spieltheoretisch aufgearbeitet werden durch Rekonstruktion einer Entscheidungsmatrix sämtlicher im jeweiligen Kontext möglicher Optionen. Fälle werden thematisch, bei denen die Beibehaltung der bisherigen, zum status quo führenden Strategie für beide Parteien von größerem Nutzen ist als die Wahl einer Option einseitiger Nutzenmaximierung. Der individuelle Verzicht auf Nutzenmaximierung bedingt unter bestimmten Voraussetzungen ein (Nash-)Gleichgewicht: Dieses Gleichgewicht ist dann Effekt einer für das Gesamt, für den outcome aller Spieler besten Strategie (Rasmusen 1989: 14f). Das Gefangenendilamma läßt sich durch eine Kalkulation in einer Entscheidungs-Matrix klären. Ein typisches Beispiel. Zwei verdächtigten Gefangenen einer mit 5 Jahren Zuchthaus geahndeten Straftat wird ohne Möglichkeit gegenseitiger Absprache eine Kronzeugenregelung angeboten. Anreiz ist ein jeweiliger Freispruch bei Geständnis und Belastung des jeweils anderen, der dann die volle Haftstrafe erhält. Bei einem Doppelgeständnis drohen 4 Jahre Haft. 2 Jahre Haft drohen durch Indizien, wenn beide keine Geständnisse abgelegen. Jeder Spieler erreicht also prinzipiell seinen maximalen Nutzen, wenn er gesteht. Da das aber auch vom Gegenüber erwartet werden kann und die für diesen Fall vorgesehenen Konsequenzen gefürchtet werden, ist die kooperative, geständnisfreie Option – mittels letzten Empathie-Residuen, ohne Ab-

197 Im Kontext des Nash-Gleichgewichts wird neben dem Beispiel von Schweinen, die in einer Skinner-Box eingesperrt sind, das Beispiel eines »Kampfs der Geschlechter« angeführt. Hier besteht u.a. der Konflikt, daß der Mann der Besuch eines Boxkampfs und die Frau einen Balletbesuch plant, beide aber zusammen ausgehen wollen: Rasmusen 1989: 25f.

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sprache, isoliert im ›Gefängnis‹ zu treffen198 – zugleich die egoistischste Wahl für beide. Mit zu erwartenden Sanktionen konfrontiert, wird der status quo beibehalten – beide Subjekte nehmen diejenige Option in Kauf, die für sie jeweils zwar nur die zweit-optimalste ist, aber zugleich auch hinsichtlich Voraussetzungen und Konsequenzen die sicherste. Unter solche Fälle eines ›Gleichgewichts‹ prinzipiell optimal spielender Spieler fällt auch eine bestimmte Strategie des kalten Krieges – die atomare Abschreckungsdoktrin, das ›Gleichgewichts des Schreckens‹ des (Nicht)Einsatzes von Massenvernichtungswaffen der beiden politischen Leviathan-›Blöcke‹.199 Einer um Homöostase gruppierten Kybernetik sind solche kalkulativen Überlegungen nicht fremd. Neben Gregory Bateson200 war es Norbert Wiener, der in zu einem späteren Zeitpunkt ergänzten Kapiteln seiner Monographie Cybernetics Theorien des kalten Kriegers und ›Falken‹ von Neumann kritisierte. Entgegen Wiener vertrat Neumann als Regierungsberater konsequent seine Theorie. »why not bomb them today«: Bereits 1950 schlug er einen präventiven atomaren Angriff, einen Präemptivschlag gegen den vermeintlich perfekt spielenden Gegner ›Ostblock‹, die Sowjetunion vor (Rasmusen 1989: 15f).201 Einige Grundannahmen der »approximativen« Theorie Neumanns – insb., daß der jeweilige »Gegenspieler ein vollkommener Meisterspieler ist« (Wiener 1952: 206), man daher mit »äußerster Vorsicht zu handeln« habe (ebd.) – werden von Wiener in ihrer Reichweite kritisiert. Wiener setzt weniger auf Perfektion, der Annahme eines optimalen Spiel des Gegenübers. Er setzt auf control, auf Kontrolle (Heims 1981: 320). In Rekurs auf die kybernetische Vorhersagetheorie und in Hinblick auf einige Episoden der Geschichte der Kriegsführung stellt Wiener gegen Neumann fest, daß »der ent-

198 Bestehen zwischen beiden Kommunikationsmöglichkeiten, wird heute von kooperativem, wenn nicht, von nichtkooperativem Spiel gesprochen: Rasmusen 1989: 18. Zudem wird die Variable »mit/ohne Konflikt« genutzt: ebd.: 19. 199 Spielthorie in Gefolge Neumanns spielte prominente Rollen bei Abschreckungs-Strategien Eisenhowers, Überlegungen zum Wettrüsten, der KubaKonfrontation, negativen Haltungen zu Abrüstung, Militärs im kalten Krieg: Heims 1980: 319ff 200 Vgl. Heims 1980: 307. Bateson erkennt eine pragmatische Tendenz der Spieltheorie eines permanenten reinforcements von »rules and competitive premises« (ebd.), rügt deren voreilige Naturalisierung und Anthropologisierung. Vgl. umgekehrt zu Einflüssen von Anthropologen wie Bateson auf Projekte wie die WHO (s.o.), Kriegsprojekte (Überblick: Heims 1991: 3ff), im kalten Krieg: ebd.: 7, auf Projekte prädiktiver amerikanischen Psychologie/ Sozialwissenschaft, neue Therapieformen: ebd.: 10f, 27f, 53f, 71, 158f, 164ff. 201 Neumann war 1946 ebenfalls consultant der Rand Corporation »on the broad subject of intercontinental warfare« (Heims 1981: 314). Rand entwickelte das US-Interkontinentalrakten-Abwehrprogramm, waren 1946 »the world center for studies in and promotion of game theory« (ebd.)

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scheidende Faktor die persönliche Vergangenheit des Befehlshabers und seiner Gegner« ist, »statistisch aufgezeigt in der Vergangenheit ihrer Aktionen, und nicht der Versuch, das vollkommene Spiel gegen den vollkommenen Gegner zu spielen« (ebd.). Tendieren sie nicht, wie bei Nashs Beispielen, selbstregulativ zu einem für alle Parteien guten Ziel, müssen ihm zufolge Neumanns Theoreme ausgleichend abgeschwächt werden: »there is no homöostasis« (Heims 1981: 307).202 Bei Wieners Neumann-Kritik wird wieder eine rückgekoppelte Kontroll-Technologie, ein Apparat der Vorhersage thematisch.203 Auf der Basis erhobener Daten zu faktischem Verhalten werden zukünftige Extrapolationen betont. Simulation wird zentral: »Wenn wir eine Maschine programmieren, um einen Krieg zu gewinnen, müssen wir gut nachdenken, was wir mit ›gewinnen‹ meinen. Eine lernende Maschine muß durch Erfahrung programmiert werden. Die einzige Erfahrung eines nuklearen Krieges, die nicht unmittelbar katastrophal ist, ist die Erfahrung eines Kriegsspiels. Wenn wir diese Erfahrung als Richtschnur für unser Vorgehen in einem wirklichen Ernstfall benutzen sollen, müssen die Werte des Gewinnens, die wir bei den programmierenden Spielen besetzt haben, die gleichen Werte sein, die wir im Inneren für den Ausgang eines echten Krieges gemeint haben. Wir können darin nur zu unserem unmittelbaren, äußersten und unentrinnbaren Verderben irren« (Wiener 1952: 213/214).

Die Kritik Wieners deutet an, daß Neumann nicht allein mittels der Theorie ›optimal‹ agierener Spieler im frühkybernetischen Kontext eine entscheidende Rolle auf den Macy-Konferenzen inne hatte – wissenschaftlich, aber auch hinsichtlich monetärer Acquise. Vor der theoretischen ›Homöostasierung‹ einiger Fallgruppen im Gefolge Nashs, um 1950, zeigen sich an bestimmten spieltheoretischen Axiomen bereits 1944 kybernetisch, insb. informationstheoretisch anschlußfähige Diskursstellen. Und zwar nicht nur bei Kontexten, die später ausdrücklich als ›Information‹ gefasst werden. Das Theoriedesign dieser Axiome ist bereits 1944 probabilistisch und algorithmisch anschlußfähig fundiert. Wie viele verwandte zeitgenössische und folgende Konzepte wird es aus der Weite des Propagierten zugleich neue Anforderungen an Berechnung und Berechenbarkeit stellen. Zum entstehenden kybernetischen Fundamentalbereich kompatible Dispositionen einer neuen ›Theorie der Spiele‹:204 Auf den Macy-Konferenzen

202 Diese und andere Aussagen Wieners haben sich im Populären u.a. durch John Badhams Film ›Wargames‹ von 1983 verdichtet, insb. in einer Szene, die eine vermeintlich ›lernende‹ Rechenmaschine zeigt, die den Oberbefehl über das Nuklearraktenarsenal der USA übernommen hat. Sie ist Whirlwindcomputern der US-Raktenabwehr nachempfunden, wird im Film bei Erfahrungen mit stets unentschiedenen Ergebnissen von ›TicTacToe‹ gezeigt (Wiener 1952: 206). 203 Vgl. die Kombination von Entscheidungstheorie mit Control-Apparaturen im Vietnamkrieg: Edwards 1996. 204 Spieltheorie als Beitrag zum Entstehen der ersten Kybernetik: Dupuy 1994: 61.

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entstehen subkutane, teils antagonistische Diskursverläufe, pro und contra werden diskutiert.205 Von Neumanns Theorie geht aus den Konferenzen, dem Ausschwärmen des entstehenden Diskurses gestärkt hervor. Sie dominiert in Folge zwar nicht den u.a. durch Wiener prominent vertretenen Populär-, aber zusehends den Grundlagenbereich des kybernetischen Diskurses und seine Ausläufer. Einer nicht allein in ökonomische, sondern auch in sozialwissenschaftliche und humanwissenschaftliche Gebiete ›diffundierenden‹ Spieltheorie gelingt dieser Schritt zumeist im Gefolge allgemeinerer Übertragung kybernetischer Axiome in diese Bereiche hinein. Der kybernetische Diskurs bildete eine Verdichtungs- und Vermittlungsinstanz, die als neue Bezugsgröße u.a. das Entstehen kognitiver Humanwissenschaften fundamental verkoppeln konnte mit einem neuen Kernbestand spieltheoretischer Grundaxiome.206 Die Spieltheorie bildet ab 1944 in ihren neuen, ›allgemeinen‹ ökonomischen Axiomen207 nicht nur weitere Basiselemente des kybernetischen Diskurses, sondern streckenweise auch einen synthetisierenden Überbau erster Effekte kybernetischer Dynamiken: Gitternetze und Ausrichtungslinien indiduellen Probehandelns, (Re-)Konstruktions-, Bau- und Assoziierungspläne bestimmter, entscheidender Einheiten. Ihr neues, probabilistisch hochdifferenziert arithmetisierbares Subjekt, ein (re-)kombinierter homo oeconomicus, ist zugleich Instrument und Effekt, kann als unteilbare Keimzelle einer neuen Dynamik wahrgenommen und zugleich gefügt werden. In Zukunft kann es als kalkulierender »(Be-)Rechner von Input und Output« auftreten (Dupuy 1994: 61, 103f).

205 Vgl. Heims 1980: 307f; Dupuy stellt einen Denkstil Wieners, McCulluchs und Batesons und einiger Gestalttheoretiker einer strikt logischen Fraktion gegenüber, die »combines an obsessive concern for logical rigor with a deliberately impoverished view of human relations«: von Neumann, Savage, Lazarsfeld, Pitts, Shannon, Stroud, Licklider. Der Riß spiegelt ihm einen Riß der kybernetischen Community zwischen ›reduktionistischen‹ und ›holistischen‹ Vertretern, ihm prägten allein Erstere den Diskurs und seine Wirkung. Diese und ähnliche (Heims 1982) polarisierte Thesen sind diskursanalytisch kritisierbar. 206 Vgl. Heims 1991: vii. 207 Heims spricht hier verschoben, u.a. in Rekurs auf Veblen/Myrdal, die pragmatischen Effekte dieser Axiome im Sozialen an, wenn sie »affect the well-being of a whole society if a particular economic theory gains enough political favor to be applied on a wide scale« (Heims 1981: 294): Heims beschreibt die Theorie derart, daß sie soziale Kompetition und Aggressivität buchstäblich in sich einschließt und so – wie allgemeine Berechenbarkeit – pragmatisch induziert und perpetuiert: »the elements of competitiveness and agressiveness in modern society would be contained within the formalism of a strictly axiomatic mathematical theory, and the problem of wise choice of rational action, would be reduced to a matter of calculation« (ebd. 293)

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Eine Kompatibilisierung menschlichen Handelns und informationstheoretischer Kommunikationstheorie also? Auf der Macy-Konferenz von 1946, zwei Jahre nach Neumann/Morgensterns und zwei Jahre vor Shannon/ Weavers’ Theorie betont Wiener: »The fundamental idea is the message [...] and the fundamental element of the message is the decision.« (Hayles 1999: 52). Wo nun auch menschliche Kommunikation fundamental informationstheoretisch aufgefaßt zu werden beginnt, beginnt ein neues kalkulatives, integral probabilistisches Modell menschlichen, ›spielerischen‹ Verhaltens mit einer neuen Kommunikationstheorie kompatibel zu werden. Umgekehrt eröffnet das neue menschliche Verhaltensmodell mit seinen monadischliberalen Subjekten einen u.a. teleologisch probaten, informationstheoretisch anschließbaren Problemhorizont. Eine neue rationale, potentiell in ihrer Skalierbarkeit immer engmaschigere Analytik und Kombinatorik wird möglich. In der Nachkriegswelt der ›roten Telefone‹ wird die Informationstheorie bei menschlicher Kommunikation – entgegen jeder kybernetischen Regelkreisidee, aber im historischen Effekt nach Bedarf mit ihr kompatibel – an neue zeitgenössische Selbstverständlichkeiten anschließbar. Die Elemente ›Sender‹ und ›Empfänger‹ gehen dann immer wieder kommunikativen Relationen voraus. Einem neuen kalkulativ-rationalen, probabilistisch fundierten, ›entscheidungstheoretischen‹ Subjektverständnis wird Raum eröffnet, sich im Zwischen liberaler Monaden neuer ›Medien‹ zu bedienen, während Strecken zwischen jeweiligen ›Blöcken‹ beliebig skalierbar erscheinen. Eine der historischen Koryphäen der Computertechnik, Alan Turing, der als ›Erfinder‹ der universellen, binären ›Turing-Maschine‹ gilt, zwingt man zu dieser Zeit wegen homosexueller Neigung zu einer normalisierenden Hormontheraphie. Er begeht später Selbstmord. Dem Turing-Test (Turing 1950), einem Gender-/Computer-Imitations Test wird nachgesagt, erstmals ein informatisiertes, liberales Subjekt propagiert zu haben, »in a room of his own, to deal with the outside world solely by rational argument. [...] the embodiment of a perfect J.S. Mill liberal, concentrating upon the free will and free speech of the individual« (Hodges 2000: 425). Der neu fundierte homo oeconomicus der ›Theorie der Spiele‹ von 1944 lernt auf dem Feldherrenhügel seines ›room of his own‹ vergleichsweise ruhig zu leben - wenn er spielerisch lernt, sich möglichst optimal einzufügen, möglichst friktionslos neue Raster des Spiels durchläuft, ihren neuartig detaillierten, kalkulativen Rationalitätstyp. Wie jeweils imaginierte gegnerische ›Spieler‹ lernt er selbst unausdrücklich, neue kybernetische Koordinatennetze eines neuen kalkulativliberalen Subjekt-Ideals auszufüllen. Werden seine neuen, dann binär anfallenden Datensätze bald zu einer neuen Form der ›Selbstregulation‹ der Ökonomie des Sozialen und ihrer ›Gleichgewichte‹ beitragen können?208 Eine bekannte Form wird neuartig ›kommuniziert‹, während sich Grenzen zu verschieben beginnen: Wo später von Subjekten die Rede sein wird, werden dann »system-boundaries defined by information flows and feedback loops

208 Vgl. Tiqqun 2001: 35.

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rather than epidermal surfaces« (Hayles 1999: 160). Neue Einschnitte und Positionierungen, Einpassungen in neue Koordinatennetze, in neue, prinzipiell hochskalierbare Ordnungen des Eigenen und Fremden werden denkbar – und teils spielerisch einübbar. Im Gegensatz zu entstehenden diskursiven Matrizen und neuen Apparaten existieren die zwischen 1943 und 1952 sich abzeichnenden neuen Ordnungen eines »technobio-integrated circuit« (ebd.: 27) erster Version erst der Möglichkeit nach.

5. ›I DEEN ‹ – ›V ERKÖRPERUNG ‹: T ECHNOLOGIE BERECHENBARER S PEICHER »By the term ›mind‹ I mean ideas and purposes. By the term ›body‹ I mean stuff and process. [...] To detect regularities in the relations of objects and so construct theoretical physics requires the disciplines of logic and mathematics. [...] It is these regularities, or invariants, which I call ideas, whether they are theorems of great abstraction or qualities simply sensed. Ideas are [...] to be construed as information.« W. MCCULLOCH, 1948

5.1 McCulloch: logical calculusof ideas immanent... (1943) »weil es unbestritten evident ist, daß alles uns bekannte Denken einem Fleisch zukommt« M. MERLEAU-PONTY

Im Durchgang durch den kybernetischen Diskurs tritt zuletzt noch ein weiterer diskursiver Strang ausdrücklicher hervor. Für diesen Strang ist in mehrfacher Hinsicht ein im Jahr 1943 publizierter Text von Bedeutung. Es handelt sich um a logical calculus of the ideas immanent in nervous activity, den der Neurophysiologe Warren McCulloch und der Mathematiker und Carnap-Schüler Walter Pitts zeichnen.209 Hier werden neben neuen kyberne209 Zum schillernden, Anonymität suchenden, mehr als die anderen Personen im paleo-kybernetischen Kontext »highly idiosyncratic« (Heims 1991: 46) Pitts, dem ersten wirklichen Nerd, der »presented the promise for the future in this field« (ebd.: 48) existieren verstreut Hinweise: Wiener 1968: 34; Heims 1991: 40ff, 153ff; Kay 2001: 174f, zum vermutlichen Suizid: Heims 1991: 140. Zu McCulloch biographisch: Heims 1991: 31f, autobiogr.: McCulloch 1965: 2f.

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tischen Technologien der ›Verkörperung‹ verschiedene neue, neurophysiologische Elemente und kybernetische ›Gehirn‹-Metaphernfelder vorbereitet. McCulloch und Pitts arbeiteten vor Entstehen des Texts recht ›konventionell‹ auf neurophysiologischem Gebiet. Mittels Elektroschock oder lokaler Strychninvergiftung der Gehirne von Katzen und Affen wurde u.a. versucht, Strukturen spezifischer Hirnareale zu identifizieren.210 Hierbei waren sie in einer Forschungsgruppe der Universität Illinois u.a. an kriegsbedingten Forschungsarbeiten für chemische und biologische Massenvernichtungswaffen beteiligt.211 Im Zusammenhang eines Seminars von McCullochs Lehrer Nicholas Rashevsky zu ›mathematischer Biophysik‹ (Kay 2001: 174; Heims 1991: 36f) hatte McCulloch bereits 1941 den damals 17-jährigen, äußert exzentrischen Pitts kennengelernt. In diesem Jahr arbeitete Rashevsky auch mit Ludwig von Bertalanffy212 zusammen und einem weiteren Schüler, Anatol Rapoport. Der Rashevsky-Kreis publiziert 1947 eine mathematical theory of human relations und 1951 eine mathematical biology of social behavior. Parallel veröffentlicht McCulloch 1947 in der Zeitschrift dieses Kreises, dem Bulletin of Mathematical Biophysics, einen für das Entstehen u.a. der AI (Artificial Intelligence) bis heute als wegweisend geltenden Artikel (McCulloch 1947; Heims 1991: 279). In Zusammenhängen von Rashevskys Seminaren zu mathematischer Biologie stellt McCulloch zu Beginn der 1940er Jahre erstmals öffentlich eine Theorie vor, die den Text von 1943 vorbereitet. Sie behandelt bereits unausdrücklich Zusammenhänge, die heute aufgefasst werden als »binäre[r] Informationsfluß [...] über Neuronenketten« (Kay 2001: 174). McCulloch hatte 1941/1942 über den befreundeten Neurophysiologen Arturo Rosenblueth von der Harvard University – er arbeitete damals in einer Forschungsgruppe mit Walter B. Cannon über Homöostase (Heims 1991: 166) – Norbert Wiener kennengelernt.213 Dieses Zusammentreffen von McCulloch und Wiener geschah zu jener Zeit, als Rosenblueth gemeinsam mit Wiener am Aufsatz über ›Teleologie‹ und an neuen teleologischen Technologien zu arbeiten begannen.214 Bereits im Mai 1942 kommt es bei Diskussionen auf dem Cerebral Inhibition Meeting zu ersten Überkreuzungen protokybernetischer Konzepte, einer ersten Annäherung verschiedener Diskursstränge.215 Pitts wird nach Veröffentlichung des neurophysiologischen Aufsatzes, 1943, zu Wiener ans MIT wechseln, um Elektrotechnik, Informationstheorie und von Neumanns Arbeiten genauer kennenzulernen. Wie viele anderen Personen beginnt er im Kontext von Kriegsprojekten zu arbeiten, im konkreten Fall dem Bau von Atombomben. McCulloch leistet bis in den kalten

210 211 212 213 214 215

Vgl. McCulloch 1948: 82; Heims 1991: 33f. Vgl. Kay 2001: 172f; Heims 2001: 133f. Vgl. zu Rashevskys elektr. Erregung/Aktionsstrom: Bertalanffy 1937: 125. Vgl. Wiener 1968: 35. Vgl. zum Teleologiestrang im Verkörperungsstrang: McCulloch 1948: 84. Vgl. paleokybernetische Überschneidungen, Autoren: Heims 1991: 44f.

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Krieg hinein, bis mindestens 1951 u.a. zugunsten von Biowaffen-Projekten neurophysiologische Grundlagenforschung. In Folge arbeitet auch er als zentralere Figur stetig einem zweiten Kybernetikschub zu, insb. durch einen gemeinsam mit Maturana entstandenen Artikel (McCulloch 1959). Der kybernetische ›Ratio-Club‹ in England, insb. Ashby, und Weiterentwicklungen im Bereich ›neuronaler Netze‹ sind später weitere Einflußgrößen. Als Grundsteinlegung u.a. dessen gilt bis heute der Text McCulloch/Pitts von 1943 gemeinsam mit einem Text von 1945 zu ›heterarchischen‹, zirkulärzweckgerichteten Netzen (McCulloch 1945). Durch einem weiteren, ebenfalls gemeinsam mit Pitts entstandenen Text zum ›Erkennen von Universalien‹, 1947, wird zuletzt erstmals eindeutiger das Gehirn informationstheoretisch, als Zentrum menschlichen Informationsverarbeitung verstanden.216 Umgekehrt wird 1947 das Entstehen erster Artefakte geplant, z.B. erste Formen automatisierter Mustererkennung durch ›Schaltkreise‹ eines »Abtastapparat[s]« (Wiener 1952: 176). McCulloch eröffnet 1948 zusammen mit John von Neumann das Hixon-Symposium cerebral mechanisms in behavior. Es gilt bis heute als entscheidend zur Ausbildung des Kognitivismus als humanwissenschaftlichem Paradigmenwechsel. McCulloch antwortet auf dem Symposium mit why the mind is in the head auf den folgenreichen Vortrag John von Neumanns zu einer neuen general and logical theory of automata (McCulloch 1948; Neumann 1948; Kay 2001: 182). Ein neues, allgemeines Apparate-Modell des Gehirns trifft auf eine neue, kompatible, generelle Theorie von Automaten, u.a. ›Elektronengehirne‹. Neue, fundamentale Codes treffen auf neue, formale Normen. McCulloch/Pitts logical calculus of the ideas immanent in nervous activity von 1943 und seine Kontexte artikulieren eine zentrale Etappe eines weiteren, letzten diskursiven Strangs der (vor-)kybernetischen Dynamik. 1943 sind zentrale Elementen des kybernetischen Diskurses im Entstehen. Aufbauend auf vorbereitenden Dynamiken gelangen sie hier erstmals auf spezifische Positionen, um kybernetisch integrierbar zu werden. Der Text von 1943 ist gerahmt durch eine Selbstverortung im Forschungsstand zeitgenössischer Neurophysiologie. Er schließt z.B. an Arbeiten des Spaniers Ramon y Cajal an, die später bei Lorente de Nó weitergeführt wurden. Er rekapituliert zeitgenössisch als erwiesen betrachtete Konzepte. Das Nervensystem gilt z.B. bereits als Netz von Neuronen, die jeweils aus Soma/Axon bestehen und mittels Synapsen verbunden sind, jeweils an einem synaptischen Spalt anliegen. Angenommen wird, daß über Synapsen ein Impuls übertragen wird, wenn ein bestimmter Grenzwert der Erregung des Neurons überschritten ist. Die einleitende Hauptfrage des Texts besteht im Problem, wie im Gefüge verschieden aneinander angedockter Neuronen nun genau ein jeweiliger

216 Erst hier entsteht die Vorstellung, Information sei nicht nur eine Sukzession von Entscheidungen mit statistischem Index, sondern abstrakt ein ›Muster‹, z.B. einer Wahrscheinlichkeitsverteilung: Hayles 1999: 25.

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Erregungs-Grenzwert entstehen kann. Ein Modell dominiert den Hintergrund: Die Frage danach, wie bei Interaktion anschließender Neuronen sich jeweilige Erregungsbeträge arithmetisch kumulieren, um in Folge z.B. einen jeweiligen Grenzwert zu unter- oder zu überschreiten, also im Kontext das faktische Feuern eines einzelnen Neurons auszulösen (Heims 1991: 42). Eine ausdrücklich ›physische Annahme‹ (McCulloch/Pitts 1943: 315) steht im Raum. Allgemein gilt die Aktivität des ›Neurons‹ hinsichtlich ›Feuern‹ als ›Alles oder Nichts‹-Prozess.217 Entweder die Erregung eines Neurons überschreitet einen Grenzwert und das Neuron ›feuert‹, gibt einen Impuls weiter. Oder die anliegende Erregung unterschreitet diesen Grenzwert und das Neuron ›feuert nicht‹ – keine Übertragung eines Signals oder Impulses findet statt. Nicht nur gelten im Text von 1943 Neuronen von Beginn implizit als physiologische Basis-Einheit, als quasi-Subjekte von Prozessen neurophysiologischer Signal-Übertragung. Zugleich werden Fragen thematisch: Einerseits nach einem konzeptuallen Rahmen, in dem die neue Einheit ›Neuron‹ beim Zustandekommen seiner jeweiligen Stellung – Feuern/nicht Feuern, Ja/Nein – als relational bedingt gelten kann. Welche spezifische Konfiguration des Netzes anliegender Neuronen löst in welcher jeweiligen Verknüpfung welche Schalterstellung aus? Andererseits wird bereits eine Antwort konzipiert, wie das in seinen Elementen quasi-›binär‹ gefaßte Feld anschließend zu formalisieren wäre. Relational bedingte neuronale Ereignisse, verstanden als Schalterstellungen, Versuch ihrer formalisierten, arithmetischen Beschreibung: Eine logisch-propositionale Metasprache wird angeboten, die sich in ihren Symbolen an Carnaps logische Syntax der Sprache (Carnap 1934) anlehnt, in Notation und Konvention an Bertrand Russels und Alfred North Whiteheads Principia Mathematica (Russel/Whitehead 1910). Elemente logischen Empirismus sollen gemeinsam mit Rechenoperationen Boole’scher Algebra produktiv überführt werden auf das neue Gebiet materieller neuronaler ›Substrate‹.218 Ein zentrales Konzept des Texts, eine logische Metasprache tritt auf. Sie verfolgt typologisierend eine rekonstruktive Fassung des Procedere neurophysiologischer Prozesse des ›Schaltens‹ und artikuliert sich hauptsächlich mittels eines abstrakten Symbolismus. Selbst einer durch Experten beratenen Lily Kay ist er »nahezu unverständlich« (Kay 2001: 170). »Let us define a temporal proposition expression (a TPE), designating a temporal propositional function (TPF), by the following recursion: A 1p1(z1) is a TPE, where p1 is a predicate-variable If S1, and S2 are TPE containing the same free individual variable, so are SS1, S1vS2,S1.S2 and Si. =S2. Nothing else is a TPE. « (McCulloch 1943: 316)

217 Vgl. zur Formulierung des Konzept 1926 bei E. D. Adrian: Hagner 2006: 206. 218 Vgl. Differenzen zu Booles 1854er Laws of Thought, »Zäsur«: Hörl 2008: 172.

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5.2 Feld: Diskurse Dynamik Die in Anlehnung an die ›Sprache II‹ Carnaps entwickelten Textteile von 1943 gelten offensichtlich als eigentliche Aussage des Texts. Die formalisierten Textteile umspannt eine allgemeinverständlichere Klammer, die zeitgenössischen diskursiven Regularien neurophysiologischer Diskurse zu entsprechen scheint. Hier wird der diskursive Bruch im ›Kern‹ des Texts noch einmal rhetorisch rekapituliert, erst diskurspragmatisch nachvollziehbar eingeführt. Wie bei anderen frühen kybernetischen Texten eröffnet auch hier ein halbwegs verständlicher Rahmen erst neue textuelle Perspektiven, findet eine nachvollziehbare Metaphorisierung statt, um den Text wirkungsmächtig werden lassen zu können. Insofern dürfen die vermeintlich erklärenden Metaphern auch in McCulloch/Pitts Text als zentral gelten. Der Diskurs, an den angeschlossen wird, verändert sich zugleich. Im Text findet ein Bruch eingespielter, bislang zentraler diskursiver Regularien statt mittels einer diskursiven Überlagerung, Überkreuzung formal fremder, kontextuell neuer Aussageformen mit Grundgerüsten bestehender zeitgenössischer neurophysiologischer Diskurse. Letztere übertragen die neuen, eher separaten Aussageformen metaphorisierend in bestehende Diskurse, integrieren sie und belassen sie zugleich separat. Im vormaligen Diskurs können so neben bool’scher Algebra und Regularien aus dem Bereich des logischen Empirismus219 auch neu konnotierte Überlegungen zum Geist als einer Art Rechenmaschine einfließen.220 Der neue neurophysiologische Diskurstyp verweist bereitsin einigen rhetorischen Facetten und Strategien auf den kybernetischen Diskurs um 1948, bereitet Elemente mit vor, die nicht nur für einen seiner bekanntesten Stränge zentral wurden. Diese neu gewichteten Elemente werden hier zugleich fungibel, rekontextualisierbar, für und an den späteren kybernetischen Diskurs anschlußfähig. Ihre relationale Gruppierung deutet vor auf erste Grundzüge allgemeiner Möglichkeitshorizonte des späteren kybernetischen Diskurses, seiner Hervorbringung von Aussagen auch jenseits neurophysiologischer

219 Ob sich aus den hier stattfindenden Überschneidungen logischen Empirismus und Formelsprachen in Verbindung mit Binär-Kalkülen sowie Metaphern der Berechenbarkeit von Geist nicht auch erste Grundzüge dessen abzeichnen, was heute unter Programmiersprachen verstanden wird, kann hier nicht überprüft werden. Diese These wäre jenseits des typischen Rekurses auf das ›Plankalkül‹ Zuses von 1945 (Steinbuch 1971: 455) und auf von Neumanns Differenzierung von 1945 zu rekonstruieren. Mit Dupuy könnte man davon ausgehen, daß von Neumanns Differenz von Hard und Software (›von Neumann-Maschine‹) auf den 1943er Text McCullochs zurückzuführt (Dupuy 1994: 66). 220 Deren historische Verfolgung über Leibniz, Babbage etc. wäre eine gesonderte Arbeit. McCulloch bereitet hier eine Rede davon vor, daß »Gehirne Gedanken nicht absondern wie die Leber Galle, sondern daß sie Gedanken errechnen, so wie elektronische Rechenmaschinen Zahlen errechnen« (Kay 2001: 172).

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Kontexte. Diese auch die anderen, bereits thematisierten Diskursstränge betreffenden Dynamik, die Genese erster Matrizen des kybernetischen Diskurses, wird im letzten Kapitel des Buchs deutlicher. Methodisch relevant sollen auch hierbei weniger Fragen nach der Wahrheit von Aussagen werden, selbst nicht hinsichtlich späterer Einsätze bei kybernetischer Automaten.221 Fragen nach Wahrheit,222 Illusion oder gar Hybris wurden bereits herausgestellt.223 Dagegen werden einige, u.a. historische Funktionen kybernetischer Aussagenkomplexe betont. Zum einen hinsichtlich der Vorbereitung zentraler diskursiver Elemente des kybernetischen Diskurses von 1948, zum anderen hinsichtlich spezifischer diskursiver Relationen, die spätere Regularien der Aussagenproduktion des kybernetischen Diskurses prägen.224 Was im Vorfeld der nachweislich zu Beginn insb. durch Neurophysiologen wie Rosenblueth geprägten (Proto-)Kybernetik schlicht als neurophysiologischer Kontext erscheinen mag, markiert einen bestimmten Strang des kybernetischen Diskurses, der in späteren diskursiven Überkreuzungs- und Aufnahmebereichen Kernbestände dieses

221 Das gilt für die aus kybernetischen Diskursen hervorgegangenen Gebiete gewendeter Neurophysiologie, KI, Konnektivismus (Parallelcomputer-Paradigma), der Theorie neuronaler Netze, des Kognitivismus (SeriellcomputerParadigma), der Kybernetik zweiter Ordnung. Vgl. zur z.B. noch durch Minsky vorgenommenen, heute im Konnektivismus seltenen, filiativen Verzweigung aus der Kybernetik: Dupuy 1994: 63ff; zu Wieners Neurocybernetics: WCW IV: 400f; Heims 1991: 281. Minsky, Dupuy und Heims teilen die geneaologischen Linien, Dreyfus in seiner AI-Kritik nicht: Dreyfuß 1972: 107. Wie kann sich seine phänomenologische Kritik dennoch, z.B. im Rahmen Heideggers Kritik, vollziehen (ebd.: 175)? Manche geschilderten Probleme wurzeln im frühen kybernetischen Diskurs. 222 Vgl. zu, retrospektiv betrachtet, ›Fehlern‹ des Ansatzes: Dupuy 1994: 57f. 223 Vgl. zu unerreichbaren Zielen des Textes: Kay 2001: 171f. 224 Vgl. zur Macy-Dynamik: Hayles 1999: 15f, 51f. (Metaphern), 73 (Frustration der Beteiligten). Gegenüber Kay wird eine stärker wechselwirkende Dynamik betont verschiedener, sich aus vielfältigen Linien speisender Diskursstränge zur ersten Bodenentwicklung im kybernetischen Diskurs. Diese Wechselwirkungsdynamik muß nicht in einen allgemeinen »neuen Repräsentationsraum« (Kay 2001: 170) führen, in dem Texte der verschiedenen Stränge bereits eingebettet wären. Die Rede von einem solchen Raum am »Kreuzungspunkt von digitalen elektronischen Rechnern, Informationstheorie, Rückkopplungssystemen und Militärtechnologien« (ebd.: 173) ist weit gefaßt. Wenn, dann ist das zwischen 1943 und 1948 geschehene Entstehen als stetiger Prozess zu verstehen, der nicht mit Ausbildung erster diskursiver Regularien um 1948 ein Ende gefunden haben muß, um durch einen weiteren epistemischen ›Bruch‹ abgelöst werden zu können. Womöglich ist selbst heute kein Klimax des Prozesses erreicht. Forschungsleitend lassen sich spätere Kontexte individualisieren, typisieren und periodisieren.

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Diskurses bereichern und mit ausfalten wird. Die Diskussion klarer konzeptueller Differenzen vorbereitender Diskursstränge untereinander zwischen 1943 und 1948 wird damit zurückgestellt hinter jeweilige Anteile zum diskursiven Entstehen um 1948, von Anschlußelementen späterer Unifizierungsbewegungen.225

5.3 Relationaler Ereignis-Binarismus? Schalter im Netz »conceive neurons as telegraphic relays [...] As Alcmaneon, the first of experimental neurophysiologists, so well observed, the majority of things human are two – whiteblack, sweet-bitter, good-bad, great-small« W. MCCULLOCH, 1948 »anything that can be completely and umambigously put into words, is ipso facto realizable by a finite neural network« J. VON NEUMANN, 1952

Am unter dem Namen McCulloch/Pitts markierten diskursiven Ort geschieht eine bestimmte Verbindung. Sie findet noch ohne klare semantische Benennung heute bekannter Elemente statt. Hier wird erstmals konzeptuell eine Verbindung hergestellt zwischen proto-binär verstandener QuasiDigitalität, einer Quasi-Signalverarbeitung und einem Ort des Denkens ›im Kopf‹. Diese Verbindung ist nicht nur für späteren Konzepte des Kognitivismus folgenschwer.226 Das bei weitestem zentralste konzeptuelle Charakteristikum des Texts von 1943 findet sich weniger in der Formelsprache oder an verschiedenen Beispielen, in neu geprägten Auffächerungstypen und/oder spezifischen Notationsformen. Zentral ist die grundlegende allgemeine Charakterisierung von Prozessen neuronaler ›Signalleitung‹ überhaupt. Ein neuronalen Prozessen grundsätzlich unterstellter binärer Charakter tritt auf, der noch nicht diesen Namen trägt.227 Ein anschlussfähiges 225 Betont man einen stärkeren Mentalismus McCulloch/Pitts gegenüber dem behavioristischen Ansatz Wiener/Bigelow/Rosenblueths, werden Herkunftsregularien der Diskursstränge betont gegenüber sich herausbildenden Schnittstellen. 226 Die Vorstellung, Denken, ›Geist‹ und Intelligenz seien ›im Kopf‹ zu lokalisieren ist keine kybernetische, geht ins 19. Jahrhundert zurück, ist z.B. anschlussfähig entwickelt in Galls Phrenologie. Im Folgenden werden Wiederanschlüße an solche Traditionen verdeutlicht, die mit neuen kybernetischen Meßmethoden, Konzepten und Pathologien arbeiten, z.B. dem einer ›digitalen‹ Arbeit des Gehirns, binär fundierter/prozessierender Logik. Vgl. Heims 1991: 118f. 227 Vgl. Kay 2001: 171f, passim.

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Konzept artikuliert zugleich Gehirnphysiologie am Bild einer binär arbeitenden Maschine ›im Kopf‹. Fundamente entstehen, um boole’sche Algebra in Wirkungsweisen elementarer, atomarer Bestandteile dieser Maschine erkennbar zu gestalten.228 Dieses Bild bietet Bodensätze logischer Hintergrundmetaphorik im Zusammenhang. Es kann später stetig informationstheoretisch reformuliert werden.229 Zwischen Soma und Psyche, Materie und Geist bildet dann eine ›binär‹ arbeitende ›Kommunikation‹ einen Brückenschlag,230 der einschließlich Implikationen informationstheoretisch ausbuchstabierbar ist.231 Information wird verständlich als ›Drittes‹ jenseits von Materie und Energie. Bereits 1936 hatte Shannon boole’sche Algebra und binäre Arithmetik mit elektromechanischen Schaltrelais verknüpft. Sie wurden damit einerseits funktional vereinfacht, andererseits umgekehrt stetig zur Nutzung solcher Rechenoperationen nutzbar (Shannon 1936). 1943 entsteht ein Bild quasibinär arbeitender Denk-/Signal-Elemente, die in der Materialität, im Fleisch des psychischen Apparats verkörpert sind: »a setting in the flesh«.232 Die binär strukturierten Elemente gelten in ihrer relationalen Verschaltung als algebraisch und propositional formalisierbar. Lacan wird später hieran anschließen.233 Eine zentrale Übertragung entsteht, nicht nur für die weitere

228 Parallel entsteht in GB bei Kenneth Craik die Vorstellung vom Gehirn als »neural calculation machine«, die Konzepte repräsentiert: Heims 1991: 43. Die Konzepte McCulloch/Pitts werden durch den kybernetischen Diskurs anschlußfähiger in binär-arithmetischer Sicht des Rechenmaschine-Problems. 229 1948 wird das ausdrücklich in Rekurs auf Wiener vollzogen: »Wiener’s unit of information is exactly the logarithm to the base 2 of the reciprocal of the probability of the state, which, of course, is the negative entropy of an ensemble of bivalent systems. neurons are bivalent systems.« (McCulloch 1948: 74). Folgerichtig versteht McCulloch 1949 neuronale ›Signale‹ in einer ›Doppelnatur‹, als Brückenschlag zwischen »physical event« und »general idea«: McCulloch 1949: 373. Vgl. Kay 2001: 178, passim; Kay 1997 zur Informationstheorie mit ähnlicher These. Kay geht in den historischen Grundkoordinaten verschoben vor, trennt den ›Informationsdiskurs‹ von der Kybernetik: die ›Technokultur‹ eines ›postindustriellen Epistems‹ erscheint, die »das Leben und die Gesellschaft zu Signalrelais und Informationssystemen« umformt (Kay 2001: 187). 230 Vgl. buchstäblicher Gebrauch ›Brücke‹, »real bridge«: McCulloch 1949: 373. 231 Vgl. Wieners späteres Bild des Gehirns als »extremely intricate communication net of fibers with loci of intercommunication, known as synapses, which at some time are in a position to carry a messages and at other times are not«. Aushingewiesen wird auf einen »parallelism to the automatic telefone central or the electronic computing machine« (Wiener 1952: 386). 232 Zit. nach Hayles 1999: 57. Erst nach Ausfaltung des kybernetischen Diskurses, 1948, wird hier der Term ›digital‹ genutzt: McCulloch 1948: 76. 233 1955 werden in Rekurs auf Kybernetik am/mittels dem Bild der Tür, ihrer Öffnung/Schließung binäre Charakteristika im Relation zur Kategorie des Realen

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Entfaltung des kybernetischen Diskurses und seiner Ausläufer,234 sondern auch für hierdurch populär geprägte Bilder. Ab den 50er Jahren beginnen Vorstellungen von Schaltkreis, Elektronenhirn und Rechner gegenseitig aufeinander zu verweisen. Das Gehirn wird dann mit marginalen Differenzen ausdrücklich am Bild des Rechners modelliert. Der Text von 1943 trägt bereits bei zur Schaffung solcher Möglichkeiten. Nicht nur vollzieht er eine »Gleichsetzung von Verstandesvorgängen mit denen binärlogischer Neuronen« (Kay 2001: 171). Anschlußfähig wird zugleich eine Parallelität proklamiert zwischen der neuen (Re-)Konstruktionsform des Geschehen auf neuronaler Ebene und psychischem Geschehen.235 In Analogie wird Psychisches auf letzte Elemente als Einheiten zurückführbar, diese neuen Einheiten werden quasi-binär und quasischaltalgebraisch konzipiert. Eine Intentionalität psychischen Geschehens wird ausdrücklich nicht angegriffen, vielmehr wird sie rekonzeptualisiert, angefangen bei einer ebenfalls binärlogischen Fundierung. Psychisches wird in kleinste, analog der neuen Form von ›Neuronen‹ konzipierte Einheiten zerlegt und zugleich damit begonnen, wahrscheinlichkeitstheoretisch spezifische Freiheitsspektren der neuen Einheiten zu markieren (McCulloch/Pitts 1943: 323).236 Die sich dunkel anbahnende, später humanwissenschaftlich

arithmetisch verhandelbar: Lacan 1955: 414f. Bei McCulloch werden bereits Öffnungen und Schließungen thematisch, gewichtig ist aber ihr zustandekommen, Fragen des Durchflußes/Hindernisses, von Ein- und Ausschlüssen. 234 Subkutan durch den kybernetischen Diskurs vermittelt gilt das insb. für diskursive Entwicklungen im Bereich späterer kognitivistischer und konnektivistischer Ansätze, in den Vorläufern von Computer-Science, im Kontext neuronaler Netze, AI, teils der Neurophysiologie. Vgl. im kybernetischen Diskurs fünf Jahre später: »Der Alles-oder-nichts-Charakter der Neuronenentladung ist völlig analog der Auswahl einer binären Ziffer« (Wiener 1950a: 35, Übernahme des Kontexts in Wiener 1952: 151/152ff hinsichtlich Nervenzellen). Vgl. die Gegenüberstellung digitale/»Analogiegeräte«: Wiener ebd.: 69. Vgl. zu AI, zur Entwicklung neuronaler Netze: Dupuy 1994: 62f. Minski und Papert wurden von McCulloch protegiert: Dupuy 1994: 57. Vgl. Paperts Vorwort zu McCulloch 1965, wo er, gegenüber der Unendlichkeit des Turing-Maschine-›tapes‹, auf die Endlichkeit von McCullochs binär arbeitendem ›Gehirn‹, dessen ›memory‹ hinweist: Er kann nicht alles berechnen, was eine ›universelle‹ TuringMaschine berechnen kann. Im filiativen kybernetischen Strang, der zu AI führt, wird damit angesichts einer ideelen universellen Maschine dem Menschen ein defizitärer Ort zugewiesen. 235 Northrop zu Korrelationen bis in soziale Normen, »epistemic correlates of introspected ideas, including social norms and scientific theories«: Heims 1991: 267. 236 Vgl. zu Intentionalität im Feld, u.a. in Nähe Husserls: Dupuy 1994: 104f. Zufall, ›Rauschen‹, Fehler werden 1946 integriert bei Erhalt der Funktion forma-

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anschlußfähige Schnittstelle des Texts tritt in peripheren Aussagekomplexen zutage. Denn durch den Text soll ausdrücklich ein Betrag zur Psychologie geleistet werden. Unbescheiden wird thematisch, daß er »contribute all that could be archived in that field« (ebd.: 323). Analog zum äußerlich quasidigital konzeptualisierten Neuron wird eine psychische Innen-Aktivität thematisch: ›Psychonen‹. Rekurse auf eine beiden zugrundeliegende Struktur sollen möglich werden. Nicht ohne Hinweis auf den semiotischen Charakter des aktivischen Innenbereichs wird eine fundamental binäre Relationenlogik thematisch und eine algebraisch formalisierte Form von Relationalität: »a psychon can be no less than the activity of a single neuron. Since that activity is inherently propositional, all psychic events have an intentional or semiotic character. The all-or-none law of these activities, and the conformity of their relations to those of the logic of propositions, insure that the relations, of psychons are those of the two-valued logic of propositions. Thus in psychology, introspective, behavioristic or physiological, the fundamental relations are those of two-valued logic« (ebd.: 323).

Eine erste Anschlußstelle des späteren kybernetischen Diskurses entsteht, nicht zuletzt für eine algebraisch-informationstheoretisch informierte Psychoanalyse einerseits, eine Parallelität psychischen und neuronalen Geschehens proklamierende Neurophysiologie andererseits – weitere, bspw. ›kognitivistische‹ Anschlußstellen hierbei bewußt außen vor lassend. In klarer eigenschränkten Aussagekomplexen des Textes tritt eine neue Form von Neurophysiologie auf, eine neue »mathematical biophysic« (ebd.: 324). Sie ist mittels Analogiebildung rekonzepualisiert und neuartig logifiziert. Noch abseits vom beobachtbaren, ›empirischen‹, neuronal-physiologischen Erregungsgeschehen und seiner Ausdeutung werden hier ›anatomical configurations‹ versucht spezifisch sichtbar werden zu lassen. Der Blick wird abstrakt geschärft. Mittels einer erstmals vollzogenen Abstraktion ›neuronaler Konfigurationen‹ werden diese nun spezifisch ›logifiziert‹ vorstellig. Logische Schematisierungen werden entwickelt. Um das zu gewährleisten, werden sichtbare ›neuronale Konfigurationen‹ abstrakt mit logisch-algebraischen Modellen verknüpft, in Analogieschlüssen mit diesen Modellen kompatibilisiert. Diskursiv greifbar wird eine ideale, grundsätzlich binär strukturierte Matrix der Konzeptualisierung. Die jeweilige ›Anatomie‹ eines Neurons wird hierbei fundamental spezifiziert hinsichtlich eines sog. ›Alles oder Nichts‹-Prinzips. Ausgehend von einem solchen binären Prinzip wird sie weiter modellhaft-abstraktiv (re)konstruiert. Quantifizierbare Werte stehen nicht im Raum. Überlegungen werden nicht diskutiert, wie schnell z.B. ein ›Signal‹ an einer ›Synapse‹ angelangen oder wie schnell es vom nächsten ›Neuron‹ weitergegeben werden kann, wie lange die ›Refraktärzeit‹ einzelner Neuronen exakt ist oder die

ler ›Neuronen‹. Vgl. zum Entstehen der Logik Neumanns ab 1952: Dupuy 1994: 56.

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›Inhibition‹ seiner Erregungsmöglichkeit nach der Signalweiterleitung besteht. Solche konkreten Überlegungen werden ausgelassen. Thematisierungen ›analoger‹ Quantitäten im Weiterleitungsgeschehen, die z.B. jeweils zum Erreichen eines Schwellenwerts notwendig sind, um Latenzen zur Manifestation eines ›Feuerns‹ umschlagen lassen zu können – bleiben außen vor. Als zentral gilt ihre jeweilige Relationalität: Weniger als das Wieviel zählt das verortete Wodurch. Spezifisch analog, nicht formal ›digital‹? Durch eine allzu genaue Thematisierung des ›Wieviel‹ könnten sich gravierende relationale Differenzen spezifischer Zeitspannen zeigen, bis ›Schalter‹ umgelegt werden können und verschiedene Zeit-Werte, bis sie wieder ›geschaltet‹ werden können. Unausdrücklich ausgeblendet ist also die Thematisierung verschiedener ›Schaltzeiten‹ in Abhängigkeit von jeweiligen ›Schaltertypen‹, ihrer jeweils spezifischen Form und Materialität.237 Zugleich gewinnen gegenüber parallel verlaufenden eher eindimensionale, serielle neuronale Prozesse Aufmerksamkeit. Jeweils konkrete, als solche empirisch sichtbaren, differentiellen Gestalten jeweiligen ›Schalter‹ werden im Text von 1943 ebenfalls nicht ausdrücklicher thematisch. Zeigen hier disziplinär hochgradig eingeschränkte Sichtwinkel bereits ganz grundsätzlich nur noch »verarmte [...] Gebilde« (Merleau-Ponty)?238 Überlegungen und Untersuchungen zum konkreten ›Wie‹, ›Wann‹ und ›Worin‹ einer jeweils singulären neuronalen Signal-›Übertragung‹ werden hier also sekundär. Zurückgedrängt werden sie zugunsten eines neuen, abstrakt blickbildenden Konzepts. Es schematisiert ein ›Daß‹ überhaupt von quasi-atomisierten, neuronalen Signal-Prozessen.239 Diese Prozesse sollen ›an sich‹ betrachtbar werden – abstrakt. Hierzu geschieht eine »Umwandlung eines Phänomens in eine mathematisch-logische Operation« (Kay 2001: 177): Ausgegangen wird von dem ›Neuronen‹ zuvor nur tastend zugeschriebenen Entweder/Oder, Ja/Nein-Charakter. Dann sollen ›Neuronen‹ in abstrakter Form hervortreten in ihrer jeweiligen Relationalität zu anderen,

237 Zeitliche Schwankungen seien »bewußt vernachlässigt« worden: ebd.: 175. 238 Vgl. die Kritik Merleau-Pontys im Kontext: Meyer-Drawe 2000: 235. Vgl. den zeitgenössischen »religious war«, den auf der 4. Macy-Konferenz der Gestaltheoretiker Köhler gegen McCulloch auslöste – seine Thesen blieben ohne Echo: Dupuy 1994: 106. Dupuy weist auf unbemerkte Anschlüssmöglichkeiten zwischen beiden hin, (Naturalisierung des Transzendentalen), auf einen »missed encounter« zwischen Kybernetik und traditioneller Phänomenologie (ebd.: 99ff). Vgl. Dupuys Rede von einer »Intentionalität« neuronaler Netze: ebd.: 104/105. 239 Vgl. zur Korrenspondenz resultierender top-down und bottom-up Zugänge mit sozialwissenschaftlichem einem »methodological individualism«, ökonomischen Gleichgewichtstheorien: Dupuy 1994: 156/157. Vgl. ebd. zur Anschlußfähigkeit an einen Hayekschen Liberalismus (ebd.). Teilnehmer des 1968er Alpbach-Symposiums waren u.a. Hayek und McCulloch.

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umgebenden Prozessen, weiteren, ähnlich konzeptualisierten Neuronen. Abstrakte Neuronen werden thematisch. Mittels eines jeweils spezifischen, abstrakten Typs ihrer relationalen Verknüpfung sollen sie auf das ›daß‹ des Feuerns anderer Typen abstrakter Neuronen wirken. Die mittels des angenommenen ›all-or-none characters‹ entstandene binäre Abstraktion ›des‹ Neurons zu einer quasi-logischen Entität ermöglicht in Folge weitergehende Abstraktionen, die auf dieser ersten Abstraktionsstufe aufsetzen. Die anfängliche Materialität, von der die Abstraktionen anzuheben vorgaben tritt immer stärker in den Hintergrund bis sie beinahe verschwunden ist. Ein weiteres Mal steht nicht in erster Linie eine Vielfalt von Gestalten im Raum, sondern Grundzüge einer Ermöglichung weiterer Formalisierung, Bedingungen umfassender Prozessierbarkeit. Neue (Meta?-)Formen beginnen sich abzuzeichnen, ›naturalisierend‹ werden Grundzüge gelegt einer formalen Artifizialisierung vermeintlicher ›Natur‹. Ein neues Format beginnt zu gerinnen, ›die‹ kybernetische Artifizialität. Arithmetisierung der Einzahl? Die neuen Technologien brechen anscheinend mit ›Natur‹, während sie im ›Zwischen‹ von ›Organischem‹ und ›Technischem‹ ein Crossover, eine Überkreuzung vollziehen, eine Überblendung auf neuem Niveau.

5.4 Verkörperte Ideen ¾jenseits von Gott und Mensch½ Logifizierung neuer Sichtbarkeiten »I dont particulary like people, never have. Man [...] is the [...] most destructive of all animals. I dont see any reason, if he can evolve machines that can have more fun than he himself can, why they shouldnt take over, enslave us, quite happily. They might [...] invent better games than we ever did« W. MCCULLOCH

Unabhängig von ihrer jeweiligen konkreten Form und Schaltzeit erreicht das Konzept der neuen, protokybernetischen Schalter-Ereignisse weiteres Abstraktionsniveau. Es wird ausdrücklich mit der zweiwertigen propositionalen Logik Russel/Whiteheads amalgamiert: »Because of the ›all or none‹ character of nervous activity, neural events and the relations among them can be treated by means of propositional logic.« (McCulloch/Pitts 1943: 313). Als Folge dieser diskursiven Kreuzung entsteht im neurophysiologischen Bereich fünf Jahre vor Shannon/Weavers Kommunikationstheorie der Möglichkeit nach ein informationstheoretisch anschlussfähiger, diskursiver Boden, auf dem der einflussreiche neurophysiologische Strang des kybernetischen Diskurses Wurzeln schlagen kann. Hiervon ausgehend werden 1943 weitere zentrale Elemente des kybernetischen Diskurses vorbereitet.

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Diejenige Abstraktion ›neuronaler Aktivität‹, die hinsichtlich ihrer Ereignishaftigkeit als binärer Schalter modelliert und hinsichtlich ihrer relationalen Charakteristika formalisierbar werden soll, gipfelt in einem Tableau abstrakter Klassen. Dieses Tableau soll nun u.a. zur (re-)konstruktiven Rubrikation vielfältiger neuronaler Formen dienen. Seine Klassen sollen möglichst alle als prinzipiell möglich denkbaren abstrakten Relationierungstypen neuronaler ›Schalter‹-Aktivitäten repräsentieren können. Jede Schalter-Aktivität wird hierbei gewissermaßen als Knotenpunkt eines Netzes gefaßt. Als jeweiliger Knotenpunkt soll ihm jeweils einem spezifischer ›logischer Ausdruck‹ entsprechen: »for any logical expression, [...] one can find a net behaving in the fashion it describes.« (ebd.). Das entstehende Tableau neuronaler Aktivitäten entfaltet seine verschiedenen Typen in Analogie zu den Klassifikationen von Russel/Whiteheads propositionaler Logik. Durch Analogien stellt es Verbindungen her zwischen den als abstrakten ›Relations-Schaltern‹ denkbar gewordenen Neuronen und dieser Logik. Es soll nicht nur eine formale ›Propositionalisierung‹ neuronaler ›Aktivitäten‹ betrieben werden können. In erster Linie leitend ist die Überzeugung, Neuronen und diese Propositionslogik abstrakt mit boolscher, zweiwertiger Algebra beschreiben, repräsentieren zu können. Der theoretische Vollzug dieser Überzeugung bestimmt dann die vorhergehende Neuronen-Abstraktion als quasi-›binäre‹ Entität. Die vormalige »physical assumption« (ebd.: 315) wird so bereits zu einem ›Gesetz‹: »The ›all-or-non‹ law of nervous activity is sufficient to insure that the activity of any neuron may be represented as a proposition« (ebd.: 314). Aufbauend auf dem neuen, binären Neuronen-›Gesetz‹ wird ein ›Repräsentationsverhältnis‹ konstatiert zwischen propositionaler Logik und der abstrahierten relationalen Aktivität der abstrakten Neuronen-Netzknoten. Dieses vermeintliche Repräsentationsverhältnis gilt im nächsten Schritt bereits als fundiert in einem Korrespondenzverhältnis zwischen beidem. Diese und jene Form des Relationierung einer binären Ereignis-Entscheidung eines Neurons ist dieser und jener logisch-algebraischen Proposition analog (Kay 2001: 175; Dupuy 1994: 55f), ›korrespondiert‹ ihr. Sie kann und soll durch sie erschöpfend beschrieben werden können. Jeweilige neuronale Netzknoten können damit typisierend beschrieben werden als ›Präzisierung‹, ›Disjunktion‹, ›Konjuktion‹, ›verknüpfte Negation‹, ›relative‹ oder ›absolute Inhibition‹, ›zeitliche Summation‹ oder ›Regeneration‹ (Kay 2001: 176). Repräsentation, Korrespondenz, schließlich Identität: Die projektierte ›Transkribierbarkeit‹ ist für McCulloch/Pitts zuletzt nur dann wirklich ›von Nutzen‹, wenn von einer relationalen Identität gesprochen werden kann zwischen ›physischen‹ Relationen und logisch-abstrakten ›Propositionen‹. McCulloch/Pitts werden zuletzt konstatieren, daß es für jede ›physische‹ ›Reaktion‹ einen korrespondierenden formalen Typ von Behauptung ›gibt‹: »Physiological relations existing among nervous activities correspond, of course, to relations among the propositions; and the utility of the representation depends upon

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the identity of these relations with those of the logic of propositions. To each reaction of any neuron there is a corresponding assertion of a simple proposition« (McCulloch/Pitts 1943: 314).

Was apodiktisch und zugleich subtil idealistisch als ›formal equivalent‹ eingeführt wird, wird schließlich offenbar wieder bescheiden in seinem Erklärungsanspruch begrenzt. Die konstatierte Äquivalenz soll keine ›faktische Erklärung‹ sein: »neither of us conceives the formal equivalence to be a factual explanation« (ebd.). Die neu eingeführte, logisch-abstrakte ›Transkriptionsebene‹ wird aber unspielerisch eingesetzt gegenüber nun offenbar nur wieder versuchsweise gezogenen Schlussfolgerungen im neurophysiologischen Gebiet. Die Ebene der Transkription wird zu einem einseitig wegweisenden, Reversibilität verunmöglichenden ›Konzept‹. Das gilt vor allem dort, wo zwielichtigere Phänomene auftauchen, auf der Ebene neurologischer Prozesse selbst. Im Ergebnis wird nun von der ›logischen Seite‹ aus ein rückführender Erklärungsanspruch geltend gemacht. Neurologische Prozesse können umgekehrt in der spezifisch gestalteten, ›empirischen‹ Form ihres relationalen Charakters nicht mehr zu einer (Re-)Konzeption neuartiger logisch-propositionaler Typen/Typologien Anlaß geben. Die einseitige Richtung des Prozesses wird deutlich: »the alterations actually underlying facilitation, extinction and learning in no way affect the conclusion which follow from the formal treatment of the activity of nervous nets, and the relations of the corresponding propositions remain those of the logic of propositions« (ebd.).

Entgegen dem Anschein ist es eine fehlende Reversibilität des abstrakten Erklärungsanspruchs in McCulluch/Pitts Modell von 1943, die sich als einseitige Betonung der logisch-propositionalen Seite gegenüber der anderen, prinzipiell sichtbaren, der ›Physikalischen‹ zeigt. In einem Konzept, in dem ›Verkörperung‹ thematisch wird, handelt es sich immer wieder allein um eine ›Verkörperung‹ dieser und nur dieser, anfang vermeintlich ›abstrahierten‹ Logik der ›anderen Seite‹ – u.a. in neuronale(r) Materie. Ein Typ von ›Logik‹ wird thematisch, der als auch, aber nicht notwendig allein in dieser Materie verkörperter gelten soll, »embodied in the activity of nervous nets« (ebd.: 315). Ihre Insistenz auf dieser und nur dieser Logik der ›Verkörperung‹ gibt einen ersten Hinweis darauf, daß sich McCulloch/Pitts Ansatz von zeitgenössischer, rein spekulativer Mathematik unterscheidet, weniger ›spielerisch‹ vorgeht. Ein neuer ›idealer‹ Ansatz einer neuen ›mathematischen Biologie‹ tritt auf, erste Grundformen einer neuen, ›mathematischen Biologie‹. Konzeptuelle Elemente eines weiteren Vorausläufers des kybernetischen Diskurses deuten sich an.

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Dieses Konzept logischer Formen läßt zwar das spezifische Abstraktionsniveau seines neu formulierten Gegenstandes, des Neurons, keineswegs unter den Tisch fallen, benennt es eigens. Es erklärt diese Abstraktion aber mit einem Grund in der Sache selbst. McCulloch weist später, beim ersten Aufkommen von AI, 1964, noch eigens darauf hin: »The postulated neurons, for all their oversimplifications are still physical neurons as truly as the chemist’s atoms are physical atoms« (McCulloch 1964: 393). Die neue, reduzierte Neuronen-Form soll also schlicht aus dem Grund abstraktiv ›simplifiziert‹ vorstellig werden, weil durch diese Abstraktion ihr eigentliches Wesen zum Vorschein kommt. Faktisch mögen Formen von Neuronen zwar weniger reduziert auftreten, diese Spezifik und Komplexität scheint aber als vernachlässigenswert aufgefaßt werden zu können, als ›akzidentiell‹. Was sich in jeweiligen Neuronen ›verkörpert‹ hat, ist letztlich ein logischer Idealfall. Er läßt sich in spezifischer Form schlicht auf konkrete Neuronen übertragen. Aber nicht nur auf sie. Zwar werden im Text von 1943 Abstraktion, Modell und Verkörperung noch nicht weitgehend separat voneinander thematisch, denkbar aber wird bereits, was im Raum stehen könnte. Bis zu den Macy-Konferenzen wird sich unter dem Stichwort ›Verkörperung‹ eine bestimmte, als fundamental erachtete Betonung ideeller Abstrakta diskursiv konkretisieren. Eine jeweilige konkrete ›Verkörperung‹ beginnt dann wahrgenommen werden zu können als jeweils spezifisches Medium allgemeinen Informationstransports unter weiteren möglichen.240 Diese Betonung bestimmter abstrakter ›Ideen‹ reift insb. im neurophysiologischen Feld, tritt immer ausdrücklicher mit allgemeinem Anspruch auf. Eine Theorie ›generellster‹ Begriffe ensteht. Sie konstatiert 1947, über bisherige Felder ›göttlicher und menschlicher Urheberschaft‹ hinauszuweisen. Durch ihre Begriffe soll sie dann Prozesse vorstellen und erklären, die sämtliche ›Kreationen von Mensch und Gott‹ umfassen können. Die neuen, ›generellen‹ Ausdrücke der Theorie finden dann nur noch in menschlichen und göttlichen Kreationen ihre Beispiele. Es entsteht eine »theory in terms so general

240 Das zeigt sich später bei den auf das Modell zurückgehenden Theorien des ›Artificial Life‹ (Hayles 1999: 231ff) und beim Konzept von ›Information‹: Ob ideales Neuron oder ›zellulärer Automat‹, eine »›logical form‹ [...] can be separated from its material basis of construction« (Hayles 1999: 231): »›aliveness‹ will be found to be a property of the former, not of the latter« (ebd.; ebd.: 233). ›Lebendigkeit‹ kommt dann grundsätzlicher der logischen Form zu, einer »essence [...] as logical form [...] independent of the media« (ebd.: 235). Auf sie hin werden Atomisierungen auf materieller Basis kalkulatorisch modellierbar. Ansatzpunkte entstehen, manipulativ einzugreifen, um von einem »life-as-weknow-it‹« zu einem »life-as-it-could-be« zu gelangen (ebd.: 232). Für Hayles ist in beiden Fällen gegenüber analytischen Zügen ein neuer synthetischer relevant in Nähe zum Vitalismus des 19. Jahrhundert: ebd.: 234.

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that the creations of God and man must exemplify the processes prescribed by that theory« (McCulloch 1947).241 Bereits 1943 beginnt sich ein neues, abstraktes Bild herauszubilden, das mittels Überkreuzung neurophysiologischer und zeitgenössisch avancierter logischer Diskurse, in Übertragung binär fundierter, propositionaler Logik auf das biologische Feld der Neurophysiologie gewonnen wurde. In seinen ›begrifflichen‹ Grundlagen vereigentlicht es sich zugleich. Das noch auf neurophysiologische Kontexte eingeschränkte, übertragbare ›Körper‹-Bild instrumentaler ›Verkörperung‹ kann neue Grundlagen fundieren. Seine neue, immer ausdrücklicher binär resp. quasi-digital fundierte ›Hinterwelts‹-Logik eröffnet in ihrem Anspruch der Forschung universelle Felder und fundamentale Elemente. Neue Blickbildungsprozesse reifen heran. Die im selben Zug teilweise bereits mit diesem Rationalitätstyp arbeitende Forschung eröffnet andererseits jener neuen ›Logik‹ eine immer weiterreichendere Übertragbarkeit auf physiologische Felder, auf denen die neuen universellen Ansprüche ›untermauert‹ und weiterentwickelt werden können. Unter dem Namen McCullochs entsteht die erste kybernetische, ausdrücklich als solche benannte ›experimentelle Epistemologie‹. Ihr Titel prangt nicht nur auf dem Schild seiner ab 1951 eingerichteten, neurophysiologischen Denkzelle am MIT (Conway/Siegelmann 2005: 216), durchzog zuvor schon seine Texte. Sie findet in vielerlei Hinsicht Nachfolger. Was 1943 als gewichtiges Element, als sprechender Vorbote neuer kybernetischer Technologien – ab 1948 auch ihrer ›Ontologien‹ – unter ›embodiment‹ gefasst wird, unter Verkörperung, trägt keineswegs Züge einer schlichten, spezifisch situierten und kontexualisierten ›Logik‹ (Hayles 1995: 60/61). In mehrfacher Hinsicht drückt es vielmehr mittels einer jeweils strikt einseitig verlaufenden ›Verkörperung‹ die Logik aus. ›Verkörperung‹ gleicht dann praktisch einer ›beseelenden Einkörperung‹ von ganz außen, aus einer ›höheren‹, logischen Sphäre – aus den Gefilden der Logik, einer nun u.a. binär fundierten, propositionalen Logik.242 Die programmatische Einseitigkeit einer solchen Form von ›Verkörperung‹ wurde kritisch kommentiert als »Logic embodied in a machine, like God incarnate in Jesus Christ, thus takes on the identity of an artificial, or physical, machine« (Dupuy 1994: 53), fast theologisch begriffen als ein »universal command that embodied flesh must obey« (Hayles 1999: 61). McCulloch macht bereits 1947 ausdrücklich darauf aufmerksam, welcher ›Generalität‹ er denkt Sprache verliehen zu haben, wenn er nun sogar von einem quasi-ubiquitär sich exemplifizierenden Gesetz spricht, daß jenseits der ›Schaltungen‹ Gottes und des Menschen zu verorten sei, von einem »law so general every circuit

241 Zit. nach Hayles 1999: 60. 242 Vgl. zum strikter kontextalisierten Axiom der differenten ›embodiments of mind‹ den für die KI-Entwicklung zentralen: McCulloch 1965.

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built by God or man must exemplify it in some form« (McCulloch 1947).243 Das neue, ›essentielle‹ Über-›Gesetz‹ sieht 1943 zehn – und nur zehn – logische Verknüpfungsformen vor als Formen der Verkopplung, als Verkettungstypen der ›logischerweise‹ allein so relationalierten Elementar-KörperEreignisse der ›anderen Seite‹ (›Präzisierung‹, ›Disjunktion‹, ›Konjunktion‹ etc., s.o.; Kay 2001: 176; McCulloch/Pitts 1943: 317, ›Theorem III‹). Es ist nicht notwendig, den in seiner Unfaßbarkeit selbstverständlich werdenden Aufwand an Kontext-Kontrolle zu betonen, der nun ausgehend von jeweiligen ›Instantiationen‹ notwendig wird, um jeweiligen ›Durchblick‹ auf die neue, universal-komputistische ›Über‹-Dimension zu gewährenleisten, schließlich beide Ebenen überblendbar gestaltet (Hayles 1995: 61). In späteren Arbeiten zur Mustererkennung von ›Universalien‹244 McCullochs wird begonnen, einen ›neukantianischen‹, u.a. auf Dusser de Barennes zurückgehenden Versuch umzusetzen. Gesucht wird eine »neuroanatomical and neurophysiological basis for synthetic a priori judgements« (Dupuy 1994: 49, Kay 2001: 172).245 Ist hier, quasi-theologisch, eine Suche nach dem »transzendentalen Logos« (ebd.: 169) eines »Logos als Immanenz Gottes« (ebd.: 172) am Werk, die durch das Schaffen eines neuen »logischen Kalkül der Immanenz« (ebd.: 175) hindurch vollzogen werden soll? Findet eine »Kybernetisierung der Transzendentalphilosophie« (Hörl 2008: 175) statt, wird eine neue »Urschrift«, eine »Urlogik« (Hörl 2008: 173/174) im neuronalen Zusammenhang gesucht/geschaffen? Führen konstruktive Aspekte dessen zu »Naturalization«-Strategien (Dupuy 1994: 99)?246

243 Zit. nach Hayles 1999: 60; vgl. zur »Säkularisierung der rudimentärsten Gottesvorstellungen«: Merleau-Ponty 1969: 103. 244 Vgl. McCulloch 1947, die Grafik in McCulloch 1950: 313. Vgl. zu anschließenden Forschungsarbeiten der US Navy unter Rosenblatt: Dupuy 1994: 62; zu ähnlichen Strategien im Behaviorismus/bei black boxes: Hayles 1999: 61f. 245 Vgl. zum Auftauchen des terms »synthetic a priori«: McCulloch 1948: 74. 246 Vgl. den Hinweis Neumanns von 1958, Sprache und Logik sei »im wesentlichen ein historischer Zufall [...] Ebenso wie Sprachen, wie das Griechische oder Sanskrit, historische Tatsachen und keine absolut logischen Notwendigkeiten sind, kann man vernünftigerweise annehmen, daß Logik und Mathematik in ähnlicher Weise historische, zufällige Ausdrucksformen sind. [...] sie können in andern als den uns bekannten Varianten existieren. [...] die Beschaffenheit des Nervensystems und des von ihm übertragenen Nachrichtensystems weist positiv darauf hin, daß es sich so verhält.« (von Neumann 1958: 76). Auch hier artikuliert sich die Suche nach einer universellen Gehirn-»Logik oder Arithmetik« (ebd.): Eine im ZNS vermutete, dort »verwendete Primärsprache« (ebd.: 77), die vielfältige Variationen als sekundäres Merkmal kennt. Bei von Neumann erreicht die durch den kybernetischen Diskurs artikulierte gegenseitige Metaphorisierung von Gehirn und universeller Rechenmaschine einen Klimax: Dupuy 1994, passim. Wo die im »Nervensystem verwendete Darstellungsart notwendigerweise statistischer Natur« (ebd.: 74) zu sein scheint, wird

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Der diskursive Effekt des Texts McCullochs/Pitts von 1943 zumindest ist schlagend. Er weist über die Disziplin der Neurophysiologie hinaus, bereitet spezifische Elemente des kybernetischen Diskurses von 1948 vor. Fast parallel zum vergleichbaren Geschehen in der entstehenden Molekularbiologie ist es kein verkörperter ›Code‹ im ›Fleisch‹, sondern spezifische, ›binär‹ und ›propositional‹ gewendete, ›universelle‹ abendländische, ›logische‹ Formen, die in Typen von ›Schaltern‹ neurophysiologischer Kontexte ›verkörpert‹ zu sein beginnen – aber nicht notwendig allein dort. Im feuchten Grau der Schädel werden ›Schalter‹ sichtbar, die ›logisch formulierbar‹ und buchstäblich propositional berechenbar sein sollen. Artikulieren sich hier, im Verbund mit Ansprüchen proto-kybernetischer Diskurse auf ›transzendentale‹ Wirksamkeit, erstmals Zusammenhänge immanenter Transzendentalisierung proto-kybernetischer Axiome? ›Mensch und ›Gott‹ können der neuen Narration zufolge abtreten zugunsten neuer ›Gesetze‹ einer neuen, binär-kalkulativen ›Über‹-Logik. Zwischen 1943 und 48 beginnen neue Gründe neuer Gesichtsformen Kontur zu gewinnen. Die Vielfalt ihres Formenrepertoires scheint durch fast pointilistische Artefakte hindurch gezeichnet.

5.5 Cyborg-Metasprachen: Materielle Formen, Normen, Ausschlüsse »These machines, whose evolution competiton will compel us to foster, raise the appropriate practical question: ›why is the mind in the head?‹ [...] Because there and only there, are hosts of possible connections to be formed as time and circumstances demand. Each new connection serves to set the stage for others yet to come and better fittet to adapt us to the world, for through the cortex pass the greatest inverse feedbacks whose function is the purposive life of the human intellect. The joy of creating ideals, new and eternal [...] robots have it not. For this my Mother bore me« W. MCCULLOCH, 1948.

›Verkörperung‹ einerseits, Sprache andererseits: Die neu eröffneten, abstrakten Ebenen des Konzepts McCulloch/Pitts von 1943 lassen nur bedingt ein weiterer Versuch der Universalisierung ausgestellt eines spezifischen, neuen, digitalen Logik-Typs. Er entsteht in Form und Anspruch bei »komplizierten Automaten im allgemeinen und des Nervensystems im besonderen« (ebd.: 73). Vgl. zur »Dissemination des Logischen«: Hörl 2008: 178ff.

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Reversibilität zu. Eine hoch formalisierte Meta-Sprache entsteht. Deren Auftreten im Text fügt sich nur schwer dem gewünschten Eindruck, daß sie bereits zur beschriebenen Ebene gehört, daß hier rein eine Objekt-Sprache spräche, »as if it belongend to the object-language« (McCulloch/Pitts 1943: 315). Obwohl doch offenbar aus Immanenz abstrahiert, scheint diese Sprache gegenüber ihrer jeweiligen spezifischen Verkörperung immer wieder als transzendent zu gelten. Wo eine einfache Beschreibung von Phänomenen mittels Analogiebildung, eine Rekonstruktion ›idealer Charakteristika‹ durch den Einsatz schlicht abstrahierter, vermeintlich generellster Kategorien auftritt, erscheinen immer auch diskursive Konstruktionen. Sie werden in einer neuen ›Über‹-Ebene verortet, rückwirkend naturalisiert und sollen sich dann wieder, als jeweils verkörperte, im empirischen Material auffinden lassen. Blickbildungsstrategie einer neuen Metasprache: »the disembodied logical form of the circuit was rhetorically transformed from being an effect of the model to a cause of the model’s efficacy. [...] the platonic backhand« (Hayles 1999: 57). Diese neue Sprache ist nicht allein hinsichtlich ihrer Grundkoordinaten Digitalität und arithmetisierbarer Propositionalität in ihren Elementen und in ihrer diskursiven Dynamik über das neurophysiologische Feld hinaus anschlußfähig. Im Hintergrund der beschriebenen, neurophysiologischen Dynamik von 1943 steht ausdrücklich das Anliegen, die neuen Abstrakta auch in einer jeweiligen ›Immanenz‹ anderer ›Verkörperungsmaterialien‹ als dem Gehirn implementierbar werden zu lassen. Ihre ideale Form ist dabei in jedem Fall identisch aufrechtzuerhalten. Die ›Ideen‹, die der Text prominent im Titel trägt, sollen weitgehend unbeeindruckt von jeweiligen materiellen Eigencharakteristika auch anderswo ›verkörpert‹ werden können. Wo an einem bestimmten, historischen gewordenen, psychischen Apparat diskursive Akte zu greifen beginnen einer vermeintlich formalen Rekonstruktion seiner elementaren Elemente – nun binärlogisch formalisierbare, neuronale Schalter und ihre quasi-schaltalgebraische Verkettung – wird im Ergebnis die Form einer neuen Methode formaler Konstruktion sichtbar, die sich in der folgenden Zeit ausweiten und ausfalten wird. Konkret versucht die neue Konstruktionsform erstmals ausdrücklich, die am zeitgenössischen psychischen Apparat herauspräparierten, als solche ›natürlich‹ nicht auf ihn beschränkten Ideen auch in anderen Apparaten umsetzbar werden zu lassen. Eine einfache ›Methode der Konstruktion nach benötigten Eigenschaften‹ wird thematisch, eine »easy method of constructing hypothetical nets of required properties« (ebd.: 324). Wo sich der Beginn konkreter ›künstlicher Intelligenz‹ ereignet, eröffnen neue fundamentale Elemente einer neuen Rationalitätsorm, die eine Artifizialisierung von Intelligibilität verspricht, auch neue materielle Verwertungsstrategien. Die neue (Re-)Konstruktionsmethode bezieht ihren Wert aus einem Bereich, aus dem sie ihren Ausgang nimmt – dem Menschen. Sie demonstriert Möglichkeiten konzeptueller Übertragbarkeit auf andere Bereiche, Maschinen. Sie destabilisiert und verschiebt zugleich zuvor geltende Grenzen, u.a.

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zwischen Lebewesen und Maschine. Wo die zeitgenössische Menschenform sich mittels neuer diskursiver Konzepte zu reartikulieren beginnt, können diese Konzepte an Wert gewinnen. Eine neue, rationale ›Über‹-Form und ihr ›Hof‹ läßt durch neue Formate und Modalmatrizes hindurch Grenzübertritte, die Verwischung von Grenzziehungen denkbar und greifbar werden. Die u.a. durch den militärisch-medizinisch-industriellen Komplex der USA geprägte, neu entstehende ›kybernetische Ontologie‹ zieht immer stärker kulturellen Wert an sich. In der Zeit des kalten Kriegs steigt sie weiter an Wert. Ist diese Wertsteigerung umgekehrt proportional zu demjenigen Verlust, der sich im selben Zeitraum um Konzepte einer bestimmten, traditionellen Menschenform des Menschen herum zu ereignen beginnt? Im Bereich ethischer Fragen sind selbst im kybernetischen Gebiet gespannte Koexistenzen noch nicht durch post- oder transhumane Visionen geprägt. Oft dominieren noch Reminiszenzen. 1943 beginnen sich diskursive Dynamiken zu verdichten, die ab 1948 zu ersten neuen Formaten neuer, kybernetischer Matrizen und Ontologien führen. In der Popularisierungsphase, bis 1952, beginnen neue Formen neuer Differenzen, neue Begrenztheiten und Endlichkeiten, neue Möglichkeitsfelder in neue Gebiete ›auszuwandern‹. Sie umfassen dann u.a. auch humane Appelle, sich absehbaren Effekten dieser Dynamiken gegenüber ›verantwortlich‹ zu zeigen.247 Neue Möglichkeitsfelder einer neuen, paleokybernetisch geprägten Menschenform kündigen sich an. Deren Grundelemente und -konzepte liegen gleichauf mit neuen Werten. Bestimmte Materialitätsformen können nun z.B. in ihrer Bestimmheit immer »wieder gleichauf mit der aktuellen Hardware-Generation« (Pias 2004a : 25) gelangen. Von der jeweils aktuellsten Generationsfolge universeller Maschinen aus können immer genauere Details wissenschaftlicher Gegenstände hervortreten und bestimmt werden, z.B. in neurophysiologischen und molekularbiologischen Wissenschaften, die, kybernetisch gewendet, u.a. informationstheoretisch anschlußfähig werden. Nicht erst durch ›eigentliche‹, materiell anschlußfähige Apparaturen hindurch beginnt der Siegeszug einer Rationalitätsform des ›Cyborg‹. In protokybernetischen Diskurssträngen – z.B. neurophysiologischen Diskursformen einer ab 1943 immer konkreteren ›mathematischen Biophysik‹ – beginnen sich hierzu vorbereitend diskursive Möglichkeiten zu eröffnen. Durch Arbeiten im Umfeld McCullochs (Kay 2001: 169f) entstehen Elemente eines Diskursstrangs, der genealogisch bedeutsam ist nicht nur für spätere, ›kognitive‹ Humanwissenschaften. Konkretere Aktualisierungen später popularisierter Konzepte und ihrer Verkörperungslogik sind eher

247 Das menschliche, rechnende Gehirn und sein Gedächtnis gilt nun als endlich im Verhältnis zu den unendlichen Bändern von Turing-Maschinen. Da nun allerdings die Maschine als Idealfall des Gehirns gilt, ergeben sich Überlegungen, diesem Ideal human zumindest zeitlich nahezukommen, indem man Gedächtnis post mortem auf ›reale‹ Turing-Maschinen ›auslagert‹. Oder eben ›moralisch‹ auf der neuen ›Endlichkeit‹ beharrt, um das kategorisch auszuschließen.

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Oberflächenphänomene einer Dynamik,248 die letztlich auch Optimierungs-, Enhancement-Diskurse umfassen wird. McCulloch/Pitts Text von 1943 läßt einen Prozesses kulminieren, dessen zentrale Elemente erstmals fünf Jahre später im kybernetischen Diskurs und dessen Ausläufern transformativ integriert sind, während der Diskurs bereits populär auszufern beginnt. 1943 soll eine bestimmte Form verkörperter Logik, eine Form von ›Geist‹ und ›Intelligence‹, eine ›ideele‹ Form binärer Schaltalgebra sich nicht nur beim Lebewesen Mensch vorfinden lassen, ›verkörpert‹ im Kopf einzelner Exemplare. Zwar ist genaugenommen unklar, ob sie sich in dieser Form überhaupt jemals zuvor beim Menschen fand, derart hätte zuvor sichtbar gemacht werden können. Wo die, neue, generelle Logik sich ab 1943 allerdings vorfinden läßt, betrachten und dann möglichst auch implementieren lassen soll, beginnt ihre jeweilige spezifische materielle Instantiationsform dann auch konkreter – und nicht nur rekonstruktiv – hervorhebbar zu werden. Die neuen diskursiven Konzepte von 1943 zum jeweiligen Daß und Wie jeweiliger Instanzen eines neuen Sitzes der Ideen begleiten gewendete Klassifikationsformen. Bevor sie sich in der Folgezeit stärker ausfalten, können noch immer schlichtere, traditionellere Kontinuitäten im Kontext erscheinen, z.B. in eher quantitativer Hinsicht. Trotz sich ankündigender perspektivischer Verschiebungen kann z.B. noch immer gesprochen werden von einer schieren, jeweils gegebenen ›materiellen Menge‹ von Geist und Denken. Wo sich ausdrücklich die Form zu verändern beginnt, in der Geist und Denken als materiell lokalisierbar vorgestellt wird und spezifisch neu sichtbar wird, wo neue Annahmen zur Instatiierung und idealen Form entstehen, existieren noch immer rein quantitative Abstufungstypen, z.B. von ›Intelligenz‹. Stärker als daß sie innerhalb biologischer Arten und/oder über deren Grenzen hinaus wirksam werden, beginnen sie sich jetzt auch gegenüber Maschinen zu verorten, insb. den neuen ›Elektronengehirnen‹. Umringt von vielfältigen Kriterien und Relationierungen werden quantitative Argumente zur schieren Masse artikuliert.249 Neben Fragen nach potentieller ›Intelli-

248 Vgl., umgewichtet, 1. Ausläufer des ›cyborg discourse‹: Edwards 1996: 178ff. 249 Die bis heute wirksamen, quantitativen Vergleiche der Kapazität des Gehirns und von Computern, mit denen in regelmäßigen Abständen immer wieder neue Prognosen eröffnet werden, wann ›der Computer‹ ›den Menschen‹ hinsichtlich Intelligenz überholt haben wird, haben ebenfalls ihre Wurzeln im kybernetischen gebiet, z.B. in Kontexten der durch von Neumann normierten Rechenmaschinen. Neumann schreibt 1956 in einer wegweisenden Gegenüberstellung von Neuronen und Transistoren zu Reaktionszeit, Genauigkeit, Energieverbrauch, »Größe der Bauelemente« (Neumann 1956: 50), u.a. zum neuronalen Raumbedarf: »Man schätzt die Anzahl der in diesem System enthaltenen Neuronen gewöhnlich auf etwa 1010 oder mehr, was ungefähr 10-7ccm je Neuron ergibt.« (ebd.: 51). Verglichen mit zeitgenössischen Röhren und Transistoren

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genz des Gewebes‹ ist dessen ordnungsgemäße Form und Funktion von Gewicht in Relation zu den neuen Rechenapparaten. Trotz partieller Rekonzeptualisierung werden im neurophysiologischen Kontext auch schlicht ›gestörte Strukturen‹ thematisch, die mit ›gestörten Funktionen‹ in Verbindung stehen und umgekehrt.250 Zur Frage, ob und wie die neuen Elementarkonzepte und Blickbildungsmöglichkeiten später konkrete ärztliche Interventionen eröffnen könnten, treffen die protokybernetischen Neurophysiologen, Mitglieder der American Psychiatric Association, noch keine Aussage. Noch 1943 werden punktuelle Kontinuitäten sichtbar:251

war der Raumbedarf ›natürlicher Bausteine‹ noch »um Faktoren 108 bis 109 geringer.« (ebd.: 51). 250 Bei Hagner zu McCulloch/Pitts eher ausgeblendet: Hagner 2006: 209, dagegen ebd. 2005. 251 Vgl. die späteren Aussagen Wieners von 1948 zum »Dienst«, den »wir der Neuropathologie [...] erweisen können« (Wiener 1968: 26), zur Anwendung von Lobotomie und Elektroshock zur Unterbrechung von »geistigen Zirkelschlüssen«: Wiener 1968: 182f, 184. Vgl. das Krankheitskonzept Wieners, 1953 bereits »commonplace«, und seinen Rückgriff auf das HomeostaseKonzept Bernards: »mental disease is often manifested as disorganization« (WCW IV 391). Vgl. neurologisch, parallel und unabhängig vom Neurophysiologen Lorente de No, das Konzept des später zum Psychoanalytiker konvertierten Neurophysiologen Lawrence Kubie (Heims 1991: 120f), das er 1930 zur Erklärung von Epilepsie und Migräne einführte: ›circular waves‹, ›reverbating circuits‹: McCulloch 1964: 393; Dupuy 1994: 55; Heims 1991: 122. Das Konzept wurde nach einer Frühform (1941) erstmals durch Kubie psychoanalytisch im frühen kybernetischen Kontext übertragen zu einem Konzept neurophysiologischer Grundlagen von Neurosen. 1949 wird es explizit von McCulloch, Kubies theoretischem Gegner und Freund auf den Macy-Konferenzen, zu einer biologisch-neurologischen Fundierung von Krankheit aufgenommen (vgl. zur Psychoanalysekritik McCullochs: McCulloch 1953b, einführend Hayles 1999: 70ff sowie McCulloch 1949; zu McCullochs therapeutischen Experimenten mit Medikamenten, Elektroshock und Neurochirurgie: Heims 1991: 134). Mit dieser Vorgeschichte wird das ›reverbating circuits‹-Konzept in den 1950’ern durch Lacan aufgenommen zu einem reformulierten Verständnis neurotischen Wiederholungszwangs. Diese Linien scheint Hagner in der eher selektiv auf Wiener bezogenen Thematisierung des Kontexts zu übersehen (Hagner 2006: 205). Vgl. zum Vorschlag einer Reformulierung von Freuds Triebtheorie unter Informations-Vorzeichen: Wiener auf der ersten Macy-Konferenz. Kubie ist wie McCulloch einer der zentralen Figuren der Macy-Konferenzen, verteidigt dort seinen eigenen psychoanalytischen Ansatz gegen McCullochs neurophysiologischen und Batesons kommunikationstheoretischen. Alle Ansätze gehen aus den Diskussionen verändert hervor. Der Ansatz McCullochs ist manichäisch, untersucht ›psychische‹ Krankheiten, depotenziert bisexuelle und künstlerische Elemente: Heims 1991: 141ff. Vgl. zum auf den Macy-Konferenzen

352 | B LACK B OX C OMPUTER »diseased mentality can be understood without loss or scope or rigor in the scientific terms of neurophysiology. For neurology, the theory sharpens the distinction between nets necessary or merely sufficient for given activities, and so clarifies the relations of disturbed structure to disturbed function« (McCulloch/Pitts 1943: 324).

Wie Effekte bestimmter diskursiver Bereiche auf den späteren kybernetischen Diskurs252 nicht nur auf das Gebiet Neurophysiologie beschränkt sind, zeigen z.B. populärere Aussagen des britischen Kybernetikers der 2. Generation, Ross-Ashby, bereits knapp 10 Jahre später, 1954. In einer Zeit, in der »unbehandelte Psychosen, zerfallende Gesellschaften und zusammenbrechende Wirtschaftssysteme« (Ashby 1954: 21) offenbar Problemhorizonte bilden, soll die neu institutionalisierte Wissenschaft der Kybernetik dann ausdrücklich »die Hirnrinde des freilebenden Organismus, den Ameisenhafen als funktionstüchtiges Staatswesen und die menschliche Ökonomie« (ebd.) auf einer Analogieebene »zu erfassen und zu bewältigen« (ebd.) versuchen. Sie soll ausdrücklich einen »Kampf« antreten gegen neue »psychische, soziale, ökonomische Krankheiten, denen wir aufgrund der ihnen anhaftenden Komplexität heute noch nicht gewachsen sind« (ders.: 22).

vorgestellten Schizophreniekonzept des Northrop-Schülers Eilhard von Domarus, Freund McCullochs, das die Bildung von Batesons double-bind-Theorie mit geprägt hat, die wiederum auf R.D. Laing wirkte: Heims 1991: 33, FN 7, 157. Bateson ist als psychoanalysierter Anthropologe Gegenspieler Kubies auf den Macy-Konferenzen: ebd.: 146ff, 156/157. Vgl. zur weiteren Arbeit Batesons, u.a. der Untersuchung psychiatrischer Gesprächssituationen, einer ersten Form von Supervision: ebd.: 148f. Vgl. zum kybernetischen Psychiatriehintergrund mit ausdrücklichem Rekurs auf Foucault: ebd.: 116f, zur These der Reformulierung zentraler psychoanalytischer und neurophysiologischer Axiome im kybernetischen Feld ebd.: 146. Beim kybernetischen Konzept ›reverberierender closed circuits‹ als Prototyp ›positiven Feedbacks‹ geht es um eine Theorie des Gedächtnisses, die heute beim ›refresh‹ von Speicherbausteinen bekannt ist: Jean Mosconi beschreibt sie in ihrem eigentümlichen, immer wieder eine identische Form bewahrenden, reproduktiv Zug in den 1940er Jahren als »perserving a trace of the past by reverberation in cycles of neurons«, durch »snatching the event away from its precise temporal localisation in order to place it in an indefinitely renewed present« (ebd.: 56). Vgl. die Definition McCullochs einer »idea wrenched out of time«, in ihrer ›poetischen‹ Form: »It is an eternal idea in a transitory memory wherin the form exists only so long as the reverberation endures. When that ceases, the form is no longer anywhere. [...] While we are young, use leaves some sort of change, as freshets cut their channels in the hills so that aftercoming waters follow and enlarge their beds.« (McCulloch 1948: 77) 252 1949 spricht McCulloch von ›fehlgeleiteten Servomechanismen‹, entsprechend einer Umkehrung reflexiver Schaltkreise (›Gremlins‹): Kay 2001: 184.

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Neben die Differenz ›gestörter‹ und ›ungestörter‹ Struktur und/oder Funktion tritt früh bereits eine weitere. Im neu beschreib- und beobachtbaren neurophysiologischen Gebieten lassen sich mittels der neuer Klassifikationen Formen von Materialität abgrenzen, die der neuen Funktions/ Strukturlogik folgen gegenüber Materialitätsformen, bei der die neue Funktions/Strukturlogik sich nicht konstatieren läßt, wo eine solche ›Beseelung‹ fehlt, die insofern ›geistlos‹ sind – mit allen Wert-Implikationen und praktischen Konsequenzen, die hierbei denkbar sind. Mittels neuer Typologien, neuer quantifizierbarer Abstufungen, neuer normativer Kriterialraster beginnen der Möglichkeit nach Geist und Denken sich in einem speziellen Typ universeller Maschinen vorfinden zu lassen ähnlich wie sie nun in neuer Form im (menschlichen) Kopf vorfindlich sind. In einer den neuen Normen entsprechenden Form finden sie sich dann aber zugleich nicht mehr in anderen (Zweck-)Maschinen und vielen weiteren sonstigen Materialitätsformen, im übrigen Fleisch der Welt. Von MerleauPonty aus betrachtet beschreibt Dupuy diese Bewegung treffend: »The attempt to restore mind to the natural world that gave birth to it ends up exiling the mind from the world and from nature« (Dupuy 1994: 21/22).253 Im sich aufblendenden Licht einer binär- und propositionslogisch gewendeten ›mathematical biophysic‹ entsteht die Möglichkeit, daß Materialität, die als nicht mehr den neuen binären Normen gemäß ›beseelt‹ aufgefaßt werden kann, als neuartig unverwertbar gilt, daß sie Wertverlust erleidet, defizitär zu erscheinen beginnt. Naheliegend wird dann zugleich, nachträglich zur Entwicklung solcher ›Materialtypen‹ beitragen zu können. In den folgenden Jahren werden immer ausdrücklicher Überlegungen einer ›Verbesserung‹ materieller Formen Bestandteil eines kybernetischen Diskurses, durch dessen neue Kategorialraster vermeintliche Defizite sichtbar werden und sich als ›behandelbar‹ empfehlen. Viele der späteren kybernetischen Überlegungen zur Überkreuzung von Lebendigem und Technischem liegen teilweise auf der Linie auch einer solchen produktivierenden Wertsteigerungslogik. Was in der Perspektive der neu entstehenden, kybernetischen Technologien als defizitär erscheinen kann, ›Natur‹, soll dann nachträglich ebenfalls nachgerüstet, ›verbessert‹, optimiert werden können. Mittels der neuen, kompatibilisierenden Überkreuzung von ›Natur‹ und ›Technik‹ ›in animal and machine‹, dank neuen Technologien, ihren als vermeintlich ›natürlich‹ abstrahierten Mechanismen werden dann z.B. in Kraft und/oder Sinneswahrnehmung ›verbesserbare‹ Körper auf neue Weise denkbar. Sekundär ist, ob dies wie bisher im Medium ›Fleisch‹ verlaufen muß. Hierzu werden nicht eigens Diskursstellen benötigt, die ›den Cyborg‹ o.ä. bereits ausdrücklich anschreiben, Implantate o.ä. vorschlagen, das geschieht aus-

253 Die These läßt sich in Analogie, als erweitere Form dessen lesen, was Günther Anders, leicht ironisch, als eine Physiotechnik beschrieben hat: »Es genügt nicht, den Leib zu interpretieren, man muß ihn auch verändern« (Anders 1980: 38).

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drücklich erst einige Zeit später. Die Möglichkeit des Entstehens solcher Diskursstellen ist noch vor jeder Benennung integraler Bestandteil des kybernetischen Diskurses selbst. Sie folgt einer zu Beginn oft bereits ›deskriptiv‹ implizierten, kategorialen Leistungs-, Verwertungs- und Verbesserungslogik des kybernetischen Diskurses, die sich bereits 1943 in ersten, protokybernetischen Diskurssträngen ausdrücklicher artikuliert. Ist auch das Teil des ›Geists‹ des sich stetig andeutenden Geschehens? Nicht nur in den Beschränkungen ihres neu entstehenden Formenrepertoires jedenfalls ist die 1943 sich erstmals abzeichnende, kybernetische Verkörperungtechnologie idealer Formen spezifisch geprägt. Kurz bevor ein ›Code‹ in Kleinst-Elementen organischer Körper, am Ort ihrer gattungstechnischen Herkunft und Bestimmung sichtbar zu werden beginnt, beginnt der zentrale Körpersitz einer jeweils individuell disponierten ›Seele‹ formal bereits hierzu kompatibel gezeichnet zu sein. Quasi-Digitale Binarismen und ›berechenbare‹ logische Propositionen beginnen eine neue, anschlußfähige Sichtbarkeit und Klarheit auszuprägen: neue Formen von Körpergrenzen, ›Gefängnis des Körpers‹? Was in Myriaden kleinster atomarer Partikel individuell nicht erkennbar ist, beginnt von den in immer neuer Generationenfolge entstehenden Apparaten in jeweils spezifischer ›Verkörperung‹ und ihrer jeweiligen Potenz, in ›Defiziten‹ und ›Besserungsmöglichkeiten‹ immer genauer befragbar, sichtbar gemacht zu werden, um dann zugleich abstrakt zu einem ganzen Organismus zusammengesetzt, geschlossen und bezeichnet werden zu können. Über einzelne Körper hinaus verbinden sich dann anschluß- und verkettungsfähige, binär fassbare, formal-propositionale, berechenbare Ideen in einseitiger ›Verkörperung‹. Parallel beginnen neue, ›universelle‹ Maschinen zu entstehen mit immer größerer Berechnungskapazität. In Folge reifen neue Probleme: Wie die möglichst ordnungsgemäßen Formen einer den neuen Geist tragenden Materialität, die neue, fundamental digitale Form der jeweiligen Seele als Ganzes und im Detail sichtbar machen? Wie können Möglichkeiten nicht mehr nur negativ, z.B. durch Lobotomie, thematisch werden – sondern auch positiv, durch nachträgliches Nachrüsten, durch Verbesserung? Kann im neuen Modell nicht auch Vorsorge getroffen werden, jeweiligem individuellen ›Geist‹ einen Wechsel der Verkörperungsform zu gestatten, ihn in ›haltbarere‹ Formen ›übertragbar‹ zu gestalten, ihm damit Chancen auf ewige Lebendigkeit zu eröffnen? Eine andere Frage ist, ob die Logik, die Rationalitätsform dieser protokybernetischen Logik in ihrer proklamierten Neuheit hält, was sie verspricht – und was an ihr neu sein könnte.254 In welchem Rahmen breitet sie sich aus, detailliert sich, wandert aus, wird optimiert, auf welche Matrizen der Perspektivierung wird zurückgegriffen? Einige Ziele von a logical calculus of the ideas immanent in nervous activity lassen sich auch in zukünfti-

254 Vgl., traditionell, zum Einstieg: Heims 1991: 179. Hayles gegen PossesivIndividualismus, im kybernetischen Gefolge überwunden: Hayles 1999: 3, 5.

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gen Linienführungen erkennen, werden in ihrer Extrapolation bereits 1943 klarer erkennbar. Ein Ziel ist die Ermöglichung einer möglichst weitläufigen Implementierbarkeit, Verkörperung der neuen, binär-kalkulativen Logikform in weiteren, dann zusätzlich ›benötigten‹ Verkörperungsformen. Das Verkörperungs-Konzept wird ausgeweitet auf andere ›Körper‹ als denjenigen des Denkens ›im Kopf‹. Diese anderen Körper können beginnen als Bedarfsmaterie, als jeweiliges »raw material« von Verkörperung aufzutreten (Wiener, McCulloch 1948).255 Projektierbar wird eine im Anspruch umfassende, Identität erhaltende Verkörperung ›ewiger Ideen‹ in ›Körpern‹ unabhängig von deren jeweiligen materiellen Eigencharakteristika. Papier, Gehirngewebe, Silizium beginnen insofern eine Serie zu bilden (vgl. zum Differenzverlust: Hayles 1999: 99). Im Ergebnis soll in jedem dieser Körper die ideele Logik ›verlustfrei verkörpert‹ werden können. Den Text von 1943 durchzieht hierbei bereits eine Form wörtlicher Analogiebildung. Sie beginnt die Programmatik auszuprägen eines neuen Binarismus einer algebraisch axiomatisierten und zugleich spezifisch logisch propositionalisierten Relationalität logisch-formalisierter Elemente: ein arithmetisch berechnendes, materiell implementierbares und ›übertragbares‹ Programm. Es eröffnet Kompatibilisierbarkeit, Anschlußfähigkeit protokybernetischer diskursiver Logiken mit dem sich entwickelnden kybernetischen Diskurs. Es weist in seiner Logik buchstäblicher Analogie zuletzt voraus auf ein zentrales, bis heute artikuliertes Axiom des Kognitivismus, z.B. in Vorstellungen zum ›Up-‹ und ›Download‹ von ›Geist‹ (Moravec): »cognitivism asserts that if a mind arises as a result of implementing a certain program in the physical world, then any implementation of the same program in a different hardware, no matter what it may be, would produce a mind endowed with the same properties« (Dupuy 1994: 6).

Die anfangs neurophysiologisch begrenzte Axiomatik wird sich später mit der Informationstheorie Shannon/Weavers kompatibel zeigen, sich kompatibilisieren. Eine möglichst identisch zu haltende logische ›Idee‹ soll auch hier möglichst frei von ›Rauschen‹ bleiben: Im jeweils konkreten Fall unabhängig von ihrer jeweils spezifischen Verkörperung, unabhängig von der jeweiligen konkret genutzten Materialitätsform, z.B. deren jeweiligem ›Energiehaushalt‹. Anschlußfähig wird auch die Bearbeitung eher wahrscheinlichkeitstheoretischer Probleme: Die Strom-›Entscheidungen‹ der verschiedenen, logischen Typen von Neuronen beginnen als formal kalkulierbar, prinzipiell vorhersagbar zu gelten. Das erste informationstheoretische Pendant einer Verkörperungstechnologie kann erstmals als auf der Ebene der Körpers vorfindbar, einsetzbar, anschließbar gedacht werden – ›kompatibilisierendes‹, erstes Experimentalfeld eines neuen Dispositivs? Neuartig verknüpfbar werdende, fungible Elemente deuten sich an, wo später Ele-

255 Zit. nach Hayles 1999: 105.

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mente in ein überkreuztes Set gefügt werden können des kybernetischen Diskurses und seiner Regularien. Dieser Ansatz einer ›mathematical biophysic‹ bleibt auch als medizinischer Stichwortgeber nicht folgenlos.256

6. D IE ›W IENER -M ASCHINE ‹. K YBERNETISIERUNG .  R ATIONALITÄTSTYP : R EGULARIEN , N ORM (1943-52) »Man muß bei der Black-Box beginnen, man muß bei Nacht und Blindheit beginnen. Wenn man Zuchthengste aufzieht, setzt man ihnen Scheuklappen auf, hält sie im Dunkeln, in der Schule, ganz so, als wären sie Menschenkinder.« M. SERRES

Aus den in zentralen historischen Linienführungen vorgestellten kybernetischen Diskurs-Strängen und ihren Elementen verdichtet sich zwischen 1942, der Macy-Konferenz on cerebelar inhibition, und 1948, Wieners Cybernetics, ein Diskurs. Grundspielregeln dieses Diskurses werden auf den Macy-Konferenzen in Weite, Grundelementen und Grundstruktur kaum mehr kritisiert, sie werden jeweils in verschiedene Richtungen und claims fortentwickelt. Es wird begonnen, den Diskurs auf weitere Gegenstandsfelder auszuweiten, zu übertragen, ›Aussaat‹ vorzubereiten.257 1948 hat sich in Annäherung ›vorauslaufender‹ Diskursstränge, mittels vielfältiger diskursiver Überkreuzungen eine erste Matrix zentraler theoretischer Elemente des kybernetischen Diskurses gebildet, seines Aussagengefüge und seiner Technologien.258 Der Diskurs beginnt umfassender auf vielfältige weitere Diskurse ein- und rückzuwirken, teils Axiome, teils Metaphern, teils Aussagenregularien anzupassen, zu übertragen, zu überkreuzen. Sein erstes Set an Elementen prägt u.a. die ›neuen‹ Grundzüge von Wieners Cybernetics und erste sich popularisierende, diskursive ›Ausläufer‹, u.a. human use of human beings – aber vor allem auch die kaum überschaubare

256 Ihre Herkunft bei Rashevsky überwindend, nach der Popularisierung der Konzepte im kybernetischen Diskurs, wird neben neurophysiologischen Entwicklungen u.a. Wiener, wie oben beschrieben, eine neue ›public health‹ empfehlen einer neuen »mathematical-physical medicine« (Wiener 1952: 389). In statu nascendi kann sie spezifische »art« gegenüber reiner »science« (ebd.: 384) kaum ausspielen. Wo entstand eine solche ›Kunst‹ im (paleo-)kybernetischen Kontext? 257 Vgl. Hayles 1999: 9ff, Tiqqun 2001, passim. 258 Vgl. zum hier zentralen Medium Metaphern: Hayles 1999: 59f.

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Breitenwirkung von Texten u.a. der kybernetischen Macy-Partizipanten in verschiedenen, insb. bio- und technikwissenschaftlichen Feldern. Eine erste, die (paleo-)kybernetische Technologie und neue kybernetische Modalmatrizes beginnen damit auch Dispositionen und Grundgerüste eines neuen politischen Dispositivs der Nachkriegszeit zu prägen. Ausgehend von den Macy-Konferenzen, die in mehrfacher Hinsicht auch Popularisierungsveranstaltungen sind, beeinflussen die ersten kybernetischen Diskurse und Technologien zwischen 1948 und 1952 vielfältige Wissenschaften. Neben Transformationen einer dann kybernetisch geprägter Neurophysiologie zeigt sich ein erster gewichtiger Ausläufer des kybernetischen Diskurses zwischen Mitte der 1940er und 1950er Jahren im Entstehen der Molekularbiologie, ein wenig später ein weiterer auf dem Feld der sich kognitiv reformulierender Humanwissenschaften, den ersten neuen Wissenschaften des (paleo-)kybernetisiert verbesserbaren ›Subjekts‹. Der kybernetische Artefakt ›Elektronengehirn‹, der sich stetig verbessernde Computer wird parallel stetig lesbar als spezifisch nutzbares Instrument. Und er wird zugleich sichtbar als ein Apparat, der anscheinend eine vermeintlich generelle Wirksamkeit der neuen kybernetischen Wissenschaft und ihrer Diskurse vor Augen führt. Als deren neues ›Medium‹ trägt er zum Entstehen zentraler, kybernetisch informierter Techikwissenschaften der Nachkriegszeit bei und wird stetig zu deren wichtigstem ›Instrument‹. Wie entstand aus den ersten spezifisch ausgefalteten kybernetischen Diskurssträngen, ihren Elementen und Technologien ein wirkungsmächtiger Diskurs und seine Regularien? Wie sind die Stränge konvergiert? Kurz, teils selektiv, einige Beispiele zum Anschluß, zur Verdichtung, Verkettung und Anordnung der zuvor bereits angenäherten, aber noch nicht weitergehend überkreuzten, erst partiell zusammenlaufenden diskursiver Elemente, Stränge und Technologien bis 1948 – u.a. der Information, Zielführung, von Gleichgewicht, Spiel und Verkörperung. Dort, wo durch das neue kybernetische Teleologie-Konzept von 1942/1943 Zielsuche nicht mehr kausal verstanden wird – sondern mittels einer stetigen Differenzbildung von Aktual- und Sollwert als berechenbarer Posten – kann der neue Rechnungsposten spätestens ab 1948 in wahrscheinlichkeitstheoretischen, binär grundierten Facetten auftreten, als jeweils probabilistisch anschlußfähiger, zähl- und akkumulierbarer Informationsbetrag. Wo zwecks Ausschluß einer Destabilisierung ›selbstregulierter‹ Gesamtmechanismen bei kybernetischen Zielsuchprozessen der aktuelle Differenzbetrag zum vorgegebenen Sollwert spezifisch ›getimed‹ und ›diskret‹ – also binär – gemessen werden muss, kann das ab 1948 geschehen in Form einer neuen Norm abstrakter ›Taktung‹ spezifischer Materialitätsformen.259 Dieser ›Takt‹ ist dann, wie ›Information‹, ›digital‹ gerahmt und wird auch derart generiert. Zugleich finden sich in den neuen Konzepten ›denkender Netze‹ und ›Maschinen‹ verschiedene Zeittakte des Schwellenwerts jeweiliger

259 Cortex als von einem »zentralen ›Uhrwerk‹ angetrieben«: Wiener 1952: 176.

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Schaltermaterialitäten, um optimal ›getaktete‹ Signalweitergabe sicherzustellen. Sie wird nun ›Informationsübertragung‹ genannt. Überall, wo sich ab 1948 in neuen kybernetischen Perspektivierungen Prozesse ›intelligenter‹, selbstregulierter Zielsuche, d.h. ›Teleologien‹ finden lassen – teils bei einigen Lebewesen/Maschinen exklusiv – werden ihre jeweiligen Materialitäten nun als binär fundiert verstanden, die prozessierten Signale als informationstheoretisch konzeptualisierbar, ihre spezifische logische Form als wahrscheinlichkeitstheoretisch prozessierend. Auf vielfältigen, teils prinzipiell in Analogie konzipierbaren Mikro- und Makro-Ebenen können sich (Schalt-)Kreise negativen Informationsflusses schließen. Wenn diese in ihrer Form neuen Normen gehorchen, können kybernetische Einzelelemente in ihrer neu ›regulierten‹ Verschaltung in verschiedenen ›Regelkreisen‹ nun als Bedingung gelten einer neuen Form kybernetischer ›Selbstregulation‹, die, u.a. formallogisch, den Namen ›Regeneration‹ trägt.260 Damit erscheint eine neue, kybernetische Form der ›Produktivität‹,261 die ›digital‹ fundiert zu sein beginnt. In ihren reproduktiven Prozessen betont sie mittels dem Konzept ›Reverberation‹ eine immer wieder aufgefrischte, möglichst unverzerrte Wiederkehr identischer Terme. Ihre neuen atomaren Elemente werden so – möglichst ›unvergesslich‹ – immer wieder in einem ›Nachhall‹ gehalten.262 Wo 1943 McCulloch/Pitts als Grundeinheit ihrer ›abstrakten Neuronen‹ einen ›Alles-Oder-Nichts‹-Charakter vorstellten, bietet die Informationstheorie Shannon/Weavers 1948 eine neue Grundeinheit, die ›binär‹ fundiert ist: ›Information‹. Wo ›abstrakte Neuronen‹ verlustfrei, möglichst unabhängig von der jeweils gewählten Materialität implementierbar, ›verkörpert‹ werden können sollen, tritt Information als drittes Element auf – jenseits von Materie und Energie. Sie kann als »essentieller« (Hayles 1999: 19) als ihre

260 In logisch abstrakter Form stammt das Regenerations-Konzept aus neurophysiologischem Gebiet, vgl. bis zu Blumenbach: HWP 8: 476f. 261 Vgl. Pias 2003, insb. 14f, 16f, 24f. 262 Das Problem Erinnerung kann hier nicht weiter vertieft werden. Wie Hartmut Winkler eindrücklich demonstriert hat (Winkler 1997), ohne auf Implikationen im Bereich Verdichtung und Verschiebung einzugehen: Das skizzierte Dispositiv hat keine ausdrückliche Theorie und Praxis des Vergessens. Man muß nicht, wie z.B. Osten 2004, kulturpessimistisch werden (vgl. dagegen Weirich 1997: 257f), im Kontext Information wird immer wieder identisch gehalten, ›refreshed‹ und gespeichert, akkumuliert und Information fähig zur Erinnerung, zum ›retrieval‹, wenn sie in jeweiligen Speichern auf spezifische Adressen umschichtbar und auf externe Medien auslagerbar wird. Mit einigem Aufwand läßt sich nach kognitivem Modell auch ein Speicherprioritätssystem schaffen. Information wird aber noch immer nicht als vergesslich modelliert, es gibt kein Vergessen. Jüngste Überlegungen von Sicherheitsdiskursen, Speicherbausteine nach Ausbau aus Systemen ohne Stromversorgung noch mehrere Stunden auslesen und rekonstruieren zu können relativieren manche Vorstellung einer ›Immaterialisierung‹.

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materielle Form gelten.263 Und wo Information, u.a. in neuen neuronalen Modellen, als etwas statistisch-probabilistisches thematisch zu werden beginnt, soll die neue, wahrscheinlichkeitstheoretische Perspektivierung von ›Schaltereignissen‹ zugleich einer ›Erkenntnis der Dinge an sich‹ entgegen stehen. Auch so zeichnet sich hier grundsätzlich u.a. eine nicht mehr als kausal, aber als quasi-determinativ, probabilistisch aufgenommene Linie ein in das Ereignisgeschehen von Grundelementen, die auf neue Weise binär konzipierbar gewordenen sind. Diese Linie wird analog zum teleologischen Bereich lesbar. Eine bestimmte ›Universalität‹ beginnt wie selbstverständlich übergreifend zu wirken: u.a. sollen Netze ›idealer‹ Neuronen nun allgemein jede Zahl und Proposition berechnen können, die auch von einer Turing-Maschine berechnet werden kann.264 Aus der Richtung dieser Universalität tönt dann weitgreifender ein bestimmter Takt, ein asketisch reduzierter Algorithmus.265 Wo Wiener und Rosenblueth 1943 auf den Ästen ihres fast botanisch entwickelten Verhaltens-Kategorien-Baums ›konstativ‹ und zugleich indirekt Konzepte jeweils spezifischer Verkörperung eines mechanistischen Idealbildes von ›purposive behavior‹ entwickelten, beginnen ab 1948 konkrete Cyber-Konzepte des ›embodiment‹ umfassender praktisch wirksam zu werden. Sie schließen neue Sichtbarkeitsstrategien ein. Die im kybernetischen Diskurs entstandene, arithmetisch-algorithmische ›Produktivität‹ und ihre nichtkausale ›Selbstregulierung‹ kann dann statistisch, probabilistisch in Erscheinung treten auf sämtlichen neuen Mikro- und Makroebenen. Auf dem Boden der entstandenen kybernetischen Diskursregularien werden sie dann jeweils ›analog‹ konzipierbar. In der Nachkriegszeit beginnen sich in neuen, gesellschaftlich ›automatisierten‹, kybernetischen Rahmen statistische Prozesse und Gestalten auszubilden, deren Pragmatik auf mehreren Ebenen anschlußfähig ist an kybernetische Artefakte, ›Automaten‹. Das wiederum treibt auch produktiv deren Materialisierungen voran. Haben solche Automaten dann statistische Verfahren wie selbstverständlich in ihrem Kernbestand, beginnen zugleich statistische ›Techniken‹ u.a. in biologischen Medien als wirksam zu gelten. Im neu entstehenden Dispositiv wird kaum mehr durch einen singulären, endlichen Menschen im Zentrum hindurch Arbeit verrichtet, Leben vollzogen und Sprache gesprochen.266 In erster Linie beginnt im Medium der Erzählung Information prozessiert zu werden, auf offenbar unendlichen Bändern mit zahllosen Einschnitten, hier teils möglichst noch auf ›humanen‹ Widerruf. Auf faktischen Bändern beginnt zugleich neues schillernd auf

263 Vgl., geschlechtsspezifisch, Hayles 1999: xi, 19f, 50ff, passim. 264 Vgl. zum ›equivalence theorm‹: Dupuy 1994: 103; Hayles 1999: 58; Dupuy 1994: 58. Dupuy weist auf Inkonsistenzen hin, z.B. daß ideale TuringMaschinen unendliches Speicherband haben, neuronale Netze endlich sind. 265 Vgl. zu Turings Definition des Algorithmus: Dupuy 1994: 34. 266 Vgl. Krämer 2005.

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Oberflächen zu erscheinen. Die Materialität der hierbei fundamentalen Prozesse bleibt gewichtiger, als es der Anschein verspricht. Die Taktgeschwindigkeit neuer Akkumulatoren beginnt Ströme der Information und Aufmerksamkeit zu lenken. Eine neue, organisch abstrahierte ›Natur‹ beginnt eingesetzt zu werdenvon permanent sich technologisch verbesserenden, ›technischen‹ Prozessen, die eine jeweilige Naturalisierung ihrer regulierten Artifizialität einschließt. Perfektibilisierende ›Revisionen‹ jagen einander. 1948 bildet die theory of automata John von Neumanns auf der Ebene der neuen Rechen-Automaten eine erste vereinheitlichende Klammer. Die Wirkungsgeschichte seiner theory of games and economic behavior bildet in der Nachkriegszeit auf der Akteursebene der ›Input‹ und ›Output‹ verrechnenden menschlichen ›Rechenautomaten‹ eine logische Klammer. Beides geschieht nach einem bestimmten »rechnerischen Kalkül« (Weber 1920: 61), dessen Rationalität immer differenzierter und diversifizierter auftritt. Inner- und außerhalb entstehen ›kompatible‹, binär interaktionsfähige Klammern: Der neue homo oeconomicus von Neumanns steht in der selben Relation zu faktischen humanen Individuen wie die neuen formalen ›Neuronen‹ zu empirischen, wie zielführende Soll-Informationen zu Istwerten, wie die neue ›universelle‹ Von-Neumann-Maschine zu jeweils konkret entwickelten ›Automaten‹. In Folge des ›Peaks‹ des kybernetischen Diskurses dominieren neue steuernde Ströme gesteuerte Ströme, entstehen neue Ideale, im schillernden Gewand kündigt sich die Analytik und Kombinatorik einer neuen, digital-kalkulativen Asketik an.267

267 An neuen Idealen der Maschine und der immateriellen Logozität ist ein Hauptansatzpunkt des Einflusses der ersten Kybernetik auf die Disziplin der Anthropologie – und den im kybernetischen Gefolge kognitivistisch reformulierten Humanwissenschaften allgemein – zu sehen. Michael Hagners These ist grundsätzlich – in Ambivalenz zur streckenweise zu starken kybernetischen Verortung Levi-Strauss’ (von der Informationstheorie her: Hagner 2006: 216f), auch vor der Kybernetik existierten strukturale Linguistiken – zuzustimmen, mit der Kybernetik entstehe ein »Menschenbild, das Bilder vom Menschen eher einem Computer oder Radio ähnlich sein lässt« (ebd.: 201): »Die Kybernetik weckte die Anthropologie aus einem selbstverschuldeten Alptraum, der von Monstren wie Rassenhygiene, Höherzüchtung, wertes und unwertes Leben oder Ausmerzung bevölkert war. Mit der Schöpfungswissenschaft [...] Kybernetik [...] formierte sich ein Dispositiv, das die Wissenschaften vom Menschen neu formatierte. Dieses Dispositiv läßt sich als Wandel von einer organizistischen zu einer technizistischen Betrachtung des Menschen beschreiben.« (ebd.: 202/203). Diese Problematik ist vielschichtig: Hagner konstatiert z.B. eine neue »Cyberphrenologie« (ebd.) –analog könnte man von einer neuen Cyberanthropologie sprechen – im Gefolge des Entstehens des Computers, folgend auf die Abkehr von physiognomischen Paradigmen im Durchgang durch den kybernetischen Diskurs. Beide Phänomene sind aufeinander bezogen, erste Kybernetik(-

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Wie die neuen Automaten ›Input‹ und ›Output‹ verrechnen, um gesetzte Ziele, ›Soll-Werte‹ zu verfolgen, verfolgt der neue instrumentierte homo oeconomicus mittels Input- und Output-Verrechnung seine Ziele. Die ersten, der Möglichkeit nach entstehenden homo kybernetes sollen ›selbstreguliert‹ Ziele verfolgen, nach ›kognitivem‹ Programm. Was ihren und nicht nur ihren, aus neuen Elementen sich zusammensetzenden, ›biokybernetisch‹ überkreuzten Schemenriß gestaltet, sattelt auf neue, kybernetisch transformierte Formen und Matrizen eines neuen Rationalitätstyps. Eine neue Rationalitätsform beginnt neue Formen neuer Produktivierungsweisen prinzipiell produktiver Prozesse zu umfassen. Voreilend zu ›verfolgen‹ ist hierbei letztlich technischer und lebendiger Mehrwert, nicht zuletzt als Movens neu fundierten ›Gleichgewichts‹. Schillernde Effekte auf neuen ›Oberflächen‹ bereiten sich vor. An einem spezifischen historischen Kreuzungspunkt überfalten sich Linien und Regularien protokybernetischer Diskurse mit neuen Instrumenten neuartig pragmatisch werdender Technik-Wissenschaften. Neue Singularformen entstehen. Zwischen Diskurs und Apparat beginnen in

Diskurs) und Computer(-Dispositiv) sind zwei Seiten einer Medaille, lassen sich im Entstehen, in Rezeption und Nutzung nicht unabhängig voneinander denken (vgl. ebd.: 200). Zwar schüttelt eine neue, in Teilen kybernetische, mathematisierende Reformulierung der Anthropologie vorherige Organizismen ab. In Gefolge aber entsteht, wie Hagner für das Gebiet der Hirnforschung beschreibt, eine Dynamik, in der sich die neuerrungene »technizistische Vorstellung vom Gehirn wieder in eine organizistische verwandelt« – eine »sinnlichüppige Wiederverkörperung« folgt der anfänglich computerifizierten »Purifizierung der Abstraktion« (Ders.: 221). Das geschieht auf breiter Front, u.a. auf Feldern der mittels Computer-›Instrumenten‹ weiterentwickelten Wissenschaften, zugleich in abstrakt durch die erste Kybernetik ›diskursiv‹ geprägte Wissenschaften wie Anthropologie, kognitivistischne Humanwissenschaften. Durch Orientierung an neuen Idealen wie einer anthropologisch-›technizistischen‹, »antiphysiognomisch« (Ders.: 209, vgl. insb. 202) geprägten »Abwendung von der körperlichen Gestalt und der Morphe hin zu einer Fokussierung auf Verhaltensweisen« entsteht etwas, das, wie Hagner offenbar in Rekurs auf den kybernetische Teleologie-Konzepte und ihre kognitivistischen Nachfolger betont, sich in seiner neuen »Abgleichung des Menschen mit der Maschine« noch immer in Analogie verstehen lässt »zur Feststellung des Menschen als Tier [...] das wahlweise gezüchtet oder auch zu Schlachtbank geführt werden kann« (ebd.: 218). Modelle u.a. des »Taylorismus«, zu denen Foucault eine Vorgeschichte geschrieben hatte, entwickeln hier Mechanismen weiter, um »Humane Elemente [...] in Systeme und Maschinen implementieren« zu können. Es bleibt diese Geschichte, die nun auf teilweise neue Weise ermöglicht, daß dann auch »umgekehrt [...] maschinelle Prothesen an den Körper angeschlossen« (ebd.: 203) werden können. Der kybernetische Diskurs ist u.a. als Ort einer Transformation, eines Gestaltwandels von Biomacht (Foucault) konzipierbar.

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Folge neue Felder zu entstehen und sich auszubreiten. Neue soziale Ex- und Interieurs erscheinen gestaltbar. Der Computer hat in der Zeit zwischen 1943 und 1948 noch keine normierte Form gefunden. Erste ›Elektronengehirne‹ entstehen in anschlußfähig reproduzierbaren Hardwaregenerationen erst später. Obwohl oft genealogisch rückgeführt, sind Ähnlichkeiten zu heutigen Modellen eher ideeler Natur. Die Norm der ›Von-Neumann-Maschine‹268 entsteht parallel zum Entstehen des kybernetischen Diskurses. Werden verwobene Hintergründe berücksichtigt, nicht zuletzt die Korrespondenz Norbert Wieners mit Vannevar Bush, spricht manches dafür, den Computer auch, nach dem vermeintlichen Protagonisten des kybernetischen Diskurses, als ›Wiener-Maschine‹ zu bezeichnen: »had Bush circulated the Wiener Memorandum, we might today be talking about the [...] Wiener-von Neumann, if not the Wiener machine, instead of the von Neumann machine« (Ferry/Saeks in WCW IV: 147f).269

268 Es wurde die These eines krypto-biologisch konnotierten Entstehens der neuen Maschine aufgestellt, der »neue[n] Computerarchitektur in biologischen Metaphern, – nach dem physiologischen Modell einer Körperorganverbunds. Von Neumanns Computer – ein Organ aus Organen. […] Dieses Konzept wird seither computerhistorisch unter den Terminus ›stored programming‹ oder ›vonNeumann-Architektur‹ zusammengefaßt« (Hagen 2002: 68/69). 269 Im Kontext wird immer wieder die These vertreten, das zeitgenössische Computerkonzept sei einerseits auf Turings Konzept der ›universellen Maschine‹ von 1937 zurückzuführen (on computable numbers with an application to the entscheidungsproblem: Lösung von Hilberts ›Entscheidungsproblem‹ von 1928: Hilbert/Ackermann 1928; Dupuy 1994: 33) andererseits auf Überlegungen von Neumanns von 1945. Nachweislich erfüllte Neumanns Text von 1945 nicht die Kriterien, um anschlussfähig zu sein, da er aus vielerlei Gründen kaum öffentlich zugänglich war. Zum Entstehen ›des Computers‹ maßgeblich gilt auch die Masterarbeit Shannons von 1936 zur Anwendung boolscher Algebra auf Schaltkreise/Relais (Shannon 1936), deren Wirkung auf McCullochs ›logische Neuronen‹ und deren Einfluss auf Shannons Informationstheorie (zumindest das Speicherkonzept: Kay 2001: 179). Welche Rolle hatte von Neumann, der offenbar alle Kontakte im kybernetischen Kontext zu dominieren versuchte bis zurück zu Hilbert, dessen Assistent er war (Heims 1980; Conway/Siegelmann 2005)? Dupuy bezeichnet ihn als ›d’Artagnan der Gruppe‹: Dupuy 1994: 67. Die Situation ist schwer von ›Autoren‹-Seite anzugehen. Werden hier bisher retrospektiv ideale Linien gezogen? In den Jahren zwischen 1935 und 47 existieren vielschichtige Versknüpfungen diskursiver Stränge und Vernetzungen zwischen Personen im Umfeld der amerikanischen Kybernetik, die eine stark detaillierte Diskursanalyse der Zeit zwischen 1935 und 1948 lichten könnte. Das kann hier nicht, oder nur teilweise, geleistet werden. Fast alle Konzepte, auf die sich heutige Linienführungen im Kontext ›Computer‹ beziehen, bewegen sich nahe an der amerikanischen (teilweise der britischen) Ky-

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bernetik. Lily Kays These einer »Cyborg-Dialektik« (Kay 2001: 180) ist zuzustimmen: Erst auf dem Boden des sich ausfaltenden kybernetischen Diskurses und seiner Regularien stehen sich in entstehenden diskursiven Strängen von KI/Kognitivismus und Computer-Science, »Geist und Computer in einer unaufhörlichen Dialektik zwischen Nervensystem und Verhaltensmaschine wechselseitig Modell« (Kay 2001: 173). Hier erst kann allgemeiner von der »unaufhörlichen Dialektik zwischen natürlichen und künstlichen Systemen, die sich wechselseitig als Modell und Referent dienen« (ebd.: 186) gesprochen werden. Die heute in technikhistorischen Arbeiten und Populärvorstellungen vertretenen Thesen zur Vielfalt verschiedener Architekturen vor den 1950er Jahren (»Zeit der Experimente«: Nickel 1971: 368) ist insofern akzentuierbar, als heute weniger die Frage relevant wäre, welcher der Rechner der erste, ›wirkliche‹ Vorläufer des Computers war/ist – ob nun diese oder jene Entwicklung in England, den USA oder gar Deutschland (auch Zuse betont bekanntermaßen, »im Jahre 1941 in Berlin den Computer entwickelt« (Zuse 1971: 130) zu haben, ein weiterer ›Vorläufer‹), ob diese oder jene Forschergruppe die ›eigentlichen Väter‹ des Computers sind, weil ihr Versuch ›bereits‹ diese oder jene später wichtige Komponente implementierte. Umgekehrt sind Teleologische Annahmen, die von Neumann-Maschinen-Architektur als Endpunkt, gewissermaßen ›Ganzheit‹ späterer Entwicklung anzunehmen erklärungsbedürftig, wenn sie neben der impliziten Affirmation des gewachsenen ›Universalitäts‹-Anspruchs und pragmatischen historischen Gründen keine weiteren vorweisen. Warum läßt sich trotz recht identischer, rüstungstechnischen Ziele ›vorhergehender Entwicklungen‹ nicht schlicht auch eine Vielheit an Entwicklungen unterstreichen, die durch die siegreiche Architektur ohne Not vereinheitlicht wurde? Diese Vereinheitlichung ist diskursiv zu kontextualisieren, als solche kritisch zu problematisieren. Zur Norm zentrale Daten: Nach Turings computable numbers (1937) schickt Wiener 1940 Vannevar Bush für die Erfordernisse seines AA-Predictors ein Memo »on the scope, etc., of a suggested computing machine« (WCW IV: 122ff), zum Bau einer »idealen Rechenmaschine« (Wiener 1952: 150) in dem er auf Notwendigkeiten wie Geschwindigkeit des neuen »apparatus« als Forderung eingeht (WCW IV: 122ff, Wiener 1952: 23): Hier werden erstmals (1) digitale, binäre Arithmetik und Speicherung, (2) diskrete numerischer Algorithmen mittels (3) einer elektronischen Arithmetikeinheit auf (4) einer klassischen Turing-Maschinen-Architektur mit (5) Magnetbändern jedoch – bedingt durch das konkrete Ziel – noch (6) ohne eine ›stored program‹ gefordert. Nach diesen Forderungen werden offenbar zeitgenössische Analog-Analyzer angepaßt, einige werden ab 1942 unter Mauchly/Eckert an der Moore School of Electrical Engineering der University of Pennsylvania partiell umgesetzt zur Geschoßbahnberechnung (WCW IV: 147f). 1943 arbeitet von Neumann dort als ›Consultant‹, u.a. wohl am erstmals vollständig digital, aber noch dezimal und parallel arbeitenden ENIAC Machlys/Eckerts (Ballistics Research Center des Aberdeen Proving Ground, Pennsylvania University). An John von Neumanns sequentiell und binär arbeitenden, quasi ›rekursiv‹ das ›stored program‹-Konzept

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einführenden EDVAC (Programm und Daten befinden sich flexibel auf einer Speicherebene) abstrahiert Neumann 1945 den first draft (von Neumann 1945), zeitgenössisch classified. Er gilt heute als diskursiver Prototyp der ›von Neumann-Maschine‹, der bis in die Gegenwart ubiquitär gewordenen Norm von Computerarchitekturen. Anhand des first draft entwickelt der Kybernetiker Bigelow nach Erfindung des Germanium-Transitor-Schaltelements zwischen 1947 bis 1952 in Pennsylvania den IAS. Wie McCulloch von Neuronen formale und logische Neuronen, abstrahiert der draft von Neumanns von bestehenden, u.a. durch Wieners Anforderungen geprägten Rechneranlagen formale und logische Vorbilder für Rechenanlagen: eine Architektur, 1948 anschlußfähig ›generalisiert‹ in Norm-Form dargestellt (von Neumann 1948). Sie wird auf dem neurophysiologisch geprägten Hixon-Symposium vorgestellt, und zwar, u.a. auktorial (McCulloch ist auf dem Symposium Respondent), in unmittelbarer Nähe zum in Grundzügen ausdifferenzierten kybernetischen Diskurs, insb. der Texte McCulloch/Pitts. Diese Nähe zeigt sich in zwei partiellen Antithesen, die auf bereits existentem diskursiven Boden arbeiten. Sie versuchen spezifische Differenzen zwischen ›Rechner‹ und ›Gehirn‹ erst wieder zu schaffen. Von Neumann behauptet, daß sich im neuen kybernetischen Paradigma des Neurons als digitalem Schaltkreis (1) menschliche Fähigkeiten nicht mit der für das ZNS angenommenen Menge an Neuronen nachbilden lassen, wenn sie als wirkliche Schaltkreise umgesetzt werden: eine größere Menge ›künstlicher‹ Schaltkreise wird notwendig. Zudem besteht der Unterschied nun darin, daß ›natürliche Automaten‹ parallel, ›künstliche‹ hingegen seriell arbeiten. Zweitens (2) sei nun, um die Komplexität menschlicher Fähigkeiten ›künstlich‹ nachbilden zu können, eine komplexere Logik als die kybernetische McCullochs notwendig. Die neue, spezifische Differenz auf kybernetischem Boden besagt dann, daß ›Rechner‹ ausgehend vom ›Modell EDVAC‹ im Gegensatz zum Gehirn seriell arbeiten sollen. Vom neuen Norm-Konzept nimmt später Computer-Science ihren Ausgang. Ausgehend vom Modell eines nun nicht nur binär, sondern zugleich parallel arbeitenden Gehirns können sich Forschungen zur ›künstlichen Intelligenz‹ auf Parallelverarbeitung kaprizieren, die nun stetig auf seriellen Maschinen emuliert, nachgeahmt abläuft. Beide haben in der neuen Differenzierung erste Ansatzpunkte und Bedingungen, um sich aus dem bisherigen kybernetischen Diskurs als neue Ausläufer herauszubilden. ›Komplexere Logik‹ wird im Gebiet ›künstlicher Intelligenz‹ nicht herangezogen werden, ganz entgegen dem Anraten des von Neumann Schülers Marvin Minski. Überlegungen hierzu werden erst in neurobiologischen Strängen des kybernetischen Diskurses der 50er Jahre aufgenommen, u.a. in Richtung der Kybernetik 2. Ordnung (McCulloch/Pitts/Maturana 1959). Erst durch die auf der Basis des kybernetischen Konzepts prinzipiell digitaler Informations- und Signalverarbeitung möglich gewordene Distinktion zwischen seriellem (Digital-)›Rechner‹ und parallelem (Digital-)›Gehirn‹ der Texte Neumanns von 1945 und 48 entsteht die diskursive Norm des Computers. In den entstehenden diskursiven Verzweigungen wird die zuvor subkutan vorbereitete, gegenseitige Metaphori-

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Nach Durchgang einiger zentraler Elemente und Stationen des ›ersten‹ kybernetischen Diskurses, seiner Ansprüche und Breitenwirkungen: Heute scheint es kaum mehr verwunderlich, wenn selbst Jahrzehnte später noch befürchtet wurde, daß es nicht mehr ›der Mensch‹ sei, der nun denkt und handelt – noch während er eifrig ›angerufen‹ wurde. Und zugleich scheint es kaum verwunderlich, daß ›der‹ sich kybernetisierende Mensch begann, seine Welt stetig von neuen Apparaten und Sozialitäten sich bevölkern zu sehen, von neuen technischen Ontologien, ›neuen Ökonomien‹ des Politischen. Ein spezifischer Rationalitätstyp hatte Bedingungen ausgebildet des Entstehens und der Anwendung einer neuen, universellen Maschine – ›dem‹ Computer. Das Entstehen des kybernetischen Diskurses und das Enstehen dieses neuen Rationalitätstyps bedingten sich offenbar gegenseitig. Der neue Rationalitätstyp konnte sich in einer, ›der‹ neuen, kybernetischen Maschine verkörpern, gelingende Einsatzpunkte finden, während der neue Maschinentyp, die neue Maschine auf seinem Hintergrund teils als spezifisches Instrument sichtbar werden konnte. Der neue Rationalitätstyp hatte Effekte auf die Sozialitäten zeitgenössischer Subjekte, während diese sich neuer Formen und neuer Maschinen als Instrumente zu bedienen lernten. Er hatte aber vor allem auch Effekte auf Modalitäten und Grenzen ihrer Wahrnehmungs- und Aneignungsweise von Welt, auf Möglichkeiten zuletzt neuer, teils hybrider Objekt- und Maschinenformen. Blieben zeitgenössische Gedankenexperimente reflexiv zurück hinter den technologischen Entwicklungen der 1940er Jahre und ihrem Gefolge? Wo bei Descartes ein quasi göttlicher, »böser Geist« (Descartes 1641: 19) sein Unwesen trieb, popularisierten sich im Gefolge des ›neuen Geists‹ Vor-

sierung von ›Elektronengehirn‹ und ›Gehirn als Computer‹ verschiedene neue Fundamente finden, weitere Entwicklungen ermöglichen (Hagner/Christen 2006; Heims 1991: 44). Wiener, bereits 1945: »the subject embracing of the engineering and neurology aspect is essentialy one, and we should go ahead with plans to embody these ideas in a permanent program of research« (Heims 1991: 50). Ein solches Programm hatte diskursiv längst Boden gewonnen. Auch die von Neumann 1948 anschlußfähig geprägte Distinktion zwischen Soft- und Hardware kann – u.a. in Bezug auf das Gehirn und seine Kognitionen, aber auch auf Verkörperungs-/Machbarkeitsphantasien nachfolgender Wissenschaften – nicht vom kybernetischen Diskurs getrennt werden. Warum also gewissermaßen Software und Programme liefernde Kybernetiker von Hardware liefernden Ingenieuren trennen oder erste als skurille Ausformulierer der Ingenieure sehen und umgekehrt? Der kybernetische Diskurs ist durch unerhört viele Wechselwirkungen geprägt. Auf kybernetische Diskurse, die nicht allein ›Ideenlieferat‹ sind, geht die Entwicklung des Computers zurück: »technological developments and mass production of devices and systems of communication and computation grew out of the ideas reported by the cyberneticians« (Heims 1991: 282). Die Macy-Partizipanten begleiten die IT-Entwicklung bis weit in die 90er Jahre, z.B. durch das MIT Media-Lab (Heims 1991: 280).

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stellungen von Cyborgs in einer Computer-›Matrix‹, philosophisch zu »Gehirnen im Tank« (Putnam 1981: 15ff): Ein Szenario noch immer, in dem sich alle »Außendinge« (Descartes 1641: 20) als schiere Illusion, als Täuschung, Betrug herauszustellen drohten? In dem alles körperliche vorgegaukelt, ›Chimäre‹ wäre: »kein Fleisch, kein Blut, überhaupt keine Sinne« (ebd.) – »vielleicht – doch dies ist absurd – besteht das Universum bloß aus automatischen Apparaten, die einen Tank voller Gehirne und Nervensysteme in ihrer Obhut haben« (Putnam 1981: 22)? In Zeiten technischer, aber auch kognitiver, biologischer und sozialer Kybernetisierung hatten und haben Akte solchen humanen Zweifels Bedingungen ihrer Möglichkeit. Sie haben sich, historisch betrachtet, gegenüber der Neuzeit verändert (Krämer 2005): »vielleicht könnte es sogar geschehen daß ich, wenn ich ganz aufhörte zu denken, alsbald auch aufhörte zu sein?« (Descartes 1641: 23).270 Werden Computer bald »überall sein« (Weizenbaum)? Oder wird irgendwann in Zukunft leichtes Befremden entstehen gegenüber der ab Mitte des 20. Jahrhunderts immer schnelleren ›Frequenz‹ neuen sozialen ›Takts‹ einer neuen Maschine, gegenüber ihren neuen Elementen, Formaten, Modulationen, Apparaten, Komplexitäten und begleitenden Sitten? Werden dann heutige Selbstverständlichkeiten klingen wie Relikte aus einer Zeit, in der am Ort des Denkens schlicht manche ›stahlharte Gehäuse‹ stetig obsolet zu werden begannen? Wie aus einer Zeit auch, in der die Innenräume der neuen, bereits weit in den Alltag ausschwärmenden, plastischen, intransparenten ›Boxes‹ eben noch öffenbar waren? Die Geschichte ist offen. Das zu Beginn angesprochene Roboter-Märchen Lems jedenfalls endet 1982 noch ganz trivial. Vorhersehbar besiegt der König der Kyberei seinen Gegner – den durch sein unterirdisches Elektronengehirn geschaffenen, kybernetischen ›Elektrodrach‹. Bis der ehemalige Gehilfe, der Rechner, selbst zu einem Gegenüber, Souverän werden will. Plötzlich schreibt er selbständig das eigene Programm um, will sich selbst zum ›Drach‹ umbauen. Mit letzter Kraft schlägt der humane Herrscher seine Pantoffeln auf den Rech-

270 Problem wird ein Fehler der Bezugnahme: »Falls wir also Gehirne in einem Tank sind, besagt der Satz ›Wir sind Gehirne in einem Tank‹ etwas Falsches. [...] Also ist es (notwendig) falsch.« (ebd.: 32): Der Satz hat für Putnam keinen Bezug auf »äußere Gegenstände« (ebd.: 29). Das erleichtert reflexiv: »Die Existenz einer ›physikalisch möglichen Welt‹, in der wir Gehirne in einem Tank sind (und diese immer schon waren und immer sein werden), bedeutet nicht, daß wir wirklich, tatsächlich, möglicherweise Gehirne in einem Tank sind. Diese Möglichkeit wird nicht durch die Physik ausgeschlossen, sondern durch die Philosophie« (ebd.: 33). Der semantischen Aspekt von Sprache, ›Bezugnahme‹ ist ihm zentral. Diese Argumentation und Logik ist aber nur insofern relevant, als das Problem der Annahme und Bezeichnung eines ›Außen‹ (verstanden als Andersheit) Teil des geschilderten Problems ist. Wichtig ist der im Kontext zeitgenössisch aktualisierte, in kybernetischer mind-Tradition stehende, ›geistige‹ Problemhorizont.

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ner. Im Speicher der Maschine verrutschen die Buchstaben des Programms und aus ›Elektrodrach‹ wird – ›Elektrodreck‹. Die Maschine hält schlicht erbarmungslos an ihrem Programm fest. Und vollendet es. Der Souverän, um einen Schrecken reicher, kann wieder zum status quo zurückkehren, kann sich wieder »ausschließlich der friedlichen Kybernetik« zuwenden, »von der kriegerischen ließ er die Finger« (Lem 1982: 147). Es bleibt offen, ob damit Lems Geschichte wieder von vorne beginnen kann oder muß. Zumindest das, was zuvor geschah, wird sicher nur einem kybernetisierten Souverän in einer ›Kyberei‹ passieren in Pantoffeln und im Gespann mit einem ›Computer‹-Apparat und seinem veränderbaren, gespeicherten Programm. Wie wäre es auch anders denkbar?

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Dank »It will be amazing & unpredictable«

T. PYNCHON, 1984

Mein Dank gilt den Betreuern meiner Dissertation, Prof. Dr. Petra Gehring und Prof. Dr. Hassan Givsan für ihre geduldige und unermüdliche Begleitung, für die angebotenen Hilfestellungen und Ratschläge. Prof. Givsan danke ich für die Einladungen zum Tee und die Gespräche, Prof. Gehring für die geschenkte Zeit an der Dissertation und für die produktive Kritik im Rahmen ihres Kolloquiums. Herzlich danken will ich auch Martin Bauer, Peter Berz und Valentin Groebner für alle ihre Mühen, mir ein besser lesbares Schreiben näherzubringen. Das Doktoranden-Kolloquium von Petra Gehring schärfte Problemstellung der Arbeit und gab mir wertvolle Hinweise: Hier möchte ich besonders Marc Rölli und Christian Diel danken für ihre Hinweise zu Gilles Deleuze und Polanyi, Suzana Alpsancar zu Flusser, Alexandra Bauer zu Judith Butler, Thomas Ehlers zum Bereich Datenschutz/Privacy, Ludger Fittkau zur Eugenik, Reinhard Heil für Hinweise im Bereich Transhumanismus, Vera Hofmann zu RFID, Dirk Hommrich zu Haraway, Hirn- und Wissenschaftsforschung, Andreas Kaminski zu Ubiquitous Computing und Jens Kertscher zur Sprechakttheorie, Kevin Koidl im Bereich adaptiver Systeme, Maxine Saborowski im Bereich Biodaten, Katja Schikorra in Raumkontexten und Marc Ziegler zu kritischer Theorie – in allen Fällen darüber hinaus herzlichen Dank für alle weitergehende Unterstützung! An Christina Pohl ein ganz herzlicher Dank für Ihre Hilfe bei der umfangreichen Kürzung der Dissertation und dem Lektorat. Und an Bejamin Seibel ein besonderer Dank für die ›kybernetischen Gespräche‹. Mein Dank gilt auch Alfred Nordmann, Gerhard Gamm und Hardy Frehe, Stefan Gammel, Nicole Gerstner, Stephan Körnig, Astrid Schwarz und Andreas Woyke vom Darmstädter Institut für Philosophie und auch jenseits dessen, Dieter Mersch und weiteren Diskutanten beim Institut für Kulturforschung, dem eLearning-Center Darmstadt und vor allem Bruno ArichGerz, Mikael Hård, Andreas Hetzel, Michael und Christine Hauskeller und Markus Lilienthal für akademische Anregungen, Diskussionen und Unter-

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stützung. Mein Dank gilt zudem den Diskutanten des von Claus Pias betreuten Workshop ›mit Leben rechnen‹ in Lübeck sowie intensiven ›Heidelberger‹ Diskussionen mit Peter Berz, Birgit Griesecke, Frank Roesl und Falko Schmieder, die mich eindrücklich geprägt haben. Mein besonderer Dank gilt aber auch Armin Breidenbach, Nils Bockler, Joachim Buthe, Kai Denker, Alexander Diroll, John Flath, Jens Japes, Oliver Krämer, den Reichmanns, Axel Röthemeyer, Simon Rockelmann, Jan Schäfer, Julia Schleinkofer, Jochen Schwenk, Stephan Snyder, Anna Schimkat und Felix Trautmann in vielen verschiedenen Konstellationen. Möglich wurde der Text nicht zuletzt auch durch die OSx86- und OpenOffice-Projekte sowie die Open-Source-Bewegung. Wie hätte das Buch sonst eine Form wie die vorliegende gewonnen? Nicht zuletzt möchte ich Katja Schikorra für das unermüdliche Ertragen der Arbeit am Text, der Korrektur und der Korrektur der Korrektur danken. Und ganz besonders Malik, dem ich den Text widme. Das alles hier ist parallel zu deinen allerersten Bewegungen entstanden.

Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Mai 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

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Angela Jannelli Wilde Museen Zur Museologie des Amateurmuseums Mai 2012, ca. 360 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1985-0

Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.) Kulturen in Bewegung Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität April 2012, ca. 260 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1729-0

Markus Leibenath, Stefan Heiland, Heiderose Kilper, Sabine Tzschaschel (Hg.) Wie werden Landschaften gemacht? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Konstituierung von Kulturlandschaften September 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1994-2

Dorit Müller, Sebastian Scholz (Hg.) Raum Wissen Medien Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs Mai 2012, ca. 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1558-6

Marion Picker, Véronique Maleval, Florent Gabaude (Hg.) Die Zukunft der Kartographie Neue und nicht so neue epistemologische Krisen Mai 2012, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1795-5

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Lars Koch, Christer Petersen, Joseph Vogel (Hg.)

Störfälle Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2011

2011, 166 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1856-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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