Bismarck und der Osten: Eine Studie zum Problem des deutschen Nationalstaats [Reprint 2021 ed.] 9783112490761, 9783112490754

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Bismarck und der Osten: Eine Studie zum Problem des deutschen Nationalstaats [Reprint 2021 ed.]
 9783112490761, 9783112490754

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Bismarck und der Osten Eine Studie zum Problem des deutschen Nationalstaats von Hans Rothfels

Pr inte d in Germany Druck von Wilhelm Hoppe, Borsdorf-Letpzig

Vorwort Der nachfolgenden Studie liegt im ersten Entwurf ein Vortrag zu Grunde, der Anfang August 1932 auf dem 18. deutschen Historikertag in Göttingen gehalten worden ist — ein halbes Jahr vor der tief­ greifenden Umwälzung der deutschen Wirklichkeit, deren Prinzipien auch die Geschichtswissenschaft entscheidend angehen. Aber wie jene Zu­ sammenkunft von Fachgenossen unter dem Zeichen des deutschen Ostens stand und einem Ziel der Schulung dienen sollte, das seitdem gewiß an Wichtigkeit nichts verloren hat, so halte ich im besonderen die Grundlinien der Auffassung vom Bismarck-Reich, die ich damals vortrug, die Auf­ fassung namentlich seiner nach Osten hin noch unausgeschöpften Wesens­ art heute erst recht für einen notwendigen Bestandteil jeder gegenwarts­ nahen, verantwortungsbewußten Erörtemng zum Problem des deut­ schen Nationalstaats. Im Prinzipiellen, in allen Fragen der „Haltung" schließt sich daher der Abdruck eng dem Gedankengang des Vortrags an, nur ist er aus der Redeform in die Schriftform übertragen und zu­ gleich im Stofflichen sehr erheblich erweitert worden. Dabei ergab sich nach dem Eigengesetz des literarischen Stils (verglichen mit dem rheto­ rischen) eine gewisse Abschleifung der These; die — stark ausgebaute — Einleitung stellt sie bewußt in die gegensätzlichen Spannungen unserer neueren Reichsgeschichte hinein. Diese Abänderung bedeutet, wie aus­ drücklich betont sein mag, keine Antastung der grundsätzlichen Linie, son­ dern nur eine andere Zweckrichtung; sie trifft damit allerdings auf ihre Weise in eine durchaus verwandelte geistig-politische Gesamtsituation. Was im Hochsommer 1932, um das Gedankengut der Bismarckschen Epoche in besonderer Richtung lebendig zu mach en, gegenüber einer vor­ wiegend westlichen Auffassung des Reichs auszuführen war, das hat sich heute zugleich abzusetzen von der allzu eilfertigen Hervorbringung östlicher Konzeptionen und von freischwebenden Ideologien. Aber vielleicht ist es nicht unnützlich, gerade in einer solchen sachlichen Doppel-

Vorwort front, die von allem Persönlichen absehen darf, dafür zu zeugen, daß die Geschichtswissenschaft vergangener Jahre sich wahrlich nicht auf die Legitimiemng des Seienden beschränkt hat, daß sie kein „nachtönendes Passivum" war, wie Nietzsche ihr ehedem vorwarf. Möge sie für die deutsche Gegenwart demgemäß aus ihren eigenen Bedingungen, aus eigener Verantwortung, ein Bundesgenosse sein können—im Kampf um das Werdende.

In dieser Hoffnung gebe ich die Schrift zum Druck. Königsberg i. Pr. Juni 1934

H. R.

Inhaltsübersicht Seite

Einleitung 1. Das nationalstaatliche Prinzip von 1848 und 1919 ....

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2. Der geschichtliche Standort der Reichsgründung..................

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Bismarck und der Osten 1. Außenpolitische Voraussetzungen............................................

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2. Östliche Nationalitätenprobleme

Das baltische Deutschtum................................................

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Der österr.-ungarische Nationalitätenstaat...................... Die polnische Frage....................................................... 3. Sozialpolitik und Verfassungspolitik.....................................

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Ausblick...................................................................................

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Anmerkungen.........................................................................

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Der Nationalstaat liberaler oder demokratischer Prägung, die vor­ dringende politische Lebensform des 19. Jahrhunderts, trägt in der deutschen Entwicklung ein merkwürdiges Doppelgesicht. Daß aus einem Volke einStaat werde,die Staatwerdung des Volkes und damit seine„Erhebung"zurNati o n,—schien das nicht der gegebene Ausgleich widerstreitender Kräfte, des alten universalen Reichsgedankens und des neuen territorialen Staatsgedankens? Sollte den Deutschen unerreichbar sein, was den westlichen Völkern so lange schon ge­ lungen war? In steilem Anlauf hat die Generation der Jahrhundertmitte ver­ sucht, dies Versäumnis nachzuholen. Nicht an ihrem angeblichen Doktrinarismus, der für die Mehrheit der Paulskirche keineswegs be­ zeichnend ist, sondern an dem Widerstand der Wirklichkeit, den auch taktische Anpassungen nicht abschwächen konnten, ist die Revolution von 1848 gescheitert. Sie traf in erster Linie auf das Beharrungsvermögen des preußischen und des österreichischen Staates, auf die beiden Groß­ mächte also, die im Raum der ostdeutschen Kolonisation erwachsen waren und wurde von ihnen in sichtbarster Weise zurückgeworfen. Sie erfuhr aber auch — in engem Zusammenhang damit, weniger sichtbar und doch kaum weniger wirksam — die Problematik des eigenen national­ staatlichen Prinzips. Nationalismus und Demokratie, das waren die Parolen der französischen Revolution und des napoleonischen Kaiser­ reichs gewesen, in deren Anwendung Menschheitsidee und staatlich­ zentralistische Ausdehnung zusammenflossen. Wenn man ihnen folgte, begab man sich dann nicht aufs Neue in Abhängigkeit von dem west­ lichen Nachbarn und würde er sich den Geburtshelferdienst nicht mit einem Preise bezahlen lassen, den ein werdender Nationalstaat weder zu gewähren noch zu versagen die Kraft besaß? Wie Frankreich, so hatte auch England keineswegs den Wunsch, eine starke zusammenge­ faßte National- und Wirtschafts-Macht in Mitteleuropa entstehen zu sehen. Von Sympathien der „freien Völkel, der westlichen Nationen, für die deutsche Befreiung und nationale Einheit war ernsthaft nichts zu spüren, und es ist eine Legende, daß erst die geistigen Führer der deutschen Revolution sie sich verscherzt hätten. Sie achteten die 1

Räthsels, Bismarck und der Osten

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Bismarck und der Osten staatlichen Grenzen und vertraten keineswegs die Arndt'sche Forde­ rung: soweit die deutsche Zunge klingt. Nach Westen hin dachte niemand der Maßgeblichen an Wiedererstehung des „Reiches", an Zu­ rückgewinnung etwa Hollands und der Schweiz oder auch nur des Elsaß. Hier nahm man stillschweigend eine „nationale" Grenze an, die hinter dem Volkstumsbereich weit zurück blieb. Nach Osten hin aber forderten die Liberalen den Tendenz- und Propagandakrieg gegen Rußland als die Vormacht des reaktionären Systems. Mit dieser Ostwendung enthüllte sich vollends nun — ganz abge­ sehen von der außenpolitischen und militärischen Seite eines solchen Pro­ gramms — der innere Zwiespalt des nationalstaatlichen Grundgedan­ kens. Die Staatwerdung des Volkes, wie sie Frankreich in der großen Revolution vorgelebt hatte, setzte gesellschaftlich und ethnisch eine gewisse Gleichförmigkeit voraus, die ganze Ostzone Mitteleuropas aber, der alte Raum der deutschen Kolonisation, zeigte starke soziale Stufungen, ein ausgesprochenes „Kulturgefälle", und er zeigte eine schicksalsmäßig ge­ gebene völkische Gemengelage. Wer von Frankfurt aus „großdeutsch" dachte, der wollte in aller Regel etwas merklich anderes, als dem heutigen (volksdeutschen) Begriff deutschstämmiger Zusammengehörigkeit ent­ spricht, er wollte entweder ein mitteleuropäisches „Reich", ein deutsches Kultur- und Wirtschaftsimperium donauabwärts oder das „ganze Deutschland", das Gebiet des deutschen Bundes mit Zuwachs im Nor­ den und Nordosten, d. h. einen geschichtlich von Deutschen geformten aber nicht allein von Deutschen bewohnten Raum, deutschen „Kultur­ boden" nicht deutschen „Volksboden". Einerlei, ob man die „Erblande" abzulösen oder in lockerer Personalunion bei Österreich zu lassen ge­ dachte, — die „Nationalgrenze" im Südosten, die Tschechen und Slo­ wenen einschloß, war mindestens so sehr staatlich-historisch wie nach dem volksmäßigen Siedlungsraum gedacht. Daher sah der Verfassungs­ entwurf des 17er-Ausschusses bewußt den Titel „deutscher Kaiser" (statt: Kaiser der Deutschen) vor und sagte den nichtdeutschen Volks­ stämmen Gleichberechtigung ihrer Sprache in Unterricht und Ver­ waltung zu. Das hat indessen nicht verhindern können, daß an diesem Punkte mit voller Entschlossenheit die Gegenbewegung zuerst der Tschechen in Aktion trat, an den Wahlen zur Frankfurter Nationalver­ sammlung entzündete sie sich. „Für oder gegen Frankfurt" wurde die Devise. So löste das Ringen um den deutschen nationalen Staat die südöstliche Nationalitätenbewegung aus — zu bewußter Abwehr, fteilich in mehrfach gebrochener Front. Die Tschechen kämpften ihrer-

Problematik des nationalstaatlichen Prinzips von 1848 seits keineswegs vom rein völkischen sondern auch vom historischen Boden her; und zwar einmal vom Boden des österreichischen Kaiser­ staates, den ihr Führer Palacky in seiner berühmten Antwort an den Fünfziger-Ausschuß in Frankfurt so entschieden rechtfertigte („im In­ teresse Europas, im Interesse der Humanität"), und zugleich auch vom Boden der geschichtlichen Einheit der Länder der „Wenzelskrone", die ihnen im engeren Bereich die Rolle des vorherrschenden Mehrheits­ volkes verhieß. Ähnlich die Ungarn und die Polen, auch sie nicht als „ethnische" sondern als „historische Nationen". Dahinter aber erhoben sich die „ungeschichtlichen Völker" (Ruthenen, Slowaken, Serben, Ru­ mänen) und die Kroaten. Uber diese Klüfte hinweg hat der Kremsierer Reichstag sich an dem Entwurf einer dem Osten gemäßeren Lösung der nationalen Probleme versucht. Während der „Förderalismus" der Tschechen vornehmlich an der böhmischen Machtstellung interessiert war, bemühten sich die Deutschen den Reichsgedanken mit dem Prinzip kommunaler und völkischer Autonomie in einen wohldurchdachten Zu­ sammenhang zu bringen. Die Tschechen wollten größtmögliche Selb­ ständigkeit der „historisch-politischen Individualitäten", der Länder oder Ländergruppen, die Deutschen Einheit an der Spitze und Freiheit der nationalen Gliedschaften. Sie hatten die kleineren Völker dabei meist auf ihrer Seite. Für Cisleithanien mindestens einigte man sich auf den Plan eines parlamentarischen Einheitsstaates mit einer Länder­ kammer als Vertretung der historischen Provinzen und mit einer Auf­ gliederung der nationalgemischten Länder in national möglichst ein­ heitliche Kreise. Aber der liberale Zentralismus der westlichen Staats­ doktrinen, der auch hier noch fortwirkte, schlug bald in den absoluti­ stischen zurück. Anders und doch auch wieder gleichgerichtet lagen die Probleme an der preußischen Ostgrenze. Der nationalstaatliche Wille zog hier die bisher außerhalb des deutschen Bundes stehenden Provinzen in den Ausbau der nationalen Einheit mit hinein. Im ganzen war das ein bedeutsamer Ansatz für eine Verdeutschung Preußens, das sa nicht weniger als Österreich seine selbständige europäische Stellung im

Ostraum besaß und sich gleich ihm gegen eine Umschmelzung seines Wesens stemmen wird. Doch zunächst galt die Parole Friedrich Wil­ helms IV.: Preußen gehe in Deutschland auf! Von da aus bestimmte sich das Verhältnis der einzelnen Grenzprovinzen zur deutschen Na­ tionalversammlung. In Ostpreußen bestand kein Problem, da die fremdvölkischen Bestandteile (Litauer und Masuren) durch konfessionelle

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Bismarck imd der Osten und geschichtliche Schicksalsgemeinschaft längst für ein Nationalbe­ wußtsein gewonnen waren, das vornehmlich preußische Farbe trug. Auch in Westpreußen ergab sich keine ernstere Schwierigkeit, wenn­ gleich nicht zu verkennen ist, daß die Unterstellung unter ein national­ deutsches Parlament den Ansatzpunkt zu völkischen Spannungen bot. In ausgesprochenster Weise war das in der Provinz Posen der Fall. Aber die Fronten, die das nationalstaatliche Prinzip hier aufrief, waren keineswegs einheitlich. Während die polnischen Bauern zunächst nichts anderes als „Preußen" sein wollten, bestand die polnische Füh­ rung auf der Erfüllung der in den Märztagen zugesagten „nationalen Reorganisation" des Großherzogtums Posen. Das bedeutete in ihrem Sinne nach Westen hin Wiedergewinnung der Grenzen von 1772, um dann gegen Osten den Freiheitskampf führen zu können. Auch hier also erhob sich unter nationaler Parole ein historischer Staatsgedanke, dem allein in der Provinz Posen an 500 000 Deutsche geopfert werden sollten. Begreiflich genug, daß diese aufs äußerste widerstrebten und daß damit der Reorganisationsplan ins Stocken geriet. Es kam zu schweren Störungen der bürgerlichen Ordnung und des nationalen Friedens, die bedrohte deutsche Bevölkerung griff gegenüber den „Sensenmännern" zur Selbsthilfe, bis endlich durch preußisches Militär die Entwaffnung geschah. — Was auf der anderen Seite die Deutschen forderten, war Teilung der Provinz nach dem nationalen Prinzip, modifiziert allerdings unter strategischem Gesichtspunkt. Aber auch wenn man den Schutz der Ostgrenze berücksichtigte, blieben immer noch starke deutsche Kolonien in polnischer Hand. Die geplante Demarka­ tionslinie, bis an die der neue deutsche Nationalstaat reichen sollte, schob sich daher immer weiter nach Osten vor. Ja in einigen deutschen Kreisen — es waren bezeichnender Weise alteingesessene, bei denen der Heimatgedanke mit dem deutschen Gedanken zusammentraf, — in Kreisen des Bromberger und Lissaer Deutschtums trat man für die Einheit der Provinz Posen unter preußischem Szepter und für ein ge­ ordnetes Zusammenleben beider Volksteile ein. Die Frankfurter Nationalversammlung stand demgemäß vor einer überaus schwierigen Aufgabe. In der großen Polendebatte (24.— 26. Juli) wurde leidenschaftlich um das Prinzip der „Gerechtigkeit" gerungen, der Gerechtigkeit gegenüber einer unglücklichen Nation aber auch der Gerechtigkeit gegenüber den geschichtlichen Leistungen, die dem Deutschtum im Osten zu Buche standen und gegenüber seinen Vorposten in der Gegenwart. Die Fronten kehrten sich dabei förmlich

Kampf um die Provinz Posen um. Mit gutem Grund konnte ein ostmärkischer Abgeordneter sagen: „Die Polen, die bis dahin fortwährend auf das Nationalitätsprinzip sich berufen haben, sind Territorialisten geworden" (indem sie die Provinz Posen ganz ablösen oder schlimmstenfalls ganz einbeziehen aber jedenfalls nicht teilen lassen wollten). Die Deutschen hingegen vertraten eine nationale Abgrenzung. Die liberale Mehrheit der Pauls« kirche wollte die Demarkation vorbehaltlich der näheren Ausführung und beschloß die Zulassung der Abgeordneten aus den dem National­ staat einzuverleibenden Gebieten. Indessen eine rein nationale Trennungslinie ließ sich nicht finden. Und so doktrinär war man doch keineswegs, daß man die Festung Posen und die deutschen Siedlungen in der Mitte der Provinz preisgeben wollte. Die Demarkation, zu der man schließlich kam, beschränkte den polnischen Anteil auf ein Viertel der Bevölkerung und war somit nationalpolitisch ein Unding. Man tröstete sich über diese Durchlöcherung des Prinzips mit der Tatsache, daß den einbezogenen Polen dann doch der Segen der geordneten preußischen Verwaltung zu gute käme. Es bedurfte in der Tat nur noch eines Schrittes weiter, um auch auf deutscher Seite den ge­ schichtlichen Staatsgedanken voll in Anspruch zu nehmen und den Tei­ lungsplan mit Bismarck als „schwärmerische Theorie" abzutun. Wenn in Wahrheit, führte der radikale Abgeordnete Vogt aus, Preußen so vorzüglich regiere und den polnischen Bauern so viel Wohltaten er­ weise, dann sei die Demarkation eine Halbheit, dann solle Preußen ganz Polen behalten! Diese ironisch gemeinte, aber ungewollt ernsthafte Bemerkung richtete sich gegen den ostpreußischen Abgeordneten Jordan, der mit seiner großen Polenrede aus der Front der demokratischen Verbrüderungsidee ausgebrochen war. Er bekämpfte — nicht obgleich sondern weil er Demokrat sei — die sentimentale Polenbegeisterung, die um so größer zu sein pflege, je weiter man vom Schuß abliege, er vertrat das Recht eines „gesunden Volksegoismus" und der friedlichen Eroberung durch Taten der Kultur. Nicht die „bloße Existenz" gebe einem Volkstum den Anspruch auf politische Selbständigkeit, so führte er aus, und wie es unsinnig wäre zu sagen, am Boden hafte die Na­ tionalität, so sei andererseits auch dieser Boden von Deutschen zube­ reitet worden. Aber trotz solcher Einsichten siegte der zeitgewaltige nationalstaatliche Gedanke selbst bei Jordan über den preußisch-ge­ schichtlichen, auch er forderte die Demarkation. Man kann das Bild dieses durchgreifenden Widerstreits, in den sich das nationalstaatliche Prinzip im Osten verwickelte, abrunden durch

Bismarck und der Osten einen flüchtigen Blick auf die nördlichen und südlichen Marken des Reiches. Der Zusammenhang ist deutlich und wurde von den Dok­ trinären mit Schärfe betont. „Wenn Sie Posen durchschneiden.. sagte Robert Blum in der Polendebatte, „so schneiden Sie auch Schleswig durch, geben Sie die Slaven los, die zu Österreich gehören und trennen Sie auch Südtyrol von Deutschland!" Und ein anderer Demokrat, der Berliner Nauwerk, rief bei der Aussprache über die welschtiroler Petitionen aus: „Warum sehen Sie nach Norden so scharf und warum sind Sie nach Süden so umschleiert?" In der Tat: die Einheit des Tiroler Landes gemäß der Bundesakte von 1815 (also auch jenseits der Sprachgrenze) wollte die Mehrheit der Paulskirche aufrechterhalten, aus strategischen wie aus historischen Gründen und mit Rücksicht auf die Jnseldeutschen. Im Norden aber ergriff der na­ tionalstaatliche Wille über die Grenze des deutschen Bundes das deutschstämmige Herzogtum Schleswig, wobei dann an der nordschleswigschen Frage noch einmal im engeren Rahmen der Zwiespalt sich auftat: historisch-landschaftliche Einheit (die „heilige Gesamtheit" in Dahlmanns Sprache) oder nationale Demarkation. Aber der eigentliche Kampfplatz und der Bereich, in dem das nationalstaatliche Prinzip die schwersten Rückschläge erfuhr, war und blieb der Osten. Im Donaubecken schien die trübste Voraussage Metter­ nichs, der Kampf aller gegen alle, Wirklichkeit zu werden. Und insbeson­ dere gegen das Deutschtum begann sich die slawische Front zu schließen. Auf polnische Initiative trat in Prag jener erste Kongreß der slawischen Völker zusammen, der wohl praktische Ergebnisse im Sinn einer sla­ wischen Föderation oder gar eines slawischen Einheitsstaates nicht gezeitigt hat, dessen symptomatische Bedeutung aber kaum zu über­ schätzen ist. Mochte der Gegensatz gegen die slawische Mutter und unter den Geschwistern noch so groß sein (Streit um Galizien, Oberungarn und Osterreichisch-Schlesien !), in der Spitze gegen Frankfurt, gegen die Herr­ schaft auch und gerade eines „liberalen" Parlaments, trafen Polen, Tsche­ chen und Slowenen einmütig zusammen. Und wenn derböhmischeStaatsgedanke damals konservativ war im Verhältnis zur österreichischen Mo­ narchie, so stimmte er doch mit dem polnischen revolutionären Nationalis­ mus insoweit überein, als dieser zu Lasten des werdenden deutschen Na­ tionalstaats ging. Ein polnischer Abgeordneter(Libelt) ist bestimmend für die Verhandlungen des Kongresses geworden, ein Lausitzer Wende (Jordan) war sein Berichterstatter, und die ursprüngliche Absicht, die außerösterreichischen Slawen nur als Gäste zu betrachten, wurde auf»

Rückschlag des Nationalstaatsgedankens im Osten gegeben. Die Proklamation an die Völker Europas, auf die man sich einigte, erhob insbesondere Protest gegen die Zerreißung Posens und richtete zugleich den Blick auch auf Ost-und Westpreußen, auf die Lausitz und auf Schlesien. Ob die Parole „Austroslawismus" oder „Pan­ slawismus" hieß, in jedem Fall meldeten sich hier Völker als Willens­ träger eines Staatsgedankens an, der im Gegenschlag das nationale Prinzip sofort übersprang und je nach der taktischen Lage auch seiner­ seits geschichtlich-territorial wurde. Man wird die echte Tragik in diesem Zusammenhang nicht verhüllen dürfen. Wenn die deutsche politische Lebensform der Zukunft im Osten auf den „Nationalstaat" im Sinne der Staatswerdung rein deutschen Volkstums gegründet werden sollte, dann drohte die Gefahr, daß historische Grundtatsachen, daß die Er­ gebnisse des großartigen weltgeschichtlichen Prozesses, mit dem die deutsche Kolonisation die nach der Völkerwanderung verloren gegan­ genen Gebiete zurückgewonnen und für das Abendland gesichert hatte, zu tiefst ins Wanken gerieten und daß der kulturelle wie der wirt­ schaftliche Zusammenhang des ganzen Ostraums zersplitterte. Am schärfsten hat das wiederum Jordan gesehen. In einer gewiß über­ spitzten Polemik gegen die „rührenden Jeremiaden deutscher Poeten" aber auch aus der echten Erfahrung des Ostdeutschen rief er bei der Polendebatte aus: „Wenn wir rücksichtslos gerecht sein wollten, dann müßten wir nicht bloß Posen herausgeben, sondern halb Deutschland. Denn bis an die Saale und darüber hinaus erstreckte sich vormals die Slawenwelt." Es ist, als hätte die außenpolitische Zwangsordnung von 1919 diese Perspektive aufgegriffen und die Bestrebungen der Paulskirche bewußt karrikiert. Daß die 48er Farben „Schwarz-rot-gold" zuerst auf feindlichen Flugblättern an der deutschen Front erschienen, mag als Symbol dafür gelten. Die Demokratisierung Mitteleuropas und die Selbstbestimmung der Völker, an der sich die deutsche Revolution von 1848 vergeblich versucht hatte, wurde Kriegsziel der Gegner, und es läßt sich insbesondere an der polnischen Propaganda verfolgen, wie gut der imperialistische Wille in diese Verkleidung einzugehen wußte und etwa die eigenen Absichten auf Ostpreußen als Aktion der „Be­ freiung" für die Deutschen selbst auszudeuten wagte, als Mittel, um ihnen zu einem moderneren, der Junkerkaste ledigen Staatswesen zu verhelfen. Auch Masaryk erläuterte das Programm der Entente als Programm der „Befreiung und Humanisierung des deutschen Volkes". In Wahrheit war die Förderung der Demokratie im Sinne von Weimar

Bismarck und der Osten ein Mittel zur Schwächung der europäischen Mitte, zum Abbau na­ mentlich jeder aristokratischen und militärischen Führung. „Make the world safe for Democracy !“ Demgemäß wurde die nationale Souve­ ränität, die nach der Verfassung vom deutschen Volke ausgehen sollte, mit allen nur erdenklichen Hypotheken belastet und vollends das Selbstbestimmungsrecht eine Waffe einseitigster Parteilichkeit und brutalen Diktats. Der „appel au peuple“ blieb den Objekten demo­ kratischer Befreiungspolitik überall da versagt, wo er mit Sicherheit für Deutschland auszugehen versprach und zum Teil schon in privater Form veranstaltet worden war. So mußten selbst aus der deutschen Ver­ fassung alle Hinweise auf den „Anschluß" unter Zwang gestrichen werden, so fand in Eupen-Malmedy nur eine scheinbare Volksab­ stimmung statt, im Osten wurde sie erst auf englischen Druck und auch nur in beschränktem Rahmen bewilligt. Aber da die Ergebnisse in Ost­ preußen, in Westpreußen und Oberschlesien so günstig für Deutschland ausfielen, wie der vorgefaßte Sachverstand der Entente in keiner Weise vermutet hatte, so wurden sie abermals an der zweiten und vollends an der dritten Stelle mit willkürlicher Parteilichkeit ausgelegt. Der Widersinn der Grenzziehungen im Osten, erklärbar nur als bewußter Abbau des preußischen Kerns deutscher Staatlichkeit, wurde damit ins Groteske gesteigert. Es entstanden jene Umklammemngen und Durch­ schneidungen, die Deutschland bis zur Oderlinie aufreißen. Das alles sind bekannte Dinge, die sich leicht ins Einzelne verfolgen ließen. Aber das eigentliche Problem liegt tiefer: es liegt darin, daß auch bei gutwilliger Durchfühmng des demokratischen Selbstbestimmungs­ rechtes, auch bei unvoreingenommener Grenzziehung und unter Beiseitsetzung der destruktiven Absichten von 1919, daß auch dann der Nationalstaat in der Ostzone Mitteleuropas wirklichkeitsfremde und lebensfeindliche Theorie bleiben muß, daß er sich nur aufbauen läßt auf Kosten des Deutschtums und daß er dabei die Nachbarvölker selbst in ein Nessus-Hemd zwängt. Die Ideen von 1789, fragwürdig schon in ihrer Anwendbarkeit auf den deutschen Gesamtbereich, — sie haben sich in der Wanderung von Westen nach Osten sichtlich erschöpft. Sie sind historisch der Willensausdruck einer souverän gewordenen, einer zentralistisch zusammengefaßten, einer überwiegend bürgerlichen Na­ tion, sie waren die Waffe ihres Hegemonischen Anspruchs, einer spe­ zifisch französischen Missionsidee. Und französisch-hegemonisch war ja auch die Errichtung der „Trabantenstaaten" im Osten dem Ursprung nach gedacht, die alte Barrierenpolitik des französischen Königtums

Scheinlösung von 1919 und Versuche ideologischer Anpassung erlebte ihre Auferstehung in der zeitgemäßeren Form des Selbstbe­ stimmungsrechts. Aber die Realität der östlichen Randzone läßt sich von dem Staats- und Nationalgedanken, der hier aufgerufen wurde, nicht überdecken. Sie hat — dem Grad nach verschieden, im Prinzip durchgehend — zur Entstehung völkisch gemischter Gemeinwesen ge­ führt. Sie widerspricht der Proklamierung der „nation une et indi» visible“ in allen ihren Elementen, in den geographischen und wirt­ schaftlichen, den ethnischen und sozialen Voraussetzungen aufs ent­ schiedenste. Es fehlt nicht an Versuchen, diese Kluft zwischen Idee und Wirk­ lichkeit zu überbrücken. Vielleicht den bedeutendsten hat Masaryk noch im Sturmjahr 1918 unternommen. In die Kreuzzugsvorstellungen des Westens brachte er die spezifisch östliche Note hinein, den Anspruch, daß die Kleinvölkerzone aus ihrer eigenen Idee slawischer Brüderlich­ keit eine bessere Weltordnung verwirklichen werde. Wie die Tschechen als Volk zuerst die Autorität der mittelalterlichen Theokratie zerbrochen und wie die Hussiten das reinste Christentum verwirklicht hätten, so seien Demokratie und Nationalstaat von Osten her gegen die mittel­ alterlichen Überbleibsel, Preußen, Österreich und die Türkei gerichtet. Im Namen der gleichen Humanitätsidee, mit der Palacky einst die Donau­ monarchie rechtfertigte als slawisch beherrschten Völkerstaat und als Abwehr des nationaldeutschen Prinzips, wird von Masaryk nun der historische Staatsgedanke als „Etatismus" verworfen und doch wieder — für die Tschechoslowakei mitbenutzt. Seine Begründung findet das in der besonderen Jdealisiemng der „kleinen Völkel. Ihre Befreiung wie die des „kleinen Mannes" hat in der internationalen Politik wie in der staatlichen Verwaltung das Prinzip der Sittlichkeit und der Allmenschlichkeit zum Gehalt. In etwas kühlerer Form ist diese Prophetie auch vom Westen übernommen worden. Als Beispiel dafür mag der Vortrag dienen, den der Franzose Louis Eisenmann 1928 auf dem internationalen Historikerkongreß in Oslo gehalten hat. Unter dem Titel „Einige neue Aspekte der Idee der Nationalität" wird hier der „Fortschritt" geschildert, den der Nationalstaat durch seine Wanderung von den großen Völkern Mitteleuropas zu den kleineren östlichen Nachbarn vollzogen habe. Das sei ein Übergang gewesen, so meint der französische Historiker, im Sinne der Vergeistigung, im Sinne des Primats der Kultur vor der Politik, ein Übergang von der Macht der Zahl, die sich in der Ei­ nigung Deutschlands und Italiens offenbarte, zu einer Rechtfertigung

Bismarck und der Osten der Eigenstaatlichkeit int Dienst an der Menschheit. Wenn nach einem bekannten Leitwort die deutsche Entwicklung vom „Weltbürgertum zum Nationalstaat" verläuft, so soll demnach im Osten die Linie sich gewissermaßen umgekehrt haben. „Die kleine Nation kann ihren Un­ abhängigkeitsanspruch nur auf die Dienste stützen, die sie der Humanität geleistet hat und leisten wird." Ihr Recht ruht nicht mehr in sich selbst, sondern im Urteil der andern. Die großen Staaten legitimieren sich durch ihre eigene Kraft, die kleinen, die aus einem universalen Krieg hervorgegangen sind, bedürfen des Beifalls einer universalen Instanz, sie verkörpern insbesondere vermöge des „Minderheitenschutzes" einen neuen Sieg der Gewissenfreiheit, die Synthese von Nationalität und Jnternationalität. Aber auch durch diese Konstruktion ist die geschichtliche Wirklichkeit unaufhaltsam durchgebrochen. Das demokratische Prinzip hat ganz gewiß dem Osten keine „Vergeistigung" der nationalen Kämpfe zu bringen vermocht. Die Zerschlagung der alten Staaten hat vielmehr die bisherigen Reibungen verschärft und vervielfacht. Es sind durchweg Nationalitätenstaaten entstanden, aber behaftet mit der nationalstaat­ lichen Mentalität, mehr an Ungarn als an Cisleithanien erinnernd (Steinacker). So ging seit 1919 hinter dem offiziellen Staatsfrieden ein bitteres Ringen der Völker einher, ein Verdrängungs- und Ver­ nichtungskrieg, vor allem — aber keineswegs allein — zu Lasten der 7,2 Millionen Deutschen, die in die Randzone Mitteleuropas einge­ sprengt sind. Im ganzen gehören von den 90 Millionen, die zwischen deutscher und russischer Grenze leben, 30 Millionen nicht zum „Staats­ volk." An ihnen hatsich das parlamentarische Mehrheitsprinzip durchaus als Hebelkraft des Chauvinismus erwiesen, und man kann sagen, daß ein wesensmäßiger Widerspruch besteht zwischen dem Prinzip der bürgerlichen Demokratie und dem der nationalen Duldung oder gar der Kooperation. Die „Minderheitenschutzverträge" der Versailler Ordnung waren daher in aller Regel widerwillig übernommene Hypotheken, „Hilfskonstruktionen der nationaldemokratischen Pseudomorphose" (Jpsen), und schon das Wort „Minorität" zeigt deutlich den Ursprung aus westlichem Denken an: es stammt aus einer rein zahlen­ mäßigen Auffassung und enthält ein unverkennbares Werturteil. Dieses Urteil zu vollstrecken, d. h. die lästigen Abweichungen vom „Normaltypus" zu beseitigen, haben sich denn auch die meisten der jungen Staaten mit allen Mitteln bemüht. So hat die Übertragung

des Nationalstaatsgedankens und des Mehrheitsprinzips auf den Osten

Durchbruch der östlichen Wirklichkeit Folgen gehabt, die jedenfalls sehr wenig gemein haben mit der Vor­ stellung einer sich ausbreitenden Humanität. Es genügt indessen nicht, die Fortschrittsideologie der westlichen Ge­ schichtsauffassung zu kritisieren. Sie ruft vielmehr zu einem positiven Gegenbild aus den Überlieferungen der europäischen Mitte auf, die in jene Wanderbewegung nach beiden Seiten hin schicksalsmäßig ver­ flochten ist und die auf der mittleren Etappe, in der Zeit Bismarcks, um eine eigene Form ihrer Gestaltung gerungen hat. Mit besonderer Dringlichkeit wird somit die Tragweite, man darf wohl sagen, die Verantwortlichkeit der deutschen Geschichts- und Staatsanschauung, wie sie an den Ereignissen von 1866 und 1870 erwuchs, heute erneut zur Debatte stehen. Daß vom Vollzug der Reichsgründung wie von der Art ihrer geistigen Bewältigung geschichtsbildende und wirklich­ keitsformende Kräfte erster Ordnung gerade nach Osten hin aus­ strahlen mußten, kann nicht bezweifelt werden. Auch diese Mittelstufe zwischen 1848 und 1919 bildet einen entscheidungsschweren Abschnitt im Prozeß der Nationalisiemng Europas, auch sie schon hat die Nationali­ tätenkämpfe in den Grenzmarken verschärft und ist dem Deutschtum draußen schwer auf den Nacken gefallen. Um so mehr wird nach dem wirklichen Standort zu fragen sein, den das Bismarcksche Reich als eigentümlicher Typus eines nationalen Staates in diesen Zusammen­ hängen einnimmt.

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Die Frage, zu der wir kamen, bedarf noch einer zweiten rück­ greifenden Erörterung, ehe sie ausdrücklich aufzunehmen ist. Mit der Wandemng des nationalen Prinzips von Westen nach Osten durch­ kreuzt sich, wenn man so sagen darf, eine Wandemng in Deutschland selbst, die von Osten nach Westen geht. Das gilt zunächst im äußeren Sinne der Bevölkemngsverschiebung, der Verlagemng des wirtschaft­ lichen und sozialen Schwerpunkts, was ja ein sehr bekannter Vorgang ist und hier nicht geschildert zu werden braucht. Aber auch im poli­ tischen Bewußtsein macht sich dieser Wandel entscheidend geltend und überschattet im Verlauf des 19. Jahrhunderts den Osten immer mehr. In den Tagen Napoleons war er die Wiege der Romantik, die über die deutschen Grenzen hinaus und auf den Wegen Herders den Volks­ tumsgedanken, die Achtung vor der ursprünglichen Kraft grade auch der jüngeren Kulturen erweckt hat. Und der gleiche Osten war die Wiege der preußischen Staatsreform und der deutschen Erhebung von 1813.

Bismarck und der Osten Die Erinnerung daran und das politische Eigenbewußtsein, das aus ihr erwuchs, haben sich die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hindurch fmchtbar erwiesen. Sie gingen eine eigentümliche Verbindung mit den Traditionen des preußischen Ordensstaates ein. Liberalismus und Romantik, bürgerliche und adelige Bewegung durchdrangen einander. So ist Ostpreußen im Vormärz eine fortschrittliche, in der politischen Bewegung führende Provinz gewesen. Als der spätere Kultus­ minister v. Eichhorn 1840 nach den Gründen dieser merkwürdig geschlossenen geistig-politischen Haltung fragte, da empfing er die charakteristische Antwort: „daß die Sonne in der Provinz Preußen immer früher aufgehe und daß Kopernikus sie dort habe zuerst still stehen lassen!" Es war nicht nur ein provinziell-partikularistisches Selbstgefühl, das solche Worte eingab, nicht nur eine Antwort auf den Überlegenheitsglauben, mit dem schon damals der liberale Westen und Südwesten auf „Ostelbien" herabzusehen begann, sondern es meldete sich hier das Bewußtsein einer eigenen, für die staatliche Entwicklung Deutschlands vorbildlichen Aufgabe. „Wir sind nicht bloß eine Provinz, wir sind ein Land," so bekam es I. G. Dropsen noch 1851 in Königsberg zu hören. Vermächtnisträger dieser Tradition ist vor allem der preußische Oberpräsident Theodor v. Schön gewesen. In sehr eigenwilliger Form erhob sich durch ihn noch einmal der alte preußisch-kolonisa­ torische Gedanke: liberal-aristokratisch gegenüber der bevormunden­ den Berliner Bureaukratie, dem „katholischen" System der Be­ amtenherrschaft, das die Verantwortung lähme, durchaus bestrebt, aus der Selbstbestimmung der Persönlichkeit die stärksten moralischen Antriebe für den Staat herauszuholen, aber abwehrend das demo­ kratische wie das nationalstaatliche Prinzip. So sehr Schön das Wort „vox populi vox dei“ zu gebrauchen liebte, so sehr er individuelle Charaktere, individuelle Gemeinschaften zu schätzen geneigt war, ihre Entfaltung, ja ihre Entstehung überhaupt sah er an die Zucht des Staates gebunden. Staatliche Hoheit allein hatte im Osten zwischen den Völkern Frieden und zwischen Menschen verschiedenen Blutes Kultur verwirklicht, sie vertrat für Schön das „Reich der Freiheit", die Nation „die bloße Natur". Auf diesem Boden war der Staat als sittliche Idee nicht theoretische Doktrin, sondern gegenständliche ge­ schichtliche Erfahrung. Nicht „aus der Masse der Volksgedanken" sondern „von oben" komme das Licht: mit stärkster Steigerung und Übersteigerung hat das Schön namentlich unter den Eindrücken des Revolutionsjahres vertreten. Nationalität kann nicht „wichtigste und

Ostdeutschland als politischer Standort alleinige Staatsbasis" sein, das war durchaus vom Osten her gedacht und wurde auf ihn angewandt, wenn Schön an Droysen schrieb, die Litauer und Kassuben und Wenden und Polen und Tschechen könnten nicht singen: „Soweit die deutsche Zunge reicht". Die Nationalitäten seien nur „die Tasten" des Pianoforte. „Die Idee des Staates ist der Gmndton der Kultur, die Nationalitäten sind Nebentöne, welche ihm folgen." Ja, Schön ging so weit, Holstein das Verbleiben im dänischen Gesamtstaat zuzumuten, damit „Moralität und Intelligenz" nach Kopenhagen dringe! Das war ein Standpunkt, sehr persönlich und sehr zugespitzt, nicht ohne aufklärerische Nachklänge, aber doch bodenständig und reich an Perspektiven, die bei Bismarck wieder aufleben werden. In schroffem Widerspruch dazu stand alles, was von Westen her an den preußischen Staat herandrängte. Nachdem der rheinische Liberalismus ihn 1848 vergeblich in Besitz zu nehmen versucht hatte, arbeitete sich unter der Decke der Reaktionspolitik der fünfziger Jahre die bürgerliche Be­ wegung empor, die eines von freiheitlichem Geist erfüllten aber auch machtvoll zusammengefaßten Staats- und Wirtschaftsraums bedurfte. Schon der Schwerpunkt des Nationalgedankens von 1848 hatte durch­ aus im Westen, namentlich im Südwesten gelegen, im alten „Reich"; von der Politik zurückgeworfen, kompromißwillig gemacht in den Formen des Gothaertums und des Nationalvereins, so drängten die führenden Kreise der sozial fortgeschrittenen Landschaften auf den ge­ schlossenen Nationalstaat hin. Uber die alten Landesgrenzen und über die Mainlinie hinweg stieg die Welle an, materielle und ideelle Kräfte eng verbündet, auf die Einigung, auf die Staatswerdung des Volkes in realistischer Bescheidung aber auch mit wirklichkeitsfroher Energie, mit fortschrittlichem Optimismus gerichtet. Nicht zufällig hatte der Nationalliberalismus seine Hochburgen in der mittel- und klein-staat­ lichen Welt, in Süddeutschland und in den neupreußischen Gebieten. Auch bei den Dynastien und den Mediatisierten fand die liberale Nationalpartei Eingang, nach Belgien und nach England wiesen hier die Verbindungen. Dahinter aber stand als der offizielle Sachwalter des Prinzips der Nationalität das Frankreich Napoleons III., lockend und bedrohlich zugleich. Von Westen und gegen Westen mußte die nationale Entscheidung fallen, nur wenn der preußische Staat das Bündnis mit den modernen Kräften vollzog, die ihn umwarben, konnte er seine nächste Mission erfüllen: die Einigung des engeren Deutschland und die Verteidigung des Rheins. Auch der preußische

Bismarck und der Osten Osten hat zu dieser kleindeutsch-liberalen Strömung seinen sehr energischen Beitrag geliefert, in „Junglitauen", dem Kristallisations­ kern der Fortschrittspartei. Aber die Führung lag nicht bei ihm, und der Liberalismus, der insbesondere aus wirtschaftspolitischen Gründen in Ostpreußen herrschte, schlug bald nach der Reichsgründung um. Darnach aber ist Ostelbien mehr und mehr „Provinz" geworden, eine Provinz, der gerade die jüngeren, in das Reich hineingeborenen Schichten der Nation zum guten Teil entstammten, die jedoch int natio­ nalen Bewußtsein nicht mehr lebendig war oder ihrer sozialen Struktur wegen bekämpft wurde. Und doch war aus diesem Ostelbien der Mann emporgewachsen, der die Einheit von 1866 und 1870 gründete: bei aller Beweglichkeit des Handelns tief verwurzelt im geschichtlichen Raum. Nicht vom deutschen sondern vom preußischen und europäischen Boden her hatte er die Aufgabe gemeistert, im Bunde wohl mit der liberalen und nationalen Bewegung, unter starken Anleihen bei dem Verfassungs­ entwurf der Paulskirche, notfalls bereit auch mit nationaldemokra­ tischem Winde zu segeln und doch im letzten staatlich-autonom und an allen Kreuzwegen den liberalen Wünschen entgegen. So zeigte es sich insbesondere bei den beiden Grenzlandfragen, mit denen seine große Aktion begann: Polen und Schleswig-Holstein. Es war nicht nur diplomatische Rücksicht, nicht nur die taktische Lage des preußischen Verfassungskonflikts und die Notwendigkeit, den König festzumachen, was Bismarck auf so unpopuläre Bahnen trieb. Die reale Einsicht in die Bedingungen des Einigungswerkes wirkte vielmehr mit grundsätz­ lichen politischen Motiven zusammen, die noch zu schildern sein werden. Jedenfalls entsprach die Methode und die Form, in denen es zum Neubau des Reiches kam, dem Wunschbild der öffentlichen Meinung oder gar den westeuropäischen Idealen wenig genug: Dem Parlament war nur ein schmaler Spielraum neben der monarchischen Prärogative und der überragenden Stellung des Kanzlers verstattet, mit den uni­ tarischen Einrichtungen waren die förderativen und die altpreußischen eigentümlich verschränkt, vor allem ragte das altpreußische Heer mit allem, was an Wägbarem und Unwägbarem daran hing, tief in die neuen Lebensformen des deutschen Volkes hinein, äußere Grenz­ ziehung und innere Machtverteilung waren entscheidend von mili­ tärischen Rücksichten, von dem Bedürfnis der Selbstbehauptung be­ stimmt. In den gleichen Jahren erfochten die „modernen" Ideen in Westeuropa neue Siege: Napoleon lenkte in liberale Bahnen ein, in

Bismarck und der Zeitgeist England wurde 1867 das Wahlrecht reformiert, die Nordstaaten be­ hielten die Oberhand im amerikanischen Sezessionskrieg; selbst die Reformära unter Alexander II. und den österreichisch-ungarischen Aus­ gleich könnte man nennen. So ist in einer neueren Geschichte der Reichsgründung geurteilt worden, sie sei geschehen „dem Geist der Zeit entgegen", eben deshalb habe sie vergänglich sein müssen. Aber wie es in der deutschen Entwicklung zu geschehen Pflegt, liegt hier das eine Extrem der Beurteilung dicht neben dem anderen. Hat nicht umgekehrt der Zusammenbruch des Bismarck-Reichs erwiesen, daß es — allzusehr mit dem Geist der Entstehungszeit verwandt — den Keim der Zerstörung von Anfang an in sich trug, hat es sich nicht abdrängen lassen vom Wesen deutscher Staatlichkeit und sich in der Wurzel vergiftet gerade durch die Berührung mit den „modernen" Ideen des Westens, durch die Annäherung schon an die Lebensformen des Liberalismus und der Demokratie, an das Ziel der Nationalisierung und der Zentralisierung? Die ganze Entwicklung des 19. Jahrhun­ derts erscheint so mehr oder weniger als ein Irrweg der deutschen Geschichte, als ein immer stärkeres — und durch Bismarck besiegeltes — Abgleiten von der Idee des preußischen Staates, der schon einen „sozialistischen" Gehalt gehabt habe als man im Westen noch „liberal" war, der — aus gemischtnationalem Bestände erwachsen — unbürger­ lich und förderativ in seinem Aufbau gewesen sei. Die Westwärts-Wendung und Verdeutschung Preußens habe zu einer Erstarrung, einer Selbstgenügsamkeit im Raume geführt, die an den entscheidenden Aufgaben der östlichen Völkerzone vorbeiging und die aus hündischem Geist überwunden werden muß, wenn das Schicksal des deutschen Volkes wie das seiner mitteleuropäischen Anrainer sich wenden soll. „Die geschichtlichen Schwerpunkte verschieben sich in Europa von Westen nach Osten, von den festen Grenzen, die jede vorschreitende Geschichtsbildung zurückläßt, zu den offenen, auf die hin sich zukunftsgeschichtliches Wachstum bewegt." — Das waren Gedanken, wie sie namentlich Möller van den Bruck in einer großartigen Vision entwickelt hat, vom preußischen „Königssozialismus" schlug er die Brücke zum „Sozialismus der jungen Völker", und er setzte der liberal-demokratischen Idee individueller und nationaler Selbstbestimmung ein körperschaftliches Prinzip, eine Gleichung sozialer und völkischer Eigenständigkeit entgegen. Auf seinen Bahnen hat sich dann, dem Osten zugewandt, eine „neupreußische" Ideologie entwickelt, für die (mehr oder weniger ausgesprochen) das Jahr 1866/67 mit den westdeutschen Annexionen Preußens, mit der

Bismarck und der Osten Einführung des allgemeinen Wahlrechts, mit der Hereinnahme der preußischen Ostprovinzen in den norddeutschen Bund und mit der liberalen Wirtschaftsgesetzgebung — der eigentliche Sündenfall ist. Gerade wer — nicht erst seit gestern und heute — die Ansicht ver­ tritt, daß in solchen Auffassungen ein geschichtlich sehr berechtigter Kern steckt und daß aus sehr allgemeinen Zusammenhängen jene inner­ deutsche Wanderung von Osten nach Westen rückläufig geworden ist, — wird um so mehr verpflichtet sein, vor Übertreibungen zu warnen. Es ist nun einmal so, daß Deutschland „in der Mitte" liegt, daß es nicht nur in denjenigen Raum breit hineinragt, dem der Nationalstaat aller­ dings wesensmäßig ein Fremdkörper ist, sondern daß es zugleich den „Westen" in sich selbst enthält, daß es gegen Frankreich eine Grenze hat, die nur auf dem Boden des nationalstaatlichen Prinzips verfestigt werden konnte, daß es im Bereich industrieller und städtischer Ent­ wicklung zu sozialen Stmkturen gelangt war, die denen der älteren Völker entsprachen und auch von ähnlichen politischen Ideen be­ gleitet sein mußten oder mindestens zur Auseinandersetzung mit ihnen zwangen. Nicht um sklavische Nachahmung, sondern zu gutem Teile um nationale Verselbständigung hat es sich dabei gehandelt. Und es läßt sich schwer absehen, wie eine Autonomie Deutschlands gegenüber den Mächten des Westens, wie ein Nachholen der Versäumnisse klein­ staatlicher Vergangenheit, wie eine Überwindung des „gottlosen Souveränitätsschwindels" partikularistischer Dynastien, nicht zuletzt auch des preußischen „Partikularismus", über den Bismarck so oft geklagt hat, — wie all das hätte verwirklicht werden sollen ohne nach­ drücklichen Appell an die Kräfte der bürgerlichen Bewegung, ohne einen starken Zustrom nationalen und liberalen Willens. Wie man in der Epoche der kleindeutschen Reichsgründung, gerade unter den Ge­ schichtsschreibern, die seine Herolde waren, das mittelalterliche Kaiser­ tum als eine Verirrung anzusehen geneigt war, so droht heute (mit der Erneuerung dieser Stimmungen aus sehr anderen Quellen) die gleiche Gefahr auch gegenüber einem zweiten Höhepunkt deutscher Größe. Der historisch echte Charakter des Bismarck-Reichs, einschließlich seines liberalen Jahrzehnts, wird dabei mit Entartungserscheinungen verwechselt, die sich erst in der Wilhelminischen Epoche ausbreiteten. Aber auch nach 1918 noch ist personell und ideell der Abwehrkampf gegen Westen, der Kampf um die Rückgewinnung deutscher Freiheit, zu gutem Teile, um es so auszudrücken, aus „nationalliberalem" Be­ stände geführt worden. Und ein Weiteres bleibt zu bedenken: Die

Deutschland als „Reich der Mitte“ Überzeugung von der besonderen Aufgabe Deutschlands nach Osten hin ruht nicht zum wenigsten offenbar darauf, daß es die Probleme des Parlamentarismus und des Nationalstaats in sich selbst schicksalsinäßig auszutragen hatte, daß es — wie so oft schon—Schlachtfeld der Ideen war. Seine Front ist weder östlich noch westlich, sondern beides und im Gmnde — kreisrund.

Aber im Rahmen dieser Zwei- und Allseitigkeit stellen allerdings die östlichen Züge des Bismarckschen Reiches ein besonderes und akutes Problem dar. Wer immer in den letzten Jahren sich mit der Bündnispolitik Bismarcks, mit dem merkwürdigen Hineinragen mo­ narchisch-konservativer Elemente in sie oder mit seiner Haltung gegen­ über den Ausländsdeutschen, mit seiner sozialen Kampfpolitik, seinen berufsständischen Organisationsplänen oder gar dem Staatsstreich­ gedanken von 1890 beschäftigte, der mußte auf das Urteil gefaßt sein, daß es sich dabei um reaktionäre Rückstände oder um rein taktische Aus­ hilfen, vielleicht sehr bedenklicher Art, handle. Die These, die dem­ gegenüber hier vertreten werden soll, besagt, daß Bismarcks Werk in seinem Wesen nicht voll zu erfassen ist, wenn es als Nationalstaat „wenngleich unvollkommener Art" vorgestellt wird. Es gehört zu seinem Grundcharakter und zu seiner die Gegenwart übergreifenden Bedeutung, daß der Reichsbaumeister mit allen Kräften darum rang, den Lebenszusammenhang zwischen Mittel- und Osteuropa auf seine Weise „in Form" zu bringen, — durch Mittel und durch Ziele, die allerdings abweichen von der Gedankenwelt der westlichen Nationen und die doch mehr und anderes bedeuten als bloß opportunistische oder, wie man zu sagen liebt, „realpolitische" Anpassungen an eine Lage, die das „Vollkommene" eben nicht zuließ, die nicht erlaubte, das Ideal des bürgerlich-demokratischen Einheitsstaates oder das Ideal der Deckung von Staat und Volk in den Formen der Nation zu verwirk­ lichen. Bismarcks Handeln und Denken „dem Geist der Zeit entgegen", das hier weder kompromißlerisch verwischt noch nach ästhetisch-litera­ rischen Maßstäben verherrlicht werden soll, enthält in merkwürdiger Verbindung überlieferte und zukunftsträchtige Tendenzen des deutsch­ kolonialen Raums. Noch schärfer ausgedrückt: es gibt eine autonome Ostseite des Reiches, es gibt wesentliche Züge in Bismarcks Politik und Staatsanschauung, die gewiß altertümlich wirken, aber keine bloßen Rückstände sind, „Unvollkommenheiten" im Sinne des 19. Jahr­ hunderts, aber Ahnungen „kommender Dinge", fruchtbare Ansätze,

Bismarck und der Osten ja Vorbildlichkeiten, wenn man sie nicht am Westen mißt, sondem in den Osten hineindenkt. Diese Auffassung wird nunmehr an einigen Hauptpunkten des konkreten Tatbestandes, den das Thema „Bismarck und der Osten" umschließt, zu überprüfen und auf ihre allgemeingeschichtliche Trag­ weite hin zu untersuchen sein—, soweit das in knappen Zügen möglich ist.

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Am kürzesten darf dabei der Bericht über die rein außenpoli­ tische Seite des Problems gehalten werden. Es wurde bereits jenes frühe Zeugnis aus dem Jahre 1848 berührt, in dem Bismarck die liberale Nationalpolitik in Posen so schneidend verwarf und in dem er zugleich äußerte: „Ich hätte es erklärlich gefunden, wenn der erste Aufschwung deutscher Kraft und Einheit sich damit Luft gemacht hätte, Frankreich das Elsaß abzufordern und die deutsche Fahne auf den Dom zu Straßburg zu pflanzen." Die Richtung also, in der ein elementares Nationalbewußtsein Hörner und Klauen nach außen bekam, lag auch dem Junker von Schönhausen nicht fern. Aber was er im Vergleich zu der selbstmörderischen Anwendung „schwärme­ rischer Theorien" auf den Osten immerhin im Westen „erklärlich" fand, das ist doch keineswegs die Hauptlinie seiner amtlichen Politik geworden. Sie war „waffenmäßig"-preußisch und staatlich-autonom. Die volle Leidenschaft des nationalen Gefühls, die Bewegungen des „Acheron" hielt Bismarck wohl als Hebelkraft des Existenzkampfes bereit, er war sich schon in den 50er Jahren bewußt, daß Preußen zu solcher Entfesselung imstande sei und daß es „nichts Deutscheres" gebe als „grade die Entwicklung richtig verstandener preußischer Partikularinteressen". Er befreite diese Interessen vom konservativen Naturrecht, aber er stellte sie auch nicht unter das Gebot der national­ staatlichen Theorie. Er folgte keiner „selbstgemachten" Pflicht, keiner abstrakten Idee von deutscher Einheit, er sah sie als etwas Werdendes, das aus dem Gegebenen herauszuarbeiten war, und er weigerte sich in jeder Form, politisch wie militärisch, „Vorsehung " zu spielen. Diese Absage an den „Stein der Weisen", die Beweglichkeit, das Aufgehen in den Forderungen der jeweiligen Lage ist jedoch etwas grundsätzlich anderes als opportunistische Anpassung. Das zeigt u. a. die Zähigkeit, mit der Bismarck um eine Lösung der deutschen Frage gerungen hat, die von der geschichtlich-staatlichen Gegebenheit ausging, um eine

Bismarck und der Osten ja Vorbildlichkeiten, wenn man sie nicht am Westen mißt, sondem in den Osten hineindenkt. Diese Auffassung wird nunmehr an einigen Hauptpunkten des konkreten Tatbestandes, den das Thema „Bismarck und der Osten" umschließt, zu überprüfen und auf ihre allgemeingeschichtliche Trag­ weite hin zu untersuchen sein—, soweit das in knappen Zügen möglich ist.

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Am kürzesten darf dabei der Bericht über die rein außenpoli­ tische Seite des Problems gehalten werden. Es wurde bereits jenes frühe Zeugnis aus dem Jahre 1848 berührt, in dem Bismarck die liberale Nationalpolitik in Posen so schneidend verwarf und in dem er zugleich äußerte: „Ich hätte es erklärlich gefunden, wenn der erste Aufschwung deutscher Kraft und Einheit sich damit Luft gemacht hätte, Frankreich das Elsaß abzufordern und die deutsche Fahne auf den Dom zu Straßburg zu pflanzen." Die Richtung also, in der ein elementares Nationalbewußtsein Hörner und Klauen nach außen bekam, lag auch dem Junker von Schönhausen nicht fern. Aber was er im Vergleich zu der selbstmörderischen Anwendung „schwärme­ rischer Theorien" auf den Osten immerhin im Westen „erklärlich" fand, das ist doch keineswegs die Hauptlinie seiner amtlichen Politik geworden. Sie war „waffenmäßig"-preußisch und staatlich-autonom. Die volle Leidenschaft des nationalen Gefühls, die Bewegungen des „Acheron" hielt Bismarck wohl als Hebelkraft des Existenzkampfes bereit, er war sich schon in den 50er Jahren bewußt, daß Preußen zu solcher Entfesselung imstande sei und daß es „nichts Deutscheres" gebe als „grade die Entwicklung richtig verstandener preußischer Partikularinteressen". Er befreite diese Interessen vom konservativen Naturrecht, aber er stellte sie auch nicht unter das Gebot der national­ staatlichen Theorie. Er folgte keiner „selbstgemachten" Pflicht, keiner abstrakten Idee von deutscher Einheit, er sah sie als etwas Werdendes, das aus dem Gegebenen herauszuarbeiten war, und er weigerte sich in jeder Form, politisch wie militärisch, „Vorsehung " zu spielen. Diese Absage an den „Stein der Weisen", die Beweglichkeit, das Aufgehen in den Forderungen der jeweiligen Lage ist jedoch etwas grundsätzlich anderes als opportunistische Anpassung. Das zeigt u. a. die Zähigkeit, mit der Bismarck um eine Lösung der deutschen Frage gerungen hat, die von der geschichtlich-staatlichen Gegebenheit ausging, um eine

Bismarck und der Osten als außenpolitisches Problem dualistische Lösung, bei der die beiden deutsch-europäischen Mächte Preußen und Österreich gemeinsam das engere nationale Deutschland beschützen und leiten sollten. Bis in den Sommer 1865 und darüber hinaus läßt sich diese Linie des „friedlichen Dualismus" verfolgen, die trotz einer für Preußen günstigen taktischen Lage das Bündnis mit der nationalen Revolution vermied und so den Vollzug der Trennung vielleicht ersparen konnte. Sehr mit Recht äußerte der österreichische Gesandte Graf Blome, die kleindeutschen Tendenzen würden für Öster­ reich weit nachteiliger sein als „Herrn von Bismarcks unpopuläres Regiment". Auch nach dem Bruch von 1866 lebte diese Linie noch einmal wieder auf. Die Beschränkung der Einigung auf Norddeutsch­ land ergab sich nicht nur aus der taktischen Rücksicht auf Frankreich sondern hatte tiefere Gründe. Ein willkürliches, subjektiv bestimmtes Eingreifen in die Geschichte habe nur „das Abschlagen unreifer Früchte" zur Folge, so schrieb Bismarck 1869 an den Gesandten v. Werthern. Was in solchen und ähnlichen Zeugnissen zu Worte kommt, ist die Ab­ wehr literarisch konzipierter Ideale, oder wie es in dem Erlaß heißt, einer „impotenten Unbekanntschaft mit den Realitäten", ist ein Be­ wußtsein des Wartenkönnens und eine letztlich im Luthertum wur­ zelnde Haltung verantwortlicher Hingabe an die Wirklichkeit. Die Gemeinsamkeit konservativ-staatlicher Interessen in Mittel- und Ost­ europa hat Bismarck damals erneut zu stabilisieren versucht, bis dann der unvermeidlich werdende Krieg mit Frankreich ihn in den vollen Strom der nationalen Bewegung zwang. Im Zeichen dieses Bünd­ nisses wurde Elsaß-Lothringen dem Reich zurückgewonnen, wurde also jene Sehnsucht erfüllt, die Bismarck dem unklaren Enthusiasmus von 1848 entgegengehalten hatte. Damit erreichte die Grenze des neuen deutschen Gemeinwesens im Westen eine Gestalt, die vom ob­ jektiven Prinzip des Volkstums her gesehen die vollkommenste in einer tausendjährigen Entwicklung war. Ausdrücklich suchte man im Wege des Tauschs die sprachlichen Verhältnisse mit den Forderungen der mili­ tärischen und politischen Sicherheit möglichst weitgehend in Einklang zu bringen. Hier fielen wirklich Staat und Volk zusammen, wie sie nach außen den Krieg gemeinsam geführt hatten. Aber für Bismarck selbst überwog in der Verbindung von Nationalitäts- und Sicherheits­ prinzip ohne Zweifel der staatlich-militärische Gedanke. Nicht unter nationalem Primat hat er den Rückerwerb vollzogen, die starke Beto­ nung des „Deutschredens" der Elsässer nannte er im September 1870 eine „Professorenidee", und sicherlich hat sein Wort vom „Glacis" das



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Bismarck und der Osten Wiedereinleben des alten deutschen Stammes in die nationale Gemein­ schaft erheblich belastet. Um so mehr will dieses Wort in seinem gesamtpolitischen Sinn gewertet sein. Der staatliche Machtgedanke bedeutete für Bismarck ein gestaltendes und zugleich ein mäßigendes Prinzip. Er enthielt eine Absage an die Naturkraft des Nationalismus, der Preußen-Deutsch­ land im Westen auf den Weg einer romantischen Reichspolitik verlocken mochte (Schweiz, Holland) und der im Osten seine Sehnen bedrohte. Und der gleiche Machtgedanke begründete die Notwendigkeit des Schutzes gegenüber einer Nation, die das revolutionäre Selbstbe­ stimmungsrecht zum Mittel ihrer Vorherrschaft zu machen gedacht hatte und die — nach Bismarcks Wort — „seit 300 Jahren die Gewohnheit hat, bei uns einzubrechen". Rückerwerb von Elsaß-Lothringen oder nicht, in jedem Fall war es für ihn eine Gegebenheit, daß Frankreich die Entscheidung von 1871 nicht als endgültig hinnehmen werde. So verband Bismarck die Errichtung des Bollwerks mit einer Bündnis­ politik, die gegen Westen insofern gerichtet war, als sie Frankreich die möglichen Anlehnungen entziehen, es weltpolitisch saturieren und die Kriegs- wie die Revolutionsgefahr von Mitteleuropa ableiten sollte. Damit wurde die Beziehung zum Osten, insbesondere zu Ruß­ land, in doppeltem Sinn, diplomatisch und gesamtpolitisch entscheidend. Sie war Ausgangspunkt und Rückhalt einst für die Begründung, jetzt für den Bestand des Reiches, Regulierungsort und Barometer der erstrebten „Gesamtsituation". Nur die Solidarität in der polnischen Frage von 1863 hatte die Isolierung der Einigungskriege ermöglicht, nur der Zutritt Rußlands zur Revanchepartei konnte die Entscheidungen von 1866 und 1871 rückgängig zu machen ermutigen, nur der panslawistische Durchbruch konnte jene revolutionäre Doppelfront ver­ wirklichen, das Bündnis von „Jakobinertum und Kosacken", von dem Bismarck mit den visionären Worten Napoleons I. sprach. Wenn überhaupt, so waren am ehesten über den russischen Draht und durch eine konservative Ostpolitik die zerstörerischen Kräfte abzuleiten, Ruß­ land in erster Linie hatte Krieg oder Frieden in seiner Hand. Daß dieser Tatbestand ein problematischer war und daß in ihm die Gefahr der Abhängigkeit Deutschlands von seinem östlichen Nachbarn lag, hat Bismarck keinen Augenblick übersehen. Spannung und Gefahr waren die Triebräder einer vorbauenden Politik. So verstärkte der mitteleuropäische Bündnisblock die Gegenfront, aber auch er wurde sorgsam auf eine östliche Gesamtlinie abgestimmt: Bismarcks Drei-

Gegen Nationalismus und Demokratie bund und Bismarcks Rußlandpolitik bedingten einander. Wie der Abschluß mit Österreich von 1879 keine endgültige Wendung gegen

Rußland, keinen Ansatz östlicher Erwerbslust oder liberaler Sympathieund Tendenzpolitik in sich barg, wie der Zweibund vielmehr die Wir­ kung hatte (und haben sollte), das Zarenreich erneut an Mitteleuropa heranzuziehen, so bewahrten Dreikaiserverhältnis und Rückversicherung Deutschland vor dem „Leitseil aus bulgarischem oder anderem Hanf gesponnen". Das „Verbrennen der Schiffe in russischer Richtung" war für Bismarck Preisgabe der deutschen Autonomie, war Botmäßig­ keit an Osterreich-Ungarn und an den Westen zugleich. Denn hier run­ det sich und vollendet sich schließlich der dynamische Zusammenhang, in den alle Einzelzüge dieser Politik verwoben sind. Wie die Bezie­ hung zu Rußland Frankreich isolierte, so zog sie England auf die Seite der Mittelmächte herüber; der Versuch, die Jnselmacht unmittelbar zum Bundesgenossen gegen Frankreich zu gewinnen scheiterte, aber indem Bismarck seinerseits jede Festlegung zu Gunsten der englischen Orientpolitik vermied und die liberalisierenden Wallungen derAnglophilen bekämpfte, gelang indirekt die Schließung des Kreises: In dem Maße, wie das deutsch-russische Verhältnis Bestand hatte, mußte die Jnselmacht um ihrer eigenen Interessen willen ein Stück „europäischer Verantwortlichkeit übernehmen. Das sind, aufs Knappste zusammengedrängt, die Grundzüge dieser außenpolitischen Kombination, sie hatte gewiß und gerade im Ver­ hältnis zu Rußland ihre inneren Schwierigkeiten, und sie beanspruchte nichts Endgültiges zu sein. Aber ebenso falsch wäre es, hier nur tak­ tische Aushilfen, nur das technische Virtuosentum oder gar die schwung­ lose Haltung einer reaktionären Spätzeit zu sehen. Eine große Macht kann — nach Bismarcks Ansicht—überhaupt nicht beliebige Wege ein­ schlagen. Und in der Tat: Die Grundzüge der Art, wie er die deutsche Selbstbehauptung mit der Staatsraison derAußenmächte verband, tauch­ ten schon in den 60er Jahren, schon in der Phase, da es das Reich erst zu gründen galt, mit aller Deutlichkeit auf. Sie bemhten nicht auf diplo­ matischen Tricks, sondern auf der Anschauung an sich vorhandener Tenden­ zen, die es nur produktiv zu gestalten galt. Diese Tendenzen wiesen im Osten auf primär staatliche, nicht auf rein völkische Grenzen, sie wiesen auf eine deutsch-russische Gemeinsamkeit, der es an sachlichen Streit­ gegenständen fehlte, sie wiesen auf die Solidarität der großen Mo­ narchien, die für Bismarck weit mehr war als ein klug benutztes Leit­ wort der Bündnispolitik und doch nicht der Selbsttäuschung eines

Bismarck und der Osten monarchischen Internationalismus verfiel. Denn in alledem handelte es sich um einen europäischen Ordnungsgedanken, um das Ethos der Macht, die sich selber Grenzen setzt, die nichts Missionarisches und Agitatorisches hat, sondern aus eigenem deutschen Interesse zugleich zum Garanten der Staatengesellschaft wird, es handelte sich um ein konservatives Prinzip der Objektivität und der Autorität, gerichtet gegen subjektive Willkür und liberale Kreuzzugsideen, gegen die spren­ genden Kräfte — letzten Endes gegen den Westen auch hier, gegen die Verbindung von Demokratie und Nationalismus. Man wird be­ rechtigt sein zu sagen, daß diese Grundanschauungen der Abwehr wie der Ordnung in den Tatsachen der Aufspaltung, wie sie im ganzen Osten Mitteleuropas geschehen ist und der gleichzeitigen Niederlage, die Deutschland und Rußland getroffen hat, nicht nur ihre geschichtliche Bestätigung gefunden haben (die gegenüber der Unwidermflichkeit revolutionären Durchbruchs müßig sein mag), sondern daß sie aus einer verwandelten Lage in einer neuen Form sich wieder zu erheben beginnen. Reaktionär war nicht das deutsch-russische Bündnis, sondern ist die liberale Konstruftion, mit der man die Zwischenzone aus dem deutschen und russischen Lebensbereich herausgeschlagen hat.

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Vor diesem Hintergrund steht Bismarcks deutliche Distanzierung vom nationalstaatlichen Prinzip, steht insbesondere seine östliche Nationalitätenpolitik. Es sei aus ihrem Bereich zunächst das­ jenige Problem aufgegriffen, das am engsten mit der russischen Bündnisftage verwoben ist, das Verhältnis des Bismarck'schen Reiches zum baltischen Deutschtum. Die Hauptlinie ist bekannt, es ist die strengster Enthaltung. In zahlreichen Aussprüchen, in unverbindlichem Gespräch, aber auch in amtlichen Zeugnissen hat Bismarck die Absage, ja die Preisgabe der ältesten deutschen Kolonie mit einer Schärfe vollzogen, die gegen alles heutige Empfinden geht. Die Äußerungen

brauchen hier nicht im Einzelnen angeführt zu werden. Zum Teil sind sie mehr scherzhafter Natur und in der Überlieferung unsicher wie

jenes vielzitierte friderizianische Wort, das er dem Jugendfteund Al. Keyserling zugerufen haben soll: „Kerls, wollt Ihr denn ewig leben!" Der ernste und sichere Kern, der hinter all solchen Äußerungen Bismarcks steht, mögen sie gelegentlich auch anekdotisch ausgeschmückt sein, liegt in dem immer erneuten Bemühen, das Scheinbild eines

Bismarck und das baltische Deutschtum „germanischen Drangs nach Osten", einer deutschen Annexionspolitik zu zerstören, durch das man den Zaren gegen das Nachbarland aufzu­ hetzen versuchte. Sehr charakteristisch ist, daß diese Minierarbeit nicht nur von den Panslawisten betrieben wurde, sondem auch im Westen Rückhalt besaß. Die erste Ausstreuung des Verdachts kam von dem intimen Gegner Bismarcks, dem Hessischen Rheinbund- Minister v. Dalwigk, auch die französische Politik beeilte sich, diese Waffe zu nutzen. So wurde noch in den Jahren der Reichsgründung selbst die Konsequenz, die sie eben nach Westen hin zu entfalten sich anschickte, die Einbeziehung der deutschen kleinstaatlichen Welt und der Ruf nach dem Elsaß, als Schreck- und Störungs-Mittel im Osten verwandt. Bismarck hat die „fremden Einflüsse" wohl erkannt, und es war ge­ wissermaßen die direkte Antwort auf die westlichen Parolen, wenn er bei der Dreikaiserzusammenkunft von 1873 dem Zaren gesagt haben soll, falls er in den Ostseeprovinzen russifiziere und dabei Vorwürfe erfahre, so könne er sich auf die deutschen Maßnahmen „in den neuen Landesteilen berufen und wir müßten das gelten lassen". Das Ge­ meinsame in dieser Parallele, die auf die völkischen Verhältnisse ja keineswegs zutrifft, konnte nur der Gesichtspunkt der Staatsraison und der Sicherheit sein, unter dem Bismarck selbst den Erwerb der „neuen Landesteile" (d. h. Elsaß-Lothringens) vollzogen hatte. — Mit noch sehr viel schärferen Worten bezeugte er im Krisenjahr von 1879 dem russischen Unterhändler Saburow das Desinteressement am baltischen Deutschtum. Die reichsdeutsche Politik unterlag somit in diesem Punkte Bin­ dungen, die für den preußischen Staat bezeichnender Weise noch nicht in gleicher Stärke bestanden hatten. Als preußischer Außenminister hatte es Bismarck im März 1865 unternommen, einen — in der Form freilich schon damals sehr vorsichtigen — Schritt zu Gunsten der be­ drohten baltisch-lutherischen Kirche zu tun. Es kam ihm dabei sicher mindestens so sehr auf die Verteidigung seiner Rußlandpolitik gegen innerdeutsche liberale Angriffe wie auf die Linderung der kirchlichen Nöte des Baltentums an. Immerhin: es war eine „Intervention", die nach einiger Verstimmung zum Erfolge mindestens beitrug. — Der Kanzler des Reichs, belastet gleichsam mit der Führerschaft des natio­ nalen Deutschland, mußte es strikte ablehnen, eine solche Haltung auch nur anzudeuten. Gerade indem das innere Deutschland national ge­ einigt wurde, galt es um so mehr, selbst den Schein einer pangermani­ stischen Politik zu vermeiden, deren Wirklichkeit Bismarck fern lag und

Bismarck und der Osten die doch eine einleuchtende Folge der Nationalstaatsbildung zu sein schien. So ist denn trotz aller Bemühungen Bismarcks die Rückwirkung nicht ausgeblieben, und es war kein Zufall, wenn unmittelbar nach Königgrätz die Welle der Russifizierung mit dem Sprachukas von 1867 begann. Es dürften fortan, so schrieb die Moskauer Zeitung, keinerlei „Vorposten" einer ftemden Nationalität mehr geduldet werden. Und ein Freund Katkows sagte 1869 zum preußischen Militärbevollmäch­ tigten in Petersburg: „wir müssen unsere Arbeit in den baltischen Provinzen vollenden, ehe Deutschland völlig konstituiert ist". Der ge­ waltige Umschwung in Mitteleuropa, wie er durch die deutsche Eini­ gung auch schon in ihrer beschränkten Form geschah, bot den Anreiz, an dem der Nationalismus in Rußland zur vollen Entfaltung kam. Bismarck hat das sehr wohl gesehen, er hat diesen Zusammenhang zwar zeitweise zu dämpfen und vor unnötigen Verschärfungen zu bewahren aber letzten Endes nicht wirklich zu verhindern vermocht. Insoweit war die „Preisgabe" des baltischen Deutschtums ein ver­ gebliches Opfer. Das ist die nächste und die schmerzlichste Seite des Problems. Sieht man näher zu, so zeigen sich indessen noch wesentlich andere Aspekte. Zunächst war die Enthaltung keineswegs nur ein taktischer Schachzug, der mit der Feststellung des Mißerfolges abzutun wäre, sie ruhte vielmehr auf der klaren Erkenntnis der geographischen und ethno­ graphischen Unmöglichkeit nordöstlicher Anektionspolitik, die den räumlichen wie den völkischen Verhältnissen widersprach. Sie ruhte auf der Ablehnung erst recht der imperialistischen Ausdehnung um der Ausdehnung willen, und nicht zuletzt auf einem Bewußtsein staats­ männischer Verantwortung, das noch heute für alle Grenzlandarbeit einen Zug des Vorbildlichen hat. Als im Dezember 1867 der national­ liberale Abgeordnete Loewe unter starken Ausfällen gegen die rußlandfteundliche Regierungspolitik eine Interpellation zu Gunsten des baltischen Deutschtums begründete, da antwortete ihm Bismarck: „Der Herr Vorredner sitzt hier in voller Sicherheit und spricht ganz unge­ niert. Was aber die Folgen seiner Worte für diejenigen sein werden, die er hat beschützen wollen, das wollen wir abwarten." Mit aller Schärfe betonte der Minister im Abgeordnetenhaus, daß man durch stimmungsmäßige Aufwallungen dem bedrohten baltischen Deutsch­ tum „keinen guten Dienst" erweise. Hier wie bei anderen Gelegen­ heiten nahm er in Anspruch, mit seiner Enthaltung „grade im In­ teresse der Beteiligten" zu handeln. „Es ist ja natürlich," schrieb er am

Intervention oder Enthaltung 5. April 1870 an den Gesandten in Petersburg, „daß wir die Be­ strebungen der deutschen Bevölkerung, ihre Nationalität und nament­ lich ihre Sprache zu bewahren, mit Teilnahme verfolgen; wir dürfen aber niemals vergessen, daß wir ihnen unsere Sympathie nicht besser betätigen können, als dadurch, daß wir sie nicht zeigen. Es mag hart scheinen, daß wir uns vollkommen gleichgültig dagegen verhalten; es ist dies aber in der Tat der beste Dienst, den wir den Balten leisten können. Ihnen selbst gegenüber wäre es ein Unrecht, durch Beweise von Teilnahme, die nur in Worten bestehen könnten, Hoffnungen auf Beistand zu erwecken, welche immer Illusionen bleiben müßten ..." In der Tat hat man auch von deutsch-baltischer Seite die Gefahr einer Propaganda in der deutschen Öffentlichkeit, wie sie von Emigranten betrieben wurde, sehr wohl erkannt. Ein Schreiben von G. Berkholz, dem führenden Kopf der „Baltischen Monatsschrift", bietet dafür in­ teressante Belege; es warnt geradezu vor der Analogie mit SchleswigHolstein, vor der Parole vom „verlassenen Bruderstamm". Und wenn dabei noch ein gewisses Mißtrauen des Liberalen gegenüber Bismarck mit im Spiele war, so will dieser selbst von seinen baltischen Freunden geradezu gebeten worden sein, alle Einmischung zu unterlassen. Jeden­ falls zeigt sich schon hier das tatsächliche Zusammenfallen der Interessen und Argumente, das hinter der „harten" Enthaltungspolitik steht. Sie ist um so eindrücklicher, als Bismarck gerade am baltischen Zweig des Auslandsdeutschtums ohne Zweifel persönlich besonderen Anteil nahm. Sein „gemütliches Interesse" und seine Sympathien waren fraglos echter, als die manches Liberalen, für den das Baltikum ein potenziertes „Ostelbien" blieb und dem es bei der Interventions­ frage mehr darauf ankam, die Beziehungen zu Rußland zu stören. Kein anderer deutscher Staatsmann jedenfalls hat durch persönliche Verbindung und sachliche Gemeinsamkeit der baltischen Aristokratie näher gestanden als der erste Kanzler des neuen Reiches. Er wußte aus genauer Kenntnis, was dieses Element für Rußland bedeutete und hielt die Unifizierung deshalb für ein Handeln gegen die russische Staatsraison. Als Preuße könne er dem ruhig zusehen, weil der Nach­ bar sich schwäche, am liebsten würde er eine „Prämie" auf Auswande­ rung der Balten nach Deutschland setzen, so hat er im unverbindlichen Gespräch wohl einmal gesagt. Oder wie eine andere Lesart lautet: „Ich wollte, Sie kämen alle herüber, dann wäre ich sicher, unsere Selbst­ verwaltung würde Wahrheit und Leben." — Aber immer wieder be­ tonte Bismarck im Sinne seiner positiven Rußlandpolitik den auf-

Bismarck und der Osten bauenden Wert, den die Ostseedeutschen gerade im Zarenreich hätten. Sie „müssen auch in Zukunft der Guano sein, der jene große russische Steppe büngt". Was Bismarck (friderizianisch gesprochen) bei dieser „Race" so schätzenswert fand, „daß sie auf alle Weise meritieret kon­ serviert" zu werden, das waren die persönlichen Leistungen einer Führerschicht im Zarendienst, für die er zahlreiche Beispiele vor Augen hatte, und das waren insbesondere Charakterzüge der altdeutschen Kolonie, die bei dem ostelbischen Junker selbst natürlichen Widerhall fanden: Der Sinn für lokale Unabhängigkeit und der ständische Geist im baltischen Adel wie im baltischen Bürgertum, die durchgehende Abneigung gegen alles bürokratisch-zentralistische Wesen, statt dessen Selbstverwaltung und partriarchalisches Regiment, die Gewöhnung an ehrenamtlichen Landesdienst und an genossenschaftlichen Zusammenhalt, alles Eigenheiten des deutsch-kolonialen Daseins, die schon Herder rühmend hervorgehoben hatte und endlich, aus der gleichen Tradition, die Überwölbung der ethnischen und rassenmäßigen Gegensätze durch den Reichsgedanken auf der einen Seite, durch den Heimatgedanken auf der anderen. Von hier aus aber öffnet sich noch ein weiterer Horizont. Man muß die Eigenart des Staats- und Nationalbewußtseins, wie es in den Ostseeprovinzen sich entfaltet hat, mit im Auge behalten, wenn man Bismarcks Ostpolitik historisch richtig einordnen will. Die bal­ tischen Ritterschaften und Städte hatten nationalpolitisch — im Ver­ gleich etwa zu der so oft angerufenen schleswig-hosteinschen Parallele — nur den ersten Schritt getan; sie kämpften — wie die Stände der Nordmark im dänischen Gesamtstaat — gegen Gleichmacherei und staatliche Omnipotenz, sie rangen um die Bewahrung des deutschen Rechts und der deutschen Sprache, um Landesverfassung und kulturelle Eigenständigkeit, um jenen „germanischen" Grundgedanken der „Autonomie", den der baltische Historiker Karl Schirren so unvergeß­ lich geschildert hat. Aber sie konnten und durften den zweiten Schritt, den zum Nationalstaat, auf Grund ihrer konkreten geschichtlichen Lage nicht tun. Sie lebten in einer ständisch gegliederten Gesellschaft ohne breiten volksmäßigen Unterbau und in einer Randzone, die der vollen Konsequenz sowohl des Volksprinzips wie des Staatsprinzips widersteht, sie vertraten „föderalistische" Gedanken für die eigenen Provinzen und für das Reich. Sie waren wirklich, wie es Th. v. Schön aus der altpreußischen Tradition dem Holsteinschen Adel noch 1848 zumuten wollte, Bildungsträger in einem großen kolonisatorischen

Gesamtdeutsche Perspektive Raum. Ihre ost-westliche Brückenstellung legte ihnen auf, dem einen Volke und dem anderen Staate zuzugehören. So angesehen entsprach Bismarcks konservative Politik, entsprach seine scheinbar bloß binnendeutsche Staatsraison im Grunde der Artung der baltischen Kolonisten selbst, sie entsprach der Tatsache, daß der deutschen Oberschicht Germanisierung nach innen ebenso fernlag wie Jrredenta nach außen. Ihr eigener Nationalbegriff war konser­ vativ gegenüber dem russischen Reiche wie gegenüber der lettischen und estnischen Sprache, ihr Lebensprinzip stand dem Pangermanis­ mus nicht weniger entgegen als dem Panslawismus. Deutsches Volks­ tum und deutsche Kultur konnten nur dann in den Ostseeprovinzen sich erhalten, wenn die naturalistischen Kräfte von Nation und Rasse in den staatlich-geschichtlichen Rahmen eingeordnet blieben. Das Gleiche aber war ein Gebot für die Sicherheit Deutschlands im Osten, insbe­ sondere für Preußen mit seinen slawisch untermischten Provinzen, wie auch schließlich für den Bestand des Zarenreichs. Bismarck und das baltische Deutschtum waren in diesem Betracht stille Verbündete, mit einander suchten sie den Zaren bei der russischen „Reichsidee" festzuhalten. Indem sie sich äußerlich fernblieben, standen sie doch gemeinsam gegen die Sprengkraft von Nationalismus und Demo­ kratie, gegen die panslawistische Revolution, — waren sie innerlich wie durch kommunizierende Röhren verbunden. So wölbt sich eine Brücke über die Kluft, die in der Reichsgrün­ dungszeit aufriß. Und trotz aller Zusammenbrüche und tragischen Dissonanzen wird man gerade an diesem Punkt den positiven Ertrag der Bismarckschen Ostpolitik sehr deutlich heute feststellen können, ihren latent gesamtdeutschen Zug. Die Reichsgründung ließ den alten Kolonistenstamm draußen stehen, sie führte durch ihre natio­ nalstaatlichen Züge seine Bedrängnis mit herauf, ohne doch selbst die Folgerungen der Nationalstaatsidee für den Osten zu ziehen. Das war ebenso „unlogisch", wenn man will, wie die heute noch wurzelechte Verehrung der Balten für Bismarck „unlogisch" ist. Beides zusammen aber ergibt einen tiefen geschichtlichen Sinn. Denn eben das Ereignis der deutschen Einigung und die Bedrängnis, die sie zur Folge hatte, schmiedete das Deutschbewußtsein des Baltentums zu einem harten Metall, losgelöst von den Schranken des provinziellen Partikularismus und von den Schlacken nur historischer Lebensformen. Zugleich jedoch blieb das Prinzip dieser Lebensformen eben durch das Draußenstehen durch das Auf-sich-selbst-gestellt-sein in Kraft. Es erhielt sich ein koloni-

Bismarck und der Osten satorisches Bewußtsein, in Leistung und Wagnis dem Binnendeutsch­ tum fremd, es erhielt sich der ständische Geist, nur jetzt noch deutlicher auf die Güter des Volkstums, auf Sprache und Recht, auf Kirche und Schule bezogen, es schmolz also die Überlieferung der ständischen

Autonomie in ein Programm der nationalen Autonomie um, das auch in den jungen Völkern Boden gefunden hat. Und es erhielt sich von da aus die Bereitschaft, unter opferwilligem Festhalten der Eigenart mit anderen Nationalitäten zusammenzuarbeiten am gleichen Staat, so wie es das Schicksal gefügt hat, zusammenzuarbeiten nicht nach dem demokratischen Maßstab der Zahl sondern als körperschaftlicher Partner in organischem Nebeneinander, in nationalständischen Formen. Bis­ marcks negative Haltung und das, was an Grundsätzlichem in ihr lebt, hat demnach mitgeholfen, eine positive Haltung hindurchzuretten, die für das Zusammenwohnen von Völkern, wie es in der ganzen Ost­ zone Mitteleuropas schlechthin Gegebenheit ist, programmatische Be­ deutung besitzt. Das tragische Erleben der Reichsgründungszeit hat eine „Mission" reifen lassen, die der kolonisatorischen Aufgabe früherer Jahrhunderte nichts nachgibt. Hier berühren sich aufs neue die ältesten und vorgeschobensten Posten des Deutschtums im Nordosten und Süd­ osten, — wie sie aus gleicher Wurzel stammen: Nicht zufällig stehen heute Deutsche der Ostseeprovinzen und Siebenbürgens mit an der Spitze der Volksgruppenbewegung in Europa.

* Wir folgen dem Hinweis auf den inneren Zusammenhang aller Nationalitätenprobleme an der östlichen Front, der sich hier bereits andeutet, und suchen ihn auch in Bismarcks Haltung auf. Wie stand er zum österreichisch-ungarischen Völkerstaat und insbesondere zu denjenigen Teilen des Deutschtums, die als geschlossener Block oder in verstreuter Siedlung ihm zugehörten? — Ohne Zweifel lagen diese Fragen dem preußischen Staatsmann ferner, sie waren zudem in sich sehr viel umfassenderer Art als das begrenzte Nationalitäten­ problem der Nordostmark, sie hatten zum Gegenstand nicht ein Deutsch­ tum von so einheitlicher traditionsgebundener Struktur, und sie wurden unmittelbarer von den einzelnen Phasen der Reichsgründungsgeschichte in Mitleidenschaft gezogen. Aber wie der Schicksalszusammenhang im ganzen der gleiche ist und immer wieder sich bestätigt hat zwischen baltischem Raum und Donauraum, so treten auch in Bismarcks Stel­ lung zum Südosten wesensmäßig ähnliche und symptomatisch gleich

Wirkung der Reichsgründung auf den Südosten bedeutsame Züge hervor. Auch hier war seine Hauptlinie die der Ent­ haltung, auch hier galt der Leitsatz der Staatsraison: Quieta non movere! Aber auch hier war in deutlichem Widerspruch dazu allein schon die Tatsache der Entwicklung zum „kleindeutschen" Reich und vollends dann seine Wirklichkeit ein Ansatz zu Umbildungen weit­ gehender Art. Die Zusammenhänge im großen sind bekannt, so wenig es in der binnendeutschen Reichsgeschichte üblich war, sie zu beachten, und sie zeigen wiederum als nächstes und schmerzlichstes Bild die historische Kehrseite des nationalen Geschehens. In dem Maße, wie der öster­ reichische Kaiserstaat aus dem Kampf um die Vorherrschaft in Deutsch­ land ausschied, wie er seinen Schwerpunkt, was ja Bismarck angeraten hatte, was aber doch mehr unbewußt als wissentlich geschah, „nach Budapest" verlegte, in dem gleichen Maße sank die Rolle des Deutsch­ tums als der staatlich und kulturell führenden Macht im Donauraum. Das Schmerlingsche Februarpatent von 1861 hatte in gewissem Um­ fang und mit den Methoden der Bureaukratie die Kremsier-Linie wieder ausgenommen: Zurückdrängung des territorialen Anspruchs der historischen Nationen (Polen und Tschechen), Ansatz zur ungarischen Sonderstellung (weiterer Reichsrat), aber auch zum Schutz der ungar­ ländischen Nationalitäten, Begünstigung der Deutschen und der klei­ neren Völker. Belcredis „Sistierungs"-Politik von 1865, dann Königgrätz und dxr „Ausgleich" mit Ungarn, der darauf folgte, schnitten solche Möglichkeiten ab. Mit dem Jahr 1867 wurde jener „Dualismus" vollendet zwischen einem magyarischen Nationalstaat, in dem die Rumänen, Slowaken, Serben und auch die ungarländischen und sieben* bürgischen Deutschen (zusammen die zahlenmäßige Mehrheit) nur papierne Rechte besaßen und einer — zunächst namenlosen — Reichs­ hälfte Österreich, die konstitutionell und im Sinne der nationalen Gleichberechtigung verfaßt war. Aber weder konnte diese Gleich­ berechtigung volle Wirklichkeit werden, da einer weiteren Föderalisierung stets der Widerspruch Ungarns im Wege stand, noch blieben die Deutschen gemäß ihrer Zahl und geschichtlichen Berechtigung in der Rolle des primus inter pares, geschweige denn daß sie nach der dua­ listischen Theorie gleich den Magyaren „souveränes, reichsunmittel­ bares Volk" (Renner) geworden wären. Das ungarische Beispiel wirkte vielmehr anfeuernd auf Polen und Tschechen, die in den historischen Ländern vordrangen, gestützt auf die soziale Entwicklung, auf das Auf­ steigen des Kleinbürgertums, aber auch auf die Gunst der Dynastie,

Bismarck und der Osten deren Interesse am Deutschtum seit der Reichsgründung abnahm oder gar dem Argwohn vor einer „Anschluß"-Bewegung wich. Das sogen. „September-Rescript" von 1871, das die besonderen Rechte der böh­ mischen Krone anerkennen wollte, spielte deutlich genug auf die „Folgen" der preußischen Reichsgründung an. So schlugen die inner­ deutschen Ereignisse unmittelbar wie auch auf dem Umweg über Un­ garn auf die Deutsch-Österreicher zurück. Bismarcks Haltung demgegenüber war zunächst rein außenpolitisch bestimmt, sie beruhte auf der offenbaren Tatsache einer Interessenge­ meinschaft zwischen Reichsdeutschland und den Magyaren, die sich einmal aus deren Lage als Sperrblock in der slawischen Front ergab und die zum anderen ebenso wie das Verhältnis zu Rußland aus einer preußischen Tradition des 18. Jahrhunderts stammte. Sie be­ stätigte sich in der Reichsgründungszeit beiderseits, indem die Magyaren ihr die Vollendung des Dualismus verdankten und indem sie zugleich das Gegengewicht bildeten gegen Revanchepläne Beustscher Art. Auch Bismarcks spätere Bündnispolitik sah in ihnen eine Stütze des Sy­ stems, da Ungarn dringend daran interessiert war, eine slawisch-anti­ deutsche Außenpolitik des Gesamtstaats zu verhindern. Das schloß nicht aus, daß der Dualismus an und für sich diplomatisch unbequem war und daß der Kanzler des Reiches sich wiederholt gegen einen Druck des Budapester Parlaments, gegen „Husaren und Advokaten", gegen eine Bindung an den „ungarischen Kometenschweif" wehren mußte. Hier erhebt sich die Frage, ob Bismarck nicht in der einen oder anderen Entwicklungsphase den grundsätzlichen Kurswechsel erwogen hat in der Richtung des großdeutschen, des konsequent nationalstaat­ lichen Gedankens. Hat er nicht 1866 insbesondere gerade den unga­ rischen Nationalismus zum Hebelpunkt nehmen wollen, um die Ent­ wicklung der Völker des Südostens auf demokratisch-revolutionärem Wege weiter zu treiben? Und ging er nicht gegen Ende seiner amtlichen Wirksamkeit, nach den Erfahrungen der großen Balkankrise, mit den: Gedanken der Preisgabe des alten Völkerstaates um? — Was zunächst das Letztere betrifft, so haben wir allerdings mancherlei kritische Außerungen des Altkanzlers über die Haltbarkeit der österreichisch-unga­ rischen Monarchie, und es ist eine offenbare Tatsache, daß der Aufbau des Bündnisses Deutschland mit der „Hinterhand" gewisse Möglich­ keiten zu einem „lächer l’Autriche“ beließ. Ein solcher Fall mochte nach dem Zeugnis des Botschafters Hatzfeld etwa eintreten, wenn es galt, die russische Neutralität in einem deutsch-französischen Konflikt

Nationalrevolutionäre Möglichkeit zu „erkaufen". Aber es handelte sich dabei zunächst wohl nur um die Preisgabe der orientalischen Interessen der Doppelmonarchie, die allerdings auf deren Bestand gefährliche Rückwirkungen haben konnte, es handelte sich um letzte diplomatische Abwehr- und Aushilfemaßnah­ men, aber nie um einen autonomen Willen zu „großdeutscher" Ziel­ setzung. Von einer, wie man wohl gemeint hat, „realpolitischen Syn­ these zwischen den vorwärts treibenden Ideen der Zeit und den Kräften des Beharrens" ist in solchen Erwägungen nichts zu spüren und nichts zu vermuten. Ein ernsthafterer Kern steckte ohne Zweifel in der national-revolu­ tionären Möglichkeit kurz vor und kurz nach Königgrätz. Es ist heute ein Teil jedenfalls der Unterlagen bekannt für die Beziehungen, die Bismarck damals zur ungarischen Aufstandsbewegung wie zu Serbien und Rumänien unterhalten hat. Ebenso gehören die militärischen Proklamationen beim Einmarsch in Böhmen hierher. Aber auch diese Vorgänge sind weit übertrieben worden. Weder hat Bismarck damals die „Sprache von 1792" geführt, noch teilte er je die Auffassung Use­ doms, des „angenehmen Feuilletonisten" vom Charakter Österreichs als einer „künstlich konstruierten Macht". Er hat sich nie darauf fest­ gelegt, daß „naturgemäße" Staaten in „nationaler Einheit" beruhen müßten, aber er hat sich auch nie dagegen verschworen, im Notfall die Hand der Revolution zu ergreifen. Schon das Verhältnis zu Frank­ reich, erst recht das Bündnis mit Italien lag in dieser Linie. Über Paris und über Florenz boten die Verbindungen zu den Ungarn sich dar. Bismarck hat sie zunächst sehr vorsichtig und im ganzen ohne Illusionen behandelt. Er wußte, daß die Ungarn eine Zerstörung Österreichs im Grunde nicht wünschen konnten, weil dann ihre „partes annexae“ abzufallen drohten, und er wußte, daß die Anknüpfung mit Serben und Rumänen wiederum die Ungarn „entfremden" mußte. So hatten die Fäden, die er vor Kriegsausbruch nach allen drei Richsungen spann, mehr einen indirekten als einen direkten Sinn. Italien sollte durch eine Landung Garribaldis in Dalmatien festgelegt, es sollte an einer lahmen Kriegsführung bezw. an einem schnellen Frie­ densschluß über Venetien verhindert werden. Das war zunächst der Hauptgesichtspunkt, er zielte insoweit auf eine „Diversion", die Preußen militärisch entlasten konnte, ohne übrigens praktische Bedeutung in dieser Richtung zu gewinnen. Das wurde anders, als nach Königgrätz die dringende Gefahr des Doppeleingriffs von Seiten Frankreichs und Rußlands zu drohen schien. In einem solchen Falle war Bismarck

Bismarck und der Osten allerdings zu revolutionärem Handeln bereit, zur Entfesselung der vollen nationalen Kraft nicht nur Deutschlands, „sondern auch der angrenzenden ßintber". So behielt er das ungarische wie das süd­ slawische Eisen noch eine Zeit lang im Feuer, und auch die Aufrufe an die Tschechen, denen er nur eine „vorübergehende militärische Be­ deutung" beimaß, hat er nicht geradezu von der Hand gewiesen. Nach den ersten Unterredungen mit Benedetti schrieb der Minister an seinen Kollegen Eulenburg: Die Forderung einer unabhängigen Verfassung Ungarns wie Böhmens würde „erst dann indiziert sein, wenn man uns jetzt einen billigen Frieden versagt". Daß Bismarck diesen billigen Frieden, einen Frieden, der keine unheilbaren Wunden hinterließ, wünschte, ist hinreichend bekannt und gehört in die allgemeine Linie seiner konservativ-dualistischen Politik. Auch die revolutionären Möglichkeiten, die er sich offen hielt und die er diplomatisch verwertete, widersprechen dem nicht, sie hatten vor­ nehmlich präventiven Sinn. Aber freilief): ein tiefer Ernst steht hinter ihnen. „Soll Revolution sein, so wollen wir sie lieber machen als er­ leiden", — auch dieses Drohwort Bismarcks nach Petersburg (11. Au­ gust 1866) gehört zu den Traditionen seiner „Ostpolitik. Er würde — letzten Endes — nicht gezögert haben, den „Acheron" in Bewegung zu setzen wie für die innere so für die äußere Gründung des Reiches, wie int Westen zur Abwehr so im Osten zum Angriff. Kam es so, dann gerieten allerdings die Nationalitätenprobleme auf der ganzen östlichen Front in Bewegung, und es trat der nothafte Zwang zur Bindung und Gestaltung der revolutionären Kräfte ein. Man kann sich in Vermutungen ergehen, ob das Bismarck im Verhältnis zu den kleineren Nachbarvölkern ebenso gelungen sein würde, wie es im Inne­ ren mit der nationaldeutschen Revolution geschah. Indessen zielen solche hypothetischen Erörterungen an dem Eigensten der Bismarckschen Haltung vorbei, an dem Bewußtsein der Verantwortung vor Aufgaben, die gestellt aber nicht gemacht werden. Er hat in einer eigenhändigen Aufzeichnung von 1868 sich aufs entschiedenste und mit Recht gegen die Annahme verwahrt, schon seit dem dänischen Krieg mit den Ungarn „conspirirt" und im deutschen Krieg das Ziel verfolgt zu haben, „die österreichische Monarchie absolut zu zertrümmern". Die früher er­ wähnte konservative Linie auch dieser „nationalsten" Jahre fand immer nur an wirklichen Existenzfragen ihre Grenze, und kein alldeutscher Expansionswille hätte sie nach Bismarcks Auffassung verrücken dürfen. Im gleichen Jahr berührte er selbst in einem Gespräch mit Karl Schurz

Konservative Grundansicht — eher übertreibend als verhüllend — die revolutionären Minen­ gänge von 1866. Er erkannte an, wenn man eine solche Zündmasse in Bewegung setze, dann sei ein Zurückweichen nicht mehr mögliche „Es entstand ein großer leerer Fleck zwischen Deutschland und der Türkei, und darauf mußte etwas geschaffen werden." Oder wie es im Rück­ blick der „Gedanken und Erinnerungen" heißt: „Was sollte an die Stelle Europas gesetzt werden, welche der österreichische Staat von Tyrol bis zur Bukowina bisher ausfüllt? Neue Bildungen auf dieser Fläche könnten nur dauernd revolutionärer Natur sein." So fuhr denn Bismarck im Gespräch mit Karl Schurz fort, derartig exzentrische Mittel ergreife man nur, wenn man am Untergehen sei. Selbst dem Ausländsdeutschen und Demokraten wurde die Perspektive eines groß­ deutschen Wunschbildes nicht irgendwie angedeutet. Für unsere Betrachtungen entscheidend ist dabei, daß die so be­ zeugte konservative Politik gegenüber der Donaumonarchie keineswegs nur diplomatisch-außenpolitisch begründet war. Sie trat zwar mit dieser Motivierung alsbald nach 1866 wieder in Kraft, was hier des Näheren nicht verfolgt werden soll, und gipfelte im Bündnissystem. Aber der Zweibund war zugleich ja eine Bestätigung des Nationalitäten­ staates, das Vertrags-Verhältnis zu Italien und zu Rumänien sollte die Jrredentagefahr mindern, und vollends der Verzicht auf eine deutsche Jrrendentapolitik rührte an prinzipielle Fragen. Bismarck wünschte nicht nur aus Gründen der außenpolitischen Anlehnung und des Gegengewichts, nicht nur aus Sorge vor dem leeren Flecken und der Unabsehbarkeit revolutionärer Bildungen die Großmacht Öster­ reich-Ungarn zu erhalten, sondern er sah ihr Wesen positiv. Mit einer theoretischen Schärfe, wie sie bei ihm selten aber um so eindrücklicher ist, sagte er 1874 zu dem Ungarn Jokay: „Die Errichtung von kleinen Nationalstaaten im Osten Europas ist unmöglich, es sind bloß historische Staaten möglich." In den Rahmen dieser Grundanschauung, die auf die Erlebnisse von 1848 sich hätte berufen können und durch die des Jahres 1919 jedenfalls nicht widerlegt wird, ist Bismarcks Desinteressement am österreichischen Deutschtum einzuordnen. Es hat sich in nicht weniger scharfen und verletzenden Äußerungen bekundet wie gegenüber den Deutschbalten. Die Argumente der Enthaltungspolitik sind wiederum vor allem geographischer und ethnographischer Natur, sie werden gleichfalls gelegentlich zugespitzt bis zum Anekdotischen und Tenden­ ziösen. So hat Bismarck gesprächsweise einmal gesagt,, er „wäre im-

Bismarck und der Osten stände, wenn die österreichischen Provinzen sich mit Gewalt uns an« schließen wollten, deshalb Krieg anzufangen — gegen sie!" Mit mög­ lichst starken Worten wollte er den Ungarn wie der Dynastie jede Sorge vor einer nationalrevolutionären Politik des deutschen Reiches be­ nehmen. Für Andrassy war es gemeint, wenn Bismarck 1870 in einem Erlaß nach Wien betonte: „Die Aufnahme des sogenannten (!) Deutsch­ österreichs mit seinen Tschechen und Slowenen in den Norddeutschen Bund wäre mit der Zersetzung des letzteren gleichbedeutend." Er tadelte es scharf, daß Bucher in einem Zeitungsartikel vom September 1870 die Beziehungen zu Österreich nicht unter dem Gesichtspunkt der „politischen Nützlichkeit" für beide Teile behandelt habe, „sondern von der Seite der nationalen Sympathien für einen der Völkerstämme dieser Monarchie ..., also von einer Seite, über welche man in Öster­ reich besonders empfindlich ist...". Diese Empfindlichkeit galt es, namentlich im Verkehr mit der Dynastie zu schonen. So kritisierte Bismarck dem Kronprinzen Rudolf gegenüber die Politik der Deut­ schen in Österreich sowie „ die Taktlosigkeiten deutscher Professoren und

Journale, die über die Unterdrückung der Sachsen in Siebenbürgen und der Deutschen in Ungarn so viel jammern". Diese Bekundungen hatten ihren diplomatisch-zweckhaften Sinn, und doch ist nicht zu ver­ kennen, daß sie an grundsätzliche Bestände weltanschaulicher Art und an Bismarcks Auffassung vom staatlich-geschichtlichen Charakter der Ostzone rühren. Seine Enthaltungspolitik gegenüber den entlegenen wie auch den benachbarten Volksgruppen des Südostens war aus innerdeutschen Bedenken ethnischer oder konfessioneller Art, aber sie war auch in ihrer Weise gesamtdeutsch motiviert. Wien könnte nicht Provinzialhauptstadt sein, so hat er wiederholt betont, es habe mit Budapest zusammen eine eigene kulturelle Mission, die Herauslösung der Erblande erschien ihm als Erschwerung für den Zusammenhalt des engeren Deutschland und zugleich als Verzicht auf die Durchführung wesentlich deutscher Aufgaben im weiteren südöstlichen Raum. So ist auch hier wie im deutschbaltischen Fall festzustellen, daß Bismarcks äußeres Desinteressement in seiner Art eine positive Seite hatte. Man wird heute nicht mehr—mit Max Weber — sagen dürfen, Bismarck habe 10 Millionen Deutsche geopfert, „um 30 Millionen Nichtdeutsche politisch zu neutralisieren". Die österreichische Doppel­ monarchie war ihm keine zweckhafte „Veranstaltung" sondern ein Er­ gebnis der deutschen Geschichte, und das Schicksal der in ihr wohnenden Deutschen ging den Kanzler des Reichs näher an, als es verbreiteten

Positive Seite der Enthaltung Anschauungen entspricht. Vom „Bedauern" über die Unterdrückung der Deutschen in Ungarn hören wir mehrfach, und als „Bindeglied zwischen uns" hat Bismarck 1870 das österreichische Deutschtum in einem Erlaß nach Wien sehr prägnant bezeichnet. Schon um des Bündnisses willen konnte er sich nicht wirklich an ihm desinteressieren. Und wenn jeder förmliche Eingriff sich verbot, weil er sowohl die außenpolitischen Beziehungen wie die innere Lage des Deutschtums selbst nur erschweren konnte, so ist doch überraschend, in welchem Maße sich Bismarck mit den Verfassungskämpfen Österreichs beschäftigt hat

und wie er im Einzelnen zu helfen und zu raten versuchte. Sein Rat ging immer wieder auf möglichst nahen Anschluß an die Dynastie, die Deutschen sollten sich nicht in konstitutionellen Spitzfindigkeiten ver­ lieren, mit Schärfe hat Bismarck deshalb über die Führer der Ver­ fassungspartei, Herbst und Giskra, über „die Herbstzeitlosen" geurteilt, ohne doch von vornherein die Antipathie von Schweinitz gegen die Deutsch-Liberalen zu teilen. Er glaubte nicht an den Erfolg der Dezember-Verfassung, aber erwünschte ihn mindestens zunächst. So war Bismarck 1871 durchaus für ein liberales Kabinett Schmerling und sein Programm einer unbedingten Erhaltung Österreichs unter

deutscher Vorhand. Als statt dessen dann die Regierung HohenwartSchäffle gebildet wurde und als die Tschechen die Trialisierung der Monarchie forderten, da hat er den Widerspruch Andrässys mindestens moralisch unterstützt. In die schon berührte Interessengemeinschaft mit Ungarn waren die Deutsch-Österreicher eingebaut. Sie konnten ihre Stellung noch leidlich halten, solange der magyarische Außenminister am Ruder war. Erst sein Sturz brachte mit dem Kabinett Taafe und den Stremayr'schen Sprachenverordnungen die entscheidenden Ein­ brüche. Umgekehrt ruht Andrässys letzte Tat, der Zweibund, sehr wesentlich mit auf dem deutschen „Bindeglied". Es ist keineswegs nur Taktik gewesen, wenn Bismark in den Denkschriften, durch die er beim alten Kaiser für den Abschluß mit Osterreich-Ungarn warb, immer wieder das deutsche Element, die Bedürfnisse der Nation und die jahrhundertelange Gemeinsamkeit ausspielte. Er selbst empfand es 1879 auf seiner Fahrt von Gastein über Salzburg und Linz nach Wien mit nachhaltigem Eindruck, daß man „das deutsche Vaterland" hier finde, in Rußland aber nicht. Der gleiche Klang tönt noch aus den „Gedanken und Erinnerungen" wie aus den Altersreden des Kanzlers. Das Wiederzusammenfinden in „Zentraleuropa", so heißt es 1895 geradezu, sei ein Beweis von„imponderablen Verbänden". Das Bewußtsein eines

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Bismarck und der Osten deutsch-mitteleuropäischen Gesamtraumes, das hinter Bismarcks Öster­ reich-Politik steht, spricht sich hier aufs deutlichste aus. Freilich man wird diese Bekundungen des inneren Zusammen­ hangs weder als das eigentliche Motiv der Bündnispolitik aufsassen, noch irgendwie großdeutsch in einem noch so versteckten nationalstaat­ lichen Sinn ausdeuten dürfen. Die Voraussetzung war vielmehr das Getrenntstehen. Bismarck sah den gesamtdeutschen Lebensraum gleich­ sam im Bilde der Elipse, wobei der österreichische Kaiserstaat seinerseits wieder um 2 Brennpunkte kreiste und doch durch deutsche Menschen und deutsche Kultur dem neuen Reich aufs engste verbunden war. Er rief gelegentlich den „uralten Dualismus", ja das Beispiel der Welfen und Ghibelinen an, wobei er ebenso an den Reichtum des Gegensatzes wie an den Reibungsverlust gedacht haben wird. Wir hätten beiderseits zu viel Schmerzens- und Lehrgeld bezahlt, äußerte Bismarck 1877, um neue Vermischungen zu wünschen. Was er selbst statt dessen empfahl, war eine dauernde „organische Verbindung", die dem Völkerstaat, dem „Mosaikbild", dessen Stifte sich leicht stoßen oder schieben, den Rückhalt „an einer dauerhaften Wand" gewährte. Dann mochten, wie er ausdrücklich hinzusetzte, auch seine inneren Fragen ihren Ausgleich finden, dann mochte das österreichische Deutsch­ tum im eigenen geschichtlichen Raum die Aufgaben erfüllen, die der Kanzler ihm allerdings zugeschrieben glaubte. Wenn die Entwicklung in manchem andere Wege ging und wenn gerade der Zweibund, indem er der Habsburger Dynastie die Sorge vor einer etwaigen Jrredentapolitik vollends benahm, den Rückschlag gegen die Deutschen und ihre Führerrolle im Südosten tatsächlich verstärken half, so wäre es mindestens sehr einseitig, den Grund dafür nur in Bismarcks binnen­ deutscher Enthaltungspolitik zu sehen. Er hat nach 1880 — durch das Bündnis vor Mißdeutung gedeckt — sich immerhin stärker zu Gunsten der Deutschen eingesetzt und den Kurs des Grafen Taafe recht deutlich desavouiert. Vor allem aber: es mußte bei der Frage der deutschen Zukunft im Donauraum wie auf die Haltung der Dynastie so insbe­ sondere auf die des österreichischen Deutschtums selber ankommen. Hier liegt wohl — auch für die Beurteilung der Bismarckschen Politik im Südosten — der heikelste Punkt. Man wird gewiß seine Auf­ fassung der deutsch-österreichischen „Mission" nicht mit ihrer Karikierung im Diktat von St. Germain oder den französischen Donau­ föderationsplänen und ihren Abarten verwechseln wollen, deren Sinn gerade gegen das Deutschtum int ganzen gerichtet ist. Aber was Bis-

Politische Entwicklung im österr. Deutschtum marck den Stammesgenossen jenseits der Grenzen als Aufgabe zu­ dachte, setzte ein ungebrochenes Kolonistenbewußtsein voraus, das so nicht mehr bestand, und erinnert wiederum in etwas an das Wort Schöns vom Holsteinschcn Adel. Der Kanzler sah die Deutschen der Doppel­ monarchie geschichtlich mit Recht als politisch-kulturelle Führer der Völker im Südosten, er sah sie als gegebene Vertreter eines spezi­ fischen Staatsgedankens, einer historischen „Staatsnation", die be­ stimmt sei, die ethnischen Nationalitäten (einschließlich der deutschen) zu überwölben. Ansätze zu einem solchen „Osterreichertum" gab es

gewiß, und es ist sehr bezeichnend, daß man in der Wiener Verwal­ tungssprache (wie in Riga und Reval) die Bestrebungen der nicht­ deutschen Stämme als „die nationalen" schlechthin bezeichnete. Seinen Rückhalt fand der spezifische Staatsgedanke im Adel und im Großgrund­ besitz, in der Beamtenschaft und im Heer, auch in der deutsch-liberalen Verfassungspartei, soweit sie auf die Kremsierer Gedanken zurückgriff. Aber der Zusammenhang mit der Dynastie und die Gewöhnung an die Vorteile des zentralen Staatsapparates erwies sich im allgemeinen nicht als Quelle der Kraft und wirkte leicht entnationalisierend. In anderer Weise wieder hingen die Kleinbürger und Bauern der Alpen­ lande der Dynastie und der österreichischen Idee an, sie waren rein deutsch, aber konservativ und klerikal, sie fühlten sich nicht bedroht und verwarfen wie die Bischöfe der Konkordatszeit den Nationalismus als Heidentum, sie standen dem „Länderföderalismus" der Tschechen und Polen vielfach näher als den liberal-zentralistischen Forderungen der „Verfassungspartei", die ihrerseits auch nicht primär national waren. Aus dieser großbürgerlichen Linken schieden sich aber seit 1870 allmäh­ lich nationaldeutsche Gruppen aus, die gegen den „abstrakten Patrio­ tismus", gegen den schwarz-gelben Staatsgedanken opponierten, sie fanden Boden in der akademischen Jugend wie auch in den sozial jüngeren Schichten, ihr Rückhalt lag vor allem bei den Deutschen Nord­ böhmens, die ja schon 1848 in eine Volksdeutsche Bewegung einge­ treten waren. Die Entwicklung führte in den achtziger Jahren über das Linzer Programm, das die staatsrechtliche Sicherstellung der Deutschen und eine Plattform ihres wirtschaftlichen und kulturellen Lebens erstrebte, zum Ansatz einer Zusammenfassung als „Nation" und im Extrem zu den Preußisch-Hohenzollernschen Kundgebungen Schönerers. Bismarck hat den schwarz-rot-goldenen Flügel des österreichischen Deutschtums immer wieder abschütteln müssen, aber er hat seinem

Bismarck und der Osten nationalen Willen die Achtung nicht versagt. „Es ist möglich," heißt es in den „Gedanken und Erinnerungen", „daß der slawische Keil, durch welchen in Gestalt der Czechen die urdeutsche Bevölkerung der öster­ reichischen Stammlande von den nordwestlichen Landsleuten getrennt ist, die Wirkungen, welche nachbarliche Reibungen auf Deutsche gleichen Stammes aber verschiedener dynastischer Angehörigkeit auszuüben pflegen, abgeschwächt und das germanische Gefühl der Deutsch-Osterreicher gekräftigt hat...". Bismarck hätte hinzufügen können, daß sein eigenes Lebenswerk und seine Person zu dieser Kräftigung wesent­ lich beigetragen hatten. In der Verehrung, die ihm namentlich von der deutsch-österreichischen Jugend entgegengebracht wurde, wieder­ holt sich die gleiche „Unlogik" und Tragik wie im deutsch-baltischen Falle. Die Nationalstaatsidee hatte auch im Südosten gezündet, ohne doch sich vollenden zu können. Die Wiedererstehung des Reiches wirkte am stärksten jenseits der Grenzen und hat hier Zukunstssamen gesät, aber sie gab weder dem historischen Staat einen wirklich gesamtdeutschen Rückhalt und Sinn, noch hat sie dem österreichischen Deutschtum zu einer einheitlichen nationalen Linie verhalfen. Sogar auf militärische und außenpolitische Fragen (Besetzung Bosniens) erstreckten sich die Reibungen zwischen den Deutschen und der Krone, die Parteizer­ splitterung aber griff gerade in den achtziger Jahren weiter um sich. — An diesen Zügen der deutsch-österreichischen Politik hat Bismarck vor allem Kritik geübt, an ihrem „Liberalismus" mindestens so sehr als an ihrem „Nationalismus". Er sah — unzureichend gewiß aber doch mit dem Blick auf einen entscheidenden Punkt — im Hineintragen der parlamentarischen Methode in den Nationalitätenstaat, in der Gleich­ setzung von Nation und Partei, das Grundübel. Sein innerdeutscher Kampf gegen demokratische Gleichmacherei und gegen unverantwort­ liche Fraktionspolitik fand hier um so mehr eine bedeutsame Fortsetzung, als das Mehrheitsprinzip wesensmäßig zur Schlichtung nationaler Streitigkeiten und zum Ausbau eines für alle Völker der Monarchie wohnlichen Hauses ungeeignet sein mußte. Schon 1870 stellte Bismarck in einem Erlaß nach Wien die Alternative, wenn es nicht gelinge, die liberale Verfassung Cisleithaniens als „konstitutionelle Mumie" zu er­ halten, dann bleibe nur — Absolutismus oder „Föderativverfassung". Man spürt sehr deutlich, daß er mit diesem letzteren Weg durchaus Sympathien hatte, der ungarische Widerstand gegen ihn, so meinte er, werde vielleicht geringer sein als bei Wiederherstellung der absoluten Gewalt. Bismarcks eigene geschichtlich verwurzelte Neigung galt —

Absolutismus, Liberalismus, Foederalismus was kein unbedingter Widerspmch ist — mehr der monarchisch-autori­ tären Lösung des Völkerstaatsproblems, die er späterhin wiederholt empfahl. So hielt er 1888 Zisleithanien eines Staatsreichs zu Gun­ sten der kaiserlichen Gewalt für bedürftig. Jeder Aufschub werde die Operation nur erschweren. Der Fehler, wiederholte er, „liege darin, daß man Österreichs Nationalitäten (einschließlich der deutschen) zu einer so scharfen parlamentarischen und publizistischen Ausprägung habe kommen lassen. Man hätte reine Österreicher... kultivieren

müssen". Nicht auf diese praktischen Reform- oder Revolutionsvorschläge kommt es in unserem Zusammenhang an. Das Problem eines Um­ baus der österreichischen Monarchie drängte sich Bismarck auf und lag doch außerhalb jener Verantwortung, die allein das schöpferische Denken und Handeln entbindet. Es waren Urteile von jenseits der Grenzen. So wird man durchaus fragen können, ob die Hoffnung ans dynastische (oder patriarchalische) Bindungen als Erziehungsmittel zu einem Osterreichertum nicht schon damals zeitgeschichtlich überfällig war. Aber weder ist mit dem Fortfall der dynastischen Klammer die Ansicht von den spezifischen Aufgaben des Deutschtums in Österreich

widerlegt, noch wird man die grundsätzlichen und bleibenden Momente übersehen dürfen, die immer wieder an die Lebensbedingungen an­ knüpfen, wie sie im ganzen Raum der Ostkolonisation sich entwickelt haben, an die Unmöglichkeit eines rein vom Volkstum aufgebauten staat­ lichen Gefüges, an die Bedeutung der geschichtlichen und landschaft­ lichen Zusammenhänge, an die Notwendigkeit eines geordneten Mit­ einanderlebens von Völkern verschieden abgestufter nationaler Kultur im gleichen historischen Raum, insbesondere an die deutsch-slawische Gemeinschaft, die für Bismarck selbsterlebte Wirklichkeit war und über die er sich geradezu eine Theorie der günstigsten Verbindung ge­ macht hatte. Am deutlichsten tritt dieser Zusammenhang der Motive in den Altersreden des Kanzlers hervor. Er bekräftigte in der Ansprache vom 15. April 1895 zunächst seinen österreichischen Besuchern gegen­ über das Bewußtsein der Einheit mit ihnen trotz der Trennung in zwei Reiche. Er hielt ihnen dann — und noch einmal zum Schluß — mit bewußter Absicht vor, sie könnten ihr Wohlwollen für die Stammes­ genossen „im Westreiche" nicht wirksamer betätigen, als durch Pflege der Beziehungen zur Dynastie, die deutsch sei, aber nicht einer Natio­ nalität gehöre. „Sie haben", so hieß es in einer Rede von 1894, „ihr

Bismarck und der Osten eigenes Leben im Donaubecken, wo nicht ausschließlich das Deutsch­ tum in Frage kommt und das kann nicht von Berlin abhängen." Aber wieder ging mit dieser Absage an die großdeutsche Idee die Betonung der eigenen erzieherischen und kämpferischen Mission im Südosten parallel. Die Deutschen sollten „als historisch berechtigte Nationalität" den anderen Völkern mit „christlichem Wohlwollen" begegnen, Ger­ manen und Slawen zusammen gäben erst den rechten staatlichen Klang, wie in der Ehe das Miteinander des männlichen und des weiblichen Prinzips. Aus dem Zusammenleben mit den Fremdvölkern gelöst, verliere das Deutschösterreichertum seine besondere Farbe und rinne in ein verschwommenes Neudeutsch aus, so sah sich 1885 der junge Hermann Bahr in der Wilhelmstraße bedeutet. 10 Jahre später wird in der Friedrichsruher Rede das „Durcheinandergeschobensein" der Völker im Osten und der Kampf der Nationalitäten geradezu als vor­ sehungsmäßige Aufgabe und gottgewollter Reichtum, als Steigerung der völkischen Möglichkeiten gepriesen. Auch diese Hoffnung, mag man mit Recht einwenden, ging an der Wirklichkeit des Habsburgerreiches und den nationalen Kämpfen, die es durchschüttelten, vorbei. Aber wie es niemals Bismarcksche Art gewesen ist, die Geschichte optimistisch-idyllisch auszulegen, so hatte auch der Zuspruch der Alters-Reden aufs entschiedenste den Sinn, zum Ausharren auf dem gegebenen Posten und im Kampfe aufzu­ fordern. — Ein bloßes „Heim ins Reich", eine mechanische Gleich­ schaltung wäre in seinem Sinne nicht Gewinn sondern Verlust für das Gesamtdeutschtum gewesen, ein Verzicht auf arteigene Aufgaben, auf ein Organ zur Auseinandersetzung mit dem Osten. Und wenn seit den 90er Jahren die Jrredenta zurücktrat und die Mehrzahl der Deut­ schen — wie von österreichischer Seite gesagt worden ist — lieber „Vorland an der Donau" als „Hinterland der Spree", lieber „Erst­ geborene im Osten als Stiefkinder des Westens" sein wollte, so lag das ganz in dieser Linie und war wohl nicht unbeeinflußt von der Bismarckschen Politik. Jedenfalls aber „lohnte" sich — wie im deutschbaltischen Fall — seine Enthaltung, sein Bekenntnis zum Nationalitätenstaat, trotz allem, was ex eventu zu sagen ist, gerade im Hinblick auf die Zukunft. Im Ringen der Nationalitäten miteinander und aus der Gefahr völliger Lahmlegung, die Zisleithanien zuerst und beispielhaft durch­ zustehen hatte, entbanden sich staatliche Reformgedanken und Ansätze einer neuen Gesinnung, die über die nationalstaatliche Phase hinaus­ führen. Die Idee eines wirklichen „Ausgleichs", an der man in Krem-

Bejahung des Völkerstaats fier schon sich versucht hatte, wurde literarisch, juristisch, verwaltungs­ technisch durchdacht und tastend in die Praxis hinübergeführt. In Südtirol und Böhmen trotz wiederholter Bemühungen noch ohne Erfolg („papierdünne Wand"), in Mähren und der Bukowina mit der Verwirklichung eines neuartigen Volksgruppenrechtes, das ge­ wissermaßen Not in Tugend verwandelte und die Nationalitäten zu selbstverantwortlichen Subjekten zunächst der Kulturverwaltung im Kronland machte. So wurde im Zusammenbruch des alten Staates, der unwiderruflich ist, zugleich ein unwiderrufliches Erbe errichtet, bedeutsam gerade von der gesamtdeutschen Perspektive aus: Das Deutschtum in Österreich hat—widerstrebend und in einem sehr schmerz­ lichen Prozeß aber ganz wesentlich — mit seinen Leistungen und seinen Opfern zu einer Aufgabe beigetragen, die schon einmal in der „Na­ tionsuniversität" der Siebenbürger Sachsen angenähert war, die seit 1919 ein Problem der ganzen östlichen Randzone geworden ist und die man wohl als „vorsehungsmäßig" in Bismarcks Sinn bezeich­ nen mag. Sieht man auf seine Anschauungen zurück, so lagen konkrete Ziele dieser Art im einzelnen ihm noch fern, aber im Grundsätzlichen ist der Abstand geringer als gemeinhin vorgestellt wird, von Bismarcks vielberufenen „Etatismus", besser von seiner dynamischen Auffassung staatlichen Lebens, der die Einheit nie Ideal an sich war, zu einer An­ erkenntnis gegebener Vielfalt, wie sie Max Hildebert Böhm in spitzer Formulierung von einem weitsichtigen europäischen Staat einmal gefordert hat: „Nationalitäten für seinen größten Reichtum zu er­ achten."

* Dieser Ausblick und insbesondere die Beziehung auf den deutsch­ slawischen Raum führt uns zu dem dritten Nationalitäten­ problem, zu dem polnischen. Es liegt in der Mitte zwischen den Flügelpositionen und ist mit ihnen durch zahlreiche Fäden verwoben. Man wird das zunächst so ausdrücken dürfen, daß an der Weichsel gleichsam die baltische und die österreichische Fragestellung auf das Innere des kleindeutschen Reiches zurückschlugen. Hier im Gebiet eigenster Interessen wird gewissermaßen eine Echtheitsprobe für die Stellung Bismarcks zum Nationalstaatsprinzips zu erbringen sein.— Weiter aber ist ja sehr deutlich der außenpolitische Zusammenhang. Rußland und Österreich waren die Mitinteressenten der polnischen

Frage; sie stellte zwischen den östlichen Monarchien ein Moment der

Bismarck und der Osten Gemeinsamkeit dar, das mit Bismarcks allgemeiner Ostpolitik wie mit seiner Stellung zum Nationalitätenproblem eng verbunden und nur jeweils verschieden abgestuft ist. Von verhältnismäßig geringer Bindekraft war diese Seite der monarchischen Solidarität zwischen Preußen-Deutschland und Öster­ reich-Ungarn. Der Donaustaat, so hat der Kanzler des Reichs mehr­ fach betont und praktisch anerkannt, besaß größere Freiheit in der polnischen Frage. Schon 1854 vertrat Bismarck die Ansicht, Österreichs Interesse gegen die Wiederherstellung Polens sei „minder tiefgehend" als das von Preußen und Rußland. „Galizien", so heißt es in den „Gedanken und Erinnerungen", „ist der österreichischen Monarchie lockerer angefügt als Posen und Westpreußen der preußischen. Die österreichische, gegen Osten offene Provinz ist außerhalb der Grenzmauem der Karpathen künstlich angeklebt...". Das war auch die Meinung der Deutschnationalen Österreichs, die im Linzer Programm eine Sonderstellung u. a. Galiziens forderten, um den slawischen Druck in Zisleithanien zu mindern. Auch hier sieht man, wie die Einzelfragen in einander greifen: Bismarck mußte wiederum gegen die Wünsche der Deutsch-Österreicher wie für den Zusammenhalt des

österreichischen Staates stehen. Insbesondere die Beustschen und Hohenwartschen „Experimente in polnischer Richtung" machten ihn besorgt, das Gespenst eines österreichisch-französisch-katholischen Bünd­ nisses tauchte auf, bis es durch den Abschluß von 1879 und durch den Dreibund der Ostmächte gebannt wurde. In seinem Schutze konnte, so bemerkt Bismarck sehr treffend, „Österreich seine Beziehungen zu den Ruthenen in den Vordergrund stellen". Das besagt insoweit, daß die konservative Allianz eine Tendenz gegen den „Länder"- und für den „Nationsföderalismus" hatte. Entsprechend kam 1886, mit der Erschütterung der russisch-österreichischen Beziehungen, die polnische Frage von neuem empor. In Galizien ergriff man leidenschaftlich die Battenberger Partei. Das war der bündnispolitische Ansatzpunkt für scharfe Maßnahmen in den preußischen Ostprovinzen (Ausweisungen, Ansiedlungsgesetz), gegen die wiederum Galizien das Zentrum der Abwehr wurde. Auch in diesem Betracht erfuhr die slawenfreundliche Politik Taafes ein entschiedenes Dementi Bismarcks. In der pol­ nischen Frage liege, so schrieb der Kanzler am 1. Februar 1886 an den Wiener Botschafter Prinz Reuß, „die einzige Schwierigkeit in den Konsequenzen unseres Bündisses". Österreich werde im Falle eines Krieges mit Rußland auf die Waffe der polnischen Erhebung nicht ver-

Konservative Gemeinschaft in der polnischen Frage zichten wollen, — die doch zugleich die preußische Grenze bedrohte. Die Folgemng, die Bismarck aus diesem Sachverhalt zog, lief nicht auf liberalen Wetteifer mit dem freier gestellten Partner hinaus, sondern betonte umgekehrt: „In der Abschwächung des polnischen Ele­ ments bei uns..." liegt „die Verstärkung unserer Bündnisfähigkeit mit Österreich". So konnte in Bismarcks Argumentation eine Maß­ nahme etwa wie die Ausweisung galizischer Polen, die in Österreich als unfreundlicher Akt empfunden wurde, geradezu mit dem öster­ reichischen Staatsinteresse begründet werden. Sehr viel unbedingter galt diese konservative Interessengemein­ schaft im Verhältnis zu Rußland. Zur Zeit Nikolaus' I. hätte der preußische Staat für eine Politik entschlossener Germanisierung ver­ mutlich alle Unterstützung bei seinem östlichen Nachbarn gefunden. Nachdem es 1846 in Krakau und Posen zu Unruhen gekommen war, bedauerte der russische Gesandte in Berlin, Baron Meyendorff, aus­ drücklich, daß Friedrich Wilhelm IV. für die „Nationalität" zu sehr be­ geistert sei und das revolutionäre Ziel der Polen übersehe, denen die Erhaltung von Religion und Sprache nicht genüge. Er wies seiner­ seits absichtsvoll und in einem für ihn persönlich naheliegenden Zu­ sammenhang, der zugleich aber wiederum für das sachliche Ineinander­ greifen der Einzelprobleme von Bedeutung ist, auf die völlig andere Lage im Baltikum hin. Die Deutschen dort könnten nicht an Unab­ hängigkeit denken, ihre „Nationalität" sei für Rußland nur ein Vorteil. In Posen ist das alles umgekehrt et voilä. pourquoi il saut germaniser ce pays=lä en le rendant heureux, prospfere et tranquille." — Unter Alexander II. hat die russische Politik diese Unterscheidung zwischen revolutionären und konservativen Fremdvölkern nicht mehr gemacht und als Bismarck beim Warschauer Aufstand von 1863 sich moralisch an die Seite Rußlands stellte, da konnte er die fatalen Rückwirkungen nicht verhindern, die von der Niederwerfung in dem einen Grenzland auf die Nationalitätenpolitik in dem anderen, in den baltischen Pro­ vinzen, ausstrahlen mußten. Aber er hat mit dieser Hilfeleistung, mit der demonstrativen Absage an die Wunschbilder liberaler Außenpolitik, wie sie in der Alvenslebenschen Konvention für das populäre Emp­ finden so verletzend vorzuliegen schien, die liberalen Tendenzen pan­ slawistischer Polenfreundschaft und westmächtlicher Orientierung im russischen Kabinett selbst besiegt und damit eine wesentliche Voraus­ setzung geschaffen für die Begründung des deutschen nationalen Staates. Die antirevolutionäre Solidarität sicherte die östliche Rücken-

Bismarck und der Osten bedang der Bismarckschen Politik von 1866 und 1870, die doch ein Stück deutscher Revolution war. Die gemeinsame Abwehr des national­ staatlichen Prinzips in Polen war ein Mittel, den Zaren festzuhalten und wird noch mehrfach Deutschland und Rußland zusammenführen. So hatte die polnische Seite des preußischen „Kulturkampfes" auch ihre russische Parallele, sie entsprach dem Kampfe des Zaren mit der pol­ nisch-katholischen Kirche, der unmittelbar aus den Vorgängen von 1863 folgte, und wurde in Petersburg als Zeugnis gemeinsamer In­ teressen gewertet. Gewiß war das nicht das eigentliche Motiv der Maßnahmen, wie sofort hinzuzufügen ist, aber sie gehören in diesen gesamtpolitischen Zusammenhang hinein. Das gleiche gilt von der bereits berührten Krisis der Jahre 1885 /86. Das Ausweisungsverfahren und das Ansiedlungsgesetz hatten ebenso einen bündnispolitischen Neben­ sinn wie etwa Bismarcks Sozialistenpolitik. Das Echo von russischer Seite war der Zarenukas vom Frühjahr 1887 über die Beschränkungen im Erwerb von Grundbesitz durch Ausländer in den westlichen Pro­ vinzen. Man könnte von einer Art Gegenseitigkeit der Grenzmarkenpolitik sprechen, die in Rußland freilich neben Polen auch Deutsche er­ heblich geschädigt hat. Uber solche Rückwirkungen ging Bismarck hinweg, nicht aus „Unterwürfigkeit" und „Liebedienerei" gegen Rußland, sondern weil die Bündnisrücksicht eben nur einen Nebensinn all dieser Abwehr­ maßnahmen traf. Entscheidend war vielmehr die Erkenntnis, daß ein polnischer Nationalstaat, der sofort über diesen Rahmen hinausstreben mußte, eine lebensgefährliche Bedrohung für Preußen-Deutschland bedeute. Wie Jordan in der Paulskirche an den Wahlspruch erinnert hat: Polen reicht bis an die grüne Brücke in Königsberg, so wollte Bismarck in dem gleichzeitigen Brief an die Magdeburger Zeitung die Öffentlichkeit vor den Konsequenzen der polnischen Wiederherstellung

warnen. Beschränke man sie auf einen Teil von Posen „so kann nur der, welcher die Polen gar nicht kennt, daran zweifeln, daß sie unsere geschworenen Feinde bleiben würden, solange sie nicht die Weichsel­ mündung und außerdem jedes polnisch redende Dorf in West- und Ostpreußen, Pommern und Schlesien von uns erobert haben würden". Stelle man Polen in den Grenzen von 1772 her, „dann würden Preußens beste Sehnen durchschnitten und Millionen Deutscher der polnischen Willkür überantwortet sein, um einen unsicheren Verbün­ deten zu gewinnen, der lüstern auf jede Verlegenheit Deutschlands wartet, um Ostpreußen, polnisch Schlesien, die polnischen Bezirke

Hauptlinie der Bismarckschen Polenpolitik von Pommern für sich zu gewinnen ..Man kann Wohl sagen, daß Bismarck in dieser Fatalität, die aus der Völkergemenglage und aus der Einsprengung slawischer Splitter auch in den geschlossenen deutschen Siedlungsraum sich ergab, von Haus aus wie kaum ein anderer Staats­ mann dachte und lebte. Nicht zufällig beginnt der „Rückblick auf die preußische Politik" in den „Gedanken und Erinnerungen" mit dem polnischen Problem, und es gibt frühe Urteile aus Bismarcks Feder, die schlechthin von der Notwendigkeit des Kampfes ums Dasein sprechen, als von dem Lebensgesetz, das in der Natur herrsche „von den Insekten zu den Raubvögeln bis zu den Menschen hin". „Haut doch die Polen, daß sie ain Leben verzagen" so heißt es 1861 in einem Brief aus Peters­ burg an die Schwester Malvine, „ich habe alles Mitgefühl für ihre Lage, aber wir können, wenn wir bestehen wollen, nichts anderes tun, als sie ausrotten; der Wolf kann auch nicht dafür, daß er von Gott ge­ schaffen ist, wie er ist, und man schießt ihn doch dafür tot, wenn man kann". Nicht diese Kampfparole der „Ausrottung" ist das für Bismarck bezeichnende Moment. Sie wird schon durch die Adresse wie durch den burschikosen Wortlaut in ihrem Augenblickscharakter bestimmt. Aber was dahinter steht, das bleibt: die Überzeugung von der Unverträglich­ keit der polnischen Ansprüche mit dem geschichtlichen Aufbau des deutschen Ostens, die Ansicht einer tragischen Verstrickung, eines Zwangs zum Weitergreifen auf Seiten des polnischen Nationalismus, den man zwar verstehen kann aber abwehren muß als lebenszerstörend vom Standpunkt Preußens wie im Interesse einer europäischen Ord­ nung überhaupt. So wiederholen sich 1863 die Äußerungen über die Gefahr für Danzig und Posen, für Schlesien und Ostpreußen, ja „die Landkarten, in welchen die Träume der polnischen Insurrektion ihren Ausdruck finden, bezeichnen Pommern bis an die Oder als polnische Provinz". „Ein neues Polenreich", so heißt es in einem Er­ laß nach London, „sprengt die Kernlande der Monarchie und bedroht den Staat an der letalsten Stelle". Bismarck bemühte sich, dem­ gegenüber alle konservativen Interessen aufzurufen und namentlich der englischen Politik klar zu machen, daß die Rückenbedrohung Preußens zugleich die Front am Rhein zum Einsturz bringe. Preußen „kann eher Belgien in französischen Händen als ein freies Polen ver­ tragen". — „Alles, was Polen an Selbständigkeit gewinnt, kommt Frankreich zugute." Auch das sind gewiß Äußerungen von taktisch­ momentaner Farbe, aber sie enthalten zugleich die für Bismarcks

Bismarck und der Osten Standpunkt grundlegende Erkenntnis, die er damals in dem Wort zu­ sammengefaßt hat: ein souveränes Polen sei „ein französisches Lager an der Weichsel". Der Zusammenhang der beiden Grenzlandaufgaben des preußischen Staates, der eine Wirklichkeit seit dem 17. Jahrhundert war und den 1831 der General v. Clausewitz mit programmatischer Schärfe festgestellt hatte, tauchte in der nationalstaatlichen Phase ver­ stärkt empor. Nur die Abwehr des Nationalismus im Osten konnte den nationalen Lebensraum im Westen sicherstellen. Und so wird man das beziehungsreiche Wort ebensosehr diplomatisch-militärisch wie in einem übertragenen Sinn ausdeuten dürfen. „Ein französisches Lager an der Weichsel", das bedeutete Wiederaufnahme der Barrierenpolitik und eine Verstrickung des Ostens letztlich in fremdem Interesse, es be­ deutete zugleich den Einbruch westlicher Ideen, eines nationalistischen Imperialismus, in den östlichen Bereich. Gegen die eine wie gegen die andere Tendenz stand Bismarck auf der Schanze, und die Äußerungen der Abwehr häufen und wiederholen sich in der Folgezeit, in den großen Polenreden von 1886 wie in den Ansprachen des Altkanzlers in Fried­ richsruhe. Sie gehen immer wieder dahin, vor der Wiederherstellung Polens überhaupt wie insbesondere vor der Hergabe preußischen Gebietes zu warnen oder vielmehr die Bedrohung klarzustellen, die jedes Paktieren mit der polnischen Freiheitsbewegung für den Bestand des preußischen Staates bedeute. Das ist er nicht müde geworden, harmloseren Auffassungen entgegenzuhalten, und so wird die Haupt­ linie seiner Polenpolitik zunächst als eine „konservative" im unmittel­ baren Wortsinn, als eine schlechthin bewahrende zu bezeichnen sein. Jedoch auch hier gab es für Bismarck einen Grenz- und Aus­ nahmefall, der — wie im Südosten — im Kampf um die Existenz ein­ treten mochte. Seit dem Krisenjahr von 1879 taucht der Gedanke auf, bei akuter Gefahr Polen zeit- oder teilweise wiederherzustellen—„unter einem österreichischen Erzherzog". Gegenüber Waldersee, der wesent­ lich vom militärischen Blickpunkt aus für eine solche Lösung ein­ trat, hat Bismarck 1883 geäußert, die „Wiederherstellung Polens sei allerdings ein zweischneidiges Schwert, indes würde sie ein geringeres Übel sein als eine russische Invasion". Am gleichen Tage hörte auch Hohenlohe von der Möglichkeit, einen Erzherzog zum König von Polen auszurufen, wobei Bismarck freilich noch stärkere Vorbe­ halte machte und das Unerwünschte eines Krieges mit Rußland gerade um dieser Perspektive willen besonders betonte. Weitere Zeugnisse liegen für 1887 /89 vor. Man hat sich auf diese Spuren Bismarckscher

Foederalistische Ansatzpunkte Überlieferung gerne Berufen, als die Mittelmächte im Weltkrieg den Entschluß faßten, einen selbständigen polnischen Staat zu errichten. Indessen doch mit sehr zweifelhaftem Recht. An dem Prinzip der konservativen Solidarität hielt Bismarck im Grunde immer fest. Was er für den Fall panslawistischer Revolution als notwendige Aushilfe erwogen haben mag, war nicht eine „Randstaatenpolitik" liberal-impe­ rialistischen Gepräges, die der Westen jeder Zeit übertrumpfen konnte, sondern lief auf eine Abriegelung des „Aufstands der Nationen", auf eine österreichische Sekundogenitur, eine dynastisch-föderalistische Lö­ sung mit starken Vorbehalten hinaus. Beachtenswerter aber als diese schwebende Erwägung für den Ausnahmefall ist die Tatsache, daß es in Bismarcks Auffassung der polnischen Frage auch einen direkten Ansatzpunkt zu solchen föderativen Möglichkeiten gab, der das Problem in den grundsätzlichen Rahmen preußischer Nationalitätenpolitik stellt. Das heißt, daß die abwehrende und bewahrende Haltung nicht nur durch Aushilfsmaßnahmen durch­ brochen wurde, sondern daß sie eine positive Seite besaß, die wiederum auf den Überlieferungen des kolonialen Raums beruhte. Hier kam der „Ostelbier" Bismarck zu Wort, der in der Schönhausener Einsam­ keit polnische Sprachstudien trieb und der aus eigener Kenntnis von dem Stolz des hinterpommerschen Kaschuben auf sein Preußentum zu erzählen wußte. Sollte nicht, was hier oder bei den Masuren, Ober­ schlesiern und Litauern gelungen war, auch gegenüber den Polen möglich sein: die Überwindung der ethnischen Spannungen durch ge­ meinsame Institutionen wie das preußische Heer und durch gemein­ same materielle Interessen, durch den Staatsgedanken und durch den Heimatzusammenhang? Jedenfalls galt in dieser wie in den anderen östlichen Fragen, daß Bismarck mehr von der räumlichen als von der völkischen Einheit ausging. Gewiß sei es unerwünscht, betonte er 1866/67, mit einer widerstrebenden Nationalität zusammenzuleben, er hielt eine Auseinanderlegung in Nordschleswig mindestens für disku­ tabel, in Polen aber sei das unmöglich, „wie ein Blick auf die Karte zeigt". Darüber hinaus wies der Kanzler vor dem Norddeutschen Reichstag mit Stolz auf den Grad von Wohlstand und Rechtssicherheit, sowie auf die bäuerlich-soldatische Anhänglichkeit an den König in den preußischen Teilungsgebieten hin. Ja, er hatte vier Jahre früher den Gedanken einer weiteren Angliederung polnischer Landschaften er­ wogen. Der Anlaß dazu lag in gewissen Tendenzen auf russischen Ver-

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Bismarck und der Osten zicht, die schon unter Nikolaus I., und dann unter Alexander II. zur Zeit der Petersburger Gesandtschaft Bismarcks gespielt hatten, um in der Krisis von 1863 wieder aufzuleben. Räumte Rußland wirklich freiwillig das Königreich, dann würde Bismarck die preußische Besetzung der Nachbarschaft eines revolutionären Staates vorgezogen haben. Er wünschte weder die eine noch die andere Eventualität von sich aus herbeizuführen, aber er wäre in sich aufdrängender Lage vor dem Zu­ greifen nicht zurückgescheut, das für Preußen die militärische Sicherung durch die Weichsel-Narew-Grenze und die Wiederaufnahme der Traditionen aus den Jahren vor 1807 bedeutete. Auch über die Art der Angliederung ließ Bismarck einige bedeutsame Hinweise fallen. Das geschah im Gespräch mit dem Vizepräsidenten des AbgeordnetenHauses Wehrend, dem er als Vertreter Danzigs besonderes Verständnis für solche Gedankengänge zutrauen zu können glaubte. Es dürfe nur Personalunion eintreten, so scheint sich Bismarck geäußert zu haben, und die polnischen Abgeordneten würden nicht länger in Berlin sondern in Warschau tagen. Wenn auch die Voraussetzungen dieses Eventual­ plans nicht eingetreten sind, so hat er symptomatisch doch ein großes Interesse, und seine Ernsthaftigkeit wird durch wiederholtes Auftauchen anklingender Gedanken noch weiterhin belegt. Damals — 1863 — wies Bernstorff, der Gesandte in London darauf hin, die förmliche Einverleibung werde große außenpolitische Schwierigkeiten machen, die Personalunion aber drohe ein zweites und gefährlicheres „Ungarn" für Preußen zu schaffen. Eben diesen Vergleich griff Bismarck 5 Jahre später im positiven Sinne auf. Bei einem Gespräch mit Bluntschli am 30. April 1868 entwickelte er diesem zunächst seine Theorie von der männlich-weiblichen Rassenverbindung im Osten. „In Preußen ist eine starke Mischung von slawischen und germanischen Elementen, das ist eine Hauptursache ihrer staatlichen Brauchbarkeit." Und er fuhr dann fort: „Es gibt nur etwa 5 Millionen Polen, die übrigen (Litauen) sind früher von den Polen unterworfenes russisches Land. Die Polen sind genötigt in ähnlicher Weise auf uns zu sehen und sich an uns an­ zulehnen wie die Ungarn". — Noch deutlicher in ihrer Tendenz sind Äußerungen Bismarcks aus dem Jahre 1870, die Busch ausgezeichnet hat. Es kam in Versailles einmal die Rede auf die guten Aussichten, die der große Kurfürst im Osten gehabt habe. Als Rudolf Delbrück einwandte, dann wäre Preußen ja kein deutscher Staat geblieben, erwiderte der Kanzler: „Nun, so schlimm wäre es doch nicht geworden. Übrigens hätte es nicht

Monarchische Lösung und polnische Sprache so viel geschadet, es hätte dann etwas im Norden gegeben wie Öster­ reich im Süden. Was dort Ungarn ist, das wäre für uns Polen ge­ worden." Der Sinn dieser auffallenden Bemerkung und ihre Bedeu­ tung als nicht bloß historischer Rückblick wird noch klarer durch den Zusatz Bismarcks: „er habe dem Kronprinzen den Rat erteilt, seinen Sohn die polnische Sprache lernen zu lassen". Die dynastisch-födera­ listische Tendenz, die nicht zufällig in der österreichisch-ungarischen Pa­ rallele sich ergeht, wird hier also auf den Nordosten erstreckt und wirft dabei charakteristischer Weise die Sprachenfrage auf. Noch einmal ist Bismarck in Versailles auf das gleiche Thema zurückgekommen, das er dem Kronprinzen mit Vorliebe entwickelt zu haben scheint. Während dieser seiner Abneigung gegen die Polen Ausdruck gab und forderte, daß sie Deutsch lernen sollten, hob Bismarck die Königs- und Preußen­ treue der polnischen Bauern im Unterschied vom Adel mit seiner Klientel und den Priestern hervor; er rühmte sie als gute Soldaten, die sich nach feiner eigenen Erfahrung freuten, wenn man in ihrer Muttersprache mit ihnen rede. Und er fügte hinzu, daß „der Große Kurfürst so gut polnisch wie deutsch gesprochen hätte" und auch die preußischen Könige bis zu Friedrich dem Großen hin hätten alle gleichfalls polnisch ver­ standen. In sehr bezeichnender Weise sind in diesem Zwiegespräch — einen Monat vor der Kaiserproklamation — die Fronten abgesteckt. Der Kronprinz ist der liberale Nationalstaatler, der in eigentümlicher Um­ kehr gegen fremdes Volkstum illiberal werden mußte, und der folge» "rechte Unitarier, ohne tiefere Berührung mit der preußischen Tradi­ tion. Indem Bismarck von ihr herkam, sah er die „königliche Negie­ rung", so hat er es rein innerpolitisch einmal ausgedrückt, als „die einzige, welche objektiv sei", und auch in das polnische Problem (gleich dem zisleithanischen) spielt seine Abwehr des zentralen Parlamenta­ rismus hinein. Wie er im bundesstaatlichen Aufbau jede schematische Einheit verwarf, so sah er die Grenzlandfragen in ihrer besonderen geschichtlichen Prägung—innerhalb wie jenseits des eigenen staatlichen Bereichs. Ein Vergleich mit Heinrich v. Treitschke mag das noch weiter verdeutlichen. Der liberale Historiker besaß gewiß ein unge­ wöhnliches Empfinden für die Machtaufgaben Preußens im Osten und hat diesem Verständnis etwa in dem Aufsatz über das deutsche Ordensland ein ehrwürdiges Denkmal gesetzt. Aber indem er die Reichs­ gründung durchaus an der westlichen Norm des Einheitsstaates maß, hatte er für die zwischenvölkischen Lebensformen des kolonialen Raums

Bismarck und der Osten so wenig Sinn, daß ihm die Geschichte des baltischen Deutschtums, eines Stammes, der sich ohne nationalen Staat behaupten mußte, eben deshalb, als „unsittlich" erschien. Sehr anders Bismarck, — und die gleiche Weise des Sehens hat er in der polnischen Frage nicht verleugnet. Er konnte von seinem Staatsgedanken aus sich im Ansatz durchaus mit dem Plan einer dezentralistischen Verfassung berühren, wie ihn Stein in der Nassauer Denkschrift entwickelt hatte — auch damals für ein weites polnisches Hinterland. Und es ließe sich fragen, ob ein wirklich großer Neuerwerb nicht diesen Gedanken fruchtbar zu machen versprach — im Sinn einer Reichsidee, die frei war von annexionistisch-germanisierenden Zügen und dem Bild einer östlichen Völkerordnung entsprach, an der Bismarck gleichzeitig auch den Zaren festzuhalten suchte. Man wird solchen Erwägungen freilich sofort hinzufügen müssen, daß hier wie dort die Gründung des nationalen deutschen Staates einen Einschnitt bedeutete, der wiederum den inneren Zusammenhang der verschiedenen Seiten unseres Problems belegt. Zunächst rechnete Bismarcks positive Ansicht der polnischen Frage mit geistigen und sozialen Voraussetzungen des landschaftlichen Zusammenlebens und der dynastisch-patriarchalischen Verbundenheit, die seit den sechziger Jahren im Abklingen waren. Während auf der einen Seite der Blick der Deutschen in den Ostprovinzen sich nach Westen wandte, während die industrielle Konjunktur und die größere soziale Freiheit, aber auch das geringere Risiko und die Annehmlichkeit des Lebens die Menschen abzog, geschah der Anfang zur Bildung eines polnischen Mittelstandes und zu einer nationalpolitischen Erweckung des Bauerntums durch die katholische Kirche. Und wenn die konfessionellen oder sozialen Span­ nungen noch überwindbar sein mochten durch neue große Aufgaben, so mußten die Ereignisse von 1866/67 und 1870/71 in solche Möglich­ keiten ebenso hineinschneiden wie in die Lebensbedingungen des Deutschtums jenseits der Grenze. Für die preußischen Polen wurde der König durch ein deutsch-liberales Parlament verdrängt; indem die Ostprovinzen Preußens in den Norddeutschen Bund und dann in das Reich eingegliedert wurden, trat das Grenzmarkenproblem auf eine neue Ebene. Es handelte sich hinfort nicht so sehr um Staat und Volkstum sondern um zwei nationalstaatliche Prinzipien, die sich an­ einander rieben. Während das Preußentum keinen eigentlichen An­ griff auf die Nationalität bedeutete, erklärte in den Debatten des Jahres 1867 ein polnischer Abgeordneter: „Was haben wir Gemein-

Nationalstaatsprinzip im Kulturkampf schaftliches in einem auf nationaler Grundlage gebildeten Bunde, den ein gemeinschaftliches deutsches Band umschließt?" Um so mehr ist wiederum von symptomatischem Interesse, daß auch in der veränderten Lage Bismarck keineswegs als Vertreter des nationalstaatlichen Gedankens in der Polenfrage anzusprechen ist. Wohl verschärfte sich der Kampf auch von der preußischen Seite her, und er fand seinen Ausdruck in der Kirchen- und Schulgesetzgebung der 70er Jahre. Aber es wird nicht zu übersehen sein, daß dieser Kampf einer umfassenden Front galt, den innerpolitisch-parteimäßigen Geg­ nern (der Koalition von Windthorst bis Grillenberger) und der außenpolitisch-katholischen Revanchegefahr. Man habe konfessionellen Frie­ den gehabt, führte Bismarck in einer Herrenhansrede von 1872 aus, bis Österreich und Frankreich ihre Niederlage erlitten und „die Zukunft

eines evangelischen Kaisertums sich deutlich am Horizont zeigte". Daß die polnische Spitze des Kulturkampfs, die der Altkanzler in den „Gedanken und Erinnerungen" so stark betont, von diplomatischen Rück­ sichten mitbestimmt war, wurde schon berührt, die innere und die äußere Gefahr trafen hier zusammen. Bereits am 18. März 1867 hatte sich Bismarck gegen den Mißbrauch der Kanzel, des Beichtstuhls und der geistlichen Schulaufsicht in Posen gewandt, er sah mit Sorge den Fortschritt polonisierender Tendenzen, das Verschwinden deutsch­ katholischer Dörfer, wobei die katholische Abteilung des Kultusmini­ steriums und das dahinter stehende Magnatentum die Deckung bilde. Noch einmal klingen die dynastisch-föderalistischen Gedanken an, wenn es am 30.1. 72 heißt, im absoluten Staat habe die katholische Schul­ abteilung Sinn gehabt, in der konstitutionellen Verfassung sei sie eine Anomalie. Bismarck hat später das konfessionelle Kampfmoment fast nur in seiner nationalpolitischen Verkleidung gelten lassen wollen und damit die Gesetze gegen die katholische Kirche motiviert. Aber das ge­ samtstaatlich-autoritäre und das außenpolitische Moment kamen ganz entscheidend hinzu, wie bei der Belastung in der römischen Frage so im Osten. In einem viel zitierten Brief an den Minister Eulenburg, der den Debatten über das Schulaufsichtsgesetz unmittelbar voran­ ging, hieß es: „Ich habe das Gefühl, daß auf dem Gebiete unserer polnischen Provinzen der Boden unter uns, wenn er heut noch nicht auffällig wankt, so doch unterhöhlt wird, daß er einbrechen kann, so­ bald sich auswärts eine polnisch-katholisch-österreichische Politik ent­ wickeln kann." Schon damals forderte Bismarck die Ausweisung aller nicht heimatberechtigten Polen. Einen Monat später notierte Hohen-

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Bismarck und der Osten lohe: „Es scheint, daß die kompromittierenden Papiere... bei den Jesuiten in Posen ... dem Faß den Boden ausgeschlagen haben." Aber im Juni 71, im Augenblick der tatsächlichen Kriegserklärung an Rom, hatte Bismarck genau das Gleiche von „der Allianz der Kleri­ kalen mit den Demokraten" gesagt. Man wird somit keines der Motive isolieren dürfen. Der Kampf galt weder der katholischen Kirche noch dem Polentum an und für sich, sondem der Verbindung von konfessio­ neller und parteipolitischer, von partikularistischer und national-separa­ tistischer Gegnerschaft, und zwar ganz wesentlich in ihrer außenpoli­ tischen Bedrohlichkeit. An dem Recht zu solcher Abwehr ist nicht zu zweifeln — auch wenn der Erfolg zweischneidig war, insbesondere gerade in den preußischen Ostprovinzen. Der polonisierende Einfluß der Schule wurde zwar zurückgedrängt, aber an Elternhaus und Geistlichkeit reichte die Autorität des Staates nicht heran, und die kirchenfeindliche Front der Verdeutschungspolitik trieb Katholizismus und Polentum verhängnisvoll zusammen; sie schien der agitatorischen Parole Recht zu geben, mit der schon 1848 in Posen gehetzt worden war, und ließ die nationale Leidenschaft auch auf bisher ruhige Gebiete übergreifen. Wenn der Kanzler nach Abbruch des Kulturkampfes nur im Polentum den Anlaß sehen wollte, so wurde umgekehrt dem Kaschuben und Oberschlesier gepredigt, er solle seines katholischen Glau­ bens beraubt werden. Beides war unberechtigt, und man wird sagen dürfen, daß wie die kirchenfeindliche Tendenz dem Bismarckschen Denken wesenhaft fern lag, so auch die nationalstaatliche. Er hat den Kampf als „Mann des Staates" geführt gegen konkurrierende Ge­ walten, die sich ihm geradezu als auswärtige Mächte darstellten, er hat vom Papsttum einmal gesagt, daß er vor ihm wie vor allen realen Kräften geschichtlichen Respekt empfinde, er hätte das gleiche auch von der wirkenden Kraft des Volkstums in etwa sagen können. Die Polen, so stellt I. Feldmann mit Recht fest, waren seine Gegner nicht wegen ihrer ethischen oder sprachlichen Verschiedenheit, sondern wegen ihrer politischen Bestrebungen. — Der kulturkämpferische wie der ger­ manisierende Zug entsprachen hingegen durchaus der national-liberalen Zielsetzung des weltlichen und des unitarischen Staates. So ist die die Kulturkampfphase der Polenpolitik durch das Bündnis des Staats­ manns mit der führenden Partei der Reichsgründungszeit charak­ terisiert. Das gleiche gilt bis zu einem gewissen Grade auch noch von der zweiten Etappe des Kampfes in den achtziger Jahren, obwohl nach 52

Bismarcks Stellung zum Ansiedlungsgesetz dem Abschluß des Zweibundes und dem Beginn der neuen Wirtschafts- und Sozialpolitik die konservativen Elemente der Bismarckschen Staatsführung sich stärker durchsetzten. Außenpolitische und wirtschaft­ lich-soziale Motive griffen auch in die Behandlung der Grenzlandfragen ein. Von dem besonderen Zusammenhang, der zwischen Bündnis­ system und Ausweisungspraxis bestand, war schon die Rede. Sie hatte keine germanisierende sondern eine abwehrende Tendenz und richtete sich nur gegen nichtnaturalisierte Polen. — Auch bei der Ansiedlungs­ vorlage betonte Bismarck mit aller Schärfe und mit gutem Recht: „Wir wollen nicht das Polentum ausrotten, sondern wir wollen das Deutschtum davor schützen, daß es seinerseits ausgerottet werde". Wie der Kulturkampf gegen die polnische Geistlichkeit, so sollte die neue Aktion noch ausdrücklicher sich gegen den polnischen Adel richten, gegen die Schlachta, die Bismarck vom eigentlichen „Volk" getrennt, ja als dessen Feind und als „anderen Stammes" zu sehen neigte. Er wollte die 100 Millionen der Ostmarkenvorlage benutzen, um polnischen Großgrundbesitz, der «üb basta kam, zu erwerben und so den Rückgang des Deutschtums aufzuhalten. Wenn er von deutscher Ansiedlung sprach, so dachte er dabei an Domänenpächter, welche auf den polnischen Gütern angesetzt werden sollten, an „sichere Leute" unter ständigem Einfluß des Staates. Sein Gedanke ging gewissermaßen auf eine Verstaatlichung der sozialen Herrschaftsstellung auf dem Lande hinaus, die mit seiner staatssozialistischen Gesamtpolitik gewisse Beziehungen zeigt und durch die Aufhebung des Schulpatronats ergänzt wurde. Hingegen plante Bismarck eine deutsche Bauernsiedlung zunächst nicht, er schwärme, so sagte er am 21. Februar 1886 zu Lucius, „für über­ seeische Kolonialpolitik so wenig wie für diese". Hier griffen indessen parlamentarische Rücksichten ein. Die Nationalliberalen nahmen den Gedanken des Nentenguts und der deutschen bäuerlichen Siedlung mit „Feuer und Flamme" auf, einer aus ihren Reihen, Miquel, wurde für die endgültige Gestalt des Gesetzes entscheidend. — Weshalb Bismarck diese Umstellung geschehen ließ, das hat er damals in einem Gespräch dem Freikonservativen v. Kardorff näher dargelegt. Dieser empfahl auch seinerseits, sich auf den Ankauf polnischen Großgrund­ besitzes und die Einsetzung deutscher Domänenpächter zu beschränken. Bismarck antwortete darauf, das entspreche seiner eigenen Anschauung, aber der Plan scheitere an „der nationalliberalen Partei, welche eine deutsche bäuerliche Siedlung als Vorbedingung für ihre Zustimmung zu der Etatsforderung hingestellt hat...". Der Kanzler wies dann be-

Bismarck und der Osten ruhigend darauf hin, daß ein Kenner der Verhältnisse wie der Ober­ präsident v. Zedlitz keine Bedenken gegen die Umstellung des Entwurfs habe, und fuhr fort: „ich kann sie nur bitten nicht übersehen zu wollen, daß es sich hier um eine Frage handelt, welche in unsere auswärtige Politik hineingreift. Die Niederlage, welche Polen, Zentrum und Linke in den polnischen Fragen der Reichsregierung im Reichstag be­ reitet haben, hat im Auslande Aufsehen erregt und unsere Beziehungen zu mancher der auswärtigen Mächte wesentlich erschwert. Für diese Niederlage bedarf ich einer glänzenden Genugtuung, wie sie mir nur eine starke Majorität des preußischen Abgeordnetenhauses zu ver­ schaffen vermag, und diese starke Majorität kann ich ohne Beihilfe der Nationalliberalen nicht haben". Der parlamentarische wie der außenpolitische Zusammenhang, in den diese Worte das Ansiedlungsgesetz stellen, ist nach mehr als einer Richtung hin von Interesse, und auch die Parallele mit der Kolonial­ politik in Ubersee geht über die äußere Ähnlichkeit hinaus. Bismarck sah hier wie dort eine Lage gegeben, die es erlaubte, die Reihen des parteimäßig verkämpften Deutschtums zu schließen und dem Ausland die Hoffnung auf Risse und Fugen im Reichsbau zu nehmen, aber er wurde selbst dabei weder Imperialist noch Nationalist im Sinne einer Volks- oder stammesmäßigen Feindschaft gegen das Polentum. Die Züge der Ansiedlungspolitik, die das spätere Schlagwort des „Hakatismus" meint, lagen seiner Absicht fern, wie neuerdings auch von polnischer Seite festgestellt worden ist; Bismarck wollte nicht volks­ mäßig germanisieren. Und es trifft durchaus mit seiner gleichzeitigen Ansicht überein, wenn er im Rückblick sich recht kritisch geäußert hat. In Tischgesprächen von 1896 betonte er von neuem: Es wäre richtiger gewesen, die Ländereien zunächst als Domänen in Königliches Eigen­ tum überzuführen. „Die politische Tendenz sei nicht sowohl auf die Ersetzung polnischer Bauern durch deutsche Bauern gerichtet gewesen, sondern auf die möglichste Beschränkung des polnischen Großgrund­ besitzes in seiner durch die Geistlichkeit geförderten Deutschfeindlich­ keit und national-polnischen Aspiration." Er beklagte die Güterzer­ schneidung „am grünen Tisch", die ja in der Tat mit der Parzellierung und Mobilisierung des Landes auf die Dauer dem genossenschaftlich organisierten Polentum in die Hand gearbeitet hat. Deutlicher noch ist der politische Sinn dieser Kritik in den Altersreden an die Deutschen aus Westpreußen und Posen. Wir sind, hieß es da, „etwas zu eilig in der Sache vorgegangen", mit der Zeit habe wohl eine, „wenn nicht

Ablehnung germanisierender Tendenzen deutsche so doch deutschtreue Bevölkerung" sich herstellen lassen. Und das andere Mal: „Es ist nicht mein Programm gewesen, daß bei der Ansiedlungskommission vorzugsweise auf die Ansiedlung kleiner Leute deutscher Zunge Bedacht genommen würde. Die polnischen Bauern sind nicht gefährlich, und es ist nicht entscheidend, ob die Arbeiter pol­ nisch oder deutsch sprechen." Bei all diesen Äußerungen ist eine Parallele nicht zu verkennen,

auf die noch ausführlicher zurückzukommen sein wird: die zwischen Ständekampf und Nationalitätenkampf; Bismarck lebte in der Tra­ dition, daß erst die Niederringung der politischen Stellung des Adels, der „Adelsnation", der „Adelsrepublik", Staat im Osten verwirklicht hatte. Um so weniger wird man seine Anschauung von der „friedlichen Zusammenarbeit" beider Volksstämme in der Unterschicht und die Zuspitzung des Ansiedlungsgedankens auf den Großbetrieb mit einem junkerlichen Klassenstandpunkt verwechseln dürfen. Max Weber weist einmal darauf hin, wie energisch gerade Bismarck mit der Absperrung der Polnischen Saisonarbeiter gegen das großagrarische Interesse seiner Standesgenossen gehandelt habe, während die liberale Polenpolitik Caprivis widerspruchsvoll genug mit der Öffnung der Grenzen seinem inneren Gegner, dem Bund der Landwirte, einen Liebesdienst tat. Für Bismark war entscheidend das staatliche und das konservative Prinzip, die Führung durch einen ausgewählten, wirtschaftlich fort­ schreitenden, politisch disziplinierten Pächterstand und die Erhaltung des eingesessenen Vokstums beider Nationalität. — Aber auch noch eine andere Jrrtumsmöglichkeit gilt es auszuschließen. Bismarcks Grundansicht vom notwendigen und durchaus fruchtbaren Zusammen­ leben der Völker im östlichen Raum, die auch an dieser Stelle durch­ bricht, war frei von jeglicher Sentimentalität. Er wußte, daß Ver­ ständigung vor allem darauf beruht, daß man selbst zur Behauptung mit äußerster Schärfe entschlossen ist, im Kampf sah er von jeher den „Vater der Dinge". Und wie er die Ausländsdeutschen zu einer be­ sonderen Rolle aufgefordert sah, so nicht weniger die Grenzdeutschen, die Deutschen „gleichsam in der Diaspora". Auch das klingt in den Reden an die Posener und Westpreußen sehr deutlich an und führt noch einmal zu einer Kritik an der Ansiedlungsgesetzgebung hin, sie appel­ lierte in gewissem Sinn eher zu wenig als zu sehr an den kämpferischen Instinkt, sie hielt sich während der 80er Jahre und erst recht in der Folgezeit wesentlich im Rahmen einer bürokratisch organisierten Land­ versorgung. Man betont mit Recht, daß darin ihre Schranke lag; man

Bismarck und der Osten wird hinzufügen dürfen, daß um so dringender heute die Mahnung, sich nicht unterwandern zu lassen und die Mahnung zum zähen Fest­ halten aus Bismarcks Polenpolitik spricht. Noch einmal aber ist der begrenzte Charakter ihres Kampfwillens zu betonen. Er galt — bei aller Härte der Abwehr — nie dem pol­ nischen Volkstum als solchem. Immer wieder war Bismarcks Vor­ stellung, wie es in der Rede vom 28.1.1886 heißt, die Sprache des pol­ nischen Bauern und Landarbeiters nicht „anzufeinden", sondern ihm nur das Verständnis des Deutschen zu lehren, ihn damit unabhängiger zu machen von einseitiger Agitation und — soweit diese schon Platz gegriffen — ihn durch kulturelle Hebung wieder dem Staate zu ge­ winnen. Er sollte sich dem Konnationalen jenseits der Grenze über­ legen fühlen, wie der preußische Litauer gegenüber dem „Szamaiten." Ausdrücklich hat Bismarck einmal u. a. auf Ostpreußen hingewiesen, „wo die polnischen Masuren, Litauer und die Deutschen friedlich zusammen­ arbeiten" und ebenso wiederholt auf Oberschlesien,. Aber für den engeren polnischen Bereich verwirklichte sich diese Hoffnung nicht. Gerade durch die fürsorgende Verwaltung des Staates erwuchs in den preußischen Teilgebieten der eigentliche nationalistische Stand, das Bürgertum, was Bismarck nicht mehr voll zur Anschauung kam, und auch das Bauerntum entzog sich, seit dem Kulturkampf und der Aus­ bildung des ländlichen Genossenschaftswesens, mehr und mehr den Vorstellungen, an denen er es maß. Die überkommenen Schranken der dynastisch-patriarchalischen Sicht konnte auch der Genius nicht über­ springen, aber die verhältnismäßige Freiheit gegenüber der liberalen und nationalstaatlichen Ideenwelt, die dies „Zurückbleiben" veran­ laßte, ging mit einem Hinausgreifen Hand in Hand. Vom monarchischen Obrigkeitsgedanken wurde das Prinzip des „roi des gueux“ in den Osten getragen, von der kolonialen Tradition der Gedanke einer Ord­ nung zwischen den Völkern im gemeinsam verhängten Raum. Wir glauben nicht, so ließ Bismarck 1892 verlauten, daß die Vorsehung Germanen und Slawen „absichtslos nebeneinander gestellt hat." Seine Abwehr beschränkte sich auf den polnischen Adel und die Geistlichkeit, auf die „Agitatoren und Verführer", die „Preußen auf 24-stündige Kündigung", und es ergäbe ein bitteres Bild, wenn man an diesem beschränkten Kampfwillen alles das messen wollte, was wirtschaftlich und national dem Deutschtum der Zwischenzone seit 1919 geschehen ist.

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Parallele zwischen Nationalpolitik und Sozialpolitik Indem die soziale Seite der Polenpolitik und ihre Berührung mit gewissen staatssozialistischen Gedanken in das Blickfeld tritt, wird zum Schluß nach den „östlichen" Motiven in Bismarcks innerstaat­ licher Anschauungswelt noch in Kürze zu fragen sein. Wie die Natio­ nalitätenprobleme des Ostens, da sie rittlings der Grenze lagern, rein tatsächlich schon eine Verbindung zwischen äußerer und innerer Politik darstellen, so stehen sie auch — grundsätzlicher genommen — in der Mitte beider Bereiche. Ihre Behandlung, sofern sie überhaupt größeren Stil gewinnt, wird von der Art abhängen, wie ein Staats­ mann oder eine Epoche das Zusammenleben zwischen Völkern und das Bild der Staatengesellschaft im ganzen sieht, sie findet zugleich aber auch eine weitgehende Entsprechung in der jeweiligen Ansicht der innerstaatlichen Gesellschaft, d. h. — das Wort zunächst ganz all­ gemein genommen — der „sozialen Frage". Man braucht, um das im Groben zu verdeutlichen, nur an Bis­ marcks Unterscheidung des eigentlichen „Volkes" von seinen sogen. „Vertretern" zu erinnern, die auf sehr anderen Grundlagen bericht als Rousseaus Satz: „La nation ne se represente pas“. Sie ist genau die gleiche im Fall des polnischen Adels und der polnischen Geistlichkeit wie in dem der sozialdemokratischen Abgeordneten und Agitatoren. Den alt-deutschen Rechtssatz des genossenschaftlichen Lebens „wer nicht will deichen, der muß weichen", wollte Bismarck hier wie dort angewandt wissen. Im Kampf der Klassen wie der Nationalitäten galt ihm die „königliche Regierung" als die einzig objektive Instanz. Der preußisch-östliche Grundton dieser Auffassung ist nicht zu verkennen, sie meinte „Volk" in einem ursprünglichen Sinne, noch unangegriffen von den auflösenden Kräften der bürgerlichen Gesellschaft. Im Grunde ist Bismarck immer der Mann geblieben, der 1848 seine Bauern gegen Berlin führen wollte. Das wahre preußische Volk, sagte er 1852 im Abgeordnetenhaus, werde, wenn die großen Städte sich wieder ein­ mal erheben wollten, sie zum Gehorsam zu bringen wissen und sollte es sie vom Erdboden tilgen. — Auch als der junkerliche Abgeordnete zum „Mann des Staates" geworden war, hat er den Quellgrund der Wirklichkeit — wie persönlich im Verkehr mit der Natur — so auch sachlich in der Berührung mit dem Heimatboden immer wieder auf­ gesucht: seine Politik behielt einen Zug der Stadtferne. Es war nicht nur der konkrete Kampf um die Getreidezölle, der Bismarck den Ge­ danken nahelegte: In Preußen darf niemand Ministerpräsident sein, der nicht Landwirt ist! Sein Mißtrauen gegen die Schichten, die

Bismarck und der Osten lediglich „fruges consumere nati sunt“, gegen alles künstliche Machen und bürokratische Organisieren, oder persönlicher zugespitzt, gegen die Drohnen des Parlaments und den Geheimrat am grünen Tisch, diese immer wiederkehrende Tendenz war von unten und außen, von den „Provinziellen" her gedacht, die das kennen, was „hinter dem Mauer­ stein und dem Steinpflaster der Stadt" liegt. Wie im Mittelpunkt seiner Wirtschaftspolitik das Korn stand, „das die deutsche Nation ißt", so kannte er von der Industrie aus eigener Anschauung im Grunde nur das Klein- und Mittelgewerbe der östlichen Provinzen. Der erste An­ satz seiner Arbeiterpolitik in den 60er Jahren hatte den deutlichen Nebensinn, mit der Förderung genossenschaftlicher Formen zugleich die stürmische Entwicklung und die Zusammenballung der Unterneh­ mungen zu mäßigen; auch die Koalitionsfreiheit sollte ein „Korrektiv“ gegen das krankhafte Wachstum einzelner Industriezweige sein. Und wenn Bismarck darüber nicht zum sozialpolitischen Reaktionär, zum bloßen Mittelständler wurde, so noch weniger zum Gläubigen der freien Konkurrenz. Vollends dann die konservative Wendung vom Ende der 70er Jahre, die mit dem Ausbau des Bündnissystems den Osten stabilisieren und nach Bismarcks Wort Deutschland zum „Blei­ gewicht am Stehaufmännchen Europa" machen sollte, sie wollte zu­ gleich das Reich der Mitte auch wirtschaftlich und sozial möglichst in sich „gründen", es möglichst unabhängig machen von den Weltkon­ junkturen. England, das bündnisfrei und freihändlerisch blieb, bildete insoweit den vollen Gegensatz zu Bismarcks System der Rückver­ sicherung und des „Schutzes der nationalen Arbeit". Der Kernpunkt war bei diesem Schutz die Förderung des inneren Marktes, und recht deutlich tritt die Absicht eines planmäßigen Ausgleichs hervor, so u. a. das Bestreben, in den menschenarmen östlichen Gebieten der Monarchie Industrien anzusetzen, die mit der Landwirtschaft sich wechselseitig stützen, vor allem holzverarbeitende Industrien, bei denen der Klein­ bauer durch Fuhrleistungen Nebenverdienst findet. Im Mai 1879 hat Bismarck im Reichstag der heimischen Kiefer und Eiche nachge­ rühmt, daß sie in den Dächern der alten Ratshäuser und Kirchen eine vielhundertjährige Lebensdauer bewähre wie keines der vornehmen ausländischen Hölzer. Für den Kleinbesitz auf dem Lande forderte er den Verschuldungsschutz und die Aufstiegsmöglichkeit des Landarbeiters. Noch viele solche Einzelzüge wären zu nennen, — alle zusammen­ stimmend in der Tendenz, der Verstädterung entgegenzuwirken und den Menschen bodenfest zu halten oder wieder zu machen. Das Land,

Östlich-sozialistische Züge so heißt es noch in Altersaussprüchen des Kanzlers, ist das Volk. Der Bauernstand „ist der Felsen, an dem das Gespensterschiff der Sozial­ demokratie zerschellen wird". Äußerungen dieser Art mußten in der vorwiegend liberalen Epoche als reaktionärer Utopismus erscheinen. Ein Blick auf die öst­ liche Gegenwart, von Rußland über die Bauerndemokratien der Zwi­ schenzone bis nach Ostdeutschland hin, stellt sie in den Zusammenhang weltgeschichtlicher Entscheidung und ist wiederum geeignet, die Doppel­ seite des in sie verflochtenen Reiches aufs deutlichste herauszuheben. Mit Recht hat Giselher Wirsing betont, daß die Mittellage Deutsch­ lands auch von innen her durch nichts klarer bezeichnet werde als durch die Tatsache, daß die Grenze zwischen den vorwiegend industriellen Lebensformen des europäischen Westens und den vorwiegend agra­ rischen Lebensformen des europäischen Ostens mitten durch das Reich hindurchläuft. In diese Doppelseitigkeit ist auch Bismarcks Sozialpolitik im engeren Wortsinn eingeordnet. Wenn sie mit den Mitteln des konsti­ tutionell verfaßten Staates die Schicksalsfrage des modernen Prole­ tariats in Angriff nahm, so behielt sie doch ihren spezifisch ostelbischen Ausgangspunkt in den Rechtsbegriffen des preußischen aufgeklärten Absolutismus und seines großen Gesetzbuches, — mehr noch im Er­ fahrungsbereich der patriarchalischen Gutsherrschaft, der natürlich­ ständischen Lebensgemeinschaft und der lutherischen Obrigkeit, in der geistigen und sozialen Welt gottgewollter Abhängigkeiten aber auch ebenso gottgewollter Fürsorge und Verantwortung, in der Atmo­ sphäre jenes Wortes von der „verdammten Pflicht und Schuldigkeit", dessen nüchtern-heroischer Appell den Mann um so härter angeht, je höher er steht. Eben dahin gehört Bismarcks Vertrauen auf den ge­ sunden Sinn des einfachen Mannes und der Massen, das in der So­ zialpolitik genau so hervortritt wie in der Nationalitätenfrage und das sich beide Male gegen den „Agitator richtet, gegen die Anarchie mensch­ licher Willkür, religiös gesprochen, gegen den Versucher, der sein sub­ jektives Meinen über die objektiven Ordnungen stellt und das Paradies auf Erden verheißt. Gerade als lutherischem Staatsmann lag Bismarck jeder Zug „politischer Werkgerechtigkeit" fern. Hier ist in ihm ein innerster und nicht nur politischer (geschweige denn sozial-egoistischer) Protest immer lebendig gewesen: die Erbsündenlehre, die Überzeugung vom Prinzip des Bösen in der Welt, feite ihn — vor aller wirtschaftlich­ fachlichen Erkenntnis — gegen die optimistische Weltansicht desLibe-

Bismarck und der Osten ralismus und die Harmonielehren des Westens. Auch das ließe sich ganz konkret bis in die Einzelheiten der Nationalitätenpolitik und der Sozialpolitik als Grundhaltung verfolgen. Bismarck ist etwa in den Fragen des Grenzlandkampfes nie der Meinung gewesen, das Land bewege sich zum besten Wirt; er sah oder lernte sehen, daß die land­ wirtschaftliche Krisis der tiefer stehenden Nationalität hilft, daß, wie Max Weber es ausgedrückt hat, derjenige am wenigsten durch die Un­ gunst des Marktes bedroht ist, der seine Produkte „in den eigenen Ma­ gen" bringt und „die geringsten Ansprüche physischer und ideeller Art hat". — In gleicher Weise stieß Bismarck durch die liberale Apologie auf sozialem Gebiete durch. Er nahm die moderne Produktionsweise als etwas Gegebenes hin, er stand für die Erhaltung der Staats- wie der Gesellschaftsordnung im Kampf, aber er hat nie der Lehre ange­ hangen, daß mit der kapitalistischen Wirtschaft die beste aller Welten organisiert sei. Schon 1863 sprach er von dem „natürlichen Menschen­ recht", das mit der sozialen Verfassung der Gegenwart in Widerspruch stehe. Schon in einem der ersten seiner sozialpolitischen Erlasse ging er gegen die Annahme einer Selbstgesetzlichkeit des Ökonomischen, gegen sogenannte „Grundlehren der Volkswirtschaft" vor; erst recht mußte ihm der Gedanke fremd sein, daß aus dem wirtschaftlichen Automatis­ mus und dem freien Spiel der widerstreitenden Interessen an und für sich schon der Sieg des Tüchtigsten und der größte soziale Nutz­ effekt herausspringe. Den Widerspruch zwischen formeller Freiheit und materieller Ungleichheit hat Bismarck frühzeitig durchschaut, aus dem eigenen ostelbischen Erfahrungsbereich lag das Menetekel der Freilassung des Bauern durch Hardenberg und seiner tatsächlichen Preisgabe an den wirtschaftlich Überlegenen nahe genug. Und wenn auch die ersten sozialpolitischen Ansätze der sechziger Jahre in Richtung der Produktivassoziation nicht wieder ausgenommen wurden, wenn vielmehr zunächst auf dem Wege über die Koalitionsfreiheit das liberale System sich vollendete in der Art etwa des englischen Vorbilds, so hat der Kanzler doch daran festgehalten zu realisieren, „was in den sozia­ listischen Forderungen als berechtigt erscheint". Er rief die altpreußischen Überlieferungen an und fügte hinzu:,,... etwas mehr Sozialismus wird sich der Staat bei unserem Reiche überhaupt angewöhnen müssen". Auf dem Gebiet des Eisenbahnwesens gewann zuerst der Gedanke Gestalt, die lebenswichtigen Interessen der Nation aus den Händen „privater Aktiengesellschaften" zu befreien, dann griff er auf das Versicherungswesen über, um hier dem schwächeren Teil das Gefühl des

Sozialpolitische Intervention Preisgegebenseins an anonyme Mächte zu nehmen, dem „Soldaten der Arbeit" die notwendigste Sicherung des Daseins öffentlich zu ver­ bürgen und den Staat in das soziale Grundverhältnis von Angebot und Nachfrage hineinzustellen. Auch die Arbeiterrente, wie der klein­ bäuerliche Besitz, war als staatlich geschütztes Eigentum gedacht. Da­ hinter standen Gedanken der Sozialisierung und eines berufsstän­ dischen Aufbaus der Industrie. So ging — nicht zufällig — mit der nationalpolitischen Inter­ vention im Osten die sozialpolitische parallel, als Kampf gegen poli­ tisch unverträgliche Ansprüche, gegen „subversive Tendenzen" aber auch als Versuch der Erziehung von oben her, des gestaltenden Ein­ griffs in die bloße Gegebenheit, als Primat des Staates gegenüber den Naturtatsachen der Biologie wie der Wirtschaft, als Erhebung des obrigkeitlichen Gebots gegenüber allen gesellschaftlichen Interessen. Der monarchische Ordnungsgedanke, der Ordnung zwischen Völkern und zwischen Klassen, der dem allem zu Grunde liegt, mündet seinerseits in die monarchische Bündnispolitik des Ostens. Ordnung der Gesell­ schaft im Staat und Ordnung der zwischenstaatlichen Gesellschaft stammen aus der gleichen Wurzel und haben in ihrer politischen Spitze die antidemokratische Richtung gemeinsam. — Auch hier stehen Klasse und Nationalität in deutlicher Parallele. Nicht die Spannung zwischen ihnen an und für sich ist das Übel, sondern die Verlagerung auf die Ebene des Parlamentarismus, die Verbindung zwischen Nationalität bezw. Klasse und — Partei. Sie hat die agitatorische Aufreizung zur Folge, und sie greift notwendigerweise im Mittel fehl. Sie zersetzt den deutschen Staat in seiner gegebenen Wirklichkeit, und es ist für den Totalzusammenhang dieser Auffassung sehr bezeichnend, wenn Bismarck die Fraktionen gelegentlich „parlamentarische Aktiengesellschaften" nennt oder wenn er die „Aufteilung der Reichspolitik" durch sie mit der Rolle der — Privateisenbahnen im Transportwesen vergleicht. Er wußte sehr genau, daß die wohltätige „Spielregel" des Parlamentarismus in England mit den wirtschaftlichen Lebensformen der Insel zusammen­ hing, daß sie auf mancherlei gesellschaftlichen Voraussetzungen, insbe­ sondere aber auf der frühen und gewiß nicht ungewaltsamen Zusammen­ schmelzung der verschiedenen völkischen Bestandteile und sozialen Schichten zur „Nation" beruhte. Wo es sich hingegen um prinzipielle Gegensätze des staatlichen Lebens, um wesensmäßige Spannungen in der sozialen oder völkischen Struktur handelt, da fehlen die technischen Bedingungen für das „liberale Gespräch", da ist insbesondere die

Bismarck und der Osten Demokratie kein Moment des Ausgleichs, — schon deshalb nicht, weil das parlamentarische Korrektiv des Mehrheitswechsels dem Kampf der Klassen wie der Nationalitäten sich versagt. Im österreichisch-un­ garischen Falle sahen wir Bismarck diese Ansicht vertreten, sie galt auch für das neuerrichtete deutsche Reich. Aus Gründen der äußeren wie der inneren Lage stand daher Bismarcks Verfassungspolitik dem westeuropäischen Typus ent­ gegen. Das unitarisch-demokratische Ideal war nicht nur „unerreichbar" sondern wurde vielmehr bewußt nicht erstrebt. Im Elsaß, so fand Bis­ marck, sei zu stark zentralisiert worden, er weigerte sich, ein liberales Reichsparlament zum Souverän der Reichslande zu machen, er wollte die innere Wiedergewinnung an die Institutionen des Kaisertums und des Landespräsidiums sowie an die Belebung der stammesmäßigen Eigenart knüpfen. Überhaupt wäre auch in diesem Zusammenhang die durchaus doppelpolige Auffassung des landschaftlichen wie des dynastischen Partikularismus in Bismarcks Gedankengängen zu be­ tonen, deren Spannweite von den schärfsten Angriffen gegen Souve­ ränitätsschwindel, Eigenbrötelei und nationale Desertion bis zu den berühmten Ausführungen über „Dynastien und Stämme" in den „Gedanken und Erinnerungen" reicht und bis zur Erwägung der Per­ sonalunion, wie sie in die polnischen Möglichkeiten mindestens hinein­ spielt. Und wenn auf gewisse unitarische Ansätze am Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre bald der föderalistische Gegenschlag folgte, so lag der Grund nicht nur in der konkreten Erfahrung, daß die alte Form des Partikularismus im liberalen Einheitsstaat in die gefähr­ lichere neue Form der Parteien, des„Fraktionspartikularismus",sich um­ gebildethabe und nicht nur in derErkenntnis, daß die nationalen Interessen zeitgegeschichtlich sicherer bei den Fürstenhäusern als beim Parlament auf­ gehoben waren. Vielmehr standen die Prinzipien der ständischen Selbstverwaltung und die altdeutschen Gedanken bündischer Einung, die Bismarck aufrief, auch an sich seiner politischen Ideenwelt wesen­ haft nahe. Sie haben bei ihm nichts mit Romantik zu tun, sondern waren aus sehr konkrete Zwecke bezogen, auf die Überwindung alter Bruchstellen wie auf die Zurückdrängung des Parlaments durch föde­ rative Bildungen, auf die Anregung und zugleich die Bindung der realen körperschaftlichen Interessen, auf ihre Verschränkung unterein­ ander. So war es schon im Bundesrat mit den Einzel-Staaten ge­ schehen, nachdem zwei Generationen liberaler Denker sich an dem Problem der monarchischen und doch staatlichen Föderation müde ge-

Foederalistischer Verfassungstypus

rungen hatten, so waren die jura singulorum aus der alten Reichs­ verfassung aller unitarischen Theorie zum Trotz als Überleitungs-, und Jntegrationsmittel wiedererstanden, und so ist es vor allem ein Hauptzweck von Bismarcks sozialer Gesetzgebung gewesen, in die zur Summe von Individuen sich auflösende bürgerliche Gesellschaft neue Bindungen einzulassen. Wie er dem Reichstag des allgemeinen Stimm­ rechts einen Volkswirtschaftsrat als korporative Vertretung der pro­ duktiven Klassen und mindestens als berufsständisches Beratungsorgan zur Seite stellen wollte, dessen Regierung und Bureaukratie bei der Reise in „eine bisher unentdeckte Gegend" bedürfe, so sollten die Be­ rufsgenossenschaften der Unfallversicherung nur den ersten Ansatzpunkt darstellen für eine neue ständische Durchgliederung des Volkskörpers. Nicht irgendwelche überholte Wunschbilder, sondern gerade die „mo­ dernsten" Ansprüche, die der christlichen Obrigkeit auflagen, waren als Mittel gedacht, Staat und Volk in besonderer Weise zu verklammern. Diese Pläne sind Stückwerk geblieben. Aber auch in der Gestalt, wie Bismarcks Reichsverfassung historisch vor uns steht, zeigt sie in ihrem monarchisch-konstitutionellen wie in ihrem bundesstaatlichen Charakter den eigenständigen Übergangstypus aufs deutlichste au. Und wenn sie von den einheitlichen bürgerlichen Nationalstaaten des Westens abwich, so wußte Bismarck selbst jedenfalls sehr wohl, daß ihr offener zukunftweisender Charakter sich nach Osten wandte. Für Rußland wie für Osterreich-Ungarn hat er, wovon bereits ge­ sprochen worden ist, eine föderalistische Auflockerung empfohlen. Und an einer wenig beachteten Stelle der „Gedanken und Erinnerungen" heißt es einmal: „Es ist natürlich, daß die Bewohner des Donaubeckens Bedürfnisse und Pläne haben, welche sich über die heutigen Grenzen der österreichisch-ungarischen Monarchie hinauserstrecken; und die deutsche Reichsverfassung zeigt den Weg an, auf welchem Österreich eine Versöhnung der politischen und materiellen Interessen erreichen kann, welche zwischen der Ostgrenze des rumänischen Volksstammes und der Bucht von Cattaro vorhanden sind." * * ¥ Im engeren Deutschland sind solche Andeutungen und Ansätze kaum verstanden, geschweige denn weiterentwickelt worden. Die Mittelstellung zwischen Westen und Osten wurde im Grundsätzlichen weder politisch noch geistig unterbaut. Mit nur zu gutem Recht hat Moeller van den Bruck geurteilt: „Wir dachten unsere eigenen Gedanken

Foederalistischer Verfassungstypus

rungen hatten, so waren die jura singulorum aus der alten Reichs­ verfassung aller unitarischen Theorie zum Trotz als Überleitungs-, und Jntegrationsmittel wiedererstanden, und so ist es vor allem ein Hauptzweck von Bismarcks sozialer Gesetzgebung gewesen, in die zur Summe von Individuen sich auflösende bürgerliche Gesellschaft neue Bindungen einzulassen. Wie er dem Reichstag des allgemeinen Stimm­ rechts einen Volkswirtschaftsrat als korporative Vertretung der pro­ duktiven Klassen und mindestens als berufsständisches Beratungsorgan zur Seite stellen wollte, dessen Regierung und Bureaukratie bei der Reise in „eine bisher unentdeckte Gegend" bedürfe, so sollten die Be­ rufsgenossenschaften der Unfallversicherung nur den ersten Ansatzpunkt darstellen für eine neue ständische Durchgliederung des Volkskörpers. Nicht irgendwelche überholte Wunschbilder, sondern gerade die „mo­ dernsten" Ansprüche, die der christlichen Obrigkeit auflagen, waren als Mittel gedacht, Staat und Volk in besonderer Weise zu verklammern. Diese Pläne sind Stückwerk geblieben. Aber auch in der Gestalt, wie Bismarcks Reichsverfassung historisch vor uns steht, zeigt sie in ihrem monarchisch-konstitutionellen wie in ihrem bundesstaatlichen Charakter den eigenständigen Übergangstypus aufs deutlichste au. Und wenn sie von den einheitlichen bürgerlichen Nationalstaaten des Westens abwich, so wußte Bismarck selbst jedenfalls sehr wohl, daß ihr offener zukunftweisender Charakter sich nach Osten wandte. Für Rußland wie für Osterreich-Ungarn hat er, wovon bereits ge­ sprochen worden ist, eine föderalistische Auflockerung empfohlen. Und an einer wenig beachteten Stelle der „Gedanken und Erinnerungen" heißt es einmal: „Es ist natürlich, daß die Bewohner des Donaubeckens Bedürfnisse und Pläne haben, welche sich über die heutigen Grenzen der österreichisch-ungarischen Monarchie hinauserstrecken; und die deutsche Reichsverfassung zeigt den Weg an, auf welchem Österreich eine Versöhnung der politischen und materiellen Interessen erreichen kann, welche zwischen der Ostgrenze des rumänischen Volksstammes und der Bucht von Cattaro vorhanden sind." * * ¥ Im engeren Deutschland sind solche Andeutungen und Ansätze kaum verstanden, geschweige denn weiterentwickelt worden. Die Mittelstellung zwischen Westen und Osten wurde im Grundsätzlichen weder politisch noch geistig unterbaut. Mit nur zu gutem Recht hat Moeller van den Bruck geurteilt: „Wir dachten unsere eigenen Gedanken

Bismarck und der Osten nicht zu Ende und bereiteten dafür den uns fremdesten... eine Stätte." Im ganzen Bereich der hier erörterten Fragen ließe sich das verfolgen. Während eine Bismarck-Orthodoxie das nur Epochenhafte, Zeitweilige und damit das Übergreifende seiner Lösungen verkannte und sie erstarren ließ, wich man zugleich doch von ihrem innersten produktiven Kern, von der geheimen „Unruhe" gleichsam des Uhr­ werks ab. Man hatte das sehr ehrliche und ehrenwerte Bedürfnis, nach glatten, normalen Beziehungen draußen in der Welt, man baute also die, wie es schien, unnötigen Komplikationen der Bündnispolitik ab, man glaubte dabei nichts Wesentliches zu verändern und glitt doch unaufhaltsam auf eine westliche Linie hinüber. Sie war „großdeutsch" im Sinne der gefühlsmäßigen Hinneigung zu Österreich und der „Nibelungentreue", bis das Reich darüber die politische Autonomie verlor und mit dem Hineinwachsen in die orientalische Konfliktszone England von seiner „europäischen Verantwortung" entlastete. Sie mündete in die Formen der Wilhelminischen Weltpolitik friedlicher Mittel und schließlich in den konjunkturhaften Mitteleuropagedanken mit der Bagdad-Parole. Dieser „liberale Imperialismus", im Grunde mehr Wunschbild als Wirklichkeit, lebte nicht aus einer eigenen ge­ staltenden Idee, nicht aus dem Bewußtsein, der Welt etwas geistig und sozial Besonderes zu geben, das jede Weltpolitik großen Stiles trägt, sondern war das Ergebnis der Zeitströmungen und der aufge­ stapelten wirtschaftlichen Kräfte. Dahinter aber stand — trotz aller betonten Monarchenfreundschaft — die weltanschauliche, an 1848 ge­ mahnende, Wendung gegen Osten, gegen „die zaristische Autokratie", die dann in der Unmöglichkeit, den westlichen Kreuzzugsideen ein innerlich gegründetes Kriegsziel entgegenzusetzen, ebenso zu Tage trat wie in der linksparteilichen Konzeption der „Randstaatenpolitik". Man hatte den konservativen und zugleich auch den wirklich revolu­ tionären Ansatzpunkt verloren, wie er für Bismarck taktisch in der Parole „ä corsaire corsaire et demi“ und grundsätzlich in der Über­ forderung des Liberalismus vorlag. Das gleiche wäre von der Verfassungs- und Sozialpolitik zu sagen. Auch hier hegte man nach 1890 den an sich sehr begreiflichen Wunsch, Härten zu mildern und Wunden zu heilen. Der Kaiser insbesondere wollte mit ehrlichem Willen den Bedrückten helfen und die Opposition versöhnen. Aber das sachliche Ergebnis dieses „neuen Kurses" war — ganz abgesehen von dem persönlich-stimmungs­ mäßigen Zickzack, mit dem auf dem Felde der Regierung wie der

Abfall von der Bismarckschen Überlieferung Diplomatie ein gut Teil Staatsautorität verloren ging — auch im Inneren wiederum das Gleiten und schließlich das Treibenlassen. Mit der Kampfgesinnung hatte sich der gestaltende Zugriff gegenüber den wirtschaftlichen und sozialen Kräften verloren, das Napoleonische Wort von der Politik als Schicksal schien seine Geltung eingebüßt zu haben. Während Bismarcks Gedanke eines Aus- und Umbaus der Verfassung und insbesondere der neuständische Ansatzpunkt nicht fort­ entwickelt wurden, schoben sich die Organisationen der Interessenten in den leergelassenen Raum hinein und durchdrangen vollends das Parlament. Die Stellung des Staates über den Parteien wurde — Rankisch gesprochen — zum „Punkt der Indifferenz zwischen ihnen". Es kam so weit, daß der Reichstag die Worte des 4. Kanzlers: „Die Regierung steht auf dem Standpunkt..." mit lautem Lachen quit­ tierte. Das war nicht nur ein persönliches Fiasko sondern die Aus­ höhlung der Monarchie und der Ruin einer staatlichen Idee. Der Kompromiß, den man als Kern englischer Staatsweisheit zu erkennen meinte und der in Wirklichkeit nur zu oft auf den Weg des geringsten Widerstandes wies, trat an die Stelle des Führungs- und Ordnungs­ gedankens. Als Bismark 1862 Ministerpräsident wurde, hat er in einem sehr bezeichnenden Wort davon gesprochen; eine Verfassungskrisis sei „keine Schande sondern eine Ehre". Man kann gewiß betonen, daß diese Norm nicht für das politische Alltagsleben galt und wird dabei doch wieder jene dynamische Grundansicht der produktiven Spannung antreffen, die in allen Baugedanken des zweiten Reiches lebt. Sie hatte ihren pessimistischen Untergrund und trieb eben darum immer wieder zu neuer Leistung an. Nach 1890 schwand dieses Schicksalsgefühl und das Bewußtsein der Vorläufigkeit. Die günstige diplomatische und wirtschaftliche Konjunktur verhüllte mindestens zeitweise die Klüfte und den un­ fertigen Charakter des Werks. Es schien in Reichtum und Sättigung den Vorsprung der westeuropäischen Nationen erfolgreich aufzu­ holen, und auch die deutsche Arbeiterbewegung näherte sich mehr dem englischen Typus der Anteilnahme an der kapitalistischen Expansion. Nur die Verfassungseinrichtungen hinkten noch nach, da immerhin dem vollen parlamentarischen System der militärisch-preußische Kern und der bundesstaatliche Charakter des Reichs widerstrebten. Das waren jetzt wirklich „Rückstände" und „Unvollkommenheiten" geworden, an denen der westliche Kampfruf der „beiden Deutschland" und die demo­ kratische Erlösungsparole einsetzen werden. Ein eigenständiges Be-

Bismarck und der Osten wußtsein konnte von einer im Weichen oder Nacheifern befindlichen Gesellschafts- und Verfassungsordnung nicht ausgehen — geschweige denn eine Kraft nach Osten hin. Im Zusammenhang dieser Wandlungen wurde auch der National­ staatsgedanke recht eigentlich erst die maßgebliche und für Mitteleu­ ropa als endgültig vorgestellte Idee. Nur die Volksdeutschen Organi­ sationen hielten sich auf anderer Bahn, indem sie Gemeinschaftsbe­ wußtsein und praktische Solidarität über die Staatsgrenzen hin Pfleg­ ten, und ebenso wirkte unter den Ausländsdeutschen selbst der Impuls der Reichsgründung, — auch wenn er sie abstieß oder mit Notwendig­ keit abseits stellte —, häufig doch in jener eigentümlichen Fruchtbarkeit fort, die mehrfach bereits hervorzuheben war. Man hat mit Recht ge­ sagt, daß hier geradezu eine Rückentwicklung „von der Nationalität zum Volkstumsbewußtsein" eingetreten sei. Im Inneren des Reiches aber wurde der Bismarcksche Grenzbegriff zunehmend starr und bil­ dete die rein formalrechtliche, an der bloßen Staatszugehörigkeit orientierte Unterscheidung von „Deutschen" und „Ausländern" für Verwaltung und Politik sich vollends durch. Ihr lag der französische Nations- bezw. Staatsbegriff und die Vorstellung ihrer wechselseitigen Deckung zu Grunde. Schon in der Abwehr gegen Westen hin führte das jedoch zu Schwierigkeiten. Wohl schienen die Elsässer ein klassisches Beispiel für die glückliche Befriedung des Dualismus zwischen „Kuliurnation" und „Staatsnation" zu sein, für die Entwicklungs­ tendenz von der pflanzenhaft-ungewollten Gemeinsamkeit zur be­ wußten politischen Einheit, wie die feinsinnigste Ausdeutung der na­ tionalstaatlichen Synthese den Weg der deutschen Geschichte aus dem 18. ins 19. Jahrhundert — an der Wende des 20. umschrieb. Aber wenn die säkulare Verwobenheit des Elsässertums in die deutsche Gesamtkultur unbezweifelbar war, so nicht weniger seine staatsnatio­ nale Prägung von Frankreich her in der Epoche der großen Revolution und mindestens in der gleichen bürgerlichen Oberschicht, die im engeren Deutschland den Nationalstaatsgedanken trug. Genauer gesagt klaffte hier das Prinzip der subjektiven und der objektiven Volkszugehörigkeit bis zu einem gewissen Grade auseinander. Der „Notable" war deutscher Abstammung aber hielt sich zur „grande nation.“ Von französischer Seite konnte daher das Selbstbestimmungsrecht der In­ dividuen eingeklagt werden, das „Plebiscite de tous les jours“, wie es Renan formuliert hatte und wie es praktisch auf die Gemeinschaft aller derer hinauslief, die in den Folgemngen von 1789 lebten. Demgegen-

Volk, Nation und Staat in West und Ost über genügte nicht der staatsrechtliche bezw. völkerrechtliche Positivismus der anerkannten Grenze oder der wirtschaftlichen Einheit. Das objektive Prinzip aber der Generationen-Kette über dem Willen der einzelnen, der Gegebenheiten von Sprache, Abstammung und Sitte über dem Bekennt­ nis des Protestlers konnte man von einer liberalen Haltung aus nicht mit vollem Nachdruck in Anspruch nehmen, oder es schlug in Romantik und alldeutsche Ideologien um. An den herrschenden Zeitvorstellungen gemessen schien Frankreich insoweit der Vertreter einer „spiritua­ listischen" gegenüber einer „materialistischen" These. Die Kehrseite und die akute Seite des nationalstaatlichen Pro­ blems aber zeigte wiederum und in besonderer Weise der deutsche Osten. Auf einem breiten Gürtel und in Jahrhunderten sind hier ge­ schichtliches Wachstum, Erlebnisgemeinschaft und persönliches Be­ kenntnis nationsbildend gewesen unter Volksbestandteilen fremder Zunge und Abstammung: Masuren, Litauer, Kaschuben, Wenden und Oberschlesier waren über die Staatszugehörigkeit und über den land­ schaftlichen Zusammenhang, z.T. auch über die Konfession hin Preußen und Deutsche geworden, wie nicht oft genug betont werden kann. Hier war die „Nation" nicht wesentlich objektiv-naturhafte, sondern historische und subjektiv-willensmäßige Tatsache, eine Angelegenheit nicht der Sprache und des Volkstums, sondern geschichtlicher oder per­ sönlicher Entscheidung. Demgemäß griffen hier alle Gegenbewegungen und Reklamationen zu den „materialistischen" Argumenten — vom Nationalitätenkampf in Böhmen bis zum oberschlesischen Schulstreit, während die deutsche These das nationale Bekenntnis vornehmlich in Rechnung zog. Die „Verwerfung" zwischen subjektivem und objek­ tivem Prinzip war also die umgekehrte wie im Westen, sie gab der „Staatsnation" im deutschen Bereich einen realen Standort. Die gleiche Erscheinung der willensmäßigen Einbeziehung Fremdsprachiger wiederholte sich bis zu einem gewissen Grade im Norden und Süden (Heimdeutsche, Ladiner, Windische) wie auch an der Ostgrenze des polnischen Volkstums und hochstehender deutscher Volksgruppen wie der Balten. Überall kamen dabei die Auswirkungen der Kolonisation, der sozialen Schichtung und des Kulturgefälles in Frage. Auf diese Gegebenheiten eine von den objektiven Merkmalen allein bestimmte Nationstheorie anzuwenden wäre widersinnig ge­ wesen und zudem ein Akt des nationalen Verzichts wie des mangelnden Selbstvertrauens. Jede verantwortungsbewußte historische Betrach­ tung wird die Gefahr des absolut genommenen Volkstumsprinzips

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Bismarck und der Osten in der deutschen Mittellage und seine Unanwendbarkeit namentlich auf den Osten, sie wird die hier wurzechafte „preußische" Idee einer vom Staat und vom Geist ausgehenden Formung betonen müssen, auch gegenüber mißverständlichen und nicht selten miß­ verstandenen Thesen der Gegenwart. Sie wird das mit gutem Gewissen tun können, indem sie zugleich die Neigung zu Fehl­ griffen und Überspannungen der umgekehrten Art in den letzten Jahrzehnten vor 1914 hervorhebt. Von der staatlichen Verein­ heitlichung her, insbesondere von der Nationalstaatsidee als dem allein gültigem Prinzipe aus war der Osten ebensowenig sinnvoll aufzubauen, und der Assimiliemngsgedanke fand überall da seine Grenze, wo eigenständige Volkstümer im gleichen Raume wohnten. Unter diesen Umständen waren nun einmal die westeuropäischen Be­ griffe fehl am Ort, und doch lag ihr Ausgreifen im Zuge der Zeit, deren Ideal der „Freiheit und Gleichheit" eine möglichst weitgehende Übereinstimmung von Staatszugehörigkeit und Nationalität in sich schloß, was nach außen genauestens der Grenzsetzung gegenüber dem Gesamtdeutschtum entsprach. Für das liberale Denken und für die Einheitsbedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft konnte in dem eigen­ tümlichen Vor- und Zurückspringen, in der geschichtlichen Verzahnung, in der echten Spannung der Vielfalt, in der Dynamik des Miteinander­ lebens von Völkern kaum ein anderer Sinn liegen als der des histo­ rischen Rückstands, der ja auch in der gesellschaftlichen Struttur des Ostens sich auszusprechen schien.. Und es wurdeschon am Beispiel des Kronprin­ zen Friedrich als des Vertreters einer heraufkommenden „modernen" Ge­ neration deutlich, wie nahe der Umschlag zur nationalen Unduldsamkeit und zur Politik der Germanisierung von diesem weltanschaulichen und sozialen Boden aus lag. In anderer Weise galt das gleiche für die alldeutsche Ostpolitik, die trotz betont konservativer Haltung ihre Maß­ stäbe im Grunde auch von westlichen Einheitsvorstellungen her nahm. Zwischenzeiten eines liberal-parlamentarischen Entgegenkommens an die polnische Partei (Caprivi) oder die Tatsache, daß von dem vielberufenen Enteignungsgesetz in Wirklichkeit nur viermal Gebrauch gemacht worden ist, verstärken eher noch den Eindruck der Fremdheit gegenüber dem Osten. Das Bewußtsein der Polarität des Reiches, seines Hineinragens in einen Raum, der bei aller Notwendigkeit des entschlossensten nationa­ len Willens prinzipiell die Aufgabe einerzwischenvölkischenOrdnung stellt, verlor sich mehr und mehr. Und doch konnte das Ergebnis nur ein Schein­ bild des Nationalstaats sein, das dem Scheinbild derWilhelminischenWelt-

Bismarck und die Gegenwartsprobleme des Ostens Politik innerlich verwandt ist. Wie der weitausladende Bau des „Im­ perialismus mit wirtschaftlichen Mitteln" seine Stützen in fremdem Machtbereich hatte, so waren im Inneren die soziale Zerklüftung und die Entstehung des „polnischen Gemeinwesens auf preußischem Boden", Schwächepunkte von entsprechender Verletzlichkeit. Nicht ohne grau­ same Logik hat der Zusammenbruch von 1918/19, indem er außen und innen die westeuropäischen Kräfte und Ideen triumphieren ließ, sich wesentlich zu Lasten der alten Nationalitätenstaaten und der preußischen Ostgebiete entladen. Es bleibt schließlich als Letztes noch die hinter der Schwelle dieser Erörterungen stehende Frage ausdrücklich zu stellen, inwieweit die hier wiedemm auftauchende Beziehung zwischen der National­ staatsidee von 1848 und ihrer politischen Inversion durch Ver­ sailles ein Gegenbild findet in der anderen Zweigliedrigkeit: in dem lebendigen Hineinragen der Bismarckschen Überlieferungen in die Gegenwartsprobleme des deutschen Ostens. — Daß damit in gar keiner Weise die „Wiederkehr des Gleichen" gemeint sein kann, liegt auf der Hand. Neben allen anderen Umbrüchen steht allein schon die ungeheure Tatsache des Weltkriegs als solchen jeder sche­ matisch-inhaltlichen Wiederbelebung Bismarckscher Gedanken im Wege. Erst recht gilt das von seinen Folgen für den Osten. Er hat sich hier in Grenzen niedergeschlagen, die der Gründer des Reiches zwar in das Kartenbild hochfliegender Pläne eingetragen sah und die er in sorgenvollen Stunden der eigenen Nation ausgemalt hat, mit denen seine Politik aber nicht als der Grundlage für die reale deutsche Existenz zu rechnen brauchte. Und er hat weiter im Fronterlebnis wie zu einer Öffnung der Klassengrenzen, so auch der alten und neuen Staatsgrenzen

geführt, zum elementaren Durchbruch einer gesamtdeutschen Volks, tumsbewegung über sie hin, die Bismarck fern lag und fern liegen mußte. Das verwischen zu wollen, wäre an und für sich widerhistorisch und insbesondere dem Wesen des ersten Kanzlers so ungemäß wie möglich. Er dachte in den Aufgaben, die ihm und seiner Zeit gestellt waren, seine Politik läßt sich nicht auf Ideal-Lösungen und „Syn­ thesen" gedanklich noch so erwünschter Art destillieren. Ihr Eigenstes lag vielmehr — um wiederholt berührte Züge zusammenzufassen —, in einer dynamischen Ansicht des staatlichen und volklichen Daseins, die bei vielen äußeren Ähnlichkeiten von dem „es ist erreicht" der Wilhelminischen Ara wie durch eine Welt geschieden ist, die selbst nie eine Endgültigkeit, eine Klassik im westeuropäischen Stil beansprucht

Bismarck und der Osten hat sondern aus der Spannung lebte und die um so mehr jeder Har­ monisierung oder Dogmatisierung widerstreitet. Aber dieser Grund­ charakter macht zugleich allerdings die eigentümliche Lebendigkeit der Bismarckschen Überlieferungen aus. Sie beziehen sich auf eine — dem Wesen nach — immer wieder aufgegebene Lage, und jeder Umbruch entlockt ihnen neue Funken. Das gilt in besonderem Maße von der Ostseite her, was im ein­ zelnen zu begründen, die Aufgabe dieser Schrift war und nur noch einer kurzen prinzipiellen Ausrichtung bedarf. Wir sehen heute deut­ licher, und es hängt wiederum mit dem dynamischen Grundzug des 2. Reiches eng zusammen, daß sein Wesen nach entscheidenden Rich­ tungen hin vom Gedanken der Symbiose mit anderen Völkern und dem darin liegenden Aufmf bestimmt ist, daß es allein schon deshalb von der nationalstaatlichen Perspektive alleine aus nicht zureichend erfaßt werden kann. In einem Aufsatz über den „politischen Begriff des Volkes" hat Freyer kürzlich davon gesprochen, wie unsinnig es sei, Bismarcks Werk nur als „kleindeutsch" zu charakterisieren, — also nach dem „was nicht darin ist". Das entspricht durchaus der These vom Charakter des 2. Reiches mit seiner Abstellung auf die Ver­ bundenheit der östlichen Grenzlandfragen in einer großen räum­ lichen Gemeinschaft und mit seinem preußisch-gesamtdeutschen Zuge, wie sie in dieser Studie vertreten worden ist und auf die Interpretation der Tatsachen selber sich stützt: „Weniger" ist hier wirk­ lich einmal „mehr" gewesen, das Zurückbleiben hinter dem national­ staatlichen Ideal, bei dem die Strukturen des 18. Jahrhunderts mannig­ fach nachwirkten, bedeutete zugleich in ganz konkreter Weise ein Über­ greifen des 19. Jahrhunderts. In der Reichsgründung von 1870 blieb eine Spannung zwischen zwei Kraftfeldern lebendig, in die der deutsche Staat der Mitte als gestaltendes Prinzip hineingestellt war. Und ge­ rade die illusionslose Härte dieser Gestaltung, wie sie nationale Abwehr mit dem Verzicht auf planmäßige Germanisierung und auf Jrrendentapolitik verband, wie sie mit der erhöhten Bewußtheit aber auch der geistigen Sonderart der Außenglieder rechnete, hat der deutschen Ge­ genwart wohl Wesentliches zu sagen: sie setzte sich selbst eine Schranke auf dem Weg zur „Nation", als abschließender Einheit, aber sie ließ den Weg zum „Volke" offen — als einer den Gesamtraum der östlichen Zwischenzone aufschließenden Kraft. Auch die Doppelseite dieses Problems ist erst heute — seit der Vergewaltigung Mitteleuropas durch die Pariser Vorortsverträge —

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Preussisch-gesamtdeutscher Zug und östliche Volksordnung vollends deutlich geworden. Während es im Westen des Reichs seit 1919 in der Tat um die Möglichkeit von Revisionen nach dem Selbst­ bestimmungsrecht der Völker oder nach dem Machtverhältnis der be­ teiligten Staaten geht, steht im Osten die Aufgabe grundsätzlich anders. Hier handelt es sich — neben und vor der äußeren Revision — um prin­ zipielle Fragen der inneren Neugestaltung im Verhältnis von Staat und Volk, die weder vom demokratischen Mehrheitsprinzip noch von der staatlichen Omnipotenz her befriedigend zu lösen sind, die vielmehr auf ein Nebeneinander von Völkern im gleichen Staat und zugleich auf die Überwölbung der Staatsgrenzen durch den Volkszusammen­ hang verweisen, wie ihn vor allem das Deutschtum und die von ihm geprägten Lebensformen im ganzen Osten verkörpern. Mit bedeut­ samen Ansätzen mindestens der inneren und der äußeren Politik ragt Bismarcks Position in diesen Aufgabenkreis hinein, mit dem Ordnungs­ gedanken insbesondere, der sie verbindet und der sich in der Natio­ nalitätenpolitik konzentriert. Sie war von jeder Dogmatik fern, der nationalstaatlichen wie der völkischen, sie nahm die kultivierende Kraft des Deutschtums —, seine „Mission" im Osten als geschichtliche Ge­ gebenheit, ohne sie zum unpolitischen Ideal der „Kulturnation" zu verflüchtigen, das praktisch heute zum „Kulturschutzpark" zu werden droht. Sie sah das „Durcheinandergeschobensein" und Ringen der Völker als eine östliche Wirklichkeit „vorsehungsmäßiger" Art, die Ge­ fahren aber auch positive Möglichkeiten in sich birgt, die den Staat zur Befriedung, zur geschichtlichen Leistung über den bloßen Natur­ tatsachen auffordert, ohne in die staatsnationale Tendenz zu ent­ gleiten, wie sie weithin die Gegenwart der Zwischenzone beherrscht und — ihre Zukunft bedroht. Bismarcks Politik nahm dazwischen Posten und weist mit der Abwehr aller Gleichmacherei wie mit dem Gedanken eines ständischen Neubaus auf föderalistische und autonomistische Prinzipien, auf Stufung und Eigenrecht, auf körperschaft­ liche Mitverantwortung am gegebenen Staate wie am gegebenen Volkstum hin. Sie entsprach der kraftbewußten Forderung „in Gegen­ sätzen zu leben", die Moeller van den Bruck seiner Skizze des „dritten Reiches" als Motto vorausgeschickt hat und die in der Tat auch dem neuen Deutschland in umfassendstem Sinne als geschichtliches Erbe der europäischen Mittellage auferlegt ist.

Anmerkungen Zum Vorwort: Die ursprüngliche Fassung des Vortrags trug den Untertitel: „Ein Beitrag zu einigen Grundfragen deutscher Geschichtsauffassung" und war demgemäß stärker auf die historiographische Auseinandersetzung abgestellt, von der hier im allgemeinen abgesehen werden kann. Ein Teilstück (Bismarck und das Nationalitätenproblem des Ostens) ist ab­ gedruckt in: Hist. Zeitschr. Bd. 47 H. I; eine Zusammenfassung der Grundgedanken erschien in: Fortschritte und Forschungen, 9. Jahrg. Nr. 3 (Jan. 1933). S. 1. Ausdrücklich sei von einer begrifflichen Erörterung abgesehen (Nation, Volk, Nationalstaat, Volkszugehörigkeit im subjektiven und objektiven Sinne usw.); ich bin mit Petersen und Freyer der Ansicht, daß sie nur in konkreter-geschichtlicher Darlegung wirklich fruchtbar sein kann. In dieser Form hoffe ich sie später aus breiterem Zusammenhang heraus aufnehmen zu können, nur einige Andeutungen folgen am Schluß dieser Studie. Im übrigen sei auf das reiche Schrifttum zu den einschlägigen Fragen und ihre systematische Erörterung in dem Buche von M. H. Boehm verwiesen (Das eigenständige Volk, Göt­ tingen 1932) sowie auf die seitdem erschienenen Abhandlungen von Petersen (Volk, Nation, Staat und Sprache. Deutsche Hefte f. Volks- und Kulturbodenforschung II, H. 5/6) und Freyer (Der poli­ tische Begriff des Volkes das. III, H. 5). Über die Nationalitätenprobleme des Jahres 1848 werde ich eine größere Untersuchung demnächst vorlegen. Einige Hauptlinien waren hier vorauszunehmen, weil sie für Bismarcks Haltung historisch und sachlich die Folie bilden. — Vgl. auch H. L. Schreiber, Die 1. deutsche Nationalversammlung und das Nationalitätenproblem. (Ungedr.) Franks. Diss. 1920. Zur außenpolitischen Bedingtheit der Paulskirche vgl. die zu­ sammenfassende Studie von E. Marcks, Die europäischen Mächte und die 48er Revolution, Hist. Zeitschr. 142 S. 73 ff. S. 2. Uber die Fragen der Westgrenze unterrichten im großen Zuge M. Spahn, Elsaß-Lothringen, der Rhein und das Reich 1932 und H. Aubin, Staat und Nation an der deutschen Westgrenze. (Völker­ rechtsfragen, herausg. v. Pohl und Wenzel H. 34). Die 48er Phase wird in beiden Skizzen mit Recht übergangen, sie stellt von deutsch­ liberaler Seite eine mehr oder weniger bewußte Unterwerfung unter die staatsnationalen Tendenzen Frankreichs dar, insbesondere die

Anmerkungen Linke der Paulskirche steht im Bann der französischen Zivilisationsidee und wird höchstens ironisch von der Möglichkeit sprechen, Deutsche „aus einer Republik zu befreien" (z. B. Robert Blum. s. u.) — Nicht weniger bezeichnend ist die Kritik, die gerade an diesem Punkt ein Ultra wie etwa Leop. v. Gerlach übt. (Denkwürdigkeiten II, S. 233) — Daß im Verhältnis von Staat, Volk, Sprache und Nation das Problem an der Westgrenze und an der Ostgrenze Deutschlands sich jeweils im entgegen­ gesetzten Sinn „verwirft", wird im Schlußwort noch zu berühren sein. 1919 hat Lloyd George in Versailles die Franzosen bei ihrer vorbe­ haltlosen Unterstützung aller polnischen Wünsche nicht ohne Bosheit auf diesen Sachverhalt hingewiesen. Für den Begriff „Großdeutsch" wie überhaupt für die Parteinamen von 1848 ist neben den Büchern von Rapp aufschlußreich die Unter­ suchung von W. Mommsen (Zur Beurteilung der deutschen Einheits­ bewegung. Hist. Zeitschr. 138 H 3, S. 523 ff.). Hier wird mit Recht — etwa Kaindl gegenüber — die unhistorische Vordatierung späterer Ge­ gensätze zurückgewiesen und insoweit dem Bedürfnis nach einer „ge­ samtdeutschen Geschichtsauffassung" Genüge getan (Vgl. dazu namentlich v. Srbik, Deutsche Vierteljahrsschr. f. Literaturw. u. Geistesgesch. VIII, S. 1 ff. H. Steinacker, Vom Sinn einer gesamt­ deutschen Geschichtsauffassung. Deutsche Rundschau 57, S. 182 ff. u. R. Craemer, Zur großdeutschen Geschichtsdeutung, Volk und Reich 1932, S. 518 ff.) Aber dieses Bedürfnis sollte nicht dahin führen, das wirkliche und geschichtlich fruchtbare Pathos der Spannungen sowohl zwischen preußischer und österreichischer Führung wie zwischen volklichem und staatlichem Denken zu harmonisieren. Das ist weit­ gehend bei M. der Fall, der die „Kleindeutschen" von 1848 nur als verkappte Großdeutsche im engeren Sinn gelten lassen will, d. h. als dem Herzen nach „Gesamtdeutsche", von ihren Gegnern nur durch „Realismus" unterschieden, als Männer einer „Verzichtposition". Die wirklichen Scheidelinien laufen sehr anders, die wirklichen Männer des Verzichts waren viel eher die konsequenten Nationalstaatler, was des Näheren in einer Untersuchung der Nationalitätenprobleme von 1848 zu zeigen sein wird. Und wenn schon, wie im Text angedeutet, für die Großdeutschen im engeren Sinne der historische Staatsgedanke nicht unwesentlich ist, so fällt er erst recht für diejenigen „Kleindeutschen" ins Gewicht, die im preußisch-protestantischen Wesen die Klammer der nationalen Staatswerdung sehen. Bm Übrigen dürfen die konfessio­ nellen und landschaftlichen Unterschiede dabei nicht übergangen werden. Man lese einmal nach, mit welcher Schärfe — Theodor Mommsen 1848 nicht nur über die österreichische Führung, sondern auch über die DeutschÖsterreicher geurteilt hat! (C. Gehrke, Theodor Mommsen als schleswigholsteinscher Publizist 1927, S. 73 ff.). Auf der anderen Seite ver­ körpert der Karpathendeutsche Kaindl, so berechtigt die Kritik an ihm ist, doch eine historisch echte kämpferische Tradition, die in manchem der wirklich kleindeutschen Linie näher steht als beide den südwest­ deutschen Liberalen. Nur wenn man die Gegensätze in ihrer Härte

Bismarck und der Osten auffaßt, schlägt sich die Brücke, die insbesondere Nordosten und Süd­ osten verbindet, — nicht aber, wenn man sie „realpolitisch" verdünnt. — Das gilt auch gegenüber der neueren Schrift von Wilh. Mommsen, Volk und Staat in der deutschen Geschichte. (Frankfurt 1933.) Für die Nationalitätenfrage im 17er-Ausschuß vgl. Deutsche Staatsgrundgesetze, herausg. v. Bin ding, H. 2, S. 102,108 u. Hübner, Aktenstücke u. Aufzeichnungen z. Gesch. d. Franks. Nationalv. aus d. Nachl. von Dropsen (1924), S. 50, 77 ff., 90. — Der Ausdruck im Proömium Dahlmanns: „Eine auf Nationaleinheit gebaute Berfassung" wurde auf Antrag Sommarugas zunächst in „Einheit" verwandelt mit betonter Rücksicht auf die slawischen Stämme. In einer späteren De­ batte (S. 78) wurde der Text wiederhergestellt. Dahlmann sagte dabei: „.. .wir wollen keine Völkerunterdrückung, aber wir wollen auch deutsche Nationaleinheit. Mir als Deutschem erregt es den größten Anstoß, wenn man das nicht aussprechen will. Die Tschechen sollen mit auf unseren Reichstag beschicken und dort deutsch sprechen ...". — In der Paulskirche wurden die Minderheitenrechte am 31. Mai debattiert (Antrag Marek. Stenogr. Ber. über die Verh. der deutschen constituierenden Nationalvers. herausg. v. Wigard I, S. 183 ff.). Dabei die charakteristische Formulierung Dahlmanns: „Nichtdeutsche Volks­ stämme auf deutschen Bundesboden." Kulturboden und Bolksboden: Zur Abgrenzung vgl. den Aufsatz von W. Kuhn (Deutsche Hefte III, S. 65 ff.). Für die tschechische Gegenbewegung vgl. Ottok. Weber, Die Prager Revolution und das Frankfurter Parlament, Festschr. d. Ver­ eins f. d. Gesch. d. Deutschen in Böhmen. 1902, S. 166 ff.; A. Fischet, Der Panslawismus bis zum Weltkrieg. 1919;*** Die Revolution von 1848/49 und die Sudetendeutschen (Archiv f. Pol. u. Gesch. VII, 1926, S. 430 ff.), sowie als Gesamtüberblick: H. Hassinger, Die Entwicklung des tschechischen Nationalbewußtseins. 1923. — Palackys Antwort: Teildruck b. I. Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem 1920, 1,1 S. 149 f. — Der zitierte Satz: „Wahrlich existierte der öster­ reichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müßte im Interesse Euro­ pas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen." — Devise für oder gegen Frankfurt: so in der anonymen Abhandlung über die Revolution und die Sudetendeutschen (a. a. O. VII, S. 436) — Interessant ist dabei zu beobachten, wie im sudetendeutschen Lager die Bewegung auf Einbeziehung der österreichischen Länder (Verein der Deutschen aus Böhmen, Mähren, Schlesien unter Löhner) allmählich abgelöst wird von der Bewegung auf Teilung Böhmens und Einbe­ ziehung der deutschen Kreise (Versammlungen in Reichenberg, Aussig, Teplitz). Für die Entwicklung des Volksdeutschen Gedankens in Nord­ böhmen während des Jahres 1848 vgl. auch I. Pfitzner, Das Er­ wachen der Sudetendeutschen im Spiegel ihres Schrifttums bis zum Jahr 1848 (1926, S. 316, 381 ff., 389 ff., 396 ff.). Eine ungelöste Schwierigkeit blieb freilich dabei u. a. das Problem der deutschen Inseln.

Anmerkungen S. 3.

Für die südöstliche Nationalitätenbewegung grundlegend und in der Beurteilung von Kremsier durchschlagend gegenüber Redlich die Abhandlung von Har. Steinacker, Die geschichtlichen Voraus­ setzungen des österreichischen Nationalitätenproblems und seine Ent­ wicklung bis 1867 (in Hugelmann, Das Nationalitätenrecht des alten Österreich. Wien 1934, S. 3—78. — Ich konnte diese Teile vor Er­ scheinen benutzen). — Für Kremsier insbes.: Geist-LLnyi, Das Nationalitätenproblem auf dem Reichstag zu Kremsier 1920. — Für Palackys „doppelten Boden" ist sehr aufschlußreich sein Vorschlag der nationalen Ländergruppeneinteilung, der zwar zwischen Ethnographie und Geographie die Resultante zu ziehen versprach, aber die Anwen­ dung auf den „böhmischen Kessel" verweigerte. Dazu die Kritik des Slowenen KauLiö an der mangelnden Konsequenz der „tschechischen Brüder" (Springer, Protokolle d. Verfassungsaussch. 1885, S. 26 ff.). Diesen doppelten Boden u. a. übersieht Kleinwächter (Der Unter­ gang der österr. ungar. Monarchie S. 206), wenn er meint, die Deut­ schen hätten beim Fußfassen auf einer nationalen Plattform nur Palackys Programm anzurufen brauchen. Für die polnisch-preußische Frage von 1848 im allgem. vgl. W. Hall­ garten, Studien über die deutsche Polenfreundschaft in der Periode der Märzrevolution, 1928 u. Fr. Schinkel, Polen, Preußen und Deutschland, 1931, S. 52ff. — Für Westpreußen: W. Kohte, Deutsche Bewegung u. preußische Politik im Posener Lande 1848/49. Deutsche Wissenschaftliche Zeitschrift für Polen H. 21 (Sonderheft) 1931, Anhang. Ferner A. Lechner, Der Graudenzer Gesellige und s. Stellung zur Reichsgründung. Königsberger Dissertation 1931, S. 47 ff. und F. Lorentz, Geschichte derKaschuben, 1926, S. 131,136. —Für Posen: grundlegend die Darstellung von Kohte a. a. O. — Für den außen­ politischen Zusammenhang: Circourt, Souvenirs d’une mission ä Berlin (hsg. v. Bourgin 1908) u. O. Hoetzsch, P. v. Meyendorff, Politischer Briefwechsel 1923, Bd. II, S. 52 ff. — Auch I. Feldmann, Sprawa polska W 1848 r. (La question polonaise en 1848) Extrait du Bulletin de PAcademie Polonaise des Sciences et des Lettres. Cracovie 1928, (S. 117 ff.) sieht den entbrennenden Kampf der Nationali­ täten in Posen wesentlich von außen bestimmt. Die anfängliche Einig­ keit erkläre sich aus dem Zwang des gemeinsamen Freiheitskampfes gegen Rußland, nicht aus sentimentaler Polenschwärmerei, die über­ haupt sehr übertrieben werde. Mit Recht betont F., daß einige der entschiedensten deutschen Liberalen ebenso entschiedene Gegner Polens gewesen sind. Darüber hinaus meint er, das Weltbürgertum, die Po­ lenfreundschaft usw. „tout cela n'etait qu'une preuve du sens des r6alitös et de la comprehension, des vöritös ölömentaires que dictait la Situation politique ä cette ßpopue“. Dieser realistischen Interessen­ gemeinschaft gegenüber habe erst die geschickte Politik Nikolaus' I. (u. Meyendorffs) bezw. das Versagen Frankreichs bewirkt, daß der Spalt sich auftat und die Spitze der deutschen Nationalbewegung sich nicht gegen Rußland sondern gegen Polen richtete. — An dieser durch -

Bismarck und der Osten aus beachtlichen These dürfte der Rahmen, den sie spannt, richtig sein, nicht aber der Kausalzusammenhang. Eine russische Offensive hätte aller­ dings Preußen und Polen zusammengetrieben wie andererseits die Politik des preußischen Außenministers v. Arnim ihr Bündnis und eine revolutionäre Angriffspolitik nach Osten voraussetzte. Die preußischen Konservativen hatten alles Interesse, diesen Zusammenstoß zu verhin­ dern und Meyendorff sekundierte ihnen, ja nach F. hat Nesselrode selbst (S. 128) in der deutschen liberalen Presse polenfeindliche Artikel veröffentlicht, aber doch nur, wie er schreibt, um „die Bresche" zu ver­ größern. Auch Meyendorff berichtet von Anfang an sehr klar über die inneren Gegensätze im Großherzogtum (Hoetzsch S. 56 f.). In der Tat: Der Rückschlag auf die Märzbegeisterung erfolgte (ähnlich wie in Böh­ men) auf Grund der Ereignisse im Lande selbst, und zwar nichtweil man deutscherseits das nationale Ziel aufgegeben hätte (wie Kon, servative und Russen wollten), sondern weil die Polen mit einer natio­ nalen Politik unverträgliche territoriale Ansprüche stellten. Bon ihrer Seite war der Tendenzkrieg gegen Rußland Realismus, die deutschen Liberalen — mindestens des Ostens — erfuhren ihre realistische Er­ ziehung vielmehr an der Erkenntnis der nationalen Gefahr, zu der eine solche Politik führte. S. 4. Für die Stimmen aus Bromberg und Lissa vgl. Kohte a. a. O. S. 78, 107, 116, 121. Das sehr interessante Material, das K. zur Kenn­ zeichnung der deutschen Volksbewegung beibringt, würde sich nach einigen Richtungen noch fruchtbar auswerten lassen. Bemerkenswert ist, daß von der Posener (wie von der sudetendeutschen) Frage her das Volksdeutsche Denken starken Antrieb gewann und auch auf das innere Deutschland (Vereinigungspunkt Leipzig) Übergriff (a. a. O. S. 131). Aber die Frontenbildung wird mit der Antithese von „Welt­ bürgertum und Nationalstaat" (S. 116) nicht zureichend zu würdigen sein. Für die Bedeutung des Heimatgedankens im Osten vgl. meine Skizze, Zum Problem des Nationalismus im Osten (Deutsch­ land und Polen, herausg. v. Brackmann 1933, S. 264 f.). — Im speziellen Fall lag die Schwierigkeit allerdings darin, daß die Provinz Posen eine junge Schöpfung war und einen eigenen landschaftlichen Zusammenhang kaum entwickelt hatte, auch nicht in polnischer Zeit. Uber den Wechsel der Grenzen und die Phasen der Siedlungsgeschichte vgl. Warschauer, Geschichte der Provinz Posen in polnischer Zeit, 1914. S. 5. Aus der Polendebatte der Paulskirche sind nur einige Haupt­ punkte herausgegriffen, die an die Prinzipien rühren. Die Behandlung in der Preußischen Nationalversammlung kann hier übergangen werden. — Zur Paulskirchendebatte vgl. außer der angeführten Literatur auch noch Meinecke, Radowitz, S. 144 f. u. W. Bleck, Die Posener Frage auf den Nationalversammlungen in den Jahren 1848 u. 1849. Zeitschr. d. Hist. Ges. d. Provinz Posen, XXIX, S. 1 ff. Der ostmärkische Abg. war Senfs von Jnowraclaw (Sten. Ber. II, S. 1139.)

Anmerkungen Bismarcks Urteil in dem Brief an die Redaktion der Magdeburger Zeitung vom 20. April 1848. (Wiederabgedr. in meiner Ausgabe: Bismarck, Deutscher Staat, 1925, S. 181 f.). Was — abgesehen von der polnischen Frage, auf die zurückzukommen ist — an dem Briefe besonders auffällt, ist die Verschiedenheit des Maßes, an dem der nationale Enthusiasmus gemessen wird, je nachdem ob er — im Westen — zu möglichem Gewinn (Elsaß) oder — im Osten — zu Ver­ lusten (Steiermark, Südtirol, Böhmen) führt. Die Urteile von Vogt in Sten. Ber. II, S. 1153, von Jordan das. S. 1143 ff., von Nauwerk das. S. 1551, von Blum das. S. 1142. Blum fährt an der angeführten Stelle ironisch fort: „Wenn Sie ein so lebhaftes Nationalgefühl haben ..., so befreien Sie die deutschen Ostseeprovin­ zen... und die 600 000 unglückseligen Deutschen im Elsaß, die sogar unter der Herrschaft einer Republik schmachten." — Uber die „heilige Gesamtheit" von Schleswig-Holstein: Dahlmann, a. a. O. I, S. 274. S. 6. Auf die Südtiroler und Nordschleswiger Debatten ist hier nicht einzugehen. Das Verhältnis der deutschen Revolution zur italie­ nischen Frage insgesamt wird eine vor dem Druck stehende Königs­ berger Diss. von G. Kunde behandeln. Für den ersten Slawenkongreßvgl. neben Fischel,Redlich u.a. vor allem I. P. Jordan, Aktenmäßiger Bericht über die Verhandlungen des ersten Slawenkongresses. Prag 1848. Die Polnische Initiative neuerdings besonders betont von I. P fitzn er in einem Vortrag auf dem Warschauer Internat. Historikertag (kurzes Referat in Resumes des Communications presentöes au Congres, 1933, S. 213). — Für den bestimmenden Einfluß des polnischen Abg. Libelt, eines der Führer im Posener Aufstand, vgl. Jordan, S. 31 f., Fischel, S. 247 f. — Die Spitze gegen Frankfurt findet sich bereits ausdrücklich als Motiv im Einladungsschreiben (Jordan S. 12). Die Schlußverwahrung der Böhmer, Mährer und Slowenen gegen jede Einverleibung mit Deutsch­ land, jede Beeinträchtigung der Souveränität des österreichischen Monarchen und jede Unterstellung unter ein fremdes Parlament wurde einstimmig angenommen. — Für die geschichtlich-terri­ toriale Wendung ist bezeichnend, daß die Tschechen, um die Slowaken reklamieren zu können, — das großmährische Reich der Karolinger-Zeit bemühten. Rein auf dem Nationalitätsprinzip beruhten nur die For­ derungen der Slowenen und Ruthenen. S. 7. Jordans Äußerung in Sten. Ber. II, S. 1146. Auch der Dichter des Liedes „soweit die deutsche Zunge klingt" trat in der böhmischen Frage gegen die blinde Gerechtigkeit auf (das. I, 214). Für den Mißbrauch von Schwarz-rot-gold vgl. H. Thimme, Welt­ krieg ohne Waffen, 1932, S. 133. — Uber den ideologischen Zusammen­ hang der Polenfrage mit der Weltkriegspropaganda vgl. meinen Aufsatz, Der Vertrag von Versailles und der deutsche Osten (Berliner Monatsh. Jan. 1934, S. 3 ff.) u. W. Recke, Die polnische Frage als Problem der europäischen Politik 1927, (bes. S. 318 — nach Dmowskis Erinnerungen) — Der klare Ansatz dazu schon bei D m o w s k i, La Que=

Bismarck und der Osten stion polonaise. Paris 1909. (Verfaßt unmittelbar nach dem Abschluß der „großen Entente".) Masaryks Äußerung in seinem Buch, Das neue Europa, Berlin, 1922, S. 130. S. 8. Für den Zusammenhang zwischen demokratischem Sekuritätsgefühl und antideutscher Propaganda vgl. S. A. Kaehler, Vom ge­ schichtlichen Erlebnisgehalt der Versailler Schuldthese, 1929. Aus der reichen Literatur zur Ostzone Mitteleuropas, die in den Bahnen von Moeller van den Bruck geht, sei hier nur das Buch von Giselher Wirsing genannt (Zwischeneuropa und die deutsche Zukunft 1932) , das neben dem Grundsätzlichen einer östlichen „Integrations­ politik" auch sehr wertvolle empirische Darlegungen namentlich zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Zwischenzone gibt. Für die viel erörterte Begriffsbestimmung „Ost- oder Ostmitteleuropa" vgl. H. Steinacker, Osterreich-Ungarn und Osteuropa (Hist. Zeitschr. 128, S. 377 ff.) insbes. die Ablehnung der geographischen Metaphysik (S. 381 ff.). Ferner die sehr fruchtbare Abhandlung von G. Jpsen, Gedanken zur soziolog. Erforschung des Deutschtums in Ostmitteleu­ ropa (Deutsche Hefte III, S. 145 ff., 241 ff.). Meine Auffassung ist in der genannten Skizze umrissen (Z. Problem des Nationalismus im Osten a. a. O.). — Einen guten Überblick über den Gesamtstand des Problems im Nachkriegseuropa gibt K. Trampler, Die Krise des Nationalstaats, 1932. — Für die besonderen Probleme des Auslands­ deutschtums im Osten vgl. den von mir unter diesem Titel her­ ausgegebenen Band VII der „Königsberger Auslandsstudien" (Kö­ nigsberg 1932). S. 9. Masaryk: a. a. O. bes. S. 32 ff., 43 f., 48 f., 61 f., 90 ff., 128 ff. Dazu die Kritik Radls (Der Kampf zwischen Tschechen und Deutschen 1928, S. 192 ff.), der mit Recht auf das Umschlagen der Humanitäts­ idee in einen staatlichen Realismus bei M. selbst hinweist. Eisenmann: Bulletin of the International Committee of Historical Sicences vol. III, 2 S. 222 ff. S. 10. Steinacker: Volk, Staat, Heimat in ihrem Verhältnis bei den ro­ manisch-germanischen Völkern. Das. S. 273 ff. — Ähnlich Wirsing, a. a. O., S. 40 (Verhängnisvolle Wiederkehr der magyarischen Art in den jungen Staaten, „die sich alle unbewußt am ungarischen Beispiel gesättigt haben"). Jpsen: a. a. O., S. 147. S. 11. Für die Rolle des Ostens im politischen Bewußtsein des 19. Jahrh, und die besondere Rolle Altpreußens dabei vgl. meine Abhandlung: Ost- und Westpreußen zur Zeit der preußischen Reform und der deutschen Erhebung (Deutsche Kultur und deutsche Staaten­ bildung im Preußenland, 1931, S. 415 ff.) und meinen Vortrag: Die historische und politische Bedeutung Ost- und Westpreußens in Ver­ gangenheit und Gegenwart (Ostpreußen, was es leidet, was es leister. Ansprachen, Reden und Vorträge auf der Ostpreußen-Ausstellung, 1933) . Herder und die Romantik im Osten: grundlegend dazu die Arbeiten.

Anmerkungen Jos. Nadlers, zu deren Einfluß ich mich aus langjähriger Nachbar­ schaft gerne bekenne. Vgl. ferner H. Oncken, Deutsche geistige Ein­ flüsse in der europäischen Nationalitätenbewegung des 19. Jahrh. (VI® Congrds international des Sciences historiques, Resumßs des Communications, 1928, S. 145 ff.). S. 12. Die Äußerung zu Eichhornbei P. Herre, Von Preußens Befreiungs­ und Verfassungskampf. Aus den Papieren des Oberburggrafen v. Brünneck. (Berlin 1914) S. 295. Die Äußerung zu Droysen bei I. G. Dropsen, Briefwechsel, herausg. v. Hübner, I, S. 337 (Stuttgart 1929). S. 13. Schöns Stellung zum Nationalitätenproblem: E. W. Mayer, Polit. Erfahrungen und Gedanken Th. v. Schöns. Hist. Zeitschr. 117 (1917) S. 457 ff., sowie die Arbeit meines Königsberger Schülers Herw. Bork, Zur Geschichte des Nationalitätenprobems in Preußen. Die Kirchenpolitik Th. v. Schöns (Königsberger Hist. Forschungen Bd. 3. 1933, bes. S. 124 f.); G. Ritter, Die preußischen Staats­ männer der Reformzeit und die Polenfrage (Deutschland und Polen, S. 219). — Die Hauptquellenstellen in der ungedr. Schrift Schöns „Staat oder Nationalität" und in Droysen, Briefwechsel I, S. 369, 612 f., 618 f., 656 f., 684 f., 693 ff.

S. 14. Fortschrittspartei: R. Adam, Der Liberalismus in der Provinz Preußen zur Zeit der neuen Ära und sein Anteil an der Entstehung der deutschen Fortschrittspartei. Altpreußische Beiträge. Festschrift 1933, S. 145 ff. Grundsätzliche Züge in Bismarcks Staatsanschauung: Die Hauptlinien habe ich zu ziehen versucht in der Einleitung zu dem von mir herausgegebenen Dokumentenband Otto v. Bismarck, Deutscher Staat (München 1925), s. auch das Kapitel „Bismarcks Grundanschauungen" bei E. Zechlin, Bismarck und die Grundlegung der deut­ schen Großmacht, Stuttg. 1930 (S. 88 ff.). S. 15. Das zitierte Urteil über die Reichsgründung bei I. Ziekursch Polit. Geschichte des neuen deutschen Kaiserreichs. (1925) I, S. 3 f., 225 ff. Das Zitat von der Verschiebung der geschichtlichen Schwerpunkte bei Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, 1919 (S. 86). S. 16f. Sündenfall von 1866/67: So dem Sinne nach O. Weber-Krohse, Landschaftliche Politik. Breslau 1933, S. 32 f., 118 f., 134 f.; H. Schwarz, Die preußische Frage, Berlin 1932, S. 120. In ver­ wandter Richtung gehen die Arbeiten von Fr. Schinckel (Polen, Preußen u. Deutschland, Breslau 1931. Preußischer Sozialismus, 1933); doch sind hier die groben Übertreibungen vermieden. Beide Bücher ent­ halten sehr wertvolle Anregungen, haben indessen unter der offenbaren Eile der Herstellung leiden müssen. — Mein eigener positiver und kritischer Standpunkt demgegenüber berührt sich nahe mit der Auffassung und mit einigen Formulierungen, die Harold Steinacker im Januar 1933 in Königsberg (in einer von mir geleiteten Vortragsreihe: Deutschland

Bismarck und der Osten und der Donauraum) entwickelt hat. Die Vortragsreihe ist leider un­ gedruckt geblieben. S. 18f. Nationalbewußtsein: G. Franz (Bismarcks Nationalgefühl 1926) hebt die im ganzen gleichbleibende preußische Grundlage richtig hervor. — Das Zitat in meiner Sammlung, O. v. Bismarck, Deutscher Staat, S. 181. — Richtig verstandene preußische Partikularinteressen: Denk­ schrift für den Prinzen von Preußen 1858 (das. S. 192) — Stein der Weisen: Reichstagsrede v. 11. März 1867 (Auszug das. S. 54) und Erlaß vom 26. II. 1869, Bismarck, Die Gesammelten Werke (Zit.: Ges. W.) VI b, S. 2. Friedlicher Dualismus vor 1866: Dazu neuerdings Stadelmann, Das Jahr 1865 und das Problem von Bismarcks deutscher Politik (München-Berlin 1933 — Die Äußerung von Blome S. 43), sowie meine Anzeige D. L. Z. 1934. H. 7. Sp. 316 f. Erlaß an Werthern (26. Februar 1869): Ges. W. VI b, S. 2. Konservativ-lutherische Züge: in der Politik von 1866—1870 sind sie vor allem von H. Michael (Bismarck, England und Europa. Mün­ chen 1930, bes. S. 330 ff.) herausgehoben worden. Der „Kämpfer" und der „Bewahrer" zeigen die gleiche Struktur des Denkens und Han­ delns, gerade die „nationalsten" Jahre, die Jahre der persönlichsten Aktion sind für die durchgehende Haltung des Lauschens auf das „Rau­ schen des göttlichen Mantels" besonders eindrücklich. — Daß diese Auffassung nicht zu einer neuen Dogmatik führen dürfe, betont mit Recht E. Marcks, Zwei Studien an neuen Bismarck-Quellen. (H. 2. 144. S. 472 ff.) S. 19f. Elsaß-Lothringische Grenze: Aubin, a. a. O., S. 10, 16. — „Professorenidee": zu Moritz Busch 4. Sept. 1870 (Ges. W. VII, S. 337). — Die gleiche Abwehr des sprachlichen Arguments als solchen zeigt auch Bismarcks Behandlung der Nordschleswigfrage, in der ein im Osten wurzelnder preußischer Grundgedanke unverkennbar ist. — Gleichsam den Kommentar dazu gibt die Äußerung des polnischen Abgeordneten v. Zoltowski, der im Deutschen Reichstag die Rückkehr der Elsässer feierte „weil das historische Recht und das Nationalitätsprinzip den Sieg über faktisch und rechtlich jahrhundertelang bestehende Verhältnisse davongetragen hat". (Oncken, Das deutsche Reich und die Vorge­ schichte des Weltkriegs 1,(5.117.) — Das WortvonGlacis in der Reichs­ tagsrede vom 2. Mai 1871 (Ges. W. XI, 175 ff.), Wenn Bismarck in einer späteren Reichstagsrede (11. Januar 1887 Ges. W.XIII, S. 214), gesagt hat, er sei damals „für die.Sprachgrenze" gewesen und habe Metz nur unter dem Eindruck der militärischen Argumentation hineinge­ nommen, so ist das zutreffend, ohne dem früher Gesagten zu wider­ sprechen, denn das Erreichen der Sprachgrenze war nicht an und für sich das Motiv des Rückerwerbs, wohl aber eine wünschenswerte Schranke. — Uber die innerliche Rückwirkung der Bismarckschen Bundesstaatsverfassung und insbes. seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik seit 1878 auf das Stammesbewußtsein des Elsässertums vgl. Spahn, a. a. O., S. 39 ff. — Für das bewußte Einlenken Bismarcks in den

SO

Anmerkungen Weg eines Appells gerade an die „Volks"- nicht an die „Nations­ idee und deren Spannungen s. Text S. 62 u. 66 f.

S. 20f. Für die hier gegebene Skizze der Bündnispolitik werden Einzel­ belege und Einzelauseinandersetzungen entbehrlich sein. Der Gegen-stand ist viel behandelt worden. Meine eigene Auffassung habe ich näher begründet in meinem Buch „Bismarcks englische Bündnispolitik" (Stuttgart-Berlin 1923) und in einer Kritik der anglophilen Deutung Rachfahls (Zum Problem der deutsch-englischen Bündnispolitik in der Epoche Bismarcks. Privatdruck 1925). Die Heraushebung des dynamischen Grundzugs, der insbesondere in der Vermeidung der „antiöstlichen Option" liegt, scheint mir auch in der neuesten Darstellung (Oncken, Das deutsche Reich und die Vorgeschichte des Weltkriegs 1933) nicht genügend berücksichtigt. Von einem „statischen" Charakter (a. a. O.,S. 128) der Bismarckschen Politik nach 1870 wird man höch­ stens der äußeren Erscheinung aber nicht dem Wesen nach sprechen können. Die Dynamik war immanent und doch unendlich viel wirk­ samer als die Betriebsamkeit der Wilhelminischen Zeit, sie ging in „festen Gleisen", sie „periklitierte" nicht und empfing ihre „Idee" nicht von außen. Sie wehrte alle Wunschbilder liberaler oder klerikaler, nationa­ listischer oder imperialistischer Art ab. In der Heraushebung dieses Zuges der „Objektivität", des eigenen „Ethos" der Macht, berühre ich mich mit O. Westphals „Ideen von 1871" (Feinde Bismarcks 1930 bes. S. 283 ff. u. Bismarck und Göttingen 1932, S. 14 ff.) — Den Ge­ genpol vertritt U. Noack (Bismarcks Friedenspolitik und das Problem des deutschen Machtverfalls, 1926), der vom Reiche nach 1780 eine demokratische Nationalpolitik und einen ethischen Imperialismus — in östlicher Richtung fordert — an der Seite Englands und Österreichs, wobei dann als das Ergebnis eine Föderation der Völker unter deutscher Führung und — die Verwirklichung des Friedensreiches prognostiziert wird. Das ist ein Gedankenbild, das trotz geistreicher Ausführung in die Sackgasse schlimmster Widersprüche führt, eine Neubelebung der Ideologien von 1848 und der Wochenblattspartei der 50er Bahre, die nicht nur an Bismarck sondern auch an der östlichen Wirklichkeit völlig vorbeigeht. Zum Grundsätzlichen darf ich auf meine ausführliche Kritik (D. L. Z. 1930 H. 49) verweisen. 'S. 22. Bismarck und das baltische Deutschtum: Dazu vor allem H. Schaudinn, Das baltische Deutschtum und Bismarcks Reichsgründung (Kö­ nigsberger Hist. Forschungen I. Leipzig 1932). Ferner habe ich auf 2 Abhandlungen von mir zu verweisen: Reich, Staat und Nation im deutsch-baltischen Denken (Schriften der Königsberger Gelehrten Ge­ sellschaft VII, 4. Halle 1930, bes. S. 236 ff.); Das baltische Deutsch­ tum in Vergangenheit und Gegenwart (Auslandsstudien der Königs­ berger Universität VII. 1932). — Die (bisher ungedr.) Hamburger Dissertation von H. Muskat, Bismarck und die Ballen, konnte ich ein­ sehen, sie behandelt vornehmlich — und zum Teil auf Grund neuen Materials — die persönlichen Beziehungen. Dazu auch H. Oncken,

Bismarck und der Osten Ein Freund Bismarcks, Graf Alex. Keyserling (Hist.-Pol. Aufs. II, S. 95 ff.). Das friderizianische Wort: Schaudinn, a. a. O., S. 134. S.23. Minierarbeit der Panslawisten: Schweinitz, Denkwürdigkeiten II, S. 107, 136; v. Dalwigks (1868): Schaudinn, a. a. O., S. 129, der französischen Politik (1870): das. — Bismarcks Hinweis auf „fremde Einflüsse" in Erlaß an Prinz Reuß v. 21.1.1869 (Ges. W. VI a, S. 527). In den gleichen Zusammenhang gehört der englische Versuch von 1869, die Königin Augusta wegen der Bedrückung der baltischen Deutschen mobil zu machen (Michael, a. a. O., S. 269). Äußerung von 1873: Sie ist nur indirekt überliefert. Näheres s. Schaudinn, S. 131 f. Das. auch der Nachweis, daß mit den „neuen Provinzen" offenbar Elsaß-Lothringen gemeint ist und die Eingrenzung dieses Vergleichs. — Das Dementi der Hamburger Nachrichten (Hof­ mann, Fürst Bismarck II, S. 171) ist angesichts der Parallelfälle nicht überzeugend. Äußerung zu Saburow: Wiederabg. inm. Sammlung, Bismarck, Deutscher Staat (S. 225 f.). Die schärfsten Sätze lauten: „Von Zeit zu Zeit ist von den baltischen Provinzen die Rede, um uns in Ver­ suchung zu führen und uns zu entzweien. Ich werde jedesmal traurig, wenn ich höre, daß Russen sie deutsche Provinzen nennen. Nennt sie lettische Provinzen oder sonstwie, wenn Ihr ihnen nicht den Charakter russischer Provinzen gönnt." — Man wird das Taktisch-Diplomatische in solchen Worten (August 1879 !) natürlich nicht übersehen dürfen. Zu der Tatsache, daß Bismarck an und für sich die Rufsifizierung keines­ wegs als im russischen Staatsinteresse liegend ansah, s. u. Preußen und das Reich im Verhältnis zu den deutsch-baltischen Fragen: Tagebuchblätter des Grafen A. Keyserling, herausg. v. H. v. Taube (1894), S. 241. Vgl. Schaudinn S. 126. — Intervention v. 1865: Ges. W. V, S. 132 ff. Vgl. Schaudinn S. 10u. 126 ff- Dazu auch Hofmann, Fürst Bismarck II, S. 172. — Für die Meldung Rederns (1. Februar 1865 Stadelmann, a. a. O., S. 11, A. 19), man erwarte separatistische Agitation im Baltikum, fehlt sonst jeder Anhalt. — Eine gewisse indirekte Einwirkung mit den gleichen Argumenten wie Bismarck 1865 versuchte 1869 noch einmal Schweinitz bei Katkov, aber mit ekla­ tantem Mißerfolg (Schaudinn S. 92 f.). Bemühungen Bismarcks: 1868 Privatschreiben an Prinz Reuß (Ges. W. Via, S. 474). Der schon erwähnte Erlaß an Reuß vom 21.1.1869 nannte den Argwohn einen „kindischen Gedanken" (das. S. 526). Ferner Erlasse an Reuß vom 9. III. 1869 (VIb. S. 13) und vom 5. April 1870 (das. S. 316 f.). Dazu die mündlichen Äußerungen von 1873 und 1879. — Die Fortdauer des Verdachts, die aus Äußerungen des Thronfolgers 1880 hervorging^ empörte Bismarck besonders (Schweinitz, Denkw. II, S. 236). Vgl. auch die Sprache, die Bülow als Geschäftsträger 1886 in Petersburg führte. (Große Politik V, S. 53 f.), sowie den Rückblick von Schweinitz und die Zustimmung Caprivis (das. VI, S. 375 f.). S. 24. Rückwirkung von Königgrätz: Sprachukas und Moskauer Zeitung

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Anmerkungen bei Schaudinn S. 91 f. Das. (S. 94) die Äußerung A. v. Oettingens: . .der in Deutschland eingetretene Umschwung ist ein Motiv mehr ge-. worden, uns den Hals umzudrehen." — Katkovs Freund (Bism. Ges. W. VI a, S. 524). Geographische und ethnographische Unmöglichkeit: So in Ges. W. V a, S. 526, VII, S. 221 („dieser lange vorgeschobene Streifen zwischen dem Meer und Polen, ohne Hinterland — ein Nichts, für das wir die ewige Feindschaft Rußlands eintauschen würden ... Auch wäre den Bewohnern jenes Landstrichs durchaus nicht damit gedient, wenn sie preußisch würden. Unsere preußische Verfassung mit lettischen und estnischen Urwählern wäre für die kurländischen und livländischen Barone, wie ich sie kenne, ein sehr zweifelhaftes Vergnügen") VIII, S. 567 („.. die Zelten und Esten zu Deutschen zu machen würde eine allzuschwere Aufgabe sein"). S. 24f. Interpellation Loewe: Bismarcks Antwort (Ges. W. X, S. 412) Schreiben vom 5. April 1870: Das. VI b, S. 316. Ähnlich der eigenh. Zusatz Bismarcks zum Privatschreiben an Prinz Reuß vom 19. XII 1868 (Ges. W.VIa,S.474). — Auch der Erlaß anReuß vom9. III. 1869 betont das „gemütliche Interesse an den deutschen Elementen", um zu der gleichen Folgerung des politischen Desinteressements zu kommen (VI b, S. 13). Berkholz's Kritik an der Agitation in der deutschen Öffentlichkeit: Schaudinn S. 108 ff. u. R. Wittram, Liberalismus baltischer Literaten. 1931 Beil. I. Bitten der baltischen Freunde: Hofmann a. a. O. S. 25f. Äußerungen über den Wert des Baltentums: Daß Rußland durch Vernichtung der Deutschen sich selbst schwer schädige, betont Bismarck zu A. Keyserling (s. dessen Lebensbild I, S.545, II, S.581) u. im Versailler Tischgespräch (Ges. W. VII, S. 384). — An anderen Stellen äußert Bismarck in sehr charakteristischer Weise sich dahin, daß die Deutschen bei ihrer Gründlichkeit, wenn sie Russen würden, deren Fehler doppelt annähmen (z. B. Ges. W. VIII, S. 107). „Prämie" im Gespräch mit B. v. Oettingen (das., S. 95) — Selbstverwaltung: Schaudinn (S. 126) — „Guano" im Ge­ spräch zu Meyer v. Waldeck. (Ges. W. VII, S. 219) — Persönliche Leistungen: Beispiele im Gespräch mit Oettingen (Ges. W. VIII, S. 46). — Im Übrigen vgl. man für das persönl. Verhältnis Bis­ marcks zu baltischen Freunden außer den meist beachteten Dokumenten auch noch die Briefe von der Reise zu „den Feuerländern" im Jahre 1857 (Ges. W., XIV, S. 479 f.). S. 26. Baltisches Staats- und Nationalbewußtsein: Dazu meineAbhandlung über Reich, Staat und Nation im deutsch-baltischen Denken. Schleswig-Holsteinische Parallele das. S.232 f. und mein Vortrag über Staat und Nation in der dänischen Geschichte (Königsberger Aus­ landsstudien H. 3). Schilderung der Autonomie bei Schirren: Liv­ ländische Antwort. 1869, (S. 95; Zitate daraus: Königsberger Aus­ landsstudien VII, S. 51). — Die Balten als Bildungsträger: Rod. v. Engelhardt, Die deutsche Universität Dorpat (Reval 1933).

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Bismarck und der Osten Für die Föderalistische Tendenz: Meine Abhandlung a. a. O-, S.232U.A.2. —Dazu Bism-Ges.W. VIII, S. 279 (Gespräch vom Herbst 1878). xjn diesem sehr interessanten Gespräch erzählt Oettingen, Schu­ walow habe die Russifizierungspolitik für einen großen Fehler gehalten (was auch sonst bekannt ist) und er sei mit ihm darüber einig gewesen, daß die beste Politik für Rußland wäre, das ganze große Reich „in mehrere selbständige Statthalterschaften zu teilen, wie z. B. die Ostseeprovinzen mit einem Großfürsten als Statthalter , indem jeder Statt­ halterschaft ihre Religion, Sprache und individuelle Kultur belassen bliebe". — Diesem Gedanken stimmte Bismarck lebhaft zu, er meinte allerdings, seine Ausführung werde die nationalistische Presse nie dulden — aber auch England nicht, um den gefährlichen russischen Aufstieg zu verhindern! — Eine taktische und unehrliche Nebenabsicht der pole­ mischen Schlußbemerkung wird bei dem vertrauten Charakter des Ge­ sprächs nicht anzunehmen sein, sie beleuchtet vielmehr gerade in ihrer Beiläufigkeit und der offenbaren Anknüpfung an die Kongreßerinnerung (Schuwalow-Gortschakoff!) das volle Bewußtsein Bismarcks um die gesamtpolitische Bedeutung der „Verwestlichung" Rußlands. S. 27. Unlogische Verehrung: Sehr bezeichnend dafür die Äußerung Det­ tingens zu Bismarck 1872: „Wir sind noch immer so töricht geblieben, Sie, Durchlaucht, immer weiter zu verehren". (Ges. W. VIII, S. 45). Man begegnet dieser Verehrung kaum irgendwo als einer so lebendig­ durchgängigen Überlieferung wie im baltischen Land. Auf Ansätze der gleichen „Unlogik" auch beim Deutsch-Osterreichertum wird noch hin­ zuweisen sein. — Für Bismarcks politisches Bündnisbewußtsein ist bezeichnend die Äußerung in dem Jmmediatbericht vom 24. VIII. 79 über Miljutins Deutschenhaß „zunächst gegen die baltischen aber auch gegen unä" (Gr. Pol. III, S. 17). S. 28. Nationalständisches Programm und Idee des überstaatlichen Volkes: W. Hasselblatt, Die nationale Autonomie als Ziel der euro­ päischen Nationalitätenpolitik. Deutschpolitisches Arbeitsamt. Prag 1929, S. 7 ff. und zahlreiche Aufsätze in „Nation und Staat". Bismarck und die Nationalitäten Osterreich-Ungarns: Eine speziellere Untersuchung fehlt, wie auch die Stellung des österreichischen Deutschtums gegenüber dem Reich nur erst teilweise erschlossen ist. — Die im folgenden angeführten Zitate beanspruchen keine Vollständig­ keit, sondern wollen nur die neueren Forschungen und das erst seit kurzem bekannte Material unter der Fragestellung des Themas aus­ werten. S. 29. Kehrseite des nationalen Geschehens: Neben österreichischen Historikern hat W. Schüßler (Das Verfassungsproblem im Habsburger­ reich, 1918; Österreich und das deutsche Schicksal, 1925) vor allem auf diese Zusammenhänge hingewiesen. In letzterem Buch wohl mit einiger Übersteigerung, was die Vorherrschaft Ungarns in Gesamt-Mittel­ europa und die von da zum Kriegsausbruch führende Linie betrifft. Bismarck jedenfalls wußte sehr wohl magyarische Extratouren abzu­ wehren (s. u.), auch war die ungarische Außenpolitik vor 1914 ja durch-

Anmerkungen aus auf Erhaltung, nicht auf Expansion gestellt. Der „Ausgleich" hatte also nicht an und für sich die Gewichtsverlagerung im diplomatischen Sinn zur Folge. Aber richtig ist, daß seine nationalitätenpolitischen Aus­ wirkungen die eigentliche Belastung der Gesamtpolitik wie der preußischdeutsch-magyarischen Interessengemeinschaft waren und — in anderer Form — noch heute sind. — Über den „Rat Bismarcks" zusammen­ fassend Zechlin, a. a. O., S. 376 ff. Daß die Schwerpunktverlagerung nach Budapest bewußt geschehen sei, wird man nicht sagen können. Vielmehr lag, wie Steinacker mit Recht betont, ein Teil der Tragik des Deutschösterreichertums darin, daß auch die Neuordnung von 1867 noch im Hinblick auf die wiederzugewinnende Hegemonie über Deutsch­ land geschah. — Für ben nationalitätenpolitischen Charakter der Jahre von 1861 bis 1865 und des Ausgleichs ist grundlegend das vor der Veröffent­ lichung stehende Buch von Hugelmann (a. a. O., S. 61 ff., 71 ff., 101 ff.). — Sprachenrechtliche Auswirkungen bei Fischel, Das öster­ reichische Sprachenrecht, 1901 (S. 123 ff.). S.29f.„Souveränes, reichsunmittelbares" Volk: Der Ausdruck Renners wird von Schüßler (a. a. O. S. 42) ausgenommen, deckt aber keineswegs die Wirklichkeit. — Zum Verhältnis zwischen Dynastie und Deutschtum zusammenfassend jetzt Mo lisch, Geschichte der deutschnationalen Be­ wegung in Österreich (1926). Biele Einzelzeugnisse bei Wertheimer,

Andrassy (Für 1867—1871:1, Kap. XV u. XVI, bes. S. 562 ff.) und R. Sieghart, Die letzten Jahrzehnte einer Großmacht (1932). — Anspielungen im Septemberreskript: das. S. 392 — Preußisch-unga­ rische Interessengemeinschaft: E. v. Wertheimer, Bismarck im politischen Kampf, 1929, S. 234; Schüßler, Osterr. u. d. deutsche Schicksal S. 32 f. — Gegengewicht gegen Revanchepläne: Die auf E. v. Wertheimer, Andrassy (I., Kap. XIII, XIV) ruhende Tradition bedarf allerdings nach den Denkwürdigkeiten von Schweinitz (I, S. 263, 269) einiger Einschränkungen, über eine förmliche Intervention Bismarcks zu Gunsten der Erhaltung Andrassys bei England und dem Kaiser Franz Joseph (?) vgl. die neuerdings veröff. Berichte Rüssels aus dem Januar und Februar 1876 bei Harris, Bismarcks Advance to England (The Journal of Modem History, Vol. III, p. 446, 449 ff.). Stütze des Bündnissystems: „Das Interesse der Ungarn für uns" führte schon das 1. Aktenstück an, mit dem Bismarck den Gedanken des Zwei­ bundes bei Wilhelm I. vertrat (Gr. Politik III, S. 20). Die Rolle Andrassys bei den grundlegenden Verhandlungen ist bekannt. Er hat allerdings später versucht, den Sinn des Bündnisses umzudeuten (Denk­ schrift von 1886, Wertheimer III, S. 327 ff.). Abwehr Bismarcks: z. B. Gr. Pol. V, S. 63,123,128 ff., 147 (Kometenschweif). — Auch die Veröffentlichung des Zweibundvertrags vom Februar 1888 war mit dazu bestimmt, dem Budapester Parlament die Grenze der Bündnispflicht klarzulegen (das. S. 276 f., 283). Vgl. auch die Klagen über „Husaren und Advokaten" in den Ged. u. Erinn. (Ges. W. XV, S. 401. Das. S. 411 ist die „Feindschaft der Magyaren" im Text gestrichen). S.30s.Preisgabe Österreichs: Beispiele kritischer Äußerungen in Gr. 85

Bismarck und dör Osten Pol. V, S. 147 (Dez. 1886. Zweifel wegen der militärischen Leistungs­ fähigkeit u. a. aus „Gründen nationaler Zerklüftung"); Lucius, Bismarck-Erinnerungen, S. 480 (Äußerungen Herbert Bismarcks im Ministerrat vom 27. Okt. 1888: „Unsere Freunde seien die Ungarn und die Deutschen.... Letztere aber .... verdächtig wegen ihrer Hinneigung zum Deutschen Reich .... Die Armee werde bald kein Deutsch mehr verstehen"). Dazu Waldersee, Denkwürdigkeiten II,S. 18. (12. November 88: „Wir haben Vorstellungen in Österreich ... er­ hoben". Von sich aus fügt W. hinzu: „Wenn dies so fortgeht, wird Österreich zunächst ein Föderativstaat und geht dann völlig aus den Fugen").—Lacher PAu triebe: Dazu das stark alkoholisch bestimmte An­ gebot Schuwalows an Herbert Bismarck und dessen Abwehr (Gr. Pol. V, S. 66f.). Hatzfelds Zeugnis: In einem Bericht vom 18.Juni 1895 (das. IX, S. 353) spricht der Botschafter von dem Mittel, mit dem Bismarck nach wiederholten Äußerungen bei einem deutsch-franzö­ sischen Konflikt noch im letzten Augenblick die russische Neutralität zu erkaufen sich zutraute, „indem er dann Österreich fallen ließ und den Russen damit den Orient überlieferte". — Dazu O. Becker, Das fran­ zösisch-russische Bündnis, S. 250 f. — Auch die bekannte Stelle im III. Band der „Gedanken und Erinnerungen" (Ges. W. XV, S. 567), an der Bismarck Preisgabe des Bündnisses mit Österreich empfiehlt, wenn unsere politische Liebe mit wirtschaftlichen Opfern betätigt werden müßte, kann nicht für eine großdeutsch-„realpolitische Synthese" in Anspruch genommen werden. — über die positive Beurteilung Osterreich-Ungarns auch noch in den letzten Jahren Bismarcks s. u. S.31f.Nationalrevolutionäre Möglichkeit von 1866: Sehr unzuver­ lässig dazu H. Wendel, Der Kampf der Südslawen um Freiheit und Einheit (1925, S. 338 ff.). Etwas kritischer (namentlich gegenüber den phantastischen Memoiren von OreSkovic) und mit interessantem Material, aber in der Ausdeutung auch noch stark übertreibend und me­ thodisch unzulänglich: Ders.: Bismarck und Serbien im Jahre 1866 (Berlin 1927). Stoffreich aber die Quellen wahllos aneinanderreihend E. v. Wertheimer, Bismarck im politischen Kampf, 1929, S. 233 ff. Dazu die älteren Veröffentlichungen von St. Türr, Fürst Bismarck und die Ungarn (Deutsche Revue XXV, I) und A. Kienast, Die Legion Klapka. 1900. „Sprache von 1792" (Wendel, S. 9). Usedoms Auffassung vom Charakter Österreichs: Bericht vom 10. Juni 1866 (Auszug b. Wendel, a. a. O., S. 29). — Für Bismarcks Beurteilung Usedoms: Anhang zu den Gedanken und Erinnerungen I, S.193, Ges.W.VIa.S., 498ff. Th.v.Bernhardi, TagebuchblätterVII, S. 265 u. 320. Gleichwohl bringt es Wendel fertig, auch Bismarck die Ansicht von „der unvermeidlichen Zersetzung des Kaiserstaates" zu imputieren (a. a. £).). Ähnlich Wertheimer (a. a. O. S. 282). — Für die Pariser Linie und die dahinter stehenden Pläne des Prinzen Napo­ leon (Mission Kiß-Klapka): H. Oncken, Rheinpolitik Kaiser Napoleons III. (I, S. 241 f., 260, 281 ff.). — Einen ernsteren Ausgangspunkt bot Florenz. Hier verhandelte Usedom seit Ende März von Bismarck

Anmerkungen ermächtigt mit den Emigranten. Dieser lehnte aber Anfang April eine Ent­ sendung von Csaky ab (Wertheimer S. 240). Am 17. April übersandte Usedom ein Memoire über die Verhältnsise an der österreichischen Mili­ tärgrenze, das Bismarck an Moltke weitergab (Wendel S. 73 ff.). Das Telegramm Usedoms vom 16. Mai (das (5,81) berührte dann den Punkt, der für Bismarck entscheidend wurde: durch Kooperation mit ungarisch-slawischer Nationalbewegung werde Italien definitiv ver­ hindert, auf friedliche Erwerbung Venetiens einzugehen. Österreich wolle dieses nicht ernstlich verteidigen. Dazu die Randbem.: „Neu, aber mög­ lich und uns gefährlrch". Auch bei der Unterredung Bismarcks mit General Türr (10. Juni) schlug dessen Hinweis, daß die Italiener keine Kriegführung größeren Stils bezweckten, durch. Der Eindruck dieses Arguments (es habe — nach Türr — Bismarck „wie eine elektrische Batterie" gerüttelt) wird bestätigt durch den Erlaß an Usedom vom gleichen Tag, der den Anlaß zu der „Stoß-ins-Herz"-Depesche gab (Ges. W. V, S. 536) und durch das nun einsetzende Drängen Bismarcks auf die ungarische Expedition und ihre Finanzierung (S. 538,549). Da La Marmora den ungarischen Plan jetzt ableugnete, wies Bismarck am 13. Juni Üsedom an, auf Anknüpfung mit dem ungarischen Comitö zu bestehen und verknüpfte noch einmal das Stutzen über die Bedenken Italiens mit der Sorge vor einem unfruchtbaren Belagerungsfeldzuin Venetien (a. a. O. S. 549). Der Versuch, Italien auf eine revolutio­ näre Kriegführung festzulegen, ist in dieser Phase die Hauptlinie der Aktion. Die Schaffung von Depots unter italienischen und ungarischen Offizieren zur Aufnahme von Überläufern tritt dahinter zurück, die Bedenken des preußischen Königs gegen eine solche Maßnahme waren offenbar erst nach Ausbruch der Feindseligkeiten zu überwinden (V, S.538; VI, S.317).—Erst mit diesem Zeitpunkt wird neben der mittel­ baren „Diversion" (über Italien) die unmittelbare (vom Balkan her) akut. Falls der Krieg ausbreche, hatte Bismarck am 30. Mai nach Belgrad geschrieben, sei Bildung eines slawischen Korps erwünscht, zu direkter materieller Unterstützung scheine ihm die Sache aber „noch nicht reif". (Wendel, S. 85). — Die ungarischen Bedenken wegen der „partes annexae“ betonte der dortige preußische Konsulatsverweser Laubereau (das. S. 84). Ein rumänisches Bündnis, so wußte Bismarck selbst, werde die „Ungarn entfremden" (das. S. 88). — Die Instruktion, mit der der Legationsrat v. Pfuel nach Bukarest und Belgrad gesandt wurde, kennen wir nicht. In einem Telegramm an Goltz (21. Juni a. a. O.) erläuterte Bismarck seinen Auftrag als hauptsächlich für Belgrad „und zur Kontrolle der Leistungen der Ungarn und Italiener^ bestimmt. Aber schon eine Woche vorher hatte er auf Entsendung Türrs nach Bel­ grad gedrängt, er erklärte, da Ungarn fast ohne Truppen sei, „die kleinste nationale Diversion" daselbst von großem Gewicht (S. 86,89, Ges. W. VI, S. 549) und verfolgte Türrs Verhandlungen in Belgrad mit Ungeduld (S. 47 f.). Das alles war zunächst rein im Sinn militärischer Entlastung ge­ dacht, blieb in kleinstem Maßstab und wurde mit dem Waffenstillstand abge­ stoppt. — Eine gewisse süddeutsche Parallele zu dieser Diversionspolitik

Bismarck und der Osten bietet (auch in der Unbestimmtheit und Erfolglosigkeit) die Entsendung des Grafen O-Reichenbach, die L. Dehio kürzlich aus dem Nachlaß Keudell erschlossen hat. (Forsch, z. brand.-preuß. Gesch. 46, S. 155 ff.) — Nach Königgrätz: Nationale Kraft Deutschlands „und der angrenzen­ den Länder" (Telegramm an das Min. des Ausw. 1. August. Ges. W. VI, S. 93). — Ungarisches und südslawisches Eisen: am 5. Juli lehnte Bismarck das Anerbieten Kossuths ins Hauptquartier zu kommen ab und betonte zugleich das Befremden über die Lauheit der italienischen Kriegführung (Ges. W. VI, S.35). Unmittelbar darauf erfolgte das Ein­ greifen Napoleons, am gleichen Tag noch empfahl Bismarck nach Buka­ rest einen ungarischen General, der von dort ails zur Einleitung antiöster­ reichischer Bewegung in Ungarn wirken wolle (a. a. O. S. 37). 3 Tage später nannte er Goltz unter den Kriegszielen die „Sicherstellung" der ungarischen Verfassung. Am 9. Juli ergingen Anweisungen für die Vervollständigung der ungarischen Legion (das. S. 47). Dazu die Mit­ teilungen an Laubereau für Türr vom 30. Juli und 7. Aug. (Wendel S.92f.). Der Belgrader Regierung wurde am 21. August der Dank aus­ gedrückt und die Bereitwilligkeit, „die Gemeinsamkeit der beiderseitigen Interessen für die Zukunft zu betätigen (das. S. 94). — Proklamation an die Böhmer und Mährer: BomlO.Juli. Vgl. W. Hopf, Die deutsche Krisis 1866 S. 239 ff. Dazu Bismarcks einschränkendes Privatschreiben an Eulenburg vom 16. Juli. — Den Vorschlag eines polnischen Emigranten (vom 8. Juli), die slawische Bevölkerung Österreichs zur Erhebung aufzufordern, versah Bismarck mit der Bemerkung: „Wir wollen von diesem Mittel keinen Gebrauch machen" (a. a. O. VI, 59 f.). — Man spürt in allen Zeugnissen, daß Bismarck die revolutionäre Waffe zwar zur Hand haben, aber die Festlegung vor dem äußersten Fall ver­ meiden wollte. — Insoweit sind seine späteren — defensiven — Äuße­ rungen, die freilich nur auf die Lage nach Königgrätz sich beziehen, zu­ treffend (vgl. die Rede vom 16.1. 74 in Ges. W. XI, S. 310 f. und Ges. W. XV, S. 270 f., 318 und das Stenogramm Buchers das. S. 611, das die Rückwirkung auf die inneren Zustände Deutschlands stärker betont.) Ferner Schweinitz, Denkw. II, S. 319. S.32f.Soll Revolution sein: Ges. W. VI, S. 120. Eigenhändige Auf­ zeichnung von 1868: Ges. W. Via, S. 409. Gespräch mit Karl Schurz: (28.1.1868): Ges. W. VII, S.242. Gedanken und Erinnerungen: Ges. W. XV, S. 278. Ähnlich in dem Erlaß nach Petersburg vom 26.Juli 1870 (Ges. W. VI b, S.422): Es sei eine unlösbare Frage, was an die Stelle der österreichischen Monarchie treten solle. Oder in dem Erlaß an den Staatssekretär v. Thile vom 18. Sept. 1870 (das. S. 506): „eine der größten europäischen Verlegenheiten." Für die konservative Linie der Außenpolitik gegenüber Österreich nach 1866 finden sich zahlreiche Zeugnisse in Ges. W. VI, Via, VI b und in der Gr. Pol. Für die Jahre 1867—1780, in denen Bismarck den Versuchen Beusts, das französisch-österreichische Bündnis statt am Rhein am Balkan zu aktivieren, entgegentritt und aus dieser (Situation die Prinzipien des südöstlichen Desinteressements entwickelt,

Anmerkungen vgl. auch Michael, a.a. O. u. W. Platz hoff, Die Anfänge des Dreikaiser­ bundes, Preuß. Jahrb. Juni 1922. Ich erwähne nur einige Zeugnisse, die auf die Nationalitätenfragen besonderen Bezug haben. Für die Beziehungen zu Serbien: Via, S. 194, 221; zu Rumänien: 199, 217, 244 f. (Abwehr einer französischen Sondierung wegen rumänischer Wünsche auf Siebenbürgen); zu Ungarn: S. 3, 66, 79 (nur eine agressive Politik Österreichs könne Preußen den ungarischen Radikalen nähern). Dem entsprachen die Drohungen vom Febr. 68: S. 240, 254 (Die Völkerschaften an der österr. Grenze als „eventuelle Bundes­ genossen"). Die Hauptlinie aber liegt in dem Versuch, Österreich in ein Bündnis zu ziehen, das für seine deutschen Teile als dauernder internationaler Vertrag, für den Gesamtstaat als Territorialgarantie auf Zeit gedacht war und Österreich von Frankreich abziehen sollte. (Ges. W. VI, S. 353,355). Für einen status quo-Vertrag hoffte Bismarck auch Ruß­ land zu gewinnen (366). Mit Schärfe wandte er sich gegen die daraus hergeleitete russische Unterstellung, er habe Österreich an die Spitze einer „Donaukonföderation" stellen wollen. Das sei ein ungarischer Plan gewesen — nach Königgräh — aber gegen Österreich gerichtet (VIa, S. 325 f.). —1869 (6.1.) folgt dann der anklagende Runderlaß gegen Beust, der, um den Krieg im Osten zu entfesseln, Preußen eines Bünd­ nisses mit Rußland, Serbien, Rumänien verdächtige (Via, S. 501 ff.). Im gleichen Zusammenhang die Distanzierung von der südslawischen Bewegung (das. S. 337), die ausdrückliche Ableugnung jeder Agitation in Ungarn (das. S. 519 u. VII, 279 f.) und die Warnungen nach Bu­ karest (VI a, S. 445, sowie insbes. in dem bedeutsamen Brief an den Fürsten Karl vom 2. II. 69 über die siebenbürgische Frage S. 537 ff.). — Bei Ausbruch des Krieges von 1870 gab Bismarck nach Petersburg erneut eine Erklärung im Sinne der Integrität des österreichischen Gesamt­ staats ab (VI b, S. 422). Ein Angebot des kroatischen Bischof Stroßmayer lehnte er ab (das. S. 457. A.). Äußerung zu Jokay: Ge.s W. VIII, S. 106. S. 34. Krieg gegen die österreichischen Provinzen: Zu dem Ungarn Jokay (a. a. O. S. 107). Erlaß nach Wien (23. Juli 1870): Ges. W. VI b, S. 417. — Ebenso für Andrassy bestimmt war der Erlaß vom 25. Februar 1874, der be­ tonte, die Einheit des deutschen Reichs werde durch Verschmelzung mit den seit 400 Jahren abgetrennten Erblanden eher verlieren und der die Siebenbürger Sachsen ausdrücklich mit den Deutschbalten in Parallele setzte. Zu mehr als einem „Bedauern" über ihre Unter­ drückung sei man deutscherseits nicht berechtigt (E. v. Werthei­ mer Andrassy II, S. 112). Tadel Buchers (18. Sept. 1870): Ges. W. VI b, S. 506. Unterredung mit dem Kronprinzen Rudolf (28. Febr. 1883): Ges. W. VIII, S. 470. — Zugleich mit den kritischen Äußerungen über das Deutschtum deutete Bismarck aber an, daß es auf die Länge ohne diesen Stamm doch nicht gehe. Innerdeutsche und gesamtdeutsche Bedenken: So fuhr etwa

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Bismarck und der Osten der genannte Erlaß vom 23.Juli 1870 fort: „...mit den einzelnen Bruchstücken einer der Auflösung verfallenen österreichischen Monarchie kann ich mir ... eine organische Beziehung gar nicht vorstellen und selbst die waghalsigsten Kombinationspolitiker würden an praktischen Versuchen der Art Schiffbruch leiden. Schon die Vorstellung allein von Wien als einer Provinzialstadt unmittelbar an der Grenze eines deutschen Reiches wirft ein Helles Licht auf die ganze Reihe von Un­ möglichkeiten, welche in jener Gedankenrichtung liegen. Und selbst wenn man sich eine althistorische Hauptstadt mit einer halben Million Einwohner als verfallen und verschwunden denken wollte, so würden dergleichen Utopien als nicht weniger unausführbar sich darstellen". Ges. W. VI, b, S- 417 u. 423.) — Bon der Verbindung Österreichs mit Deutschland durch das Kaiserhaus, die Geschichte, die deutsche Nationalität eines großen Teils der Bevölkerung und die deutsche Kultur der Monarchie sprach Bismarck schon am 4. Dez. 1866 zum Botschafter Graf Wimpfen (Oncken, Rheinpolitik II, S. 130. A.). — Vom „deutschen Beruf" Österreichs sprach die Kreuzzeitung am 10. Ja­ nuar 1868 (Ges. W. VI a., S. 223). Das sind nicht nur taktische Wen­ dungen. Von ihrer Rolle in den Altersreden Bismarcks wird noch zu sprechen sein. — Weitere Äußerungen über die Utopien betr. Wien: Ges. W. VI b, S. 208. E. v. Wertheimer, Bismarck im politischen Kampf. S. 398 — über Wien und Budapest zu Jokay (Ges. W. VIII, S. 106), über Wien und die „böhmische Schüssel mit dem tschechischen Kloß", das. S. 567. — Gegenüber dem „Versucher" Crispi betonte Bis­ marck 1877 die Unerwünschtheit katholischen und nichtdeutschen Bevöl­ kerungszuwachses, ferner wehrte er die These von der Donau als deutschem Strom ab: „Sie wird erst von Belgrad an schiffbar und in Regensburg liegen nur einige Flöße" (a. a. O. S. 218 f.). Ähnlich zu Schweinitz, ((Denkwürdigkeiten!, 248): „Die Donau fließt in ver­ kehrter Richtung"(!) Max Weber: Zitat b. Holborn, Uber die Staatskunst Bismarcks (Zeitwende IV, S. 11). S. 35. Bedauern wegen der Deutschen in Ungarn: Wertheimer, Andrassy II, S. 112 und die Bemerkung in den Ged. u. Erinn. über die „Unter­ drückung der reichstreuen deutschen Elemente in Ungarn" (Ges. W. XV, S. 401). Bindeglied: Erlaß an Schweinitz vom 8. Okt. 1870 (Ges. W. VI b, S. 355). — Das „erstaunliche Interesse" Bismarcks an den Verfas­ sungskämpfen Österreichs bezeugt Schweinitz im Gespräch mit Giskra (Denkw. I, S. 253), die Meinungsverschiedenheit über die DeutschLiberalen: das. S. 293. Urteile und Ratschläge: Ges. W. VI b. S. 207 ff, 224, 241 f., 253 f. (Verbindung mit Giskra, Dezember Verfassung), 690 (Schmerling) 699 (Uber das Kabinett Hohenwart, Abneigung des österreichischen Hofes gegen Giskra und Herbst wegen ihres Hinüber­ neigens nach Deutschland).— Nach 1871 liegen die auf innerösterreichische Fragen bezüglichen Erlasse Bismarcks meist nicht im Original sondern nur in der referierenden Form Wertheimers vor (z. B. Andrassy II,

Anmerkungen 138, 143; für die 80iger Jahre: Bismarck im politischen Kampf, S. 493 ff.). Spätere Urteile: Gr. Politik VI, S. 357 f. Ges. W. VIII, S. 443, XV, S. 566, XIV, S. 912 (über die „Herbstzeitlosen") u. VIII, S. 470 (konstitutionelle Spitzfindigkeiten" — das. aber auch die schon erwähnte Äußerung zu Kronprinz Rudolf, ohne den deutschen Stamm gehe es auf die Länge nicht; Österreich könne nur mit deutschem Einfluß, Bildung, Kultur und deutscher Sprache bestehen). Hohenwart-Krisis: Nach Waldersee (Denkw.I, S. 165) soll Bismarck im Sept. 71 den österr. Staatsmännern gesagt haben, sie könnten mit den Deutschen machen, was sie wollten, er werde sich um nichts küm­ mern, wenn sie ihm freie Hand gegen Frankreich ließen. — Äußerungen der Art würden an sich nicht ganz außerhalb der Bismarckschen Möglich­ keit liegen, sind aber sonst nicht bezeugt: Hingegen rechnet der schon erwähnte — nur für Schweinitz persönlich bestimmte Erlaß vom 15. II. 1871 (Ges. W. VI b, S. 698 f.) bereits mit dem ungarischen Wider­ spruch und Wertheimer (AndrLssy I, S. 561 ff.) läßt erkennen, daß Andrässy mindestens der moralischen Unterstützung durch Bismarck sicher war. — Im übrigen wird noch darauf zurückzukommen sein, daß Bismarck 1870 zu der Frage einer wirklichen Föderalisierung des österreichisch-ungarischen Gesamtstaats eher positiv stand. Für die Krise seit 1879/80 (Taaffe-Stremayer) vgl. vor allem jetzt Hugelmann (a. a. O., S. 120 ff), der den Umschwung vom Ver­ fassungskampf vorwiegend historisch-nationaler Richtung zum ethnisch­ nationalen Kampf scharf heraushebt. Nationale Argumente für den Zweibund: Gr. Pol. III, S. 20, S. 27, 58 („das deutsche Vaterland"), 84 f., Ged. u. Erinnerungen: Ges. W. XV, S. 406 f. Altersreden: Ges. W. XIII, S. 568. S. 36. Uralter Dualismus: Ges. W. VIII, S. 465. Dazu die Äußerung zu Friedjung von der „Uhr des deutschen Dualismus", die in jedem Jahr­ hundert einmal durch Krieg richtig gestellt werden müsse (IX, S. 51). Mosaikbild 1877: Ges. W. VIII, 237 f. (Das gleiche Bild schon 1869 für Ungarn: VI a, 538). — Den Gedanken der „dauernden organischen Verbindung" hat Bismarck bekanntlich bei den Zweibundverhandlungen angeschlagen und im Rückblick der „Gedanken und Erinnerungen" festgegehalten — in einem Widerspruch zum Vorbehalt der „clausula rebus sic stantibus“, der gerade aus dem im Text berührten Zusammenhang heraus kein unlösbarer ist. Auch an den erwähnten Vorschlag von 1867 (dauernder internationaler Vertrag mit den deutschen Teilen Öster­ reichs) wäre zu erinnern. Für die „Interventionen" nach 1880 vgl. E. v. Wertheimer, Bismarck im politischen Kampf S.493 ff. (Bismarck und Graf Taaffe). Auch in diesem Zeitabschnitt zeigt sich — stärker als es die veröffent­ lichten Akten erkennen lassen — das genaue Verfolgen der inneröster­ reichischen Fragen. In erster Linie gewiß wegen ihrer Auswirkungen auf dem „Gebiet der auswärtigen Politik" (S. 507), aber praktisch führte dies Interesse — trotz betonter Nichteinmischung — zweimal (1887/88) zu einer öffentlich erkennbaren Absage an den „Taaffeismus" (S. 500 ff., 511 f.).

Bismarck und der Osten Für die Kritik an der modernen Form der deutsch-österreichischen „Mission" vgl. jetzt die interessante Schrift von H. Raschhofer, Groß­ deutsch oder kleinösterreichisch, 1933. (Mitteleurop. Schriftenreihe 58b. 2). — Auch dem Protest gegen eine „tote Bismarckphilologie" die seinen Föderalismus zum Selbstzweck erhebe, kann man nur zustimmen. Freilich wird das Problem der Bismarckschen Nationalpolitik mit einer bloßen Relativierung ihrer Grundgedanken nicht erschöpft. Sie be­ deuten auch in diesem Punkte mehr als opportunistische Anpassung. S. 37. Entwicklung im Deutschtum Österreichs und Haltung zum Reich: Dazu vor allem Molisch a. a. O. und Kleinwächter, Der Untergang der österr.-ungarischen Monarchie (1920, S. 101 ff., 196 ff., 285ff.) Deutsche Parteien: Sieghart (a. a. O., S. 287 ff.) Linzer Programm: Molisch S. 118 ff., Kleinwächter S. 203 f. — Über Schönerer und die „Rebellion der Deutschösterreicher" sehr anschaulich: A. Hitler, Mein Kampf (XXX. A., S. 103 ff.). Für das Problem des Osterreichertums: Kleinwächter, a. a. O., S. 107 ff. und derselbe: Der deutsch-österreichische Mensch und der Anschluß. 1926. —- Für den Sprachgebrauch „die Nationalen" vgl. Molisch S. 81. Über die Alpen­ deutschen und die Verfassungspartei: Steinacker, a. a. O., S. 58, 73 f. — Die Nationalitätenpolitik der österreichischen Sozialdemokratie spielte in der Bismarckschen Epoche noch keine Rolle. Die erste Festlegung geschah auf dem Brünner Parteitag 1899 (O. Bauer, Die Nationali­ tätenfrage und die Sozialdemokratie 2. A., S. 527 ff.). Wirkung des slawischen Keils: Ges. W. XV, S. 407. S. 38. Parteizersplitterung und Demokratisierungsprozeß der 80iger Jahre: Einzelheiten bei Hugelmann, a. a. O., S. 143 ff. Bismarcks Kritik: Außer den schon angeführten Äußerungen über die Verfassungspartei und den Stellen im Text die zustimmende Randbem. Bismarcks („nicht unrichtig") zu der Klage Franz Josephs, die deutschen Abgeordneten wären alle „Doktrinäre". (E. v. Wertheimer, Bismarck im politischen Kampf, S. 318). — Für das Problem des Parlamenta­ rismus in Österreich vgl. den durch Buchers Sachkenntnis gespeisten Erlaß von 1870, der darauf hinweist, daß bei seiner Einführung auf englischem Boden die dort zusammengekommenen „Rassen" längst zu einem „Volke" verschmolzen waren (Ges. W. VI b, S. 241). Alternative von 1870: Ges. W. VI b, S. 209 f. Die „Föderativ­ verfassung" wird erläutert: mit großen Gruppen, etwa Deutsch-Osterreich, Böhmen, Galizien, Dalmatien. Das würde also auf „Landes­ föderalismus" deuten. Andererseits rechnet Bismarck mit einem Fortschreiten des Auflockerungsprozesses nach Ungarn, was in der Rich­ tung eines „nationalen Föderalismus" läge. — Die monarchisch­ autoritäre Lösung widerspricht dem nicht unbedingt, da eine Neuein­ teilung nur durch Revolution von oben geschehen konnte, doch findet sich keine Andeutung derart in Bismarcks Gedanken. Staatsstreich­ plan von 1888: E. v. Wertheimer, a. a. O., S. 507. Auf den Hinweis von Reuß, daß die Idee der Suspendierung schon wegen der verfas­ sungsmäßigen Rechte der Ungarn, unausführbar sei, bemerkte Bismarck:

Anmerkungen

„ultra posse“ (a. a. O-S. 517). In einem Gespräch vom April 1890 (Ges. W. IX, S. 20) beklagte er die Schwäche des monarchischen Prin­ zips in Österreich, meinte aber doch, der Verfall sei „nicht so nahe". S. 39. Außerhalb der Verantwortung: In dem Erlaß, der die Frage der Föderativverfassung anrührte, fügte Bismarck hinzu, es sei ihm sehr lieb, „daß ihre Lösung uns nicht obliegt". (Ges. W. VI b, S. 210). Deutsch-slawische Gemeinschaft: Für die Theorie der staatlichen Fruchtbarkeit in der Verbindung „männlicher und weiblicher Rassen", die Bismarck von den 60er Jahren bis zu seinem Ende immer wieder vertreten hat, vgl. die Zitatensammlung bei Franz, Bismarcks National­ gefühl, S. 108 f. Das. auch der Versuch einer literarischen Herleitung (Arndt-Gobineau) und die richtige Feststellung, daß die Formulierung doch ganz Bismarckisch sei. Nur wird man dies Eigene weniger im er­ lebten germanischen Herrentum als in der preußisch-staatlichen Tradition zu sehen haben, die Bismarck auch auf Österreich übertrug. S. 40. Altersreden: 1. Juli 1894 u. 15. April 1895 (Ges. W. XIII, S.535 u. 568 ff., dazu auch IX, 390f.). — Wenn Franz (a. a. O., S. 115u. 117 f.) meint, nach der Entlassung trete bei Bismarck ein großdeutscher, Staats­ grenzen sprengender Zug hervor, so ist das richtig nur in Bezug auf die Tatsache, daß Bismarck jetzt anders als in der amtlichen Zeit in Be­ rührung mit dem Volksganzen, den einzelnen deutschen Stämmen und den Ausländsdeutschen kam. Aber eine neue politische Linie deutet sich in keiner Weise an, insbesondere die Reden an die Deutschösterreicher fassen nur besonders wirkungsvoll die bereits bekannten Motive zu­ sammen. — Die Äußerungen zu H. Bahr nach W. Andreas, Die Wandlungen des großdeutschen Gedankens (1924) S. 32. In seiner eigenen Aufzeichnung bezeugt Bahr, in jener Stunde aus seinem deutschestem Gefühl zum Österreicher geworden zu sein. Vgl. dazu ferner die Kritik von H. Hassinger an dem Buch von Kleinwächter und Paller über die Anschlußfrage (D. L. Z 1931 Sp. 1894 ff.), in der die doppelte geographische und geistige Verankerung des deutschösterreichischen Menschen als eines Grenzlanddeutschen betont wird gegenüber gewissen wunschmäßigen Vereinfachungen. Sowohl die Betonung seines den Binnendeutschen überlegenen Deutschbewußtseins, wie der Eigenprägung aus der Symbiose mit Nichtdeutschen liegt ganz im Sinne der Bismarckschen Auffassung. Dazu auch E. Mika, Die Epochen des österreichischen Geistes und das deutsche Problem, Volk und Reich 1932 (VIII, S. 447 ff.). — Lieber „Vorland an der Donau": Sieghart, a. a. O., S. 233. S.40s.Für die literarische Ausgestaltung des Autonomiegedankens kommen vor allem die bekannten Bücher von Renner (Pseudonyme: Synopticus und Springer) in Betracht, die bei vielen doktrinären Zügen (insbes. einer argen Selbsttäuschung über den Zusammenhang von Demo­ kratie und Nationalismus) doch durch die klare Herausarbeitung des Personalitätsprinzips vermöge nationaler Matrikeln die tatsächliche Entwicklung fruchtbar beeinflußt haben, bis in die Gegenwart hinein (Estland) —. Für den juristischen Ausbau die Spruchpraxis des

Bismarck und der Osten österreichischen Verwaltungsgerichtshofs mit ihrer Klärung des Prinzips der Volkstumszugehörigkeit. Vgl. dazu W. Steinacker, Der Begriff der Volkszugehörigkeit im altösterreichischen Nationalitätenrecht. — Für die nationale Frage in der Verwaltung: Sieghart, a. a. O., S.397ff. — Für den „Ausgleich" in Mähren und der Bukowina (na­ tionale Wählerlisten, nationale Kurien und nationale Schill- bezw. Kulturräte) vgl. Hugelmann, a. a. O., S. 226 ff. Bon Interesse ist, daß der Abschluß in Mähren einmal erleichtert wurde durch den starken landschaftlichen Zusammenhang und dann durch die Tatsache, daß die deutschen und tschechischen Siedlungsgebiete stark durcheinanderliegen, sodaß die in Böhmen dornigste Frage der territorialen Autonomie nicht akut wurde. Max Hildebert Böhm: Die Nationalitätenfrage, Jahrb. f. Sozio­ logie 1. Erg.-Bd., S. 129. Dazu Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker, herausg. v. H. Schwarz (1932) S. 181. S. 41. Für die Stellung Bismarcks zur polnischen Frage liegt ein erster aber recht unzureichender Versuch einer Gesamtdarstellung in der Arbeit vonH.Wendt vor (Bismarck und die polnische Frage, 1922). Eine Skizze bei Rachfahl, Bismarck und das Slawentum (Das Bismarckjahr, 1915, S. 99 ff.). — Ansätze zu eingreifenderer Auffassung bei Schinkel (a. a. O., S. 116 ff.). Auch die nachfolgenden Erörterungen beschrän­ ken sich darauf, die Hauptpunkte im Sinne einer grundsätzlichen Frage­ stellung herauszuheben. Sie berühren sich dabei insoweit mit der Auf­ fassung von Jos. Feldmann (Bismarck a sprawa polska [S8. und die polnische Fragej Sprawy obce 1930III, S. 581 ff.), als auch er Bismarck vom modernen Nationalismus entschieden absetzt. Das ist unzweifelhaft richtig gesehen und ein Fortschritt gegenüber der in der polnischen wie der deutschen Literatur weit verbreiteten Meinung. Aber während F. vom demokratischen Ausgangspunkt in dem Rück­ griff auf ältere Traditionen nur eine realistische und u. U. gefährlichere Form der Polenfeindschaft im Sinne des „devide et impera“ sieht, werden im folgenden die Züge einer Gesamtauffasfung der Ostfragen herauszuarbeiten fein, die Bismarck auch von Flottwell und Grolmann unterscheiden. Er ist weit mehr als „sein eigener Epigone". S. 42. Urteil von 1854: Ged. u. Erinn. Anh. II, S. 201 f. Galizien: Ges. W. XV, S. 402 u. 215. — (Der Bezugnahme bet Ged. u. Erinn. auf die österreichische Politik von 1863 soll hier nicht näher nachgegangen werden. Bismarck hat die Gefahr dieser österreichischen „Freiheit" damals durch einen Garantievertrag zu bannen gesucht: Galizien u. U. sogar Venetien gegen Posen. (Zechlin, a. a. O., S. 571). Experimente in polnischer Richtung: Ges. W. Via, S. 503, VIb, S. 486, — Offizieller Zeitungsartikel gegen die Zugeständnisse an die Polen in Galizien: Busch, Tagebuchbl. II, S. 327. Das. auch S. 361 f. Uber Hohenwarts Polenpolitik: Hugelmann, a. a. O., S. 104 ff. Uber die polnisch-österreichische Orientierung vgl. W. Feldmann, Geschichte der politischen Ideen in Polen, S. 215 ff. Zu Crispi sagte Bismarck 1879: „Ein einziger Grund könnte Anlaß zu Zwistigkeiten

Anmerkungen zwischen den beiden Kaiserreichen geben, und das wäre der, wenn Öster­ reich durch sein Verhalten eine Bewegung in Polen ermutigen wolle." (Crispi, Memoiren, deutsche Ausg., S. 62, vgl. das. auch S. 3t f. u. Ges. W. VIII, S. 218 sowie Lucius S. 137). Rückwirkung des Dreikaiserbündnisses auf die ruthenische Frage: Ges. W. XV, S. 402.-— Daß Rußland den österreichischen Versuch eines vorläufigen polnischen Königreichs in Galizien durch die Ruthenen neutralisieren könne, betonte Bismarck schon 1869 (Ges. W. VI b, S. 76). Balkankrise und polnische Frage: Vgl. H. Behrendt, Die polnische Frage und das österreichisch-deutsche Bündnis 1885—87. (1927.) Dementierung Taaffes: Wertheimer,a. a. O., S.497. Schweinitz, Denkw.11,313: Erlaß an Reuß vom LIL 1886: Behrendt, a.a. O.,S. 11. Ähnlich heißt es in den Ged. u. Erinnerungen (Ges. W. XV, S. 402): „Die Frage der Zukunft Polens ist — unter den Vorbedingungen eines deutsch-österreichischen Kriegsbündnisses eine besonders schwierige." — Über die Art, wie Bismarck für den wirklichen Kriegsfall dieser Schwie­ rigkeit u. U. Rechnung tragen wollte, s. u. S. 43. Meyendorff: Brief an Nesselrode v. 3./15. Juli 46 (Hoetzsch a. a. O. I, S. 346 fs.). Polnischer Aufstand und baltische Frage: Schaudinn, a. a. O., S. 52 ff., 61 ff. Konvention Alvensleben: Ges. W. IV, S.48ff. und die neueste Darstellung bei Zechlin, a. a. O., S. 426 ff., die freilich Bismarcks Ini­ tiative zu abgeschwächt erscheinen läßt. Meine Einwände dagegen (D. L. Z. 1931, S. 1082) sind voll bestätigt worden durch die inzwischen erschienenen Akten (Die ausw. Politik Preußens 1858 —1871, III, herausg. v. Jbbeken, S. 205 f., 222ff., 234, 549ff.). Auf diese Spezial­ frage braucht hier nicht eingegangen zu werden. Unbestritten ist, daß die Bedeutung der Militärkonvention im Politischen lag: vgl. Ges. W. XIII, S. 150 u. XV, S. 215, ferner das Diktat Bismarcks vom 5. V. 63 (—in der polnischen Frage „ist Rußland durch unsere Konvention — in eine Bahn getreten, auf welcher das Zusammengehen mit Frank­ reich notwendig aufhörte. Dieses wichtigste Ergebnis der Konvention war mit ihrer Unterschrift erreicht; ihre übrigen Folgen waren sekun­ därer Natur" Jbbeken S. 545), sowie die Randbem. Bismarcks zum Bericht vom 20. II. („Die Konvention war eine Niederlage für Gortschakoffs feindliche Politik innerhalb des russischen Kabinetts; der Kaiser verwarf damit die panslavistische Polenfreundlichkeit... das. S. 277 u. Zechlin S. 446). Daß diese Zeugnisse die Krise, zu der die Konvention führte, glätten, ist (Zechlin u. Feldmann) zuzugeben, gleich­ wohl kann an ihrem Erfolg kein Zweifel sein. — Für die tieferen Zu­ sammenhänge der antiliberalen Außenpolitik und die weltanschau­ lichen Spannungen in der polnischen Frage ist eine weitere Rand­ bem. von großem Interesse: „. . . die französische Sympathie schadet dem Liberalismus im Lande auf die Dauer, er geht an ihr zu Grunde, wenn er sie nicht los wird." (Zechlin, S. 459.)

Bismarck und der Osten S. 44. Russische Parallele zum Kulturkampf: Vgl. A. Wahl, Vom Bismarck der 70er Bahre,