Bildung nach reaktionären Revolutionen: Was sich von der TV Serie The Handmaid's Tale lernen lässt 3658326166, 9783658326166, 9783658326173

Der vorliegende Band ist der neunte Band einer Reihe, in der sich eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftl

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Autorenverzeichnis
1 Bildung nach reaktionären Revolutionen
2 Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft am Beispiel von The Handmaid’s Tale
1 Die Ursprünge totaler Herrschaft und das Ende der Demokratie
2 Weltlosigkeit als Symptom moderner Gesellschaften und als Bedingung des Totalitarismus
3 Über den Zusammenhalt totalitärer Gesellschaften
4 Das Recht und die Menschenrechte
5 Das Lager
Literatur
3 The Handmaid‘s Whiteness: ‚Race‘ in Roman und Serie
1 Einleitung
2 Historische Kontexte: Von Race-Gender Konkurrenzen und metaphorischer Sklaverei
3 The Handmaid‘s Tale: Der Roman
4 The Handmaid‘s Tale: Die Serie
Literatur
4 Once upon a time nearby – Sakralisierung der Reproduktion und Reproduktion der Sakralität in Gilead
1 Die Sakralisierung der Reproduktion
2 Die Reproduktion von Sakralität
Literatur
5 The Handmaid’s Tale zwischen Feministischer Erzählung und „Torture Porn“: Eine intersektionale Kritik
1 Einleitung: Rezeption und feministische Vereinnahmung der Serie
2 Aneignung rassistischer Gewalterfahrungen
3 Vom „weiblichen“ Blick zu einer Ästhetik der Gewalt
4 Homophobie als Motiv
5 Fazit
Literatur
6 The Handmaid’s Space. Zu Maßstäben und Orten in The Handmaid’s Tale
1 Einleitung
2 Scale und place – Zur räumlichen Dimension sozialen Handelns
3 The Handmaid‘s Space: Ausgewählte Maßstabsebenen und Orte
3.1 Scale
3.2 Place
4 Fazit: Die Geographie von The Handmaid’s Tale
Literatur
7 Ein dystopischer Raum der Biopolitik: Der Report der Magd aus sozialgeographischer Perspektive
1 Einleitung
2 Räume der Biopolitik
2.1 Zur biopolitischen Relevanz von Fertilität
2.2 Pro-natalistische Biopolitiken und „Raum“
3 Gileads Räume im Dienste der Biopolitik
3.1 „Fruchtbarkeit als eine staatliche Ressource, Fortpflanzung als moralische Pflicht“
3.2 Die Mägde als Zentrum und Peripherie des gileadschen Herrschaftssystems
3.3 Der Haushalt im Dienste der Biopolitik
4 Der urbane Raum als Gegenort des Kontinuums von Staat und Haus(halt)
5 Fazit
Literatur
8 Die Zukunft als Albtraum
1 Was bisher geschah
2 Vom Material zur Rezeption – oder don‘t binge-watch The Handmaid’s Tale
3 „Die Serie als Dokument des politischen Unterbewusstseins unserer Zeit“
4 Wir befinden uns in einer gewaltigen Illusionskrise
5 „Make Amerika great AGAIN“ – oder: Rückwendung zu sehr alten Antworten
6 Fiktionaler Realismus
7 Die Dystopie ist auserzählt
Literatur
9 „It can’t happen here“ – „But what could happen here?“ Zur dystopischen Aktualität von The Handmaid’s Tale
1 Einleitung
2 The Handmaid’s Tale als Dystopie
3 Zur Aktualität von HMT
Literatur
10 Bildung nach fundamentalistischen Revolutionen. The Handmaid’s Tale als Ritornell und Rhizom
1 Beiläufige Öffnungen und Schließungen
2 Drei Sequenzen als drei Phasen eines Ritornells
3 Widerständig werden
Literatur
DVDs
11 Magdwirtschaft: Adaptionspolitik in The Handmaid’s Tale
1 Einleitung
2 Die offensive Adaption
3 Schlöndorffs Handmaid’s Tale
4 Textarbeit in Gilead
5 Conclusio: Magdwirtschaft
Literatur
12 Serialisierte Allegorien: The Handmaid’s Tale als ein Narrativer Palimpsest des 21. Jahrhunderts
1 Das Spiel mit Homophony
2 Die (Ohn-)Macht des Patriarchats
3 Surrogate Parenting
4 To conclude:
Literatur
13 The Handmaid`s Tale – Eine Dystopie als Fragmente von Vergangenheit erzählen
1 Einleitung
2 Einsamkeit
3 Gelebtes Leben oder abgekapselte Zeit
4 Rituale der Unterwerfung
5 Uniformierung als Entindividualisierung
6 Missverständnis Armee und Widerstand
7 Selbstkritik
8 Infamie der Beteiligung
9 „Objektive Notwendigkeit der Maßnahmen“
10 Gegenseitige Überwachung
11 Zurück in die Zukunft
Literatur
14 Erratum zu: Bildung nach reaktionären Revolutionen
Erratum zu: A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3
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Bildung nach reaktionären Revolutionen: Was sich von der TV Serie The Handmaid's Tale lernen lässt
 3658326166, 9783658326166, 9783658326173

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Anja Besand Hrsg.

Bildung nach reaktionären Revolutionen Was sich von der TV Serie The Handmaid’s Tale lernen lässt

Bildung nach reaktionären Revolutionen

Anja Besand (Hrsg.)

Bildung nach reaktionären Revolutionen Was sich von der TV Serie The Handmaid’s Tale lernen lässt

Hrsg. Anja Besand Technische Universität Dresden Dresden, Deutschland

ISBN 978-3-658-32616-6 ISBN 978-3-658-32617-3 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021, korrigierte Publikation 2022 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung der Verlage. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Barbara Emig-Roller Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Die Originalversion des Buchs wurde revidiert. Ein Erratum ist verfügbar unter https://doi. org/10.1007/978-3-658-32617-3_14

Inhaltsverzeichnis

Bildung nach reaktionären Revolutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anja Besand Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft am Beispiel von The Handmaid’s Tale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mark Arenhövel The Handmaid‘s Whiteness: ‚Race‘ in Roman und Serie . . . . . . . . . . . . . Katja Kanzler

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5 17

Once upon a time nearby – Sakralisierung der Reproduktion und Reproduktion der Sakralität in Gilead . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Schwarke

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The Handmaid’s Tale zwischen Feministischer Erzählung und „Torture Porn“: Eine intersektionale Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mirjam M. Frotscher und Gesine Wegner

45

The Handmaid’s Space. Zu Maßstäben und Orten in The Handmaid’s Tale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Naumann und Nicole Raschke

67

Ein dystopischer Raum der Biopolitik: Der Report der Magd aus sozialgeographischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judith Miggelbrink

87

Die Zukunft als Albtraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anja Besand

105

VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

„It can’t happen here“ – „But what could happen here?“ Zur dystopischen Aktualität von The Handmaid’s Tale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan-Philipp Kruse

125

Bildung nach fundamentalistischen Revolutionen. The Handmaid’s Tale als Ritornell und Rhizom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Olaf Sanders

143

Magdwirtschaft: Adaptionspolitik in The Handmaid’s Tale . . . . . . . . . . . Wieland Schwanebeck

161

Serialisierte Allegorien: The Handmaid’s Tale als ein Narrativer Palimpsest des 21. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Köhler

181

The Handmaid‘s Tale – Eine Dystopie als Fragmente von Vergangenheit erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Schönfelder

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Erratum zu: Bildung nach reaktionären Revolutionen . . . . . . . . . . . . . . . Anja Besand

E1

Autorenverzeichnis

Mark Arenhövel, Prof. Dr., ist außerplanmäßiger Professor für politische Theorien und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden. Anja Besand, Prof. Dr., ist Professorin für Didaktik der politischen Bildung an der Technischen Universität Dresden. Mirjam M. Frotscher, M.A., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Englische Literatur. Katja Kanzler, Prof. Dr., ist Professorin für amerikanische Literatur an der Universität Leipzig. Angelika Köhler, Prof. Dr., ist außerplanmäßige Professorin für die Literatur Nordamerikas an der Technischen Universität Dresden. Jan-Philipp Kruse, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Rechts- und Verfassungstheorie mit interdisziplinären Bezügen. Judith Miggelbrink, Prof. Dr., ist Professorin für Humangeographie an der Technischen Universität Dresden. Matthias Naumann, Dr., vertritt die Professur der Didaktik der Geographie an der Technischen Universität Dresden. Nicole Raschke, Jun.-Prof. Dr., ist Inhaberin der Juniorprofessur für Didaktik der Geographie und Umweltkommunikation. Olaf Sanders, Prof. Dr., ist Professor für Erziehungswissenschaft, insbesondere Bildungs- und Erziehungstheorie sowie philosophische Grundlagen an der Helmut-Schmidt-Universität.

IX

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Autorenverzeichnis

Stefan Schönfelder, ist Direktor von WEITERDENKEN – der Heinrich Böll Stiftung in Sachsen. Wieland Schwanebeck, PD. Dr., ist Privatdozent an der Professur für Englische Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Christian Schwarke, Prof. Dr., ist Professor für Systematische Theologie an der Technischen Universität Dresden. Gesine Wegner M.A., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Literatur Nordamerikas

Bildung nach reaktionären Revolutionen Anja Besand

Der vorliegende Band ist der neunte Band einer Reihe, in der sich eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich 2014 an der Technischen Universität Dresden unter der Bezeichnung WEITERSEHEN – interdisziplinäre Perspektiven Dresdner Serienforschung zusammen gefunden haben, mit sozialund kulturwissenschaftlichen Fragen im Kontext aktueller TV Serien beschäftigen. Gegenstand der Beschäftigung waren bereits die Serien Breaking Bad, True Detective, The Walking Dead, Westworld und Star Trek. Themenbezogene Fokuspunkte bilden die Bände „Väter allerlei Geschlechts“, „Politik in Serie“, „Krieg in Serien“ und demnächst „Realität in Serie“. Die Forschergruppe lässt sich, angesichts der Zahl der Bänden, die sie vorgelegt hat, damit als produktiv beschreiben. Zweimal im Jahr finden Werkstatttagungen statt, in deren Rahmen neue Serien analysiert und diskutiert werden. Diese Tagungen sind lebendig und liefern einen erfrischenden Beleg dafür, dass akademische Forschung nicht langweilig und unverständlich sein muss. Sie sind Beleg dafür, dass Wissenschaftler*innen mit Bürger*innen und Serienfans auf Augenhöhe über zeitgenössische Fragen und Theorien kommunizieren können. Den jeweiligen Bezugspunkt bildet dabei das Serienmaterial. Gleichwohl stellt sich nach fünf Jahren in dieser Forschergruppe die Frage, welche Geschichte noch nicht erzählt ist? Welche Frage ist noch offen und welches Material liefert neue Perspektiven und einen kritischen Blick auf die Gegenwart, der in der Vergangenheit noch nicht thematisiert worden ist? Sichtbar wird hier: Es fällt zunehmend schwer sich auf ein Material zu einigen, A. Besand (B) TU-Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021, Korrigierte Publikation 2022 A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3_1

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A. Besand

denn auch in einer Forschungsgruppe bildet sich die zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft ab. Es wäre übertrieben, in diesem Zusammenhang von gesellschaftlichem Verfall zu sprechen. Gesellschaftliche Konfliktlinien werden nichts desto trotz immer sichtbarer. In Dresden – dem Standort von dem aus die Forschungsgruppe mehrheitlich arbeitet – ist das überdeutlich. Genau damit möchten wir uns in diesem Band beschäftigen. Analog zum Material, dem er gewidmet ist, handelt es sich deshalb um einen düsteren Band – einen der Düstersten, die wir bislang vorgelegt haben. Das wird bereits im Titel sichtbar. Es geht um Bildung nach reaktionären Revolutionen oder die Frage, wie wir dem autoritären Sog begegnen, der in den westlichen Gesellschaften zunehmend sichtbar wird. Im Mittelpunkt dieses Bandes steht eine dystophische Erzählung. Eine Erzählung über reaktionäre Revolutionen, Umweltkatastrophen und Reproduktionskrisen. Eine Erzählung über Unfreiheit, sexualisierte Gewalt, Maskulismus und Macht. Die Erzählung, um die es sich handelt, ist dabei mehr als 30 Jahren alt und gleichzeitig so aktuell, dass man sich die Augen reiben möchte. Es geht um: The Handmaids Tale – eine Serie, deren Kostüme heute regelmäßig in Demonstrationskontexten auftauchen. Eine Serie, deren Urtext bereits zum kanonischen Bestandteil schulischer Pflichtlektüren geworden ist und die doch gleichzeitig als eine der aktuellsten Serienerzählungen zu bewerten ist. Wie immer beleuchten wir die Serie aus unterschiedlichen Perspektiven: POLITIK-WISSENSCHAFT

Mark Arenhövel, Jan-Philipp Kruse und Anja Besand wählen einen politikwissenschaftlichen Blick

GEOGRAPHIE

Judith Miggelbrink, Matthias Naumann und Nicole Raschke vermessen die Serie aus geographischer Perspektive

THEOLOGIE

Christian Schwarke betrachtet die Serie aus theologischer Perspektive

KULTUR-WISSENSCHAFT

Katja Kanzler, Angelika Köhler, Wieland Schwanebeck sowie Mirjam M. Frotscher und Gesine Wegner werfen einen kulturwissenschaftlichen – genauer amerikanistischen bzw. anglistischen Blick auf das Material

ERZIEHUNGS-WISSENSCHAFT Olaf Sanders rekonstruiert die Serie schließlich bildungstheoretisch BIOGRAPHISCHES ESSAY

Der Band schließt mit Stefan Schönfelder, der die Erzählung der Serie mit einem biographischen Essay in Beziehung setzt

Bildung nach reaktionären Revolutionen

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Die Fragestellungen, die in diesen Beiträgen angesprochen werden, sind ebenfalls vielfältig. Das Spektrum reicht von bildungstheoretischen Fragen, die nah an der Serienerzählung geführt werden (Sanders), über Beiträge, die sich mit unterschiedlichen Adaptionen des erzählerischen Materials beschäftigen (Schwanebeck, Köhler). Wir haben rassismuskritische Beiträge in diesem Band (Kanzler) genauso wie feministische und intersektionale (Frotscher/Wegner). Wir haben Beiträge, die Raumtheorien in den Mittelpunkt stellen und auf die Serie anwenden (Miggelbrink, Naumann/Raschke) und solche, die eher auf politische Theorien und Totalitarismustheorien ausgerichtet sind (Arenhövel, Kruse). Im Band finden sich Fragen nach Sakralisierung und Reproduktion (Schwarke), Feminismus und Pornographie (Frotscher/Wegner), sowie Fragen nach der Machbarkeit von Zukunft (Besand) und dem Umgang mit persönlicher Vergangenheit (Schönfelder). Gemeinsam haben all diese Auseinandersetzungen, dass sie die Serie The Handmaids Tale als ein Material verstehen, mit dessen Hilfe sich gegenwärtige Fragen thematisieren lassen. Ja mehr als das: The Handmaids Tale ist ganz offensichtlich ein Material, in dem sich gegenwärtige Fragen spiegeln und das dadurch geeignet ist, die Menschen in dieser Hinsicht mit einander ins Gespräch zu bringen. Die Kernfrage, die das Material dabei stellt, ist im Kern die Frage: Wie wollen wir zusammen leben und auf welche Weise wollen wir die Probleme, die sich uns gegenwärtig stellen, bearbeiten und bewältigen. In eben diesem Sinne wünschen wir den Leserinnen und Lesern dieses Bandes – trotz seiner spezifischen Düsterheit – Vergnügen beim Erhellen der aufgeworfenen Fragestellungen. Dresden, Dezember 2019

Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft am Beispiel von The Handmaid’s Tale Mark Arenhövel

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Die Ursprünge totaler Herrschaft und das Ende der Demokratie

Wenn wir über autoritäre oder gar totalitäre Systeme reden, so haben wir dies bis vor kurzem fast ausschließlich im Modus der historischen Vergewisserung getan, indem wir beispielsweise den Nationalsozialismus mit dem Stalinismus verglichen haben, oder wir haben nach China oder Nordkorea geschaut und die Persistenz totaler Kontrolle wie auch der gröbsten Missachtung von Menschenrechten als anachronistische Verirrung vielleicht allzu schnell abgetan. Selbst wer mit dem (vermeintlichen) Ende des Kalten Kriegs in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht in den Chor der Verkünder eines „Endes der Geschichte“ einzustimmen bereit war, konnte doch – gestützt auf empirische Befunde der Demokratieforschung – geltend machen, dass ein deutlicher globaler Trend hin zur Demokratie zu konstatieren war. Die Zeitdiagnosen jener Jahre, der ja auch die Prophetie des Endes der Geschichte angehörte, standen ganz im Zeichen der Bemühungen um eine Demokratisierung der Demokratie, die von emanzipatorischen Teilen einer aktiven Zivilgesellschaft vorangetrieben werden sollte. In der Regierungslehre bildeten autoritäre und demokratische Herrschaftssysteme zwei Pole, die unendlich weit voneinander entfernt lagen, und es waren höchstens postmoderne Autoren, die die These einer inneren Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus stark zu machen versuchten. M. Arenhövel (B) TU-Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021, Korrigierte Publikation 2022 A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3_2

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M. Arenhövel

Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass eine Fernsehserie, die auf einer Romanvorlage von 1985 basiert, genau diese These illustriert. Margaret Atwood selbst verfasste ihren Roman ja noch während des Kalten Kriegs, inspiriert durch die Revolution im Iran wie auch die politischen Systeme jenseits des Eisernen Vorhangs, was angesichts der (scheinbaren) Aktualität der Romanhandlung einen interessanten Kommentar auf die politische Weltlage des frühen 21. Jahrhunderts abgibt. Was aus einer politikwissenschaftlich informierten Sicht an der Serie The Handmaid´s Tale besonders interessant scheint, ist der mehr implizit dargestellte Verfall der Demokratie, welcher der Serienhandlung vorausgeht und nur aus Rückblenden erschlossen werden kann, wie auch der Aufbau des totalen Staates Gilead. Reizvoll ist in diesem Zusammenhang ferner, dass in der Serie in der Entwicklung der Handlung – und besonders in der ersten Staffel – auf eindrucksvolle Art und Weise beinahe all jene Faktoren des Totalitarismus beleuchtet werden, die Hannah Arendt in ihrem Klassiker „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (Arendt 1986; zuerst 1951) mehr als 30 Jahre vor der Abfassung des Romans in – wie sie selber bemerkte – kristalliner Form analysiert hatte. Was ich im Folgenden beabsichtige lässt sich so beschreiben, dass ich die Funktionslogik von Gilead vor dem Hintergrund des Buches von Arendt analysieren und ein Stück weit interpretieren will, wobei ich mein Material hauptsächlich in den ersten 10 Episoden – mithin in der ersten Staffel – suche, da die zweite Staffel der durchaus kraftvollen Darstellung des Totalitarismus in Gilead kaum etwas Neues hinzufügt. Um es aber gleich vorweg zu sagen, wir finden auch einige bemerkenswerte Verschiebungen des Totalitarismus, wie von Arendt für das 20. Jahrhundert rückblickend beschrieben: Die betrifft vor allem die Diagnostik der Ursprünge totaler Herrschaft: Bei Arendt haben wir als sozialpsychologische Konstellation den Antisemitismus und als sozialstrukturelle Konstellation den modernen Imperialismus, die zu den Ursprüngen des Totalitarismus zu zählen sind. Die Serie The Handmaid´s Tale ist nicht sehr explizit in der Beschreibung jener Faktoren, die als Ursprünge zu sehen sind, aus denen Gilead möglich wurde. Aus einer Rückblende zeitlich vor der totalitären Revolution, in der sich Fred Waterford und seine Frau Serena unterhalten, erfahren wir, dass es eigentlich Serena war, die das Thema der Reproduktion zu einem Schlüsselthema der reaktionären Kräfte gemacht hat. Mit anderen Worten, die biopolitische Wende, die ganz zentral für das Herrschaftsund Unterdrückungssystem in Gilead ist, wurde „erfunden“ von Serena, die ihr erstes Buch „A Woman´s Place“ über die traditionelle Stellung der Frauen in der Gesellschaft geschrieben hatte. Ursprünglich für die Transformation in den Totalitarismus war damit – so können wir schließen – die sozialpsychologische Konstellation einer tiefgehenden Misogynie und die sozialstrukturelle Konstellation enthemmter neoliberaler Politik in einer hochfragmentierten Gesellschaft, die

Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft am Beispiel …

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gesellschaftliche Solidarität aufgelöst und die soziale Spaltung dramatisch vorangetrieben hatte. Beide Konstellationen zusammen führen dazu, dass die radikale Umkehr zu „traditionellen Werten“ – wie von den Führern von Gilead proklamiert – ohne nennenswerten Widerstand möglich wurde. Während einige Frauen, die vor dem Umsturz in prekären Lebenslagen lebten, selbst das Leben als „Magd“ in Gilead dem Leben vorher in Freiheit vorziehen, und vorher randständige Existenzen wie Nick noch vor dem Umbruch gezielt für den Ordnungsdienst des totalitären Staates ausgesucht und angeworben wurden, ziehen sich die liberalen Mittelschichten darauf zurück zu hoffen, dass die radikalen Ausprägungen des Umsturzes nur von kurzer Dauer sein werden. Dies lässt sich am Material belegen, etwa durch Lukes Reaktion, als zum ersten Mal deutlich wird, dass Frauen keinen eigenen Besitz, keine eigene Kreditkarte usw. haben dürfen. Während June und Moira dies skandalisieren, bemerkt Luke (Episode 3): „Wir kommen schon klar, das kann ja nicht ewig dauern“, wie er auch mit einem chauvinistischen Unterton einräumt, sich bis zur vermeintlichen Normalisierung der Verhältnisse um die Frauen zu kümmern. Gleichsam gibt es keinerlei Solidarisierung der Männer in dem Moment, als die Frauen ihre Arbeitsplätze aufgrund eines neuen Gesetzes verlieren. All dies geschieht zu einem recht frühen Zeitpunkt der Etablierung der „Neuen Ordnung“, ist doch die neue Polizei noch recht unbekannt, wie sich auch die neuen Sprachregelungen noch nicht ganz durchgesetzt haben. Als June das Gebäude, in dem sie arbeitet, nach ihrer Entlassung verlässt, wird sie mit der Grußformel „Unter seinem Auge“ konfrontiert, die ihr nicht geläufig scheint. Dies lässt den Schluss zu, dass sich der totale Staat seit geraumer Zeit für die Mehrheitsgesellschaft subkutan mit eigenen Ordnungskräften, einer neuen Sprache und einer neuen Ideologie bereits gebildet hatte, um dann in einer revolutionären Situation die Herrschaft zu übernehmen und zu etablieren. Auch wenn sich die Serie nicht groß damit aufhält, die Ursachen für den Erfolg der totalitären Revolution aufzuzeigen, können wir zusammenfassen, dass die Umweltkatastrophe, die zum dramatischen Geburtenrückgang führte, kaum als Ursache der totalitären Revolution zu sehen sein wird, vielmehr bot sie eine gelegene Rechtfertigung, um die biopolitischen Maßnahmen umzusetzen. The Handmaid´s Tale beschreibt damit aufs Ganze gesehen, ja sie beschwört geradezu, die Nähe der spätmodernen Demokratie zum Totalitarismus: es reicht schon, „den Kongress abzuschlachten und die Verfassung außer Kraft zu setzen und das Kriegsrecht auszurufen“, wie June in der dritten Episode, die bezeichnender Weise „Erwachen“ betitelt ist, und die Demokratie mit all ihren Institutionen, Freiheiten und Rechten ist am Ende. Es bedarf freilich noch etwas mehr, auch dies wird gezeigt, nämlich eines dosierten Einsatzes von Gewalt – wie wir bei der gewaltsamen Unterdrückung einer Demonstration sehen, aber das größte Problem

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M. Arenhövel

dürfte in der passiven Haltung der Verteidiger und Liebhaber der Demokratie bestehen, als die Revolutionäre die Machtfrage stellten. Der Umstand, dass uns heute die Gefährdungen der Demokratie um so vieles bewusster sind als noch vor wenigen Jahren, mag auch einen Einfluss darauf haben, dass die Fernsehserie The Handmaid´s Tale um so vieles grausamer, aber auch verstörender und berührender wirkt als Schlöndorffs blutleere, weitgehend unpolitische und tendenziell frauenfeindliche Verfilmung aus dem Jahr 1990.

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Weltlosigkeit als Symptom moderner Gesellschaften und als Bedingung des Totalitarismus

Gehen wir damit von den Ursprüngen zu den Elementen der totalen Herrschaft über: Eine der kraftvollsten analytischen Kategorien des Totalitären, die von Arendt stammen, ist ihre existenzial-philosophische Beschreibung der Weltlosigkeit. Die „Sorge um die Welt“ ist ja bei Arendt ein zentrales Motiv ihres Politikverständnisses, geht es doch in der Politik darum, die Welt gemeinsam in Freiheit zu gestalten: Im Totalitarismus ist bei Arendt, entgegen der intuitiven Ansicht, die totale Herrschaft politisiere alles und alle, das Ende der Politik erreicht und das freiheitliche In-der-Welt-sein wird vernichtet durch den Zustand der Weltlosigkeit. Eine durchaus sensible visuelle Umsetzung dieser Weltlosigkeit finden wir in zahllosen Szenen, die in Gilead spielen. Es gibt romantische Panoramen von Flusslandschaften – häufig konterkariert durch Gehenkte – die sich durch einen seltsamen Mangel an Leben, Menschen und Gesellschaft auszeichnen. Gesellschaft findet in Gilead gar nicht statt, soziale Räume sind nicht vorhanden, eine Zivilgesellschaft kann es nicht geben: Gab es vorher noch Cafés, Bars, Kinos usw., so sind die Straßen von Gilead meistens leer, oder das Straßenbild wird beherrscht von dunklen Limousinen, die drohend vorbeirasen. Selbst die angelegten Parks – wie wir anlässlich der ersten „Errettung“ sehen können – sind zu künstlich und zu leer, und gleichen eher der Wüste, die Arendt der Welt gegenüberstellte. Die öffentliche Sphäre ist ausgelöscht und die Räume vermitteln häufig den Eindruck einer klaustrophobischen Enge, wie sie sich gerade paradoxerweise besonders angesichts der weitläufigen Panoramen, die durch Drohnenaufnahmen vermittelt werden, einstellt. Zwischen den Menschen existiert nur Leere und Misstrauen. Selbst die Angehörigen der Führungselite fühlen sich – auch sie stets kontrolliert durch ein Netzwerk von Augen und informellen Informanten – selbst im eigenen Haus nicht sicher, häufig fällt nur spärliches Sonnenlicht durch die halbgeschlossenen Fenster. Im Verlauf der Handlung gelingt es nur im Widerstand gegen das Regime, bei Mayday und zwischen den Mägden, so

Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft am Beispiel …

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etwas wie Vertrauen und Solidarität aufzubauen, was sich in der ersten realisierten Widerstandstat, dem Verweigern der „Errettung“ von Janine, manifestiert. Jenseits dieser Inseln von Vertrauen, Zuneigung und Kommunikation war das Regime erfolgreich beim Zerstören des autonomen Individuums. Bei Arendt sind die Mitläufer des Regimes, also diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, die es nachhaltig legitimieren und stützen, vor allem jener „Abfall“ der bürgerlichen Gesellschaft, die aus den Rissen des sozialen Systems herausfallen, die zu keiner bestimmten Klasse mehr gehören, denen sich kein bestimmtes Gewerbe oder keine bestimmte Arbeit zuordnen lässt. Es sind Menschen, die vom wirtschaftlichen und sozialen Wandel, den Industrialisierung, Verstädterung und Kommerzialisierung schon vorher bewirkt hatten, überflüssig gemacht worden sind. Sie waren bereits vor dem Umsturz weltlos, insofern sie einen festen Bezugsrahmen, eine stabile Identität und Erwartungen, die sie mit anderen teilen, verloren hatten. Da sie keine bestimmte soziale Perspektive haben, aus der sie die Welt sehen, sind sie für die ideologische, fundamentalistische Verführung besonders offen: Sie können alles und jedes glauben, weil ihnen die eindeutige Perspektive fehlt, die daran gebunden ist, dass man einen bestimmten Platz in der Welt hat. Ihre existentielle Bedingung ist die Einsamkeit. Arendt bemerkt dazu: „Die Grunderfahrung menschlichen Zusammenseins, die in totalitärer Herrschaft politisch realisiert wird, ist die Erfahrung der Verlassenheit. (…) Verlassenheit entsteht, wenn aus gleich welchen personalen Gründen ein Mensch aus dieser Welt hinausgestoßen wird oder wenn aus gleich welchen geschichtlich-politischen Gründen diese gemeinsam bewohnte Welt auseinanderbricht und die miteinander verbundenen Menschen plötzlich auf sich selbst zurückwirft. (…) Verlassenheit, der gewöhnliche Boden des Terrors, der Wesenskern totalitärer Herrschaft (…) ist sehr eng mit Entwurzelung und Überflüssigkeit verknüpft, die seit dem Beginn der industriellen Revolution die Geißel moderner Massen gewesen sind. (…) Entwurzelt zu sein bedeutet, keinen Platz in der Welt zu haben, weder von anderen anerkannt noch verbürgt zu sein; überflüssig zu sein heißt, überhaupt nicht zur Welt zu gehören“ (Arendt 1986, S. 975 ff.). Nick kann hier als Repräsentant der Überflüssigen gelten: Noch vor der Revolution war er aus dem sozialen Gebilde herausgefallen, er tat sich schwer, in der sozialen Welt und in der Arbeitswelt Fuß zu fassen und als Abjekt der bürgerlichen Gesellschaft, voller latenter Aggressivität, wurde er zum idealen Kandidaten für eine Gesellschaft, die „Im-Kommen“ war. Doch auch in Gilead ist er weltlos – er ist ein Auge, das passiv sieht und nur langsam in die Welt zurückfindet. Arendt analysiert in ihrem Buch recht früh eine politisch-ökonomische Entwicklungstendenz, die in den Schriften von Zygmunt Bauman, mit anderer Stoßrichtung auch

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M. Arenhövel

von Richard Sennett wie auch von Judith Butler und zuletzt – jetzt mit weltumspannender Wirkung – geradezu als Signum unserer Zeit von Achille Mbembe beschrieben worden ist, dass nämlich die moderne Organisation von Arbeit und Wirtschaft – etwas modischer formuliert von Kapitalismus und Neoliberalismus – riesige Menschenmassen von „Überflüssigen“ produziert, von „Verworfenen der Moderne“, die zunehmend auf Distanz gehen zur Demokratie und anfällig werden für populistische und fundamentalistische Lösungsvorschläge und Identifikationsangebote.1 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Hillary Clintons Rede von einem „basket of deplorables“ während des Präsidentschaftswahlkampfes 2016, jenem Reservoir, aus dem ihrer Meinung nach der Gegenkandidat seine Unterstützung gewann …

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Über den Zusammenhalt totalitärer Gesellschaften

Totalitäre Systeme sind viel stärker als freie Gesellschaften auf Institutionen, festgelegte Rituale und hoch formalisierte soziale Praxen angewiesen, die Gemeinschaft, Zusammenhalt und Sinn stiften (sollen). So hat das Regime von Gilead zur Stabilisierung und Rechtfertigung der totalen Herrschaft eine Reihe von neuen „sozialen Praxen“ erfunden, die auch durch ihre Bezeichnungen hervorstechen. Da ist zunächst die „Zeremonie“, eine ritualisierte Form der Vergewaltigung, die – um sie auch vor den Ehefrauen rechtfertigen zu können, nach einem pseudoreligiösen Ritus in deren Gegenwart vollzogen wird, wobei es den Männern verboten ist, die Mägde anzusehen oder besondere Lust zu zeigen. Die Zeremonie ist – wie wir schon in der ersten Folge erfahren, ein „heiliges Ritual“, welches dadurch eingeleitet wird, dass sich die Mägde vorher baden. Gemäß des Ritus ist der Raum, an dem die Zeremonie stattfindet – normalerweise das eheliche Schlafzimmer – der Raum der Ehefrau, sie ist also formal die Herrin der Zeremonie. Der Ehemann wird erst nach dem Anklopfen eingelassen, dann wird ein Passus aus dem Alten Testament vorgelesen, die Magd positioniert sich zwischen den Eheleuten und der Akt wird vollzogen. In einer perversen Analogie zur Zeremonie wird die Geburt als Symbiose zwischen Ehefrau und Magd inszeniert, wobei die Ehefrauen die Geburtswehen simulieren und zusammen mit den Mägden pressen und schreien. Die Funktionen dieser Rituale sind klar: Sie sollen die Monstrosität der Vergewaltigung überdecken und gesellschaftskompatibel machen. Sie wirken 1 Zu denken ist hier etwa an Bauman, Zygmunt (2005): Verworfenes Leben. Hamburg; Butler,

Judith (2005): Gefährdetes Leben. Frankfurt am Main; Mbembe, Achilles (2014): Kritik der schwarzen Vernunft. Berlin; Sennett, Richard (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin.

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damit nach innen, sie sollen die Gesellschaftsstruktur der Eliten befrieden, was ihnen allerdings nur vordergründig gelingt, da wir erfahren, dass viele Angehörige der Führungskader außerzeremonielle Sexualkontakte zu den Mägden suchen, wie durch die Commander Putnam und Waterford vorgeführt. Bemerkenswert ist, dass auch Serena gegen die Regeln der „heiligen Zeremonie“ verstößt, indem sie June explizit vorschlägt, mit Nick Sex zu haben, da sie vermutet, dass Fred steril ist, wobei dieses Wort bemerkenswerterweise in Gilead verboten ist. Wir haben es hier also mit einem weitgehend ausgehöhlten Ritual zu tun, welches jedoch notwendig ist, um wenigstens den Schein von Ordnung und Rechtschaffenheit aufrechtzuerhalten. Ein anderes Ritual ist ungleich komplexer, hierbei handelt es sich um die sogenannte „Errettung“. Mit Errettungen sind ritualisierte Hinrichtungen gemeint, in denen die Mägde auf einem gesondert dafür vorgesehenen Platz zusammenkommen und gemeinsam einen Staatsfeind/eine Staatsfeindin töten. Die Funktion dieses Rituals besteht darin, die Mägde – also die Sklavinnen – in die staatliche Justiz einzubinden, sie sind damit als eingeschlossene Ausgeschlossene Teil des Rechtssystems. Auf eine besonders perfide Art und Weise werden sie so in die Funktionsmechanismen des Herrschaftssystems eingebunden, sie werden zu Handlangern und Mittäterinnen des totalitären Systems. Sozialpsychologisch wird ihnen aber auch eine ritualisierte Form der Triebabfuhr und Gewaltanwendung zugebilligt. Bei der ersten „Errettung“ können wir diesen Mechanismus gut bei June beobachten, die ihre gesamte angestaute Aggression und ihren Hass gegen den mutmaßlichen Vergewaltiger – wir können annehmen, dass es sich um einen Regimegegner oder um einen in Ungnade gefallenen Führungskader handelt – wendet und eine der Initiatoren des Exzesses ist. Dass die eingeschlossenen Ausgeschlossenen durch dieses Ritual nicht unbegrenzt manipuliert werden können, zeigt sich anlässlich der zweiten gezeigten „Errettung“, die zu einer machtvollen Demonstration des Widerstands der Mägde wird. Hier – so könnte man in der Terminologie von Arendt sagen – demonstrieren die Mägde zum ersten Mal, dass sie Macht haben, indem sie gemeinsam handeln und sich dem Befehl der Obrigkeit widersetzen. Dass es sich um eine Machtdemonstration handelt wird besonders dadurch unterstrichen, dass die Mägde sich nicht stumm dem Befehl von Tante Lydia widersetzen und lediglich die Steinigung von Janine unterlassen, sondern dass sie dies mit der „systemkonformen“ Entschuldigung an die Herrschaft kombinieren. Sie lassen die Steine fallen und kommentieren dies mit der ironisch gewendeten Entschuldigung: „Entschuldigung, Tante Lydia“. Mit dem Gebrauch dieser systemkonformen Formel wird ihr Ungehorsam zu einer politischen Tat des Widerstands, sodass wir hier zum ersten Mal einem Akt des

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Nichtgehorchens beiwohnen, in dem sich die Protestierenden und die Repräsentanten des Systems auf gleicher Augenhöhe begegnen. Den Ritualen kommt bei der Herstellung des Legitimitätsglaubens in Gilead eine nicht zu überschätzende Relevanz zu, umso mehr, da die Steuerungsmechanismen freier Gesellschaften, etwa das Recht, hier kaum eine besondere Wirkung entfalten können. Befragen wir zunächst die Menschenrechte auf ihre Geltung.

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Das Recht und die Menschenrechte

Im berühmten 9. Kapitel ihres Buches „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ formuliert Arendt unter der Überschrift „Aporien der Menschenrechte“ eine fulminante, bis heute unüberbotene Kritik an der Idee und Konzeption der Menschenrechte (Arendt 1986, S. 601 ff.). Die Aporie, also die Ausweglosigkeit der Menschenrechte, besteht laut der Autorin darin, dass es einer politischen Gemeinschaft, eines Staates bedarf, um die Menschenrechte gegen Angriffe zu verteidigen – ja überhaupt sie durchzusetzen. Sie steht damit in der englischen Tradition relevanter Kritik an den Menschenrechten, zusammen mit Edmund Burke und Jeremy Bentham. Für Arendt liegt die zentrale Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts darin, dass, wer nicht mehr als Bürgerin oder Bürger eines Staates zählt, damit nicht nur seiner Bürgerrechte in diesem Staat, sondern paradoxerweise auch seiner Menschenrechte verlustig geht (Menke 2008, S. 134). Arendt schreibt: „Der Begriff der Menschenrechte brach (…) in der Tat in dem Augenblick zusammen, wo Menschen sich wirklich nur noch auf sie und auf keine national garantierten Rechte mehr berufen konnten. Sobald alle anderen gesellschaftlichen und politischen Qualitäten verloren waren, entsprang dem bloßen Menschensein keinerlei Recht mehr. Vor der abstrakten Nacktheit des Menschseins hat die Welt keinerlei Ehrfurcht empfunden: die Menschenwürde war offenbar durch das bloße Auch-ein-Mensch-sein nicht zu realisieren“ (Arendt 1986, S. 619 f.). Für die Liebhaber und Verteidiger der Menschenrechte sind dies keine guten Nachrichten, aber Arendts Kritik wird auf das Deutlichste beglaubigt durch einen Nebenstrang der Handlung in Episode 6, als es um den Besuch einer mexikanischen Handelsdelegation in Gilead geht. Die Botschafterin möchte sich ein „umfassendes“ Bild von der Situation dort machen und sie befragt June im Beisein von Fred und Serena nach ihrem Befinden, ob sie ihre Situation selbstgewählt habe und ob sie glücklich sei. Die Botschafterin gibt sich auch allzu schnell mit ausweichenden Antworten Junes zufrieden, obwohl der Druck, unter dem diese bei der Befragung steht, allzu deutlich wird. Tags darauf ergibt sich zufällig

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die Gelegenheit zu einem Gespräch unter 6 Augen – ein Mitglied der mexikanischen Delegation ist noch zugegen – und June schildert in deutlichen Worten ihre Situation. Daraufhin erwidert die Botschafterin überraschend, sie könne June nicht helfen, in Mexiko gebe es praktisch keine Geburten, ihr Land liege im Sterben. June antwortet darauf knapp, ihr Land sei bereits tot. Genau dies trifft den Kern der Arendtschen Menschenrechtskritik: es gibt keine präpolitischen oder präjuristische Rechte, und in dem Moment, wo Menschen auf nichts anderes mehr als ihr nacktes Menschsein zurückgeworfen sind, fehlt ihnen genau jene Instanz, die ihre Rechte durchsetzen könnte: eine politische Gemeinschaft oder ein Staat. Indem June aus dem schützenden Rechtsbereich von Gilead ausgeschlossen ist – der allerdings auch für die Eingeschlossenen stets prekär und widerrufbar ist – und nur als rechtlose Sklavin passiv als Ausgeschlossene ins Rechtssystem eingeschlossen ist, macht die Rede von den Menschenrechten keinen Sinn mehr und konfrontiert mit der akuten Überlebenskrise ihrer eigenen Gesellschaft erscheinen die Menschenrechte der mexikanischen Botschafterin allenfalls als sehr abstrakt, sie sollen aber keinesfalls die Handelsbeziehungen mit Gilead – es geht hier um den Handel mit Mägden – gefährden. Dass die Botschafterin angesichts dieser Konstellation, die ihr genau bekannt ist, mit Schokolade aus ihrer Heimat als Geschenk zu June geht, ist ein – mit Judith Butlers Worten – besonders zynisches Bespiel ethischer Gewalt. Jenseits der Menschenrechte stellt sich dann die Frage, inwieweit Rechte in Gilead überhaupt Geltung haben. Selbst wenn wir nicht von einem Rechtsstaat sprechen können, so sind selbst autoritäre oder totalitäre Herrschaftssysteme teilweise auf Recht gegründet. Es sind mitunter die kleinen Szenen, die deutlich machen, wie die Rechtsordnung in Gilead funktioniert. Als Fred Waterford June zum ersten Mal abends in sein Arbeitszimmer einbestellt, um mit ihr Scrabble zu spielen, gibt er zwar zu, dass dies „gegen die Regeln“ sei, dass aber die Regeln in diesem Raum und diesem Setting, man kann auch sagen von ihm, hier suspendiert werden: „In here, we might be able to bend the rules“ – um dann nach einer kurzen Pause hinzuzufügen, „just a bit“. Später – in der dritten Episode, werden wir Zeuge dafür, dass die Regeln jedoch nicht nur nach Belieben ausgelegt werden können, vielmehr scheint es eine klare „Herrschaft des Gesetzes“ nicht zu geben, etwa wenn der Commander oder seine Frau nicht in der Lage sind zu verhindern, dass ihre Magd von der Geheimpolizei befragt und von Aunt Lydia geschlagen wird, wie auch der Kommandeur in der letzten Folge nicht die Kompetenzen hat, den Abtransport von June – durch wen eigentlich? – zu verhindern. Dass Ärzte mit den Mägden Sex haben, scheint auch eine gängige Praxis zu sein, die zwar

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die Strenge des Rituals konterkariert, doch nicht wirklich sanktioniert zu werden scheint. Genau dies beschrieb Arendt ausführlich für den totalen Staat, dass nämlich an die Stelle der „Herrschaft des Gesetzes“ eine flexible und elastische Justiz tritt, die Recht vor Ort macht, ad hoc ändert und der jeweiligen Situation im Sinne eines zumeist fiktiven, gelegentlich wirklichen, in aller Regel zweideutigen Führerwillens anpasst. Eine solche Rechtsordnung ließe sich trefflich als „opportunistisches Nebeneinander von alter Rechtsstaatlichkeit und rechtlosem Polizeistaat“ beschreiben.2 Man könnte dies auch im Sinne des Schmittschen „konkreten Ordnungsdenkens“ interpretieren. Hierarchien und Institutionen und Zuständigkeiten scheinen sich zu überlappen, Rechtssicherheit ist nirgends und für niemanden gegeben. Zwar sind die Führungskader freier in der Auslegung der Regeln, sie besuchen Bordelle und genehmigen sich allerlei Ausnahmen, doch droht ihnen u. U. sogar die Denunziation der eigenen Frau, wie im Falle Putnams.

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Das Lager

Wie jedes totalitäre Regime, so ist Gilead auf latentem Terror und manifester Gewalt gegründet. Der Einsatz von Schusswaffen gegen die eigene Bevölkerung, das Standrecht, die Gehenkten, die allgegenwärtige Sicherheitspolizei, die dunklen Limousinen, plötzliche Verhaftungen, all dies sind Zeichen für eine Terrorherrschaft, die obwohl sie wohl auch im Innern über Legitimation verfügt, letztlich auf Gewalt und Einschüchterung basiert. Die letzte Stufe der Gewaltförmigkeit, neben der häufig geäußerten Warnung oder Drohung: „Du endest an der Mauer“, ist jedoch das Lager, oder – wie es immer wieder heißt: die Kolonien. Hannah Arendt hatte dazu ein Jahr vor der Veröffentlichung ihres Totalitarismusbuches in einem Aufsatz notiert: „Das oberste Ziel aller totalitären Regierungen ist nicht nur das langfristige Streben nach globaler Lenkung, dem freiwillig nachgegeben wird, sondern der nie erlaubte und sofort umgesetzte Versuch der totalen Herrschaft über den Menschen. Die Konzentrationslager sind die Laboratorien für das Experiment der totalen Herrschaft, denn dieses Ziel kann, da die menschliche Natur das ist, was sie ist, nur unter den extremen Bedingungen einer menschengemachten Hölle erreicht werden“ (Arendt 1950, S. 240). Auch wenn die Mägde ihre Lebensbedingungen als Hölle empfinden mögen, so lässt sich die Form der Unterwerfung noch steigern. Zwar stehen die Mägde, in der antiken griechischen Gegenüberstellung von zoe und bios für das reine, natürliche Leben, wodurch sie rein auf die biologische Reproduktion beschränkt werden, so gelten sie doch 2 So

charakterisierte Martin Broszat den Nationalsozialismus, s. Broszat 1960, S. 13.

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als sehr wertvoll, denn sie können als Einzige die Reproduktion der Gesellschaft sicherstellen. Allerdings geht dieser Wert nicht mit Wertschätzung oder Anerkennung einher: vielmehr werden sie von den Frauen höherer Stände als „Huren“ bezeichnet, sie sind rechtlos, verdinglicht, entsubjektiviert und tragen den Namen ihrer Besitzer und Vergewaltiger, und nach erfolgreicher Verrichtung ihrer Kernfunktion – der Niederkunft – werden sie weitervermittelt und wenn sie – aus welchem Grund auch immer – nicht schwanger werden, landen sie in den Kolonien. Dieses Schicksal erwartet sie wohl auch, wenn sie dem gebärfähigen Alter entwachsen sind. Das Lager ist damit die letzte Konsequenz – und der sichere Endpunkt der Biopolitik in Gilead. Die Kolonien sind Vernichtungslager par excellence, da die Insassen dort mit radioaktiven Materialien hantieren. Dabei haben sie kaum einen funktionalistischen Wert für das Regime, vielmehr stehen sie dafür zu zeigen, mit den Worten Hannah Arendts, dass „schlechthin alles möglich ist“, dass Menschen eine Welt erschaffen und bewohnen können, in der die Unterscheidungen zwischen Leben und Tod, Wahrheit und Falschheit, Scheinbarem und Wirklichkeit, Körper und Seele und sogar zwischen Opfer und Henker andauernd außer Kraft gesetzt werden. In der Regelung und Sicherstellung der Reproduktion findet das Regime von Gilead eine Hauptquelle der fundamentalistischen Legitimation der „Neuen Ordnung“: mit den Mitten totaler Herrschaft wird Sein ermöglicht, aber dieses Sein ist überhaupt nur denkbar als totalitäres: In Episode 5 formuliert Fred Waterford das Programm der neuen Ordnung von Gilead: „Wir wollen die Welt nur besser machen. Besser bedeutet nicht immer besser für alle…. Besser bedeutet immer schlechter für manche.“ Doch Gilead ist selbst nach einer utilitaristischen Ethik, welche das größte Glück für die größte Zahl verheißt, kein besserer Ort als die Welt vor der Revolution: Nur diejenigen, die sich eine Erinnerung an die Zeit vor der Revolution bewahrt haben und so noch einen Begriff haben von Liebe, Solidarität und Menschlichkeit, haben eine Vorstellung davon, was Glück überhaupt bedeuten mag. Die Ehefrauen der Führungskader, die wir erleben, sind passiv unglücklich, oder zutiefst zerstört wie Serena, die selbst die Gesetze mitformulierte, die ihr jetzt jegliches aktives Leben in der Gesellschaft verwehren. Die Kommandeure selbst leisten sich schale Exzesse in Bordellen, immer der Gefahr gewahr, von der eigenen Ehefrau denunziert zu werden. Insofern ist gar nicht mehr so klar, ob das Lager mit den Kolonien beginnt, oder ob nicht Gilead ein einziges Lager ist, das Zombies – Untote – hervorbringt. Wir haben es folglich bei Gilead mit einer zugespitzten biopolitischen Dystopie zu tun. Das biopolitische Dispositiv drückt sich deutlich auch in der Kleiderordnung für Frauen aus, welche die Frauen höherer Stände, die Mägde, die Tanten, Marthas streng nach Farben voneinander abgrenzt. Dies erinnert an die klassische

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Utopie des Thomas Morus, die dem Genre den Namen gab: Die Insel gleichen Namens besteht aus 54 Städten, die alle gleich aussehen, die Haushalte sind gleichförmig geordnet. Die Bürgerinnen und Bürger sind uniformiert, allerdings unterscheidet sich die Kleidung der Männer von der der Frauen, ebenso wie die der Ledigen und der Verheirateten. Rainer Forst hat zur Utopie des Tomas Morus bemerkt, „wenn es um Vorstellungen einer Gesellschaft ohne Makel geht, liegen Utopie und Dystopie nahe beieinander“ (Forst 2011, S. 212). Der Serie The Handmaid´s Tale gelingt es, so ließe sich dieser Punkt zusammenfassen, nicht nur die Schwelle zwischen Demokratie und Totalitarismus zu beleuchten, sondern auch unsere vermeintlich sichere Unterscheidung von Utopie und Dystopie zu unterlaufen.

Literatur Arendt, Hannah (1950): Social Science Techniques and the Study of Concentration Camps, zitiert in Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main 2002: 127f.). Arendt, Hannah (1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München/ Zürich. Broszat, Martin (1960): Der Nationalsozialismus. Weltanschauung, Programmatik und Wirklichkeit. Hannover. Forst, Rainer (2011): Utopie und Ironie – Zur Normativität der politischen Philosophie des „Nirgendwo“, in: ders.: Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse. Perspektiven einer kritischen Theorie der Politik. Berlin. Menke, Christoph (2008): Die „Aporien der Menschenrechte“ und das „einzige Menschenrecht“. Zur Einheit von Hannah Arendts Argumentationen, in: Geulen, Eva/Kauffmann/ Mein, Georg (Hrsg.): Hannah Arendt und Giorgio Agamben – Parallelen, Perspektiven, Kontroversen. München: 131–147.

The Handmaid‘s Whiteness: ‚Race‘ in Roman und Serie Katja Kanzler

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Einleitung

Von Beginn ihrer Ausstrahlung an hat die TV-Adaption von Margaret Atwoods Roman The Handmaid’s Tale ein enormes Echo in der US-amerikanischen Öffentlichkeit gefunden. Genauer gesagt waren und sind es diejenigen Teile der Öffentlichkeit, die sich als progressiv und liberal identifizieren, die – unter dem Schock der Wahl Donald Trumps ins Präsidentenamt stehend – die Serie als timely intervention in einem Klima des Rechtsrucks feiern. (Netz-)Feuilletonistische Besprechungen der Serie preisen sie regelmäßig als prägnanten, aktuell hochwichtigen Kommentar auf und für ein Amerika unter Trump; ebenso regelmäßig rekurrieren Aktivist*innen auf Versatzstücke und Ikonographie der Serie, um gegen die Einschränkung reproduktiver Rechte zu protestieren.1 Wie eine Reihe

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Die Beispiele hierfür sind zu zahlreich, um sie in ihrer Fülle abbilden zu können. Exemplarisch sei auf Katherine Brooks’ Beitrag auf der Plattform The Verge verwiesen, in dem sie unter dem vielsagenden Titel „How ’The Handmaid’s Tale’ Villains Were Inspired by Trump“ u. a. schreibt: „Trump’s election undeniably carried the show’s import to new heights. Since it debuted, audiences have not held back in drawing terrifying parallels between the show’s portrayal of Gilead – a theocratic regime whose continued existence depends upon its ability to force women to surrender control over their own bodies – and the divided state of America today.“ (Brooks 2017).

K. Kanzler (B) Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021, Korrigierte Publikation 2022 A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3_3

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anderer Fernsehformate wurde The Handmaid’s Tale zu einem wichtigen Referenzpunkt in Medienpraktiken, über die sich eine Trump-kritische Öffentlichkeit in entscheidendem Maße formiert und definiert.2 In diesen Medienpraktiken spielen kritisch-skeptische Rezeptionen der Serie erwartungsgemäß eine untergeordnete Rolle. Auf die Spur solcher kritischen Lektüren möchte ich mich im Folgenden aber begeben – und zwar ausdrücklich nicht, um den politisch mobilisierenden und diskursanregenden Effekt der Serie zu schmälern. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass eine Unterhaltung über die Grenzen und blinden Flecke im progressiven Projekt von The Handmaid’s Tale ihr Potenzial als Plattform für politischen Diskurs erst richtig ernst nimmt. Konkret geht es mir um die racial politics der Serie – also darum, wie sie mit ‚race‘3 und dem diskursiven Erbe des Rassismus umgeht, und wie diese racial politics mit ihrem feministischen Projekt zusammengehen. Nach dem anfänglichen Hype um The Handmaid’s Tale haben solche kritische Debatten um die racial politics der Serie tatsächlich auch Einzug ins Netzfeuilleton gefunden. So argumentiert bspw. Angelica Jade Bastién zum Ende der ersten Staffel unter dem Titel „In Its First Season, The Handmaid’s Tale’s Greatest Failing Is How It Handles Race“, dass die dystopische Vision Amerikas, die die Serie entwirft, nachdrücklich die historische Erfahrung von women of color in den USA aufruft, sich dabei aber weigert, über ‚race‘ und Rassismus zu sprechen. Bastién beschreibt dies als eine „silence on race“ in der Serie (Bastién 2017). Auf materialkritische Diskurse wie diese möchte ich mich im Folgenden einlassen, sie aus Sicht einer Amerikanistin beleuchten und historisch kontextualisieren. Dabei möchte ich zeigen, dass das „Schweigen“ der Serie zum Thema ‚race‘, das Bastién beobachtet, sehr beredt und ‚laut‘ ist – dass es nicht eine Abwesenheit von Diskurs, sondern eine eigene Diskurspraxis darstellt, die tiefe historische Wurzeln hat. 2 Andere

prominente Fernsehformate sind in diesem Kontext bspw. humoristische Formate wie Saturday Night Live oder die Late Show with Stephen Colbert, die ebenfalls im Zentrum von Medienpraktiken stehen, über die sich in den USA eine Gegenöffentlichkeit gegen die Trump-Regierung definiert. Über das Phänomen, dass sich Öffentlichkeiten zunehmend über Unterhaltungsformate statt über traditionelle Nachrichtenformate formieren, hat es in den letzten Jahren zahlreiche Forschungsarbeiten gegeben. Vgl. z. B. Jones (2007). 3 Ich benutze das englische Wort ‚race‘ und nicht das deutsche ‚Rasse‘, weil es mir wichtig ist zu markieren, dass die beiden Begriffe nicht das gleiche bedeuten: Die historischen Zusammenhänge, in denen sie geprägt wurden, sind zu unterschiedlich (in Deutschland ist das insbesondere der Nationalsozialismus, in Nordamerika der Siedlerkolonialismus und ganz besonders die Sklaverei). The Handmaid‘s Tale verortet sich im nordamerikanischen Kontext und um zu markieren, dass ich sie im Kontext der dort geprägten ‚Rassendiskurse‘ lese, benutze ich das englische Wort. Wenn ich von ‚schwarz‘ und ‚weiß‘ rede, dann meine ich bestimmte Konstrukte innerhalb dieses ‚Rassendiskurses‘.

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In einem ersten Schritt will ich die historischen Kontexte, die mir hier wichtig erscheinen, kurz umreißen. Danach will ich mir anschauen, wie genau The Handmaid‘s Tale mit Verweisen auf ‚race‘ umgeht. Hier wird es mir wichtig sein, auch die Romanvorlage zu betrachten, denn ‚race‘ ist ein Punkt, in dem die erste Staffel der Serie ihre Freiheiten als Adaption besonders markant ausnutzt und einen anderen Weg geht als der Roman. Zum Abschluss will ich eine Lesart der racial narrative der Serie umreißen.

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Historische Kontexte: Von Race-Gender Konkurrenzen und metaphorischer Sklaverei

In einem Interview, das Margaret Atwood dem Magazin Newsweek zum Beginn der zweiten Staffel von The Handmaid‘s Tale gegeben hat, kommentiert die Romanautorin das Schweigen der Serie zum Thema Rassismus als strategische Entscheidung der Serienmacher*innen, eine Form der Diskriminierung und Ausbeutung in den Mittelpunkt zu stellen: „for the TV series, it was decided that being a fertile woman trumped race“ (Menta 2018). In dieser Aussage schwingen eine Reihe impliziter Annahmen mit: dass die Ausbeutung von Frauen und von people of color zwei Diskriminierungsregime sind, die nichts miteinander zu tun haben und sich deshalb sauber trennen lassen; dass es möglich ist, über Gender zu erzählen und dabei ‚race‘ auszuklammern; dass es eine Serie wie The Handmaid‘s Tale überfordern würde, von zwei Diskriminierungsregimen – und ihren Verquickungen – zu erzählen und man deshalb eins auswählen musste: die Diskriminierung von Frauen. Einige dieser Annahmen rufen die Kernanliegen der Intersektionalitätstheorie auf, nämlich deutlich zu machen, dass Diskriminierungsregime nicht isoliert voneinander operieren, sondern in jeweils historisch konkreten Konstellationen miteinander verquickt sind (vgl. dazu auch den Beitrag von Frotscher und Wegner in diesem Band). Im nordamerikanischen Kontext manifestieren sich diese Verquickungen u. a. auch auf der Ebene des Aktivismus gegen Diskriminierung, in dem komplizierte Verschränkungen feministischer und anti-rassistischer Diskurse eine lange Geschichte haben. Die Amerikanistin Gabriele Dietze, die zu den führenden deutschsprachigen Intersektionalitätsforscher*innen gehört, verfolgt diese Verschränkungen bis in die Anfänge der US-amerikanischen Frauenund Anti-Sklavereibewegungen im 19. Jahrhundert. Die Beziehungen, die sie beschreibt, beginnen als Allianz und produktive Analogiebildung. Die erste USamerikanische Frauenrechtsbewegung entwickelt sich in entscheidendem Maße aus der Anti-Sklavereibewegung, die weißen Mittelschichtsfrauen einerseits als

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Lehrstube im politischen Aktivismus dient, ihnen andererseits aber auch Bilder und Narrative zur Verfügung stellt, mit denen sich ihre eigene Entrechtung denken und artikulieren lässt: „Für die frühe amerikanische Frauenbewegung ist die Sklaverei der Hintergrund, auf und gegen den sich weiße Frauen Schritt für Schritt ihrer eigenen Situation bewusst werden“ (Dietze 2014, S. 47). Diese Analogiesetzung zwischen der Entrechtung der Frau und der des Sklaven ist überaus produktiv für die entstehende Frauenrechtsbewegung und speist eine Reihe von Solidarisierungen und Allianzen – eines der prominentesten Beispiele hierfür ist sicher der afro-amerikanische Abolitionist Frederick Douglass, der als wortstarker und einflussreicher Kämpfer für Frauenrechte eintrat.4 Darüber hinaus bleiben Sklaverei und Abolitionismus eine wichtige symbolische Ressource für die weiße Frauenbewegung, und das weit über die Abschaffung der Sklaverei hinaus. Immer wieder figurieren Frauenrechtlerinnen ihre Unterdrückungserfahrung als Sklaverei und bedienen sich des Narrativ- und Bildrepertoires der Anti-Sklavereibewegung.5 Jedoch kippen die Beziehungen zwischen Frauen- und antirassistischer Bürgerrechtsbewegung bald in ein zunehmend antagonistisches Verhältnis. Das hat u. a. damit zu tun, dass die Institutionen der abolitionistischen Bewegung nicht frei von sexistischer Diskriminierung waren und die Frage, ob und in welcher Form Frauen eine Rolle in der Bewegung spielen können, solche Kontroversen auslöste, dass sie den Abolitionismus spaltete (vgl. Dietze 2014, S. 46–47). Die viel tiefer sitzende Ursache für die antagonistische Entwicklung des Verhältnisses zwischen Frauen- und antirassistischer Bürgerrechtsbewegung, die Dietze betont, liegt jedoch in der rhetorischen Logik, der sich die Analogbildung zwischen dem Sklaven und der entrechteten Frau bedient. In der rhetorischen Identifikation weißer Frauenrechtlerinnen mit dem Sklaven schwingt nämlich immer auch eine Distanzierung mit: „[es] soll hier festgehalten werden, dass die Abolitionistin zwar von Sklaven als ‚Geschwistern in Ketten‘ (Brethren in Bonds) sprach, aber dass das wirkliche Pathos der ersten Frauenbewegung sich aus dem Augenschein der ‚eigentlichen‘ Gleichheit mit dem weißen Mann speiste, der ungerechterweise gleichfarbige Frauen zur selben Rechtlosigkeit und Leibeigenschaft verdammte 4 Wie Dietze beschreibt, hat Douglass u. a. der auf der ersten US-amerikanischen Frauenrechts-

konferenz 1848 ein leidenschaftliches Plädoyer für die im Plenum umstrittene Forderung nach einem Frauenwahlrecht gehalten und so viel dazu beigetragen, dass diese Forderung Eingang in das Abschlussdokument der Konferenz gefunden hat (Dietze 2014, S. 46–47). 5 Dietze führt umfänglich aus, wie der Slavereivergleich bspw. in Forderungen nach einer Reform des Eherechts, die in der frühen Frauenrechtsbewegung eine wichtige Rolle spielten, benutzt wurde. Aktivistinnen wie die Elizabeth Cady Stanton, Lucy Stone oder die GrimkéSchwestern figurierten die Ehe regelmäßig als Sklaverei, um die politische Dimension ihrer Forderungen deutlich zu machen (2014, S. 74–78).

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wie die durch sichtbare schwarze Markierung zur Unfreiheit verdammten Sklaven“ (Dietze 2014, S. 47). Wenn die Frauenrechtlerin also die Ähnlichkeit von (weißer) Frau und Sklave – als gleichermaßen entrechtete Subjekte – ins Wort hebt, so verweist sie dabei implizit typischerweise auch auf die im rassistischen Diskurs konstruierte Unterschiedlichkeit dieser beiden Subjektpositionen. Die rhetorische Identifikation der weißen Frau mit dem Sklaven bezieht ihre besondere Skandalwirkung aus dem Weißsein der so formulierten, metaphorischen Sklavenfigur. Die Analogiebildung investiert damit in die Art von hierarchischen Vorstellungen von ‚Weiß‘ und ‚Schwarz‘, um die Rassismusdiskurse kreisen. In Dietzes Worten: „Agitation für Frauenrechte heißt dann, vorenthaltene Privilegien der weißen Hautfarbe einzufordern“ (2014, S. 47). Diese rhetorischen Dynamiken haben eine Reihe von Konsequenzen. Erstens befeuern sie durch ihre Komplizenschaft mit dem Diskurs der white supremacy ein konkurrenzhaftes Verhältnis zwischen Frauenrechts- und anti-rassistischer Bürgerrechtsbewegung – ein Verhältnis, in dem die metaphorische ‚weiße Sklaverei‘ der patriarchalen Ordnung als größere Ungerechtigkeit markiert wird als die historisch reale Versklavung von Afro-Amerikaner*innen. Zweitens schließen diese Dynamiken afro-amerikanische Frauen von der Kategorie ‚Frau‘, für die die Frauenrechtlerinnen sprechen, aus. Wie ich im folgenden Abschnitt illustrieren werde, spielt das spezifische Leiden der Sklavin im abolitionistischen Aktivismus zwar eine prominente Rolle, jedoch wird es sowohl dort als auch in den Aneignungen durch die Frauenbewegung als Zeichen für die Ungerechtigkeit und Grausamkeit des Sklavereiregimes eingesetzt und nicht, um über die Geschlechterspezifiken in diesem Regime zu sprechen. In der frühen Frauenrechtsbewegung, die so gern mit dem Vergleich zur Sklaverei arbeitet, bleibt die Subjektposition der durch Sklaverei ausgebeuteten schwarzen Frau weitgehend unsichtbar.6 Das hängt, drittens, damit zusammen, dass die Metaphorisierung von Sklaverei, mit der die Analogiebildung arbeitet, es schwieriger macht, die historische Tatsächlichkeit der Versklavung von Afro-Amerikaner*innen in den Blick zu nehmen. Das ist ein Punkt, den u. a. Karen Sánchez-Eppler herausstreicht. Sie betont, dass der metaphorische Vergleich von Rassismus und Sexismus Ähnlichkeiten suggeriert, wo es eigentlich wichtig wäre, auf die historischen Spezifiken der beiden Ungleichheitsregime zu blicken: „Though the metaphoric linking of women

6 Die afro-amerikanische Frauenrechtsaktivistin und ehemalige Sklavin Sojourner Truth macht

diese Unsichtbarkeit zum Thema in ihrer vielzitierten Rede „Ain‘t I a Woman“, die sie auf einer Frauenrechtskonferenz im Jahre 1851 hielt. Patricia Hill Collins würdigt Truth als Wegbereiterin eines intersektional denkenden schwarzen Feminismus (Collins 2000, S. 14–15).

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and slaves uses their shared position as bodies to be bought, owned, and designated as a grounds of resistance, it nevertheless obliterates the particularity of black and female experience, making their distinct exploitations appear as one“ (1997, S. 20). Die Sklavereimetapher verschleiert mehr, als dass sie erhellt, so SánchezEppler. Und in einer Gesellschaft, in der auch Diskursmacht ungleich verteilt ist, sind es tendenziell schwarze Rassismuserfahrungen, die verschleiert werden. Je weiter sich der Sklavereiverweis von seinen ursprünglichen historischen Zusammenhängen wegbewegt – je mobiler die Metapher wird – um so schwieriger wird es, über die „particularity of black experience“ zu sprechen. Die Sklavereimetapher tendiert also dazu, rassistische Unterdrückungserfahrungen aus dem Diskurs zu verdrängen. Sie funktioniert als Aneignung (appropriation), in der sich weiße Unterdrückungserfahrung auf Kosten schwarzer Subjekte artikuliert.

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The Handmaid‘s Tale: Der Roman

Was sehen wir nun, wenn wir vor diesem Hintergrund auf die Erzählung von The Handmaid‘s Tale – in ihren Versionen als Roman und Fernsehserie – blicken? Im Roman fällt zunächst auf, dass seine Erzählung Gilead als ausschließlich weiße amerikanische Gesellschaft imaginiert, und das auch ausdrücklich so markiert. Dabei gehen die Markierungen über immer wieder eingestreute Verweise auf die „skin [that] is pale“ (z. B. Atwood 1998, S. 21) oder das „pink face“ (z. B. Atwood 1998, S. 83) des einen oder anderen Charakters hinaus. Der Roman lässt seine IchErzählerin recht frühzeitig im Text eine Nachrichtensendung schauen, in der über eine großangelegte „Resettlement of the Children of Ham“ in Gilead berichtet wird – über eine euphemistisch als ‚Umsiedlung‘ bezeichnete Vertreibung von „Hams Kindern“ (Atwood 1998 S. 83). „Children of Ham“ ist eine Wendung, mit der Sklavereibefürworter Afro-Amerikaner*innen gern bezeichnet haben, um ihre Versklavung bibelverweisend zu legitimieren. Der Roman konstruiert Gilead also als Gesellschaft, in der die Ideologie der weißen Vorherrschaft (white supremacy), Rassentrennung und ethnische ‚Säuberungen‘ Teil der dystopischen Signatur sind. Das Schlusskapitel, das dem Roman eine Rahmenhandlung auf einem noch weiter in der Zukunft liegenden Historikerkongress gibt, bezeichnet Gilead dann auch auch explizit als „Caucasian“, also weiße Gesellschaft (Atwood 1998, S. 304). Diese deutlich markierte und narrativ eingebundene Konstruktion einer rein weißen amerikanischen Gesellschaft als Schreckensvision geht nun einher mit reichlichem Gebrauch der Sklavereimetapher: Die Unterdrückung von Frauen im Gilead des Romans wird immer wieder über Analogien zur Geschichte der Sklaverei figuriert. Einige diese Figurationen sind ausgesprochen plakativ und

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scheinen auf allegorische Lesbarkeit ausgerichtet zu sein. Prominentestes Beispiel hierfür ist sicher die „Underground Femaleroad“, die Frauen bei der Flucht aus Gilead hilft, von der Moira in Kapital 38 berichtet. In den „Historical Notes“ am Ende des Romans wird die „Underground Femaleroad“ noch einmal aufgerufen und es wird auch erwähnt, dass in ihr insbesondere Quaker-Familien aktiv sind. All das sind offensichtliche Verweise auf die ‚Underground Railroad‘ genannten Infrastruktur für Geflüchtete aus der Sklaverei, in der Quaker eine besonders prominente Rolle spielten, und die – wie die „Femaleroad“ des Romans – insbesondere nach Kanada als Ort der Freiheit führte. Viel weitreichender als dieser wortspielerische Verweis sind die Echos der Sklavereigeschichte in den Narrativen des Romans. Die systematischen Vergewaltigungen, von denen der Roman erzählt; die Ausrichtung dieser Vergewaltigungen auf Besitzstandsmehrung für die Herrscherklasse, die die so gezeugten Kinder für sich reklamieren; die Gewalt, mit der im Roman Besitzansprüche an weiblichen Körpern artikuliert und durchgesetzt werden – all das gehörte zu den historischen Grundpfeilern der Versklavung von Afro-Amerikaner*innen. Die systematische sexualisierte Gewalt gegen Sklavinnen war auch einer der zentralen Topoi, mit denen die abolitionistische Bewegung gegen Sklaverei zu mobilisieren suchte. Bilder und Narrative sexualisierter Gewalt gegen versklavte Afro-Amerikaner*innen sind über den abolitionistischen Diskurs ins amerikanische kulturelle Gedächtnis der Sklaverei eingespeist worden. Die Erzählungen des Romans rufen die dort verfügbaren Topoi unmittelbar auf. Ich möchte das gern illustrieren am Beispiel der wohl einflussreichsten US-amerikanischen slave narrative. Bei dieser Textsorte handelt es sich um autobiographische Erzählungen geflüchteter Sklav*innen, die ein wichtiges Instrument der Anti-Sklavereibewegung war und im 20. Jahrhundert als Gründungsgattung der afro-amerikanischen Literatur gewürdigt und kanonisiert wurde. Die slave narrative, die ich beispielhaft anführen möchte, stammt von dem bereits erwähnten Aktivisten Frederick Douglass und nimmt heute einen zentralen Platz im Kanon der US-amerikanischen Literatur ein – ihre Narrative und Bilder sind im kulturellen Wissen (nicht nur) der USA weit verbreitet. Wie andere Augenzeugen auch berichtet Douglass in seiner Erzählung von versklavten Frauen, die als „breeders“, also Gebährmaschinen, gehalten wurden. In der Passage, aus der ich zitieren will, erzählt er von seiner Zeit bei einem Mr. Covey – einem als ‚slave breaker‘ bekannten Mann, zu dem ihn sein ‚Besitzer‘ für eine Zeitlang schickt, um den aufmüpfigen Douglass zu disziplinieren: Mr. Covey was a poor man; he was just commencing in life; he was only able to buy one slave; and, shocking as is the fact, he bought her, as he said, for a breeder. This

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K. Kanzler woman was named Caroline. Mr. Covey bought her from Mr. Thomas Lowe, about six miles from St. Michael’s. She was a large, able-bodied woman, about twenty years old. She had already given birth to one child, which proved her to be just what he wanted. After buying her, he hired a married man of Mr. Samuel Harrison, to live with him one year; and him he used to fasten up with her every night! The result was, that, at the end of the year, the miserable woman gave birth to twins. At this result Mr. Covey seemed to be highly pleased, both with the man and the wretched woman. Such was his joy, and that of his wife, that nothing they could do for Caroline during her confinement was too good, or too hard, to be done. The children were regarded as being quite an addition to his wealth. (Douglass 1845, S. 62–63).

Douglass‘ Beschreibung präpariert eindrücklich die Systematik heraus, mit der die Vergewaltigung von Frauen wie Caroline arrangiert wird. Dabei betont er die kühle, wirtschaftliche Logik, die diese Praxis antreibt, die auf die Besitzstandsmehrung des Sklavenhalters ausgerichtet ist. Wie in allen schockierenden Episoden der Sklaverei, von denen Douglass erzählt, unterstreicht er auch hier, dass solche Praktiken keine Ausnahme, sondern vielmehr typisch für das Regime der Sklaverei sind. Während Carolines Vergewaltigungen in dieser Passage implizit bleiben, erzählt Douglass an anderen Stellen direkt und detailliert von sexualisierter Gewalt gegen versklavte Frauen. Auch hier steckt in seinen – wiederum schockierenden – Beschreibungen eine scharfsinnige Analyse solcher Praktiken. Im Folgenden möchte ich ein etwas längeres Zitat aus dem Anfangskapitel von Douglass slave narrative anführen, in der er von einer Szene berichtet, die er als Kind beobachtet hat und die er als seine Initiation in das System der Sklaverei bezeichnet: Aunt Hester went out one night,--where or for what I do not know,--and happened to be absent when my master desired her presence. He had ordered her not to go out evenings, and warned her that she must never let him catch her in company with a young man, who was paying attention to her, belonging to Colonel Lloyd. The young man’s name was Ned Roberts, generally called Lloyd’s Ned. Why master was so careful of her, may be safely left to conjecture. She was a woman of noble form, and of graceful proportions, having very few equals, and fewer superiors, in personal appearance, among the colored or white women of our neighborhood. Aunt Hester had not only disobeyed his orders in going out, but had been found in company with Lloyd’s Ned; which circumstance, I found, from what he said while whipping her, was the chief offence. Had he been a man of pure morals himself, he might have been thought interested in protecting the innocence of my aunt; but those who knew him will not suspect him of any such virtue. Before he commenced whipping Aunt Hester, he took her into the kitchen, and stripped her from neck to waist, leaving her neck, shoulders, and back, entirely naked. He then told her to cross her hands,

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calling her at the same time a d--d b--h. After crossing her hands, he tied them with a strong rope, and led her to a stool under a large hook in the joist, put in for the purpose. He made her get upon the stool, and tied her hands to the hook. She now stood fair for his infernal purpose. Her arms were stretched up at their full length, so that she stood upon the ends of her toes. He then said to her, "Now, you d--d b--h, I’ll learn you how to disobey my orders!" and after rolling up his sleeves, be commenced to lay on the heavy cowskin, and soon the warm, red blood (amid heart-rending shrieks from her, and horrid oaths from him) came dripping to the floor. (Douglass 1845, S. 6–7).

Douglass macht deutlich, dass Gewaltpraktiken wie diese als Disziplinierungsmaßnahmen eingesetzt wurden, die eben nicht nur wirtschaftlich motiviert waren: Der Besitzanspruch des Sklavenhalters über Aunt Hester schließt den Anspruch auf ihre sexuelle Verfügbarkeit ein. Ihr ‚Vergehen‘, für das sie mit diesem Gewaltexzess ‚bestraft‘ wird, stellt diesen Besitzanspruch infrage, indem sie sich selbst einen Partner sucht. In ihrer Exzessivität, die auch sexualisiert ist (der Sklavenhalter entblößt Hesters Oberkörper, bevor er sie misshandelt), fungiert die Misshandlung als Ausdruck weißer Besitzansprüche über die Körper schwarzer Frauen. Die Narrative, die sich in den Passagen aus Douglass‘ slave narrative finden, über Frauen, die als Gebährmaschinen missbraucht werden; die Bilder der Gewalt gegen weibliche Körper; und die Schockstrategien, mit denen diese Narrative und Bilder gezeichnet werden, sind fester Bestandteil des amerikanischen kulturellen Gedächtnis an die Sklaverei. Und es ist genau dieses kulturelle Gedächtnis, das The Handmaid‘s Tale adaptiert, um ein dystopisches Unterdrückungszenario zu entwerfen, in dem die leidenden Frauen ausschließlich weiß sind. Die Rekurse des Romans auf die Erzähl- und Bildrepertoires der Sklaverei sind in der Rezeption nicht unbemerkt geblieben. Vor dem Erscheinen der Serie schien das aber für die meisten Kommentator*innen weitgehend unproblematisch zu sein – zumindest habe ich aus der Vor-Serien-Zeit kaum kritische Kommentare gefunden. Danita Dodsons Aufsatz von (1997) führt exemplarisch vor, wie leicht manche Kommentare die potenzielle Problematik der Romans in diesem Punkt auflösen: Despite these overt similarities that Atwood wants us to see, it must be noted that nowhere does she claim that Offred as a white indentured servant has an equivalent or identical subject position to the black slave woman, nor does she argue that all women’s oppression is the same. Even as her tale employs a metaphorical play on the enslavement trope, Offred’s discourse with slavery uncovers major differences that are strongly emphasized through out the tale. Atwood ultimately reveals that the narrator is not so naive that she believes rapproachement between privileged white women

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K. Kanzler (even if enslaved as walking wombs) and marginalized women of color is readily and wholly possible. (Dodson 1997, S. 75).

Dodson behauptet also, dass der Roman seine weißen Frauenfiguren zwar mit Sklav*innen vergleicht, sie jedoch nicht mit ihnen gleichsetzt, ohne irgend eine Textstelle als Beweis vorzubringen. Es handelt sich hierbei um eine rein performative Erklärung, dass der Roman nicht gleichsetzt, ohne dass gezeigt wird, wie die Gleichsetzung gebrochen wird. Schon bevor das kulturelle Klima unter Präsident Trump euphorisch-affirmative Lesarten von The Handmaid‘s Tale zu befeuern begann, scheinen Rezeptionen des Materials um dessen Affirmation bemüht zu sein.

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The Handmaid‘s Tale: Die Serie

Die Hulu-Serie (Miller 2017) bewegt sich in ihrer ersten Staffel7 sehr nah am Roman und führt die dort angelegte Sklavereimetapher – mit allen soeben skizzierten Implikationen – fort. Ihre Medienspezifik erlaubt es ihr dabei, das Sensations- und Schockmoment, das im Zentrum der Sklavereimetapher steht, noch weiter zu intensivieren: über die Möglichkeit, Bilder – Bewegtbilder – zu zeichnen, die unter Umständen stärkere affektiv-somatische Effekte erzielen können als das geschrieben Wort; und darüber, dass sie als Premium post-tv Serie Gewalt explizieren kann (bzw. muss). Die Art und Weise, in der die Serie die Sklavereimetaphorik des Romans für Bewegtbildmedien des 21. Jahrhunderts adaptiert, erinnert in mancherlei Hinsicht an die in jüngster Zeit erschienenen Filme über die Sklavereigeschichte, wie bspw. 12 Years a Slave (McQueen 2013) oder Django Unchained (Tarantino 2012), die ebenfalls in explizite Bilder von Gewalt investieren. Die Serie, so könnte man sagen, bedient sich in ihrer Entrechtungsmetaphorik einem in solchen Filmen aktualisierten Repertoire an Bildern und Narrativen über Sklaverei. Nun interpretiert die Serie das Material des Romans aber dahin gehend neu, dass sie Gilead nicht als white only Gesellschaft konstruiert. Dies geschieht zunächst, ganz augenfällig, auf der Ebene des casting: Einige Charaktere der Erzählwelt werden von afro-amerikanischen Schauspieler*innen verkörpert. Der prominenteste Charakter, der als schwarz dargestellt wird, ist Moira, deren Weißsein schon im Roman problematisiert ist – auch dort arbeitet sie einem Bordell 7 In diesem Aufsatz beziehe ich mich ausschließlich auf die erste Staffel. Die racial politics der

zweiten Staffel sind auch hoch interessant, da sich die Serie aber dort von der Romanvorlage wegbewegt und unabhängig imaginiert, wären sie Gegenstand eines eigenen Aufsatzes.

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namens ‚Jezebel‘, und ‚Jezebel‘ bezeichnet in der amerikanischen Kultur ein herabsetzendes Stereotyp schwarzer Frauen. Ebenfalls als schwarz dargestellt werden Junes Mann und Tochter, was einige Implikationen für die Charakterisierung der Protagonistin hat: die Familie, die Junes früheres Leben markiert, ist eine interracial family; June war bzw. ist Mutter einer Tochter of color. Die Gesellschaft Gileads wird in der Serie also dahin gehend neu interpretiert, dass sie nicht mehr white supremacist ist, sondern divers und integriert. Der Rassismus, der im Roman noch Teil der dystopischen Zeichnung der Erzählwelt war, wird in der Serie herausgenommen: Es macht in ihr keinen Unterschied, welche racial identification ein Charakter mobilisiert, ob sie weiß oder schwarz ist. Die imaginierte Gesellschaft, und die Serie selbst, sind ‚farbenblind‘. Über die physische Präsenz der Schauspieler*innen hinaus wird ‚race‘ in der Serie nicht adressiert. Wie alle populärkulturellen Materialien, eröffnet die Serie hier die Möglichkeit unterschiedlicher Lesarten. So ließe sich argumentieren, dass die Serie die im Roman angelegte Aneignung afro-amerikanischer Sklavereigeschichte abpuffert, indem sie die dystopische Gesellschaft als racially diverse imaginiert. Schließlich geht es damit dann nicht mehr nur um die Figuration weißen Leidens und women of color erhalten eine Präsenz in der Erzählwelt, die sie in der Romanversion nicht haben. Genau da schließt sich aber in meiner Lesart ein Problem an, behauptet die Serienerzählung doch, dass die Ausbeutung und Entrechtung schwarzer Frauen exakt die gleiche ist wie die weißer Frauen, deren Erfahrung – dank Perspektivierung über die Hauptfigur June – nur rein zufällig im Mittelpunkt steht. Das ist zum einen schlicht unplausibel und überstrapaziert die suspension of disbelief, die in dystopischen Erzählungen besonders kritisch ist: Wie eine Reihe von Kommentator*innen betont haben, ist es angesichts historischer Erfahrungen überhaupt nicht einleuchtend, dass eine totalitäre und repressive Extrapolation der US-amerikanischen Gesellschaft nicht rassistisch ist. So formuliert bspw. Soraya McDonald in ihrer scharfsinnigen Besprechung der Serie: In a hierarchical society propelled by religious fundamentalism, just about everything in the history of this country suggests that racial divisions would become far more deeply entrenched, not less. … Imagining a dystopia in which misogyny takes center stage makes total sense because an America in which abortion is outlawed and women are forced to give birth seems frighteningly realistic. But one in which racism is no longer an issue is about as real as the unicorn tears and fairy powder being used to make Starbucks’ latest Frapuccino. (McDonald 2017).

Zum anderen beteiligt sich die Serie mit ihrem Herausschreiben von Rassismus an einem Diskurs, den zahlreiche Kommentator*innen als post-racialism

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bezeichnet haben – einen Diskurs, der behauptet, ‚race‘ spiele in der gegenwärtigen (amerikanischen) Gesellschaft keine Rolle mehr und der in der US Geschichte virulente Rassismus sei überwunden. Die Medienwissenschaftlerin Catherine Squires hat jüngst aufgezeigt, wie weit verbreitet dieser Diskurs in der zeitgenössischen amerikanischen Populärkultur ist (Squires 2014). In einer breiten Palette an Fallstudien arbeitet sie heraus, worin die Problematik des post-racialism besteht: Post-racial Erzählungen lösen den Widerspruch zwischen behaupteter Überwindung des Rassismus und tatsächlichem Fortbestand von Diskriminierung typischerweise darüber auf, die empirisch zu beobachtenden Ungleichheiten auf die individuellen, ‚freien‘ Entscheidungen Einzelner zurückzuführen: „Post-racial discourses obfuscate institutional racism and blame continuing racial inequalities on individuals who make poor choices for themselves or their families“ (Squires 2014, S. 6). Der Diskurs – den Squires unter Referenz auf Betty Friedans feministischen Klassiker als „mystique“ beschreibt – bedient sich also einer neoliberalen Logik des Individualismus und verschleiert damit den systemischen Charakter von Rassismus. Die Medienkultur des post-racialism macht es somit schwieriger, über Rassismus als politisches Problem zu sprechen. Im post-racialism sind gesellschaftliche Asymmetrien nicht mehr diskutierbar als Ergebnis einer ungleichen Verteilung von Privilegien, in der Weißsein immer noch höchsten Bonus genießt, sondern sie werden vielmehr als Resultate mehr oder weniger erfolgreicher Selbstoptimierungen plausibilisiert. An einem solchen Unverfügbarmachen von ‚race‘ als Thema politischen Diskurses ist auch The Handmaid‘s Tale beteiligt, indem die Serie versucht, ‚race‘ aus einem dystopischen Entrechtungsszenario herauszuimaginieren. Dabei lässt sich ‚race‘ natürlich nicht einfach so aus Erzählwelten tilgen – ganz besonders nicht aus Erzählwelten, die in Bewegtbildmedien konstruiert werden: Schon durch die Körperperformanz der Darsteller*innen wird ‚race‘ immer irgendwie artikuliert. Und in The Handmaid‘s Tale wiederholt diese racial performance ein in der USGeschichte tief verwurzeltes Muster, in dem die Unterdrückungserfahrung weißer Frauen über die Aneignung der historischen Erfahrungen von women of color figuriert wird. Über diese Grenzen und blinden Flecke im progressiven Projekt der Serie zu sprechen ist eine große Chance – eine Chance, dem Unverfügbarmachen dieses Aneignungsmusters entgegenzuarbeiten und über die Intersektionen von Sexismus und Rassismus zu reflektieren, die solche Aneignungen verschleiern.

Literatur Atwood, M. (1998). The Handmaid‘s Tale. New York: Anchor Books.

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Bastién, A.J. (14. Juni 2017). „In Its First Season, The Handmaid‘s Tale‘s Greatest Failing Is How It Handles Race“. Vulture. Abgerufen von: https://www.vulture.com/2017/06/thehandmaids-tale-greatest-failing-is-how-it-handles-race.html. Zugegriffen: 10. Juli 2019. Brooks, B. (24. Mai 2017). „How ’The Handmaid’s Tale’ Villain Were Inspired by Trump“. The Verge. Abgerufen von: https://www.huffpost.com/entry/-handmaids-tale-villains-ins pired-by-trump_n_5925bf4ce4b0ec129d31a7b3?guccounter=1&guce_referrer=aHR0cH M6Ly9lbi53aWtpcGVkaWEub3JnLw&guce_referrer_sig=AQAAAFgdrHRuRXyaT6 OMByDSuLn7oF3WJbmwa9m3ZY9bkNe9gDeyUl1cI-O9owaH9I8YzEd7nNc9JYb 4Ug_A4kkfuQ2yvo0SHoFYGanCgE_AwjbIKXojl0ZjrqbgHLiSow0_EWhCgB9l_t1M ehZn25R6P5a4lRKrIghi5kr6wO0kMpi6. Zugegriffen: 10. Juli 2019. Collins, P. H. (2000). Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment. 2. Auflage. New York: Routledge. Dietze, G. (2014). Weiße Frauen in Bewegung: Genealogien und Konkurrenzen von Raceund Genderpolitiken. Bielefeld: Transcript. Dodson, D. J. (1997). ‚We Lived In the Blank White Spaces‘: Rewriting the Paradigm of Denial in Atwood‘s The Handmaid‘s Tale. Utopian Studies, 8(2), S. 66–68. Douglass, F. (1845). Narrative of the Life of Frederick Douglass, An American Slave. Written by Himself . Boston: Antislavery Office. Abgerufen von: https://archive.org/details/narrat iveoflifeo1845doug/page/n7. Zugegriffen: 10. Juli 2019. Jones, J.P. (2007). „Fake“ news versus „real“ news as sources of political information. In K. Riegert (Hrsg.), Politicotainment: television‘s take on the real (S. 129–149). New York: Peter Lang. McDonald, S. N. (26. April 2017). „In ‚The Handmaid’s Tale,‘ a postracial, patriarchal hellscape“. The Undefeated. Abgerufen von: https://theundefeated.com/features/hulu-handma ids-tale/. Zugegriffen: 10. Juli 2019. McQueen, S. (Regie) (2013). 12 Years a Slave. [Film] USA, Fox. Menta, A. (25. April 2018). „’The Handmaid’s Tale’ Season 2: Margaret Atwood Talks Sex, Race and Anger in Post-Trump America“. Newsweek. Abgerufen von: https://www. newsweek.com/margaret-atwood-handmaids-tale-season-2-interview-899655. Zugegriffen: 10. Juli 2019. Miller, B. (Creator) (2017). The Handmaid‘s Tale. Erste Staffel. USA, Hulu. Sánchez-Eppler, K. (1997). Touching Liberty: Abolition, Feminism, and the Politics of the Body. Berkeley: University of California Press. Squires, C. R. (2014). Postracial Mystique: Media and Race in the 21st Century. New York: New York University Press. Tarantino, Q. (Regie) (2012). Django Unchained. [Film] USA, Columbia Pictures.

Once upon a time nearby – Sakralisierung der Reproduktion und Reproduktion der Sakralität in Gilead Christian Schwarke

Eines der erstaunlicheren Elemente der Präsidentschaftswahlen in den USA im Jahr 2016 war die hohe Zustimmung der evangelikalen Kreise für den Gewinner. Deutlich mehr Evangelikale unterstützten Donald Trump, als dies bei Ronald Reagan oder George W. Bush der Fall war (Martinez und Smith 2016). Dabei hatte insbesondere Bush mit seiner religiösen Orientierung und Bekehrung für sich geworben. Demgegenüber sprach und handelte Donald Trump so ziemlich gegen alles, was den Moralvorstellungen konservativer Evangelikaler heilig ist oder war. Nur in einem einzigen Punkt entsprach er der evangelikalen Doktrin: in seiner Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen. Für diesen Vorgang bieten sich zwei Erklärungen an. Die erste Möglichkeit besteht darin, dass die Frage der menschlichen Reproduktion vielen Evangelikalen so wichtig war und ist, dass alle anderen Probleme demgegenüber zurücktreten. Die andere Möglichkeit hat Michael Gerson, ehemaliger Redenschreiber George W. Bushs, im März in der Zeitschrift Atlantic ausgeführt. Ihm zufolge hätten die Evangelikalen aus einem Gefühl zunehmender Minorisierung heraus alles über Bord geworfen, nur um an die Macht zu kommen, d. h. um das Gefühl haben zu können, mit einem Fuß im Weißen Haus zu stehen (Gerson 2018). Beide Erklärungen berühren das Zentrum der Serie und des Buchs The Handmaid’s Tale. Denn die Geschichte handelt davon, dass die menschliche Reproduktion zu etwas Heiligem stilisiert wird und umgekehrt das Heilige um der Macht willen künstlich reproduziert wird. Die Serie zeigt dabei, dass beides C. Schwarke (B) TU Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021, Korrigierte Publikation 2022 A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3_4

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nur um den Preis ihrer völligen Entkernung zu haben ist. Im Folgenden sollen die beiden Seiten dieser Medaille nacheinander betrachtet werden. Dabei wird sich zeigen, dass die Sakralisierung der Reproduktion und die Reproduktion von Sakralität uns tatsächlich näher sind, als es uns lieb sein sollte.

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Die Sakralisierung der Reproduktion

Sakralisierung, die Behandlung einer Sache als etwas Heiliges, ist oft eine Reaktion auf Abwesenheit. Im Falle von The Handmaid’s Tale ist es die Fruchtbarkeit, die den Menschen abhandengekommen ist. Um die letzten gebärfähigen Frauen zu rekrutieren, wird in Gilead eine Art Orden geschaffen, in den geburtsfähige Frauen gezwungen und damit versklavt werden. (Es wird freilich schnell deutlich, dass das Problem der Sterilität nicht nur die Frauen betrifft und dass die Herrscher in Gilead den Fehler begehen, mit der Besamung Möchtegerndespoten zu betrauen, anstatt nach Analogien zum klassischen Zuchtbullen Ausschau zu halten). Die Sakralisierung der Reproduktion in The Handmaid’s Tale findet ihren Ausdruck zunächst in verschiedenen Institutionen, dem Orden der Mägde und vor allem in dem, was in der Serie „Zeremonie“ genannt wird. Zunächst wird die „Zeremonie“ ja als völlig entfremdet dargestellt, was die Blicke signalisieren, die in völlig verschiedene Richtungen weisen. Jede der drei Personen ist mit sich allein und doch mit anderem beschäftigt (Abb. 1). In der filmischen Darstellung spielen Farben eine große Rolle: Serena trägt das leicht ins Türkis verschobene Blau der (hier allerdings unfreiwilligen) Reinheit, das traditionell Maria zugeordnet wird. June (Desfred) trägt das Rot des Ordens, das Blut signalisieren soll. Der Kommandant ist – wie alle Männer – schwarz gekleidet. Dies signalisiert einerseits distanzierte Macht, wie sie sich von der spanischen Hofmode der Renaissancezeit bis in die Talare der Gegenwart in die europäische Kostümgeschichte eingeschrieben hat. Andererseits wird mit dem Schwarz jedoch das Böse und der Tod aufgerufen. Alle Beteiligten sind von der „Zeremonie“ auf unterschiedliche Weise angewidert. Vor allem stellt sie für niemanden eine Möglichkeit der Selbsttranszendierung dar, was für traditionelle sakrale Rituale essentiell ist. Daher würde ich von einer hohlen oder entkernten Sakralisierung sprechen. Die „Zeremonie“ ist für diesen Vorgang in der Serie beispielhaft, er wird jedoch auch in anderen Elementen und Szenen deutlich. Das System basiert auf Vergewaltigung. Wie häufig in Sozialstrukturen werden auch in Gilead die Symptomträger solcher Strukturen abgespalten und gebrandmarkt. Wer jenseits der herrschenden Klasse Gewalt ausübt, wird als Verbrecher

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Abb. 1 S1 E 2 (01:33)

dem Hass der Frauen zur Hinrichtung ausgeliefert. Das in der Hinrichtungsszene am Ende der ersten Folge auf der Bühne erkennbare Symbol (Abb. 2) ist dabei ebenfalls Teil der entkernten Sakralisierung. Eine Frau steht auf einem Halbkreis und breitet die Arme aus. Es handelt sich dabei um eine Anspielung auf das mittelalterliche Motiv der Mondsichelmadonna (Abb. 3). Abb. 2 S1 E1 (43:31)

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Abb. 3 Mondsichelmadonna, mittelrheinisch, um 1480–1490. (WikiCommons. https:// commons.wikimedia.org/ wiki/Category:Mad onna_on_the_crescent?use lang=de#/media/File:Vir gin_of_the_Apocal ypse_MET_DT5288.jpg [Zugriff 19.05.2019])

Diese wiederum ist eine Visualisierung einer Figur aus der Apokalypse: „Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt. Sie war schwanger und schrie vor Schmerz in ihren Geburtswehen. Ein anderes Zeichen erschien am Himmel: ein Drache, groß und feuerrot, mit sieben Köpfen und zehn Hörnern und mit sieben Diademen auf seinen Köpfen. Sein Schwanz fegte ein Drittel der Sterne vom Himmel und warf sie auf die Erde herab. Der Drache stand vor der Frau, die gebären sollte; er wollte ihr Kind verschlingen, sobald es geboren war. Und sie gebar ein Kind, einen Sohn, der über alle Völker mit eisernem Zepter herrschen wird. Und ihr Kind wurde zu Gott und zu seinem Thron entrückt.“ (Offb. 12,1–5). Das Symbol der Frau auf der Mondsichel ist also für die Herrscher in Gilead kein glückliches Symbol, weil es ihre eigene Abschaffung ankündigt. Aber auch jenseits der biblischen Referenz dementieren die Ereignisse in der Szene die oberflächliche Anmutung des Symbols. Denn die schützenden oder segnend ausgebreiteten Arme der Gestalt im Emblem haben erkennbar nichts zu tun mit der Realität einer „Tante“ Lydia, die die entindividualisierten Frauen noch in der scheinbar befreienden Ableitung von deren Wut zur Erhaltung des Systems

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missbraucht. Die Gesichtslosigkeit der Frau im Emblem ist daher nicht Ausdruck moderner Abstraktion – was auch gar nicht zum Kunstgeschmack reaktionärer Ideologien und ihrer Vertreter*innen passen würde –, sondern Spiegelung der hohlen Sakralisierung. Kehren wir noch einmal zur „Zeremonie“ zurück. Wie um das Ungeheuerliche zu legitimieren und die Akteure zu betäuben, wird zu Beginn eine Geschichte aus dem Alten Testament gelesen. Sie entstammt der Jakobserzählung aus dem Buch Genesis: Jakob musste seinem Onkel Laban dienen und sollte als Lohn dessen Tochter Rahel zur Frau bekommen. In der Hochzeitsnacht betrügt Laban seinen Neffen und schmuggelt ihm Rahels ältere Schwester Lea unter. Um Rahel doch noch zur Frau zu erhalten, muss Jakob sieben weitere Jahre bei Laban die Schafe hüten. Endlich bekommt er Rahel dann doch. Da Jakob der Stammvater der zwölf Stämme Israels sein soll, muss nun ein Dutzend Söhne geboren werden. Lea ist fruchtbar und gebiert. Rahel aber nicht. Deshalb gibt Rahel ihre Magd Bilha Jakob zur Fortpflanzung: „Sieh, das ist meine Magd Bilha; Geh zu ihr, dass sie auf meinem Schoß gebäre und ich doch noch durch sie zu Kindern komme“. (Gen 30,3) Bilha gebiert auch zwei Söhne, woraufhin Rahel am Ende doch noch schwanger wird und Josef zur Welt bringt (Gen 29–30). Im alten Orient war dieses Verfahren nicht ganz unüblich, wenn die Ehefrau eines Mannes entweder keine Kinder bekommen konnte oder das nicht durfte, etwa weil sie Priesterin war. Nach altbabylonischem Recht, wie es im Kodex Hammurabi (ca. 1700 v. Chr.) niedergelegt ist, wurde die Magd aber dadurch zur Ehefrau des Mannes und da man nicht mehr als zwei Frauen haben durfte, kann der Mann keine dritte Frau heiraten (vgl. Otto 1994, S. 49 ff.; Gies 2009, S. 305 f. 308 f.). Wenn die Geschichte um Rahel, Lea und Bilha auch eine soziale Realität des alten Orients widerspiegelt, so geht es letztlich doch um etwas anderes, nämlich um die Rückführung aller zwölf Stämme Israels auf den Erzvater Jakob und die Vergewisserung in späterer Zeit (ihre jetzige Gestalt gewannen diese Erzählungen erst im 6. Jh. v. Chr. – also im Babylonischen Exil), dass die Verheißung Gottes trotz der politischen Niederlage Israels und der Deportation nach Babylon noch zutrifft und man erstens Land bekommt und zweitens viele Kinder. Die Geschichte (die auf der Erzählebene im 2. Jahrtausend v. Chr. spielt) wurde im 6. Jh. v. Chr. bereits nicht deswegen erzählt, weil man wusste, wie es gewesen ist, sondern weil man eine Ätiologie der zwölf Stämme Israels benötigte inklusive der Vergewisserung, dass Gott seine Verheißung an Jakob (d. h. Israel)) wahr macht – und zwar gegen alle Widerstände wie hintertriebige Onkel und Unfruchtbarkeit. Von all dem ist in Gilead selbstverständlich nicht die Rede. Es geht nur um den Wortlaut der Geschichte an der obersten Oberfläche. Genau das aber kennzeichnet den Umgang des Fundamentalismus in allen abrahamitischen Religionen mit

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den jeweiligen heiligen Texten. Der Fundamentalist meint, antike Texte würden sich ihm unmittelbar erschließen, wären in eben diesem „Verständnis“ normativ und riefen nach einem Reenactment. Faktisch aber wird das vermeintlich Heilige damit profanisiert und entkernt. Die behauptete Heiligkeit wird zur hohlen Sakralität, die als Hülle nur durch autoritäre Gewalt aufrechterhalten werden kann. Das Motiv der stellvertretenden Geburt durch Bedienstete wird nun in The Handmaid’s Tale verdoppelt, indem auch der Fahrer Nick an die Stelle des unfruchtbaren Kommandanten tritt. Nun wäre das aus der Vergangenheit geborgte Motiv der Ersatzzeugung ja eigentlich harmlos und von uns als absurd zu behandeln, weil es so alt und die Geschichte so lange her ist – wenn wir nicht in der Gegenwart Ähnliches auf einem etwas abstrakteren Wege unternehmen würden. Denn Samenspende und Leihmutterschaft sind der Sache nach genau das gleiche wie stellvertretende Mutterschaft – mit dem freilich erheblichen Unterschied, dass wir idealisiert von freien Individuen ausgehen. Sofort sind wir damit aber in den politisch-ethischen Kontroversen der Gegenwart. Die Vergangenheit rückt dem Zuschauer der Serie darin ebenso nahe wie die häufigen close-ups die Gesichter der Protagonisten filmisch den Raum zwischen Zuschauer und Bildschirm verengen. (Auf die Engführung der Zeiten komme ich noch zurück). Daher ist es nicht nur die Vergangenheit des alten Orients, sondern es sind auch die Kämpfe um die Reproduktion der jüngeren Vergangenheit, die in The Handmaid’s Tale aufgerufen werden. Während Konservative gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch kämpfen, votierten lange Zeit auch durchaus Linke gegen die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik. Dabei sind beide Verfahren im Ergebnis nicht so weit voneinander entfernt: Sie führen zum Abbruch einer Schwangerschaft. Aber die Motive sind etwas anders gelagert und vor allem unterscheiden sich die damit verbundenen Machtaspekte: Während auf der einen Seite Frauen für ihr Recht auf die Verfügung über ihren Körper und was sich darin befindet stritten (Schwangerschaftsabbruch), wehren sie sich andererseits gegen eine vermeintliche oder tatsächliche fremde Verfügbarmachung des ungeborenen Lebens in ihnen (durch die Präimplantationsdiagnostik). Es geht mir hier nicht um die Diskussion der ethischen Aspekte, sondern um die Feststellung, dass der Frauenleib schon längere Zeit zum „öffentlichen Ort“ geworden ist, wie Barbara Duden betont hat (Duden 2016). Während die Fortpflanzung im Hause Jakob mit Frauen und Mägden eine profane Angelegenheit war, reicht die moderne Sakralisierung der Reproduktion bis in die Zeit der Aufklärung zurück. Und bereits hier ist sie mit einer erheblichen Regulierung des schwangeren Lebens verbunden. Dies zeigt sich zum einen in der Wechselbeziehung zwischen der Sexualität und dem Monströsen. Denn die Aufklärung intensivierte die Behauptung, dass unerlaubte Reproduktion zur Geburt

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von Monstern führt (Stafford 1993, S. 211 ff.) Damit wird zwar das Monströse kausal und also rational hergeleitet, aber umgekehrt das moralisch Gebrandmarkte zum Monströsen mystifiziert. Im 19. Jahrhundert begegnet man einem ähnlichen Spiel in der moralischen Reaktion auf die Syphilis. Das alles diente freilich auch damals einer harten Steuerung der Reproduktion, wie man an den zahlreichen Bestimmungen des Preußischen Landrechts (1794) zum Umgang mit Schwangeren ablesen kann1 . So verfügte § 736, dass man eine Frau nicht schlagen dürfe, solange sie schwanger sei. Diese Ansicht kehrt in The Handmaid’s Tale wieder, als Lydia in der dritten Episode June schlägt und Serena unter Hinweis auf Junes Schwangerschaft die Prügel unterbindet. Näher an der Gegenwart liegt die staatlich verordnete Schwangerschaft und ihre Sakralisierung als Dienst an der Gesellschaft im Faschismus. Aber selbst der demokratische Diskurs ist nicht frei von Sakralisierungen, wenn etwa angesichts neuer biotechnischer Verfahren nach neuen Tabus gerufen wird. Und auch innerhalb der Geschichte von The Handmaid’s Tale zeigt die Rückblende zur Geburt von Johns Tochter Hanna, dass die Sakralisierung der Geburt schon vor Gilead begonnen hatte, so wie die Geburtsvorbereitungskurse unserer eigenen Gegenwart durch ihre Ritualität und das im Zentrum stehende Video einer Geburt nicht so weit entfernt von religiöser Praxis sind. Im Laufe der Serie verändert sich nun die „Zeremonie“. Wird sie zu Beginn noch mit Orgelmusik und dem Lied „Onward Christian Soldiers“ begleitet, so hört man später ein Streichquartett, das sich zu einem Streichorchester weitet. An die Stelle klarer religiöser Markierung treten für die Gattung des Streichquartetts typische Klänge der Brüchigkeit und Verunsicherung. Und tatsächlich sehen wir nun, dass die eigentlich sowohl rituell als auch sexuell völlig entkernte Prozedur trotzdem zu einem Bestandteil des Dramas zwischen den Personen wird. Das ist im Hause des Kommandanten so. Aber es wird natürlich viel deutlicher in der dritten Folge, als Janine ein Kind zur Welt bringt, das sie sofort abgeben muss.

1 §.

733. Niemand soll gegen eine Person, deren Schwangerschaft sichtbar, oder ihm bekannt ist, oder auch wissentlich in deren Gegenwart, Handlungen vornehmen, wodurch heftige Gemüthsbewegungen erregt zu werden pflegen. §. 734. Ist dergleichen Handlung an sich schon strafbar: so findet in einem solchen Falle Schärfung der Strafe statt. §. 735. Ist auf die Handlung an sich keine Strafe verordnet: so soll, je nachdem sie aus Vorsatz, Muthwillen, oder grober Unvorsichtigkeit begangen worden, willkührliche Geldoder Gefängnißstrafe, oder körperliche Züchtigung verhängt werden. §. 736. Auch diejenigen, denen sonst das Recht der mäßigen Züchtigung zukommt, dürfen sich dessen gegen dergleichen schwangere Personen, bey willkührlicher Gefängniß- oder Geldstrafe, so lange die Schwangerschaft dauert, nicht bedienen. (ALR II 20, §§ 733–736).

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Überraschend bricht sich nun hier doch in aller Entfremdung ein Rest von Humanität Bahn, der im Rahmen der Story eigentlich nur als etwas Transzendentes und damit im klassischen Sinn Heiliges wahrgenommen werden kann. Dies wird zum einen durch die räumliche Szene markiert. Statt der engen dunklen Räume, an die wir uns als Zuschauer gewöhnt haben, wird uns im Haus der Neugeborenen auf einmal ein Salon des 18. Jahrhunderts gezeigt. Zum anderen zeichnet sich auf Serenas Gesicht ein Lächeln ab, das zwischen Sehnsucht und Hilflosigkeit changiert und für ganz kurze Zeit eine Ahnung von Freude erkennen lässt. Während das chorische Sprechen während der Geburt („Halten, Pressen, Atmen“) eher der Bezwingung des Dämonen im Film „Der Exorzist“ (Friedkin 1973) gleicht, wird die Geburtlichkeit doch auch Gegenstand positiver Rettung. So etwa, wenn Serena June unter Hinweis auf deren Schwangerschaft aus den Fängen Tante Lydias und des Verhörers befreit. Im Zusammenhang mit Junes Schwangerschaft steht auch die einzige Rezitation eines Bibelverses, bei der man nicht genau weiß, ob sie nicht doch ernst gemeint ist: Es handelt sich um die Szene, als Serena June die Hände auf den Bauch legt und Jeremia 1,4–5 zitiert: „Und des Herrn Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, [und bestellte dich zum Propheten für die Volker.]“ Dieser Ausschnitt aus der Selbstreflexion des Propheten, mit der er eigentlich seine Legitimation sicherstellt, bleibt jedoch ambivalent. Zwar nimmt man Serena die Ehrlichkeit der Hoffnung in diesem Moment ab, erinnert sich gleichzeitig aber daran, dass genau dieser Vers ein Hauptargument biblizistisch ausgerichteter, sich selbst so bezeichnender „Lebensschützer“ gegen die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruches ist. Es ist diese echte, aber unterschwellige Sakralität (im Lächeln), die das mühsam aufrecht erhaltene äußere Ritual der „Zeremonie“ letztlich zum Einsturz bringt. Denn die Szenen einer Ehe, die Serena und Fred uns vorführen, und die an Michelangelo Antonionis Film La Notte aus dem Jahr 1961 erinnern, führen eben zum Bruch. Und so ist Serena am Ende nicht glücklich mit der Realisierung ihrer eigenen Utopie. Begonnen hatte sie selbst mit der technokratischen Devise: „Fruchtbarkeit als staatliche Ressource, Fortpflanzung als moralische Pflicht“ (S1 E6 17:49). Wie immer erweist sich die Tragfähigkeit der Utopien am einfachsten in ihrer Selbstanwendung. Aber erst als Serena Zweifel an ihrem eigenen Projekt kommen, lässt auch die Geschichte einen Ausweg aufscheinen. Während die Schlussmusik der ersten Folge noch mit Lesley Gores „You don’t own me“ aus dem Jahr 1963 schon damals eher Utopie als Realität widerspiegelte,

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führt die „Frauenstraße“ am Ende der ersten Staffel als Anspielung auf die reale „Underground Railroad“2 ein Beispiel echter Befreiung an.

2

Die Reproduktion von Sakralität

Trotz der Bibelzitate, mit denen die Herrscher in Gilead immer wieder um sich werfen, ist diese Stadt eigentlich keine traditionelle Theokratie. Niemand glaubt, was er oder sie sagt. Die Zitate sind meist nur oberflächliche Grußfloskeln („unter seinem Auge“); es gibt keine zentralen Rituale und niemand nimmt eigentlich wirklich Bezug auf irgendeinen Gott. In der einzigen Szene, in der es zu einem Dialog in Gestalt von Bibelversen kommt, ist der Gebrauch durch die Herrschenden natürlich zynisch. Tante Lydia sagt zu June: „Vergiss niemals die Heilige Schrift: Selig sind die Sanftmütigen.“ (Mt 5,5) June antwortet: „Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,10) – und erntet Schläge (S1 E3 31:10). Die Theokratie ist hohl, ist Ideologie. Selbst der Name Gilead kann dabei als bitterer Witz gelesen werden. Er spielt auf eine Stelle im Buch des Propheten Jeremia an, in der dieser eine bittere Klage über die Situation Israels formuliert: „Wir hofften, es sollte Frieden werden, aber es kommt nichts Gutes. Wir hofften, wir sollten Heilwerden, aber siehe es ist Schrecken da. Man hört ihre Rosse schnaubend von Dan her, vom Wiehern ihrer Hengste erbebt das ganze Land. Sie fahren daher und werden das Land auffressen mit allem, was darinnen ist. Die Stadt samt allen, die darin wohnen. […] Was kann mich in meinem Jammer erquicken? Mein Herz in mir ist krank. Siehe, die Tochter meines Volkes schreit aus fernem Lande her. […] Ist denn keine Salbe in Gilead oder ist kein Arzt da?“ (Jer 8,15 f.18 f.22). In der Serie liegt Gilead nicht östlich des Jordan, sondern in Cambridge, Massachusetts. Dass ausgerechnet hier, am Sitz der Harvard University, die Diktatur herrscht, führt zu der Frage, ob es kein Heilmittel in der liberalen Universität gibt. Denn die Antwort des Spirituals „There is a Balm in Gilead“ steht der Serie zwar nicht zur Verfügung, vielleicht aber den US-amerikanischen Zuschauer*innen, verbunden mit der Erinnerung daran, dass es trotz allem auch post 2016 am Charles River in Cambridge noch anders aussieht als in Gilead. Im Gegensatz zu den Prozessen um die Schwangerschaft ist der Staat Gilead eher durch eine Desakralisierung gekennzeichnet. So werden Kirchen abgerissen

2 Gemeint

ist die Fluchthilfe, die amerikanischen Sklaven in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Flucht aus dem Süden ermöglichte.

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oder als Richtplatz für Gehängte verwendet. Alles, was traditionelle Religiosität jenseits staatlicher Inanspruchnahme oder Ideologie kennzeichnen würde, ist auf der Ebene der Erzählung in The Handmaid’s Tale verschwunden. Insofern beantwortet die Serie die Frage, ob man Sakralität künstlich befruchten kann, eigentlich negativ. Der Versuch lässt eigentlich nur entkernte Hüllen stehen, die wie die Fassade der Kirche auch noch abgerissen werden. Dennoch gibt es auch bei dieser Fragerichtung, also der Herstellung von Heiligkeit, eine – wenn man so will – fromme Gegenerzählung, die sich im Licht offenbart. Gegenlicht ist eines der Stilmittel, die in The Handmaid’s Tale durchgängig verwendet werden, um so etwas wie Hoffnung zu signalisieren: so beim Abriss der Kirche (Abb. 4), aber auch beim Spaziergang der Gefährtinnen, der Rettung aus dem Verhör und natürlich (filmisch breit ausgeführt) beim ersten Kuss zwischen June und Jack im Hotel. Selbst die Umarmung von Fred und Serena, als ihre verqueren Träume noch nicht real geworden waren, wird im Gegenlicht gezeigt. Abb. 4 (S1 E2 04:06)

Abb. 5 J. Cropsey: Autumn – on the Hudson River

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Nun ist solches Gegenlicht ein beliebtes Mittel, um Theophanien ins Bild zu setzen. Raffael hat das genial vorgeführt, indem er sein Fresko in den Stanzen des Vatikan mit der Befreiung des Petrus über ein Fenster setzt, sodass der Betrachter – vom realen Licht geblendet – das gemalte Licht des Engels verstärkt wahrnimmt. Jasper Cropsey, ein Vertreter der sogenannten Hudson River School, machte die Sonne um 1860 zur Gottesoffenbarung in der Natur (Abb. 5), und Steven Spielberg unterstrich mit Gegenlicht die für Science-Fiction-Filme äußerst ungewöhnliche, weil heilsbringende Bedeutung seiner Aliens in „Close Encounter of the Third Kind“ (1977). Licht signalisiert Hoffnung und damit eigentlich etwas religiös und theologisch sehr Konservatives: nämlich, dass die Hoffnung von außen kommt, dass man gerettet wird, sich nicht selbst rettet. Die fanatische, aber ideologisch eigentlich entleerte Diktatur, die „IHN“ nur als Überwachungsinstrument braucht, hat keine religiöse Basis. Sie widerspräche eher traditionell evangelikalem Gedankengut. Aber die Serie zeigt die meines Erachtens richtige Einschätzung, dass traditionelle Religiosität nicht mehr zur Verfügung steht, wenn es darum geht, politische Willkür zu begründen. Gleichwohl gibt es den Vorgang der Reproduktion des Heiligen im gesellschaftlichen Interesse. Schon im Alten Testament kann man beobachten, dass das ursprünglich allgemein-profane Recht in religiöses Ethos überführt wird. So sind einzelne Bestimmungen der Zehn Gebote (Ex 20, 2–17), wie zum Beispiel „Du sollst nicht töten“ etc., zunächst ohne den Vorsatz: „Ich bin der Herr dein Gott, der dich aus Ägyptenland aus der Knechtschaft geführt hat. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ überliefert. Erst später wurde das Recht durch eine Eingliederung in den religiösen Rahmen zu einem Ethos (Otto 1994, S. 81 ff.). Und auch hier kann man die These vertreten, dass diese Bewegung als Reaktion auf die Abwesenheit von Recht entstand, so wie auch die Heiligung der Fruchtbarkeit. Indem die israelitische Gesellschaft sich nach der Sesshaftwerdung zunehmend differenzierte, entschwand das ehemalige Sippenrecht und wurde durch die Macht unterschiedlicher sozialer Gruppen ersetzt. In dieser Situation war die Sakralisierung des Rechts ein – wenn man so will – „linker Protest“ gegen Herrschaftsstrukturen. Was wir gegenwärtig in verschiedenen Staaten auf der Erde beobachten, scheint mir eine Mischung aus beiden Motiven darzustellen: Auf der einen Seite eine durchaus von Menschen gewollte Hoffnung auf Veränderung ihrer sozialen Lage (auch das wird in The Handmaid’s Tale durch die eine Gefährtin von June aufgenommen) und auf der anderen Seite die Ausnutzung solcher Stimmungen im Interesse eigenen Machterhalts. Wieder treffen wir damit auf die eigentümliche Verschränkung der Zeiten in The Handmaid’s Tale. Es ist ein durchgängiges Merkmal von Science-Fiction, die

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Abb. 6 S1 E1 54:08

gesellschaftliche Dystopie entwirft, dass man zur konkreten inhaltlichen Ausgestaltung des zukünftigen Schreckens auf die Vergangenheit zurückgreift. Meist bedienen sich die Drehbuchautoren und Regisseure des Mittelalters, der Antike oder der Steinzeit. The Handmaid’s Tale macht das anders. Äußerlich wird zur Darstellung Gileads eigentlich auf das 17. Jahrhundert zurückgegriffen, der Zeit der Puritaner und Jan Vermeers, wobei die Möblierung eher der Einrichtung Konservativer in den 1930er Jahren entspricht (Abb. 6)3 . Auch das ist schon wieder eine Verschränkung der Zeiten. Vergleicht man die Bildtonalität zwischen Gilead und der Vorgeschichte der Heldinnen, so sieht man in Gilead ein geputztes, feinkörniges Bild, das ein wenig an den Neumarkt in Dresden erinnert: wiederhergestelltes Barock also. Die Rückblenden dagegen sind in der Grobkörnigkeit der Autorenfilme der 1970er und 1980er Jahre gefilmt. Dagegen stehen jedoch die Cafés und Joggingkleidung, die der Gegenwart entstammen. Wo immer man hinschaut, werden Zeiten ineinandergeschoben. Und das entspricht auch der Wahrnehmung der Macher der Serie. Kostümbildnerin Ann Crabtree äußerte in einem Interview: „By November, when the world changed in our own personal Gilead on this side of the pond, we were well into the story, and every day the script was mirroring what was happening in the States. The world changed in a matter of days with the commander that we have, and it was a blessing and a curse to work on this show and creatively build for that. 3 Vgl.

etwa Jan Vermeer: Die unterbrochene Musikstunde, Frick Collection, New York, NY.

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Because I think artistic torment is actually a blessing. It was painful some days, and beautiful on other days. That’s the only way to describe it.“ (Lincoln 2017). Wir sehen in der Serie unsere Gegenwart als Erinnerung. Das macht die Sache so dicht − dichter als uns lieb sein kann. Kann man Sakralität künstlich befruchten? Ja und Nein. Ja, wenn Tante Lydias Auffassung zutrifft, dass Menschen irgendwann alles als normal ansehen, woran sie sich gewöhnt haben. Nein, wenn Religiosität vielleicht doch das jeweils „Andere“ meint, die Alternative zur Herrschaft, das Licht am Ende des Tunnels – wie in der Serie. Dabei ist es relativ egal, ob das Götter sind, und ob es die „gibt“ oder nicht. Es ist der Blick, die Perspektive, die rettet.

Literatur Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (01.06.1794), Zweyter Theil, https://opi nioiuris.de/quelle/1623#Zwanzigster_Titel._Von_den_Verbrechen_und_deren_Strafen (Zugriff: 20.05.2019). Anonym. Künstler (um 1480–1490). Jungfrau der Apokalypse. Mittelrheinisch. Glas 35,2 x 24,4 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York, NY. Zugangsnr.: 1982.47.1. Antonioni, M. (1961). Regie. La Notte. Italien/Frankreich: Dino di Laurentiis. Cropsey, J. (1860). Maler. Autumn – On the Hudson River. Öl auf Leinwand 151.8 x 274.9 cm. National Gallery of Art, Washington, DC. Duden, B. (2016). Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben (1994). Neuauflage. Frankfurt am Main: Mabuse. Friedkin, W. (1973). Regie. Der Exorzist. USA: Warner Bros. Gerson, Michael: The Last Temptation. How evangelicals, once culturally confident, became an anxious minority seeking political protection from the least traditionally religious president in living memory, in: The Atlantic, April 2018 (https://www.theatlantic.com/ magazine/archive/2018/04/the-last-temptation/554066/) (02.11.2018). Gies, K. (2009). Geburt – ein Übergang. Rituelle Vollzüge, Rollenträger und Geschlechterverhältnisse: Eine alttestamentliche Textstudie (Arbeiten zu Text und Sprache im Alten Testament (ATS) 88), St. Ottilien: EOS. Lincoln, J. (2017). The Handmaid’s Tale: The Hidden Meaning in Those Eerie Costumes. Costume designer Ann Crabtree gives the rundown on dressing Margaret Atwood’s dystopia. Vanity Fair 24.04.2017. https://www.vanityfair.com/hollywood/2017/04/handmaidstale-hulu-costumes-margaret-atwood?verso=true (Zugriff 20.05.2019). Martínez, J. / Smith, G. A. (2016). How the faithful voted: A preliminary 2016 analysis. Pew Research Center. https://www.pewresearch.org/fact-tank/2016/11/09/how-the-fai thful-voted-a-preliminary-2016-analysis/ (Zugriff 19.05.2019). Otto, E. (1994). Theologische Ethik des Alten Testaments. Stuttgart et al.: Kohlhammer. Spielberg, S. (1977). Regie. Close Encounter of the Third Kind. USA: Columbia. Stafford, B. M. (1993). Body Criticism: Imaging the Unseen in Enlightenment Art and Medicine, 2. Aufl., Cambridge, MA: MIT Press. Vermeer, J. (ca. 1658). Maler. Die unterbrochene Musikstunde. Öl auf Leinwand. 39,4 x 44,5 cm. New York: Frick Collection.

The Handmaid’s Tale zwischen Feministischer Erzählung und„Torture Porn“: Eine intersektionale Kritik Mirjam M. Frotscher und Gesine Wegner

1

Einleitung: Rezeption und feministische Vereinnahmung der Serie

Schon bevor die Serien-Adaption von Margaret Atwoods The Handmaid’s Tale bei dem US-amerikanischen Streamingdienst Hulu am 26. April 2017 an den Start ging, prognostizierten erste Kritiker*innen, dass die Serie zu kaum einem passenderen Zeitpunkt erscheinen könne (Onstad 2017; Lawler 2017). So übertitelte Emily Temple ihre Vorab-Rezension der ersten drei Episoden auf Literary Hub wie folgt: “The Handmaid’s Tale Adapts More Than the Novel: Here is America”. In ihrem Artikel schlussfolgerte Temple, die Serie sei mehr als nur eine einfache Adaption der Romanvorlage; vielmehr sei sie eine „adaptation of another text, one that is even closer to my heart: the life that I am living right this second. America in its current political moment“ (Temple 2017, o. S.). Egal ob Feuilleton, populär-kulturelle Blogs und Zeitschriften oder wissenschaftliche Auseinandersetzungen, The Handmaid’s Tale wurde während der Ausstrahlung der ersten Staffel als ein feministischer Text verortet, welcher den Zeitgeist widerspiegle oder Warnung und dunkle Antizipation zugleich sei. So schrieben die Literaturwissenschaftlerinnen Aino-Kaisa Koistinen und Hanna Samola recht beispielhaft in der Fachzeitschrift Science Fiction Film and Television: M. M. Frotscher (B) · G. Wegner TU Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] G. Wegner E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021, Korrigierte Publikation 2022 A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3_5

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“From a feminist point of view, The Handmaid’s Tale is surely one of the stories we need to tell today. Its powerfully affective scenes invite us to feel for the oppressed, to relate to others and to think about the future we are now creating”. (2018, S. 351). Betrachtet man die Fülle der Artikel, welche in den ersten zwei Jahren über die Serie geschrieben wurden, so fällt auf, dass die meisten Kommentator*innen eine deutliche Verbindung zwischen der Serie und der politischen Situation in den USA zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung zu erkennen glauben. In einer im Herbst 2018 erschienenen Ausgabe des Film Quarterly, deren Cover ein Standbild aus der Serie zierte, vermerkte die Medienwissenschaftlerin Heather Hendershot, The Handmaid’s Tale sei nicht nur brillant geschrieben und umgesetzt, sondern stelle eine starke feministische Antwort auf das politische Klima in den USA dar (2018, S. 18). Nicht nur in Hendershots Text, sondern auch in vielen anderen Auseinandersetzungen mit der Serie, wurden klare Parallelen zwischen den erfolgten und zu befürchtenden Einschnitten in die Rechte US-amerikanischen Frauen, insbesondere im Bereich der Reproduktion, gezogen. Das misogyne Verhalten des damaligen US-Präsidenten sowie die fundamentalistisch-evangelikalen Einstellungen des Vize-Präsidenten in Gleichstellungsfragen schienen hierfür genügend Stoff zu bieten. Beth Elderkin nannte in diesen Zusammenhang gleich „10 Laws Straight out of The Handmaid’s Tale“, die 2017 in den USA bereits diskutiert wurden oder zur Anwendung kamen (2017, o. S.). In der liberalen Vereinnahmung der Serie wurden nach Ausstrahlung der ersten Staffel im Hinblick auf die politische Debatte vor allem zwei Möglichkeiten angeboten, die Serie einzuordnen. Einige Kritiker*innen verorteten die Serie als direkte Antwort auf Trump, während andere sie als Warnung vor einem möglichen ultra-konservativen Ruck betrachteten, der die USA zu einem Gilead unter Trump werden lassen könne. So konstatierte Diane Anderson-Minschall, die Serie sei im Vergleich zum Roman „even more prophetic today, especially for LGBT women, feminists, female scientists, atheists and liberals“ (2017, o. S.) Im New Statesmen attestierte Caroline Crampton in ähnlicher Weise: The Handmaid’s Tale forces us to consider the unthinkable consequences of misogyny on a national scale. Perhaps what begins as chants of “Lock her up!” at a political rally ends […] with women losing the right to vote, to own property and to determine what happens to their own body […] We want to watch it, because we fear that if we don’t, we won’t recognise the horror when it comes. (2017, S. 16–17)

Gleichzeitig ist das Kostüm der Magd, welches durch die Ikonografie der Serie popularisiert wurde, zu einem Symbol feministischer Proteste geworden. Frauen,

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gekleidet in langen roten Roben und weißen Hauben auf dem Kopf waren im ersten Jahr der Ausstrahlung unter anderem in Ohio, Texas und Missouri als stumme Warnung vor einer dystopischen Zukunft in den Parlamenten zu sehen, in denen währenddessen Debatten über mögliche Einschränkungen der Reproduktionsfreiheit von Frauen geführt wurden (The Telegraph 2019). Seit Start der Serie ist diese Ikonografie zu einem weltweit wiederzufindenden Bestandteil des Protests gegen eine solche Einschränkung von Frauenrechten avanciert – von Argentinien bis Kroatien, über Polen und Nord Irland (Beaumont and Holbuch 2018; Bell 2018; Bradley 2018) — und wurde von Emma Grey Ellis auf WIRED gar als „Guy Fawkes mask of 2019“ bezeichnet (2019, o. S.). Die Magd als Sinnbild für all das, was kommen könnte. Während die Nutzung der Ikonografie der Serie also als Zukunftswarnung verstanden werden kann, wurde The Handmaid’s Tale von anderen Kritiker*innen eher als direkte Reaktion auf Trump bewertet. Hendershot, beispielsweise, schreibt mehrfach von einer “response”—also einer Antwort. Sie begreift die Serie als „an allegorical response to the dystopian moment Americans have stumbled into“ (2018, S. 13) Die Serie wurde in dieser Lesart in einen direkten Dialog mit der damaligen Jetztzeit gesetzt und fungiert weniger als (fiktive) Zukunftswarnung. Dieses Gleichsetzen von The Handmaid’s Tale mit den USA unter Trump, das allegorische Lesen der Serie, die starke Vereinnahmung dieses fiktionalen Produkts als Erklärungsfolie für die damalige politische Situation oder auch als Warnung vor möglichen zukünftigen Entwicklungen, macht es den Kommentator*innen schwer die Serie als eigenständige Erzählung zu begreifen und so kritisch mit dem von ihr angebotenen Material umzugehen. Auffällig bei den meisten der frühen Auseinandersetzungen mit der Serie, und zum Teil auch bei der Aneignung ihrer Ikonografie, ist, dass anfänglich kaum eine Debatte dazu stattfand, ob und in wieweit The Handmaid’s Tale (als populär-kulturelles Produkt) tatsächlich als feministisch verortet werden kann. Die Bezeichnung „feministisch“ führte zunächst jedoch zu Diskussionen zwischen dem Macher der Serie und den beteiligten Schauspieler*innen, da diese das Wort nicht für ihre Produktion annehmen wollten während Kritiker*innen die Bezeichnung verteidigten.1 Viele Analysen erschöpften sich zunächst darin, zu erklären, dass eine Ablehnung der Bezeichnung „feministisch“ zum einen aus marktpolitischen Gründen stattfindet – Serien mit und über Frauen, dazu noch feministische, verkaufen sich, so der Hinweis, schlechter. Zum anderen wurde die Befürchtung geäußert, dass ein 1 Eine

Zusammenfassung der Diskussion und der unterschiedlichen Beweggründe beider Seiten liefert Loofbourow 2017.

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Fokus auf das Wort „feministisch“ keine Besprechung der Serie als Kunstprodukt zuließe (vgl. Handler 2017. o. S.; Schwartz 2017, o. S.). Beide Einschätzungen sind dabei nicht von der Hand zu weisen. So erschöpfte sich die Verortung der Serie als feministisch bei vielen der frühen Auseinandersetzungen darin, The Handmaid’s Tale als eine dystopische Zukunftsvision von Frauen zu bewerten, die in Teilen schon eingetroffen sei. Hierbei wurde, von der Serie begünstigt, von einem alle Frauen umfassenden Blick ausgegangen, ohne dabei eine weitere Differenzierung vorzunehmen. Dass dies jedoch zu einer Art Verklärung der Vergangenheit der USA beiträgt und die Schwachstellen, die auch die Neuerzählung des Klassikers aus den 1980ern aufweist, ausblendet, wird erst ab der zweiten Staffel vermehrt angesprochen. So spielten neben der visuellen Darstellung von Gewalt auch rassismuskritische Lesarten in den Rezensionen zunächst eine untergeordnete Rolle. Es kann konstatiert werden, dass viele dieser frühen Rezensionen in The Handmaid’s Tale fast schon eine Art feministisches Heilsversprechen verorten. Erst mit der immer expliziter werdenden Darstellung von Gewalt im Verlauf der Serie melden sich zunehmend Stimmen, welche die feministische Verortung der Serie hinterfragen (Lawler 2018a; b; Maher 2018; Sturges 2018; Zeisler 2018). Auch thematisieren zunehmend Stimmen die Leerstellen der Serie in Hinblick auf die Problematik race und kritisieren deren augenscheinliche Geschichtsvergessenheit (Berlatsky 2017; Jones 2017; Phoenix 2018; S. 206–208; Tonn 2019, S. 416; Gordon 2019). Die folgende Auseinandersetzung will genau hier einsetzen und eine Kritik sichtbar machen, die fragt um wessen Dystopie es sich bei The Handmaid’s Tale handelt und wer, ausgehend hiervon, als Adressat*in der Serie ein- und ausgeschlossen scheint. In einem ersten Schritt werden wir die Intersektionen von Sexismus und Rassismus im Serienmaterial untersuchen. Während diese Auseinandersetzung den narrativen Aufbau der Serie thematisiert, werden wir anschließend die visuelle Ebene des vorliegenden Materials näher diskutieren. In diesem Zusammenhang gehen wir der bereits im Titel angerissenen Frage nach, ob und in wieweit eine Einordnung der Serie als „torture porn“ (vgl. Bernstein 2018) gerechtfertigt ist und wie dies ihre Verortung als feministisch beeinflusst. Abschließend werden wir untersuchen, welche narrative Funktion lesbische und schwule Charaktere in The Handmaid’s Tale innerhalb der Gesamterzählung einnehmen.2 Obgleich dieser Dreischritt zunächst sehr umfangreich erscheint, dient er doch der Beantwortung der uns zentral erscheinenden Frage: Wessen Dystopie 2 Die erste Fassung dieses Beitrages entstand kurz nach der Veröffentlichung der ersten Staffel.

Unsere Analyse fokussiert daher primär Szenen der ersten Staffel. Zur besseren Einordnung der gewonnenen Erkenntnisse werden im Verlauf des Artikels vereinzelt Szenen aus Staffel zwei und drei für die weitere Analyse hinzugezogen.

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entwirft die Serie? Anders formuliert geht der vorliegende Text der Frage nach, ob und in wieweit die Serie die gleichen Ausschlüsse produziert, die der Romanvorlage in einer Reihe literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit dem Text zur Last gelegt wurden. Denn ähnlich wie der gleichnamige Roman, der The Handmaid’s Tale als Vorlage dient, scheint auch die Serie vor allem eine dystopische Zukunftsvision weißer, und wie der Dreischritt zeigen wird, heterosexueller Frauen zu entwerfen; spielt die Serie doch gerade mit ihren Ängsten, nicht aber mit ihrer Vergangenheit oder real existierenden Gegenwart.

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Aneignung rassistischer Gewalterfahrungen

Warum nun meinen wir, dass The Handmaid’s Tale sehr einseitig die Dystopie weißer Frauen darstellt? Nicht zuletzt macht die Serie doch bewusst von einer heterogenen Besetzung Gebrauch. Ausschlaggebend scheint uns in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die dargestellten Schwarzen Frauen, die entgegen der Romanvorlage ebenfalls in der Rolle der Magd auftauchen, die in der Serie beschriebenen Horrorszenarien als generationsübergreifendes Trauma in der eigenen Geschichte bereits verorten können. Dieses Trauma wird in der Serie jedoch weder benannt noch reflektiert. Wie Ron Eyerman in Cultural Trauma: Slavery and the Formation of African American Identity erläutert, bezeichnet das Wort Trauma in diesem Zusammenhang einen kulturellen Prozess, der maßgeblich zur Entstehung einer Afroamerikanischen Identität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beigetragen hat und diese bis heute unwiderruflich prägt. Fest im kollektiven Gedächtnis verankert, löste die Sklaverei ein kollektives Trauma aus, welches generationsübergreifend in Form verschiedenster Medienprodukte weitergetragen und manifestiert wurde (vgl. Eyerman 2001, S. 1). Anlehnend an die Buchvorlage nutzt die Serie dieses kollektive Gedächtnis an die Sklaverei und das breite Bildrepertoire bisheriger Darstellungen, wie sie im US-amerikanischem Film und Fernsehen vielfach zu finden sind. Darüber hinaus referenzieren sowohl das Buch als auch die Serie in ihrem Grundriss weitere kollektive Traumata der US-amerikanischen Geschichte. So spiegelt sich beispielsweise die gewaltvolle Entwendung und Umerziehung indigener Kinder in der Umerziehung der den Mägden entwendeten Kinder wider. Diese Entwendung war von 1875 bis 1928 offizielle Regierungspolitik, wurde aber bereits vorher praktiziert und fand noch bis in die 1950/1960er Jahre durch eine gezielte Platzierung indigener Kinder in nicht indigenen Pflegefamilien statt (vgl. Adams 1995; Carasik und Bachman 2019, S. 97–117).

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In der Tat verweist Margaret Atwood in Interviews immer wieder auf diese Anleihen, leider ohne diese im Roman zu entschlüsseln oder genauer zu thematisieren. Wie Noah Berlatsky in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Buch anmerkt: “the novel’s horror is a nightmare vision in which white, collegeeducated women like Atwood are forced to undergo the experiences of women of color” (2014, o. S.). Das Opfernarrativ, welches Atwood entworfen hat, existiert daher im „historischen und kausalen Vakuum“ (Merriman 2009, o. S.), obgleich es einer spezifischen Positionierung bedarf. Die Serie verstärkt dieses Vakuum noch einmal, indem weiße Charaktere der Romanvorlage von Schwarzen Schauspieler*innen dargestellt werden, jedoch auf die maßgeblichen Effekte dieser Entscheidung nicht eingegangen wird. So werden Schwarze Charaktere in The Handmaid’s Tale hauptsächlich genutzt, um das Profil der Protagonistin zu schärfen und weiterzuentwickeln. Ein Fokus auf die eigene Geschichte, und somit auf die durch Gewalt geprägte Geschichte des Landes, erfolgt nicht. Während sich der Roman Schwarze Geschichte bewusst aneignet, um sie in seiner dystopischen Zukunftsversion auf den weißen Frauenkörper zu projizieren, werden in der Serie weiße Frauen und Schwarze Frauen gleichermaßen in dieser Dystopie verortet. Obgleich die Besetzung zunächst progressiv erscheinen mag, werden spezifische Erfahrungen von Diskriminierung, die durch die Intersektionen von gender und race (sowie gender und class) entstehen und auf eine lange Historie von Gewalt gegen Schwarze Körper zurückzuführen sind, unsichtbar gemacht. Eine differenzierte Auseinandersetzung, in der die gewaltsame Geschichte der USA als Grundstein des Systems Gilead thematisiert wird, erfolgt nicht. Die Entscheidung der Serienmacher im Namen der Förderung von Diversität in Hollywood, den Aspekt der weißen Vormachtstellung, welcher im Roman tragend für die Ideologie dieser fundamentalistischen Religionsdiktatur ist, fallen zu lassen, erscheint daher mehr als unglücklich. Auf diese Kritik angesprochen, rechtfertigte Produzent Bruce Miller seine Entscheidung in einem Interview mit dem Magazin TIME mit folgender Gegenfrage „What’s the difference between making a TV show about racists and making a racist TV show where you don’t hire any actors of color?” (Dockterman 2017, o. S.). Dass eine Beibehaltung des rassistischen Grundbaus von Gilead aber nicht gleichzusetzen ist mit einer rein weißen Serie, scheint dem kreativen Kopf nicht bewusst zu sein. Da die Serie in weiten Teilen vom Originalmaterial abweicht oder dieses weiterdenkt, wäre beispielsweise eine Erzählung naheliegend gewesen, welche die im Roman nur kurz erwähnte „Resettlement of the Children of Ham“ in das „National Homeland One“ (Atwood 1998, S. 83) mit in den Blick nimmt. Das Potenzial der Serie, die Romanvorlage durch eine rassismuskritische Auseinandersetzung zu erweitern, ist in diesem Fall verschenkt worden.

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Während der Roman aus den 1980er Jahren Rassismus am Rande seiner Erzählung als ein bestehendes Phänomen bestätigt, reimaginiert die Serie Gilead als post-rassistische Gesellschaft. Die Serie verschließt sich so gänzlich dem Thema Rassismus – eine Entscheidung, die sowohl in Anbetracht des anhaltenden Rassismus als auch des Aufkochens weißen Nationalismus in den USA fragwürdig erscheint. In diesem Zusammenhang erscheint es daher auch fraglich, ob es der Serie wirklich gelingt, das politische Klima der Trump Jahre einzufangen oder gar eine Antwort darauf zu geben. Die Kommentatorin Soraya Nadia McDonald kritisiert die Entscheidung, die Grundidee weißer Vorherrschaft dem Glaubenskonstrukt von Gilead zu entziehen, zudem als zutiefst unlogisch. Mit Verweis auf die entmenschlichenden Rassismen gegenüber schwarzen Menschen, die sich über Jahrhunderte in das US-amerikanische Unterbewusstsein eingeschrieben haben, merkt sie an: [Getting rid of white supremacy] ignores historical evidence that when white people feel existentially threatened, some double down on their prejudices, and it ignores how religious fundamentalism has been used to justify such prejudices and their incorporation into American institutions. (2017, o. S.)

Ohne weitere narrative Einbettung eine integrierte theokratische Gesellschaft darzustellen, bricht, so lässt sich festhalten, nicht nur mit der Logik des Romans sondern—dies erscheint hier wesentlich—mit dem gesellschaftskritischen Anspruch bzw. Zuspruch der Serie. Die Serie vermag es trotz heterogener Besetzung nicht, die langen Linien von Hass und Gewalt gegenüber people of color, und somit auch women of color, zu thematisieren und der Republik von Gilead somit eine größere historische Einordnung zu verleihen. Gewalt, egal in welcher Form, wird in der Serie kaum kontextualisiert, nicht situiert, und kann, da June der primäre Fokus ist und Momente der sexualisierten Gewalt fast ausschließlich durch sie erfahrbar gemacht werden, als fürchterliche Zukunftsvision bestehen bleiben. Durch diese Enthistorisierung wird ein rein weißer feministischer Blick fortgeschrieben.

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Vom„weiblichen“ Blick zu einer Ästhetik der Gewalt

Auch in der visuellen Umsetzung der Serie bleibt eine weiße Perspektivierung bestehen. Durch ihre extremen Nahaufnahmen lädt uns die Serie ein, der weißen Protagonistin June zu folgen, direkt unter ihre Haube zu blicken und uns durch die geschaffene Intimität so mit ihr zu identifizieren. Aspekte und Figuren um die

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Protagonistin herum geraten hingegen leicht in den Hintergrund und drohen wortwörtlich bzw. bildlich zu verschwimmen. Durch den bonnet view („Haubenblick“) wird in der Jetztzeit der Erzählung ein beinahe klaustrophobischer Effekt erzeugt, der die Isolation Junes visuell unterstreicht. Minutiöse und teils minutenlange Aufnahmen ihres Gesichtes ermöglichen es den Zuschauer*innen, in die Gefühlswelt der Protagonistin einzutauchen, ohne diese fest durch Worte zu definieren. Gefühle wie Einsamkeit und Verzweiflung werden durch die extremen Großaufnahmen primär bildlich dargestellt. Die inneren Monologe, die den Roman kennzeichnen, finden in der Serie deutlich weniger Verwendung. Durch die starke Fokussierung auf ihre Bildsprache eröffnet die Serie den Zuschauer*innen trotz voice over daher viel Raum zur freien Interpretation. Im Unterschied zur Textvorlage, in der Junes Handlungen und Gedanken kontinuierlich erweitert und reflektiert werden, überlässt die Serie die Einordnung und Reflektion des Gesehenen in großen Teilen den Zuschauer*innen. Angesicht der ausdruckstarken schauspielerischen Leistung Elisabeth Moss’ stellt dies eine der größten Stärken der Serie dar. Allerdings birgt die starke bildliche Fokussierung auch das Risiko, dass insbesondere Szenen von Gewalt ohne weitere Kontextualisierung rezipiert werden. The Handmaid‘s Tale verwendet auffällig viele flache Bilder, bei denen der Bereich der Schärfentiefe besonders klein ist. In wiederkehrenden Rückblenden gelingt es der Serie so durch ihren shallow focus das Risiko darzustellen, welches entsteht, wenn die eigene Umwelt nicht genau wahrgenommen und daher Gefahren nicht rechtzeitig abgewendet werden können. Den Charakteren gelingt es in den gezeigten Flashbacks erst zu spät, die sich zuspitzende Situation um sie herum zu erkennen und richtig einzuordnen. Passend hierzu wird es durch begrenzte Bildausschnitte und einen unscharfen Hintergrund den Zuschauer*innen verwehrt, die weitere Umgebung der Charaktere genauer zu betrachten. Die Geschehnisse können so erst verstanden werden, wenn sie sich in unmittelbarer Nähe zu den Hauptcharakteren abspielen. Die begrenzten Bildausschnitte und wechselnden Bildschärfen werden auf diese Weise sowohl in den Rückblenden als auch in der Jetztzeit der Erzählung genutzt, um das Risiko einer begrenzten Wahrnehmung zu thematisieren und visuell erfahrbar zu machen. Wie bereits in anderen vermeintlichen „Qualitätsserien“, bedient sich auch The Handmaid’s Tale dabei einer zuvor durch das Medium Film etablierten Ästhetik, die die Serie von anderen Produktionen abzugrenzen sucht (McCabe und Akass

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2007, S. 26).3 Aufgrund der oben beschriebenen Effekte wird die spezifische Ästhetik, die in The Handmaid’s Tale zur Anwendung kommt, zudem von einigen Kritiker*innen als „radikal feministisch“ beschrieben (Petersen 2017, o. S.) Diese Lesart basiert, so stellt Anne Helen Petersen fest, auf der Rezeptionserfahrung früherer Filme wie Kelly Reichardts Meek’s Cutoff (2010) und Sofia Coppolas Marie Antoinette (2006), die eine ähnliche Ästhetik nutzen, um weiblichen Erfahrungen von Unterdrückung und Marginalisierung visuell Ausdruck zu verleihen (2017, o. S.). Während Petersen entlang dieser Bildtraditionen in The Handmaid’s Tale einen sogenannten „weiblichen Blick“ auszumachen sucht (2017, o. S.), den sie extra- sowie intradiegetisch begründet, weist Produzent Bruce Miller explizit auf die Mitwirkung von Frauen an der Produktion hin: „Our show’s a bit of an outlier because there was such a huge push from [us], and me personally, to hire women at every single level. […] Through the first season you really recognize the difference between a female director’s eye and a male director’s eye, because we had all female directors.“ (zitiert in Hendershot 2018, S. 13)

Die Zuschreibung einer dezidiert „weiblichen“ Kinematographie ist aus mehreren Gründen problematisch, nicht zuletzt da Filmdramen wie 12 Years a Slaves (2014) und The Dark Knight Returns (2012) deutlich machen, dass ähnliche Techniken der Bildaufnahme von männlichen sowie weiblichen Filmschaffenden zur Darstellung verschiedenster Themen genutzt werden. Die Kameraführung von Frauen als „weiblich“ zu lesen und diese zugleich als feministisch zu verorten, scheint daher fragwürdig. Stattdessen entsteht ein bitterer Beigeschmack, schmückt sich Miller hier doch recht offensichtlich damit, dass er weibliche Akteurinnen an der Produktion beteiligt. Millers essentialistischer Geschlechterblick wird in weiteren Interviews untermauert; so wiegelt er kritische Nachfragen unter anderem mit der Aussage ab, an der Serie seien nicht nur bei der Kameraführung, sondern bereits beim Team der Drehbuchautor*innen in der Mehrzahl Frauen beteiligt. Die goldene Regel bei der Produktion von The Handmaid’s Tale sei, so Miller: „diversity over experience“ (Grant 2017, o. S.) Trotz offensichtlicher Bemühungen im Bereich der Gleichstellung weist jedoch genau jene begriffliche Gegenüberstellung auf ein grundlegendes Problem der Serie hin. Diversität und Erfahrung, so sollte klar sein, sind nicht unvereinbar; genauso wenig steht der Einsatz weiblicher Fernsehakteurinnen in einem immanenten Widerspruch zu der Weiterführung alt-tradierter Erzählmuster und Bilder. Wie 3 Für

eine nähere Erläuterung des Begriffes „Qualitätsfernsehen“ siehe Thompson 1997, S. 13 ff. Eine kritische Reflektion des Begriffes erfolgte zudem in einem früheren Band dieser Buchreihe (vgl. Frotscher und Wegner 2017).

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Katja Kanzler und Brigitte Georgi-Findlay treffend formulieren, gehören die objektifizierende Darstellung von Frauen und Inszenierungen der Gewalt gegen eben jene, trotz immer neuer Grenzüberschreitungen in der bildlichen Umsetzung, „zu den ältesten Hüten in der Film- und Fernsehgeschichte“ (2018, S. 3). Zugegebenermaßen gelingt es der Serie, diese altbekannten Bilder von Gewalt und Zurschaustellung neu zu verpacken und so die Zuschauer*innen zu fesseln. Es ist in der Tat die „Schönheit“ der Darstellung, die trotz des dystopischen Materials immer wieder in den Vordergrund von Analysen der Serie rückt. So schreibt Petersen, die Serie sei so schön, dass es trotz des furchtbaren Leidensweges der weiblichen Charaktere kein Entkommen gebe. In einem Interview beschreibt Hauptdarstellerin Elizabeth Moss diesen Effekt wie folgt: “perhaps something horrible was happening in the image, but the image was so beautiful that you couldn’t look away” (zitiert in Juan 2017, o. S.). In ähnlicher Weise konstatiert auch Julia Leyda, es sei der Film-Ästhetik der Serie zu verdanken, dass Zuschauer*innen trotz der trostlosen Grundstimmung am Ball bleiben und eine gewisse Lust am Schauen entwickeln (2018, S. 179). Obgleich die Serie den Zuschauer*innen diesen ästhetischen Genuss bietet, stellt die „Schönheit“ der Serie—der shallow Fokus, die wundervolle Belichtung, und das reiche Farbtableu—jedoch nur einen Aspekt der visuellen Inszenierung dar. Nicht zuletzt bietet die Serie ihren Zuschauer*innen auch eine visual pleasure, die über die vermeintliche „Schönheit“ der Serie hinausgeht. Dies tut sie, in dem sie den Leidensweg ihrer weiblichen Charaktere gnadenlos ästhetisiert und Gewalt gegenüber Frauen als Spektakel inszeniert. Primär kommerziell geleitet, dient dieses Spektakel dazu, sich von anderen Serien und den eigenen vorhergegangenen Folgen abzusetzen. Statt wie im Buch zu sterben, überleben so Nebencharaktere wie Emily und Janine in der Serie, jedoch nur um immer weiteres Leid zu erfahren. Ihr Leid scheint dabei nur als Hintergrundmusik zu dienen bzw. als Chance für die Protagonistin, sich als Heldin zu beweisen. Besonders deutlich wird dies in der ersten Staffel durch den Erzählstrang rund um die Figur der Janine, die allein durch Junes Rückhalt zunächst von einem Suizid abgehalten wird und kurz darauf einem Tod durch Steinigung entgeht. Während zu Beginn der Staffel der gewaltvolle Akt, mit dem Janine ihr rechtes Augenlicht genommen wird, nur angedeutet ist (S. 1 E1 „Offred“), zeigt die Serie zum Ende der ersten Staffel minutenlange Szenen, in denen Janine zunächst verzweifelt versucht, der zeremoniellen Vergewaltigung im Haus ihres neuen Kommandanten zu entgehen (S. 1 E9 „The Bridge“), nur um sich später den Misshandlungen von Tante Lydia hingeben zu müssen (S. 1 E10 „Night“). Wichtig erscheint uns hierbei, dass die dargestellte Gewalt dem feministischen Unterton der Serie durchaus entgegenläuft. Die Serie kommt, so scheint es, aus

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der Welt, die sie darstellt und zu kritisieren versucht, selbst nicht heraus. Dies wird insbesondere deutlich in Folgen wie „Late“ (S. 1 E3), in der Szenen von Gewalt über Minuten hinweg und exzessiv eingesetzt werden. Dabei ist anlehnend an Alice Vincents Kritik im Telegraph hervorzuheben, dass die ausführlichen Darstellungen von Gewalt in dieser Episode nicht nur in der Romanvorlage fehlen, sondern auch die Erzählung als solches nicht voranbringen (vgl. Vincent 2017). Während June zunächst von Tante Lydia mit dem elektronischen Viehtreiber gequält wird und dann die Wut Serena Joys am eigenen Körper erfährt, wird ihre bisherige Begleiterin Emily Zeugin der Hinrichtung ihrer Geliebten und, darauffolgend, Opfer einer Genitalverstümmelung. Es sind diese extremen Darstellungen von Gewalt, die einen besonderen Reiz der Serie ausmachen und sie gleichzeitig für manche Zuschauer*innen so unerträglich werden lässt. So beklagen Kritiker*innen wie Fiona Sturges und Rebecca Reid, insbesondere mit Blick auf die nunmehr zweite Staffel, die Serie sei ein „torture“ oder auch „misery porn“ und nicht weiter rezipierbar (Sturge 2018, o. S.; Reid 2018, o. S.). Die Serie spricht dabei—so geht aus den Reaktionen dieser kritischen Stimmen hervor— nur ein Publikum an, welches nicht der Gefahr ausgesetzt ist, re-traumatisiert zu werden und/oder noch immer eine gewisse Distanz zu den gezeigten Gewalttaten aufrechterhalten kann. Daran anschließend scheint es sinnvoll zu hinterfragen, ob weibliche Erfahrungen von Gewalt einem solchen Publikum wirklich nur durch das direkte Sehen und Betrachten erfahrbar gemacht werden können oder sollten. Während diese Kritik unter anderem von der Hauptdarstellerin Elizabeth Moss belächelt und abgelehnt wird, so weist sie doch auf ein weiteres grundlegendes Problem der Serie hin. So stellt sich die Frage, in wieweit wiederholte Darstellungen von Gewalt gegenüber Frauen wirklich dazu beitragen, über Veränderungen und gesellschaftlichen Wandel nachzudenken. Es ist schwer, so bringt es Arielle Bernstein im Guardian auf den Punkt, eine Welt ohne weibliches Leiden zu imaginieren, wenn populärkulturelle Texte wie Fernsehserien immer wieder auf weibliches Leid als Motiv zurückgreifen (2018, o. S). Für viele Frauen auf der Welt ist die dargestellte Gewalt zudem noch immer zu real, um die formale Schönheit der Serie genießen zu können. Folglich drängt sich die Frage auf, ob das Gewaltspektakel, welches sich in The Handmaid’s Tale vor unseren Augen entfaltet, nicht vom eigentlichen Kern der Erzählung abweicht. Mit Blick auf westliche Erzählkonventionen ist festzustellen, dass es schlichtweg einfacher scheint, Geschichten der Entbehrung und der Not über einen längeren Zeitraum in serieller Form zu erzählen als Geschichten der Befreiung zu imaginieren. In der Tat scheint die Serie an Aussagekraft zu verlieren, weil sie Gewalt an weiblichen Körpern zu sehr für kommerzielle Zwecke im Rahmen einer seriellen Überbietung instrumentalisiert. Schenkt man

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Brad Evans und Henry Giroux’ Buch Disposable Futures: The Seduction of Violence in the Age of Spectacle Aufmerksamkeit, so ist generell für Darstellungen von Gewalt in der anglo-amerikanischen Populärkultur festzustellen: The spectacle of violence represents more than the public enactment and witnessing of human violation. It points to a highly mediated regime of suffering and misery, which brings together the discursive and the aesthetic such that the performative nature of the imagery functions in a politically contrived way. In the process of occluding and depoliticizing complex narratives of any given situation, it assaults our senses in order to hide things in plain sight. The spectacle harvests and sells our attention, while denying us the ability for properly engaged political reflection. The spectacle immerses us, encouraging us to experience violence as pleasure such that we become positively invested in its occurrence, while attempting to render us incapable of either challenging the actual atrocities being perpetrated by the same system or steering our collective future in a different direction. (2015, S. 32)

Anders formuliert bergen Serien wie The Handmaid’s Tale, die Gewalt als Spektakel inszenieren, nicht nur die Gefahr der Desensibilisierung, sondern Zuschauer*innen wird zugleich ein Verlangen nach immer spektakuläreren Darstellungen von Gewalt antrainiert. Natürlich sollte eine solche Kritik, wie sie Evans und Giroux hier textübergreifend formulieren, immer am einzelnen Text erprobt werden und davon abhängig sein, wie Gewalt dargestellt und inszeniert wird. Im selben Moment scheint es jedoch problematisch, wenn das, was gezeigt wird, an Gewichtung verliert und die Frage, wie etwas gezeigt wird, alleinig in den Vordergrund tritt. Trotz grandioser Luftaufnahmen, den gelungenen close up shots und Elizabeth Moss zweifellos bewundernswerten Schauspielleistung konfrontiert The Handmaid’s Tale ihre Zuschauer*innen letztendlich mit sich immer wiederholenden Szenen von sexualisierter, physischer und psychischer Gewalt, die zumindest bei einem Teil der Zuschauerschaft in ihrer eigentlichen Ernsthaftigkeit, so scheint es, nicht wahrgenommen werden (vgl. Vagianos 2018, o. S.). Dabei ist es gerade jene Gefahr der Verrohung, die der Serientext anlehnend an die Romanvorlage so treffend zu beschreiben und kritisieren vermag: “Ordinary, said Aunt Lydia, is what you are used to. This may not seem ordinary to you now, but after a time it will. It will become ordinary.” (Atwood 1998 S. 33; The Handmaid’s Tale S. 1 E1 „Offred“).

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Homophobie als Motiv

Wie nunmehr dargelegt, kann The Handmaid’s Tale lediglich als dystopische Zukunftsvision bestimmter, von körperlicher Gewalt unbetroffener, weißer Frauen verortet werden. Durch eine Analyse des Motivs der Homophobie, welches einen festen Bestandteil der Serie darstellt, kann diese Aussage noch weiter qualifiziert und die Serieninterpretation so noch weiter ihrer Allgemeingültigkeit als „feministische Dystopie aller Frauen“ enthoben werden. Homophobie wird in The Handmaid’s Tale nicht nur durch die offen lesbischen Charaktere Moira und Emily narrativ verhandelt, sondern stellt auch ein an sich wiederkehrendes visuelles Element dar. Es ist zunächst diese visuelle Ebene, die ein teilweise historisches Bildarchiv homophober Gewalt aktiviert. Bereits die erste Folge wartet mit einer eindrücklichen Szene auf: an der Wand, welche Offred (June) und Ofglen (Emily) abschreiten, hängen drei Körper, wie June anmerkt: „A priest, a doctor, a gay man.“ Die Köpfe der drei Leichen sind mit Säcken bedeckt, auf dem des schwulen Mannes prangt ein rosa Winkel, der ihn als homosexuell markiert. Die Bildsprache, die hier verwendet wird, lässt Assoziationen auf mehreren Ebenen zu. Zum einen ist das Symbol des rosa Winkel eine klare Referenz auf seine ursprüngliche Verwendung während des Dritten Reichs, wo das Dreieck mit der nach unten gedrehten Spitze verwendet wurde, um homosexuelle Männer in Lagern zu kennzeichnen. Gleichzeitig verweißt dieses Symbol, in der Form, in welcher die Serie es abbildet (Spitze nach oben) aber auch auf Ereignisse der US-amerikanischen Geschichte jüngeren Datums: der rosa Winkel steht in diesem Zusammenhang für queeren Aktivismus in den frühen Tagen der AIDS-Krise. Eines der bekanntesten Symbole aus jener Zeit ist auch heute noch das rosa Dreieck vor schwarzen Hintergrund, begleitet von den Worten „SILENCE = DEATH“ (Schweigen = Tod) in weißer Schrift, welches von Act Up (AIDS Coalition to Unleash Power) ab 1987 als ein Weckruf verbreitet wurde (vgl. Act Up 2018; Smith und Gruenfeld 1998). Die Serie vermischt durch ihre spezifische Anordnung des Winkels seine verschiedenen Bedeutungen, entmenschlichend und entindividualisierend auf der einen Seite und Zeichen von homosexueller Selbstermächtigung auf der anderen. Der bekannte Slogan „Silence = Death“ fügt der Szene eine weitere Bedeutungsebene hinzu und macht sie als Warnung von mehreren Seiten lesbar. Neben der bedeutungsschweren Verwendung des rosa Winkels ist auch die Art und Weise wie die Leichen gezeigt werden, erhangen und die Köpfe mit Säcken bedeckt, als Querverweis lesbar. Der gehängte schwule Mann, über den wir nie etwas erfahren, fungiert als stumme Mahnung an der Wand und steht als visueller Code für den fundamentalistischen Horror von Gilead, indem er auf

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ähnliche, reale Bilder verweist. Diese Verbindung wird in der dritten Folge (S. 1 E3 „Late“) klarer herausgearbeitet. Emily, die in Gilead eine verbotene Beziehung zu einer Martha unterhält, wird als gebärfähige Magd mit einer Kliterodektomie bestraft, während die Martha für die „gender treachery“ der beiden gehängt wird.4 Neben den meist kommentarlos gezeigten erhängten schwulen Männern, erinnert die Bildsprache, die bei der Hinrichtungsszene der Martha Verwendung findet, ganz dezidiert an Hinrichtungsszenarien schwuler Männer in Saudi Arabien oder im Iran. Mit diesem Bildarchiv bewegt sich The Handmaid’s Tale in der ersten Staffel in einem interessanten Spannungsfeld. Zum einen verweisen der rosa Winkel und die erhängten schwulen Männer sowie die namenlose Martha auf Gesellschaften außerhalb der USA, auf das Anderssein, das nicht-amerikanisch-Sein homophober Gewalt. Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Momente, die diese Art von tödlichem Hass ganz in der US-amerikanischen Kultur verorten. Beispielhaft hierfür stehen die an die Häuser gesprühten Warnungen und homophoben Hassbotschaften („God hates fags“), welche immer dann zu sehen sind, wenn Charaktere sich durch die „gesäuberten“ Außenbezirke von Gilead bewegen. Die Slogans sind bekannt, werden sie doch bei verschiedensten Protesten extrem evangelikaler Gruppen in den USA verwendet. Die erste Staffel der Serie bleibt trotz allem ambivalent und scheint sich zunächst, ähnlich wie im Umgang mit historischem Schwarzen Leid, der Elemente und Formsprache homophober Gewalt bedienen zu wollen, jedoch ohne weitere Kontextualisierung. Erhängte schwule Männer sind Motiv, nicht aber Thema. Ihre toten Körper stehen für eine sich hochgeschraubte Gewaltspirale. Eine Gewaltspirale, die im starken Kontrast zu der Zeit vor Gilead steht. Auch die lesbischen Charaktere scheinen zunächst nur als Illustration der Grauen Gileads zu fungieren. Anhand der zwei offen lesbischen Charaktere, Moira und Emily, wird die sich schrittweise fortsetzende Etablierung des Systems 4 In

der Serie kommen als queere Charaktere offensichtlich nur schwule, meist tote, Männer vor und lesbische Frauen. Trotzdem lassen sich die in Gilead verwendeten Begriffe von gender traitor und un-women und un-men auch im größeren Kontext von sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität lesen. Dass die Serienmacher nur lesbische Charaktere ausformen, schwule Charaktere meist nur stumme Zeugen sein lassen und trans Charaktere überhaupt nicht in der Serie auftauchen, ist sicher zu bedauern. Wie der runde Tisch vierer queerer Autor*innen auf Slate.com feststellte, wäre es sicher interessant zu sehen, wie das System Gilead mit trans Personen, den vermeintlich ultimativen gender traitors, umgeht. Auch der Frage, ob schwule Männer im System Gilead eine Chance haben, so lange sie nicht ‚geoutet’ sind, geht die Serie nicht nach (Wilson 2018, o. S.). So wie es jetzt steht, sind homosexuelle Menschen entweder Opfer, Überlebende, oder beides. Diese Charakterzeichnung einer gesamten Gruppe lässt Nuancen kaum zu.

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Gilead nachgezeichnet. Ein System, das durch die Unterdrückung und endgültige Auslöschung von nicht-heterosexuellen Menschen funktioniert, stellen diese doch durch ihre pure Existenz eine Bedrohung für den neuen Staat dar. Daher werden gerade sie, neben Ärzt*innen, Forscher*innen und Menschen anderen Glaubens, zu den prominentesten Zielscheiben. Sie werden gehängt, verstümmelt und in toxische Kolonien verbannt. Lesbische Charaktere werden so zu mahnenden Gestalten. So steht Moira, nachdem die Frauen ihre Arbeit verloren haben und all ihr Geld eingefroren ist, noch mittelloser und aussichtloser da als June. Diese hat immerhin einen Ehemann, ein Fakt der zeitweilig Sicherheit suggeriert. Moira hingegen ist der sprichwörtliche Kanarienvogel in der Kohlemine: Als Überlebensmöglichkeit schließt sie sich dem Untergrund an, ist für sie als lesbische Frau doch sonst die Zeit in Freiheit abgelaufen (vgl. S1 E3 „Late“). Zudem erfüllen sowohl Moira als auch Emily besonders in der ersten Staffel eine ganz bestimmte Funktion, sind sie doch maßgeblich für die Charakterentwicklung von June. Durch all das Erlebte hinweg bleibt Moira Junes „moral compass“, wie Moira Darstellerin Samira Wiley es nennt (Anderson-Minschall 2017, o. S.). Diese Zuschreibung zeigt sehr schön, welche Funktion nicht nur Moira, sondern zu einem gewissen Grad auch Emily, innehat. Sie, genau wie die Diskriminierungen, die sie erfahren, dienen June als Motivation: ohne Moira würde June nicht versuchen aus dem Red Center zu fliehen (S1 E4 „Nolite Te Bastardes Carborundorum“), ohne Moira würde June nicht im Untergrund aktiv werden können (S1 E8 „Jezebels“; S1 E9 „The Bridge“), ohne Emily’s Initiative, würde June ohne Gemeinschaft bleiben (S1 E2 „Birthday“). Damit bilden diese Frauen den Hintergrund, vor dem Junes Entwicklung stattfindet. Die Charakterzeichnung der beiden bleibt hierbei in der ersten Staffel eher schwach. Auch wenn The Handmaid’s Tale ihre prominentesten queeren Charaktere am Leben lässt, entgegen dem sogenannten ‚Bury Your Gays’ Trend in anderen US-amerikanischen Serien (GLAAD Media Institute 2018), und die zweite Staffel sowohl Moira als auch Emily mehr Zeit zum etablieren ihrer Geschichten einräumt, werden diese doch jeweils verhandelt, um den Unrechtsstaat Gilead in all seiner Grausamkeit zu entlarven (Himberg 2018, S. 196). Es geht also vordergründig nicht um die Momente der Diskriminierung und Verzweiflung, die in den Geschichten verhandelt werden, sondern um ihren symbolischen Wert innerhalb der Gesamterzählung der Serie. Hierin sehen wir auch den Zweck der dezidierten Thematisierung und Visualisierung von Homophobie innerhalb der Serie. Hass, Abwertung und Ermordung von lesbischen und schwulen Menschen werden nur in Streiflichtern als eigener Themenkomplex behandelt. Im Großen erfüllt ihre narrative und visuelle Aufarbeitung jedoch einen anderen Zweck. Homophobie erscheint uns in der ersten

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Staffel lediglich als ein wiederkehrendes untermalendes Moment in der Serie. Die Darstellungen von Homophobie werden so zu einer Art „Hintergrundmusik“ für das sich davor entfaltende Drama um June, Luke, Nick, Serena und Fred. Das durch Momente der Homophobie entstehende Bild- und Textarchiv funktioniert auf unterschiedlichen Ebenen, dies gilt innerhalb der Logik der Serie, als auch auf der Rezeptionsebene. Die dezidierte Diskriminierung und Ermordung von Homosexuellen steht, wie bereits erwähnt, zunächst für die Grausamkeit Gileads. Gleichzeitig, und dies wäre der hieraus erwachsene Umkehrschluss, wird damit eine Zeit pre-Gilead projiziert, in der sexuelle Minderheiten sicher und frei leben konnten. Wird The Handmaid’s Tale nun noch als Zukunftswarnung gelesen, wie von einigen Kritiker*innen befürwortet, bedeutet dies erneut eine gewisse Enthistorisierung der in Gilead stattfindenden Gewalt. Homophobie wird als Gilead-spezifisches Phänomen lesbar, das keiner kritischen Reflektion bedarf und bleibt daher eine Folie, vor der sich (heterosexuelle, neoliberale) dystopische Ängste entfalten und verstärken können. Hierarchien, die möglicherweise bereits vor Gilead existierten, können so unsichtbar bleiben, oder als weniger besorgniserregend eingeordnet werden. Hier verschwimmt nun die Grenze zwischen Fiktion und Jetztzeit in auffälligem Maße. Diese Lesart wird in der zweiten Staffel der Serie bestätigt und gebrochen zugleich, scheint sich die Serie doch der Geschichtsverankerung homophober Gewalt und Gesetzgebungen bewusster zu sein als noch in der ersten Staffel. Hier schafft die Serie eine Verkomplizierung, die sie bezüglich der Problematik race bis in die dritte Staffel nicht erreicht hat (vgl. Gordon 2019). In der zweiten Folge der zweiten Staffel (S. 2 E2 „Unwomen“) erfahren wir mehr über Emilys Leben vor Gilead. Mit Emilys älterem Vorgesetzten Dan kommt nun auch zum ersten Mal ein schwuler Mann zu Wort und ist nicht nur Staffage. In der Interaktion zwischen den beiden, die kurz nach der Machtergreifung der Sons of Jacob stattfindet, zeichnet sich sowohl die Ambivalenz der Serie als auch die zweier queerer Generationen ab. Während Dan Emily darum bittet nicht mehr so „offensiv“ lesbisch zu sein—sie verwendet ein Foto ihrer Frau und ihres Sohnes als Hintergrundbild auf ihrem Smartphone—ist Emily entsetzt über die neuen Entwicklung und sagt fast ungläubig „They can’t scare us back into the closet“, während sich Dan der Implikationen der neuen Machthaber durchaus bewusst ist. Er ist derjenige, der der Serie in diesem Moment Kontext verleiht, indem er äußert, er hätte gedacht zur letzten Generation zu gehören, die durch diesen „bullshit“ mussten. Diese Szene ist ein Schlüsselmoment der Serie, da sie hilft die homophobe Gewalt unter Gilead zu kontextualisieren und ihre Linien aufzuzeigen. Dans gewaltsamer Tod, er wird auf dem Universitätscampus erhängt und das Wort „faggot“ wird unter seinen Leichnam geschmiert, stellt eine vermeintliche

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Auslöschung dieses historischen Wissens um Machtlosigkeit und Verfolgung dar. Dass Dan, der von seinem Partner als Kollaborateur des neuen Systems bezeichnet wird, den Tod durch Erhängen findet, schließt auf subtile Weise die Klammer, die durch den erhängten Mann in der ersten Folge der ersten Staffel geöffnet wurde. Bedenken wir die zu dem rosa Dreieck gehörende Warnung „Silence = Death“, so wird dies fast zur rückwärtigen Prophezeiung, die durch den Tod von Dan versinnbildlicht wird. Zeitgleich scheint in dieser Episode und durch Emilys Geschichte die Gesellschaft vor Gilead zum Teil idealisiert zu werden. Vor Gilead ist Emily verheiratet und hat ein Kind mit ihrer Frau. Bis zu dem Moment am Flughafen, wo ihre Ehe von den neuen Machthabern als illegal erklärt wird und Emily nicht ausreisen darf, scheint sie kein größeres Problembewusstsein oder Problemdruck zu haben. Dass gleichgeschlechtliche Ehepartner*innen mit unterschiedlichen Staatsbürgerschaften Hürden bei Ein- und Ausreisen nehmen müssen, scheint in den USA vor Gilead kein Thema gewesen zu sein. Ob die Serie hier Emilys relativ privilegierten Status als gebildete, weiße Frau kommentiert, die Generationenvergessenheit bezüglich der eigenen queeren Geschichte hervorstellt oder die Zeit vor Gilead tatsächlich ein queeres Utopia sein soll, wird offengelassen. Tatsächlich liegen die Ängste, die dieses geballte Bild- und Textarchiv zum Thema Homophobie und homophober Gewalt bei dem einen oder der anderen nicht heterosexuellen Zuschauer*in auslösen könnte, nicht in ihrer Androhung einer negativen Zukunftsvision, sondern im Rückbezug auf das bereits Gewesene und noch Stattfindende. Es werden Erinnerungen an die noch nicht allzu weit zurückliegende Vergangenheit wach, in der Entrechtung und Diskriminierung von LSBTI Personen in all ihrer Form nicht nur staatlich gebilligt, sondern auch legitimiert war. Zugleich sind viele Aspekte andauernde Realität. So sind fast alle LSBTI Personen in den USA (und darüber hinaus) immer wieder verbalen und tätlichen, wie auch vermehrt staatlichen Attacken ausgesetzt.5 Himberg schlussfolgert hierzu, dass die Serie mit ihrer Darstellung von Homophobie und homophober Gewalt daher weder neue Tropen bedient, noch neue soziale Ängste präsentiert (2018, S. 197). Homophobie sowie Transphobie in all ihren Facetten sind weiterhin Lebensrealität vieler und bei weitem nicht nur dystopischer Szenarien. Daher lässt sich durchaus fragen, ob die konstante Verwendung des erwähnten Bild- und Textmaterials das Gefühl des Anders-Seins von LSBTI Personen verstärkt. Wie auch Wiley, 5 Zu erwähnen sind hier beispielsweise die so genannten „Religious Freedom Acts“ mehrer US

Staaten, welche die Verweigerung von Dienstleistungen und Anstellung von LSBTI Personen aufgrund religiöser Einstellungen zulassen würde.

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die als offen lesbische Schauspielerin zu einer Art Ikone der LSBTI-Community aufgestiegen ist, in dem bereits erwähnten Interview zugeben muss: „It’s a little too real, and it’s a little hard to watch. … It does seem a little too close for comfort.” (Anderson-Minschall 2017, o. S.). Eine einfache Rechnung, die die Zeit vor Gilead rein positiv belegt, damit Gilead umso schrecklicher erscheinen kann, geht an dieser Stelle nicht auf und lässt den Einbezug der lesbischen (und schwulen) Charaktere und Storylines holzschnittartig wirken.

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Fazit

Um wessen Dystopie handelt es sich bei The Handmaid’s Tale nun? Kann die Serie, mit Blick auf ihre Vergessenheit historischer sowie gegenwärtiger Rassismen, ihrer hochstilisierten und ästhetisierten Gewaltzeichnungen sowie der Instrumentalisierung des realen Erinnerungsarchivs homophober Gewalt eine rein warnende (dystopische) Zukunftsvision für alle Frauen sein? Unterzieht man The Handmaid’s Tale einer intersektional-feministischen Kritik, wird mehrfach ersichtlich, dass ihre heterogene Besetzung und vermeintlich diversen Storylines einem kritischen Blick nicht standhalten. The Handmaid’s Tale „vergisst“ auf wessen Gewalterfahrungen sie rekurriert und hinterlässt zu sehr den Eindruck, vor Gilead eine durchweg gleichberechtigte Gesellschaft gewesen zu sein. Somit verwischt sie die eigenen Spuren und entbindet sich sämtlichem Kontext und politischer Verpflichtungen, welche ihr so oft wohlheißend zugesprochen werden. Jede Dystopie trägt in ihrem Umkehrschluss eine Utopie in sich, die Möglichkeit einer anderen Welt als der dargestellten. The Handmaid’s Tale lässt die Zuschauer*innen von einem besseren, egalitären „Davor“ ausgehen, welches graduell nach der Machtübernahme zerstört wurde. Das „Davor“, so scheint es schenkt man einigen Kritiker*innen Aufmerksamkeit, ist das „Jetzt“, welches es zu bewahren gilt. Doch wenn das in The Handmaid’s Tale zukünftig Erscheinende für viele bereits geschehen ist oder noch passiert, welche Aussagekraft hat der Text dann? Sind Darstellungen von Diskriminierung, Unterdrückung und (sexualisierter) Gewalt erst dann wirklich schockierend, wenn sie durch eine bestimmte Gruppe Frauen verhandelt werden? The Handmaid’s Tale wird durch die Ambivalenz des gezeigten Materials nur für eine spezifische Gruppe als feministischer, vielleicht sogar emanzipatorischer Text lesbar sein. Wer sich mit June und dem Frauenbild, für das sie steht, nicht identifizieren kann, der oder dem wird eine anderweitige Identifikation schwierig gemacht. Wie Lena Wilson in einem Austausch über die Serie anmerkt, als queere Frau fühle sie sich “like I’m in an emotionally abusive relationship with this show, because in a lot of ways it’s like

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it’s not “for” me, even though it should be” (Wilson et al. 2018, o. S.). Die Serie ‘repräsentiert’ zwar unterschiedliche weibliche Charaktere, verwischt im gleichen Moment aber ihre Unterschiede. Übrig bleibt eine alles vereinnahmende weiße, heterosexuelle Perspektive, die am deutlichsten in June ihren Ausdruck findet. Es bleibt zu konstatieren, dass The Handmaid’s Tale das Potenzial, welches der Roman durchaus mit sich bringt, in weiten Teilen leider nicht ausschöpft. Dies ist in sofern ärgerlich, da die Erzählung in ihrer Adaption für das Fernsehen und der dadurch nötigen Anpassungen genug Raum geboten hätte, sich noch einmal kritisch mit dem Originaltext auseinanderzusetzen. So bleibt Hulu’s The Handmaid’s Tale, unseres Erachtens nach, ein relativ exklusiver Text. Eine intersektional orientierte, feministische Serie würde intradiegetische Kritik des eigenen Materials zulassen und versuchen, die langen, historischen Linien der dargestellten Gewalt zu beleuchten; beispielsweise durch eine polyvokale Erzählung, in der auch die Gedanken anderer Charaktere noch stärkeren Einzug erhalten. Des Weiteren wirft auch das Bildmaterial, von einem feministischen Standpunkt aus, Fragen auf. Eine kritische Reflektion des Mediums wäre durchaus denkbar gewesen, insbesondere im Hinblick auf die Visualisierung von Gewalt hätten andere Darstellungsmöglichkeiten ausgelotet werden können. Wie sie ist, bleibt die Serie bekannten visuellen Darstellungsformen verhaftet, die in ähnlicher Form auch anderweitig im sogenannten „Quality TV“ zu finden sind. Leider schafft es The Handmaid’s Tale nicht, einen Gegenentwurf zu den häufig durch männliche Protagonisten geprägten Qualitätsserien zu schaffen. Ein feministischer Gegenentwurf zu diesem von Gewaltdarstellungen geprägten Stil sähe in der Tat anders aus.

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The Handmaid’s Space. Zu Maßstäben und Orten in The Handmaid’s Tale Matthias Naumann und Nicole Raschke

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Einleitung

„I use a lot of drone (…) so that there are small people – big space. (…) I was tryin’ to use as much negative space or call it open space to give a sense of scope and scale. Always little people and a big fast universe.“ Kari Skogland unter https://www.youtube.com/watch?v=ehjA5mvgLf0 Das Zitat einer der Regisseur*innen von The Handmaid’s Tale veranschaulicht die Bedeutung von Raum, räumlichen Maßstäben und deren Wahrnehmung in der Produktion der Serie. Warum sind gerade Orte und Maßstäbe in ihrer künstlerischen Ausgestaltung so grundlegend für die Serie? Hier kann eine humangeographische Perspektive anschließen, die nach der Produktion von Raum in, durch und über Filmen fragt. Eine kritische Geographie, die Visualisierung als fachspezifischen Habitus versteht, verwendet, analysiert und reflektiert raumbezogene Darstellungen, z. B. im Hinblick auf deren impliziten und expliziten Gehalte (Schlottmann und Miggelbrink 2015, S. 17). Geltende Normen und Deutungshoheiten werden auf damit verbundene Machtverhältnisse, die auch auf räumlich-visuelle Produktionen zurückgehen, untersucht. Dabei versteht eine kritische Geographie Maßstabsebenen (scale) und Orte (place) als grundlegende M. Naumann (B) · N. Raschke TU Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] N. Raschke E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021, Korrigierte Publikation 2022 A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3_6

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Kategorien der räumlichen Dimensionierung und Organisation von Gesellschaft (Jessop et al. 2008). Aus geographiedidaktischer Sicht sind scale und place Basiskonzepte, die als Instrumente der Erkenntnisgewinnung oder erkenntnisleitende Ansätze (Köck und Rempfler 2004) in komplexen Frage- bzw. Problemstellungen fungieren. Sie sind Werkzeuge einer disziplinären Perspektive, mit der die Welt interpretiert wird (Taylor 2011; Uhlenwinkel 2013). Der Beitrag nutzt die konzeptionellen Zugänge von scale und place, um danach zu fragen, welche Rolle räumliche Maßstäbe und Orte in The Handmaid’s Tale spielen. Wir möchten untersuchen, welche Maßstäbe und Orte in der Serie vorkommen, wie diese inszeniert werden und welche Aussagen sich daraus über die dargestellten Verhältnisse in Gilead ableiten lassen. Hierfür geben wir zunächst eine Einführung in die humangeographische Debatte um scale und place, um anschließend an ausgewählten Beispielen aus The Handmaid’s Tale die räumliche Skalierung und die Bedeutung konkreter Orte in der Serie zu diskutieren. Dabei ergänzen wir diese Analyse mit Zitaten aus dem gleichnamigen Roman von Margret Atwood (2017). Am Ende des Beitrags steht ein Plädoyer dafür, die humangeographische Perspektive zu Maßstäben und Orten für ein vertieftes Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse in die Analyse von Filmen und Serien einzubeziehen.

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Scale und place – Zur räumlichen Dimension sozialen Handelns

Zentraler Ausgangspunkt einer kritischen Humangeographie ist es, Raum als gesellschaftlich konstruiert, politisch umkämpft und im permanenten Wandel zu verstehen. Exemplarisch für die soziale Produktion von Raum stehen Debatten um die Schaffung bzw. Veränderung von räumlichen Maßstabsebenen als Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, der Politics of Scale (Brenner 2004) oder auch um den gleichsam lokalen wie globalen Charakter von Orten, im Sinne eines Global Sense of Place (Massey 1994) zusammen. Bob Jessop et al. (2008) fassen vier räumliche Dimensionen von Gesellschaft im Territory, Place, Scale, Network (TPSN)-Framework zusammen. Mittels dieser analytischen Dimensionen soll die Räumlichkeit sozialer Beziehungen erfasst werden. Unter Territory werden der Einschluss, die Abgrenzung und die Parzellierung sozialer Beziehungen, zum Beispiel durch Nationalstaaten verstanden. Place umfasst die lokale Einbettung und räumliche Nähe gesellschaftlichen Handelns, etwa die Zentren des Kapitals und der Kontrolle, aber auch die lokalen Bezüge sozialer Bewegungen. Mit Scale ist bei Jessop et al. (2008) die Entstehung und der Wandel

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räumlicher Maßstabsebenen gemeint, beispielsweise durch Prozesse der Globalisierung oder der Regionalisierung. Die räumliche Dimension von Network bezieht sich auf die Verknüpfungen zwischen Orten und anderen räumlichen Einheiten, wie etwa Infrastruktur- oder Unternehmensnetzwerke. Jessop et al. (2008) gehen davon aus, dass das Zusammenspiel dieser vier Dimensionen die Räumlichkeit sozialer Beziehungen charakterisiert. Zwei dieser räumlichen Dimensionen, scale und place, bilden die Kategorien für unsere Untersuchung von The Handmaid’s Tale und werden im Folgenden genauer erläutert. Entsprechend der grundlegenden Prämisse von der sozialen Produktion von Raum, geht die humangeographische Debatte zu scale davon aus, dass räumliche Maßstabsebenen nicht „einfach da“, sondern Resultat gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse sind. Scale ist damit als permanent umkämpft und in Veränderung zu verstehen. Beispiele für räumliche Maßstabsebenen reichen vom Nationalstaat über Städte und Regionen bis hin zum individuellen, leiblichen Körper. Dabei sind die verschiedenen Maßstabsebenen als eng miteinander verschränkt und nicht in einer starren Hierarchie zu verstehen. Andrew Herod (2011) verwendet für die wechselseitige Durchdringung von scales das Bild von rhizomartigen Vernetzungen. Für die Neuordnung skalarer Verhältnisse stehen die Begriffe des Rescalings bzw. Reskalierung. Sie bezeichnen die Schaffung neuer räumlicher Maßstabsebenen oder auch den Bedeutungsverlust bzw. -gewinn bestehender Ebenen. Diesen immanent politischen Charakter räumlicher Maßstabsebenen und ihrer Veränderung beschreibt die kritische Humangeographie mit den Politics of Scale (Brenner 2004). Beispiele für veränderte Politics of Scale und ein Rescaling sind die Schaffung neuer Maßstabsebenen durch die Gründung multinationaler Organisationen, Schaffung globaler Märkte oder die Fusion von Landkreisen. Diese Perspektive lässt sich auf vielfältige gesellschaftliche Gegenstände anwenden (siehe für einen Überblick Wissen et al. 2008). So kann anhand der Ausweisung von Metropolregionen die Bedeutung von Maßstabsebenen sowie deren Veränderung für Stadt-Land-Verhältnisse nachvollzogen werden (Mießner und Naumann 2018). Mit dem Begriff der Glokalisierung beschreibt Erik Swyngedouw (1997) eine Form des Rescalings, bei dem das Globale an Bedeutung gewinnt, die lokale Ebene und damit auch konkrete Orte aber dennoch wichtig bleiben. Damit bietet es sich an, die scale-Perspektive um die Betrachtung von place zu ergänzen. Place zählt ebenfalls zu den grundlegenden Analysekategorien der Humangeographie. Analog zu scale, sind soziale Beziehungen maßgeblich für die Entstehung und die Bedeutungszuweisungen von place verantwortlich. Die gesellschaftliche Konstruktion von place ist dabei eng verbunden mit alltäglichen Praktiken und prägend für ein kollektives Gedächtnis sowie die Herausbildung von Identitäten (Jessop 2018). So sind die Zuschreibungen und Abgrenzungen

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von place immer im Wandel begriffen, umstritten und multipel. Zentral für die Konstruktion von place bzw. das place-making ist die Abgrenzung von Orten durch die Gegenüberstellung mit den ‚anderen‘ Orten (Belina 2017). Somit sind Orte niemals isoliert voneinander zu betrachten, sondern immer im Verhältnis und in Abhängigkeit zu anderen places. Orte sind damit sowohl Effekt wie auch Voraussetzung für gesellschaftliche Entwicklung. Die Verwobenheit von Orten über große Entfernungen und über verschiedene Maßstabsebenen hinweg fasst Doreen Massey mit der Beschreibung des Global Sense of Place (1994) zusammen. Damit ist die jeweils lokale Ausprägung globaler Prozesse gemeint. So findet beispielsweise die Globalisierung von Finanz- und Güterströmen immer auch an konkreten Orten statt. Damit ist wie scale auch place geprägt von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die sich auf alle räumlichen Maßstabsebenen erstrecken (Massey zitiert in Belina 2017, S. 117). Scale und place stellen zentrale Begriffe der Humangeographie dar und veranschaulichen die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen räumlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Edward Soja (1989) spricht daher auch von einer sozio-räumlichen Dialektik. Einerseits prägen gesellschaftliche Interessen, Konflikte und Akteure maßgeblich die Entstehung, Bedeutungszuschreibung und Veränderung von räumlichen Maßstabsebenen und konkreten Orten. Andererseits haben skalare und lokale Gegebenheiten ebenso einen prägenden Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklung. Vor diesem Hintergrund sollen im folgenden Kapitel die Rolle räumlicher Maßstäbe und konkreter Orte in The Handmaid’s Tale diskutiert werden. Die leitenden Fragen sind dabei: Welche Maßstabsebenen und Orte spielen eine Rolle, welche kommen nicht vor? Wie werden Maßstabsebenen und Orte (als aktuell oder retrospektiv) dargestellt, welche Bedeutung haben sie? Wie drücken sich gesellschaftliche Verhältnisse – der repressive Charakter von Gilead, aber auch Widerstand gegen das Regime – in den dargestellten Maßstäben und Orten aus?

3

The Handmaid‘s Space: Ausgewählte Maßstabsebenen und Orte

Die gesellschaftlichen Verhältnisse von Gilead kommen in den konstruierten Räumen und verwendeten Maßstabsebenen der Serie zum Ausdruck und illustrieren damit die Wahrnehmung von Gilead. Die Maßstabsebenen Körper, Zimmer und Gebäude, Wohnquartier, Stadt und Region, Staat und Nachbarstaaten sind auf vielfältige Weise miteinander verwoben. Individuen und Institutionen handeln und interagieren auf unterschiedlichen Maßstabsebenen. Im folgenden Kapitel werden

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ausgewählte Maßstabsebenen und Orte in The Handmaid’s Tale vorgestellt sowie im Hinblick auf ihre Bedeutung als Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Widerstand gegen diese untersucht.

3.1

Scale

Die Räumlichkeit von The Handmaid’s Tale zeichnet sich unter anderem dadurch aus, welche Maßstabsebenen in der Serie vorkommen und wie diese dargestellt werden. Die skalare Ordnung ist dabei als ein Ausdruck der Machtverhältnisse von Gilead zu verstehen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen widerspiegeln. Dies wird im Folgenden anhand von wichtigen in der Serie dargestellten Maßstabsebenen nachvollzogen. Die Ebenen sind dabei nicht trennscharf voneinander abzugrenzen, sondern eng miteinander verwoben. Erstens stellen leibliche Körper eine wichtige Maßstabsebene der Darstellungen in der Serie und der gesellschaftlichen Verhältnisse von Gilead dar. Die Herrschaft und Gewalt des Staates drückt sich in den Vergewaltigungen, körperlichen und seelischen Misshandlungen oder der vorgeschriebenen Kleiderordnung aus. Der repressive und gewaltförmige Charakter des politischen Systems schreibt sich damit einerseits direkt in die Körper der Menschen Gileads ein. Andererseits stellt der Körper auch eine Ebene des aufkeimenden Widerstandes dar, ist also Gegenstand und Mittel desselben. Desfreds Gedanken, die in der Erzählzeit der Serie für den Zuschauer hörbar sind, sind eine Möglichkeit ihre Identität gegen den disziplinierenden Zugriff des Staates zu verteidigen. Sie erzählt sich permanent ihre Geschichte und schafft damit eine Distanz, mittels derer sie sich nicht nur selbst erlebt, sondern sich selbst beim Überleben sieht. Die so erzeugte Autonomie ist deutlicher Ausdruck des Widerstandes. Auch das heimliche Verhältnis zwischen Desfred und dem Auge Nick ist ein Widerstand gegen das Verbot für Mägde, Beziehungen einzugehen. Beide riskieren mit dieser Beziehung ihr Leben. Wie ein Widerstand auf der Ebene des Körpers bis ans Äußerste gehen kann, wird zudem in einer Szene deutlich, in der eine zur Mutter gewordene Magd sich von einer Brücke in den Fluss wirft und dabei ihr eigenes Leben riskiert (S01 E09). Zweitens spielt sich ein Großteil von The Handmaid’s Tale in geschlossenen Gebäuden und deren Räumen ab. Der repressive Charakter von Gilead wird durch die eingeschränkte Nutzung öffentlicher Räume deutlich, denn die Gebäude sind durch strikte Regeln geprägt. Das Haus des Kommandanten drückt damit die Machtverhältnisse aus, in dem die Nutzung von Räumen stark reglementiert und für Mägde stark eingeschränkt ist. Insofern stellen die Besuche von Desfred in für

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sie verbotene Räume, etwa in der Wohnung von Nick oder in den Raum des Kommandanten, widerständige Praktiken dar. Die ebenfalls stark vorgeschriebenen Gänge von Desfred sind die einzige legale Möglichkeit, die Maßstabsebene des Gebäudes und ihres Zimmers zu verlassen und in Wechselwirkung mit anderen Akteuren des Stadtteils zu treten. Dennoch spielen drittens die Ebenen des Wohnquartiers, der Stadt und der sie umgebenden Region eine untergeordnete Rolle. So wird das Quartier, in dem das Haus des Kommandanten als sehr aufgeräumt und gediegen dargestellt. Weitere, möglicherweise anders gestaltete Stadtteile werden in der Erzählzeit nicht gezeigt. Dass es in der Stadt – der Roman legt nahe, dass es sich um Boston handelt – auch andere Viertel gibt, wird nur in der – illegalen – Fahrt mit dem Kommandanten in das Casino sowie in retrospektiven Rückblenden angedeutet. Insgesamt bleiben die Stadt, deren Zentrum und Verkehrswege vage. Öffentliche Räume in der Stadt erscheinen als Orte der Kontrolle und der Gefahr, die möglichst schnell durchquert werden. Eine Region, in der die Stadt verortet werden kann, ist ebenfalls nicht erkennbar. Einzig die unbestimmt entfernte Grenzregion, die bei der Flucht von Luke, Hannah und June gezeigt wird, verweist auf die Ebene einer Region. Diese eher ländliche, von Wald geprägte Region stellt ein Gegenbild zur Stadt dar, indem sie für die Zuschauer weniger restriktiv inszeniert wird und für die Protagonist*innen schwer durchschaubar ist, wie viel Kontrolle und Verrat sie dort möglicherweise erwartet.1 Viertens ist die Ebene des Nationalstaats von Bedeutung, findet auf dieser Ebene doch die putschartige Revolution und Machtübernahme der neuen Regierung statt. Macht und Repression sind eng mit dem Nationalstaat Gilead und nicht mit einer Stadt- oder Provinzregierung verknüpft. Repräsentationen von Gilead in Form von Landkarten erscheinen allerdings erst in der zweiten Staffel der Serie. Mit den Beziehungen zu den benachbarten Ländern Kanada und Mexiko werden Bezüge zur internationalen Maßstabsebene hergestellt, die allerdings nur sehr eingeschränkt sind. Die Erweiterung des räumlichen Maßstabs – von der nationalstaatlichen Ebene von Gilead hin zu benachbarten Ländern – enthält dabei die widerständige Hoffnung, aus dem Ausland Unterstützung zu erhalten. Andere Kontinente sind nur Gegenstand kurzer Bemerkungen und spielen zumindest in der ersten Staffel keine bedeutende Rolle. Auch die geographische Lage und der Umfang der Kolonien bleibt in der ersten Staffel der Serie unklar, während der Roman die Kolonien als scheinbar exterritoriale Orte thematisiert. So erscheinen die Kolonien einerseits als unsichtbare und „außerhalb“ von Gilead gelegene 1 Zur

weiterführenden Darstellung des städtischen Raumes siehe den Beitrag von Judith Miggelbrink in diesem Band.

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Orte, die aber andererseits der Kontrolle und der Repression des Staates Gilead unterstehen: „Ich habe deine Mutter gesehen, sagte Moira. Wo?, fragte ich. (…) Mir wurde bewusst, dass ich an sie wie an eine Tote gedacht hatte. Nicht persönlich, es war in einem Film, den sie uns gezeigt haben, über die Kolonien. Es war eine Nahaufnahme, sie war es tatsächlich. (…) Gott sei Dank, sagte ich. Wieso Gott sei Dank?, sagte Moira. Ich dachte, sie sei tot. Vielleicht ist sie es, sagte Moira. Du solltest ihr das wünschen.“ (Atwood 2017, S. 340). Insgesamt zeigt die Betrachtung der räumlichen Maßstabsebenen, dass Räume in The Handmaid’s Tale sowohl für die Repression als auch für den Widerstand in Gilead stehen. Allerdings gibt es zwischen den verschiedenen Ebenen Unterschiede: während die Ebenen des Nationalstaates und der Stadt nahezu ungebrochen die Macht des herrschenden politischen Systems darstellen, werden auf der internationalen Ebene, der Ebene der leiblichen Körper und der Gebäude Versuche von Widerstand sichtbarer. Auf den einzelnen Ebenen sind places angesiedelt, die Gegenstand der folgenden Ausführungen sind.

3.2

Place

Die in der Serie The Handmaid’s Tale dargestellten Orte sind Orte des alltäglichen Lebens im Staat Gilead, in denen kollektive Erinnerungen und soziale Identitäten in verschiedenen zeitlichen Horizonten präsent sind. Im Hinblick auf ihre Funktion lassen sich öffentliche und private Orte unterscheiden, in denen Begegnungen zwischen Menschen auf unterschiedliche Weise stattfinden. Eine Besonderheit der Serie stellen die ritualisierten Orte dar, die für staatlich vorgeschriebene Zeremonien und damit für die deutlich sichtbare Demonstration staatlicher Macht genutzt werden. Ritualisierte Orte sind sowohl im öffentlichen als auch privaten Kontext zu finden. Ebenfalls im öffentlichen wie auch privaten Raum angesiedelt sind die retrospektiven Orte als räumliche Präsentationen der Vergangenheit, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse vor der bzw. auf dem Weg hin zur Machtübernahme der theokratisch-autoritären Republik illustrieren. Auf vielfältige Weise schreiben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse von Gilead in place ein. Dabei ist place immer beides: Ort der Durchsetzung von staatlicher Macht und Kontrolle, wie auch von Versuchen des Widerstandes. Im Folgenden werden die Darstellungen und Bedeutungen von privaten, öffentlichen, ritualisierten und retrospektiven Orten in The Handmaid’s Tale anhand ausgewählter Beispiele erläutert.

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3.2.1 Private Orte Private Orte der Serie sind zunächst durch die Abwesenheit des Staates gekennzeichnet, auch wenn sich in ihnen staatliche Vorgaben in unterschiedlicher Deutlichkeit widerspiegeln: staatliche Mitarbeiter*innen (z. B. die Augen) sind auch in Privatsphären als Spitzel tätig, die Sprache der Akteure verweist mit Phrasen der Begrüßung, z. B. „Unter seinem Auge“, „Gesegnet sei die Frucht“ auf die Durchdringung des Staates in alle Lebensbereiche. Bedeutsame Beispiele privater Orte sind das Zimmer von Desfred, das Zimmer des Kommandanten, der Wohnbereich von Nick, das Bade-, das Schlafzimmer oder die Küche im Haus des Kommandanten. Desfred hat im Haus des Kommandanten unter dem Dach ein eigenes Zimmer (Abb. 1). Sie sitzt am Fenster, die Sonne scheint von außen diffus hinein. Gelegentlich geht Desfreds Blick hinaus. Diese Szenen verweisen auf die in sich verschränkten maßstäblichen Dimensionen, auf das Zimmer und das Draußen, auf Freiheit und Gefangenschaft, auf Macht und Ohnmacht. Das Zimmer ist karg, es ist schlicht und einfach ausgestattet, die Decken sind niedrig. Es wirkt klein und beengt und steht im Gegensatz zu den anderen Räumen im Haus, die viel größer und üppiger sind, was als Ausdruck der gesellschaftlichen Rolle der Nutzer*innen der Räume interpretiert werden kann. Desfred ist eine Gefangene, deren einzige

Abb. 1 The Handmaid’s Tale (Hulu) S 01 E 03 Min 44:37

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Funktion in der Fortpflanzung besteht. Das Zimmer ist Ausdruck dieser Gefangenschaft und bietet ihr zugleich eine Form von Geborgenheit und Freiheiten im Verborgenen. In ihrem Zimmer wird sich Desfred ihrer Situation bewusst. Sie erinnert sich an die Vergangenheit, denkt nach über die Gegenwart, übt Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen und äußert sogar Verachtung gegenüber den sie umgebenden Personen. Ihr Zimmer hat viele Funktionen: „Mein Zimmer also. Es muss schließlich irgendeinen Raum geben, den ich als meinen beanspruchen kann, selbst in dieser Zeit. Ich warte, warte in meinem Zimmer, das in diesem Moment ein Wartezimmer ist. Wenn ich mich schlafen lege, ist es ein Schlafzimmer. (…) Ich erkundete also dieses Zimmer, nicht in aller Eile, wie ein Hotelzimmer, nicht großzügig. Ich wollte nicht alles auf einmal hinter mich bringen, es sollte länger reichen. Ich unterteilte das Zimmer in Gedanken in Zonen, und ich gestand mir eine Zone pro Tag zu. Diese eine Zone untersuchte ich mit der allergrößten Genauigkeit (…)“ (Atwood 2017, S. 72). Der Kleiderschrank im Zimmer wird im Laufe der Serie ein besonderer Ort für Desfred, ein Ort des inneren Widerstandes bzw. der widerständigen Haltung. Der eingeritzte Text2 , die Botschaft einer vorgängigen Magd im Haus des Kommandanten, beflügelt ihre Gedanken, spendet ihr Trost und Hoffnung. Auch sie verewigt sich, indem sie eine Botschaft im Holz hinterlässt („You are not alone“, S01E08 Min 46:43.) Das ist ein Geheimnis in ihrem Zimmer und das Geheimnis steht sinnbildlich für den Widerstand, der sich in ihr regt. Bereits Junes Freundin Moira nutzt im Umerziehungslager diese Form des Widerstandes, indem sie eine Botschaft in die Holzwand einer Toilette ritzt (Abb. 2). Der Raum des Kommandanten (Abb. 3 und 4) ist zunächst selbst ein Geheimnis, denn er darf von Frauen nicht betreten werden. Im Laufe der Geschichte treffen sich Desfred und der Kommandant regelmäßig und vor allem heimlich im Raum des Kommandanten und spielen Scrabble. Der Raum ist ein Arbeitszimmer mit Saloncharakter. Er ist großbürgerlich eingerichtet, enthält zahlreiche Bücherregale, einen Kamin mit einem Spieltisch und bequemen Sitzgelegenheiten sowie einen Arbeitsbereich mit stattlichem Schreibtisch vor einem großen Fenster. Die heimlichen Treffen der beiden Protagonisten sind von Grenzüberschreitungen geprägt, die Gesetze von Gilead scheinen hier nicht zu gelten. Zunehmend wird die Situation entspannter, was sich auch in den Darstellungen des Raumes ablesen lässt. Während in Episode 2 die Wirkung des Raumes während des Spielens sehr düster wirkt (Abb. 3), flackert in Episode 4 das Feuer, die Kleidung und

2 Im

englischen Original lautet der Text „Nolite Te Bastardes Carborundorum“ (Don’t let the bastards grind you down).

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Abb. 2 The Handmaid’s Tale (Hulu) S 01 E 04 Min 06:01

Abb. 3 The Handmaid’s Tale (Hulu) S 01 E 02 Min 37:43

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Abb. 4 The Handmaid’s Tale (Hulu) S 01 E 04 Min 41:00

Körperhaltung von Desfred und dem Kommandanten wirken gelöster und einander zugewandter (Abb. 4). Desfred liest Bücher und Zeitschriften und spielt, was ihr eigentlich nicht zusteht, sie erhält Geschenke vom Kommandanten, was eigentlich verboten ist, sie unterhalten sich und lernen sich kennen, was ebenfalls nicht erlaubt ist. Desfred zeigt im Raum des Kommandanten persönliche Facetten und fühlt sich wahrgenommen: „Ich liebe den Kommandanten nicht, nicht im Entferntesten, aber er ist von Interesse für mich, er nimmt Raum ein, er ist mehr als ein Schatten. Und ich für ihn. Für ihn bin ich nicht mehr nur ein benutzbarer Körper. Für ihn bin ich nicht einfach nur ein Boot ohne Ladung, ein Kelch ohne Wein darin, ein Backofen – grob gesagt – ohne hineingeschobenes Brot. Für ihn bin ich nicht nur leer“ (Atwood 2017, S. 219). Die geheimen Begegnungen führen bei Desfred zu zwiespältigen Gefühlen von Reue und Macht gegenüber der Ehefrau des Kommandanten: „Aber ich hatte ihr gegenüber auch Schuldgefühle. Ich kam mir wie ein Eindringling vor auf einem Gebiet, das von Rechts wegen ihres war. Jetzt, da ich mich heimlich mit dem Kommandanten traf, wenn auch nur, um seine Spiele mit ihm zu spielen und ihm zuzuhören, wenn er sprach, waren unsere Funktionen nicht mehr so klar getrennt, wie sie es theoretisch hätten sein sollen. Ich nahm ihr etwas weg, auch wenn sie es nicht wusste. (…) Ich hatte jetzt Macht über sie, in gewisser Weise, auch wenn sie es nicht wusste. Und das genoss ich. Warum sollte ich es verheimlichen? Ich genoss es ungemein“ (ebd., S. 216). Besonders brisant sind die Treffen deshalb, weil

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die gefangenen Frauen im Hauswesen allein den Zuständigkeiten der Ehefrauen der Kommandanten unterliegen. Serena Joy, die Frau des Kommandanten Fred, glaubt an die Legitimität der staatlichen Ordnung von Gilead, sie hat diese mit erschaffen. Darüber hinaus ist sie als Ehefrau von Fred auch emotional betroffen. Daher hätte Desfred vom Kommandanten im Zweifelsfall keine Unterstützung erwarten können. Insofern ist der Raum des Kommandanten ein Ort zunehmenden Widerstandes gegen die in Gilead herrschenden Verhältnisse.

3.2.2 Öffentliche Orte Die öffentlichen Orte, beispielsweise die Wege durch die Stadt oder entlang des Flusses (Abb. 5), die hohe Mauer am Fluss (Abb. 6) oder der Supermarkt (Abb. 7) sind Orte, an denen Macht durch den Staat Gilead demonstriert wird, während aber auch leise widerständige Kräfte wahrnehmbar werden. In den Szenen, die in öffentlichen Räumen spielen, fällt auf, dass alle dargestellten Figuren eine klar durch den Staat definierte Funktion haben. Dies ist deutlich über die Kleidung erkennbar, die diese zu tragen haben. Alle Mägde tragen rote Roben und eine weiße Haube, Wächter des Staates sind schwarz gekleidet und tragen Waffen, Kommandanten tragen Uniformen, die Administratoren tragen schwarze Anzüge, die Augen tragen graue Anzüge, die Tanten tragen Uniformen. Es scheint keine „funktionslosen“ Bürger zu geben. Das Stadtbild wirkt äußerst kontrolliert. Die Präsenz und Allmacht des Staates ist damit stark im öffentlichen

Abb. 5 The Handmaid’s Tale (Hulu) S 01 E 01 Min 15:19

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Abb. 6 The Handmaid’s Tale (Hulu) S 01 E 02 Min 02:27

Abb. 7 The Handmaid’s Tale (Hulu) S. 01 E 05 Min 11:52

Raum verankert. Die Idylle auf dem Weg zum Supermarkt entlang des Flusses erinnert an traditionelle, romantische Stadtansichten aus dem 18./19. Jahrhundert. Der Fluss als natürliches Element einer Landschaft ist von hohen Mauern eingefasst an denen die staatliche Macht brutal zum Ausdruck kommt. Hier hängen

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die Leichen von hingerichteten Dissident*innen (Abb. 6). Damit wird die hohe Mauer zum Ort der öffentlichen Warnung vor der Gewalt des Staates und zeigt die drohende Gefahr für das eigene Überleben: „Wie die Bürgersteige ist sie aus roten Ziegelsteinen und muss einst schlicht, aber schön anzusehen gewesen sein. Jetzt stehen Wachen an den Toren, und hässliche neue Flutlichtlampen an Metallmasten ragen darüber empor, und unten zieht sich Stacheldraht entlang, und oben sind Glasscherben in den Beton auf der Mauerkrone eingelassen. Niemand geht aus freien Stücken durch diese Tore. Die Vorsichtsmaßnahmen gelten denen, die herauszukommen versuchen, (…) neben dem Haupttor baumeln sechs neue Leichen (…) Wir bleiben stehen, beide im gleichen Moment, wie auf Kommando, und betrachten die Leichen. Es macht nichts, wenn wir hinsehen. Wir sollen sogar hinsehen, dazu sind sie dort ausgestellt, dazu hängen sie an der Mauer“ (Atwood 2017, S. 49). Trotzdem werden die Wege entlang der Mauer von den Mägden zur heimlichen und sehr gefährlichen Kommunikation und damit als Austragungsort von Widerstand genutzt (Abb. 6). Der Supermarkt ist ebenfalls ein öffentlicher Ort des Alltags (Abb. 7). Ein wenig vielfältiges Warenangebot, die schlichte Präsentation und Gestaltung der Waren sowie fehlende schriftliche Zeichen verweisen auf die untergeordnete Bedeutung bzw. die Beschränkungen privaten Konsums in Gilead. Die Mägde haben kein eigenes Geld und erledigen die Besorgungen im Sinne ihrer Vorgesetzten. Auch der Supermarkt wird als Ort einer verborgenen Kommunikation genutzt. Die Mägde tauschen in diversen Szenen Informationen und Gegenstände, Blicke und Gesten aus und stellen sich damit gesellschaftlichen Verhältnissen entgegen. Desfred erhält über die im Verborgenen stattfindende Kommunikation im Supermarkt Neuigkeiten von der Untergrundbewegung Mayday.

3.2.3 Ritualisierte Orte Besonders an ritualisierten Orten manifestieren sich die fundamentalistischen, religiösen Traditionen der Verhältnisse in Gilead. Einzelne Menschen werden aus der Anonymität der Masse herausgezogen, öffentlich gefoltert und mit Gewalt gezielt und öffentlich sichtbar als Mittel des Machterhalts eingesetzt. Die Orte werden perspektivisch von weit oben, und die agierenden Menschen anonymisiert in ihrer Funktion in ästhetisch-geometrischer Weise dargestellt. Abb. 8 zeigt in Vogelperspektive kleinste Menschen, die einer Choreographie folgend, in weiten, leeren Räumen angeordnet sind. Damit wird durch die ritualisierten Orte die Macht und Unnachgiebigkeit des Staates inszeniert, der seine Mitglieder durch die Zuteilung von Funktionen entmenschlicht. Gleichzeitig brechen während der

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Abb. 8 The Handmaid’s Tale (Hulu) S 01 E 01 Min 39:41

ritualisierten, anonymisierten Prozeduren auch ungesteuerte Verhaltensweisen heraus. So gerät am Ende von Episode 01 (Staffel 1) die Bestrafung eines Täters, der wegen sexueller Gewalt verurteilt wurde in eine unkontrollierte, rauschartige Entladung purer Gewalt. Das herrschende Regime führt diese Entladung offensichtlich bewusst herbei, um die Wut und Hass der Mägde in Folge der ihnen zugeführten extremen Gewalt zu kanalisieren. In Szenen wie diesen zeigen sich Brutalität und Menschenverachtung in einem unerträglichen Ausmaß. Der Staat benutzt die ritualisierten Orte, um seiner totalen Kontrolle Ausdruck zu verleihen und seine Macht öffentlich zu manifestieren. Auch das Schlafzimmer im Haus des Kommandanten kann als ritualisierter Ort bezeichnet werden, da die monatliche Zeremonie zur Herbeiführung einer Schwangerschaft in einer strengen Choreographie mit festen Regeln abgehalten wird. Doch auch dieses stark geregelte Vorgehen wird durchbrochen durch emotionale Reaktionen beteiligter Akteure wie der Frau des Kommandanten. Serena Joy ist nicht in der Lage, die im Ritual vorgesehene Ruhezeit danach meditativ zu nutzen, sondern beendet die Zeremonie abrupt: „‚Du kannst jetzt aufstehen‘, sagt sie. ‚Steh auf und geh raus.‘ Eigentlich soll sie mich noch zehn Minuten ruhen lassen, mit hochgelegten Füßen, um die Chancen zu verbessern. Und für sie selber soll es eine Zeit stiller Meditation sein. Aber sie ist nicht in der richtigen Stimmung dafür. Abscheu schwingt in ihrer Stimme mit, als könne die Berührung mit meinem Körper sie krank machen, infizieren. (…) Für wen von uns ist

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es schlimmer, für sie oder für mich?“ (Atwood 2017, S. 131). Die strikt geplante räumliche Manifestation der Rituale und die Choreographien der Beteiligten stehen im Gegensatz zu den immer wieder auftretenden unberechenbaren Emotionen der Akteure.

3.2.4 Retrospektive Orte Eine weitere Dimension der Erzählung sind die Orte der Vergangenheit, die sich aus den Erinnerungen von Desfred rekonstruieren lassen. Dabei sind verschiedene Zeithorizonte zu unterscheiden. In einem Erzählstrang wird die Vergangenheit im Umerziehungslager dargestellt, sodass nachvollziehbar wird, mit welcher Brutalität die Frauen zu Mägden gemacht wurden. Weiter zurück liegt die Vergangenheit, in der Desfred, damals June, mit ihrer Familie lebt. Hier werden Alltäglichkeit und Selbstverständlichkeit, Vielfalt, Sicherheit und Vertrauen vermittelt. Die Orte sind weniger starr umgrenzt angelegt, die Bilder wirken weicher und wärmer, die Interaktion der Akteure und ihre Gespräche wirken natürlich spontan und emotional (Abb. 9 und 10). Als Zuschauer*in wird man in alltäglichen Situationen mit der Ungläubigkeit gegenüber den staatlich angeordneten Veränderungen konfrontiert, die letztlich dazu führt, dass June und ihre Familie ihre Flucht viel zu spät realisieren. Kontrastierend zu den dargestellten Orten in Gilead, werden diese Rückblenden in starker Analogie zur Welt der Zuschauer*in und damit mit einem

Abb. 9 The Handmaid’s Tale (Hulu) S 01 E 03 Min 24:18

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Abb. 10 The Handmaid’s Tale (Hulu) S 01 E03 Min 03:17

höheren Identifikationspotential gezeigt. Der sich regende Widerstand gegen die Machtübernahme wird brutal zerschlagen. Die neue staatliche Macht setzt sich zunehmend durch, die Ohnmacht der Akteure gegenüber den staatlichen Vorgaben endet in einer vollständigen Übernahme dieser in das alltägliche Leben, die Sprache, die Kleidung, das Verhalten. Die internationalen Beziehungen, die Stadt, deren Quartiere, die Gebäude und die leiblichen Körper der Bewohner*innen werden von der neuen Macht geprägt. Deutlich wird dabei: place und scale sind als Ausdruck staatlicher Macht von zentraler Bedeutung, denn auf unterschiedlichen Maßstabsebenen werden Kontrolle, Gewalt, Bestrafung und damit Macht in konkrete Orte eingeschrieben.

4

Fazit: Die Geographie von The Handmaid’s Tale

Im Beitrag wurde die Bedeutung von place und scale anhand ausgewählter Beispiele aus der Serie The Handmaid‘s Tale und dem der Serie zugrunde liegenden Roman von Margret Atwood dargestellt. Dabei zeigt sich, dass die Serie Maßstäblichkeiten und Maßstabssprünge sowie die Darstellung und Inszenierung konkreter Orte nutzt, um die Herrschaftsverhältnisse in Gilead, die Ohnmacht

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von Individuen, aber auch deren Widerstand darzustellen. Mit der Verschränkung von Gileads Gegenwart und Retrospektiven zeigt die Serie, wie scheinbar vertraute Orte und selbstverständliche Maßstabsebenen in eine Dystopie transformiert werden können. Die Dystopien in The Handmaid’s Tale sind damit sowohl gesellschaftlich als auch räumlich zu verstehen. Exemplarisch ist dies anhand konkreter Szenen an verschiedenen Orten auf unterschiedlichen Maßstabsebenen verdeutlicht worden. Eine humangeographische Perspektive hilft, die gesellschaftliche Bedeutung von Raum zu verstehen, sie zeigt auf, wie sich gesellschaftliche Verhältnisse in Räume einschreiben und liest Räume als Resultat von Machtverhältnissen. Umgekehrt wurde auch gezeigt, dass Räume gesellschaftliche Verhältnisse prägen, indem etwa bestimmte Orte einen Widerstand ermöglichen. Unsere These lautet dabei, dass die in der Serie dargestellten Maßstabsebenen und Orte immer als Ausdruck der dargestellten gesellschaftlichen Verhältnisse zu lesen sind. Scale und place in The Handmaid‘s Tale sind damit nicht einfach nur die Kulisse der Handlung der Serie, sondern integraler Bestandteil der Durchsetzung der staatlichen Ordnung in Gilead. Die umfassende räumliche Kontrolle durch staatliche Institutionen auf der einen Seite und der lokale Widerstand der Mägde auf der anderen Seite, die es trotz der Verbote schaffen, ein Netzwerk aufzubauen, stehen damit in Wechselwirkung zueinander. Die Analyse der Serie erhält durch eine humangeographische Perspektive auf place und scale ein tieferes Verständnis von Macht und Widerstand als räumliche Praxen.

Literatur Atwood, Margaret. 2017 [1985]. Der Report der Magd. [The Handmaid‘s Tale]. München: Piper. Belina, Bernd. 2017. Raum. 2. Auflage. Münster: Westfälisches Dampfboot. Brenner, Neil. 2004. New State Spaces. Urban Governance and the Rescaling of Statehood. Oxford: Oxford University Press. Herod, Andrew. 2011. Scale. London/New York: Routledge. Jessop, Bob. 2018. The TPSN schema: moving beyond territories and regions. In The Handbook on the Geographies of Regions and Territories, hrsg. Anssi Paasi, John Harrison und Martin Jones, 89–101. Cheltenham/Northampton: Edward Elgar. Jessop, Bob, Brenner, Neil, und Martin Jones. 2008. Theorising Socio-spatial Relations. Environment and Planning D: Society and Space 26 (3): 389–401. Köck, Helmuth und Armin Rempfler. 2004. Erkenntnisleitende Ansätze – Schlüssel zur Profilierung des Geographieunterrichts. Köln: Aulis. Massey, Doreen. 1994. Space, Place and Gender. Cambridge: Polity Press.

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Mießner, Michael und Matthias Naumann. 2018. Maßstäbe des Rurbanen. Überlegungen zum Rescaling von Stadt und Land. In Rurbane Landschaften. Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt, hrsg. Sigrun Langner und Maria Frölich-Kulik, 101–117. Bielefeld: transcript. Schlottmann, Antje und Judith Miggelbrink. 2015. Ausgangspunkte. Das Visuelle in der Geographie und ihrer Vermittlung. In Visuelle Geographien. Zur Produktion, Aneignung und Vermittlung von RaumBildern, hrsg. Dies., 13–25. Bielefeld: transcript. Soja, Edward. 1989. Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory. London/New York: Verso. Swyngedouw, Erik. 1997. Neither Global nor Local: ‘Glocalization’ and the Politics of Scale. In Spaces of Globalization: Reasserting the Power of the Local, hrsg. Kevin Cox, 137–166. London/New York: Guilford. Uhlenwinkel, Anke. 2013. Geographical Concepts als Strukturierungshilfe für den Geographieunterricht. Ein international erfolgreicher Weg zur Erlangung fachlicher Identität und gesellschaftlicher Relevanz. Geographie und ihre Didaktik 41 (1): 18–43. Taylor, Liz. 2011. Basiskonzepte im Geographieunterricht. Schlüssel, um die Welt besser zu verstehen und den Unterricht besser zu planen. Praxis Geographie 41 (7–8): 8–14. Wissen, Markus, Röttger, Bernd und Susanne Heeg (Hrsg.). 2008. Politics of Scale. Räume der Globalisierung und Perspektiven emanzipatorischer Politik. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Ein dystopischer Raum der Biopolitik: Der Report der Magd aus sozialgeographischer Perspektive Judith Miggelbrink 1

Einleitung

In Der Report der Magd wird mit Gilead ein staatliches oder staatsähnliches Gebilde entworfen, das man als Antwort auf ein demografisches Problem lesen kann: das Problem der Bestandserhaltung einer Bevölkerung. Gilead wird durch ein totalitäres, konservativ-religiös fundiertes Regime regiert und ist offensichtlich durch revolutionäre Abspaltung nach einer Reihe von Umweltkatastrophen1 entstanden. In Gilead geht um nichts weniger als das Überleben der Bevölkerung, und zwar nicht im Sinne der Befriedigung elementarer Bedürfnisse wie Nahrung, Wasser, Wärme, Schutz und Ruhe als Bedingung der Existenz einer politischen Gemeinschaft, sondern im Sinne eines reproduktiven Populationserhalts. Viele weibliche Körper sind unfähig zur Empfängnis, viele männliche Körper zeugungsunfähig und so werden kaum noch Kinder geboren. Gilead wurde mit dem expliziten Ziel gegründet, die verbliebenen gebärfähigen Frauen um den Preis ihrer vollständigen Erniedrigung zur Mutterschaft zu zwingen. 1

Ob es sich um eine „große“ Katastrophe oder um die kumulierten Effekte einer Vielzahl begrenzterer Katastrophen und/oder ökologisch-ökonomisch-sozialer Krisen handelt und wie diese aufeinander einwirken, wird nicht so recht klar. Zu den Problemen, mit denen die Menschen sich konfrontiert sehen, gehört offensichtlich ein drastischer Rückgang der Fertilität, eine hohe Rate an Missbildungen bei Neugeborenen und Todgeburten sowie eine unzureichende Produktion von Lebensmitteln (sowohl quantitativ wie auch qualitativ).

J. Miggelbrink (B) TU Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021, Korrigierte Publikation 2022 A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3_7

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Gilead lässt sich lesen als fiktionale Antwort auf ein Phänomen, mit dem sich demografische Forschung und Politik in zahlreichen europäischen Staaten in den letzten Jahren zunehmend konfrontiert sehen2 : Eine Fertilität, die unterhalb der Rate liegt, die zum Ausgleich der Sterblichkeit notwendig wäre, um die Zahl der Einwohner*innen konstant zu halten. Dabei handelt es sich keineswegs um ein historisch neues Phänomen, sondern um eine immer wieder auftauchende Situation, die häufig politisch, ideologisch und polemisch problematisiert wird, regelmäßig pro-natalistische Politiken hervorruft und diese rechtfertigen soll (Purdy 2006, S. 907). Gilead verfolgt eine besonders radikale Form pro-natalistischer, d. h. auf die Steigerung der Geburtenzahlen gerichteter Politik (vgl. Hannah und Kramer 2014, S. 135), die ich als Zuspitzung einer sich primär als biopolitisch definierenden Herrschaft verstehe. Diese kreist um etwas Abwesendes: den zu zeugenden Embryo als Versprechen auf eine Zukunft der politischen Gemeinschaft. Mit Hanafin lässt sich diese spezifische Form biopolitischen Zugriffs auf das noch nicht existierende Leben als vitapolitics (Vita-Politiken) bezeichnen (Hanafin 2006, S. 335; Marchesi 2012, S. 172). Der vorliegende Beitrag setzt sich mit der Funktion von „Raum“ in der Inszenierung eines biopolitischen Zugriffs auf Frauen und ihre Körper auseinander. Raum wird dabei als gesellschaftlich produziert betrachtet und Gesellschaft als verräumlicht (Belina et al. 2018, S. 7). Damit ist gemeint, dass „Raum“ nicht als abstrakte Kategorie oder Idee verstanden wird, die der Gesellschaft vorausgeht und von ihr nur noch angeeignet würde, sondern als gesellschaftlich produzierte, reproduzierte und verfestigte soziale Formen. Die in The Handmaid’s Tale inszenierte Form biopolitischer Herrschaft lässt sich, so die in diesem Beitrag verfolgte These, lesen als eine Praxis, die „Staat“ und „Zuhause“/„Haushalt“ als zwei Maßstabsebenen gesellschaftlicher Organisation in Beziehung zueinander setzt. Das Zuhause und der Haushalt („home“) sind, wie Marston (2004, S. 172) es nennt, „key site“ der sozialen Reproduktion und daher unauflöslich mit anderen Skalen ökonomischer Produktion und politischer Organisation verflochten (vgl. zum Skalenbegriff den Beitrag Naumann/Raschke). Zwischen den beiden Polen „Staat“ und „Zuhause“/„Haushalt“ – und gestützt durch weitere Formen gesellschaftlicher Räumlichkeit – wird die biopolitische Herrschaft Gileads entfaltet. Ohne eine spezifische Form der Organisation des „home“ würde Gilead als Staat nicht (länger) existieren können, wie umgekehrt die skalare Form des „home“ durch die spezifische Staatsform Gileads geprägt ist. 2 In

der Sprache der demographischen Statistik geht es um die Bestandserhaltungsrechnung, innerhalb derer die sog. totale Fertilitätsrate abgeschätzt wird, mit der die Bevölkerungszahl (rechnerisch) konstant gehalten würde. Niephaus (2012, S. 150).

Ein dystopischer Raum der Biopolitik …

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Ziel meines Beitrags ist keine systematische Analyse gesellschaftlicher Räumlichkeit; mir geht es lediglich darum zu zeigen, dass die Weise wie das biopolitisches Programm Gileads Raum (bzw. Räume) als Herrschaftsmittel darstellt, nicht lediglich ein arbiträre filmische Illustration darstellt, sondern realistisch in dem Sinne ist, dass gezeigt wird, wie eine biopolitisch-totalitäre Herrschaft durch eine bestimmte Raumordnung verwirklicht wird. In der Analyse laufen zwei interpretative Ebenen zusammen: Im ersten Schritt geht es mir um die Räume, die die filmische Darstellung Gileads zeigt: die Häuser der Commander, die Stadt, das Rote Zentrum, die Grenzregion zu Kanada, Jezabels Reich. Diese interpretiere als Orte, an denen und durch die sich die Herrschafts- und Unterwerfungslogiken Gileads entfalten. Das heißt, ich verstehe (diese) Räume als machttechnologische Instrumente der Durchsetzung eines biopolitisch begründeten, totalitären Herrschaftsanspruchs. Ausgehend von einigen Überlegungen zur Biomacht, die im Wesentlichen auf Michel Foucault zurückgehen, behandle ich damit die Filmserie als Entwurf einer konkret gewordenen Dystopie, als mögliche Realität, an der mich insbesondere interessiert, wie sie Orte schafft, verknüpft und mit Bedeutungen auflädt. Dieser Interpretation liegt die Annahme zugrunde, dass Biomacht – jene Macht, „deren Ziel es sei, das Leben zu verwalten, zu sichern, zu entwickeln und zu bewirtschaften“ (Lemke 2007, S. 49) – bestimmter Räume des Verwaltens, Sichern, Entwickeln und Bewirtschaftens bedarf, die jene Praktiken erst ermöglichen, die sich zum Mechanismus der Biomacht zusammenfügen. Räume verstehe ich dabei stets in Relation zu Praktiken, d. h. als deren Produkt wie auch als eine ihrer (formierenden) Bedingungen. Im Anschluss an eine Erläuterung der Bedeutung der Fertilität im Kontext der Biopolitik werde ich daher zunächst knapp darstellen, mit welchen „Räumen“ ein biopolitischer Machtmechanismus einhergeht. Dies werde ich dann auf Der Report der Magd anwenden um herauszuarbeiten, wie hier eine biopolitische Dystopie entworfen wird. Damit unterstelle ich weder, dass die Autorin der Romanvorlage, Margaret Atwood, noch die Regisseur*innen der Serie ihre Werke als Interpretationen eines foucauldianischen Konzepts angelegt haben. Ich schlage lediglich vor, Roman und Serie als Entwürfe einer möglichen Gestaltung einer Gesellschaft zu lesen, in der ein Machtmechanismus dominant geworden ist, der alles der Zeugung von Nachwuchs unterordnet und Frauen nicht nur auf eine Rolle als Mutter, sondern noch radikaler auf ihre Gebärmutter reduziert. Das heißt: Ich interpretiere die Serie als Fantasie einer möglichen Wirklichkeit, wie sie sich einstellen könnte, wenn das biologische Überleben einer Population zum primären, vielleicht sogar einzigen Ziel politischen Handelns wird. Daran anschließend wird diskutiert, wie die gileadsche Raumordnung inszeniert wird, d. h. welche

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Mittel der Darstellung eingesetzt werden, die bestimmte Deutungsmöglichkeiten nahelegen.

2

Räume der Biopolitik

2.1

Zur biopolitischen Relevanz von Fertilität

Der Begriff der Biomacht bzw. Biopolitik3 wird von Foucault eingeführt, um eine Machtform zu kennzeichnen, die seit dem 17. Jahrhundert entsteht und sich gegenüber der Souveränitätsmacht ausdifferenziert (Foucault 2009). Während die Souveränitätsmacht, wie Lemke erläutert, eine Form des Regierens darstellt, die primär durch den „Entzug“ bzw. die „Abschöpfung“ von „Gütern, Produkten, Diensten“ gekennzeichnet sei, sei es das Ziel der Biopolitik, „das Leben zu verwalten, zu sichern, zu entwickeln und zu bewirtschaften“ (Lemke 2007, S. 49). Biopolitik fußt auf einer Form der Macht, die auf Techniken der Unterwerfung von Körpern basiert. Ihr Gegenstand ist die „Gesamtheit von Prozessen wie das Verhältnis von Geburten- und Sterberaten, den Geburtenzuwachs, die Fruchtbarkeit einer Bevölkerungs usw.“ (Foucault 2009, S. 286) Biopolitische Machttechnologien sind kein Selbstzweck, sondern richten sich auf die Körper der Menschen bzw. jene Prozesse, die den Körper direkt an- bzw. ergreifen, wie etwa Krankheiten und Hungersnöte. Im Gegensatz zur souveränen Macht, die mittels diverserer Institutionen (z. B. Schule) disziplinierend auf das Individuum einwirkt, ist die Biopolitik durch Technologien bestimmt, die auf eine „eigenständige biologisch-politische Entität“, die Bevölkerung, zielt (Lemke 2002, S. 621). Die Bevölkerungsmasse selbst wird zu einem Objekt, das erfasst, erklärt und beeinflusst werden muss. Ihr Wachsen und Schrumpfen, ihre Zusammensetzung und ihr Zustand (u. a. im Hinblick auf Alter, Gesundheit, Geschlechterproportionen) werden zu Daten, die der Staat erfasst, berechnet und extrapoliert – nicht zuletzt, um die Arbeitskraft zu sichern und zu erhalten (zur biopolitischen Bedeutung des Impfens vgl. Thießen 2013). Der Fertilität bzw. der Fertilitätsrate kommt in diesem Zusammenhang insofern besondere Aufmerksamkeit zu, als sie relevant für das (zunächst einmal nur numerische) Verhältnis der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von der sog. abhängigen Bevölkerung ist. Fertilitätsraten unterhalb des Bestandserhalts werden 3 Wie

Lemke (2002, S. 619) mit Verweis auf Ranciére (2000) feststellt, unterscheidet Foucault nicht trennscharf zwischen Biomacht und Biopolitik; da diese Frage für meine weitere Argumentation nicht erheblich ist, benutze ich im Folgenden den Begriff Biopolitik, mit dem ich mich auf die Foucaultschen Aussagenen zu Biomacht und Biopolitik beziehe.

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als häufig Signal einer Verschiebung zu Ungunsten der nachfolgenden Generationen interpretiert, die – insbesondere bei steigender Lebenserwartung – eine (wachsende) Gruppe alter, nicht mehr erwerbsfähiger Menschen zu versorgen hätten. Sinkende Fertilität ist keineswegs ein neues Phänomen, ebenso wenig wie darauf reagierende pro-natalistische Politiken und Polemiken, die den moralischen Zustand einer Gesellschaft in der Fertilität der Bevölkerung begründet sehen (Purdy 2006, S. 907). Pro-natalistische Politiken sind eine spezifische Form der Biopolitik, die eine Steigerung der Bevölkerungszahlen durch eine Steigerung der Geburtenzahlen (und nicht etwa durch Immigration) erreichen will. Pro-natalistische Positionen sind gegenwärtig beispielsweise in den Verfassungen Sloweniens und Kroatiens verankert (Yuval-Davis 2004, S. 5), finden sich aber – in unterschiedlicher Ausprägung – in vielen Staaten in politischen und gesetzgeberischen Bereichen unterhalb des Verfassungsrangs. Fertilitätsraten unterhalb der Bestandserhaltungsrate mögen pro-natalistische Positionen begünstigen, sie sind aber weder deren Voraussetzung, noch gibt es einen Automatismus ihrer Durchsetzung (Demeny 1986, S. 338). Die historisch-gesellschaftlichen Konstellationen, in denen pronatalistische Positionen propagiert werden, variieren: Man kann sie nach Kriegen beobachten, als Versuche, einer ethnischen Gruppe ein größeres quantitatives Gewicht zu verleihen, in alternden Gesellschaft zur Sicherung eines erwünschten Altersproporzes usw. Da niedrige Fertilitätsraten häufig in Gesellschaften zu beobachten sind, in denen die rechtliche, soziale und ökonomische Gleichstellung der Geschlechter fortgeschritten und (weitgehend) akzeptiert ist (Purdy 2006, S. 892), zielen Politiken zur Steigerung der Fertilität immer auch auf den jeweils erreichten Stand der Liberalisierung, Gleichstellung und Individualisierung einer Gesellschaft. In diesem engeren, auf das Problem der Reproduktion (weit) unterhalb des Bestandserhalts gerichteten Interesse, kann mit Purdy (2006, S. 894) unter Biopolitik die Herstellung einer Beziehung zwischen individueller körperlicher Autonomie und dem Versuch der politischen Gemeinschaft, die Autonomie zu begrenzen und „einzuhegen“ verstanden werden: Sexualität ist ein entscheidendes „Scharnier“; sie steht zwischen dem auf das Individuum gerichteten disziplinierenden Mechanismus der Macht und der Biopolitik als Machtmechanismus, der sich auf die Masse der Bevölkerung richtet, dazu aber die Körper der Menschen benötigt. Auf der Mikroebene „repräsentiert sie ein körperliches Verhalten, das normativen Erwartungen ausgesetzt ist und für Disziplinierungsmaßnahmen offen“ ist (Lemke 2007, S. 53). Auf der Makroebene ist sie relevant für alle Kalkulationen, die sich auf die Bevölkerung, ihr Wachsen oder Schrumpfen und ihre Zusammensetzung beziehen. In pro-natalistischen

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bzw. Vita-Politiken steht Sexualität ganz im Dienst von etwas Abwesendem: des noch nicht gezeugten Embryos bzw. des noch nicht gezeugten Kindes, dessen prospektive Individualität aber immer schon vereinnahmt ist durch eine politische Gemeinschaft, die seiner bedarf. Der noch nicht gezeugte Embryo verkörpert und repräsentiert bereits die Funktion eines Kindes, die ihm für die Sicherung einer bestimmten Gesellschaftsordnung zugemessen wird. Das setzt ihn in ein bestimmtes Verhältnis zur sozialen Identität seiner Mutter und verwendet ihn zugleich als Versprechen auf das „Weiterleben eines heteropatriarchalen Familiennarrativs“ (Hanafin 2006, S. 335). Im Namen der Relevanz, die der (noch) nicht gezeugte Embryo für die zukünftige Existenz der politischen Gemeinschaft und des Staates hat, wird den potenziellen Müttern ihre Individualität und ihr politisches Subjektsein abgesprochen. Typischerweise geben pro-natalistische und Vita-Politiken – so auch in Gilead – dem Kinderwunsch eine ganz spezifische Bedeutung: Sie funktionalisieren diesen Wunsch im Hinblick darauf, was aus einer kollektiven Perspektive als wünschenswert erscheint4 . Das Wünschenswerte definiert sich nicht aufgrund eines individuellen Begehrens, wie es viele Bevölkerungswissenschaftler*innen mit der desired fertility rate oder desired birth rate zu erfassen versuchen (Pritchett 1994), sondern resultiert aus Kalkulationen, die sich auf die politische Gemeinschaft und den ihr zugerechneten „Bevölkerungskörper“ zielen.

2.2

Pro-natalistische Biopolitiken und„Raum“

Allen pro-natalistischen (wie auch anti-natalistischen) Positionen ist eins gemeinsam: Sie richten sich stets auf Körper und Identität der Frau, in dem sie alle Frauen primär als potenzielle Mütter begreifen (Berer 1993, S. 8). Mit diesem kollektivistischen Konzept negieren sie tendenziell individualistische Konzepte, aber auch kollektiv artikulierte Ansprüche auf reproduktive Autonomie. Sie untergraben mit ihrer rigiden dualen Geschlechterordnung, die – wie in Der Report der Magd – zugleich eine Ordnung des Arbeitens, des Wohnens, des Sprechens, des Kleidens, der Präsenz im öffentlichen Raum, der Körperhaltung usw. ist, pluralistische Gesellschaftsvorstellungen ebenso wie Ansprüche auf Gleichheit zwischen den Geschlechtern5 . Weil sie weit in die Formierung subjektiver Identität und in 4 Vergleichbar

arbeiten auch anti-natalistische Bevölkerungspolitiken, die auf eine Senkung der Geburtenrate in einer bestimmten politischen Gemeinschaft zielen Coe (2004). 5 Prinzipien des Individualismus, Pluralismus und der Gleichheit der Geschlechter werden regelmäßig von pro-natalistische Politiken und Polemiken angegriffen (vgl. Purdy 2006, S. 907).

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die Gestaltung von Beziehungen zwischen Menschen hineinreichen, ist es notwendig, sie nicht allein als abstrakte diskursive Ordnungen zu verstehen, sondern als Wissensordnungen, die in den Praktiken des Alltags wirksam werden, indem sie einerseits diese Praktiken informieren, andererseits aber auch durch eben diese Praktiken reproduziert und verändert werden. In einer praxistheoretischen Perspektive kommt der Räumlichkeit von Praktiken eine zentrale Rolle zu: Erstens, weil alle Praktiken als konkrete, verkörperte Praktiken stattfinden und ihr jeweiliger Vollzug relevant ist für die Produktion, Reproduktion und Veränderung gesellschaftlicher Ordnung(en). Zweitens, weil Praktiken immer in Bezug zu gesellschaftlich produzierten und bereits relevant gemachten Räumen stattfinden. Dem liegen zwei Annahmen zugrunde: Einerseits ist jede soziale Praxis, wie Belina (2013, S. 24) schreibt, „daher immer auch eine räumliche Praxis“, denn „(j)ede konkrete Praxis geht in irgendeiner Weise mit Aneignung oder Produktion von konkreten Räumen im Sinne physisch-materieller Räume und/oder ihrer Bedeutung einher.“ Andererseits kann Raum nicht losgelöst von dieser Praxis verstanden werden, denn seine (jeweilige) Bedeutung ergibt sich erst aus den konkreten Aneignungen. Foucault ordnet die Biopolitik unmittelbar dem Staat zu, indem er sie in eine bestimmte Serie einordnet: „Bevölkerung – biologische Prozesse – Regulierungsmechanismen – Staat“ (Foucault 2009, S. 295). Diese neue Beziehung zwischen Ontologie und Politik ist eine Form von Macht, die einen Nexus von Staat, Raum und Bevölkerung erzeugt, indem sie in zentralisierter Weise auf die Bevölkerung zugreift. Bevölkerungs-„muster“ (Verteilungen, Zusammensetzungen) werden beobachtet, prognostiziert und bewertet. Darüber hinaus wird politisch und programmatisch auf die Bevölkerungsmasse eingewirkt, indem zum Beispiel über Zuwanderungsgesetze erwünschte von unerwünschter Migration getrennt wird; auf dem Gebiet der Reproduktion durch Anreizpolitiken wie Elterngeld oder Arbeitsplatzgarantien; auf dem Gebiet der Gesundheit durch Arbeitsschutzvorschriften; auf dem Gebiet der Arbeitsmärkte durch den Ausbau von Kindertagesstätten usw. Foucault entwirft den machttechnologischen Mechanismus der Biopolitik als zentralisiert, d. h. als eine Form des politischen Zugriffs, der auf der Ebene des Staates organisiert ist. Biopolitik kann daher als spezifische skalare Praxis verstanden werden, d. h. als eine Praxis, die auf der institutionellen Verdichtung gesellschaftlicher Verhältnisse auf einer nationalstaatlichen Ebene basiert (vgl. hierzu detaillierter den Beitrag von Naumann/Raschke). Painter hat jedoch darauf hingewiesen, dass biopolitische Ansprüche nicht notwendigerweise auf einer gesamtstaatlichen Ebene zentralisiert sein müssen, sondern durchaus als regionalisierte oder sogar sub-regionale Biopolitiken etwa im Rahmen der Artikulation

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regionaler und lokaler governance beobachtet werden können (Painter 2013, S. 1235–1238)6 . Immer aber gilt, dass es „offensichtlich nie die räumliche Maßstabsebene [ist], die irgendetwas macht, sondern es sind konkrete gesellschaftliche Akteure, die in eingerichteten Scales agieren (müssen), sich der Scales u. U. als Mittel bedienen und evtl. neue Scales produzieren“ (Belina 2008, S. 115). Technologien der Biopolitik sind also nicht auf einer bestimmten Maßstabsebene „lokalisiert“, sie sind vielmehr an deren Produktion beteiligt. Unter derartigen mehrskaligen Verhältnissen kann auch das Zuhause als eine Scale verstanden werden (Smith 1993; Marston 2004). Neben Skalen, die primär Ausdruck hierarchisierter Beziehungen sind (Jessop et al. 2008, S. 393), können noch (mindestens) zwei räumliche Formen von biopolitischer Relevanz ein: Zum einen das Territorium als eine Raumform, die auf Abgrenzung und der Definition eines konstitutiven Äußeren basiert (ibid.). Zum anderen ist der Ort (place). Damit werden Verhältnisse erfasst, die auf Nähe und nahräumlicher Einbettung von Beziehungen basieren (ibid.). Im Gegensatz zur vertikalen Differenzierung des scale-Begriffs wird mit dem place-Begriff eine horizontale (oder „areale“) Differenzierung zum Ausdruck gebracht (ibid.)7 . Für die hier vorgeschlagene Interpretation von Der Report der Magd ist wichtig, dass sich Biopolitiken nicht durch eine einzige Raumform entfalten, sondern eines komplexen Zusammenspiels gesellschaftlicher Räumlichkeit bedürfen8 . Biopolitische Maßnahmen gelten für ein ganz bestimmtes Territorium und werden dort gewaltsam durchgesetzt. Sie bedürfen aber auch der skalaren Verflechtung von Staat und Haushalt, um wirksam werden zu können, weil sie auf die Bedingungen der sozialen Reproduktion und damit auf das Zuhause als Ort zielen, an dem und durch den soziale Reproduktion wesentlich gestaltet wird (Marston 2004). Biopolitiken produzieren und stabilisieren nicht nur verschiedene Räume, sie relationieren sie zugleich. In diesen Relationierungen entstehen wiederum Subjektpositionen als Fixierungen von möglichen Identitäten, die von den Individuen eingenommen werden können (Lise 1999; Müller 2008). Dieses Einnehmen wieder wird in poststrukturalistischen Perspektiven nicht als Determinierung durch einen bestimmten Handlungskontext verstanden, sondern als Resultat des Zusammenwirkens aus subjektiven Prädispositionen und Ansprüchen, die auf das Subjekt gerichtet 6 Zur

Funktion regionalisierter Steuerungsperspektiven insbesondere auch im Rahmen neoliberaler Orientierungen vgl. Brenner (2000). 7 Als weitere räumliche Form könnten nach Jessop et al. auch Netzwerke (networks) verstanden werden; da ich auf diese nicht weiter eingehe, verzichte hier auf eine Definition. 8 Vgl. grundsätzlich hierzu Jessop et al. (2008) sowie den Beitrag von Naumann und Raschke in diesem Band.

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werden (Laclau 1990; Butler 2006). Subjektivierungen vollziehen sich durch Praktiken, in denen gesellschaftliche Räumlichkeiten wirksam werden. Zwischen dem Bevölkerungskörper, dem Ziel biopolitischer Anstrengungen, und den Individuen, die in diesen Bevölkerungskörper eingelassen sind, vermitteln mithin Strukturierungsansprüche an Subjekte. Sie markieren die Positionen, die Subjekte einnehmen können oder sollen. Räume sind ein Mittel, diese Strukturierungsansprüche zu realisieren. Drei räumliche Aspekte der Biopolitik werden im Folgenden in Gilead identifiziert: Das zentrale räumliche Instrument der Biopolitik ist in Gilead durch skalare Praktiken geprägt, die den Staat mit dem Zuhause in Beziehung setzen. Diese skalaren Praktiken kreisen um die Mägde, die einerseits das zentrale Objekt der Biopolitik sind, zugleich aber als politische Subjekte peripherisiert werden. Filmisch lässt sich diese Gleichzeitigkeit von (biopolitischer) Zentralität im Sinne der Biopolitik und Marginalisierung ihrer staatsbürgerlichen Rolle, die die gebärfähigen Frauen erfahren, u. a. in einer bestimmten Weise der Inszenierung des urbanen Raumes wiederfinden, wie in Abschn. 3.4 dargestellt.

3

Gileads Räume im Dienste der Biopolitik

3.1

„Fruchtbarkeit als eine staatliche Ressource, Fortpflanzung als moralische Pflicht“

Der Machtmechanismus, der Gilead hervorbringt, stützt sich nicht auf ein wachsendes reproduktionsmedizinisches Wissen über biologische, medizinische und chemische Zusammenhänge und deren technologischer Beherrschung9 , sondern ist eher ein verzweifeltes An-Sich-Reißen der letzten noch verbleibenden fruchtbaren Körper, die potenziell neues menschliches Leben hervorbringen können. Gileads Biopolitik ist keine ermöglichende, sondern ein repressive. In schon fast idealtypischer Weise kreist Gilead um Sexualität, die die Mikroebene der Biopolitik – die Verkettung von Individuum, Organismus und Institutionen durch Disziplinierung – mit ihrer Makroebene – der Verkettung von Bevölkerung, Reproduktionsmechanismen und Staat – mit einander verbindet.

9 Andere Optionen zur menschlichen Reproduktion als die des Geschlechtsverkehrs zwischen

Mann und Frau wie z. B. Insemination, In-Vitro-Fertilisation (IVF), Intracytosplasmatische Spermieninjektion (ICSI), Klonen usw. scheint es in Gilead nicht zu geben. Warum es diese Optionen nicht gibt, bleibt unklar: Die Romanvorlage von Margaret Atwood erschien 1985, sieben Jahre nach der Geburt des ersten in-vitro gezeugten Kindes in Großbritannien. Erste reproduktionsmedizinische Verfahren waren also bereits bekannt.

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Es handelt sich dabei keineswegs um eine sexuelle Ordnung, die sich in das Verhalten der Menschen nach und nach einschleicht und es schließlich vollständig dominiert, sondern um eine strategische Entscheidung in einer nur in Andeutungen aufscheinenden revolutionären und dezisionistischen Phase, aus der Gilead als eigenes politisch-staatliches Gebilde hervorging. Zu den strategischen Vordenker*innen gehört Serena Waterford. In der der Gründung Gileads vorausgehenden Phase trägt sie maßgeblich dazu bei, ein Regierungssystem zu entwerfen, mittels dessen die wenigen noch gebärfähigen Frauen durch extreme physische und psychische Gewaltanwendung diszipliniert werden, um sie anschließend den Haushalten der Commander zur Verfügung zu stellen. Dort werden sie regelmäßig zum Zeitpunkt ihres Eisprungs in ritualisierter Weise vergewaltigt mit dem Ziel, dem Commander und seiner bei der Vergewaltigung anwesenden Ehefrau ein Kind „zu schenken“. Die konkrete Bestimmung von Sexualität, die Gilead zugrunde gelegt wird, wird in einer Rückblende von Serena Waterford, die in der Gegenwart Gileads Hausfrau und Gattin eines Commanders ist, folgendermaßen artikuliert (S 01 E 6 Min 12): „Fruchtbarkeit als eine staatliche Ressource, Fortpflanzung als eine moralische Pflicht“. Das schließt Sexualität, die nicht der Fortpflanzung dienen soll (oder kann), zwar nicht aus. Die Sexualität, um die Gilead kreist, ist jedoch eine auf den durch eine Zeremonie ritualisierten Geschlechtsverkehr reduzierte, beinahe mechanisierte Form, bei der es „nur“ darum geht, dass der Samen des Commanders die herangereifte Eizelle einer Magd erreicht. Letztlich wird Serena Waterford zum Opfer ihrer eigenen Strategie (Abb. 1): Abgesichert durch ein Strafsystem, das Abweichungen und Verweigerungen mit der Vernichtung in (radioaktiv verseuchten) „Kolonien“ ahndet, sind es u. a. eine rigide durchgesetzte geschlechtliche Arbeitsteilung, die Frauen praktisch keine beruflichen Perspektiven lässt mit Ausnahme von Arbeiten im Haushalt, die von versklavten „Marthas“ ausgeführt werden. Serena Waterford kann keine andere Position annehmen als die, die sie durch das Regierungssystem erlangt hat: Gattin eines Commanders und (Mit-) Vollstreckerin staatlich angeordneter Vergewaltigungen. Dass das individuelle Leben der Mägde so vollkommen in den Dienst einer bestimmten Vorstellung von Gemeinschaft als reproduktivem Kollektiv gestellt wird, weil die im Sinne des Bevölkerungserhalts „intakten“ weiblichen Körper selten und kostbar sind, hat einen wichtigen Effekt. Ihr Körper schützt die Mägde auch bei vergleichsweise schweren Vergehen vor der totalen Vernichtung ihrer physischen Existenz, die ihnen in den Kolonien drohen würde. Das heißt allerdings nicht, dass die Strafen, die sie erhalten, nicht brutal und grausam wären: Lesen wird beim ersten Mal mit dem Abhacken eines Fingern, beim zweiten Mal mit dem Abhacken einer Hand bestraft (S 01 E 6 Min 47–48) und „(w)enn

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Abb. 1 Serena Waterford hat realisiert, dass sie als Frau niemals (mehr) vor einem Regierungsgremium ihre Ideen vorstellen darf (Der Report der Magd (MGM und Hulu) S 01 E 6 Min 31)

sie dich beim Schreiben erwischen, verlierst du eine Hand“ (June zu Moira in S 01 E 4 Min 6). Das Ausstechen eines Auges ist ebenfalls eine regelmäßige Form der Strafe. Desfreds/Junes10 versuchte Flucht aus dem Roten Zentrum wird vergleichsweise mild mit Schlägen auf die Fußsohlen bestraft (S 01 E 4 Min 41–42). Das Strafsystem zielt auf die physische Unversehrtheit des Körpers nur insoweit er für die Befruchtung und Austragung eines Kindes benötigt wird; es ist zugleich zynisch und pragmatisch. „Wir sind“, wie Junes Freundin Moira konstatiert, „Zuchtvieh, dafür brauchen wir keine Augen“ (S 01 E 1 Min 23). Tante Lydia stellt bei der Bestrafung der lesbischen Desglen im Roten Zentrum fest, dass ihre Bestrafung nicht so weit gehen dürfe, wie bei ihrer Partnerin, denn „Gott hielt es für angebracht, dich fruchtbar zu machen und dem sind wir verpflichtet“ (S 01 E 3 Min 35). Desglen wird einer Genitalverstümmelung unterworfen. Verlieren die Mägde ihren biologischen Wert für die Gemeinschaft – etwa wenn sie sich doch als unfruchtbar erweisen sollten oder als so widerspenstig, dass sie sich, wie Moira, nicht „vermagden“ lassen – dann ist auch ihr Leben der 10 Die Reduktion der gebärfähigen Frauen auf ihre Rolle, des Haushalt des Commanders „ein Kind zu schenken“, wird nicht zuletzt durch die namentliche Anrufung als Eigentum eines Mannes zum Ausdruck gebracht: Im Haushalt des Commander Fred Waterford ist June nur „Desfred“ (bzw. im Englischen „Offred“).

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Vernichtung in den Kolonien preisgegeben11 . Was mit Frauen in der Menopause passiert, erzählt die Serie nicht. Man kann spekulieren, dass aufgrund der Umweltbedingungen die Lebenserwartung gesunken ist und möglicherweise viele Frauen dieses Alter nicht erreichen. Tante Lydia und einige der Frauen der Commander wirken jedoch älter als 50 Jahre (beispielsweise die Ehefrau des Commanders Warren Putnam), Personen jenseits des 65. oder 70. Lebensjahrs tauchen dagegen nicht auf. Vermutlich dürften Frauen, die nicht der Führungselite angehören, mit dem Klimakterium den Schutz verlieren, den ihnen ihre Fruchtbarkeit zuvor verliehen hat.

3.2

Die Mägde als Zentrum und Peripherie des gileadschen Herrschaftssystems

Gilead ist die totalitäre Antwort auf ein biopolitisches Problem: die Sicherung der Reproduktion. Ihr Mittel ist die Errichtung eines politisch-administrativen Herrschaftssystems, das zugleich ein territorialer Herrschaftsraum ist. Innerhalb dieses Herrschaftsraums ist ein System abgestufter Rechte etabliert, das umfassend auf die (möglichen) Subjektpositionen einwirkt, die Männer und Frauen einnehmen können. Im Mittelpunkt des Systems steht die gebärfähige Frau, an der eine Abspaltung der biologischen Identität vom politischen Subjekt im Namen einer „imaginierten politischen Gemeinschaft“ (Anderson 1983) vollzogen wird. Diese beansprucht den im Sinn der Reproduktion funktionierenden Frauenkörper als staatliche Ressource12 . Diese Ressource ist nicht nur in Gilead knapp, sondern auch in anderen Staaten; damit wird der Körper der Frau endgültig zur handelbaren Ware. Die herrschende Schicht von Gilead ist bereit, gebärfähige Frauen nach Mexiko zu verkaufen, wo es Städte gibt, in denen seit Jahren kein lebendes Kind mehr geboren wurde. Die Frauen, die dieser staatlichen Ressource zugerechnet werden, sind somit zugleich Zentrum und Peripherie Gileads: Zentrum im Sinne ihrer biologischen und warenförmigen Bedeutung für die Gemeinschaft, Peripherie im Hinblick darauf, dass sie unterworfen, entrechtet, nahezu vollständig kontrolliert und ihrer Individualität weitgehend beraubt werden. Ihre Körper sind wichtig, ihre Emotionen, ihre Psyche, ihre Gedanken jedoch nur insoweit als 11 Oder – vor diese Wahl sah sich Moira nach ihrer ebenfalls gescheiterten Flucht gestellt – zunächst für einige Jahre in „Jezabels Reich“ sexuell ausgebeutet zu werden, doch der anschließende Tod ist gewiss (S 01 E 8 Min 37). 12 Auch in nicht-fiktionalen Welten wird Gesundheit als nationale Ressource deklariert, weil sie „Voraussetzung und Folge von Sicherheit, Stabilität und Wohlstand“ sei. Voss und Hunger (2018, S. 2) – wenn auch ohne eine Zuspitzung auf die weibliche Reproduktionsfähigkeit.

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Abb. 2 Deswarren gebiert ihre Tochter im Kreis der Mägde und Tante Lydias, hinter ihr die Frau des Commanders Warren Putnam, gehalten von den Frauen anderer Commander (Der Report der Magd (MGM und Hulu) S 01 E 2 Min 24)

diese das übergeordnete Ziel nicht gefährden dürfen. Als politische Subjekte sind sie marginalisiert. Selbst in ihrer Rolle als biologische Mütter werden sie so weit wie möglich zurückgedrängt. Nicht nur während der Zeugung/Vergewaltigung, sondern auch unter der Geburt sitzt die Frau, die die soziale Mutter des Kindes werden soll, hinter der Magd und überragt sie. Mehr noch: mit ihrer Kleidung, ihrem Aussehen, den Schreien, die sie ausstößt, und der Art wie sie von den anderen Frauen der Commander unterstützt wird, ahmt sie die Geburt im Moment des Geschehens nach; sie wird zu einer Quasi-Gebärenden (Abb. 2).

3.3

Der Haushalt im Dienste der Biopolitik

Die Episoden der ersten Staffel spielen nicht zufällig zu einem großen Teil im Haus des Commanders: Obwohl die Mägde die Häuser ihrer Commander regelmäßig verlassen dürfen bzw. müssen, um geschäftliche Besorgungen zu erledigen oder bestimmten Zeremonien im Roten Zentrum – dem Ort ihrer gewaltsamen Umerziehung zu Mägden – beizuwohnen, ist das Haus weniger ein Zuhause als vielmehr ein Gefängnis. Das Zimmer der Magd ist spartanisch eingerichtet, es gibt keine persönlichen Besitztümer. Es ist streng geregelt, wann die Magd sich

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zu welchem Zweck durch das Haus bewegen darf. Der Haushalt mit seinen festen Rollen – Hausherr/Commander, Hausfrau/Gattin, Magd, Haushaltshilfe und Fahrer – ist eine Choreographie der totalen Unterwerfung. Unterworfen werden die Mägde, aber nicht nur diese: Die Haushalte fungieren in Gilead als der Ort, an dem allen Menschen ihre gesellschaftliche Position und ihr gesellschaftlicher Wert zugewiesen wird. Der Haushalt wiederum ist vollständig ausgerichtet auf seine Funktion als Ort der sozialen Reproduktion und damit funktionalistisch reduziert auf seine Bedeutung für den Staat. Diese vollständige Unterordnung des Haushalts unter die mit dem Staat assoziierte Biomacht erfordert eine totale Kontrolle des emotionalen und affektiven Repertoires der Subjekte; der Haushalt kontinuiert den Zugriff eines totalitären Regimes bis in den letzten Winkel des täglichen Tuns, Fühlens und Wahrnehmens. Die Dystopie, die in Der Report der Magd entworfen wird, basiert also nicht zuletzt auf der Verschmelzung von Orten durch eine Form skalarer Praxis, die dadurch gekennzeichnet ist, dass es keine Abgrenzung von institutionellen Verdichtungen zwischen einer staatlichen scale und einer als home zu bezeichnenden scale gäbe. Dies wird besonders deutlich in Szenen, die die Kontinuität unterbrechen und zwar im Interesse der „übergeordneten“ biopolitischen Zielsetzung und nicht etwa als Kritik oder Widerstand. Als Serena Waterford realisiert, dass Desfred/June nicht schwanger wird, weil ihr Mann zeugungsunfähig ist, zwingt sie die Magd an ihren fruchtbaren Tagen zum Geschlechtsverkehr mit den Fahrer Nick, in der verzweifelten Hoffnung auf diese Weise die ersehnte sozialen Mutterschaft zu erreichen. So wird Nicks Zimmer über der Garage zunächst zu einem Ort sexueller Erniedrigung für beide Angestellte; ein Ort, an dem mit illegitimen Mitteln ein legitimes Ziel erreicht werden soll. Das Zimmer wird dann aber auch der Ort, den June später aufsucht, um mit Nick aus freien Stücken Geschlechtsverkehr zu haben.

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Der urbane Raum als Gegenort des Kontinuums von Staat und Haus(halt)

Aufschlussreich ist ein näherer Blick auf den städtischen Raum. Das Haus des Commanders steht in einem Stadtviertel, das aufgrund seiner Anlage und Bebauung städtisch anmutet. Einzelne Szenen verweisen ebenfalls darauf, dass Desfred/June in einem städtischen Umfeld lebt. Der städtische Raum bleibt jedoch eigentümlich leer und mehr noch, es stellt sich beim Betrachten der Szenen eine gewisse Orientierungslosigkeit ein. Aus der Perspektive der Magd Desfred, die

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der Film einnimmt, – dies ist zwar nicht die einzige, aber die primäre Perspektive, die die Zuschauer*innen haben – besteht Gileads Wirklichkeit aus seltsam verinselt wirkenden Ausschnitten. Es gibt nicht nur eine reduzierte, sondern zudem streng durchkomponierte Auswahl an Orten, die vor allem den engen Bewegungsraum der Mägde widerspiegeln: die Häuser der Commander, das Rote Zentrum, die (wenigen) Geschäfte und die zwei Wege, die dorthin führen, von denen einer an der Mauer bzw. am Fluss entlang führt und der andere, kürzere „woanders“. Niemals folgt die Kamera einem Weg vollständig, immer werden nur kleine Abschnitte angerissen. Bewegen sich die Mägde außerhalb der oben genannten, festumrissenen Orte, so handelt es sich häufig um Fahrten in weitgehend fensterlosen Lieferwagen/Bussen oder Pkw, durch deren meist regenverschmierte Scheiben die Außenwelt bestenfalls schemenhaft wahrnehmbar ist. Mehrfach wird gezeigt, wie Desfred und andere Mägde Gebäude verlassen und unter den wachsamen Augen von bewaffneten Männern einen Transporter besteigen, der hinter ihnen geschlossen wird. Der Außenraum wird nur betreten, um ihn – erzwungenermaßen – sogleich wieder zu verlassen. Im öffentlichen Raum haben die Mägde außerhalb der fest umrissenen Wege keinerlei Existenz. Dass eine gewisse topographische Orientierungslosigkeit zum Programm der Disziplinierung (treffender ist hier vielleicht Entrechtung) der Mägde gehört, wird in einer Szene deutlich, in der sich Tante Lydia darüber wundert, dass Deswarren (mittlerweile: Desdaniel), die aus dem Haus ihres neuen Commanders geflohen ist, den Weg zum Haus ihres vorherigen Commanders überhaupt gefunden hat (S 01 E 9 Min 8). Dort musste sie ihr Baby zurücklassen, nachdem sie einem neuen Commander zugeteilt wurde. Dieser Eindruck eines merkwürdig entfremdeten Außenraums wird auf zweifache Weise gestützt: Zum einen werden alle Wege (mit Ausnahme der Fußwege zu den Geschäften), die die Mägde außerhalb des Grundstücks ihrer Commander zurücklegen, immer aus der Perspektive der in einem Fahrzeug sitzenden Mägde gezeigt, d. h. oft unscharf vorbeiziehend, durch Regentropfen auf den Autoscheiben getrübt oder durch getönte Autoscheiben abgedunkelt. Das visuelle Programm erzeugt eine Orientierungslosigkeit, die das disziplinierende Repertoire Gileads stützt: Die Mägde werden durch den städtischen Raum transportiert, sie sind passive Objekte, die mobilisiert werden. Die wenigen Szenen, die die Mägde in Außenräumen zeigen – z. B. als Moira und June aus dem Roten Zentrum Richtung Bahnhof fliehen – zeigen einen städtischen Raum, der von nahezu allen Zeichen mit Ausnahme der Architektur selbst entleert und auf reine Verkehrsfunktionen reduziert wirkt. Symbolisch steht hierfür auch das Entfernen der einzigen noch erkennbaren Beschriftung im unterirdischen Bahnhof Arlington (Abb. 3).

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Abb. 3 Ein Arbeiter entfernt den einzigen noch erkennbaren Schriftzug im Bahnhof Arlington (Der Report der Magd (MGM und Hulu) S 01 E 4 Min 36)

Es gibt keine Werbung, keine Hinweisschilder, keine Möglichkeit des Verweilens, keine Anzeichen individueller Aneignungen des städtischen Raums, nur in Beton und Backstein, in Glas und Stahl gegossene Funktionalität. Die Stadt ist kein urbaner Raum, sondern lediglich ein hochgradig kontrollierter, überwachter Außenraum, durch den Personen sich zu definierten Zwecken hindurchbewegen. Damit wird er zur Antithese jeglicher Vorstellung von „Stadt“ als Ort und Bühne emanzipatorischer Akte und Möglichkeiten individueller Entfaltung. Dass der städtische Raum diese filmische Ausdeutung erfährt, ist im Kontext der in Der Report der Magd entworfenen und inszenierten Raumordnung durchaus plausibel und unterstreicht die hegemoniale Bedeutung der durch die (bio-)machttechnologischen Praktiken verfestigten scales des territorial verfassten Nationalstaats und des Haushalts. In dieser Logik muss das emanzipatorische Potenzial urbaner Kontexte – sinnfällig gemacht in den erinnernden Rückblenden, in denen June sich ihrer eigenen Vergangenheit versichert, – soweit wie möglich im Interesse einer umfassenden Disziplinierung aller Bürger*innen unterdrückt werden. Das extrem verengte Spektrum der für die Subjekte erreichbaren Positionierungen darf nicht durch ein Tableau der Möglichkeiten irritiert werden. Der städtische Raum als Ermöglichungsraum und Projektionsfläche für Emanzipationsgewinne gehört der Vorgeschichte Gileads an und wird erzählerisch

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(rück-)gekoppelt an eine historische Vergangenheit der Vereinigten Staaten, von der sich Gilead gewaltsam gelöst hat. Und zwar (aus Sicht der Dezisionist*innen) aus gutem Grund, ist es doch die Lebens- und Wirtschaftsweise der Vergangenheit, die zu jenen ökologischen Katastrophen geführt hat, mit denen nun die radikale biopolitische Zuspitzung legitimiert wird.

5

Fazit

Der Report der Magd stellt keine Realität dar, wirft aber die Frage auf, wie eine Gesellschaft aussehen und welcher Mittel sie sich bedienen könnte, wenn pronatalistische Positionen radikalisiert werden. Die Priorisierung eines bestimmten biopolitischen Ziels wird mit bestimmten räumlichen Mitteln durchgesetzt, wobei dem Staat als zentralisierende Maßstabsebene die entscheidende Rolle zukommt, weil dies die Ebene ist, auf der praktisch alle Regulierungsmechanismen entworfen und durchgesetzt werden, die die Positionierungsmöglichkeiten der Subjekte betreffen. Die biopolitische Serie „Bevölkerung – biologische Prozesse – Regulierungsmechanismen – Staat“ (Foucault 2009, S. 295) regiert unter den autoritären Verhältnissen Gileads durch alle Räumlichkeiten hindurch. Das Zuhause – der Haushalt – fungiert als komplementäre Instanz, nicht als ein „eigener“ Ort; die Stadt löst auf zu einem funktionalen Gebilde, in dem die autoritäre Form der Herrschaft nur noch vollstreckt wird.

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Die Zukunft als Albtraum The Handmaid’s Tale – oder: Politische Bildung in Dystopischen Settings Anja Besand Nachdem die Serie ‚The Handmaid‘s Tale‘ in diesem Band bereits aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven betrachtet worden ist, soll im folgenden Beitrag die politische Bildungswirksamkeit dieser Serie in den Blick genommen werden. Der Begriff der Bildungswirksamkeit verweist dabei in einer didaktischen Perspektive nicht unbedingt auf die Frage, was sich mithilfe dieser Serie lernen lässt, obwohl das angesichts der seit geraumer Zeit fest etablierten pädagogischen Nutzung dieses Materials in schulischen Kontexten eine durchaus relevante Frage sein könnte (vgl. Rosenthal 2000; Korte 1990). Die Perspektive dieses Beitrags ist eher umgekehrt auf die Frage gerichtet, welche Bildungsprozesse sich in der Serie spiegeln und was die politische Bildung durch Betrachtung dieser Prozesse über popularisierte und damit weit verbreitete Vorstellungen und Ängste lernen kann. Ich betrachte die Serie dabei konsequent aus der Perspektive der politischen Bildung. Das ist eine sowohl pädagogisch also auch didaktisch interessierte Perspektive. Um Missverständnisse zu vermeiden bedeutet das allerdings nicht – oder zumindest nicht zwangsläufig – die Serie als Bildungsgegenstand oder Bildungsmittel für institutionalisierte Lernangebote zu empfehlen. Doch dazu später mehr. The Handmaid’s Tale ist eine US-amerikanische Fernsehserie, die auf dem gleichnamigen Buch von Margaret Atwood aus dem Jahr 1985 basiert. Der Serienstart erfolgte am 26. April 2017 beim Videoportal Hulu, in Deutschland wurde die Serie über den bislang noch eher wenig genutzten Dienst Telekom Entertain A. Besand (B) Technischen Universität Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021, Korrigierte Publikation 2022 A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3_8

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exklusiv angeboten. Bereits im Jahr 2017 wurde die Serie in mehreren Kategorien mit dem Emmy Award sowie zwei Golden Globe Awards ausgezeichnet. In der Zwischenzeit sind unzählige weitere Nominierungen und Preise dazu gekommen. 2018 ist die zweite Staffel der Serie erschienen, die Produktion der dritten Staffel steht zum Zeitpunkt der Publikation dieses Textes unmittelbar bevor. Sichtbar wird hier: The Handmaid‘s Tale ist eine enorm erfolgreiche TV Serie. Da die Serie in Deutschland allerdings noch nicht über die verbreiteten Streamingdienste Netflix und Amazon Prime zugänglich ist, haben wir es gleichwohl mit einem Material zu tun, welches seine Popularisierung und breite Rezeption zu einer hohen Wahrscheinlichkeit noch vor sich hat.1 Deshalb zunächst eine kurze, eher deskriptive Zusammenfassung der Serienerzählung.

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Was bisher geschah

Bereits im Trailer der Serie wird das Figurentableau sowie der Kernplot der Erzählung sichtbar. The Handmaid‘s Tale erzählt die Geschichte einer Frau, die als Magd im Amerika einer dystopischen Zukunft versklavt und zur Reproduktion gezwungen wird. In der Serie werden verschiedene zeitliche Stränge präsentiert. Auf den ersten Blick lassen sich zwei Erzählstränge unterscheiden. Ein Erzählstrang präsentiert eine der eigentlichen Serienhandlung vorgelagerte Geschichte, die unserer Gegenwart weitgehend gleicht. Männer und Frauen gehen zur Arbeit, begegnen sich in der Freizeit, gehen Beziehungen ein, ringen um Gleichberechtigung und beobachten und beklagen gleichzeitig politische Strukturen bzw. Entwicklungen, die dieser Gleichberechtigung entgegen stehen – allerdings ohne diese in ihrem Kern zu verstehen oder sich gegen diese manifest aufzulehnen. Im Trailer wird dieser Zustand immer wieder mit dem Begriff des „Schlafens“ beschrieben. Das Aufwachen erfolgt recht spät, nämlich erst nachdem das in der Serie geschilderte gesellschaftliche und politische System ins Autoritäre gekippt ist. Als Kernursache für die autoritäre Revolution, in der die Serienhandlung ihren Ausgangspunkt findet, wird eine durch Umweltgifte induzierte Reproduktionskrise angegeben. Es werden kaum noch gesunde Kinder geboren. Die Serie findet dafür eindrücklich und bedrohlich Bilder von verlassenen Kinderstationen und leeren Babybettchen (vgl. Abb. 1). Der Farbcode dieser Bild ist blau und kalt. Die Kinderstationen wirken wie verlassene Industriebauten als Infrastrukturen einer

1 Dieser Beitrag wurde im Sommer 2019 verfasst. Zu diesem Zeitpunkt existieren zwei Staffeln

der Serie, keine der Staffeln ist über die populären Steamingsdienste ohne weiteres zugänglich.

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Abb. 1 S1E 2. (The Handmaid’s Tale – MGM – S1E2 Minute 16: Leere Säuglingsstation)

untergegangenen Epoche. Die Figuren wirken desorientiert. Sie werden sich – genau wie die Zuschauerinnen und Zuschauer auch – durch die Betrachtung der Szenerie der Situation nur langsam bewusst. In dieser Situation bildet sich nach und nach der totalitäre, christlich-fundamentalistische Staat Gilead heraus, in dem sowohl Reproduktion und soziale Beziehung strikt geregelt werden. Der zweite Erzählstrang ist auf das Leben in Gilead gerichtet. Die IchErzählerin June findet sich in einer Situation wieder, in der sie als Magd versklavt und zur Reproduktion gezwungen wird. Sie hat ihren Namen verloren und trägt jetzt nur noch den Namen ihres Herren „Desfred“.2 Die Gesellschaft ist ständisch organisiert. Die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Ständen wird über uniformierte Kleidervorschriften und Farbcodes markiert und kontrolliert (vgl. Abb. 2). Rot ist dabei die Farbe der Mägde. Sie steht für deren Fruchtbarkeit, Körperlichkeit aber auch Blut und Leid. Zudem ist rot als Signalfarbe leicht sichtbar und sehr gut kontrollierbar. Die Ehefrauen tragen blau. Eine aristokratische Farbe, die gleichzeitig allerdings auch symbolisch für die Jungfrau Maria steht und damit geeignet ist sowohl die Leidensbereitschaft und Strenge der Ehefrauen sowie ihre Rolle als (zukünftige) Mutter zu unterstreichen. Die Farbe der Tanten und damit Ausbilderinnen ist braun. Ihre Kleindung wirkt militärisch, was durch die zurückgenommene Farbigkeit unterstrichen wird. Braun ist gleichzeitig die Farbe sterbenden Laubes und toter Natur. Die Tanten können keine Kinder bekommen. 2 Im

Original „Offred“.

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Abb. 2 Kostüme in The Handmaid‘s Tale. (Quelle: Bildquelle https://www.cnn.com/travel/ article/handmaids-tale-costumes/index.html)

Sie können lediglich helfen, den Reproduktionsprozess in Gang zu halten. Männer tragen dunkle Farben, schwarze Anzüge und Mäntel. Ihre Erscheinung ist traditionell, wird aber insgesamt weniger stark reglementiert. Frauen ist es in Gilead nicht erlaubt zu arbeiten, Eigentum oder Geld zu besitzen. Stattdessen werden die letzten als fruchtbar erachteten Frauen zum Eigentum standeshoher Männer. Sie werden in einer monatlichen Zeremonie (Abb. 3) zum

Abb. 3 S1E3. (The Handmaid’s Tale – MGM – S1E1 Minute 31 Ritual)

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Abb. 4 S1E4. (The Handmaid’s Tale – MGM – S1E4 Minute 12 Ritual Ausbildung)

Beischlaf gezwungen, damit sie deren Kinder empfangen, austragen und anschließend an deren rechtmäßige Ehefrauen übergeben. Auf diese Aufgabe werden die Mägde von sogenannten Tanten vorbereitet. Das heißt, zukünftige Mägde durchlaufen eine Ausbildung in der sie lernen, die Rituale und Regeln des neuen totalitären Staates zu befolgen (Abb. 4) und sich entsprechend zu verhalten. Zentrales Ausbildungsmittel sind dabei repetitiv wiederholte Bibelpassagen und ein Elektroschocker, mit dem insbesondere zu Beginn der Ausbildung der Wille der Frauen gebrochen wird (Abb. 5). Die Frauen lernen in diesem Rahmen aber auch, sich gegenseitig zu demütigen und zu kontrollieren. Eine Schlüsselszene, in der dieses pädagogische Mittel sichtbar wird, ist die letzte Szene der dritten Episode in Staffel 1. In dieser Szene berichtet Janine von einer Gruppenvergewaltigung mit anschließendem Schwangerschaftsabbruch und wird auf Geheiß der Ausbilderin von anderen Mägden im Chor beschuldigt, an der Vergewaltigung selbst schuld gewesen zu sein. SlutShaming3 ist ein wirksames Mittel der Schuldverlagerung durch Opfer-Täter 3 Slut-Shaming

bezeichnet den Angriff auf und die Abwertung von Frauen und Mädchen wegen ihres vermeintlich sexualisierten Auftretens, ihrer sexuellen Aktivität oder auch nur wegen bestimmter Kleidungsweisen. Der Begriff wird auch genutzt um Opfer sexualisierter Gewalt für das ihnen zugefügte Verbrechen selbst verantwortlich zu machen, üblicherweise

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Abb. 5 S1E3. (The Handmaid’s Tale – MGM – S1E3 Minute Slutshaming) 34

Umkehr und geeignet als Instrument zur Stabilisierung männlicher Vorherrschaft. In der Serie The Handmaid‘s Tale sind es insbesondere Szenen wie diese, die die RezipientInnen herausfordern. Sie sind schwer erträglich und vermitteln auf eindrückliche Weise die Geschlossenheit und Ausweglosigkeit der Situation, in der sich die Protagonistin befindet.

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Vom Material zur Rezeption – oder don‘t binge-watch The Handmaid’s Tale

Wie bei andere Serien auch, finden sich im Netz vielfältige Foren, in denen Zuschauerinnen und Zuschauer sich über ihre Rezeptionserfahrungen beim Betrachten der Serie The Handmaid‘s Tale austauschen. Die Serie wird in diesen Foren geradezu überschwänglich gelobt. Wirklich bemerkenswert beim Blick indem aufreizende Kleidung, kurze Röcke oder ähnliches als Auslöser des Verbrechens bezeichnet werden.

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Abb. 6 Screenshot. (https://mashable.com/ 2018/05/25/handmaids-taledo-not-binge-watch)

in die Foren ist gleichzeitig aber auch, dass die Zuschauer*innen dieser Serie sich gegenseitig vor einem allzu obsessiven Konsum der Serie warnen. „Don‘t BINGE The Handmaid’s Tale – also schau das nicht alles auf einmal an – lass dir Zeit für die Serie – ist in diesem Sinn ein immer wieder ins Auge springender Rat, der zwischen den Zuschauer_innen ausgetauscht wird (vgl. Abb. 6). Die Serie wird von ihren Zuschauer_innen als Herausforderung beschrieben. Sie ist „schlimmer als jede Horrorserie“. Es ist „nicht leicht The Handmaid‘s Tale zu sehen“. Die Serie ist „schwer zu verdauen“. All das sind Ratschläge, die sich in Fanforen zur Serie häufig finden lassen. Auf einer Fanseite wird gar empfohlen Freunde „on call“ zu haben, damit man mit dem Stoff der Serie nicht allein bleibt. Die Zuschauer*innen warnen sich – das ist hier leicht zu erkennen – also gegenseitig vor dieser Serie. Sie sprechen gleichzeitig aber auch davon, von der Serie fasziniert zu sein und sie immer weiter sehen zu wollen. „I can‘t stop watching“ (vgl. Abb. 7). Ja mehr als das. Die Zuschauer*innen empfehlen sich das Material nachdrücklich und sie tun dies, weil sich – nach ihrer Meinung – viel durch diese Serie lernen lässt. Abb. 7 Screenshot. (https://www.huffpost.com/ entry/the-handmaids-tale-isthe-most-brutal-show-on-tvwhy-cant-i-stop-watching_ n_5afb663ae4b0779345d 3dd06)

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„The show’s fascinating subject matter isn’t always easy to digest, but in the current times in which we live, the show is a must-see for more than just an entertainment fix. Within the current landscape of the #MeToo movement, and a multitude of circumstances in the current political climate that mirror the show far too closely, it is truly one of the most important shows on television and everyone should be watching.“ (Feldmann 2018)

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„Die Serie als Dokument des politischen Unterbewusstseins unserer Zeit“

Wie ist diese ambivalente Haltung der Rezipient*innen zu erklären? Wie ist es möglich, dass eine TV Serie und damit ein Produkt der Unterhaltungsindustrie einerseits als verstörend und belastend empfunden wird und andererseits so erfolgreich ist? Warum interessieren sich so viele Menschen für diese Erzählung? Oder noch allgemeiner gefragt: Warum sind Dystopien medial derzeit so erfolgreich? Denn The Handmaid‘s Tale ist bei weitem nicht die einzige dystopische TV Serie, die derzeit erfolgreich ist. Eine erste Antwort auf diese Frage wird zugänglich, wenn wir den Blick weiten und andere dystopische TV – Serien mit in den Fokus nehmen. Lars Koch schreibt in der Auseinandersetzung mit der Serie Game of Thrones beispielsweise, dass der Erfolg einer Serie wie Game of Thrones nur dadurch zustande kommt, dass es dieser Serie, die zunächst zwar vielleicht wie eine mittelalterliche Fantasiewelt erscheinen mag, gelingt, an kollektive Ängste, Hoffnungen und Überzeugungen der Gegenwart anzuschließen und damit auch als Dokument des politischen Unterbewusstseins unserer Zeit gelesen werden kann (vgl. Koch 2018, S. 133). Serien, so wäre im Anschluss an Koch zu sagen, sind nur dann erfolgreich, wenn es ihnen gelingt, die Fragen zu adressieren, die die Gesellschaften zu ihrer Zeit beschäftigen und das ganz unabhängig davon, ob die Geschichten, die sie erzählen, in der Vergangenheit oder einer vermeintlichen nahen Zukunft liegen. The Handmaid‘s Tale wäre demnach als Spiegel zu verstehen, in dem sich Ängste, Fragen und Überzeugungen der Gegenwart spiegeln. Aber: Leben wir tatsächlich in einem derart dystopischen Zeitalter? Haben wir tatsächlich Angst, dass unsere Gesellschaften ins Autoritäre gleiten? Befürchten wir einen Backlash im Hinblick auf Frauenrechte bzw. die Gleichstellung der Geschlechter? Ängstigen wir uns vor nicht mehr rückgängig zu machenden selbstinduzierten Umweltveränderungen? Im Zeitalter von Donald Trump, der Metoo-Bewegung und einer immer sichtbarer werdenden Klimaveränderung müssen – bedrückender Weise – viele dieser Fragen mit Ja beantwortet werden. Tatsächlich leben wir in einer

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Zeit, in der sich unsere Gesellschaften politisch zunehmend polarisieren. Reaktionäre, nationalistische und frauenfeindliche Bewegungen erhalten selbst in Ländern mehr und mehr Zustimmung, die als gefestigte Demokratien gelten. Menschengemachte Klimaveränderungen werden unübersehbar, ohne dass Lösungen wirklich in Sicht geraten. Aber ist es in einer solchen Situation tatsächlich schlau, sich auch noch am Abend im Unterhaltungsprogramm mit düstersten Dystopien zu umgeben? Das ist eine ernst zu nehmende Frage. Eine Antwort darauf ist nicht leicht zu finden. Im Folgenden soll auf der Grundlage gesellschaftstheoretischer Überlegungen ein erster, wenn auch eher vorsichtiger Antwortversuch unternommen werden.

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Wir befinden uns in einer gewaltigen Illusionskrise

Angesprochen auf die Frage, wie sich nach seiner Auffassung das Problem der gegenwärtigen Gesellschaften am besten beschreiben lässt, antwortet Oskar Negt in Sommer 2018: „Ich spreche von einer Illusionskrise, in die diese Gesellschaft geraten ist (…) Neu ist, dass die Loyalitäten und Bindungsprozesse gegenüber bestimmten Traditionen brechen. Das Parteiensystem gehört dabei zu den letzten Traditionen, die in Frage gestellt werden. Wir haben zum ersten Mal wieder so etwas wie ein faschistisches Potenzial – nicht nur in Deutschland, sondern in Europa. Ein faschistisches Potenzial insoweit, als dass hier die verschiedenen Angstreaktionen und verschiedene Hoffnungen zusammengebündelt sind zu einem Rohstoff, der bearbeitet werden kann. Wir beobachten im Augenblick eine Rückwendung zu archaischen Strukturen. Denn es geht den Akteuren ja nicht einfach um eine Verteidigung der demokratischen Verhältnisse. Wir beobachten vielmehr die Rückwendung zu ganz alten Antworten“ (Negt 2018).

Worauf Negt hier aufmerksam macht, lässt sich bei genauer Betrachtung mit vielen Beispielen illustrieren. Von der Wiederkehr nationalstaatlicher und protektionistischer Steuerungsvorstellungen als Reaktion auf globale Herausforderungen über die Renaissance der Idee einer homogenen Volksgemeinschaft bis hin zu den lange widerlegten ökonomischen Theorien eines sogenannten Trickle-down Effekts, der sich gegen besseres Wissen gegenwärtig offenbar wieder leicht popularisieren lässt. Selbst der Bau einer Mauer zum Schutz vor einer als westdeutsch gelesenen Idee einer (auch Migrationsbewegungen gegenüber) offenen Gesellschaft, findet auf PEGIDA-Demonstrationen im Jahr 2016 in Dresden wieder Beifall. Überall lässt sich der Wunsch zu einem Zurück zu sehr alten und

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zum Teil hochproblematischen Erzählungen entdecken, der sich politisch ausschlachten lässt und die gegenwärtigen Gesellschaften vor nicht unerhebliche Herausforderungen stellt (vgl. Besand 2019). Bauman nennt das in seinem posthum erschienen Buch Retrotopia die „verzweifelte Sehnsucht nach Kontinuität in einer fragmentierten Welt“ (Bauman 2017, S. 10). Interessant an der Diagnose Negts oder auch Baumans ist dabei, dass hier die rechtspopulistischen oder nationalistischen Bewegungen der Gegenwart nicht als Ursache, sondern als Symptom einer grundlegenderen sozialen und politischen Krise gelesen werden. Folgen wir diesem Gedanken, kranken die gegenwärtigen Gesellschaften nicht am Erstarken nationalistischer, sexistischer oder rassistischer Vorstellungen – Teile dieser Gesellschaften finden vielmehr Halt in diesen Ideen, weil sie sich keine bessere Welt mehr vorstellen können. Auch das Sichtbarwerden gravierender Klimaveränderungen kann in diesem Zusammenhang als Symptom gelesen werden für Gesellschaften, die trotz besserem Wissen nicht ins Handeln kommen, weil sie sich nicht zutrauen, Probleme tatsächlich bearbeiten zu können. Wichtig ist allerdings festzuhalten, dass nicht nur die Teile der Gesellschaft von der Illusionskrise betroffen sind, die sich von populistischen, nationalistischen oder auch die Klimakrise leugnenden Akteuren ansprechen lassen, sondern dass mehr oder minder alle Teile der Gesellschaft seit geraumer Zeit davon betroffen sind. Unser Problem ist demnach: Wir können uns keine bessere Welt mehr vorstellen. Große Erzählungen wie die von Demokratie und Menschenrechten, aber auch von (neo-)liberalem Wirtschaftswachstum verlieren in diesem Klima ihre tragende Kraft und statt dessen suchen viele den Weg zurück zu einer vermeintlich besseren Vergangenheit (Abb. 8).

Abb. 8 Make Amerika Great Again (Bildquelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: TRUMP_16_Make_America_Great_Again_sticker.jpg)

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„Make Amerika great AGAIN“ – oder: Rückwendung zu sehr alten Antworten

Diese Rückwendung zu ganz alten Antworten finden wir auch in der Bildsprache von The Handmaid‘s Tale. Denn auch wenn der Haupthandlungsstrang der Serie zeitlich in der Zukunft spielt, ist das für die Zuschauer*innen historisch zunächst schwer einzuordnen. Sämtliche Bezugspunkte, die eine historische Einordnung erlauben würden, wie Kleidung, Straßenbild, Architektur, Raumausstattung, Sprache, Konsumartikel und Verhalten wirken historisch oder zumindest wenig gegenwärtig. Direkte historische Verweise werden an verschiedenen Stellen eingebaut. Sie lassen sich beispielsweise in den Kennzeichen entdecken, mit denen Hingerichtete präsentiert werden und sind direkt auf die Kennzeichen von KZ-Häftlingen in deutschen Konzentrationslagern zurückzuführen. Hier hat jemand ganz offensichtlich die Uhren zurückgedreht. Gegenwärtige Probleme (wie die der Umweltzerstörung, des Terrorismus und der Geschlechtergerechtigkeit) und ihre Problematisierung werden in dem der Serienhandlung vorgelagerten Erzählstrang präsentiert. Hier sieht die Welt noch anders aus. Wir sehen moderne Bürogebäude und zeitlose, aber gegenwärtige Kleidungsartikel. Das ist die Gegenwart, wie wir sie kennen. Menschen, Städte, Arbeitsplätze entsprechen unseren Seherwartungen. Der ästhetische Duktus der Serie lässt in diesen Rückblenden weder eine futuristische noch ein historistische Anmutung erkennen (Abb. 9). Erst in Staffel 2 werden beide Ebenen – also historisches Kostüm und zeitgenössische Architektur – wieder bewusst zusammengeführt (Abb. 10). In der ersten Staffel sind solche Überschneidungen selten. Lediglich Automobiltypen liefern hin und wieder kleine visuelle Störmomente, die den Zuschauer*innen helfen können, die Serienhandlung (historisch angemessen) in der Gegenwart oder einer nahen Zukunft einzuordnen. Für die Zuschauerinnen und Zuschauer ergibt sich damit eine verwirrende Situation. Sie haben Schwierigkeiten, die Erzählstränge chronologisch zu ordnen und beginnen sich deshalb viele Fragen zu stellen. Eine erste Frage, die sich in den Fanforen finden lässt, ist naheliegender Weise die Frage nach der zeitlichen Reihenfolge. Was kommt zuerst? Mit dieser Frage ist gleichzeitig aber auch die Frage nach Ursache und Wirkung verbunden. Was folgt auf was? Was ist passiert? Die zeitliche Verwirrung erzeugt gleichzeitig allerdings bei den meisten Rezipient*innen auch eine räumliche Sie fragen sich, wo sich June (also die Icherzählerin) eigentlich befindet. Sie spekulieren, ob June möglicherweise irgendwo anders hingebracht worden ist. Wenn sie aber nicht weggebracht worden ist – wieviel Zeit ist dann vergangen, seit wir June als berufstätige Mutter von Hannah und

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Abb. 9 The Handmaid’s Tale – MGM – S1E 3 Minute 7 Entlassung

Abb. 10 S 2 E6 Schlussszene (The Handmaid’s Tale – MGM – S2 E6 Minute Ende 56 Attentat)

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Frau von Luke kennengelernt haben? Wie ist es möglich, dass die Gesellschaft sich in der Zwischenzeit derart fundamental verändert hat? Wenn aber gar nicht so viel Zeit vergangen ist seit dieser Zeit – wie konnte die Gesellschaft sich so schnell verändern? Kann eine Gesellschaft tatsächlich so schnell ins Autoritäre kippen? Mit diesen Fragen – das spiegelt sich deutlich in den Foren – beschäftigen sich die Menschen beim Betrachten der Serie. Sie stellen sich diese Fragen gegenseitig und helfen sich bei ihrer Beantwortung. Ja – wir sind immer noch in Amerika – wir sind sogar noch in derselben Stadt. June erkennt gelegentlich alte Häuser wieder und erwähnt das gegenüber ihren Mitmägden. Nein – es ist gar nicht so viel Zeit vergangen. Die vergangene Zeit wird insbesondere durch Haarlängen sichtbar gemacht. Zwischen Handlungsstrang A und dem Ausgangspunkt von Handlungsstrang B können maximal 5 Monate vergangen sein. Und ja: es ist durchaus möglich, dass sich eine autoritäre Revolution sehr schnell vollzieht.

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Fiktionaler Realismus

Genau das ist das Bedrückende an dieser Erzählung. Dass sie so realistisch ist. Auch in der Bundesrepublik existieren Gruppen, die – wie zuletzt in Chemnitz sichtbar geworden ist – von einer autoritären Revolution träumen. Frauenrechte werden in vielen Ländern gegenwärtig wieder eingeschränkt. Der Klimawandel vollzieht sich weit dramatischer als angenommen etc. The Handmaid‘s Tale mag als Geschichte einer nahen Zukunft geschrieben worden sein – Reflexionen dieser Geschichte lassen sich aber jeden Tag in unserem Alltag entdecken. Und genau das hat Magret Atwood als Autorin der Literaturvorlage bei der Entwicklung dieser Geschichte auch beabsichtigt. Angesprochen auf den Realitätsgehalt der Erzählung sagt sie selbst: "As with The Handmaid’s Tale, I didn’t put in anything that we haven’t already done, we’re not already doing, we’re seriously trying to do, coupled with trends that are already in progress… So all of those things are real, and therefore the amount of pure invention is close to nil.“ (Atwood im Interview mit Gruss 2004)

In eben diesem fiktionalen Realismus liegt der Bildungsgehalt der Serie verborgen. Atwood hat uns eine Geschichte gegeben, die uns hilft, Gegenwart zu verstehen. Eine dystopische Geschichte, die aufrütteln und Augen öffnen will. The Handmaid‘s Tale ist ein politisches Lehrkunststück. Sie ist im besten und im schlimmsten Sinn didaktisch. Kein Wunder also, dass diese Geschichte gemeinsam mit Orwells 1984 zur Standardlektüre in vielen Lehrplänen zu zählen ist.

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Die Kernfrage, die zu bearbeiten diese Geschichte helfen will, ist die Frage: Wie konnte es soweit kommen? Eine Antwort, die sich in der Erzählung recht explizit finden lässt, liegt in der Ungläubigkeit und Untätigkeit, mit der die zentralen Figuren des Plots auf erste Veränderungen reagieren. Sie können es einfach nicht fassen. Sie reagieren zu spät. Diese Ungläubigkeit wird in der Serie dramatisch in Bilder gefasst. Sie spiegelt sich in den Gesichtern der zentralen Figuren – allen voran Junes Gesicht, wenn, wie in Staffel 1 Episode 1, plötzlich die Kreditkarten aller Frauen nicht mehr funktionieren (vgl. Abb. 11) oder alle weiblichen Angestellten entlassen werden (vgl. Abb. 12, 13 und 14). Besonders eindrücklich kann man diesen ungläubigen Blick auch in einer Szene in Episode 3 der ersten Staffel erkennen, in der June und Moira sich einer Demonstration anschließen und erschüttert feststellen müssen, dass die Sicherheitsleute nicht davor zurückschrecken, auf die Demonstrant*innen zu schießen (Abb. 15, 16, 17, 18, 19 und 20).

Erzählstrang A Rückblende Erzählzeit: 2014 Ästhescher Duktus: zeitgenössisch

Erzählstrang B Haupterzählstrang Erzählzeit: 2019-2025 Ästhescher Duktus: historisch

Abb. 11 Erzählstränge (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 12 The Handmaid’s Tale – MGM – S1E1 Minute 48 Kreditkarte

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Abb. 13 The Handmaid’s Tale – MGM – S1E Minute 6 Entlassung

Abb. 14 The Handmaid’s Tale – MGM – S1E 3 Minute 45 Entlassung

Der erzählerische Kunstgriff, diese Handlung als historische Narration aus einer nahen Zukunft heraus zu erzählen, unterstreicht ihren Aufforderungscharakter. Der Imperativ der Erzählung ist dabei nicht schwer zu verstehen. Er lautet: Demonstriert nicht erst, wenn es zu spät ist. Und diese Botschaft kommt an. Eine Google-Bildsuche mit den Suchwörtern „The Handmaid’s Tale und Demonstration“ liefert tausende von Treffern. Rund um den Globus nutzen DemonstrantInnen die visuellen Codes der Serie (rote Umhänge und weiße Hauben), um auf Demonstrationen gegen die Einschränkung von Frauenrechten zu

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Abb. 15 The Handmaid’s Tale – MGM – S1E 3 Minute 42 Demonstration Abb. 16 Demonstrantinnen in Mexico

Abb. 17 Demonstrantinnen in Argentinien. (https://www. leidenartsinsocietyblog.nl/ articles/mom-3-blessed-bethe-fruit-why-the-handma ids-tales-sexual-politicsare-not) Abb. 18 Demonstration Polen. (https://www.thedai lybeast.com/polish-handma ids-tale-protesters-wel come-dumb-trump-to-theircountry)

demonstrieren. Die DemonstrantInnen tragen dabei nicht selten Schilder mit Texten wie „This is how it starts“ (vgl. Abb. 21) und machen damit sichtbar deutlich,

Die Zukunft als Albtraum Abb. 19 Demonstrantinnen in Finnland. (https://www. welt.de/vermischtes/plus18 0112814/Handmaid-s-TaleDas-Ende-der-Frauenrec hte-ist-keine-Fiktion.html)

Abb. 20 Demonstrantinnen in England. (https://www. imago-images.de/fotos-bil der/london-protest-trump)

Abb. 21 Demonstrantinnen in den USA. (https://www.gettyi mages.de/detail/nachricht enfoto/protesters-dressedas-characters-from-the-han dmaids-nachrichtenfoto/109 6626870)

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dass sie die Message der Erzählung verstanden haben und weitertragen wollen. Sie möchten rechtzeitig reagieren und in Bewegung kommen. Die DemonstrantInnen nutzen dazu einen visuellen Code, der – vermittelt über die TV – Serie – international verständlich und damit geeignet ist, erfolgreich mediale Aufmerksamkeit zu generieren. Sie präsentieren sich als Opfer einer Politik, die sie als reaktionär, sexistisch oder allgemeiner: menschenfeindlich skandalisieren. Ähnlich wie die medial präsentierten Hauptfiguren drücken die DemonstrantInnen allerdings auch ihre Fassungslosigkeit aus. Auf Plakaten wie: „The Handmaid‘s Tale is not an instruction manual“ (vgl. Abb. 17) oder „Make Atwood Fiction again“ beschreiben sie ihre Irritation. Diese Fassungslosigkeit ist allerdings eine Falle, aus der die DemonstrantInnen sich kaum befreien können. Politische Forderungen, die über Sprüche wie „Make Human Rights great again“ (vgl. Abb. 19) hinausgehen, sind in diesem Kontext entsprechend auch eher selten zu finden. Vielmehr verbleiben die Demonstrationen in einer Selbstviktimisierung, in der sie die eigene Situation mit der in der Serien dargestellten Vergewaltigung und Sklaverei gleichsetzen bzw. sich in eine Zeit zurückträumen, von der sie glauben, die Menschenrechte hätten umfassendere Geltung gehabt. Auch sie sind offenbar gefangen in einer Illusionskrise, in der es keine Zukunft, sondern bestenfalls eine weniger schlimme Vergangenheit zu geben scheint.

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Die Dystopie ist auserzählt

Damit kommen wir zum Ende dieses Beitrags zu einer eher verhaltenden Bilanz. Auch wenn die RezipientInnen der Serie The Handmaid‘s Tale die Serie als lehrreich einschätzen, ist diese kaum geeignet, der umfassenden Illusionskrise etwas Substanzielles entgegen zu setzen. Die Erzählung ist durch die geschickte Platzierung dieser Vor- und Rückblenden offensichtlich recht gut geeignet um reaktionäre oder retrotopische Strategien sichtbar zu machen und Menschen gegen diese Strategien zu mobilisieren (vgl. Besand 2016). Sie dient damit als Warnung. Sie macht sichtbar, wie Gesellschaften im Rückwärtsgang funktionieren. Sie veranschaulicht reaktionäre Dynamiken, zeigt auf, zu was das führen oder wie das aussehen kann und motiviert damit offenbar recht erfolgreich, sich dem entgegenzustellen. Sie schafft es aber nicht, aus einer Gesellschaft der Angst wirklich auszubrechen, sondern bedient Ängste, weil sie es nicht schafft zu sagen, welche Welt wir wollen könnten. Sie ist damit rein reaktiv. Es mag ungerecht erscheinen von einem dystopischen Text wie dem, den wir in diesem Band näher ins Auge gefasst haben, mehr zu verlangen. Für Gesellschaften, die sich einem verbreiteten Pessimismus ergeben haben, ist das aber

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bestenfalls die halbe Medizin. Aus der Perspektive politischer Bildung wäre deshalb durchaus zu fragen, ob wir wirklich nur Stoffe brauchen, die uns helfen, uns denen in den Weg zu stellen, die das Rad rückwärts drehen möchten, oder ob wir nicht auch Stoffe brauchen, die helfen Vorstellungen davon zu entwickeln, worauf wir zukünftig unsere Hoffnungen richten möchten (vgl. Besand 2018). Die Dystopie ist auserzählt.

Literatur Bauman, Zygmunt (2017): Retrotopia, Berlin. Besand, Anja (2019): Hoffnung und ihre Losigkeit, in Dies/Overwien, Bernd/Zorn, Peter (Hrsg.) Politische Bildung mit Gefühl, Bonn S. 173–187. Besand, Anja (2018): Die Welt muss als grundsätzlich gestaltbare Welt präsentiert werden, in: Reinhardt, Volker (Hrsg.) Wirksamer Politikunterricht, Schneider/Hohengeren 2018, S. 26–38. Besand, Anja (2016): Zweite Wahl? Von House of Cards bis Breaking Bad. Didaktische Reflexionen über die Chancen und Grenzen der Vermittlung politischer Konzepte durch Fernsehserien, in: Sanders, Olaf/Besand, Anja/Arenhövel, Mark (Hrsg.) Ambivalenzwucherungen - Breaking Bad aus bildungs-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Blickwinkeln, Köln 2016, S. 195–213. Feldmann, Dana (2018) ‚The Handmaid’s Tale‘ Isn’t An Easy Show To Watch, But It’s One Of The Most Important On TV, in: Forbes, online unter: https://www.forbes.com/sites/ danafeldman/2018/07/13/the-handmaids-tale-isnt-an-easy-show-to-watch-but-its-oneof-the-most-important-on-tv/#1a5a9c8462a1 Gruss, Susanne (2004). „People confuse interpersonal relations with legal structures.“ An Interview with Margaret Atwood. Gender Forum. Archived from the original on 27 April 2016. Retrieved 28 March 2016 online zugänglich über https://web.archive.org/web/20160427013239/http://www.genderforum.org/fil eadmin/archiv/genderforum/queer/interview_atwood.html Koch, Lars (2018) Power resides where men believe it resides – Die brüche Welt von Game of Thrones in: Besand, Anja (Hrsg.) Von Game of Thrones bis House of Cards, politische Perspektiven in Fernsehserien, Bonn, S. 129–152. Korte, Barbara (1990) Margaret Atwoods Roman „The handmaid’s tale“: Interpretationshinweise für eine Verwendung im Englischunterricht der Sekundarstufe II. online unter. https://www.freidok.uni-freiburg.de/fedora/objects/freidok:5284/datast reams/FILE1/content Negt, Oskar (2018): Vor welchen aktuellen Problemen steht die Zivilgesellschaft? Was sind Krisenphänomene und Herrschaftsmechanismen? Interview als Video online verfügbar unter: www.youtube.com/watch?v=YADti2o-Jbk (Zugriff: 30.08.2018). Rosenthal, Caroline (2000) Canonizing Atwood: Her Impact on Teaching in the US, Canada and Eurpe, in: Nischik, Reingard (Hrsg.) Margaret Atwood. Works and Impact, Rochester, S. 41–56.

„It can’t happen here“ – „But what could happen here?“ Zur dystopischen Aktualität von The Handmaid’s Tale Jan-Philipp Kruse

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Einleitung

The Handmaid’s Tale von Margaret Atwood ist unter anderem als Film, Oper, Ballettstück und fürs Radio adaptiert worden.1 Dass der Roman zuletzt als Serie (HMT) inszeniert worden ist, kann von daher eigentlich nicht überraschen. Schon die auch durch digitale Distribution veränderten Konventionen und Möglichkeiten des Genres lassen dabei erwarten, dass ein herausragendes Qualitätsniveau erreicht werden könnte. Gleichwohl ist die Neuauflage nicht allein ästhetisch goutiert, sondern immer wieder in unmittelbar politischer Absicht zitiert worden. Fotografien von Handmaids etwa vor dem Kapitol (vgl. Abb. 1) sind um die Welt gegangen. Symbole wie diese scheinen etwas auf den sprichwörtlichen Punkt zu bringen, und wenn man sich fragt, woher eigentlich ihr Impakt rührt – warum es jenes und nicht ein anderes Symbol ist, das derart verfängt und die symbolisch vermittelte Aussage in irgendeiner Weise attraktiver als den sogenannten politischen ‚Klartext‘ erscheinen lässt –, wird man seinen Blick zugleich auf die Spezifik der Inszenierung als auch den in Szene gesetzten dystopischen Gehalt richten müssen.

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1990 hat V. Schlöndorff eine Verfilmung vorgelegt, P. Ruders „The Handmaid’s Tale“ wurde 2006 uraufgeführt, die Adaption des Royal Winnipeg Ballett 2013; ins Jahr 2000 fällt eine Radiofassung der BBC (v. J. Dryden).

J.-P. Kruse (B) TU-Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021, Korrigierte Publikation 2022 A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3_9

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J.-P. Kruse

Abb. 1 Handmaids vor dem Kapitol, 27.06.2017 (© SAUL LOEB – AFP/Getty Images, zit. n. Abramson 2017)

Die gezeigten Bilder zeigen eben nicht unsere, sondern eine andere Welt, die jedoch als Folge der tatsächlichen dargestellt wird. Insofern kann es auch nicht um direkt ableitbare politische Forderungen gehen: Etwa die theokratischen Reprisen, die Atwood extrapoliert, sind in westlichen Demokratien einstweilen nur eine Tendenz geblieben. Andererseits scheint es sich bei HMT aber auch nicht allein um eine Art ‚Warndystopie‘ zu handeln, die zur Vorsicht gegenüber den unerwünschten Konsequenzen einer noch gar nicht eingetretenen Disruption (wie einer folgenreichen technologischen Innovation) mahnen würde. Viel eher wäre zu vermuten, dass in der und durch die Hyperbolisierung etwas gewonnen wird, das die Gegenwart nicht nur prognostisch, sondern auch in ihrer aktuellen Gestalt, diagnostisch, trifft, indem sie sich als gemeint erkennt. Auf dem Weg zu einer Antwort auf die Frage, wovon also die symbolische Attraktivität von HMT ihren Ausgang nehmen könnte, wird es daher zunächst darum gehen, inwiefern sich Stoff und Inszenierung als dystopisch verstehen lassen und was, in aller Kürze, für die Zuordnung zu dieser Gattung spricht. Von dort wird zweitens berührt werden, warum gerade das Repertoire des Dystopischen

„It can’t happen here“ – „But what could happen here?“ …

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– „utopia’s twentieth-century doppelgänger“ (Gordin et al. 2010, S. 1) – regelmäßig bemüht wird, wenn Entwicklungsperspektiven von Gesellschaften oder der Menschheit als solcher in den Fokus rücken, und wie sich HMT vor dem Hintergrund jener dystopischen Großwetterlage spezifischer einordnet. Mithilfe des sozialpsychologischen Stichworts „Enthemmung“ kann schließlich tentativ eine gewisse Plausibilität für den Anlass und die Aktualität dystopischer Reflexion in HMT rekonstruiert werden. Entscheidend ist aus dieser Perspektive, dass es nicht allein um die Gegenstände Theokratie und Patriarchat, sondern um die konkrete Möglichkeit einer theokratischen und patriarchalen Regression geht: „It can’t happen here” – „But what could happen here?” (zit. n. Rothstein 1986).

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The Handmaid’s Tale als Dystopie

Dass die literarische Vorlage von HMT im „context of dystopia”, namentlich in der Tradition von „Zamyatin’s We, Huxley’s Brave New World, and Orwell’s 1984” (Malak 2001, S. 4) zu verorten wäre, ist wiederholt an prominenter Stelle erörtert worden. Etwa die Einführungen von Harold Bloom geben in längerer (2001) und gekürzter Fassung (2004) eine entsprechende Analyse von Amin Malak wieder, welche anhand von sechs Charakteristika gewissermaßen die Bewegung des Begriffs – also „Atwood’s rendition and redefinition of those features“ (Malak 2001, S. 4) – nachvollzieht. Die hier zu unternehmende Untersuchung wird grosso modo dieser Argumentation folgen, dabei die verschiedenen „features“ des Dystopischen aber stärker systematisieren, Befunde zur Textentstehung einfließen lassen und die sozialtheoretischen Fundamente der Betrachtung ausweiten (Malak bezieht sich prävalent auf Foucaults Sexualität und Wahrheit). Malaks erste These kann denn auch, verallgemeinert und systematisch hervorgehoben, als eine Art Überschrift reformuliert werden: In Dystopien geht es demnach typischerweise um „the prohibition or perversion of human potential“ (ebd.). Wenn Dystopien oft eine eher holzschnittartige Machart, binäre Oppositionen, zweidimensionales Personal und letztlich ein gewisser Platonismus („Roman à These“ [a.a.O., S. 6]) nachgesagt wird – all diese Klassifizierungen finden sich auch bei Malak wieder –, verdient gerade dieser Zusammenhang eine nähere Betrachtung. So führt HMT etwa anhand des Subplots um die mit der Protagonistin June befreundete Moira anschaulich aus, wie vergleichsweise komplex die dystopische Verwicklung an dieser Stelle gedacht ist. „[P]rohibition“ wird hier zur „perversion“, es ist keine Alternative, die sich gleichsam einmal stellen würde, sondern aus der Ausweglosigkeit der totalitären Situation erwächst bei Moira die Vorstellung, als ‚gute‘ Zwangsprostituierte ein halbwegs ‚gutes‘ Leben führen zu

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können. Der Überlebenswille der ‚starken‘ Figur erscheint nicht ultimativ gebrochen, ihr Potenzial nicht einfach abgeschnitten, sondern gewissermaßen verbogen und entstellt: „Du hast ein paar gute Jahre … Du bekommst Alk und Drogen, so viel du willst, das Essen ist gut, wir arbeiten nur nachts; ich meine, es könnte schlimmer sein“ (HMT E8). Ein anderes Beispiel schildert die Geburtsszene aus der zweiten Episode. Einer der buchstäblich existenziellen Momente des menschlichen Lebens wird dort als Grenzgang zwischen Beklemmung und Ridikülität gezeichnet. Als teilöffentliches Ereignis inszeniert, begleiten andere Mägde den Geburtsvorgang mit Sprechchören („Pressen! Pressen! Pressen!“), während die „Ehefrau“ hinter (und über) ihrer Magd sitzt und deren Entbindung spiegelt, indem auch sie stöhnt und das Gesicht vor Schmerzen verzieht (vgl. Abb. 2). Die Anordnung nimmt dabei Bezug auf die eigene, ikonische Darstellung oktroyierter Sexualität der Serie. Auch hier haben wir es mit einer beklemmenden, zugleich etwas unfreiwillig komischen, halböffentlichen „Zeremonie“ (E4) zu tun, die in augenfälliger Weise ein menschliches Potenzial pervertiert und ihr Gegenstück in staatlich organisierten Zwangsbordellen findet. Die „Zeremonie“ beginnt damit, dass der „Kommandant“ in ein von erdigen Tönen sowie dunklem Grün dominiertes, schwach erleuchtetes Zimmer tritt, in dem ein ausladendes Bett

Abb. 2 Geburtsszene in The Handmaid’s Tale (MGM/Relentless), S 01 E 02 Min 23 (© MGM/Relentless 2017)

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aus dunkelbraunem Holz steht, ein kleiner Tisch, Sessel und Nachtschränke mit Schirmlampen darauf. Außerdem sind ein Kronleuchter und ein Kamin zu erkennen, über dem ein Gemälde hängt. Die vielleicht irgendwo zwischen Biedermeier und amerikanischem Landhausstil anzusiedelnde Kulisse hinterlässt einen gleichsam schweren, bleiernen und gravitätischen Eindruck, der sich in der statuarischen Haltung der Protagonisten, dem gedämpften Ton und einer merkwürdig ritualisierten Handlung fortsetzt, die wie auf Schienen abzulaufen scheint. Kommandant Waterford öffnet bedächtig eine Schatulle, der er ein Libellus entnimmt. Hieraus verliest er eine Passage aus der Genesis, die zur ideologischen Legitimation dienen soll, und seine Stimme erklingt noch aus dem Off, während er die auf dem Schoß seiner Frau liegende Magd im Anzug, mit geöffnetem Hosenschlitz und in die Hüfte gestemmten Armen, vergewaltigt (vgl. Abb. 3). In Nahaufnahme ist zunächst Junes stumm entsetztes, beinah regungsloses Gesicht zu sehen, das durch die Kinetik der Penetration auf und ab bewegt wird, dann das versteinerte der Ehefrau des Kommandanten, Serena. Abgesehen von der offen kriminellen Dimension hat die ganze Situation etwas Statisches, Formelhaftes, unter dessen Oberfläche das Leid der Beteiligten wie erstarrt scheint: „Dystopian societies, consumed and controlled by regressive dogmas, appear constantly static: founded on coercion and rigid structures, the system resists change and becomes arrested in paralysis“ (Malak 2001, S. 5).

Abb. 3 Die Anordnung der „Zeremonie“ in The Handmaid’s Tale (MGM/Relentless), S 01 E 01 Min 31 (© MGM/Relentless 2017)

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Aus technischer, oder genauer: instrumentalistischer Warte wird natürlich an der Reproduktion der Spezies gearbeitet, und zynisch ließe sich formulieren, dass damit sowohl Probleme als auch Bedürfnisse adressiert werden – nur eben auf eine zutiefst verzerrte Weise („join external tension with internal terror“ [a.a.O., S. 4]), die entscheidende Aspekte des Lebens in eine Oberfläche und ein darunter liegendes inneres, aber nicht ohne weiteres ausagierbares Unbehagen aufspaltet und diese so entlebendigt. Mit der so totalitären wie rigiden Fortpflanzungskontrolle, die das Regime „Gilead“ inauguriert, gerät der ganze Bereich menschlicher Intimität – Sexualität, Liebe, Freundschaft – unter Druck und deformiert. „Gilead“ greift auch auf drastischste Maßnahmen wie operative Verstümmelungen zurück. Etwa die Kliterodektomie der homosexuellen Magd Emily wird lakonisch mit den Worten: „Von nun an wird alles so viel einfacher für dich sein. Du kannst nicht begehren, was du nicht länger haben kannst“ (E3) kommentiert. Dabei versteht sich die bodenlose Grausamkeit, die hier am Werk ist, selbst gar nicht allein als irrationale Folter, sondern gleichfalls als adaptive Maßnahme. Konstellationen wie diese, und darin liegt der oben erwähnte systematische Einsatz, beschreiben Dystopien (umfassender als formale Eigenschaften) als Entwürfe einer deformierten Zukunft: „dystopias are not associated with innovation and progress, but with fear of the future“ (a.a.O., S. 5). Der Horror ist nicht Zweck an sich, sondern „forewarning“ (a.a.O., S. 4). Dystopische Fiktion darf daher weder inkommensurabel werden (wie bei nahezu jeder Art von Fiktion) – „neither to distort reality beyond recognition“ (ebd.) –, noch eskapistisch: „nor to provide an escapist world” (a.a.O., S. 5). Es geht mit einem Wort um die Extrapolation von Tendenzen, und genau in diesem Sinne hat Atwood selbst ihre Arbeit charakterisiert: „You could say it’s a response to ‚it can’t happen here.’ When they say ‚it can’t happen here,’ what they usually mean is Iran can’t happen here, Czechoslovakia can’t happen here. And they’re right, because this isn’t there. But what could happen here?” (Rothstein 1986).

Wie Bloom berichtet, hat Atwood nicht nur „numerous utopian and dystopian works” studiert: „She also continued to read the Bible closely, drawing inspiration from Genesis 30, and she kept a running file of newspaper and magazine clippings about contemporary world crises … pamphlets from Friends of the Earth and Greenpeace … beside reports of atrocities in Latin America, Iran and the Philippines, together with items of information on new reproductive technologies, surrogate motherhood, and forms of institutionalized birth control from Nazi Germany to Ceausescu’s Romania…. The

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clippings file contain[ed] a lot of material on the New Right with its warnings about the ‘Birth Dearth,’ its anti-feminism, its anti-homosexuality, its racism and its strong underpinnings in the Bible Belt” (Bloom 2004, S. 13 f.).

Gegenüber der Tradition dystopischer Romane identifiziert Malak schließlich zwei Besonderheiten, die sich auch in der Serie wiederfinden: „the novel offers two distinct additional features: feminism and irony” (Malak 2001, S. 10). Der Streit darüber, ob es sich um eine feministische Geschichte handelt oder nicht, hängt dabei auch in nicht trivialer Weise am zugrunde gelegten Begriff von Feminismus. Weit gefasst, im Sinne eines deformierten Lebens, aus dem niemand ganz unbeschädigt entkommt, ist er zweifelsfrei ein Leitmotiv: „Dramatizing the interrelationship between power and sex, the book’s feminism, despite condemning male misogynous mentality, upholds and cherishes a man-woman axis; here, feminism functions inclusively rather than exclusively, poignantly rather than stridently, humanely rather than cynically” (ebd.).

Ironisch, und auch darin gelingt es der Serie, die Vorlage ins Bild zu setzen, wären beispielsweise Momente des Aufatmens zu nennen, die ihrerseits komisch gebrochen werden. In Episode zwei folgt der Blick der Kamera einer im Rahmen der Grenzen des Plots geradezu zuversichtlichen, fast schon koketten June, die zu „Don’t you forget about me“ in Zeitlupe monologisiert, als sie dem Chauffeur Nick, der offenbar Sympathien für sie hegt, begegnet: „Ob er weiß, was der Kommandant und ich gestern Abend gemacht haben? Unsere verbotene Reise in die Welt des dreifachen Wortwerts. Ist es ihm wichtig? Ich glaube, ja.”

Dann sieht es so aus, als würde June die Vertraute Desglen erkennen: „Desglen – ich kann ihr sagen, dass der Kommandant nach Washington reist. Wird es sie überraschen, dass wir Scrabble gespielt haben? Es wird sie freuen, dass ich ihn habe gewinnen lassen, das weiß ich. Sie wird stolz auf mich sein.“

In dem Moment, in dem der Song der „Simple Minds“ zur Zeile „Will you recognise me“ gelangt, dreht sich die gemeinte Magd jedoch unversehens um und entpuppt sich als eine Unbekannte. Mit dem Geräusch einer kratzenden Plattennadel bricht die Musik ab, June ist entgeistert und das Publikum könnte schmunzeln, denn all das wird getragen von einer wenn nicht beschwingten, so doch auch nicht inwendig verzweifelten Tonalität.

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Zur Aktualität von HMT

Wenn HMT mutatis mutandis als Dystopie aufgefasst werden kann – warum ist es dann genau diese Dystopie, die offenbar politisch relevante Bilder hervorbringt? Die Frage beinhaltet zwei Stränge: zum einen, warum sich Dystopien ganz generell so großer Beliebtheit erfreuen, und zum anderen, warum gerade HMT fast unvermittelt in die Ikonografie des politischen Diskurses importiert worden ist, was es also möglicherweise im Besonderen auszeichnet. Die Konjunktur des Dystopischen fällt in eine Zeit, die kaum mehr positive Vorstellungen einer gelingenden Zukunft artikuliert, sei es in der Philosophie, der Kunst oder dem Feuilleton.2 Eine Reihe von möglichen Ursachen kommt hierfür in Betracht: Mit wachsendem gesellschaftlichen Komplexitätsgrad mag es zunehmend schwieriger werden, überhaupt einen allgemein verbindlichen Nenner zu postulieren. Die Entwicklung des politischen Systems seit dem zweiten Weltkrieg ist zudem in Turbulenzen geraten, die in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit zuletzt unter den Stichworten „Politikverdrossenheit“, „Wutbürgertum“ und „Populismus“3 diskutiert worden sind. Weder programmatische Beliebigkeit noch ideologische Verhärtung scheinen indes besonders geeignet, um anschlussfähige Visionen einer besseren Zukunft zu befördern. Hinzu kommt ein mutmaßlich desillusionierender Cocktail aus multiplen Problemlagen, welche jeweils für sich die Zukunft der Spezies als solche bedrohen4 , auf der einen und eine hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibende Regulierungstätigkeit auf der anderen Seite – neben der buchstäblichen Sprengkraft, die den internationalen Beziehungen innewohnt, wäre etwa an die Folgen des Klimawandels oder der Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz zu denken. Gleichzeitig verfeinert sich der Sinn für gesellschaftliche Problemlagen offenbar in Abhängigkeit von der Anzahl bereits gelöster Probleme.5 Schließlich hatten sich einflussreiche Theorieströmungen in

2 Vgl.

z. B. die drastische Einschätzung von F. Jameson: „Indeed, it suffices to think of the … fundamental threats to the survival of the human race today – ecological catastrophe, worldwide poverty and famine, structural unemployment on a global scale, and the seemingly uncontrollable traffic in armaments of all kinds … leaving pandemics, police states, race wars, and drugs out of the picture, for us to realize that in each of these areas no serious counterforce exists anywhere in the world … Under these circumstances, the last gasp of a properly utopian vision, the last attempt at a utopian forecast of the future transfigured, was a … so-called free-market fundamentalism” (Jameson 2010, S. 22). 3 Vgl. bspw. Appadurai et al. 2017. 4 Vgl. u. a. Bostrom und Cirkovi´ ´ c 2008. 5 Vgl. Levari et al. 2018.

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der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit mehr für die De- als für die Rekonstruktion von Narrativen interessiert, und ebenso in handfester, ökonomischer Hinsicht muss mittlerweile für diverse Schichten fraglich erscheinen, ob es heute geborene Kinder wirklich einmal „besser haben“ werden als ihre Eltern6 , um nur einige potenzielle Faktoren zu nennen. Dass es Serien und Verfilmungen nicht anders ergeht, sie nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen auf etwas zurückgreifen können, was aus den Magistralen der Diskurse verschwunden ist, wird besonders augenfällig, wenn man sich vergegenwärtigt, was für eine einsame Sonderstellung zum Beispiel die Star-TrekFormate im Reigen rezenter Narrative einnehmen.7 Dabei sind Dystopien gerade nicht mit Defätismus gleichzusetzen. Die extrapolative Warnfunktion dystopischer Erzählung würde ins Leere laufen, wenn es nicht doch etwas gäbe, an das sie appellieren kann – eine Umkehr, für die es diegetisch meist schon zu spät ist. Auch über die Dimension der affektiven Abfuhr, des in Episodenlänge eingehegten Grusels in gleichsam unbehaglichen Zeiten, ließe sich Vieles sagen. Etwa für die (darin verwandten) Klassiker des Horrorfachs spräche „nichts dagegen, eine kathartische Abfuhr als Grund der Popularität dieser Filme zu vermuten: Über die vom Film forcierte Identifikation … profitiert auch der Zuschauer vom Reinigungsritual“ (Brittnacher 2009, S. 334).

Unübersichtlicher stellt sich demgegenüber die aktuelle Situation dar, die eher auf eine Vielzahl von „Möglichkeiten des popkulturellen Vergnügens an drastischen Gegenständen“ (Linck 2009) hinzuweisen scheint: „Aus dem Vergnügen an tragischen Gegenständen ist im Prozess der Moderne … ein nicht unumstrittenes Vergnügen an drastischen Gegenständen geworden … Die neuen Genres finden ihre Funktion nicht zuletzt darin, gemeinsame Referenzen für Teilöffentlichkeiten mit eigenen Normen … hervorzubringen“ (a.a.O., S. 293).

Nicht minder interessant erscheint ein Umstand, der sich bereits aus der Sequenzialität von Geschichten ergibt. Nicht nur folgt eine Begebenheit, sondern, im Fall der Serie, auch eine Episode auf die andere, und letztlich ein Bild dem nächsten. Die Serie schreitet formaliter fort, selbst wenn ihr Gegenstand der Rückschritt ist. Etwas geschieht, und dass überhaupt irgendetwas geschehen kann, der Bildschirm nicht bloß schwarz bleibt, ist im Kontext planetengefährdender Bedrohungen bereits ein Stück Zukunftsoptimismus. Die Heldin der dystopischen Erzählung 6 Vgl. 7 Vgl.

Nachtwey 2016. hierzu auch Kruse 2019.

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mag scheitern, doch hat sie immerhin eine Welt vorgefunden, die diesen Versuch noch erlaubt hat. Ohne Malak widersprechen zu müssen, dass es bei Dystopien um die Angst vor der Zukunft geht, wäre insofern zu ergänzen, dass ihnen zugleich ein konstruktives Element innewohnt. Paradox gewendet ließe sich sagen, dass in zukunftslosen Zeiten die dystopische Zerstörung der Zukunft im Dienst eben dieser Zukunft: einer neuen Hoffnung steht. Wenn man hingegen spezifischer danach fragt, was HMT zur offenbar attraktiven Referenz politischer Auseinandersetzungen macht, scheinen zunächst die spezifischen Inhalte ausschlaggebend. Bloom hält beispielsweise die theokratischen Befürchtungen der Vorlage, gerade im Vergleich mit den Klassikern des Genres, für aktuell: „Approaching Millennium, these prophecies do not caution us. London’s thugs, like New York City’s, are not an enormous menace; Henry Ford does not seem to be the God of the American Religion; Big Brother is not yet watching us, in our realm of virtual reality. But theocracy is a live menace: in Iran and Afghanistan, in the influence of the Christian Coalition upon the Republican Party” (Bloom 2001, S. 1).

Atwood hat darüber hinaus zu Protokoll gegeben, dass es ihr bei The Handmaid’s Tale darum gegangen sei, „an imagined account of what happens when not uncommon pronouncements about women are taken to their logical conclusions” (zit. n. Bloom 2001, S. 2) vorzulegen. Bemerkenswerterweise bespricht Bloom aber gerade diesen Strang als weniger naheliegend: „I am moved to murmur: just when and where, in the world of Atwood and her readers, are those not uncommon pronouncements being made? There are a certain number of Southern Republican senators, and there is the leadership of the Southern Baptist convention, and some other clerical Fascists, who perhaps would dare to make such pronouncements, but ‘pronouncements’ presumably have to be public, and in 1999 you don’t get very far by saying that a woman’s place is in the home. Doubtless we still have millions of men (and some women) who in private endorse the Bismarckian formula for women: Kinder, Kirche, und Kuchen, but they do not proclaim these sentiments to the voters” (ebd.).

Die Jahreszahl 1999 weist hier auf einen Zusammenhang jenseits von Meinungsverschiedenheiten hin. Viel ist darüber diskutiert worden, wie genau die Transformation der Sphäre der Öffentlichkeit in den letzten zwei Jahrzehnten zu beschreiben wäre. Hinzu kommt, dass sich der Gegenstand der Debatte unverrichtet weiter zu verändern scheint, sodass die verschiedenen Deutungsangebote unter den Rubren „Politikverdrossenheit“, „Wutbürgertum“, „Postdemokratie“ oder „Regression“ nicht allein als konkurrierende Interpretationen, sondern auch

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als Stationen eines andauernden Transformationsprozesses aufgefasst werden könnten. Gerade mit Blick auf die Rückkehr oder Reartikulation von Standpunkten, die aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden waren, lassen sich dabei zwei Theoriegruppen unterscheiden. Medienzentrierte Ansätze weisen auf die Visibilisierungs-, Affordanz- und Affiliationseffekte netzwerkbasierter Kommunikation hin. Bestimmte Meinungen werden durch die technologische Plattform überhaupt erst wieder sichtbar und konserviert, anstatt nur hinter vorgehaltener Hand geäußert zu werden. Interface und Verwendungsregeln eines Mediums wie Twitter laden zur Zuspitzung ein, und schließlich können vordem vereinzelte Meinungen leichter zusammenfinden, Zusammenhänge ausbilden, sich gegenseitig stabilisieren und radikalisieren („Echokammer“).8 Sozialtheoretische Ansätze im weitesten Sinne haben demgegenüber argumentiert, dass Phänomene wie „Regression“ oder „Wutbürgertum“ beispielsweise aus ungelösten Fragen der Umverteilung oder Anerkennung folgen würden. Die beiden Erklärungsmuster müssen nicht in Konflikt geraten und können sich ergänzen, solange keine der ätiologischen Dimensionen absolut gesetzt wird – etwa in der Weise, dass eigentlich völlig intakte Diskurse allein durch die Umstellung auf digitale Kommunikationskanäle vulnerabel geworden wären. Blooms heute obsolete Beobachtung weist in jedem Fall darauf hin, dass das, was damals als unsagbar galt, unverhohlener zum Ausdruck kommt, und insofern lässt sich im diachronen Vergleich von einer Enthemmung sprechen. „Die enthemmte Mitte“, so der Titel der Leipziger „Mitte“-Studie 2016 über „[a]utoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland“ (Decker et al. 2016a), fasst diesen Zusammenhang im Anschluss an die Erbmasse der Theorie des autoritären Charakters (Adorno et al. 1950) an der Schnittstelle von Soziologie und Tiefenpsychologie. Bei allen Trends, Fluktuationen und erklärungsbedürftigen Effekten im Datenmaterial der Untersuchung ist es umso bemerkenswerter, dass einige der abgefragten Dimensionen über die Zeit eher auf relativ hohem Niveau pendeln, als sich dramatisch verstärkt oder verringert zu haben. Etwa anhand der Dimension „Chauvinismus“ (vgl. Abb. 4) wird deutlich, dass sie von der digitalen Durchdringung des Alltags gerade nicht impaktartig getroffen wird. Bereits in den vorangegangenen Studien hatten die Autoren betont, dass schon zu Adornos Zeiten „faschistisches Gedankengut und autoritäre Einstellung … über die gesamte Breite der Gesellschaft“ verteilt gewesen wären: „Der Befund provoziert bis heute, zeigt er doch, dass die Idee von der gesellschaftlichen Mitte als Garant

8 Vgl.

exemplarisch Hendricks und Hansen 2016.

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Abb. 4 Chauvinismus 2002–2016, aus: Decker et al. 2016b, S. 44 (© Psychosozial-Verlag)

der Demokratie und des sozialen Ausgleichs eine Fiktion ist“ (Decker et al. 2014, S. 8). Misogyne Einstellungen stehen in einem engen Zusammenhang zur Konstellation der Idee eines autoritären Charakters: „Schon 1906 beschrieb der US-amerikanische Soziologe William G. Sumner mit dem Begriff ‚Ethnozentrismus‘ die Aufwertung des Eigenen bei gleichzeitiger Abwertung des Anderen“ (Decker und Brähler 2016, S. 11), die sich hier auf dem Boden geschlechtlicher Identität entfaltet, tiefenpsychologisch aber in Grundzügen ähnlich zu erklären ist. Das fragile, unsichere Ich flüchtet sich in Überhöhungen des Selbst, die zum Beispiel durch tatsächliche oder vermeintliche Kränkungserfahrungen in Bedrängnis geraten und dadurch Halt gewinnen, Andere abzuwerten: „Wie schon bei der Anerkennung der Macht des patriarchalen Vaters, entschädigt auch die Identifizierung mit der Stärke der Wirtschaft nicht restlos für die Unterwerfung. Die gewaltvolle Autorität produziert eine große Ambivalenz und vor allem Aggression. Das setzt die autoritäre Dynamik in Gang. Denn auch gegen diese Autorität kann sich die Aggression nicht richten, dafür ist sie viel zu mächtig. Stattdessen richtet sie sich gegen ‚Andere’. Angeboten haben sich dafür schon immer Gruppen, die aus Sicht

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der Mehrheitsgesellschaft zwei Merkmale erfüllen: sie müssen als schwach wahrgenommen werden und der Phantasie Nahrung geben, sich der gewaltvollen Autorität entzogen zu haben“ (Decker et al. 2014, S. 24).

Mit der „Stärke der Wirtschaft“ ruft Decker einen identifikatorischen Faktor auf, der einerseits an die Logik von „Kolonialisierung[en] der Lebenswelt“9 erinnert und die theoretische Grundlage auch insofern zu erneuern sucht, als die ursprünglich prädominante Rolle der Vaterfigur relativiert wird: „Zwar werden die Regeln der Gesellschaft nicht mehr mit repressiver Gewalt durchgesetzt, aber die Eltern scheinen ihre Kinder auch immer weniger gegenüber der permanenten Leistungsanforderung der Gesellschaft schützen zu können. Dieses Durchschlagen von gesellschaftlichen Forderungen in den privaten Raum der Familie scheint selbst eine neue Form der autoritären Vergesellschaftung zu sein – einer, die ohne jene Autorität auskommt, die in der patriarchalen Familienstruktur bis spät ins 20. Jahrhundert hinein vom Vater repräsentiert wurde“ (a.a.O., S. 10).

Die „starke Wirtschaft“ sei „nicht nur ein ideales Selbstobjekt, sondern ihr Funktionieren fordert auch, das eigene Handeln an ihrem Primat auszurichten. Demnach geht heute die vermittelnde Gewalt vom Markt aus, wie zuvor von den Eltern, und auch, wenn diese Autorität unpersönlich und ortlos ist, macht das die Gewalt nicht weniger wirkungsvoll. Auf dem Markt muss sich der Einzelne behaupten oder er wird verworfen“ (a.a.O., S. 24).

Mit der Veränderung von Familienstrukturen sind autoritäre Muster nach Decker nicht verschwunden, sondern gewissermaßen verlagert worden. In der Tradition einer „Massenpsychologie“, die zugleich „Ich-Analyse“ sein soll, liegt es dann nahe, bei Enthemmungsphänomenen an ein „Gewissen“ zu denken, das „außer Tätigkeit“ gesetzt wird „und dabei der Lockung des Lustgewinnes“ (Freud 1921, S. 92) nachgibt, ohne auf eine konkrete „Führer“-Figur fixiert zu sein. Enthemmung ist nicht synonym mit Radikalisierung, weil radikale Ansichten bereits – mehr oder weniger latent – vorlagen, bevor sie sich manifestiert haben, gewissermaßen noch nicht salonfähig und gleichzeitig schon als Raunen vernehmbar. Im Detail wird man Theoreme wie dasjenige des „sekundären Autoritarismus“, wie Decker es selbst bezeichnet, fraglos weiter diskutieren müssen. Mir geht es hier darum, eine konturenhafte Vorstellung davon zu skizzieren, was Enthemmung eigentlich im Einzelnen heißen könnte – um damit die Frage zu adressieren, ob

9 Vgl.

Habermas 1981.

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es nicht genau diese Art von Enthemmung sein mag, die in HMT so unheimlich genau auf den Punkt gebracht wird? Ästhetisch wäre es letztendlich müßig, einzelne Aspekte für Relevanz verantwortlich zu machen, schließlich handelt es sich bei Kunst und auch den sogenannten „Qualitätsserien“ in der Regel eher um ein Gewebe als einen roten Faden. Der Eindruck, den die verschiedenen Elemente in den verschiedenen Dimensionen und Interrelationen hinterlassen, wäre der einer mehr oder weniger gelungenen Zusammenstellung, welcher erst wieder, und das nicht ohne Aufwand, auf Begriffe gebracht werden muss (das Geschäft der Sekundärliteratur). Gleichwohl lässt sich in diesem komplexeren Sinn fragen, was der Serie als solcher eine gewisse, nämlich symbolische Relevanz oder Aktualität verschaffen mag, und dabei scheint es wiederum naheliegend, die Inszenierung von Enthemmung als einen Umstand anzusehen, der mit dem „politisch Unbewussten“10 seiner Zeit kommuniziert. Derjenige Umbruch, der eigentlich keiner ist, weil er auf fruchtbaren Boden fällt, kann sich von heute auf morgen vollziehen. Er bedarf keiner großangelegten ‚Umerziehung‘, weil eine kritische Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern sein Programm längst verinnerlicht hat. Schritt für Schritt hat es den Alltag vielleicht unheimlich, aber kaum greifbar unterwandert, bis plötzlich eines Tages alles anders ist. June und Moira machen diese Erfahrung, wenn sie in der dritten Episode der ersten Staffel einen Kaffee bestellen. Die Bestellung im generischen Coffee-Shop-Setting läuft zunächst ganz nach Skript ab: June: „Hey, kriege ich einen Medium-Filterkaffee mit Milch und einen großen NullfettCappuccino, bitte?” Angestellter: „Medium-Filter und Cappuccino.“ June: „Ja.” Angestellter: „7,80.“

Während der Mitarbeiter des Coffee-Shops Junes Kreditkarte durchs Lesegerät zieht, versucht diese sich in etwas Smalltalk: J: „Ist Claire krank?” A: „Wer?” J: „Die Frau, die sonst hier arbeitet.” A: „Woher soll ich das wissen?“ 10 Dank gebührt Lars Koch fürs Ins-Spiel-Bringen dieses Passus im Kontext von Weiter Sehen.

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Mit der letzten Bemerkung beginnt die Situation zu entgleisen, da sie gerade für amerikanische Gepflogenheiten eigentlich schon aus dem Rahmen alltäglicher Höflichkeit fällt. Der Angestellte findet danach in seine Rolle zurück, allerdings nur, um darauf hinzuweisen, dass die Kreditkarte nicht gedeckt sei. June hält das für unmöglich, schließlich hätte sie doch gerade erst ihren „Gehaltsscheck“ eingereicht, und bittet ihr Gegenüber, es noch einmal zu versuchen, woraufhin dieser schnippisch erwidert: „Kommen Sie einfach wieder, wenn Sie Geld haben.“ Nun schaltet sich auch Moira ein: „Was haben Sie für ein Problem?“ Der Angestellte wird jetzt vollends ausfällig, gibt die Vermutung eines „Problems“ postwendend zurück und beleidigt June und Moira in infamer Weise: „Verpisst euch gefälligst“ ist dabei noch der harmloseste Part der Invektive. Das Verhältnis der Geschlechter ist als Problemhorizont stets präsent: Der geschilderte Schlagabtausch entzündet sich an der Nachfrage nach einer Kollegin („Claire“), die darin fallenden Beschimpfungen bedienen sich misogyner Sprachbilder und der Hintergrund der Verlegenheit – dass Junes Kreditkarte nicht gedeckt ist – erklärt sich aus eben erst eingeführten, staatlichen Maßnahmen gegen die finanzielle Selbstbestimmung der weiblichen Bevölkerung. Andererseits ist dieser Horizont nicht nur plakativ aufgespannt. Obwohl es die Serie auf ausgeprägte Ikonik anlegt, lässt sie auch Raum für komplexere Zusammenhänge. Neben der offen faschistischen „Tante“ Lydia begleiten wir etwa in Rückblicken das politische Engagement der „Ehefrau“ Serena. Sie selbst hat voller Überzeugung an eben der Ideologie mitgeschrieben, die sie nun von politischer Betätigung ausschließt. Der vergleichsweise breite Zugang von HMT ist in dieser Hinsicht eher verwandt mit Sozialkritik als eine Art Bilderbuch politischer Aktion zu sein. Auch darum wäre die These zu wagen, dass es bei der Aktualität von HMT, dem Umstand, dass es uns etwas zu sagen scheint, nicht allein um dessen Gegenstände – wie Geschlecht und Religion –, sondern auch um deren Darstellung – als das Unbehagen um sich greifender Enthemmung – gehen wird. „[W]hat could happen here?“ – zum Beispiel, und nicht unwahrscheinlicherweise, das, was mühsam inhibiert worden war. In The Handmaid’s Tales dystopischer Aktualität spiegelt sich die Aktualität des Dystopischen.

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„It can’t happen here“ – „But what could happen here?“ …

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aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, hrsg. M. Vöhler und D. Linck, 293–322. Berlin/New York: Walter de Gruyter. Malak, Amin. 2001. Margaret Atwood’s The Handmaid’s Tale and the Dystopian Tradition. In Margaret Atwood’s The Handmaid’s Tale, hrsg. H. Bloom, 3–10. Philadelphia: Chelsea House Publishers. Nachtwey, Oliver. 2016. Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Berlin: Suhrkamp. Rothstein, Mervyn. 1986. No Balm in Gilead for Margaret Atwood [Interview m. Margaret Atwood]. New York Times. https://movies2.nytimes.com/books/00/09/03/specials/atw ood-gilead.html. Zugegriffen: Februar 2019. Taylor, Adam (Composer). 2017-1018. The Handmaid’s Tale. Vereinigte Staaten: MGM Television.

Bildung nach fundamentalistischen Revolutionen. The Handmaid’s Tale als Ritornell und Rhizom Olaf Sanders

Ich weiß nicht mehr, wann das Filmfestival eingestellt wurde. Ich muss schon erwachsen gewesen sein. Deshalb habe ich es gar nicht gemerkt. Margaret Atwood, Der Report der Magd

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Beiläufige Öffnungen und Schließungen

Die Serie The Handmaid´s Tale (Hulu 2017–) handelt von Drehungen, Kreisen und Zirkeln. Kreise und Zirkel können sich öffnen und auf diese Weise eine Differenz bilden. So heißt die erste Folge der ersten Staffel Offred, die erste der zweiten June. June Osborne (Elisabeth Moss) ist der Name der ästhetischen Figur, die in der Serie ihre Geschichte erzählt und in Gilead zumeist Offred genannt wird, weil sie als Magd im Haushalt des Commanders Fred Waterford (Joseph Fiennes) dient. „Dienen“ – sie, dienen, Gilead – wirkt in diesem Fall wie ein Euphemismus dafür, der Freiheit beraubt und regelmäßig in einer „Zeremonie“ unter Leitung der Ehefrau vom Hausherrn vergewaltigt zu werden, um – so die Befruchtung gelingt – anstelle der Frau ein Kind zu gebären. Die Blaupause für diese „Zeremonie“ stammt aus dem Alten Testament (1. Mose 30, 1–5). Der dort sehr knapp geschilderte, sich an die vom Commander zu Beginn jeder „Zeremonie“ verlesenen Passage anschließende Überbietungswettkampf zwischen Rahel und Lea, der O. Sanders (B) Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, Hamburg, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021, Korrigierte Publikation 2022 A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3_10

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ersten und zweiten Frau Jacobs, die ihm bekanntlich unter Mithilfe ihrer Mägde insgesamt zwölf Söhne gebaren, die die Stämme Israels begründeten, bleibt in der Serie aus. Dort sind die „Sons of Jacob“, ein früherer Geheimbund, seit dem Staatsstreich das höchste Exekutiv-Gremium, der Rat, und es werden kaum Kinder geboren. Das neuzeitliche Gilead hat wie viele andere Teile der Welt in der erzählten Zeit ein Fruchtbarkeitsproblem. Kinderlosigkeit stellt Gesellschaften vor besondere Probleme. Auf andere Weise als The Handmaid´s Tale thematisiert dies in der jüngeren Filmgeschichte z. B. der dystopische Science-Fiction Children of Men (USA 2006, vgl. auch Fischer 2009). Es gibt in den Versorgungshallen der Serien-Republik Gilead auch keine „Liebesäpfel“, wie die Früchte der Alraune, denen in der Antike fruchtbarkeitsfördernde Wirkung nachgesagt wurde, in der Lutherbibel heißen. Das Gebirge Gilead diente Jacob vor langer Zeit als Zufluchtsort (1. Mose 31, 21). Den Rhythmus der Öffnungs- und Schließungsbewegungen von Kreisen und Zirkeln beschreiben der französische Philosoph Gilles Deleuze und sein Koautor, der Nicht-Philosoph Félix Guattari, in Tausend Plateaus (frz. 1980, dt. 1992 [1997]) als Ritornell. Brian Massumi wählt bei seiner Übersetzung ins Englische das Wort „refrain“. Durch Ritornelle bildet sich etwas. In Ritornellen ereignen sich auf sehr elementare Art Bildungsprozesse, die allerdings nur unter besonderen Umständen „Bildung“ genannt zu werden verdienen. Am Ende der Episode Jezebels, in der Commander Waterford und Offred von Nick (Max Minghella), ihrem Liebhaber und seinem Fahrer, in den titelgebenden Nachtclub gefahren wurden, während Serena Joy (Yvonne Strahovski), die Frau des Commanders, ihre Eltern besuchte, überreicht Serena Offred nach ihrer Rückkehr als Geschenk eine in ein Tuch geschlagene Schatulle (S. 1/E8 [DVD 3, 1:29:15–1:31:37]). Serena erzählt June, dass sie diese Spieluhr als Kind in ihrem Zimmer gehabt und nun gedacht habe, dass sie der Magd womöglich gefalle. Wie Kinder sollen Mägde offenbar sein oder wenigstens zukünftig wieder werden. Serena überreicht Offred den Schlüssel, und June öffnet die Spieluhr. Eine kleine Ballerina in rosa Tutu fährt hoch und dreht zu einer sich rasch wiederholenden Fahrstuhlversion von Tschaikowskis Schwanensee-Motiv Pirouetten. Auf der Innenseite des Deckels der Schmuckschatulle befindet sich ein Spiegel, der zu sehen erlaubt, wie June Serena ansieht, während sie sich bedankt. Aus dem Spiegelbild „spricht“ tonlos eine Mischung aus Unglaube und Verachtung. Nachdem sie „You are not alone” in ihren begehbaren Kleiderschank geritzt hat, erklärt June frontal in die Abstand gewinnende Kamera, dass sie nicht dieses Mädchen in der Box sei. Die frühere Magd der Waterfords hatte dort „Nolite te bastardes carborundorum“ eingeritzt, bevor sie sich an der inzwischen entfernten Befestigung

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für die Deckenleuchte erhängte. Laut Spiegel, nun das deutsche Nachrichtenmagazin, handelt es sich um „halb erfundenes Quatsch-Latein”, das auf Margaret Atwoods Schulzeit verweist, in der es soviel wie „Lass Dich von den Bastarden nicht unterkriegen” bedeutet habe. Die Fake-Latein-Phrase dient zugleich der vierten Folge der ersten Staffel als Titel. Im Fake-Latein und der Spieluhrvariante eines klassischen Balletts überdauert Halbbildung (vgl. Adorno 1999). Sowohl in June als auch in Offred und in vielen weiteren Protagonistinnen stecken wie im Ballett Schwanensee zwei Schwäne, ein weißer und ein schwarzer. Von dieser Schizophrenie handelt auch schon Darren Aronofskys Film The Black Swan (USA 2010). Filme wie The Black Swan und Children of Men spinnen The Handmaid’s Tale in ein Rhizom aus Bewegungsbildern. Deleuze und Guattari führen das Rhizom als Gegenmotiv zum Baum ein, der unser Denken ihrer Ansicht nach bestimme. Es geht darum zu zeigen, dass die Bäume der Abstammung wie die Söhne Jacobs nur auf Rhizomen wachsen, für die Unterscheidungen wie die zwischen Zentrum und Peripherie, Haupt- und Neben- oder nah und fern bedeutungslos sind, Bezüge hingegen aber Legion. Dass Jezebel (Isebel) die Frau Ahabs war, die ihn verführte, sich von Gott abzuwenden und in seinem Namen agierte, erklärt die ironische Namenswahl für das Bordell, in dem June ihre alte Freundin Moira (Samira Wiley) wiedertrifft. Zu erinnern bleibt in diesem Zusammenhang an den William Wyler-Film Jezebel (USA 1938) mit Bette Davis und Henri Fonda in den Hauptrollen. Die Rolle in diesem Film soll der zunächst desinteressierten Davis als Kompensation für ihre Nicht-Berücksichtigung in dem viel größeren Southern Belle-Drama Gone with the Wind (USA 1939) angeboten worden sein. Der konservative Süden wandte sich – auch daran sei in diesem Zusammenhang erinnert – erst nach dem verlorenen Bürgerkrieg der Religion zu. In The Handmaid’s Tale schlägt der konservative Norden und die christliche Religion zurück. Die Serie spielt nach einem weitgehend gewonnenen Bürgerkrieg und in der zweiten Season gibt es sogar einen schwarzen Commander. Bildung setzt Humor im Freud’schen Sinn voraus (vgl. Freud 2000). Das Überich muss dem Ich Spielräume lassen. Ohne Spielräume keine Bildungsprozesse. Nun ist The Handmaid’s Tale keine lustige Serie. Ich musste zum ersten Mal wirklich lachen, als die stumme junge Frau und ehemalige Magd Erin (Erin Way), die Luke (O-T Fagbenle), Junes Ehemann, auf der Flucht aus Gilead kennenlernt und die später in Toronto seine Mitbewohnerin wird, nach langem Schweigen ihren ersten Satz sagt: „Blessed be the fruitloops” (S2/E3 [DVD 1 (2:34:55]) Moira, die inzwischen auch in der WG lebt, kommentiert lakonisch, dass Erin lange an

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diesem Satz gefeilt haben müsse. „Blessed be the fruit” ist eine in Gilead übliche Grußformel, auf die in der Regel mit „May the Lord open” geantwortet wird. Drehungen, Kreise, Zirkel, Loops und Fruitloops. Wenn sich dabei etwas öffnet, schließt, wieder öffnet und so fort, kann man von Ritornellen sprechen, die sich – wie oben bereits bemerkt – als Bildungsfiguren erweisen können. Margaret Atwood, die in der Serie durch einen Cameoauftritt geehrt wird, reflektiert im Roman The Handmaid’s Tale (1985, dt. 1987 [2017]) auf die Iranische Revolution, die Michel Foucault anfangs noch freundlich begleitete (vgl. Foucault 2003). Die Iranische Revolution schränkte die Rechte von Frauen massiv ein und etablierte ein fundamentalistisches islamisches Regime, das die Scharia wieder als Recht in Geltung setzte. Gileads Patriarchat fußt hingegen auf Korruption und alttestamentarisch verbrämter Doppelmoral. Mir erscheint implizit noch ein zweites Ereignis aus dem Jahr 1979 von Bedeutung: Der GAU im Atomkraftwerk Three Mile Island in der Nähe der Stadt Harrisburg am 28. März. Harrisburg liegt gar nicht weit entfernt von den Orten, die wir in Gilead als beliebige Orte zu sehen bekommen. Gedreht wurde vor allem in Kanada. Die erzählten Orte liegen aber überwiegend in der Nähe von Boston. In den sogenannten Kolonien werden sogenannte Unwomen gezwungen, auch atomar verseuchtes Land zu dekontaminieren. Gilead organisiert Frauen in Klassen. Unwomen sind Frauen, die dazu verurteilt wurden, sich in Lagern totzuarbeiten. So treffen sich die früheren Mägde Emily (Alexis Bledel) und Janine (Madeline Brewer) in einem Lager in den Kolonien wieder, nachdem die Mägde Janines Steinigung verweigert haben. Emily hatte, nachdem ihr wegen „gender treason” die Klitoris entfernt worden war, einen Guardian (Wächter) überfahren, und Janine wollte sich und ihre neugeborene Tochter durch einen Sprung von einer Brücke töten. Viele Strafen in The Handmaid’s Tale erinnern an die Scharia. Die Serie zieht weite Kreise. Nicht zuletzt reagiert Atwood mit ihrem Roman auch auf die konservative Wende, die die Wahl Ronald Reagans zum 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten markiert, dem es 1980 im Wahlkampf gelang, eine Koalition aus Evangelikalen und Neoliberalen zu schmieden. Den 45. Präsidenten konnte seinerzeit auch Atwood noch nicht vorhersehen. Jezebels und die für Männer gültige Doppelmoral scheinen mir auch auf ihn und seine Frauenverachtung anzuspielen. In dem Melodram Dark Victory (USA 1939) stand Reagan gemeinsam mit Humphrey Bogart und Bette Davis vor der Kamera. Womöglich lief auch dieser Film, der bei den Oscars Gone with the Wind unterlag, einst in den Lilien, dem Kino, in das – wie wir im Roman Der Report der Magd erfahren – Studentinnen und Studenten gern gingen und in jedem Frühjahr ein Bogart-Festival ausrichtete, das selbstständige Frauen zeigte, die in der Lage waren, für sich Entscheidungen

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zu treffen. „Wir waren eine Gesellschaft, pflegte Tante Lydia zu sagen, die an ihren zu vielen Möglichkeiten zugrunde ging.” (Atwood 2017, S. 39) Gilead soll anti-rhizomatisch wirken.

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Drei Sequenzen als drei Phasen eines Ritornells

In The Handmaid’s Tale geht es zunächst gar nicht um Bildung, sondern eher um Lernen in einer defensiven Form. Klaus Holzkamp, der Begründer der Kritischen Psychologie und Autor eines dicken Buches mit dem Titel Lernen, spricht von defensivem Lernen, wenn das Lernen vorwiegend der Gefahrenabwehr dient. So lernt June als Offred gegen ihre früheren Überzeugungen zu handeln (vgl. Holzkamp 1995 und 1997). Die erste Sequenz (S1/E1 [DVD 1 24:09–26:55/32:28]) setzt ein, nachdem Offred zur Vorbereitung auf die Zeremonie ein Bad genommen hat. Wir sehen sie durch die Öffnung ihres Schranks in einer Linie zu ihrem Bett, ihr Gesicht im Anschnitt in blauem Licht, das Zimmer verlassend und den Hausflur passierend in das eheliche Schlafzimmer gehend. Draußen bellen die Hunde. Im Schlafzimmer angekommen kniet sie sich vor den Kamin und löst ihre Nackenverspannungen. Die Einstellung vor dem Kamin nimmt symmetrisch die Kadrierung aus dem Schrank auf, diesmal sehen wir Offred von hinten. June äußert im inneren Monolog, dass sie gern wüsste, was sie getan habe, um dies zu verdienen. „Dies” greift vor auf das, was gleich folgen wird: die Vergewaltigung durch den Commander. Später erfahren wir, dass sie als Ehebrecherin zur Magd geworden sei, weil Luke, der Vater ihrer Tochter Hannah, als sie ihn kennenlernte, noch verheiratet gewesen sei. Die Kamera zoomt wieder auf ihr Gesicht. Es folgt ein außerordentlich organischer Schnitt auf ein Frauengesicht in Großaufnahme. Das linke Auge befindet sich auf mittlerer Höhe in der linken Bildschirmhälfte. Es dauert eine Weile zu erkennen, dass es sich nicht mehr um Offred handelt, sondern um Ofwarren, deren Eigenname Janine lautet. Mit diesem Schnitt beginnt eine Rückblende. Die Kamera zoomt aus dem Gesicht heraus, sodass sichtbar wird, dass Janines zweites Auge verbunden ist. Janines rechtes Auge wurde entfernt als Strafe für Aufmüpfigkeit und Frechheit gegenüber einer Autoritätsperson, in diesem Falle der Tante Lydia (Ann Dowd). Janine erzählt von einer Vergewaltigung durch einige ihrer Mitschüler und deren Freunde im Keller ihrer Schule. Sie gerät dabei ins Stocken und gibt an, dass es sich angefühlt habe, als hätte es Stunden gedauert. Es seien immer zwei oder drei Jungen zugleich gewesen. Ofwarren sitzt in der Mitte eines Stuhlkreises. Durch die hoch liegenden Turnhallenfenster des Rahel und Lea-Zentrums fällt gleißendes Licht.

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Janine sagt, dass sie nicht habe glauben können, dass die Jungs tatsächlich täten, was sie taten. Dann tritt Aunt Lydia hinzu. Zunächst sieht man nur einen Teil ihrer Tracht am rechten Bildrand. Aus dem Off bestätigt sie: „But it did happen. Didn’t it?” So verwandelt sie Janines Erzählung in ein Geständnis. Janine bejaht, während Aunt Lydia sie umkreist. June guckt fassungslos auf die Szene und Aunt Lydia fragt weiter: „And who let them on?” Kurz darauf stampft sie laut mit dem Fuß, und Janine schreckt auf. „Whose fault was it?” Aunt Lydias Gesicht nähert sich Janines, die antwortet leise, dass sie es nicht wisse. Daraufhin fragt Aunt Lydia in die Runde, wessen Schuld es gewesen sei. Die anderen Mägde zeigen auf Ofwarren, verengen so den Kreis und skandieren: „Her fault! Her fault!” June stimmt zunächst nicht ein und wird daraufhin von einer anderen Tante (Margaret Atwood) geschlagen und von ihrer Freundin Moira, die links von ihr sitzt, aufgefordert, endlich mitzutun. Auf Aunt Lydias Frage, warum Gott so etwas Schreckliches habe geschehen lassen, antwortet der Mägde-Chor: „To teach her a lesson.” Gott ist also ein Lehrer. Janine ringt um Fassung. Ein Knarzen des Bodens beendet die Rückblende. Wir sind wieder im Schlafzimmer der Waterfords, wo nun erst Rita (Amanda Brugel), die Martha, die den Haushalt führt, eintritt und dann Nick. Beide stellen sich hinter June. Dann tritt Serena ein und stellt fest, dass ihr Mann wie immer zu spät sei. Dieser klopft, und June erklärt aus dem Off mit ihrer inneren Stimme, dass dieses Klopfen schon Teil der Zeremonie sei, in der die Macht bei der Ehefrau liege. Commander Waterford entnimmt eine Bibel einer verschlossenen Schatulle. Frauen dürfen, wie sie sich auch drehen und wenden, in Gilead nicht lesen. Wir hören Orgelmusik wie zu Beginn eines Gottesdienstes, dann setzt der Chor ein. Es erklingt Onward Christian Soldiers. Zu dieser Musik beginnt die Vergewaltigung Junes. Das Bett knarzt im Rhythmus, erst langsam, dann schneller. Serena krallt sich in Junes Handgelenke. Deren Kopf liegt in ihrem Schoß. Der Commander kommt, und das Ritornell schließt sich. Serena verweist June des Zimmers, diese stottert noch, dass sie noch eine Weile auf dem Rücken liegen bleiben solle, der besseren Empfängnis-Chancen wegen. Die Sequenz endet mit Serenas Gesicht im Anschnitt. Serena und June stehen auch auf einer Seite. Das sieht man erst gegen Ende der zweiten Staffel deutlicher. In der zweiten Sequenz (S1/E1 [DVD 1 38:46–46:07]) trifft June/Offred ihrer Partnerin Emily/Ofglen und die anderen „Girls”, die Aunt Lydia zu einer „Partizikution” unterstehen. Partizikution zieht Partizipation und Exekution zusammen. Die Handmaids sollen einen Mann töten, der eine Magd vergewaltigte, die daraufhin ihr Kind verloren hat. Die Partizikution findet in einem Park statt, in dem eine Konzertmuschel steht. Die Mägde werden zu ihren Plätzen gerufen und von Aunt Lydia aufgefordert sich hinzuknien und die Wings, ihre weißen Flügelkappen,

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abzulegen. Die Tanten führen die Mägde militärisch. Hier zeigt sich Foucault’sche Disziplin in actu (vgl. Foucault 1989). Aunt Lydia schildert den Fall und bezieht dabei die Mägde wie in der ersten Sequenz ein. June stimmt diesmal spontan zu und ein. Sie hat also gelernt. Aunt Lydia erläutert außerdem das Verfahren. Die Mägde bilden einen Kreis um den Delinquenten. Nach dem ersten Pfiff dürfen sie mit ihm anstellen, was sie wollen. Der Kreis schließt sich zur Partizikution. Die Kamera vollzieht eine Kreisbewegung in Sprüngen. Ein zweiter Pfiff beendet die Hinrichtungszeremonie. Die Leiche des Mannes ist mit einem weißen Laken abgedeckt, und die Mägde verabschieden sich voneinander. Aus der Vogelperspektive, die in dieser Sequenz hin und wieder eingenommen wird, bilden die roten Trachten im scharfen Kontrast zur Brutalität der Hinrichtung schöne Bewegungsmuster in der grünen Parklandschaft. Vor der Zeremonie fragt Ofrobert/Alma (Nina Kiri) June, ob sie etwas von Moira gehört habe. Janine mischt sich in das Gespräch ein und gibt beinah fröhlich kund, dass Moira tot sei. Wenig später erläutert sie näher, dass sie bei ihrem Fluchtversuch gefasst und in die Kolonien geschickt worden sie. Sie müsse folglich inzwischen tot sein. In die mich an Kompositionen von Michael Nymann für Filme von Peter Greenaway erinnernde Serienmusik mischt sich ein enervierender Sinuston, den June nach den Einlassungen Janines zu hören beginnt. June entlädt ihre ganze Wut in der Partizikution. Sie tritt als erste zu. Blut spritzt aus dem Mund des Mannes. Die Gewalt entfaltet sich in Zeitlupe. In ihrer strukturalen Anlage und Farbigkeit erinnert die Gewalteskalation an Greenaways The Cook, the Thief, his Wife, and her Lover (F/NL/GB 1989). Für die bereits in den Wahn hinübergleitende Janine scheint die Szene auf eine perverse Art auch Gerechtigkeit herzustellen. Vergewaltigung ist in Gilead nicht gleich Vergewaltigung. Sie kann ein Zeichen für Gottes Lehrtätigkeit sein, legale Praxis in der Zeremonie oder mit dem Tod bestraft werden. Die hochschwangere Janine steht während des Gewaltexzesses etwas abseits lächelnd in der Sonne und streicht sich zärtlich über ihren Bauch. Für sie sublimiert die Gewalt den Widerspruch zur ersten Sequenz, wie es scheint. Die Choreographie der Partizikution wird sich in Episode zehn der ersten Season wiederholen. Allerdings führt die anstehende Steinigung Janines zu weiteren dialektischen Volten. Zu Beginn der dritten Sequenz (S1/E10 [DVD 6 39:47–50:05]) liegt June zwischen den Briefen von Mägden, die deren Leid bezeugen und June von der im Untergrund agierenden Widerstandsorganisation Mayday zugespielt worden sind. Glockengeläut kündigt eine „Salvation” an. Auch das Wort „Erlösung” erweist sich wieder als ein Euphemismus, diesmal für „Hinrichtung”. June weiß noch nicht, dass sie die Glocken zur Steinigung Janines rufen. Vor dem Haus wartet

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schon ihre Begleiterin Ofglen. Es schneit. Bei Ofglen handelt sich nicht mehr um Emily, sondern um Lillie (Tattiawna Jones). Die neue Ofglen ermahnt ihre Shopping-Partnerin, nicht schon wieder zu trödeln und für unnötigen Ärger zu sorgen. Nach einem Schnitt schlagen Guardians einen Befestigungsring in den Boden. Die Mägde stehen schon in rechteckiger Formation. Aunt Lydia fordert sie auf, sich hinzuknien. Drei Wächter fahren in Schubkarren Steine heran. Aunt Lydia begrüßt die Mägde als ihre „special girls” und preist ihre Schönheit. Sie hält inne und wirkt betrübt. Sie schaut nach oben – und ringt um Worte. Über den Himmel kommt sie auf Gottes Mirakel zu sprechen. Das größte Mirakel sei das Wunder des Lebens, insbesondere des Lebens eines Kindes. Daraus folgert sie, dass es keine größere Sünde gebe, als das Leben eines Kindes zu gefährden. Immer wieder versichert sie sich bei den Mägden, diesmal sichtlich um Augenhöhe bemüht. Dann befiehlt Aunt Lydia den Handmaids aufzustehen und die Flügel abzulegen. Es genügt jeweils ein Kommando-Wort. Die Wings werden in Zeitlupe von den Köpfen gehoben und abgelegt. Aunt Lydia bittet die Mägde nach vorn und mahnt freundlich zur Eile. Sie wüssten ja, was zu tun sei – nämlich einen Stein aufzuheben – und sie sollten nicht wählerisch sein und nur einen nehmen. Sie sollten bei der Bildung des Kreises auch auf den Abstand zwischen einander achten und es seien überhaupt genug Steine für alle da. In der Totale formiert sich der Kreis. Aus dem Hintergrund wird Janine herbeigeführt. Die Perspektive verlässt die Aufsicht. Absurderweise sind die Guardians maskiert wie Scharfrichter, nicht aber die „Girls”, die nur als Werkzeug wirken. Als Janine den Kreis betritt, grüßt sie verstohlen freundlich. Später bittet sie ihre Leidensgenossinnen, nicht zu hart zu werfen. Aunt Lydia erklärt, dass Ofdaniel, so heißt Janine inzwischen offiziell, wegen Kindesgefährdung verurteilt worden sei. Die Strafe dafür sei Tod durch Steinigung, eine andere Partizikutionspraxis. Diesmal ringt Aunt Lydia sichtlich um Fassung und betont, wie schwer die Aufgabe der Mägde sei, aber Gott sorge eben für Segnungen und Herausforderungen. Die harte Tante kämpft mit den Tränen, als sie vom hohen Preis spricht, der bisweilen für die Liebe Gottes gezahlt werden müsse. June wirkt unruhig, aber es ist Ofglen, die aus der Arbeiterklasse stammt und in schlechtem Viertel aufgewachsen ist, die widerspricht und die Ausführungen von Aunt Lydia unterbricht. Sie nennt die Forderung, Janine zu steinigen, krank und ruft die anderen Mägde zum Widerstand auf. Damit tritt sie in Widerspruch zu ihrem Vorhaben, gut durchzukommen in der für sie z. T. auch besseren neuen Welt und wird für ihr Aufbegehren von einem Guardian mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen. Wieder spritzt Blut in Zeitlupe aus einem Mund. Ein Zahn fliegt. Aunt Lydia billigt das Verhalten des Guardians nicht und versucht zugleich zu deeskalieren – die Guardians haben ihre Schnellfeuergewehre auf die Mägde gerichtet – und

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die „Girls” an ihre Pflicht zu erinnern. Ofglen wird von zwei Guardians fortgeschleift. Aunt Lydia pfeift, doch niemand wirft den ersten Stein. Nach dreifacher Aufforderung, „Go, go, girls”, tritt Offred vor. Der Kreis hat nun zwei Öffnungen. Ein Guardian entsichert sein Gewehr und fordert Offred auf, an ihren Platz zurückzukehren. Aunt Lydia verlässt die Bühne, stellt sich vor die Gewährmündung und erklärt der Wache, dass die Mädchen in ihren Verantwortungsbereich fielen. Im Duell mit Aunt Lydia hebt Offred die Hand, in der sie den Stein hält, und lässt ihn fallen, was wir in Zeitlupe auskosten können. Nachdem der Stein auf den Boden geschlagen ist, entschuldigt sie sich formelhaft. Die Autorität von Aunt Lydia ist gebrochen. Die anderen Mägde folgen nach und nach ihrem Beispiel. Die Musik von Adam Tylor gewinnt Arvo Pärt-hafte Qualität. Janine weint. Aunt Lydia schickt die Mägde nach Hause, fordert sie auf, darüber nachzudenken, was sie getan hätten, und kündigt Konsequenzen an. Die Mägde lösen den Kreis auf und bilden eine Marschformation. Sie verlassen den Park, wieder in Zeitlupe. Eine andere Armee hat sich formiert. Es handelt sich nicht mehr um christliche Soldaten. Wir hören Nina Simones Feelin’ Good, Offbeat, und sehen Anfang eines Bildungsprozesses, der von einer gehörigen Portion Pathos begleitet wird, aber: „It’s a new dawn, it’s a new day, it’s a new life for me.” So heißt es im Refrain. Ofglen zahlt nicht nur mit dem Verlust von Zähnen, ihr wird für ihre Rede auch noch die Zunge herausgeschnitten. Später wird sie bei der Einweihung des neuen Rahel und Lea-Zentrums einen Anschlag auf die dort versammelten Commander verüben. June wird am Ende der Episode von Guardians im Haus der Waterfords abgeholt. Alle anderen Mägde folgen zu Beginn der zweiten Season. In einem Stadion wird eine Scheinhinrichtung inszeniert. Die Köpfe der Mägde hängen in den Schlingen, aber die Fallklappe löst nicht aus. Das Auslösegeräusch allein verbreitet schon Todesangst. Weil June schwanger ist, wird ihre Bestrafung ausgesetzt. Allen anderen beteiligten Mägden wird der Unterarm der Hand, mit der sie den Stein nicht geworfen haben, über einer Gasflamme verbrannt. Bevor dies geschieht, bilden die Mägde in einem Innenhof erneut einen Kreis, der wieder aus der Vogelperspektive aufgenommen wird. Aunt Lydia erzählt June noch, dass sie Janine die „Erlösung” versagt habe und sie nun qualvoller in den Kolonien sterben werde. Wozu wird dieses neue Leben in größerer Gelassenheit – June sagt am Ende von Folge zehn, sie fühle sich „serene” („gelassen” wie Serena) – führen? Die Sequenz endet damit, dass June, nachdem die anderen Mägde nach und nach in die Häuser ihrer Herren abgebogen sind, allein marschiert. In Parallelmontage sehen wir Moira, inzwischen in Kanada, überrascht, verzweifelt und froh auf Luke

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zugehen. Er sei über ihre Flucht informiert worden, weil er ihren Namen auf die Familienliste gesetzt habe. Nun beginnen zwei neue Leben.

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Widerständig werden

In der zweiten Season werden auch Serena und Ofglen/Emily in Bildungsprozesse hineingezogen. Ohnehin weitet sich die Welt bis in die Kolonien, wohin die Unwomen verbannt werden. Und nicht zuletzt gewinnen auch die Econowifes, ihre Männer und die Marthas an Bedeutung. Nach einer ärztlichen Untersuchung wird June zur Flucht verholfen. Sie versteckt sich eine Weile im ehemaligen Verlagsgebäude des Boston Globe, einer (einst) angesehenen Tageszeitung, in deren Räumen nach dem Staatsstreich ein Massaker stattgefunden hat. June läuft durch die Hallen der Druckerei, treppauf und treppab, aber sie trainiert nicht nur, sondern richtet auch ein Mahnmal für die Opfer des Massakers ein. Ein ganz normaler Mann versorgt sie einmal wöchentlich mit Lebensmitteln und hin und wieder kommt Nick zu Besuch. Wir erfahren mehr über Junes Mutter, Hebamme, Vergewaltigungsopfer und Frauenrechtlerin, die früh in den Kolonien gestorben ist. Später in der Serie wird June ihre Mutter, während Aunt Lydia über die Umweltsünden der USA vorträgt, auf einem Dia, das die Arbeit in den Kolonien zeigt, wiedererkennen. Näher an der erzählten Zeit rät Junes Mutter ihr in einer weiteren Rückblende angesichts des Kommenden, besser zu kämpfen, statt mit Luke Familie zu spielen. „Besser heißt nie besser für alle.” June wiederholt in diesem Zusammenhang eine zynische Einsicht Commander Waterfords aus Staffel eins. Nach einer Weile nimmt der Truckfahrer June mit zu einem Ort, von dem aus ein anderer Truckfahrer sie zu einem Safe House bringen soll, als Ausgangspunkt für einen Fußmarsch zu einem kleinen Flugfeld, das von einem Schmuggler genutzt wird, der sie nach Kanada ausfliegen soll. Als dem anderen Truckfahrer über sein Mobiltelefon mitgeteilt wird, dass das Safe House nicht sicher sei und er daraufhin spontan beschließt, June nicht mitzunehmen, stellt sie sich ihm in den Weg und artikuliert erstmalig eindeutig Widerstand. In der Wohnung von Omar (Yahya Abdul-Marteen II) und Heather (Joanna Douglas), so heißen der Fahrer und seine Frau, findet June, während die beiden in die Kirche gehen, einen Koran. Die Familie kehrt aus der Kirche nicht zurück. Ohne zu wissen, was passiert ist, setzt June ihre Flucht in Heathers Kleidern allein fort. In einem Wald in der Nähe des kleinen Flugplatzes hat sie ein Déjà-vu. Sie dreht sich und denkt an ihre Tochter Hannah (Jordana Blake). Die Flucht missglückt und June wird zu den Waterfords zurückgebracht.

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Die nächsten Folgen und das zweite Schwangerschaftstrimester verbringt June wieder im Haus der Waterfords. Als Widerstandsstrategie erwägt sie, schamlos und ignorant zu werden. In der Folge Other Women (S2/E4 [DVD 2, 0:38:40] führt Aunt Lydia June an die Mauer, wo der tote Körper von Omar hängt. Heather, erfährt June, sei nun auch eine Handmaid und ihr Sohn in die Hände verantwortungsvollerer Eltern übergeben worden. Auf die Frage, wessen Schuld das sei, wiederholt June wieder und wieder, dass es „her fault”, ihre Schuld, gewesen sei. Auch diese Sequenz spiegelt die oben beschriebene erste. Bei einer der regelmäßigen Untersuchungen Offreds äußert Aunt Lydia Serena gegenüber, dass der Bleistift, den sie nutzt, um den Fortschritt von Junes Schwangerschaft zu dokumentieren, ein Privileg der Tanten sei. Nun hat Serena einst selbst viel geschrieben, und nach einer ihrer Reden, erfahren wir aus einer Rückblende, wurde ein Attentat auf sie verübt. Der Schuss traf die seinerzeit noch eine weiße Hosen tragende Aktivistin in den Unterleib. Womöglich kann sie deshalb keine Kinder mehr bekommen. Serena, die der Polizei misstraut, fordert ihren Mann auf, endlich wie ein Mann zu handeln: In alttestamentarischer Manier erschießt er die Partnerin des Attentäters vor dessen Augen in einem Waldstück. Vor dem Ultraschall kommen sich June und Serena bei einer weiteren Untersuchung näher. Serena lädt anschließend andere Handmaids – Junes Freundinnen, wie sie sagt – zu einer kleinen Feier, die an einen Kindergeburtstag erinnert, bei dem die „Mutter” für Programm zu sorgen hat. Als Offred das Kinderzimmer ihres zukünftigen Kindes sehen darf, bittet sie darum, auch ihre Tochter Hannah treffen zu dürfen. Hier zeigt sich, dass das Verhältnis der beiden Frauen wechselhaft bleibt. Fred bringt June ein Polaroid von Hannah und sorgt dafür, dass Nick, der biologische Vater seines zukünftigen Kindes, in einer Zeremonie, die noch eine Reihe weiterer verdienter Guardians auszeichnet, mit der 15jährigen Eden (Sidney Sweeney) verheiratet wird, die die Ehe als Pflicht vor Gott ansieht. June bittet Nick, mit Eden zu schlafen, um nicht als gender traitor an der Mauer zu enden. Serena intensiviert ihre Machtspiele wieder. So lässt sie eine Stricknadel fallen und befiehlt Offred, diese aufzuheben. Dann bittet sie Eden, ihre Stricknadel fallen zu lassen. Daraufhin gibt Offred einen Krampf vor und entzieht sich dem Spiel mit Hinweis auf das Wohl des Babys. Am Ende der Folge First Blood, die mit einer Blutung Junes beginnt, unternimmt Ofglen einen Anschlag auf die Eröffnungsfeier des neuen Rahel und Lea-Centers. Nach dem Anschlag hören wir im Abspann von der Britischen Punk-Band X-Ray Spex Oh Bondage, Up Yours (1977), ein Song aus der Hochzeit des Punk. Die Sängerin Poly Styrene leiht der stummen und nun toten Lillie ihre Stimme. Dieses Stück schließt an den Nina Simone-Song auf höherer Eskalationsstufe an. Bei dem Anschlag werden 26 Commander getötet.

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In After, der auf den Anschlag folgenden Episode, tragen die Mägde Trauerwings, und die Särge der 31 getöteten Handmaids stehen im Kreis, die Strahlen einer Sonne bildend. Die Anordnung der Särge korrespondiert der der Handmaids, die zu Beginn der zweiten Staffel auf ihre Bestrafung warten. Tante Lydia sagt, dass sie den „Mädchen” nur eine Welt ohne Gewalt und Schmerz habe geben wollen. Das klingt durchaus glaubwürdig und zeigt die ganze Schizophrenie Gileads. Die Trauerzeremonie vollzieht sich analog zu den Partizikutionen. Commander Waterford wird nach dem Anschlag schwer verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert. Die Zuständigkeit für Sicherheit in Gilead fällt zunächst Commander Cushing (Greg Bryk) zu. Die Cushings waren schon vor dem Staatsstreich mit den Waterfords befreundet. Der Commander befragt Offred nach ihrem Verschwinden zu Beginn der zweiten Season skeptisch. Offred übernimmt bei der Befragung die offizielle Entführungsgeschichte. Commander Deeds und der ganze Haushalt, in dem Ofglen gelebt hatte, wurde umgehend exekutiert. Und noch immer werden Marthas auf der Straße scheinbar grundlos erschossen. Auch Serena hält den Versuch, auf diese Weise den Eindruck von Sicherheit zu erzeugen, für falsch. Serena bittet June, für sie die neuen Sicherheitsanweisungen Korrektur zu lesen, June verlangt dafür einen Stift. Sie erwirkt einen von ihrem Mann unterschriebenen Haftbefehl für Commander Cushing, und zu Beginn der Folge W omen ’s Work legt sie eine Langspielplatte auf, bezeichnenderweise Easy von den Commodores. Das Ziel, durch die Verhaftung Cushings eine Wende „back to normal” einzuleiten, setzt sich in Kaskaden fort. Serena erzählt June, jetzt, wo beide wieder ihrer „normalen Arbeit” nachgehen, wie sehr sie es hasse zu stricken; und June nennt Serena eine gute Autorin. Als Commander Waterford aus dem Krankenhaus zurückkehrt, bereit die Bürden seines Amtes wieder zu selbst schultern, werden die beiden Frauen gezwungen, zu einem dritten Normal zurückzukehren. Obwohl Serena eine offizielle Kanadareise angebahnt hat, verabschiedet Fred sie kurzerhand mit einem Kuss auf die Wange wieder aus seinem Arbeitszimmer. June findet die Spieluhr und einige weiße Rosen auf ihrem Bett. Die Rosen stehen symbolisch für Widerstand gegen den Totalitarismus und für einen Neuanfang. Zunächst drehen sich aber die Frauen weiter nach dem Willen ihrer Männer im Kreis. June trifft Janine und Emily beim Einkaufen wieder. Beide sind aus den Kolonien zurückgeholt worden, um getötete Handmaids zu ersetzen. June nennt Emily endlich ihren Namen. Daraufhin stellen sich alle Mägde mit ihren Eigennamen vor, die ihre Funktionsnamen in ihren Gesprächen zukünftig ersetzen. In Kanada werden die getöteten Mägde mit ihren Namen präsentiert. Dort wird angenommen, dass Lillie Fuller den Anschlag verübt habe. Dass nun auch die anderen Mägde mehr wagen, zeigt sich daran, dass sie die offiziellen Sprachformeln

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variieren. So antwortet Janine auf Junes Begrüßung „Blessed be the fruit” mit „May the force be with you”. Diese Star Wars-Formel aus dem Umfeld der Jedis – auch eine Religion – und des rebellischen Widerstands führt weiter zu einer Alien-Anspielung im Hinblick auf das ungeborene Kind. Emily stellt Janine gegenüber klar, dass Vergewaltigung auch durch einen freundlicheren Commander, der zwischen den Zeremonien keinen Oralsex verlange, keine Gnade sei; und June gegenüber verteidigt sie das Bombing als radikalen und richtigen Akt. Als Janine hört, dass Baby Angela, die sie – als leibliche Mutter des Babys – Charlotte nennt, sehr krank sei, reagiert sie unruhig und aufgebracht. Als June versucht Janine zu beruhigen, entgegnet diese, dass sie, June, klinge wie eine von ihnen. Gemeinsam mit Serena sorgt sie gegen den Widerstand von Fred und schließlich ohne dessen Wissen dafür, dass eine bekannte Kinderärztin, die nicht mehr praktizieren darf und inzwischen als Martha arbeitet, eine Sondergenehmigung erhält, um Baby Angela zu untersuchen. June setzt auch erst gegen und dann mit Aunt Lydia durch, dass Janine sich im Krankenhaus von ihrer Tochter verabschieden darf. Im ersten Gespräch ermahnt Aunt Lydia June noch drohend, dass sie June zur Verantwortung ziehen werde, wenn das Wiedersehen mit ihrer Tochter Janine psychisch breche. Als die Ärztin feststellt, dass dem Baby nur noch Geborgenheit helfen könne, stimmen auch die Putnams als soziale Eltern zu, Janine für ihre vermeintlich letzte Nacht zu Charlotte zu lassen. Am nächsten Morgen erwacht Aunt Lydia von Janines Gesang. Janine singt für ihr Baby den Dusty SpringfieldClassiker I Only Wanna be With You (1963) vor, der heute wahrscheinlich am ehesten noch als Coverversion der Bay City Rollers (1976) bekannt ist. Aunt Lydia wirkt gerührt und scheint sich aufrichtig zu freuen. Sie weckt die Putnams, um ihnen von dieser wunderbaren Errettung zu erzählen. Die Doppelmoral, die im Hinblick auf Gottes Willen in Gilead herrscht, wird deutlich als Fred Serena und June in sein Arbeitszimmer bestellt. Gegen Serenas Verteidigungsrede stellt er klar, dass dem Ehemann zu dienen vor Kinderrettung gehe. Als „Wiedergutmachung” züchtigt er seine Frau vor Offred mit dem Gürtel. Danach hört der Commander eine LP, und die Frauen weinen in ihren Zimmern. June beschreibt ihr Zimmer zu Beginn der folgenden Episode S mart Power (S. 2/E9) als mittelmäßigen Dreisterner bei Airbnb. Die Besitzer seien freundlich aber gruselig und „ritualized rape requiered”. Als die Kanadareise bevorsteht, die Commander Waterford als diplomatische Chance begreift, die aus dem Attentat erwachsen sei, stellt er June, Rita und Eden den jungen Guardian Isaac (Rohan Mead) vor, der das Haus in der Abwesenheit von seiner Frau, ihm und Nick führen und bewachen solle. Seiner Frau, die erst nicht mitfahren wollte aus Sorge um das Baby, sagt er, dass sie mitreisen müsse, weil die Kanadier glauben, Frauen seien in Gilead unterdrückt. Die Erniedrigung zeigt sich dann auch im Damenprogramm.

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Serena, die nicht lesen darf, wird von den politisch korrekten Kanadiern ein Programmschema mit Piktogrammen ausgehändigt. Ihre vollbeschäftigte Begleiterin fragt sie dann nach ihren peinlichen Hobbys und schließlich unterbreitet ihr ein Gigolo-Agent namens Tuello (Sam Jaegger) ein Ausstiegsangebot im Namen der US-amerikanischen Regierung, das auch den Versuch beinhalte, ein eigenes Kind medizinisch zu ermöglichen, da das erwartete Baby ja nicht das ihre sei. Daheim wird Janine als Begleiterin von June von Isaac mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen, nachdem sie seinen Anweisungen, endlich ruhig zu sein, nicht gefolgt ist und ihn in beleidigender Absicht aufgefordert hat, ihren Schwanz zu blasen. In der Formel „suck my dick” behauptet sie einen Phallus, den sie Isaac nicht zugesteht. Über die unangemessene Macht des jungen Mannes, verbünden sich auch June und Rita. In Kanada folgt Nick Luke nach dessen Protest gegen die Waterfords in eine Bar, wo er von June berichtet und Luke die Briefe der Handmaids übergibt, die am Ende ihren Empfänger erreichen. Die Kanadier beenden nach ihrer Veröffentlichung alle Gespräche. Nick berichtet June nach seiner Rückkehr von seinem Treffen mit Luke; und Aunt Lydia erklärt und entschuldigt Junes Ungehorsam dem jungen Guardian gegenüber durch Hormonausschüttung. Auch sie verspricht, wie Rita zuvor schon, Junes Baby in Zukunft zu schützen. In The last Ceremony stirbt Roy direkt, nachdem er in Ofroy gekommen ist. Der Aufforderung der panischen Ehefrau, Hilfe zu holen, kommt Emily nicht nach mit dem schon bekannten Hinweis, dass die Chancen auf Empfängnis besser seien, wenn sie noch eine Weile auf dem Rücken liegen bleibe. Als die Frau fort ist, tritt sie noch ein paar Mal gegen die Leiche. Als bei Offred die Wehen einzusetzen scheinen, bereitet sich das Haus Waterford auf die Geburt vor. Offred spielt dann ihre Macht aus, das Kind noch nicht zu gebären. Der Arzt geht auf Serenas Wunsch, die Geburt einzuleiten, nicht ein. Als Offred darum bittet, für ihre nächste Stellung in den Bezirk versetzt zu werden, in dem ihre Tochter Hannah lebt, provoziert sie mit ihrer Bitte den Commander. Auf seinen Wutausbruch entgegnet sie, dass er nie wissen werde, wie es sei, ein Kind von eigenem Fleisch und Blut zu haben. Die Waterfords rächen sich mit einer weiteren letzten Zeremonie und vergewaltigen Offred gemeinsam, um die Geburt „auf natürlichem Weg” einzuleiten. Nick sieht, wie sich Eden und Isaac küssen; und Eden sieht, dass Nick sieht. Eden äußert Nick gegenüber die Vermutung, dass die Magd der Grund sei, warum er sie nicht wie seine Frau behandle. Um Gottes Bestimmung zu folgen, fliehen Eden und Isaac zu den Eltern. Dort angekommen, werden sie von Edens Eltern denunziert; und als sie sich weigern, ihre Sünden zu gestehen und um Gnade zu bitten, werden sie vor Publikum in einem Schwimmbad als Strafe für den Ehebruch ertränkt. Sie sterben aufrichtig, für die Liebe und als parrhesiastisches

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Paar (vgl. Foucault 2004). Das bringt ihnen posthum Sympathien von June, Rita und Serena ein. June hat ihr Kind inzwischen allein in einem unbewohnten Landhaus eines anderen Commanders zur Welt gebracht. Nick hatte sie dorthin gefahren, weil Fred dort als Überraschung für June ein Wiedersehen mit Hannah arrangiert hatte. Hannah, die inzwischen Agnes genannt wird, fragt ihre Mutter kindlich direkt, warum sie nicht stärker versucht habe, sie wiederzufinden, woraufhin June sich entschuldigt und Hannah beschwichtigt, dass es in Ordnung sei, weil sie nun neue Eltern habe, die sie – wie June von der begleitenden Martha erfährt – auch nur zwei Mal und zudem nicht grundlos geschlagen hätten. Zum Abschied bittet June ihre Tochter, ihr Leben zu genießen; und sie solle nicht vergessen, dass Mommy und Daddy sie immer lieben würden. Die neuerliche Trennung fällt beiden schwer. Kurz nach der Abfahrt Hannahs wird Nick von anderen – wie sein Commander es später nennen wird – „übereifrigen” Guardians mitgenommen und ihr Auto auch. Als die Waterfords zu dem Landhaus kommen, versteckt sich June und legt mit einem Jagdgewehr auf sie an. Sie schießt aber nicht. Sie hofft noch auf Fluchtmöglichkeiten. Später, nach dem Platzen der Fruchtblase, nutzt sie das Gewehr, um auf sich hinzuweisen, erinnert sich an die Geburt von Hannah und an die Übungen der Mägde, vor allem an Aunt Lydias Anweisungen. Sie teilt die Geburt nicht und nennt das Baby nach ihrer Mutter Holly. Durch erzählen bleibt man am Leben: „I tell therefore you are.” Für eine weitere Pathosdosis sorgt Springsteen. Getrennt von ihrer Tochter verweigert Offred die Milchproduktion und imaginiert mit Nick eine Flucht nach Hawaii, wie sie auch Serena schon angeboten wurde. Später darf June auch dank der Unterstützung von Aunt Lydia Holly stillen. In der letzten Episode bringt June Serena Edens Bibel, die – voller Anstreichungen und kleiner Zeichnungen – bezeugt, wie ernsthaft sich die junge Eden verbotenerweise um Gottes Wort bemüht hat. Über die Frage wie Serena, die Holly Nichole nennt, verhindern wolle, dass ihrer Tochter Edens Schicksal drohe, geraten June und Serena in Streit. Als sie auch mit Commander Waterford in Streit gerät und dieser sie schlägt, schlägt June zurück. Rita nennt sie daraufhin anerkennend ein bad ass. Bei Serena bleibt der Streit nicht wirkungslos. Sie bespricht sich mit anderen Wifes und tritt schließlich vor den Rat, um zu fordern, dass auch ihre Töchter die Bibel lesen lernen dürfen. Die anderen Frauen treten hinzu und wenden sich zum Teil wieder ab, als Serena beginnt, selbst verbotenerweise aus der Bibel vorzulesen. Sie habe es getan, um Nichole ein Vorbild zu sein. Für diesen Ausbruch aus der Rolle, die alle, wie Commander Waterford noch einmal betont, in Gilead zu spielen hätten, wird ihr ein Finger abgeschnitten. Alle sind natürlich nicht gleich alle, denn für hochrangige Commander bleiben Regeln dehnbar, wie Fred June eröffnet, sodass eine gehorsame Magd im Haus bleiben

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könne, um zu versuchen, einen Jungen zu zeugen. Seine Anmerkung, dass das Spaß machen könnte, quittiert June mit einem lapidaren „Go and fuck yourself, Fred.” Er legt daraufhin nach, dass er vielleicht auch ermöglichen könnte, dass June Hannah öfter sehe, zumindest solange sie sich gut benehme. Sie solle einfach mal darüber nachdenken. Seine Pädagogik erinnert an die früheren, schlechten Erziehungsversuche von Aunt Lydia. Als es in einem Nachbarhaus der Waterfords brennt, eröffnet Rita June und Holly eine Fluchtmöglichkeit. June nimmt Hannahs Bild aus der Spieluhr und ritzt die Fake-Latein-Phrase in die Zimmerwand. Freds letzter Versuch, sie unterzukriegen, hat den Bogen offenbar überspannt. Nick sieht June fliehen und setzt den Commander mit dem Hinweis, dass es draußen zu gefährlich sei, im Haus fest. Serena verabschiedet sich unter Tränen von Nichole und lässt June schließlich mit ihr gehen. Eine Martha-Stafette nimmt Fahrt auf. June steckt Holly das Foto ihrer Schwester Hannah in die Decke. Sie trifft schließlich unter einer Eisenbahnbrücke Emily, die von ihrem Commander an diesen Ort gebracht wurde. Emilys erste Zeremonie in seinem Haushalt fand einfach nicht statt. Commander Lawrence (Bradley Whitford) hat Aunt Lydia darüber belogen, bevor Emily mit dem Messer, dass sie für die Zeremonie in ihren Besitz gebracht hatte, auf sie einstach. Im Treppenhaus hängt eine Malerei von Basquiat. Nachdem Emily Aunt Lydia die Treppe hinabgestoßen hatte, trat sie auf die Tante ein, sodass diese erst das Geländer loslässt und dann regungslos liegen bleibt. Ihr Commander, der einen Faible für einfache Popmusik hegt und als Architekt der grausamen Ökonomie Gileads gilt, verhilft ihr daraufhin zur Flucht. Bevor er den Treffpunkt verlässt, wünscht er den beiden Mägden noch ein schönes Leben und warnt sie vor dem Genuss von Drogen. June übergibt Holly an Emily und sagt ihr, sie solle sie Nichole nennen und ihr sagen, dass sie, June, sie liebe. Als der Fluchttruck abfährt, setzt June ihre Kapuze auf. Die zweite Season endet mit den Talking Heads. Der Song Burning Down the House (1983) – es war wohl Brandstiftung – lässt für die dritte Staffel hoffen. Womöglich wird die Gegenrevolution noch 2019 im Fernsehen übertragen.

Literatur Adorno, Th. W. (1999). Theorie der Halbbildung. In: Ders. Gesammelte Schriften, Bd. 8: Soziologische Schriften 1. Darmstadt: WBG, S. 93–121. Atwood, M. (2017). Der Report der Magd. München: Piper. Deleuze, G.; F. Guattari (1997). Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2. Berlin: Merve.

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Fisher, M. (2009). Capitalist Realism. Is There No Alternative? Winchester u. a.: Zero Books. Foucault, M. (1989). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Foucault, M. (2003). Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foucault, M. (2004). Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981–82). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Freud, S. (2000). Der Humor (1927). In: Ders. Studienausgabe, Bd. IV: Psychologische Schriften. Frankfurt/M.: Fischer, S. 275–282. Holzkamp, Kl. (1995). Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt a. M. u. a.: Campus. Holzkamp, Kl. (1997). Lernen und Lernwiderstand. Skizzen zu einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie (1997). In: Ders. Schriften I: Normierung, Ausgrenzung, Widerstand. Hamburg: Argument, S. 159–195.

DVDs The Handmaid’s Tale. Der Report der Magd (2017). Season 1. MGM Television Entertainment. The Handmaid’s Tale. Der Report der Magd (2018). Season 2. MGM Television Entertainment.

Magdwirtschaft: Adaptionspolitik in The Handmaid’s Tale Wieland Schwanebeck

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Einleitung

Im deutschsprachigen Raum haben sich die Adaptation Studies, die sich mit der Transposition von Texten in andere Texte bzw. in andere mediale Zusammenhänge befassen, erst sehr viel später als in der anglophonen Welt etabliert, wiewohl das Interesse an ihren grundlegenden Fragestellungen hier kaum weniger ausgeprägt sein dürfte als etwa in den USA. Sobald eine prestigeträchtige, mit reichlich Vorschusslorbeeren lancierte und auf einem bekannten literarischen Text beruhende TV-Serie wie The Handmaid’s Tale ihren Weg in die Streamingdienste bzw. ins Fernsehprogramm findet, ist es nur eine Frage der Zeit, bis auf Blogs sowie auf einschlägigen, Popkultur-affinen Webseiten wie The AV Club oder Collider enzyklopädische Beiträge auftauchen, in denen minutiös Unterschiede zwischen Vorlage und Adaption gelistet werden (vgl. Dockterman 2017b; Truong 2017). Dieses Verhalten ist so reflexhaft wie unvermeidlich – ein Gespräch über Adaption setzt nun einmal, wie auch Linda Hutcheon anmerkt, die Bereitschaft des Publikums voraus, die Adaption überhaupt als solche wahrzunehmen (vgl. Hutcheon 2013, S. 172) –, und es verrät eine spezielle Rezeptionshaltung: vergleichendes Sehen, das eine Adaption immer an die ihr vorausgehende Quelle zurückbindet, wobei das Primat zumeist dem ,Erstgeborenen‘ zugesprochen und die Adaption nur als weniger originelle Kopie verunglimpft wird. Das Konstatieren der Differenz wird zum intellektuellen Puzzle (,Finde die Unterschiede!‘); in Vladimir W. Schwanebeck (B) TU Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021, Korrigierte Publikation 2022 A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3_11

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Nabokovs Roman Despair (1965) doziert der Maler Ardalion, das Aufspüren von Ähnlichkeiten sei eigentlich ein vulgäres Unterfangen, künstlerische Sensibilität enthülle sich erst in der Wahrnehmung von Abweichungen (vgl. Nabokov 1965, S. 51). Wer aber eine Adaption auf diese Art und Weise lediglich entlang zentraler Ereignisketten, d. h. im Hinblick auf den Plot, möglicherweise auch nur mit der im Kopf gespeicherten, persönlichen Visualisierung des Inhalts abgleicht (,Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt!‘), der hat noch nicht Adaptation Studies betrieben, sondern zunächst einmal nur das Defizit bilanziert, das sich zwangsläufig einstellt, wenn Äpfel mit Birnen verglichen werden. Alfred Hitchcock, dem das große Kunststück gelungen ist, eine Karriere auf Adaptionen aufzubauen, ohne jemals als Adapteur wahrgenommen zu werden – Hitchcocks auktoriale Signatur überschreibt in der Regel die seiner Vorlagengeber –, pflegte in diesem Zusammenhang die Geschichte von den beiden Ziegen zu schildern, die gemeinsam ein paar Filmrollen verspeisen und zu dem Urteil gelangen, der Roman sei besser gewesen (vgl. Hitchcock im Gespräch mit Truffaut 1984, S. 129). Ich werde im Folgenden keinen Vergleich zwischen Margaret Atwoods Roman The Handmaid’s Tale und seiner Umsetzung als Fernsehserie anstellen (wiewohl ich an einigen Stellen sowohl auf das Buch als auch auf die der Serie vorausgehende Verfilmung von Volker Schlöndorff Bezug nehme), sondern vielmehr den Inhalt sowie die Vermarktung der Serie innerhalb zentraler Fragestellungen der Adaptation Studies verorten. Dabei geht es mir einerseits um das Prestige, das mit dem Label der Literaturverfilmung verbunden ist, und wie sich Hulus Version von The Handmaid’s Tale mit ihrer autorinnenzentrierten Werkpolitik offen als bibliophile Adaption zu erkennen gibt, sowie andererseits darum, welch hochgradig selektiver und fragwürdiger Adaptionspolitik sich das auf textlicher Exegese beruhende, vermeintlich schrifttreue Regime von Gilead bedient. Aus dem Missverhältnis zwischen dem Emanzipationsnarrativ der Serie sowie dem in der Vermarktung kritiklos gewahrten Werktreueparadigma ergibt sich das, was ich hier als ,Magdwirtschaft‘ charakterisieren und in einem letzten Schritt auf die Herr-Knecht-Dialektik anderer zeitgenössischer Magd-Erzählungen ausweiten werde.

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Die offensive Adaption

Gegenüber der langen Geschichte der Adaption im Kino hinkt die Erforschung von Adaption im Kontext der Fernsehserie noch um einiges hinterher, wiewohl seit den Anfängen des einen wie des anderen Mediums galt, dass die Adaption

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die Regel und nicht die Ausnahme darstellt. In ihrer Einführung in die Adaptionstheorie schätzt Linda Hutcheon, dass der Anteil der Adaptionen unter allen mit Emmys ausgezeichneten Miniserien ca. 95 % beträgt (Hutcheon 2013, S. 4), und bei aller Risikobereitschaft und allem Mut zur Originalität, die den größeren Streaming-Anbietern bei der Auswahl ihrer Projekte immer wieder unterstellt werden, dürfte diese Quote auch im sogenannten Goldenen Zeitalter des seriellen Erzählens nicht viel geringer ausfallen. Zwar hat es zahlreiche erfolgreiche Serien gegeben, die nicht auf bereits publiziertem Material basieren – die vom Krimiautor Nic Pizzolatto geschaffene Reihe True Detective (seit 2014) oder Amazons Kritikerliebling The Marvelous Mrs. Maisel (seit 2017) sind zwei der prominentesten Beispiele –, in der Mehrzahl aber stützen sich auch aktuelle Fernsehserien auf bereits erprobte ,Marken‘ bzw. Geschichten, die bereits in anderer medialer Gestalt existieren.1 Bei den Quellen kann es sich um einen bereits über Jahrzehnte etablierten Serienkosmos handeln (Star Trek: Discovery, seit 2017), um einen aus einem anderen Land stammenden Serienstoff, der für den US-Markt neu in Szene gesetzt wird (Maniac, 2018), oder auch einen Kinofilm, der seriell noch einmal expandiert wird (Fargo, seit 2014). Der klassische Fall der konventionellen Literaturverfilmung ist nicht (mehr) die Regel, zumal im Kontext des seriellen Erzählens. Kanonische Stoffe reizen kaum zum expansiveren Erzählen, allenfalls die Miniserie wirft Möglichkeiten ab, einen Roman in abgeschlossener Form, aber ohne die Zwänge der Erzählökonomie, wie sie im Kino vorherrschen, zu adaptieren – Todd Haynes durfte James M. Cains 1941 erschienenen Roman Mildred Pierce im Jahr 2011 als Fünfteiler für HBO verfilmen und hatte dabei dreimal so viel Erzählzeit zur Verfügung wie Michael Curtiz bei seinem 1945 entstandenen Spielfilm; in England hat die Dramatikerin Sarah Phelps bereits mehrere Romane von Agatha Christie als Miniserien für die BBC adaptiert (z. B. The Witness for the Prosecution, 2016), wobei sie nicht nur Christies verschachtelten Plots Genüge tut, sondern auch zahlreiche, in der bisherigen Adaptionsgeschichte eher vernachlässigte Subtexte an die Oberfläche holt. Die Vielfalt der existierenden Formate weicht dabei die lange geltende rigide Trennung zwischen vermeintlich ,typischen‘ adaptiven Verfahren im Kino und im Fernsehen auf, zumal sich auch die typischen Rezeptionskontexte gewandelt 1 Ich

verwende den Begriff der Adaption sowie den des Originals ausschließlich im Hinblick auf das rechtliche Kriterium, nicht um den betreffenden Beispielen einen höheren oder geringeren Grat an gestalterischer Originalität zu unterstellen. Dass auch eine originäre, d. h. nicht auf einer einzelnen Vorlage beruhende Serie wie True Detective über zahlreiche Intertexte verfügt und sich auf literarische und filmische Prätexte stützt, versteht sich dabei von selbst und kann an anderer Stelle nachgelesen werden (vgl. Stiglegger 2017).

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haben – das Kino erprobt längst serielle Verfahren und baut komplex verflochtene Erzählwelten wie das Marvel Cinematic Universe, während Streaming-Anbieter mittlerweile nicht nur in sich abgeschlossene Miniserien, sondern auch Spielfilme produzieren; sogar Mischformen wie das für sich stehende Serien-Special in Spielfilmlänge sind denkbar. Yvonne Griggs hat mit Adaptable TV (2018) ein Buch über neue Ansätze des Adaptierens im Kontext des zeitgenössischen Fernsehens vorgelegt, das einerseits überfällig ist, andererseits aber mit seinem medialen Fokus eine strikte Trennung behauptet, die in dieser Form nicht mehr funktionabel ist. Bei den von ihr beobachteten Adaptionsverfahren – z. B. dem Mash-up von tradierten Versatzstücken einer ganzen literarischen Epoche wie in Penny Dreadful (2014–2016) oder der Fiktionalisierung von autobiographischem Material wie in Orange is the New Black (2013–2019) – handelt es sich keinesfalls um eine exklusive Domäne des Fernsehens, mag Griggs auch mit ihrer Beobachtung recht haben, serielles Erzählen im Fernsehen biete einen besonders geeigneten Rahmen, um komplex verschachtelte Story-Welten ohne die strikte Zeitökonomie von Kinoproduktionen zu entwickeln (vgl. Griggs 2018, S. 4). Die Erfordernisse des Produktionsalltags haben zu allerlei kuriosen Konstellationen geführt – dass eine Serie beispielsweise auf einem Roman basiert, der von seiner ungleich bekannteren Filmversion ,überschrieben‘ wurde, die dann als Teil des kollektiven Gedächtnisses von der Serie ,mit-adaptiert‘ werden muss (wie im Fall von Westworld [seit 2017]), oder dass die Serie die ebenfalls produzierte, noch nicht abgeschlossene literarische Vorlage überholt, sich folglich von letzterer emanzipieren und ihr eigenes Ende schreiben muss (Game of Thrones, 2011–2019). The Handmaid’s Tale greift sich im Gegensatz zu diesen Beispielen eine Vorlage heraus, die eher dem literarischen Höhenkamm zuzurechnen ist.2 Das macht die Umsetzung insofern ungewöhnlich, als das ,Fortschreiben‘ von literarischen Quellen in einem anderen Medium – Thomas Leitch spricht hier von sekundären oder gar tertiären Adaptionen3 – normalerweise auf serielle Unterhaltungsstoffe beschränkt ist. Das zeigt aber letztlich bloß, wie wenig man Atwoods Roman beikommt, wenn man ihn allenfalls als bildungsbürgerlichen Bestseller versteht, der sich eine Zeitlang auf dem akademischen Curriculum halten konnte, weil er in 2 Allerdings

wurde Atwoods Roman wiederholt angekreidet, dass er für eine feministische Dystopie eine erstaunliche Anzahl von Versatzstücken der Schemaliteratur aufbietet, z. B. die Figur des mysteriösen Liebhabers, die Rettung in letzter Minute und eine eher passive Heldin (vgl. Grace 2010, S. 50–52). 3 Beispiele hierfür sind z. B. die zahlreichen Sherlock-Holmes-Filme, die den bekannten Geschichtenkanon von Arthur Conan Doyle verlassen und dem Detektiv weitere Abenteuer andichten, dabei allerdings die erprobte Formel wahren (vgl. Leitch 2007, S. 120).

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einer zutiefst patriarchal und misogyn geprägten Welt zu ewiger Aktualität verdammt ist; umso mehr während der vier Jahre währenden Trump-Administration, wie auch Kommentatoren zu The Handmaid’s Tale bemerkt haben: „[The] President is a Playboy-brash predator; his Vice-President is pure Gilead.“ (Nussbaum 2017). Ferner ist The Handmaid’s Tale ein nicht nur weithin geschätzter und respektierter Text, sondern – und dies ist eine zwingende Erfolgsvoraussetzung in der adaptation industry (vgl. Murray 2012) – auch einer, mit dem sich umfangreiche Fandiskurse verbinden, weshalb die Serie gar nicht erst mit dem Ziel antritt, den Roman in der allgemeinen Wertschätzung und Wahrnehmung zu verdrängen. Ganz im Gegenteil handelt es sich bei der Serie um eine offensive Adaption, die ihre Rückbindung an die literarische Vorlage nicht etwa camoufliert, wie es in einer originalitätshörigen kulturellen Umgebung durchaus nicht unüblich ist, sondern sie im Gegenteil offen zur Schau stellt. Der bereits zitierte Thomas Leitch hat in einem pointierten Beitrag für die Zeitschrift Adaptation die Überlegung angestellt, dass sich durchaus von der Adaption als einem regelrechten Gattungsparadigma sprechen lässt, sobald ein Film nämlich eine Reihe von Charakteristika aufweist, die auf seine Bibliophilie und Texthörigkeit hindeuten. Dazu zählen etwa das historische Setting der Geschichte, die umfassende Verwendung textlicher Erzählelemente (z. B. Zwischentitel oder eine Erzählstimme aus dem Off) sowie die Beschäftigung mit Autorschaft, Büchern und Wörtern in der Geschichte selbst (vgl. Leitch 2008). Das hat den paradoxen Effekt, dass das Publikum instinktiv dazu neigt, Filme dem ,Genre‘ Adaption selbst dann zuzuschlagen, wenn sie gar nicht auf einer literarischen Vorlage beruhen, sondern im Gegenteil auf einem Originaldrehbuch. Ein prominentes Beispiel ist Peter Weirs Film Dead Poets Society (1989), der die entfesselnde Kraft der Poesie in einer autoritär geführten Internatsschule derart überzeugend beschwört, dass die von Nancy H. Kleinbaum verfasste Romanfassung des Drehbuchs von Tom Schulman zur kanonischen Schullektüre avancieren konnte, obwohl die novelizations von Filmen normalerweise als literarische Belanglosigkeiten gelten, von den Filmstudios zum Kinostart eilends zusammengeschustert. Eine Geschichte darüber, welch verderblichen Effekt die rigide Einübung normativer Vorstellungen von Literatur im schulischen Kontext haben kann, muss also zunächst in Literatur (zurück-),übersetzt‘ werden, um pädagogische Eignung zu beweisen, d. h. das Hohelied der Poesie wird einem Spielfilm nicht zugetraut. Umgekehrt gibt es Literaturverfilmungen, die kaum als solche firmieren – actionlastige Kinoblockbuster wie Jaws (1975) oder Die Hard (1988) dürften von den wenigsten als Romanadaptionen wahrgenommen werden. The Handmaid’s Tale stellt seine Literarizität dagegen offensiv zur Schau und lässt das Publikum zu keinem Zeitpunkt darüber im Zweifel, dass es sich um

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eine bibliophile Serie handelt. Per Voice-over führt uns June als homodiegetische Erzählerin in die Welt von Gilead ein, geheime Textbotschaften und Briefe bilden wichtige Plot-Elemente ab, und das Wörterspiel Scrabble wird zum Chiffre des Verbotenen.4 Hier schreibt sich The Handmaid’s Tale ins klassische Erbe kanonisierter dystopischer Stoffe wie George Orwells Nineteen Eighty-Four (1949) oder Ray Bradburys Fahrenheit 451 (1953) ein, in denen das Ausmerzen der Buch- und Lesekultur synonym mit Totalitarismus ist, getreu dem auf Heinrich Heines Tragödie Almansor (1821) zurückgehenden Diktum, dort wo man Bücher verbrenne, würden am Ende auch Menschen verbrannt. Die Literatur symbolisiert in diesen Stoffen aufrührerisches Gedankengut bzw. die Freiheit der Gedanken an sich. Atwoods Erzählerin konstatiert im Roman wiederholt, dass sie nichts zu schreiben hat und der Akt des Schreibens verboten ist (vgl. Atwood 1985/1998, S. 39); Lesen gilt als Sünde (S. 89); in der Bibliothek ihres Commanders wähnt sie sich inmitten einer „oasis of the forbidden“ (S. 137). Die Auslöschung der intellektuellen Biografie von Serena Waterford mit dem Beginn des Gilead-Regimes wird in der Folge „A Woman’s Place“ dadurch illustriert, dass ihr Buch auf dem Müll landet, zusammen mit Unterhaltungsliteratur und hochhackigen Schuhen. Das Primat des Wortes erstreckt sich auch auf den paratextuellen Begleitapparat der Serie und spielt im Marketing eine wichtige Rolle. So ist der DVDVeröffentlichung von The Handmaid’s Tale ein kurzes Making-of mit dem Titel „Script to Screen“ beigegegeben, das die Serie in Wort und Bild auf das Kriterium der Schrifttreue verpflichtet und anhand einer exemplarischen Szene den Produktionsprozess darlegt; Ausschnitte aus der Serie werden mit den zugrunde liegenden Drehbuchseiten überblendet (Abb. 1). Dieses Hohelied auf das geschriebene Wort ist ein sympathischer Zug, er bedeutet aber zugleich einen Griff in die Klamottenkiste bildungsbürgerlich-liberaler Untergangsrhetorik, in der sich The Handmaid’s Tale nach Kräften bedient. Aus derselben Quelle stammt auch das von der Serie ziemlich ironiefrei verfochtene Bild von Kanada, das der Komiker Bill Burr einmal als Fantasie vom „post-racial paradise“ bezeichnet hat, in der die Einwohner auf Elchen reiten und – wie in Michael Moores Dokumentarfilm Bowling for Columbine (2002) zu sehen ist – ihre Türen für jedermann offen lassen (Team Coco 2016). Dass diese Wunschvorstellung anno 2018 von einer Fernsehserie am Leben gehalten werden muss, hat einerseits zur Folge, dass The Handmaid’s Tale trotz immenser gestalterischer Qualitäten und imposanter schauspielerischer Leistungen etwas archaisch anmutet, andererseits aber auch, dass 4 Im

Roman heißt es über das Spiel: „Now it’s forbidden, for us. Now it’s dangerous. Now it’s indecent. Now it’s something he can’t do with his Wife. Now it’s desirable.“ (Atwood 1985/1998, S. 138 f.).

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Abb. 1 Text-Bild-Synthese im Making-of zu The Handmaid’s Tale (Hulu)

sich hier abermals eine sog. Qualitätsserie in die paradoxe Situation manövriert, ihren Qualitätsausweis dadurch zu erbringen, dass sie nicht ,bloß‘ Fernsehen sein will, sondern eigentlich Literatur. Wie in der Diskussion um die Qualitätsfernsehserie wiederholt angemerkt wurde, wohnt ja bereits dem Label quality TV die implizite Unterstellung inne, ,normales‘ Fernsehen zeichne sich eben nicht durch Qualität aus; die Aufwertung „funktioniert nur um den Preis der fortdauernden Geringschätzung […] des Mediums Fernsehen per se“ (Lampprecht 2016, S. 70). Ebenso fragwürdig und der Agenda der Serie prinzipiell abträglich ist aus diesem Grund auch, wie intensiv sich The Handmaid’s Tale symbolisch und wörtlich immer wieder an die eigene Schöpferin bindet, nicht nur in der Einschätzung des Showrunners, Bruce Miller, jede Änderung am Stoff sei mit Atwood abgesprochen worden (vgl. Dockterman 2017a). Während die Serie zudem normalerweise Miller den wichtigsten Credit einräumen würde, erfolgt im Fall von The Handmaid’s Tale eine Aufspaltung in einen primären („based on the novel by Margaret Atwood“) sowie einen sekundären („created for television by Bruce Miller“) Schöpfer-Credit. Besonders der englische Begriff lässt an biblisches Schöpfertum denken; eingedenk der Reproduktionsthematik der Serie könnte man metaphorisch mutmaßen, Atwood habe die befruchtete Eizelle zur Verfügung gestellt, Miller sie gemeinsam mit seinem Team allerdings ausgetragen. Als Form der

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Abb. 2 Margaret Atwoods Cameo in The Handmaid’s Tale (Hulu)

künstlerischen Signatur räumt The Handmaid’s Tale Atwood auch einen CameoAuftritt in der ersten Folge ein – sie gehört zum Kreis der aunts, die die künftigen Mägde im Red Center auf ihre neue Rolle einschwören, und darf sogar ihrer eigenen Hauptfigur eine Ohrfeige verpassen, als diese nicht in die Schuldzuweisung nach Janines Vergewaltigungserzählung („Her fault! Her fault!“) einstimmt (Abb. 2). Das Cameo fungiert besonders im Film spätestens seit Alfred Hitchcock immer wieder als eine Form der Autorisierung und als doppelbödiger, auktorialer Werkkommentar;5 mit ihrem ironischen Auftritt als gestrenge Matrone positioniert sich Atwood zugleich als (medizinische) Autorität, die in der Pilotfolge dem Neugeborenen den Klaps gibt, um es zum selbstständigen Atmen zu animieren.

5 Zu

den bekanntesten Beispielen zählen im Kino sicher die Cameos namhafter Regisseure wie Alfred Hitchcock und Martin Scorsese in ihren eigenen Filmen. Scorsese tritt z. B. in Taxi Driver (1975) als gewaltbereiter Voyeur auf und im Sittendrama The Age of Innocence (1993) als Hochzeitsfotograf, der die versammelte Gesellschaft ablichtet.

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Schlöndorffs Handmaid’s Tale

Die 1990 entstandene Verfilmung des Atwood-Romans ist nicht vergleichbar strikt auf die literarische Genealogie und die daran geknüpfte mediale ,Rangfolge‘ eingeschworen, aber auch ihre Geschichte ist nicht ganz zufällig entlang von Mutterschafts- und Gebärmetaphern konzeptualisiert worden. Das Makingof zu dieser ersten Filmadaption von The Handmaid’s Tale besteht aus einem Interview mit dem Regisseur Volker Schlöndorff, der als ausgewiesener Experte für Adaptionen zeitgenössischer Hochliteratur gilt6 und mit der situationsadäquaten Bücherwand in seinem Rücken als lesender Bildungsbürger inszeniert wird. Schlöndorff berichtet von der Entstehung seiner Atwood-Verfilmung unter Rekurs auf das melodramatische Skript des unerfüllten Kinderwunsches – die Schauspielerin Sigourney Weaver (die, nebenbei bemerkt, mit Aliens [1986] auch einen der paradigmatischen Hollywood-Filme über Mutterschaft gedreht hat) habe die Filmrechte an Atwoods Roman erworben und sei mit dem Stoff zu ihm gekommen; als sie aber nach lange unerfülltem Kinderwunsch doch noch überraschend schwanger geworden sei, habe sie sich von dem Projekt zurückgezogen. Dass Schlöndorff sich von der feministischen Agenda des Romans distanziert und es noch nicht einmal eigenartig findet, dass einer der zentralen feministischen Texte des ausgehenden 20. Jahrhunderts fast ausschließlich von einem männlichen Produktionsstab adaptiert wurde,7 macht seine Version von The Handmaid’s Tale zu einem durchaus problematischen Film (vgl. Nischik 1999, S. 147–149; Schmidt 2015, S. 245–248), der zudem drastisch in Analogien zum Bildgedächtnis des Dritten Reichs schwelgt. Er ist dennoch im Vergleich zur Serie die selbstkritischere und medial interessantere Version des Stoffs, eben weil er sich nicht für seine eigene mediale Verfasstheit zu schämen scheint und im Unterschied zur Serie auch nicht in sehnsuchtsvollen Bildern dem absenten Wort nachtrauert. In der Serie kommt es nur selten zu einer selbstreflexiven Auseinandersetzung mit audiovisuellen Medien. Serena und Waterford erfahren während eines Kinobesuchs von den bevorstehenden terroristischen Angriffen; als ,Störenfriede‘, die mit ihren erleuchteten Handy-Bildschirmen die Etikette des Kinobesuchs verletzen, werden sie später einer Bewegung vorstehen, die u. a. die Abschaffung aller Kinos durchsetzt, was auch ein kleiner Seitenhieb auf den endzeitlichen 6 Schlöndorff

hat u. a. Arthur Miller (Death of a Salesman, 1985) und Michel Tournier (The Ogre, 1996) verfilmt, seine auf dem Roman von Günter Grass basierende Blechtrommel (1979) wurde mit dem Oscar und der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnet. 7 Der erste Drehbuchentwurf zum Film stammte von Harold Pinter, der sich allerdings später vom Film distanzierte.

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Abb. 3 Gefahr aus dem Fernsehapparat (I): dämonische Klauen in Poltergeist (1982)

Gesang von der Krise der Filmtheater im Zeitalter der Streaming-Dienste sein mag. Im Gegensatz dazu steht Schlöndorffs 1990 produzierter Film noch im Zeichen eines in den 1980er-Jahren durch den Video-Boom virulenten, kulturellen Endzeitdiskurses, der vor der Infiltration der Kollektivseele durch den Fernsehapparat warnt. Das Poster zu dem von Steven Spielberg produzierten Horrorfilm Poltergeist (1982) mit dem zombiehaft vor dem Bildschirm transfixierten Kind ist in dieser Hinsicht ikonisch geworden (Abb. 3); die entsprechenden Topoi finden sich aber auch in zahlreichen anderen zeitgenössischen Spielfilmen, etwa dem auf der gleichnamigen Fernsehserie beruhenden Episodenfilm Twilight Zone (1983) oder in Halloween III: Season of the Witch (1983), in dem ein ruchloser Konzern Amerikas Kinder mit Werbespots tötet. In Schlöndorffs Version von The Handmaid’s Tale dient das Fernsehen als Medium staatlicher Propaganda, die hier mit (pseudo-)religiöser Indoktrination in eins fällt – die Magd muss vor dem Apparat knien –, und der Ritus vorm Fernsehgerät bildet auch den Ausgangspunkt der zeremoniellen Vergewaltigung (Abb. 4). Die Inszenierung dieser Zukunftsvision mag nicht allzu vorteilhaft gealtert sein, zumal es zu den Eigenarten dystopischer Stoffe bzw. des ScienceFiction-Genres gehört, dass die futuristisch gemeinte Ausstattung zügig Patina ansetzt; ein heutiges Publikum dürfte es deshalb wohl auch eher amüsant finden, dass Schlöndorffs Version von The Handmaid’s Tale per einleitender Texttafel

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Abb. 4 Gefahr aus dem Fernsehapparat (II): Indoktrination in The Handmaid’s Tale (1990)

einen Blick in Amerikas „jüngst vergangene Zukunft“ verspricht, im zentralen Tableau dieser Vorausschau aber nur einen einzelnen klobigen Röhrenfernseher aufbietet. Inhaltlich leuchtet diese Konstellation freilich ein und wird auch intertextuell unterfüttert. Wird Serena Joy in der Hulu-Serie von Erinnerungen an ihre publizistischen Aktivitäten heimgesucht, schwelgt sie in Schlöndorffs Film vor dem Fernsehapparat in Bildern, die ihre Vergangenheit als Star dokumentieren.8 Dass der Film diese Rolle mit Faye Dunaway besetzt, einer sukzessive aus dem Kino verschwundenen, einstigen New-Hollywood-Ikone, unterstützt diesen Eindruck. Als Wiedergängerin von Norma Desmond aus Billy Wilders Sunset Boulevard (1950) verortet sie den Film damit auch ein wenig in der ersten Generation des Fernseh-Kino-Duells, als beide Medien noch reflexhaft gegeneinander ausgespielt wurden. Auf einen derart selbstkritischen Mediendiskurs verzichtet die Serie dagegen fast völlig. Im Gegenteil fetischisiert sie nicht nur die Buchkultur, sondern im Besonderen auch noch die Schöpferinstanz Atwood. Besonders präsent war dieser

8 In

Atwoods Roman erkennt die Erzählerin in Serena Joy einen ehemaligen Fernsehstar, der vor der Kamera Kindern Bibelgeschichten vorgelesen und religiöse Lieder gesungen hat (vgl. Atwood 1985/1998, S. 16).

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Atwood-Kult im Herbst 2019: Im August waren die letzten Folgen der zweiten Staffel ausgestrahlt worden, im September hatte Atwood die Fortsetzung The Testaments auf den Markt gebracht, und im Oktober war ihr für diesen Roman zum zweiten Mal der Booker-Preis verliehen worden; zugleich steuerte Donald Trump auf das erste seiner beiden Amtsenthebungsverfahren zu und seine Umfragewerte bewegten sich auf einem Tiefpunkt. Zu den skurrilsten Bildern rund um den Serien-Launch zählen sicher die Fotos, die das Time-Magazin im März 2017 schoss, als es Atwood mit der June-Darstellerin Elisabeth Moss für ein Interview zusammenbrachte (vgl. Dockterman 2017c). Dass Moss dabei ihren Kopf auf Atwoods Schulter lehnt und der Autorin wie ein allzu ehrfürchtiger Fan ihre Reverenz erweist, soll vermutlich weibliche Solidarisierung und gemeinsame Stärke demonstrieren sowie auch den symbolischen Segen der Schöpferin konnotieren; allerdings ist es nicht unproblematisch, die von der Serie kritisch betrachtete patriarchale Bevormundung paratextuell einfach durch eine Art matriarchaler Textmythologie zu überschreiben.

4

Textarbeit in Gilead

Die Geschichte der schleichenden Emanzipation, die im Roman sowie in der ersten Staffel der Serie erzählt wird und in einen Moment des stummen Triumphs von June über ihre Peiniger mündet, lässt sich auch in Analogie zu den adaptiven Verfahren erzählen, die in The Handmaid’s Tale vorherrschen. Mit dem Ende der ersten Staffel war das narrative Material von Atwoods Roman größtenteils aufgebraucht, die Erweiterung des fiktionalen Universums wurde von der Kritik als Emanzipation bzw. ,Befreiung‘ von der literarischen Quelle und damit als größte Errungenschaft der Serie gefeiert (vgl. Gilbert 2017; Nussbaum 2017). Eine einfache, pseudo-quantitative Einschätzung der Adaption als ,werktreu‘ bzw. ,plotgerecht‘ im Sinne der basalen Handlungsvergleiche genügt jedoch nicht, um zu einem fundierten Urteil darüber zu gelangen, welche Attitüde die Adaption gegenüber der Quelle an den Tag legt. The Handmaid’s Tale bedient sich mehrerer der von Thomas Leitch beschriebenen adaptiven Modi, die man typischerweise in Literaturverfilmungen findet (vgl. Leitch 2007, S. 93–126). Sie betreibt einerseits das, was Leitch als celebration bezeichnet, insofern sie den Bezug zu Atwood deutlich herausstellt, sowohl das Setting als auch die wesentliche Figurenkonstellation des Romans wahrt und dem Buch generell im Modus einer respektvollen Würdigung begegnet; sie leistet ferner eine notwendige Einpassung (adjustment) ins serielle Erzählformat unter Aufbietung gestalterischer Mittel, die The Handmaid’s Tale als Kind seiner Zeit ausweisen (man denke an die Einflüsse des torture

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porn oder den inflationär eingesetzten lens flare, der v. a. durch den für Fernsehen und Kino arbeitenden Regisseur J.J. Abrams in Mode kam), und spätestens mit Beginn der zweiten Staffel, wie bereits angemerkt, auch eine Expansion und Fortschreibung des Materials. Dagegen verzichtet die Serie auf die von Leitch ebenfalls diskutierten freieren und kritischeren adaptiven Modi wie Revision oder Parodie, die ihre Quelle gegen den Strich zu lesen pflegen. Dieser Pluralismus ist zunächst nichts Ungewöhnliches; eine auf lediglich einen Modus reduzierbare Adaption wäre sogar eher die Ausnahme als die Regel. Was The Handmaid’s Tale zu einem Sonderfall für die Adaptionsforschung macht, ist allerdings, dass auch in der Geschichte selbst eine Form von textlicher Aneignung bzw. Exegese betrieben wird, die sich mit den erwähnten Kategorien fassen lässt. Gilead basiert auf nichts anderem als einer kulturstiftenden Adaptionsleistung, da nämlich die geistigen Väter des Staates einen Ur-Text zur Gründungserzählung ihres totalitären Staates instrumentalisieren und diesen nach ihrer eigenen Einschätzung mit einer Mischung aus celebration und leichtem adjustment auslegen. In der Praxis der Exegese entspräche dies einem Kompromiss zwischen direkter Übernahme des Texts in die eigene Lebenswelt (d. h. wortwörtliche Umsetzung) sowie gelinden Zugeständnissen, um eine Brücke zwischen alltäglicher Lebenspraxis und jahrhundertealtem Quellenmaterial zu schlagen. Dabei kritisiert die Serie natürlich dasselbe wie so ziemlich alle religionskritischen Texte, dass nämlich die Exegese in vielen Fällen nur noch bedingt mit dem Ursprungstext zu tun hat und das Original missverstanden, verfälscht und umgeschrieben wird – schon in Monty Pythons Kirchen-Satire Life of Brian (1979) ist sich das in der hintersten Reihe stehende Publikum der Bergpredigt uneins, ob es die Sanftmütigen („the meek“) oder nicht doch die Griechen („the Greek“) sind, denen das Himmelreich gehört.9 Was Gileads geistige Elite tatsächlich betreibt, fällt in Leitchs Typologie schon eher unter Kolonisierung eines Prätextes: Die ursprüngliche Quelle wird ,besiedelt‘, d. h. mit eigenem Gedankengut aufgefüllt, zurück bleibt vom Ausgangsmaterial nur noch die vampirische, äußerlich zwar erkennbare Hülle, die von einem fremden Parasiten bewohnt wird.10 Die vermeintlich unhintergehbare Heilige Schrift wird dabei, wie The Handmaid’s Tale in zahlreichen Szenen unterstreicht, der eigenen Agenda gemäß zurechtgebogen und 9 Von

der Bergpredigt werden auch die Mägde in Atwoods Roman heimgesucht: „Blessed be this, blessed be that. They played it from a tape, so not even an Aunt would be guilty of the sin of reading.“ (Atwood 1985/1998, S. 89). 10 Dieses Vorurteil gegen Adaptionen wird in den Adaptation Studies häufig entkräftet und die Analogie zurückgewiesen. Laut Linda Hutcheon entzieht die Adaption der Quelle nicht die Vitalität, sondern sichert im Gegenteil ihr Überleben (2013, S. 176).

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mit dem gewünschten Sinn aufgeladen. Maßgeblich ist nicht das Wort, sondern das patriarchale Gesetz der Väter, gerechtfertigt mit dem permanenten Ausnahmezustand. Es herrscht nicht das Ewige Gebot, sondern das Gebot der Stunde; dagegen das Wort Gottes nur, soweit es seinem patriarchalen Stellvertreter, dem pater familias, genehm ist. Kurios ist in dem Zusammenhang, dass The Handmaid’s Tale zwar über einen hohen Anteil von Frauen im Produktionsteam verfügt,11 diese aber einem männlichen Showrunner unterstehen (wenngleich dieser, wie ich in meiner Erörterung der Credits deutlich gemacht habe, nur in seiner ,Stellvertreterfunktion‘ zu Atwood als solcher positioniert wird), und dies in einem kulturellen Moment, da der gute Ruf des writers’ room einige Kratzer erzählt. Lange Zeit galt das amerikanische Fernsehen als hierarchiefreies Refugium der Kreativität und somit auch als Gegenpol zu den Hollywood-Schreibstuben, denen das Stigma der künstlerischen Frustration und des kommerziell bedingten Zwangs zum Schematismus anhaftet. Dem dominanten Mythos zufolge ist das Fernsehen ein Autorenmedium, der (Mainstream-)Film dagegen nicht. Mittlerweile ist diese verklärte Sicht revidiert worden, auch im Zuge der auch für die Rezeption von The Handmaid’s Tale so wichtigen #MeToo-Debatte, die ja zunächst v. a. Missbrauchs- und Belästigungsfälle in der Filmbranche in den Blick genommen hatte. Bald wurden jedoch auch gewohnheitsmäßige Belästigungen in den Autorenbüros bekannter Fernsehserien bekannt,12 deren führende Kreativköpfe Gilead-ähnliche Verhaltensweisen an den Tag gelegt und Formen kreativer Polygamie praktiziert hatten; der bekannteste unter ihnen dürfte Matthew Weiner, der Showrunner von Mad Men (2007–2015) sein (vgl. Sandberg 2017). In den Adaptation Studies existieren Vorstöße, das problematische Verhältnis zwischen patriarchalem Familienoberhaupt und Untergebenen auch auf das Verhältnis zwischen textlichem Original und Adaption abzubilden und damit die semantischen Implikationen zu hinterfragen, die der patriarchalen Terminologie zu Eigen sind. Wo es um (Werk-)Treue geht, ist im Englischen von fidelity die Rede, worin noch mehr als im Deutschen die eheliche Treue und die Verpflichtung auf ehelichen Gehorsam anklingen. Das gilt auch für weitere gängige Bezeichnungen, die zur Abwertung der Adaption gegenüber dem Original herhalten müssen 11 Acht von zehn Folgen der ersten Staffel, sechs von dreizehn Folgen der zweiten Staffel sowie sieben von dreizehn Folgen der dritten Staffel wurden von Frauen inszeniert; bei DrehbuchCredits, Ausstattung und Schnitt sind die Zahlen ungefähr ausgeglichen. 12 Ganz neu waren diese Berichte freilich nicht. Eine Autorin der Serie Friends (1994–2004) hatte bereits 2004 gegen ihren Arbeitgeber geklagt und über alltäglichen Rassismus und sexistische Bemerkungen im writers‘ room berichtet; der Supreme Court entschied allerdings 2006, dass der Tatbestand der sexuellen Belästigung damit nicht erfüllt sei (vgl. Shoard 2018).

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und die sich bei den Wortfeldern der Sexualität und der illegitimen Fortpflanzung bedienen: „Terms such as ‚infidelity‘, ,betrayal‘, ,deformation‘, ,violation‘, ,vulgarization‘, ,bastardization‘, and ,desecration‘ proliferate […]. [T]heir drift seems always to be the same – the book was better.“ (Stam 2005, S. 3) Shelley Cobb spricht in diesem Zusammenhang vom geschlechtlichen Subtext der Adaptation Studies und davon, dass die Autorität des Quelltextes als diejenige des Patriarchen semantisiert wird, dem Gehorsam zu leisten ist. In dieser Logik ist die weiblich konnotierte Adaption zu einem ewigen Abhängigkeitsverhältnis verdammt und in der Rolle der Betrügerin vorgesehen, die Sprache der (Werk-)Treue konstruiert erst das entsprechende Verhältnis: „the film as faithful wife to the novel as paternal husband“ (Cobb 2010, S. 30). Adaptionspolitik wäre dann eine Ausdehnung jener Machtstrukturen, die Luce Irigaray schon in den 1970er-Jahren beschrieben hat: Die Ökonomie des Begehrens ist ,Männersache‘, Frauen werden als Warengüter innerhalb patriarchaler Netzwerke besessen und getauscht (vgl. Irigaray 1979). So selbstverständlich ist dieser Zusammenhang schon in Atwoods 1985 erschienenem Roman, dass sich die zeitgenössische Kritik wunderte, wie sehr Gilead durch seine sexuellen Hierarchien und wie wenig es beispielsweise durch seine wirtschaftlichen Strukturen organisiert sei (vgl. Banerjee 2010, S. 159 f.), so als müsse nicht gerade beides zusammen gedacht werden. Eine an diese klassisch-feministische Rhetorik anschließende Parallelführung rigider Textarbeit mit patriarchalen Hierarchien zieht sich durch die gesamte Serie, ist der Kreuzzug von Gilead doch auch einer gegen Frauen, die vermeintlich ihre Natur verraten haben, wie u. a. Aunt Lydia wiederholt doziert – die Invektive gender traitor ist in Rückblenden als Graffito an den Wänden zu lesen. Folge 5, die nicht zufällig den Titel „Faithful“ trägt, verschneidet beide Themen am deutlichsten und setzt das Gebot der ehelichen Treue als Fundament von Gilead in Beziehung zur Unterdrückung und zum Missbrauch des Wortes. Eine Text-Transaktion wird zudem zum wortwörtlichen Erregungsmoment, wenn die Überreichung verbotenen Lesestoffs (Waterford gibt June heimlich ein Magazin) dem Liebesakt zwischen June und Nick vorausgeht.13 Folge 8, in der die Vorgeschichte Gileads erzählt wird, schildert nicht nur, wie eine einzelne Episode aus dem Buch Genesis zur Rechtfertigung dafür herangezogen wird, die Polygamie zur Angelegenheit des Staates zu machen, sondern entlarvt die Verschwörer um Waterford auch als perfide und äußerst selektive Adapteure, die aus dem Kontext gerissen die Bibel zitieren bzw. sich ihrer als eine Art Textbaukasten für 13 Der erotische Subtext ist auch in der Romanszene angelegt. Als Waterford ihr beim Lesen zusieht, fühlt sich die Erzählerin an einen regelrecht sexuellen Vorgang erinnert und kommt sich nackt vor (vgl. Atwood 1985/1998, S. 184).

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ihre jeweiligen Zwecke bedienen, um Bedeutung zu schaffen. In einer emblematischen Szene der dritten Folge blickt June am Frühstückstisch auf die Rose, die ihre (vermeintliche) Schwangerschaft versinnbildlichen soll, und bemerkt traurig, in Gilead könne eine Rose nicht einfach nur eine Rose sein, sondern müsse ums Verrecken etwas bedeuten. Ironisch konstatiert The Handmaid’s Tale, dass der kreative und realitätsstiftende Missbrauch textlicher Quellen der einzige fruchtbare Akt ist, zu dem die impotenten Potentaten überhaupt imstande sind;14 ihre gemeinsame Sitzung im writers’ room (der Limousine) hat freilich mehr Ähnlichkeit mit einem ad-hocBrainstorming in einer Werbeagentur: „,Act‘ may not be the best name from a branding perspective“, heißt es da, bevor man sich auf „ceremony“ einigt. Nick ist der Einzige, der diese fragwürdige Appropriationspraxis offen in Zweifel zieht, indem er eine Sentenz aus dem Mund des künftigen Commander Pryce mit einer kritischen Nachfrage als Pseudo-Zitat entlarvt.

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Conclusio: Magdwirtschaft

Der Präzedenzfall für die in The Handmaid’s Tale vorgeführte Adaptionspolitik liegt in der ,Magdwirtschaft‘ der Frühen Neuzeit, der Ära des ,Ganzen Hauses‘ mit dem Hausherrn als väterlichem Vorstand einer erweiterten Familie (vgl. Dürr 1995, S. 11). Historisch waren die Mägde immer wieder Nachstellungen ihrer Dienstherren ausgeliefert, was allerdings in der Regel nur sie selbst, nicht aber die Dienstherren in Verruf brachte. Der Mägdestand galt als entbehrungsreicher, aber notwendiger Übergangsritus, mit dem künftige Ehefrauen die Tugenden der Hausfrau lernen sollten und zugleich routinemäßig zu Sexualobjekten erniedrigt wurden (vgl. Rinne 2014). Selbst wenn die Mägde Klagen gegen die Hausherren anstrengten, die uneheliche Kinder mit ihnen gezeugt hatten, landeten zumeist nur sie am Pranger oder wurden mit anderen Schandstrafen gedemütigt (vgl. Dürr 1995, S. 237–241). Berühmte Mägdeschelten wie Daniel Defoes verächtliche Bemerkungen über vermeintliche Huren, die schnurstracks vom Bordell in 14 Diese Denunziation der Opposition als steril und impotent hat eine längere Tradition in der politischen Kultur und mag erklären, weshalb die Schurken in The Handmaid’s Tale gelegentlich den Antagonisten in einem James-Bond-Film aus der Zeit des Kalten Krieges ähneln. Waterford entspricht dem stereotypen, sich an der Oberfläche gesittet und kulturbeflissen gebenden Monster; Aunt Lydia der Gender-ambivalenten, sadistischen Matrone vom Schlag Lotte Lenyas in From Russia with Love (1963). Die Ausgangsituation in The Handmaid’s Tale ähnelt dem bei Bond nur als Drohkulisse aufgebotenen Worst-Case-Szenario des Angriffs auf die kollektive Fruchtbarkeit und damit Zukunftsfähigkeit des Staatskörpers.

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die gehobenen Dienststellungen wechseln, zementierten das Feindbild der faulen Verführerin, die den häuslichen Frieden stört (vgl. Richardson 2010, S. 31); das Stereotyp hat bis in die Gegenwart überdauert. In der letzten Staffel von Seinfeld (NBC, 1989–1998), der tonangebenden Comedy-Serie der 1990er-Jahre, gibt es eine Folge mit dem Titel „The Maid“, in der der Protagonist mit seiner Putzfrau schläft und sich bald fragen muss, wofür er sie eigentlich bezahlt. The Handmaid’s Tale erhob die Magd dagegen zur politischen Gewährsfrau, als das höchste politische Amt der Vereinigten Staaten von einem Mann besetzt wurde, der wiederholt mit misogynen Äußerungen auffiel und für den die Kongruenz von Plutokratie und sexus selbstverständlich schien. Mit ihrer zeitgenössischen Re-Inszenierung des Magd-Motivs steht die Serie allerdings nicht allein, sondern gehört zu einer ganzen Reihe kultureller Stoffe, die ihre eigene Variante dieses dialektischen Herr-Knecht-Verhältnisses formuliert haben. Wie im Verhältnis zwischen June und den Waterfords (das sich in dem Moment umzukehren droht, da Serena über dem Schwangerschaftstest kniet, und das vollends umschlägt, als die schwangere Magd am Schluss abgeführt wird) werden diese Beziehungen als ebenso fragil wie arbiträr vorgeführt, und sie bilden diese Analogie auch auf das Verhältnis von Original und Adaption ab, mit allen daran geknüpften, problematischen Gender-Subtexten. Park Chan-Wooks The Handmaiden (2016), eine transkulturelle Adaption des Romans Fingersmith (2002) von Sarah Waters, stülpt das Verhältnis zwischen Herr(in) und Magd gleich mehrfach um und arbeitet mit Doppelgänger-Effekten und Elementen des Queer Cinema, um dem Publikum gleich mehrfach den Boden unter den Füßen wegzureißen bzw. um stereotype, heteronormative Erwartungen zu unterlaufen. Ähnlich queere Lesarten der traditionellen Dialektik von Herrin und Untergebener verfolgen zwei dem oben skizzierten ,Genre‘ Adaption (nach Leitch 2008) zuzuordnende Filme, die allerdings nicht auf literarischen Quellen basieren. The Favourite (2018) von Yorgos Lanthimos erzählt von der gichtkranken, labilen Queen Anne, deren wichtigste Hofdame zugleich ihre Liebhaberin ist; ein Arrangement, das sich als brüchig erweist, als die neue Magd die etablierte ,Favoritin‘ in der Gunst der Königin zu verdrängen droht. Auch Peter Stricklands Film The Duke of Burgundy (2014) inszeniert die traditionelle ,Magdwirtschaft‘ als doppelbödiges, sadomasochistisches Verhältnis und spielt dabei auf Prätexte wie Jean Genets Les Bonnes (Die Zofen, 1947) und die Lebensbeichte Wanda von Sacher-Masochs an. Auch hier wird das Publikum mit scheinbar klaren Verhältnissen konfrontiert, die dann aber vollkommen auf den Kopf gestellt werden. So wird die erfolgreiche Wissenschaftlerin Cynthia in der ersten Szene als unnachgiebige, sadistische Herrin über ihre Haushälterin Evelyn vorgeführt, bevor der Film enthüllt, dass es Evelyn ist, die ihrer ,Herrin‘ die Skripte schreibt, um ihre eigenen masochistischen Fantasien

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Abb. 5 Nur scheinbar klare Hierarchien in The Duke of Burgundy (2014)

ausleben zu können (Abb. 5). Die Archaik dieser Bildwelten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die rückwärtsgewandte Dystopie von Gilead und anderer Magdstoffe ein äußerst zeitgemäßer Stoff ist, nicht nur hinsichtlich der Geschlechterbeziehungen, sondern auch soweit es die Hierarchisierung von Original und Adaption angeht.

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Serialisierte Allegorien: The Handmaid’s Tale als ein Narrativer Palimpsest des 21. Jahrhunderts Angelika Köhler

The Handmaid’s Tale spielt in der Republik Gilead, einem fundamentalistischen theokratischen Staat in den ehemaligen Vereinigten Staaten mit Zentrum Boston, genauer Cambridge, dem Sitz der legendären Harvard University. Eine christliche Sekte, die Sons of Jacob, hat in einem brutalen Staatsstreich die administrativen Strukturen der USA außer Kraft gesetzt, die Macht mithilfe eigener paramilitärischer Kräfte, den sogenannten Angels und Guardians, ergriffen und mittels Ausnahmezustand ein Regime errichtet, welches Frauen von jeglicher Teilnahme am öffentlichen Leben ausschließt, in dem es sie u. a. des Rechts auf selbstständige Berufstätigkeit sowie Eigentum und finanzielle Unabhängigkeit beraubt. Verheerende Umweltschäden und vermeintlich expandierende Freiheiten in der Familienplanung sollen zu einem drastischen Rückgang der Geburtenrate in den USA geführt haben. Die neuen Machthaber interpretieren diese Situation als eine Strafe Gottes für die, wie sie es nennen, zunehmend unmoralische Lebensweise der amerikanischen Frauen und erbitten sich, um diesen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, eine „zweite Chance“, indem sie noch einmal „von vorn“ beginnen und ausgewählte Passagen aus dem Alten Testament wörtlich in die Tat umsetzen wollen. Hier scheint sich Geschichte zu wiederholen, denn die ersten Puritaner, die aus Angst vor politischer und religiöser Verfolgung Europa in Richtung Nordamerika verlassen hatten, verbanden mit ihrer Überfahrt ebenfalls den Traum von einem Neuanfang. Aber im Unterschied zu John Winthrops Predigt am 2. Juli 1630 an A. Köhler (B) TU Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021, Korrigierte Publikation 2022 A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3_12

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Bord der „Arabella“, in der er mit dem Bild der City upon a Hill die puritanische Mission in der Neuen Welt verkünden wollte und seine Mitstreiter, um den Zorn Gottes abzuwenden, dazu in Anlehnung an die Bergpredigt aus dem Neuen Testament zu einem gemeinschaftlichen barmherzigen Dienst für Gott motivierte, berufen sich die politischen Machthaber Gileads, die den Namen ihrer Republik wahrscheinlich von dem alttestamentarischen Galeed (1. Buch Mose 31:47–48) abgeleitet haben, auf eine weitere Passage aus dem 1. Buch Mose: Als Rahel sah, dass sie Jakob kein Kind gebar, beneidete sie ihre Schwester und sprach zu Jakob: …. Siehe, da ist meine Magd Bilha; geh zu ihr, daß sie auf meinem Schoß gebäre und ich doch durch sie zu Kindern komme. (30:1–3)

Zur Sicherstellung ihres uneingeschränkten männlichen Machtanspruchs rechtfertigen sie ein System, in dem der weibliche Körper zum Instrument des Gebärens, zu einer Art menschlichem Inkubator, degradiert wird, ein System, welches zwar noch immer feste soziale Hierarchien zwischen ihren eigenen Ehefrauen und ihren handmaids (im Unterschied zu den sogenannten „Unfrauen“, die in Aunt Lydias Worten „an offence to God“ [„Late“] sind) festschreibt, in letzter Instanz jedoch, wie im weiteren Verlauf der Untersuchung gezeigt wird, auf eine vollständige weibliche Entrechtung abzielt. Um diese Abnormität als normal erscheinen zu lassen, muss der gesellschaftliche Alltag Gileads paradoxerweise auf der Grundlage von Verhaltensweisen, die jegliche Verbindung zu vergangenen Formen des Zusammenlebens von Mann und Frau ausschließen, organisiert werden. Doch The Handmaid’s Tale beschränkt sich nicht auf das postmoderne Spiel mit historischen Assoziationen, sondern durchbricht alle Grenzen eines eindeutig identifizierbaren räumlich-zeitlichen Referenzrahmens. Während der Feierlichkeiten anlässlich der Inauguration von Präsident Trump im Januar 2017 trugen Frauen Poster mit der Forderung „Make Margaret Atwood Fiction Again“ (Alderman 4). Auf dem Women’s March on Washington waren Transparente mit dem inzwischen vielzitierten Atwood-Satz „Nolite te bastardes carborundorum“ zu sehen (Kraychyk), jenem Satz, der übersetzt als „Don’t let the bastards grind you down“ June/Offred zum Kraftquell wird. Und schließlich erinnerten Teilnehmerinnen der Proteste gegen die Anti-Abtreibungsbestrebungen der US-Regierung (Onstadt 1) sowie für geplante Elternschaft in Washington D.C. (Ditum 2) mit der Wahl ihrer Kleidung an handmaids aus der erst wenige Wochen zuvor gestarteten Fernsehserie. Diese Produktion stellt eine Adaption von Margaret Atwoods Bestseller-Roman dar, zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung im Jahre 1985 aufgrund seiner fiktiven Verhandlung theokratischer Machtansprüche, potenzieller

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islamistischer Fanatiker und vor allem der Rolle der Frau in der postfeministischen Gesellschaft als Dystopie gefeiert. Als Hulu etwas mehr als 30 Jahre später mit der Ausstrahlung seiner TV-Version von Atwoods Klassiker beginnt, konstatiert die Mehrzahl der Rezensenten eine „grotesque timelessness“ (Nussbaum 1). Emily Nussbaum argumentiert im New Yorker, that, early on, the Trumpian parallels are hard to miss. It’s a story about a government that exploits fear of Islamic terrorists to crush dissent, then blots out women’s reproductive rights. It’s about fake news, political trauma, the abnormal normalized. (1)

Die britische Schriftstellerin Naomi Alderman resümiert: What makes The Handmaid’s Tale so terrifying is that everything that happens in it is plausible. In fact, everything – like the stratagem of the handmaids – has happened somewhere before. Everything in it has been praised by someone as the right, the good, the best, the only way to live. (4)

The Handmaid’s Tale hat sich zur Anti-Utopie entwickelt, denn, wie der weißrussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch den Protagonisten seines kontrovers rezipierten Romans Paranoia sagen lässt: „Man braucht sich kein Nineteen eighty-four [George Orwells dystopischer Roman aus dem Jahre 1949] mehr auszudenken, man muss bloß die Augen aufmachen“ (41). Auch Margaret Atwood thematisiert diese problematische Entwicklung in einem ihrer Interviews, wenn sie erinnert, there was an opera of The Handmaid’s Tale that premiered in Denmark in 2000. It started with a film reel going across the top of stage and showing various things blowing up. And one of the things that blew up was the Twin Towers. But it hadn’t blown up yet. They did the opera again, and they had to take it out, because it was no longer in the future. (Setoodeh 3)

In diesem Gespräch verweist die Schriftstellerin zugleich auf die Ablehnung der Produktion dieser Fernsehserie durch Netflix zu einem Zeitpunkt, da sich die USA noch im Wahlkampf befanden: „I guess they didn’t think it was time yet. If, for instance, Hillary had won, people would have said, ‘Dodged a bullet! This isn’t going to happen.’“ (3) Die Wahl Trumps zum Präsidenten der USA hat ihrer Meinung nach den Erfolg der Serie befördert. Daraus allerdings einen generellen „anti-Trump“-Charakter

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abzuleiten, ist entschieden zu kurz gegriffen, denn, wie Bruce Miller, einer der Produzenten der TV-Adaption betont, [c]ertainly the current political climate affected us, but it was never a discussion about particular people or particular programs that were going to be in place. Gilead has its own political structure that was established a long time ago, so that‘s what we were working toward. (Dowling 2)

Und zu dem Zeitpunkt, da Trump die Regierungsgeschäfte im Weißen Haus übernahm, waren die Dreharbeiten für die erste Staffel nahezu abgeschlossen. Die Ausstrahlung dieser ersten Staffel von The Handmaid’s Tale, die im Wesentlichen Atwoods Romanvorlage folgt und auf die sich die nachfolgenden Betrachtungen beschränken, lässt deutlich werden, dass die wechselseitige Bezugnahme auf Geschichte und Gegenwart der Vereinigten Staaten weit mehr als einen äußeren Rahmen bildet. Die einzelnen Episoden leben von einer ständigen Reflexivität, d. h. June, die zentrale Protagonistin, besitzt „die Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen“ (Forster), was angesichts ihrer Funktionalisierung als Objekt des Gebärens ihre einzige Möglichkeit ist, sich als „ein sich selbst erkennendes Subjekt“ (ibid.) zu verstehen. June muss ihre Gegenwart durch die Vergangenheit reflektieren, um ihre Würde als Frau und ihre Verantwortung als Mutter zu bewahren, um sich nicht selbst aufzugeben. Auf der narrativen Ebene der Serie, also dem, was gezeigt wird, beginnt die Protagonistin, nachdem sie im Ergebnis der Machtergreifung der Sons of Jacob als handmaid ihrer Individualität beraubt und in einen Eigentumsstatus als Offred – die des Fred Waterford – gezwungen worden ist, ihre gegenwärtige Situation durch die Analyse von Erfahrungen aus der Vergangenheit zu begreifen und gelangt somit in die Lage, eine kritische Distanz zu ihrer gegenwärtig vermeintlich sozialen Nicht-Existenz zu entwickeln, was ihr schrittweise zu einer innerlich spürbaren Wiederherstellung ihrer Individualität verhilft. Auf der Ebene des Diskurses, also dem, wie die Narrative erzählt wird, kann folglich argumentiert werden, dass die Geschichte Gileads als eine fiktive Konstruktion geformt durch wechselseitige Interaktionen von vergangenen Konflikten und gegenwärtigen Ereignissen gelesen werden kann und sie daher einen narrativen Palimpsest darstellt, d. h. „unter“ dem sichtbaren Text existieren mehrere andere Texte, die zwar nur noch fragmentarisch nachweisbar sind, jedoch signifikant für die Tiefenbedeutung des darüber liegenden Textes fungieren. Mittels eines Palimpsests entstehen somit metatextuelle Ebenen, in denen Bezug auf verschiedene Texte

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oder Diskurse aus Geschichte und Gegenwart Bezug genommen wird. Diese resonieren miteinander „for the task of deciphering the meaning of lived experience across time and space“ (Wikan 8) und eröffnen somit den Zugang zu unterschiedlichen Deutungswegen (Lexikon der Filmbegriffe). Die Serie kann daher als eine serialisierte Allegorie gelesen werden, denn dieses Stilmittel verbildlicht etwas Unwirkliches oder Abstraktes, sodass eine Abbildung des Allgemeinen im Besonderen oder Einzelnen erfolgt. Und genau in diesem Kontext verrichtet die Fernsehserie ihre kulturelle Arbeit. Diese Zusammenhänge sollen im Folgenden an drei Beispielen aus der ersten Staffel belegt werden: zunächst am spielerischen Umgang der Serie mit Homophonie, anschließend an der Art und Weise, wie die zentralen Protagonistinnen den patriarchischen Machtanspruch unterminieren, und schließlich, in engem Zusammenhang mit dem zweiten Aspekt, der Verhandlung von surrogate parenting.

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Das Spiel mit Homophony

Offreds Einlieferung in das Red Center, in dem sie von Aunt Lydia auf ihre Rolle als handmaid vorbereitet wird, hat sie sofort verstehen gelehrt, dass der Alltag in Gilead auf einem auf den ersten Blick funktionierenden Überwachungsapparat basiert, in dem jeder jeden beobachtet, jeder des anderen Feind, ein Verräter sein kann. Die handmaids tragen das Zeichen des „Auges“; jenes winged eye begegnet ihnen überall – als gezeichnetes Symbol, als Anstecker und in Person der Mitglieder der Eyes of God, der Geheimpolizei Gileads, deren permanente Aufgabe darin besteht, Ungläubige und Verräter zu identifizieren. Auch in diesem Zusammenhang sind Parallelen zur älteren und jüngeren Geschichte der USA unübersehbar. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Hexenprozesse von Salem 1692/93, als Frauen aus Angst vor indianischen Übergriffen verdächtigt und beschuldigt wurden, mit dem Teufel im Bunde zu stehen, an die Anhörungen zu mutmaßlich kommunistischen Aktivitäten durch das Komitee für Unamerikanische Umtriebe während der Amtszeit von Senator Joseph McCarthy in den 50er Jahren und, nicht zuletzt, an die von Präsident Trump wiederholt behaupteten Verschwörungstheorien. Diese Atmosphäre lässt Offred vorsichtig werden, denn wie Nick, Commander Waterfords Fahrer und, wie sie viel später feststellen muss, selbst ein Eye, sie insistiert: „You need to remember a few things … so, there’s no point in trying to be tough, or brave. … Everybody breaks. “ („Late“)

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Offreds primäres Ziel besteht im Überleben; dafür kann und will sie nichts riskieren. Mit dieser pragmatischen Grundeinstellung muss sie aber zwangsläufig an den ehrgeizigen Bestrebungen des Systems, alle Spuren der Vergangenheit vor allem aus dem Leben der sich noch im gebärfähigen Alter befindlichen Frauen zu löschen, Zweifel entwickeln. Sie beginnt, die gesellschaftlichen „Säuberungsversuche“ des theokratischen Systems mit Skepsis zu beobachten und die mechanisch wiederholten Bibelpassagen, die die Kommunikation unter den Bewohnern Gileads markieren, innerlich ironisch, teilweise sogar humorvoll zu kommentieren, sodass sie auf diese Weise ihre Doppelrolle als Offred und June, ihre gespaltene Persönlichkeit, manifestiert. Sie hat vorerst keine Möglichkeiten, diese auszuleben, aber sie kann sie mittels Sprache materialisieren und in Gedanken artikulieren, denn das englische Wort für Auge, eye, besitzt ein Homophon, ein phonetisch identisches Wort mit grundsätzlich anderer Bedeutung, nämlich I für ich. Atwoods Roman bediente eine metanarrative Struktur, in der Jahrzehnte nach dem Ende der Republic of Gilead Wissenschaftler versuchen, die in den mündlichen Aufzeichnungen Offreds enthaltenen Aussagen vor allem zur Person ihres Commander Fred Waterford historisch zu verorten und zu „verifizieren“. Dabei übersehen bzw. verkennen sie die Rolle der Sprache vollständig, denn den handmaids ist es unter Androhung strengster Strafen verboten, ihre in der Zeit vor Gilead erworbenen Fähigkeiten im Lesen und Schreiben anzuwenden, um so in absoluter Isolation ausschließlich ihrer „biologischen Bestimmung“ als „human breeder“ („A Woman’s Place“) zu dienen. Aber im Unterschied zum Roman, in dem wir über Offreds ursprünglichen Namen June nur spekulieren können, werden uns in der Fernsehserie Offreds/Junes Gedanken nicht männlich rezipiert metanarrativ, sondern unmittelbar in der Form von voiceover der Protagonistin zugänglich. Damit adressiert June ein unsichtbares Publikum direkt, tritt mit ihm in Kommunikation, und ist sich somit nicht nur der Macht der Sprache bewusst, sondern vermittelt gleichzeitig ihre Überzeugung von einer zeitlichen Terminierung der Herrschaft dieses Systems. Die Technik des voiceover lässt durch eine scheinbare Trennung des Tons von der filmischen Handlung Fiktion im Modus einer Nichtfiktion erscheinen, sodass die gesprochene Sprache als ein alternativer Diskurs rekurriert wird, der von Anfang an die Doppelrolle der Protagonistin als Offred und June thematisiert und somit „Hope and Survival“, den Glauben an die Möglichkeit des Überlebens sowie die Hoffnung auf eine befreite Zukunft als die Grundthemen der Serie markiert – in den Worten des Produzenten:

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Then you look at Offred and see the forces she’s pushing up against while maintaining a rebellious spirit and keeping herself and her hope alive … If Offred can speak out, if she can find ways to rebel, then certainly we can. (Miller)

Dieser Effekt wird durch die Kameraführung weiter verstärkt, denn in den wiederholten close-ups sehen wir das Gesicht einer Frau; der Fokus liegt auf ihrer Mimik, oftmals nur auf ihren Augen, ihren eyes, ohne Bezugnahme auf ihre soziale Rolle, z. B. in Form von Kleidung. Eine solche Präsentationsform kann natürlich auch als eine Art „Flucht“ in Anonymität, in Nicht-Identifizierbarkeit der Person und somit als Schutz vor Repressalien gedeutet werden; dessen ungeachtet tragen diese filmischen Mittel zur Konstruktion einer deutlich komplexen zentralen weiblichen Figur bei, die sich in einem Grenzbereich von Natürlichkeit und praktischer Lebenserfahrung – artikuliert durch ihre Gedanken außerhalb des offiziellen Diskurses – und einem intentional konstruierten patriarchischen Machtanspruch – repräsentiert durch Gilead – bewegt. Diese Komplexität und die damit implizierten Ambiguitäten werden durch weitere filmtechnische Mittel unterstützt. So spielen Farben eine ambivalente Rolle, denn rot kann sowohl Leben als auch Gefahr und Gewalt symbolisieren, blau kann mit Wasser und damit Leben als auch mit Eis und folglich Kälte oder Tod assoziiert werden. Auch der Einsatz von Licht wird zum Bedeutungsträger, z. B. in der ersten Szene, wenn die Kamera sich Offred, mit dem Rücken zum geschlossenen Fenster ihres düsteren Raums sitzend, von vorn nähert und die „Beleuchtung“ durch das Sonnenlicht von draußen erfolgt. Interessant ist auch die Wahl des Drehortes, denn die fiktive Handlung spielt in Boston, als Drehort wurde aber Toronto gewählt (Dowling), womit ein ambivalenter Raum konstruiert werden kann, der nicht eindeutig identifizierbar ist und somit eine gothic atmosphere evoziert, ein in der US-amerikanischen kulturellen Tradition seit dem 18. Jahrhundert wiederholt verwendeter Modus, der die Grenzen zwischen dem Vertrauten und dem Fremden hinterfragt. Alles war irgendwie schon einmal da, ist bekannt, aber die gelebte Konfrontation damit ist schockierend und fremd, erscheint unwirklich. Doch zurück zu den eyes: Diese zwingen Offred, ihre Umwelt genau wahrzunehmen, hinzusehen, was passiert – eine Verhaltensweise, die June in den Jahren vor Gilead nie wirklich praktiziert hat, einer Zeit, in der sie das Leben genießen wollte und ihre Freiheiten – das Collegeleben, die Partnerwahl und die problemlose Vereinbarkeit von Mutterschaft und Verlagstätigkeit – unreflektiert genutzt hat. Sie fühlte sich als Teil einer Gemeinschaft, in der alles wie von selbst funktionierte. Zu spät erkannte die junge Frau die Zeichen der Zeit, als die Sons of Jacob den politischen Umsturz in den USA vorbereiteten und später praktisch umsetzten und somit das gesellschaftliche System in den USA total veränderten.

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June durchlebt eine Ernüchterung, im weiteren Sinne vergleichbar einer Erfahrung, die ihre Darstellerin Elizabeth Moss im Zusammenhang mit der Reaktion auf die Ausstrahlung der Serie ab April 2017 mit den Worten beschreibt: „After the election, it just fell out of the clouds, out of our imaginations, and hit the solid ground of reality. It’s like things that were out of focus all of a sudden became very sharp.“ (Dowling 3) In Gilead, permanenter Überwachung ausgesetzt, ist Offred gezwungen, wachsam zu sein: sie beginnt, ihr Auge, ihr eye/I bewusst einzusetzen, und es gelingt ihr auf diese Weise, sich aus der Anonymität und Objektrolle als einer der „two-legged wombs“ („Offred“) zu befreien und eine weibliche Individualität als June diskursiv zu konturieren: mit Gedanken, die sie eigenständig formuliert in Form von voiceover, mit einem Körper, über den sie zumindest in ihrer Beziehung mit Nick frei verfügt, und schließlich in der Begegnung mit der mexikanischen Botschafterin mit einer eigenen, im öffentlichen Raum akustisch wahrnehmbaren Stimme. Dank des spezifischen Potenzials linguistischer Homophonie, in der gesprochenen Sprache Ambivalenzen im Referenzrahmen eines Wortes zu erzeugen, die erst in der Schriftsprache eine eindeutige Zuordnung durch ihre unterschiedlichen Schreibweisen erfahren, transportieren die eyes den Entwicklungsprozess der Protagonistin und verorten sie in einer USamerikanischen literarischen Tradition, in der Hawthornes Hester Prynne eine Pionierrolle spielt. Bereits die ersten Kameraeinstellungen suggerieren Assoziationen: das helle Sonnenlicht, das von draußen in das enge, dunkle Zimmer fällt, in dem wir Offred erstmals erblicken, gekleidet in ein schweres rotes Kleid und ein weißes Häubchen, ein Gewand, welches sie umgehend in der gothic atmosphere des puritanisch geprägten Massachusetts des 17. Jahrhunderts kontextualisiert. Auch damals hatten Farben bedeutungstragende Funktionen, wurden zur Markierung sozialer Grenzen funktionalisiert. Aber der scharlachrote Buchstabe, den Hester auf ihrem Kleid tragen muss und sie als das Andere stigmatisieren soll, weigert sich, im Kontext binärer Strukturen, wie sie das männlich dominierte Denken der westlichen Kultur als unveränderlich gültig etabliert hat, festgelegt zu werden. Die Farbe Rot vereint Gegensätze in sich – Sexualität und Sünde, Sexualität und Fruchtbarkeit, Brutalität und Gewalt aber auch Leben – und gibt ihrer Trägerin schließlich die Kraft, dieses Zeichen, eine Form ohne Inhalt, doch von der puritanischen Gemeinschaft willkürlich als Symbol „moralischer Schuld“ als adultress/Ehebrecherin festgeschrieben, durch gelebte Performanz in einen Beweis moralischer Stärke und Überlegenheit, assoziiert mit ability, angel, admiration (Baym 87–88), in ein Zeichen von Schönheit und weiblicher Individualität, zu transformieren. In der Art und Weise, wie sich Offreds Position in und zum politischen System Gileads verändert, offenbart sich die Option, diese serielle

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Adaption von Atwoods Roman vor dem Hintergrund von Hawthornes Narrative zu lesen. Die Protagonistin der Fernsehserie reflektiert zu Beginn „Thinking can hurt your chances“ („Offred“), doch kann sie diese Pragmatik nur auf der Oberfläche einer ihr zugeschriebenen Rolle praktizieren, denn diese Strategien stärken jene Kräfte, die dieses System aufrecht erhalten, symbolisiert durch die eyes, es sind aber auch gleichzeitig gerade eyes, die sie innerlich zum infrage Stellen und schließlich zum Widerstand gegen ihre Instrumentalisierung zwingen und dadurch ihren Selbstpositionierungsprozess in Gang setzen. Bildlich gesprochen ist es ihre Rolle als Offred, die ihr bewusst werden lässt, wie wichtig es ist, ihre Rolle als June, als Mutter ihrer Tochter Hannah, zu verteidigen und folglich eine eigenständige weibliche Identität, ihr I, zu konstruieren. Es ist daher nur folgerichtig, dass Offred bereits am Ende der ersten Episode in einem voiceover bekennt, dass ihr Name June ist: „My name is June“ („Offred“). In der filmischen Konzeption der weiblichen Figuren werden generell interessante Unterschiede zu Atwoods Klassiker sichtbar: die Ehefrauen sind in der TV-Serie überwiegend jung, attraktiv und, wie im Falle von Serena Joy, der Frau von Commander Fred Waterford, sexuell interessiert und aktiv, sodass diese insbesondere die intime Vereinigung ihres Mannes mit der handmaid nicht nur emotional leidend beneidet, sondern diese als Konkurrentin fürchtet und daher sofort auf das heilige Sakrament der Ehe verweist. Das Gefühl der Eifersucht bringt sie möglicherweise auch dazu, Offred zu Sex mit Nick zu überreden, obwohl die sexuelle Potenz des Commander im Dunkeln bleibt – im Dunkeln bleiben muss, denn nicht-rituelle außereheliche sexuelle Kontakte mit handmaids werden mit hohen Strafen geahndet und Waterford muss folglich seine moralische Schwäche, wie es seine Frau nennt, mit Serena Joys sexuellem Verlangen zu rechtfertigen versuchen.

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Die (Ohn-)Macht des Patriarchats

Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass zwischen Serena Joy und Offred wechselseitige Beziehungen bestehen, die weit über die bereits erwähnte ménage à trois hinausgehen. Beide Frauenfiguren können als komplementär zueinander gelesen werden, denn sie repräsentieren Spielarten der new feminisms, wie z. B. des postfeminism und third-wave feminism, die in ihrer Begrifflichkeit schwer definitorisch zu unterscheiden sind, die jedoch gemeinsam haben, dass sie die Ziele und Errungenschaften der second-wave feminists auf bestimmte weniger radikalisierte, teilweise entpolitisierte Weise verarbeiten und „more on personal choices than political action“ fokussieren (Showden 172). Diane Negra verweist

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u. a. darauf, dass „postfeminism both informs and is informed by a cultural climate strongly marked by the political empowerment of fundamentalist Christianity and regnant paradigms of commercialized family values“ (Negra 6). Angela McRobbie bezeichnet diese „co-existence of neo-conservative values in relation to gender, sexuality and family life, with processes of liberalization in regard to choice and diversity in domestic, sexual and kinship relations“ als das „double entanglement“ des Postfeminismus (29). Im Unterschied zu June, die vor der Errichtung der Republic of Gilead nur geringe Aufmerksamkeit dem politischen Tagesgeschehen schenkte, spielte Serena Joy die Rolle einer religiös-feministischen Aktivistin. Zum Zeitpunkt der fiktiven Handlung etwa Mitte 30, konnte sie alle Errungenschaften des secondwave feminism nutzen und entwickelt sich zu einer politisch interessierten und rhetorisch talentierten Persönlichkeit, die eine Neuorientierung in der Rolle der Frau für dringend erforderlich erachtet. Mit ihrem Buch A Woman’s Place profiliert sie sich nicht nur zur führenden Vertreterin eines, wie sie es bezeichnet, Domestic Feminism, sondern wird gleichzeitig zur Architektin des gesellschaftlichen Systems der Republic of Gilead, einer patriarchischen Theokratie, die Frauen von jeder Form öffentlichen Engagements kategorisch ausschließt. Im Mittelpunkt dieses Konzepts zur „Säuberung“ und damit „Rettung“ der menschlichen Gemeinschaft – der Nation – steht die Nutzung weiblicher Fruchtbarkeit als nationale Ressource. Doch die ambitionierte junge Frau überschaut nicht die Konsequenzen ihres Aktionismus. Versucht ihr Ehemann zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Werkes seiner Frau noch, kritische Stimmen mit dem Hinweis auf das in der amerikanischen Verfassung festgeschriebene right to free speech zum Schweigen zu bringen, verbietet auch er ihr wenige Monate darauf das Wort. In einem Gespräch mit Offred wird er später feststellen: „Making better for some, means making worse for others“ („Faithful“). Da die einseitige Reduzierung der Frau auf ihre biologische Funktion gleichbedeutend mit einem Todesurteil für weibliche Präsenz im öffentlichen Raum ist, verbannt Serena Joy mit ihrem eigenen Konzept auch sich selbst in die Isolation ihres Heims, ohne eigene Stimme, ohne Rechte, einzig fixiert auf ihre Rolle als Mutter. Doch da es ihr als Ehefrau von Commander Waterford nicht gelingt, diese zu realisieren, müssen handmaids rekrutiert werden – für die attraktive und sexuell aktive Serena Joy der Beginn eines Leidensweges. Intellektuell ihrem Mann überlegen, aber nunmehr dazu verurteilt, sich ihm widerspruchslos unterzuordnen und damit ihre Ausgrenzung zu akzeptieren, bleibt ihr Grausamkeit gegenüber Offred als einziges „Ventil“ zur Kompensation ihrer Ohnmacht. Sie versucht, Offred zu dehumanisieren, um sich selbst als a human being, als Mensch, zu bestätigen. In ihrem Inneren jedoch plagen Serena Joy Eifersucht und Neid auf ihre handmaid, nicht nur aufgrund von deren offizieller

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als auch illegitimer Nähe zu Waterford, sondern vor allem aus Verzweiflung über ihre Macht- und Nutzlosigkeit begründet auf ihren eigenen Ideen von „Domestic Feminism“. Einzig ein Kind kann ihr Daseinsberechtigung verleihen, doch um das zu erreichen, ist sie von Offred abhängig. Für die machtbewusste Serena Joy ein schier unlösbarer Konflikt, der sie in grenzenlose Verzweiflung treibt und in dem sie sich zutiefst erniedrigt – sowohl in ihrer Beziehung zu Offred als auch zu ihrem Ehemann. Die Reduzierung der Frau auf ihre biologische Funktion als „a two-legged womb“ („Offred“) egalisiert auf ironische Weise die sozialen Unterschiede zwischen Ehefrauen und handmaids, denn beide werden aus dem öffentlichen Leben „bereinigt“. Doch die Verletzung ihrer Würde lässt sie zu erbitterten Gegnerinnen werden. Im Unterschied zu den Ehefrauen der Commander allerdings bilden die handmaids eine Art „geballte Macht“. Sobald sie das Haus ihrer Eigentümer verlassen, müssen sie im „Doppelpack“ oder „in Formation“ agieren – teilen sie ein Schicksal, das sie verbindet. Von den Sons of Jacob als Mittel permanenter gegenseitiger Überwachung angewiesen, lässt es Offred bereits in Episode 1.2 fragen: „There is an ‚us‘?“ (Birth Day“); und es scheint sogar eine intuitive unsichtbare Solidarität zwischen allen „Unterdrückten“ Gileads zu existieren, wenn Ofglen und Nick gleichzeitig Offred vor einem eye warnen („Offred“). Diese Erfahrung von Gemeinschaft verleiht ihnen schließlich die Kraft zu vereinzeltem Widerstand, so z. B. in ihrer Weigerung, Janine zu steinigen. Wenn June reflektiert: „They should have never given us uniforms, if they didn’t want us to be an army“ („Night“), wird deutlich, dass Serena Joys Konzept von Domestic Feminism nicht nur deren eigene Existenz infrage stellt, sondern auch den Keim zum Untergang des gesamten darauf beruhenden gesellschaftlichen Systems in sich trägt, nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass ihnen unter Strafe jeglicher Zugang zum geschriebenen Wort, folglich auch zu dem Buch, welches in erster Linie Frauen ihre Bestimmung lehren soll, untersagt ist. Beide Frauen sind extremen Demütigungen in Gilead ausgesetzt, eine Erfahrung, die sowohl historische als auch zeitgenössische Dimensionen assoziiert. Serena Joy fordert ein bewusstes und aktives Engagement der Frauen zur Rettung der Nation. Der Gedanke, dass Frauen als Mütter eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen, ist von jeher von zentraler Bedeutung in der amerikanischen Frauenbewegung. Die Vermarktung von Mutterschaft als einer Quelle von Kraft und Zuverlässigkeit hat aber generell eine Tradition in amerikanischer Geschichte. Schon Abigail Adams forderte von ihrem Mann John im Zusammenhang mit der Erstellung eines Entwurfs für die Gründungsdokumente eines neuen eigenständigen US-amerikanische Staates: „Remember the Ladies“ (History.com) und nach der Gründung der ersten weiblichen Akademie im Jahre 1790 wurde Bildung für

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Frauen mit der Idee einer republican motherhood verknüpft. Während der Besiedlung des amerikanischen Westens signalisierte Manifest Domesticity die zentrale Rolle der Ehefrauen und Mütter, die Women’s Christian Temperance Union forderte in den 1880er Jahren die Teilnahme von Frauen am öffentlichen Leben bei gleichzeitiger Akzeptanz eines maternal feminism. Im Jahre 1905 betonte Theodore Roosevelt die Rolle von American motherhood als Garant für nationale Stabilität. Eine der Losungen während Hillary Clintons Wahlkampf im Jahre 2016 lautete „A Mother for President“ und auch Michelle und Barack Obama unterstützten die Vermarktung von Clintons Mutterschaft als eben diese Quelle von Kraft und Zuverlässigkeit (VanSickle-Ward/Greenlee). Die sogenannten new feminisms polemisieren folglich nicht gegen Feminismus, sondern eröffnen eine Diskussion über seine zunehmend diverse Umsetzung im täglichen Leben. Die Autorin der Encyclopedia of Motherhood Andrea O’Reilly beschreibt diese Neuorientierung mit den Worten: „Feminist mothers must take control of their lives and act according to their own beliefs rather than society’s expectations“ (O’Reilly). In der fiktiven Welt von The Handmaid’s Tale verkörpert June dieses Lebensgefühl von Freiheit und „‚girl-power‘ ideal“ (Showden 166); als Studentin und später berufstätige Mutter war es selbstverständlich zu leben, wie es ihr gefiel. Zu spät erst wird sie sich dieser postfeministischen Sorglosigkeit, dieses Girlie oder lipstick Feminismus bewusst und realisiert, dass sie die Zeichen der Zeit nicht in der Lage war zu erkennen.

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Surrogate Parenting

Beide zentrale Frauenfiguren verhandeln somit auf unterschiedliche Weise komplexe Verschränkungen von Feminismus und Postfeminismus. Eines der Ziele des third-wave feminism war die Kontrolle der Frauen über ihren Körper und das damit verbundene Recht auf die Nutzung von assisted reproductive technologies, Themen, die in aktuellen Debatten zu Schwangerschaftsverhütung und Schwangerschaftsabbruch verstärkt auf dem Prüfstand stehen. June und Serena Joy sind Repräsentantinnen jener Generation gebildeter und selbstbewusster junger Frauen, für die der gleichberechtigte Zugang zu Bildung und Berufstätigkeit selbstverständlich ist. Doch während sich June mit dem Bild des all-American girl, von dem Sylvia Plaths Protagonistin Esther Greenwood in The Bell Jar nur träumen konnte, identifiziert, und folglich erst im Ergebnis ihrer schmerzlichen Erfahrungen unter der Herrschaft der Sons of Jacob politische Bewusstheit entwickelt, sodass sie ihrem Ich eine eigenständige Stimme verleihen kann, partizipiert Serena Joy bereits in jungen Jahren engagiert und

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selbstbewusst am politischen Diskurs in den USA. Die Machtergreifung der Sons of Jacob zwingt sie zum Schweigen, doch ihr kämpferischer Geist lebt weiter. „Never mistake a woman’s meekness for weakness“ („A Woman’s Place“). Mit diesem Satz liefert die Fernsehserie ein weiteres Beispiel für die manipulative Verwendung von Sprache und unterstreicht die diskursive Konstruiertheit politischer Machtsysteme als eben nicht „gottgegeben“. Im Zuge ihres Umerziehungsprogramms im Red Center zitiert Aunt Lydia wiederholt die Bibelzeile „Blessed are the meek“ („Offred“), versucht, deren Wirkung noch durch den Zusatz „Blessed are the silent“ zu steigern, doch sie ignoriert bewusst den zweiten Teil der ursprünglichen Passage „about [the meek] inheriting the earth“ (ibid.), was Offred gedanklich als eine gezielte Auslassung zum Zwecke der Machterhaltung eines letztlich unweigerlich zum Untergang verurteilten Systems interpretiert. Serena Joy, ebenfalls vertraut mit dem vollständigen Wortlaut des Bibeltextes, lässt es in abgewandelter Form zum Mantra ihres Kampfes ums Überleben, gegen Ausgrenzung und Stimmlosigkeit, werden. Damit unterminiert sie die ideologischen Grundlagen eines Systems, als dessen diskursiver Geburtshelfer sie persönlich agierte – eine groteske Ironie! Die Frau von Commander Waterford organisiert die sexuelle Verbindung zwischen Offred und Nick, dem Fahrer ihres Mannes, zur Sicherstellung einer Schwangerschaft ihrer handmaid, für June aber gleichzeitig die Chance, die Kontrolle über ihren weiblichen Körper wenigstens zeitweise zurückzugewinnen, und genießt schließlich ihren öffentlichen Auftritt als einen zweifelhaften Triumph ihres diskursiv entwickelten Programms, wenn sie bei einem Besuch der mexikanischen Botschafterin die sogenannten keeper, die in Gilead geborenen gesunden Kinder, präsentieren kann. Beide Frauen teilen ganz offensichtlich die Überzeugung, dass meekness – Demut, Unterordnung – nicht mit Schwäche gleichzusetzen ist und konstruieren sich damit als unterschiedliche Teile des Anderen in Gilead. Es ist daher zweifellos kein Zufall, dass anlässlich dieses Besuchs auch Offred ihrem Ich als June öffentliche Stimme verleiht und ihren Missbrauch als „human breeder“ gegenüber der mexikanischen Botschafterin, wenn auch leider vergebens, offenbart. Denn diese hofft, mithilfe Gileads einen ähnlichen Geburtenrückgang in Mexiko durch den Handel mit amerikanischen handmaids überwinden zu können, ein Plan, der nicht nur politische Machtverhältnisse karikiert, sondern in erster Linie Gileads Geschlechterkonzept infrage stellt. Mrs. Castillo, die offizielle Vertreterin des südlichen Nachbarn der USA, legitimiert uneingeschränkt Gileads sexuellen Missbrauch von Frauen, eine Konstellation, die deutlich werden lässt, dass es sich bei dieser Praxis keineswegs um eine „biologische Bestimmung“ der Frau, ein doing God’s job, wie es Waterford unter Hinweis auf das Alte Testament behauptet, sondern um die soziale Konstruktion einer menschlichen Rolle zum Zwecke der

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Aufrechterhaltung bestimmter politischer Machtverhältnisse handelt. Auch in diesem Zusammenhang drängen sich ambivalente Verknüpfungen mit Geschichte und Gegenwart der USA auf. Im Ergebnis des transatlantischen Sklavenhandels wurden Tausende von Afrikanern zur Arbeit auf karibischen und nordamerikanischen Plantagen aus ihrer Heimat verschleppt. Als Eigentum ihrer weißen Master waren sie des Rechts auf Elternschaft beraubt und jedes ihrer aus legitimen und illegitimen Beziehungen entstandenen Kinder vermehrte den Reichtum ihrer Besitzer. Schließlich soll auch der Bezug auf eine aktuelle Grauzone, die Befürworter und Kritiker äußerst kontrovers diskutieren, Erwähnung finden: die heute weit verbreitete Praxis der Familienplanung durch Leihmutterschaft und Spermabanken, die nicht nur den weiblichen Körper als käufliche Ware definiert, sondern auch das Kind einer eigenständigen Identität beraubt. Diese kommerziell praktizierte Verfahrensweise erstreckt sich nicht ausschließlich auf Frauen in wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern; auch Ehefrauen von im Ausland stationierten Angehörigen der US Army verkaufen ihren Körper als Inkubator und nutzen somit diese Form der „Erwerbstätigkeit“ (Kessler 167). Abgesehen davon, dass die Herstellung einer Balance zwischen der Interpretation im Sinne weiblicher Entscheidungsfreiheit und der des Missbrauchs des weiblichen Körpers einer Gratwanderung gleicht, geht es bei diesem Thema in erster Linie um die Bewusstwerdung der Einsicht, dass es sich um kein technologisches, sondern ein menschliches Problem handelt. In der sprachlichen Ironie, dass die biologischen Mütter „‚surrogate‘“ oder „‚substitute mothers‘“, die „ejaculatory sperm sources ‚fathers‘“ (Raymond ix) genannt werden, wird dieses Defizit gegenwärtig besonders augenscheinlich. Diese assisted reproductive technologies schließen das Wachsen einer natürlichen Mutter-Kind-Beziehung aus; an ihre Stelle treten Wunschvorstellungen zu Geschlecht, Intelligenzgrad, genetischer Prädispositionen im Ergebnis naturwissenschaftlicher Diagnostik.

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To conclude:

All diese Beispiele belegen die narrative Komplexität der Hulu-Fernsehserie, die sich im Ergebnis ambivalenter wechselseitiger Zusammenspiele von Vergangenheit und Gegenwart, intertextueller Referenzen und politischer Diskurse konstituiert. The Handmaid‘s Tale konturiert eine Narrative, die verdeutlichen möchte, dass sich nicht nur Geschichte aus der jeweiligen Gegenwart besser begreift, sondern dass sich Einsichten in gegenwärtige Entwicklungen auch unbedingt aus der jeweiligen Geschichte heraus entwickeln müssen. Die TV-Serie

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versteht sich als ein narrativer Palimpsest, der, als eine Allegorie in Serienformat gelesen, seine kulturelle Arbeit in der Transparentwerdung, der bewussten Wahrnehmung, der Liminalität zwischen fiktiver Spekulation und gelebter Geschichte verrichtet. Sie operiert mit Mitteln der historischen Verfremdung, doch bei allem Geschichtlichen ist die Gegenwart unüberhörbar und unüberschaubar. Aufgrund ihres permanenten vielschichtigen Dialogs mit Texten aus der Geschichte und Gegenwart der USA wirkt die Serie einerseits überfrachtet mit intertextuellen Anspielungen, andererseits aber problematisch einseitig aufgrund der Tatsache, dass ein gesamtgesellschaftliches Problem auf die Rolle der Frau reduziert wird. The Handmaid‘s Tale verfolgt eine didaktische Funktion und kann als eine Warnung vor einer zu ausgeprägten laissez-faire Haltung gegenüber dem täglichen Leben gelesen werden. Angesichts zunehmender Instabilitäten, Unsicherheiten und Unvorhersehbarkeiten gesellschaftlicher Entwicklungen sind kritische Reflektion und bewusste Selbstpositionierung stärker denn je gefragt, muss klares, offenes Ausdiskutieren von Problemen kombiniert mit praktischer Vernunft den Wunsch nach Bewahrung unserer Errungenschaften, unserer Rechte und Freiheiten, aufrechterhalten und verteidigen.

Literatur Alderman, Naomi. „Dystopian dreams: how feminist science fiction predicted the future.“ https://www.theguardian.com/books/2017/mar/25/dystopian-dreams-how-feminist-sci ence-fiction-predicted-the-future (04.06.2018). „A Woman’s Place.“ The Handmaid’s Tale: Season 1. Episode 6. Writ. Wendy Straker Hauser. Dir. Floria Sigismondi. Hulu. 2017. DVD. Baym, Nina. „The Scarlet Letter in The Scarlet Letter.“ In: The Scarlet Letter. A Reading. Boston: Twayne Publishers 1986, 83–92. „Birth Day.“ The Handmaid’s Tale: Season 1. Episode 2. Writ. Bruce Miller. Dir. Reed Morano. Hulu. 2017. DVD. Die Bibel oder die Ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Berlin: Evangelische Haupt-Bibelgesellschaft zu Berlin, 1980. Dowling, Amber. „How ‚The Handmaid’s Tale‘ Became the Most Unintentionally Relevant Show Ever.“ www.hollywoodreporter.com/live-feel/how-the-handmaids-tale-bec ame-the-most-unintentionally-relevant-show-ever (31.07.2018). Ditum, Sarah. „Never-ending nightmare: Why feminist dystopias must stop torturing women.“ https://www.theguardian.com/books/2018/may/12/why-the-handmaidstale-marks-a-new-chapter-in-feminist-dystopias (11.06.2018). „Faithful.“ The Handmaid’s Tale: Season 1. Episode 5. Writ. Dorothy Fortenberry. Dir. Mike Barker. Hulu. 2017. DVD. Fienberg, Daniel. „Hulu’s all-too-timely adaptation of Margaret Atwood’s novel is one of the spring’s best new shows and makes Elisabeth Moss an immediate Emmy

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A. Köhler

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Serialisierte Allegorien: The Handmaid’s Tale …

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The Handmaid‘s Tale – Eine Dystopie als Fragmente von Vergangenheit erzählen Stefan Schönfelder

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Einleitung

The Handmaid‘s Tale (Season 1) ist mir während des Schauens mehrfach wirklich heftig in die Magengrube gefahren. Zum Einen wie wahrscheinlich Vielen aus Mitgefühl vor allem für die Frauen in einer brutalen Situation, in der die Ausbeutung bis ins Intimste geht, ohne wirklichen Ausweg. Zum Anderen aber hat die Serie teilweise so körperlich auf mich gewirkt, weil es sich nicht nur wie eine Projektion negativer Zukunftsprognosen oder eine Verlängerung politischer Analysen angefühlt hat, sondern auch wie eine Beschreibung von Aspekten bereits gelebten Lebens und erlebter Umstände. Ich will also einen erzählenden Zugang anbieten, Szenen der Serie ins Verhältnis zu Episoden aus meiner Erinnerung setzen. Und ich möchte dabei versuchen zu verdeutlichen, warum mich bestimmte Szenen und Aspekte so persönlich angefasst haben. Ich biete acht Aspekte und ein Missverständnis an, die natürlich auch zu meinem politischen Standpunkt in der Gegenwart in Beziehung stehen. Zunächst muss ich ein paar Schutzfolien über meinen Beitrag ziehen: 1. Mein Beitrag ist strikt subjektiv. Ich berichte aus meinen persönlichen Erfahrungen mit totalitären Mechanismen der DDR aus den späten 70ern und 80ern. Das war ohne Zweifel auch innerhalb der DDR sehr unterschiedlich, je nach Herkunft, Stadt, Umfeld und Jahrzehnt, also auch Entwicklungsphasen der S. Schönfelder (B) Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021, Korrigierte Publikation 2022 A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3_13

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DDR. Werfen Sie mir nicht vor, es wäre bei Ihrer Mutter/ Ihrem Vater/ Großvater anders gewesen. Und es ist auch klar, dass wir Parallelen zu anderen totalitären Systemen finden und dass viele Aspekte natürlich schon erforscht und beschrieben sind. 2. Die Verzweiflung, die Margaret Atwood in ihr Buch geschrieben hat, die Verzweiflung, dass eines der liberalsten Länder der 70er Jahre, der Iran, in die Hände von radikalen religiösen Fanatikern fiel, war offensichtlich groß. Der Rückschritt für Frauen und Feminismus, der uns heute auch als mögliche Perspektive vor Augen steht, muss immens und schmerzhaft gewesen sein. Deshalb habe ich mich beim Schreiben immer wieder etwas beschämt gefragt, ob meine Episoden dazu im Verhältnis stehen. Im Wissen darum und in der Verneigung vor dem Kampf der Frauen um ihre Rechte liefere ich meine Fragmente ab. 3. Es gibt seit einigen Monaten ein Raunen und Greinen, die ostdeutschen Biografien und die DDR-Erfahrungen seien nicht ausreichend gehört, nicht ernst genommen, nicht gewürdigt worden. Dazu will ich heute hier keinen Beitrag leisten. „Ich singe, weil ich ein Lied hab.“ sagt Konstantin Wecker dazu.

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Einsamkeit

In den 60 Sekunden der Episode 1 (S01 E01 Min 00:04:35 bis 00:05:35) deutet sich ein Aspekt der Geschichte der Magd an, die mich von Anfang emotional sehr im Griff hatte. Einsamkeit ist ein Teil der Geschichte, die vor allem am Anfang der Serie immer wieder aufscheint. June ist nach Ihrer Entführung und der Misshandlung im Roten Zentrum nicht bei ihrem ersten Kommandanten. Sie kennt es schon. Dieses Zimmer, das sie bewohnt, das erst gar nicht ihr Zimmer sein soll, sondern das Wartezimmer, das Schlafzimmer, das Zimmer im Haus, in dem sie sich in der Regel aufzuhalten hat. Nicht einmal verschlossen, so klar sind die Machtverhältnisse. Und das dann doch ihr Zimmer wird, weil es ihr einziger Rückzugsort sein wird (Abb. 1). Einsam ist sie aber nicht nur in den endlosen Tagen, die sie in diesem Zimmer verbringt, sondern auch wenn sie zwischen Köchin und Dienstmädchen steht und die beiden Frauen über ihre Aufgaben bezüglich der handmaid sprechen, als wäre sie gar nicht da, weil sie nur eine Aufgabe in ihrem Alltag ist, Mühsal und Dienst. Sie ist einsam, wenn sie unter den Erhängten steht, die an der Stadtmauer ausgestellt werden zur Abschreckung, weil es ihr klar macht, dass sie nicht weiß, wo ihr Mann, ihr Kind ihre Freundin ist. Sie ist einsam, wenn sie mit einer zweiten Magd zum Einkauf geht, weil sie sich dieser zweiten, unbekannten nicht anvertrauen

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Abb. 1 Elisabeth Moss in The Handmaid´s Tale. (Hulu) S01 E01 Min 00:04:59

kann und im Absprechen der Redephrasen der Unterdrücker einsam bleibt. Sie ist einsam, wen sie aus ihren Tagträumen ihres früheren, wohl ganz glücklichen, Lebens erwacht, dann ist der Schmerz der Einsamkeit noch schneidender. Margaret Atwood wäre keine feministische Autorin, wenn sich das nicht im Laufe der Erzählung ändern würde und June Osborne auch Wege aus dieser Einsamkeit findet, baut, sich erkämpft. Sie bleibt auf Dauer kein Ding. Aber in dieser Beschreibung von Einsamkeit war mir The Handmaid‘s Tale schon sehr nahe gegangen. Und hat Erinnerungen hervorgezogen. Du sitzt im Zug von Deiner Kleinstadt im Ilmtal nach Halle. Es ist Montagmorgen. Es ist nicht Montagmorgen, es ist noch tiefe Nacht. Noch vor 6 musst Du durch das Tor der Kaserne in der Paracelsusstraße in Halle gehen. So endet der erste VKU, der verlängerte Kurzurlaub von Freitag bis Montagmorgen, den Du Monate nach Deiner Versetzung nach Halle hattest. Monate, in denen Du nichts als Kaserne gesehen hast. An diesem Wochenende hast Du mit Deinen Eltern gegessen, bist ein bisschen spazieren gegangen und hast Deine Freunde besucht. Alle Freunde, die noch in der Stadt sind. Alle. Es ist eine Kleinstadt. Habt Ihr gesprochen? Nicht wirklich. Du hast nichts zu erzählen, denn aus dem Kasernenalltag willst Du sicher nichts erzählen. Sicher nicht. Du bist ja selber Schuld, hast Dich ja gemeldet. Alle haben Verständnis, aber der Faden ist trotzdem gerissen. Erzählen sie Dir von ihrem Leben? Ja, machen

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sie. Aber Du kannst es nicht hören, weil Du nicht dazu gehörst, Du bist nicht mehr dabei, Du warst vom ersten Tag Deiner Armeezeit nicht mehr dabei, Du warst über Monate nicht hier, Du wirst die nächsten Jahre nicht dabei sein, nicht zu ihnen gehören und danach weggehen aus der Stadt. Was sollst Du Dir anhören, was sie erzählen. Trotzdem bleibst Du bis zum letzten Bier, dass aus dem Hahn gelassen wird. Und noch länger. Es stehen ja noch halbleere Biere rum. Es soll, es soll spät werden. Achja, Du weißt es: Weniger als 4 h Schlaf sind schlimmer als gar kein Schlaf, dieser Schlaf hinterlässt nur Übelkeit, eine Übelkeit, die Dich noch bis übermorgen begleitet. Egal. Deine Mutter hat Dich treu geweckt, gesagt hat sie dabei nicht viel, sie hat Dir Frühstück gemacht, von dem Du fast nichts essen kannst. Nur der Tee, der gute schwarze Tee. Mehr davon. Und dann wieder in die Uniform steigen. Denk nicht, Du kannst mit Zivilklamotten in der Kaserne ankommen, das lässt Du alles zu Hause. Du ziehst die unförmige Unterwäsche an, die Dir nicht gehört und die vorher andere anhatten und nach Dir wahrscheinlich auch noch ein paar. Das Zeug hält. Graue Uniformhose, graue Uniformjacke. Die Stiefel, Gürtel, Mütze. Gut, dass Nacht ist, so soll Dich hier niemand sehen. Zu der Uniform gehörst Du nicht mal selbst. Auch Dein Vater ist aufgestanden, er verabschiedet Dich, zu sagen gibt es da auch nicht viel. Schnell durch die Stadt, zu der Du nicht mehr gehörst, schon gar nicht in dieser Uniform. In dieser Uniform gehörst Du überhaupt zu nichts, was Dir wichtig sein könnte. Jetzt sitzt Du im Doppelstockzug der Deutschen Reichsbahn mit seinem braunen Kunstlederbezügen und dem Geruch einer Nacht im Arbeiter- und Bauernstaat. Es ist immer noch dunkle Nacht. Die Lichter der Industrieanlagen der Chemiewerke Buna-Leuna, an denen der Zug vorbei fährt, könnten die romantischen Lichter aus der Tankstelle von Edward Hopper sein. Sind sie aber nicht. Sie sind nicht romantisch. Deine Einsamkeit ist nicht von dieser Art, wie Du auf Hopper schauen wirst, Jahrzehnte später. Es sind die Begleitlichter einer beißenden Einsamkeit, die sich in den Magen gräbt. Ringsum sitzen andere. Eigentlich nur Männer. Die zur Schicht fahren oder von der Schicht kommen. Dass sie jetzt, es ist inzwischen halb fünf, klaren Schnaps aus der Flasche trinken, heißt nicht, dass ihre Schicht zu Ende ist. Es gibt nichts, was Du mit Ihnen teilst als diesen Zug, der viel zu langsam durch die Orte rumpelt und an jeder Station hält. Noch einer geht zur Schicht, noch einer ist zu Hause.

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Bald bist Du in Halle, Umsteigen in die S-Bahn bis Haltestelle Paracelsusstraße. Und dann durch das Tor. „Melde mich zurück vom VKU.“ Ich melde mich selbst. Da bist Du wieder. In einem Zimmer mit 5 anderen Dreijährigen, Einer wird im Herbst gehen. Am nächsten Tag wird ein Neuer kommen, dann bist Du nicht mehr der Neue. Du bleibst aber auch in diesem Zimmer allein. Hier gehörst ganz sicher auch nicht dazu. Eierkopp. Musiker. Hänfling. Nur Deine Einsamkeit ist da für Dich, hier genauso wie in Deiner Heimatstadt. Sie ist ganz bei Dir. Und noch für lange. Länger als Du Dir gerade ausmalen kannst. Und willst.

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Gelebtes Leben oder abgekapselte Zeit

Aus dem Motiv der Einsamkeit, der Verlorenheit und des fehlenden Haltes unter totalitären Umständen, aus der Situation einer unabsehbar langen Einsamkeit erhebt sich die Frage, wie ich mich in diese Zeit stelle. Nehme ich dies Zeit als Lebenszeit, als gelebte Zeit an oder orientiere ich mich auf ein Danach? Oder verstecke ich mich in den Erinnerungen an bessere Zeiten, kapsle ich die Zeit, die ich nicht gewählt habe, in der ich verloren und fremd bin ab von mir? „Die Nacht gehört mir, sie ist meine Zeit, mit der ich tun kann, was ich will, solange ich mich still verhalte. Solange ich mich nicht bewege. Solange ich still liege. […] Ich liege also in dem Zimmer, unter dem Gipsauge in der Decke, hinter den weißen Gardinen, zwischen den Laken, sauber und ordentlich wie sie, und trete seitwärts aus meiner Zeit heraus. Zeitlos. Obwohl dies Zeit und diese Zeit mein Los ist.“ (Atwood, Margret 2017, S. 55)

Das bin gar nicht ich. Das ist nur mein Körper. Der macht, was ihm befohlen wird: Den kleinen Kanonenofen im 4 Bettzimmer der dünnwandigen Holzbaracke abends pünktlich um einundzwanzig Uhr dreißig leeren. Einer muss es machen. Bis zur letzten Minute wird noch geheizt in der ölgelb gestrichenen Bude, so wie gegenüber und den 6 andern Buden auf diesem Flur. Und nun an den sehr keinen, runden, gußeisernen Ofen herantreten, die heiße Glut mit einem Schürhaken aus dem Ofenloch auf ein Kehrblech ziehen, mit dem noch orangegrauen Klumpen durch den Flur. Zügig gehen, aber nicht hastig, keine ruckartigen Bewegungen. Die Treppe hinunter, die Stufen weich mit den Knien ausgleichen. Es darf nichts runterfallen, nichts zur Seite wehen. Das würde nur noch mehr Arbeit machen. Um die Baracke herum zu den Aschekästen. Aus dem Wind gehen beim Ausschütten, Du hast keine Chance bis Sonnabend zu Duschen oder nochmal die Haare zu waschen. Zurück, Hände waschen, noch einmal Aufstellung nehmen vor dem Zimmer, Hacken zusammen, Durchgang durch die Unteroffiziere und Kontrolle, noch einmal die stumpfsinnige

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Schikane, die jeden Staub, jeden Knick in den abgelegten Sachen im Spind zum Anlass nimmt, Macht spüren zu lassen bis zur letzten Minute des Tages. Die Ersatzunterwäsche neu legen, auf Kante, gleich breit, die Rippen längs. Nochmal ertragen, dass dieser Fremde jedes Stück Privatheit – ein Buch, einen Brief – in die Hand nehmen kann, umdrehen, abschätzend darin blättern. Stillstehen bis es endlich vorbei ist, auch bei Nebenmann, beim Gegenüber. Erleichtert wenn es schließlich endet. Endlich ins Bett, zu erschöpft, um die Stille genießen zu können, um die aufs Winzige zusammengeschrumpfte Privatsphäre in dem eisernen Doppelstockbett spüren zu können. Nur wissen, dass draußen die erzgebirgische Nacht im Winter 1983/1984 jetzt minus 15 Grad hat und so wird sich das Zimmer morgen früh anfühlen, wenn derselbe Tag wieder von vorn beginnt. Das bin gar nicht ich. Das ist nur mein Körper. Der macht, was ihm befohlen wird. Aber vielleicht geht das ja nicht, sich abtrennen von sich selbst über mehr als einen Wachdienst hinaus oder eine Woche, einen Monat. Es wird auch in diesem kasernierten Dunkelort etwas anderes geben: Gespräche, Wind im Gesicht, nach wochenlangen Diensten endlich einmal Zeit für die „Standortbibliothek“ und dort ein gutes Buch oder – höchstes Glück – eine Schallplatte oder eben die Begeisterung über einen sportlichen Erfolg. June Osborne entscheidet sich. Sie hat ihre Momente des Abkapselns und der verzweifelten Flucht aus ihrem Körper. Aber sie wird sich nicht verlieren, nicht Offred werden, die Magd, die dem Fred gehört und sich diese Identität zu eigen machen. Sie wird ihren Spielraum suchen und nutzen, wird sprechen jenseits der rituellen Formeln, wird Schönheit genießen im Licht, in den Jahreszeiten, in der Natur und wird sich trotz allen Schmerzes und Erniedrigung klar machen, wer sie war und ist.

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Rituale der Unterwerfung

Neben der Einsamkeit sind es Rituale der Unterwerfung, die ganz auffällig sind und die mich – unterschiedlich stark – berühren. Zunächst schauen wir mal auf die auffällige Form der Grußformeln und der ritualisierten Gesprächsabläufe. Durch alle Episoden von The Handmaid‘s Tale (Staffel 1) ziehen sich solche Formeln: Blessed Be the Fruit/ May the Lord open/ Under His Eye, in der deutschsprachigen Version: Gesegnet sei die Frucht/ Möge der Herr uns öffnen / Unter seinem Auge.

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Dazu kann es vielerlei Interpretationen geben und andere werden das besser durchdringen. Ich mache es mir leicht und verweise auf typische Situationen in der DDR, in denen formelhaft Bekenntnis abgelegt wird: „Für Frieden und Sozialismus – seid bereit!“ mit der Antwort der Klasse, der Schule oder anderer Ansammlungen von Schüler*innen: „Immer bereit! Aus heutiger Sicht klingt das bizarr und so überdreht künstlich, dass es schon wieder komisch ist. Aber schauen wir auf einen Unterschied zwischen der DDR und Gilead, der diese bizarren Grußformeln noch einmal anders wirken lässt: Die DDR war zwar klein, nie wirklich abgeschlossen und die Einflüsse von Außen nicht wirklich eindämmbar und man wusste immer von anderen möglichen Leben, anderer Musik, Kultur, Politik (außer vielleicht die Bewohnerinnen und Bewohner des Turms in Dresden-Weißer Hirsch). Andererseits bin ich in die DDR geboren. Anders als June Osborne hatte ich kein eigenes Davor außerhalb der DDR. Das kann zu mehr Angepasstheit geführt haben, wir – also meine Familie – sind bis Mitte der 80er davon ausgegangen, dass wir bis zu unserem Ende in der DDR leben werden. Das macht eine Ideologie und eine Machtpraxis natürlich sehr wirkmächtig. Man stelle sich eine Fortsetzung der Geschichte von Gilead vor: Die Kinder der Mägde, aufgezogen von Kommandanten, ihren Frauen und ihren Angestellten, mit allen Privilegien und andererseits mit dem Stigma, Kinder der Mägde zu sein. Werden diese Töchter auch wieder Mägde, wie würden die reproduktionsfähigen unter ihnen erkannt und ausgesondert. Wie würden diese leben, die dann nichts anderes kennen als die Ordnung von Gilead? Und vor dem Hintergrund dieser Umlegung führen wir uns vor Augen, dass diese ritualisierten Grußformeln Alltag in der DDR waren von der ersten Klasse an. Und das bis zum letzten Schuljahr: Ja, die Haare sind lang, ich spiele Gitarre, ich kenne Bob-Dylan-Songs auswendig. Ich bin abends in den Studentenklubs und trinke mich durch Samstagnächte. Ich sitze beim Freejazzkonzert in Räumen der Musikhochschule. Das geht alles. Aber jetzt stehe ich heute morgen mit meinen 18 Jahren zum Beginn des Russischunterrichts vor der Klasse. Herr P. betritt den Raum, er ist ein älterer Herr mit dünnem, schwarzem, straff gescheiteltem, eng anliegendem Haar, im grauen Pullover, der einem die russischen Sätze mit harten Griffen über das Schlüsselbein abquetscht. Mit strammen Schritten betritt er den Raum. Ich lasse die Klasse – nun ja ein bisschen – stramm stehen: Wnimanije! Achtung! Und mache Meldung. Klass gatow k uroku, niktonje otsutstwujet! Die Klasse ist zur Stunde bereit, niemand fehlt. Dann gehe ich zu meinem Platz. Am Freitag treffe ich mich wieder mit Freunden, vielleicht gibt es ein gutes Blueskonzert bei den Studenten, vielleicht bringt jemand

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einen heimlich abgeschriebenen Biermanntext mit, vielleicht trinken wir den Obstweinvorrat irgendwelcher Eltern aus. Aber jetzt habe ich erst mal Meldung gemacht. Mit genau den Worten, wie sie verlangt wurden und genau denselben Worten, wie sie jede Mitschülerin, jeder Mitschüler vier Jahre lang täglich benutzen würde. Mit den Worten, die ich deshalb wohl auch immer noch weiß.

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Uniformierung als Entindividualisierung

Ein weiterer Aspekt der Serie, der mich berührt hat im Verhältnis zu meinem Leben, ist die Uniformierung der Gesellschaft, die noch stärker auf die Entindividualisierung als auf eine wirkliche Militarisierung zielt. Das Motiv kommt schon in den Trailern für die Reihe vor und zieht sich durch die gesamte Geschichte von Gilead. Er betrifft nicht nur die Mägde, sondern alle Gruppen in dieser übersichtlichen Gesellschaft. Und das Motiv der uniformierten Formation wird ja auch in der Nachnutzung der Serie durch politische Aktivist*innen genutzt. In der uniformierten Formation gibt es keine Individuen mehr, keine Namen, in Appellen wird militärische Ordnung eingeübt. In meinem Leben bedeutet es, dass Uniformierung in der Schule vom ersten Tag an mit 6 Jahren mit der Pionieruniform startet und sich dann bis zum Blauhemd der FDJ zieht, einschließlich vormilitärischen Unterrichts in der Schule mit Marschierübungen und Befehlen. Es gibt vormilitärische Sommerlager, zwangsweise mit vormilitärischen Uniformen, Wachdiensten, Appellen. Wenn Du 18 wirst, hast Du Dich also schon 12 Jahre lang immer mal wieder, nicht täglich, ungern, gezwungenermaßen, aber eben doch, in Uniformen bewegt. Zur Geschichte der Militarisierung gehört auch die Frage, warum und wie ein Jüngelchen von 15 auf die Idee kommt, sich für mehr als 1000 Tage bei einer Armee zu verpflichten, die ihm nichts bedeutet als ein fernes Ungemach, ein Loch unbekannter Größe und Schwärze. Die Hälfte dieser 1000 Tage als „freiwillige“ Zusatzzeit. Ulrich Hennecke, hatte 1950 sein Amt als Schuldirektor im FDJ-Hemd angetreten, zu einer Zeit als Stalin noch als der größte lebende Marxist-Leninist galt und dessen Lehren zur Richtschnur auch für das Erziehungswesen der DDR gemacht worden waren. Natürlich wurde er auch noch in den 80er Jahren, als ich in seine Schule ging, noch verglichen mit Adolf Hennecke. Adolf Hennecke hatte als Bergarbeiter in der Steinkohle 1948 seine Tagesnorm im Rahmen einer gut organisierten Kampagne fast vierfach überboten. Diese Normübererfüllung wurde

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zum Auslöser der sogenannten Hennecke-Aktivisten-Bewegung. Die Norm, die unser Hennecke auch nach mehr als 30 Jahren als Direktor erfüllen und übererfüllen wollte, war es, möglichst viele seiner männlichen Schüler für den Dienst als Berufsoffizier der Nationalen Volksarmee oder für den dreijährigen Dienst als Unteroffizier zu gewinnen. Mit 15 Jahren wurde uns Jugendlichen diese Verpflichtung erstmals abverlangt, ganz im Zusammenhang mit der Äußerung von Studienwünschen. Und für bestimmte Studienwünsche war ganz klar, dass ein verlängerter Armeedienst erwartete wurde und Voraussetzung war. Der Normübererfüller Hennecke hatte gute Voraussetzungen. Er leitete die einzige Schule der Kleinstadt, die zum Abitur führte und somit zum Studium und er kannte alle in der Stadt. Ein Klassenkamerad, der es gewagt hatte, seine Verpflichtung zu 3 Jahren Armeedienst kurz vor dem Abitur zurückzunehmen, verlor seinen Studienplatz umgehend, bekam keine Chance auch nur auf eine Berufsausbildung und schlug sich als ungelernter Lagerhilfsarbeiter in einer örtlichen Kaufhalle durch. Der Durchgriff von Partei und Staat auf seine Lebensperspektiven war tief und bösartig. Nach 2 Jahren gab er auf, verdingte sich für drei Jahre und wurde dann, was er vorher gewollt hatte: Lehrer. Um sozialistische Persönlichkeiten zu erziehen. Er hatte seine Lektion ja gelernt. So wurden wir der Logik dieses Staates unterworfen: Sie hatten die Macht und sie verlangten im Gegenzug für das Privileg, studieren zu dürfen, Gegenleistung. Und nicht nur 3 Jahre Lebenszeit, sondern auch noch das Bekenntnis: Wir machen das freiwillig, wir machen das, um den Frieden und den Sozialismus zu schützen. Dass das eine reine Unterwerfungsstrategie war, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass wir während des Studiums noch einmal 6 Wochen eingezogen wurden. Schon 3 Semester studiert und dann: Noch einmal Haare kurz schneiden lassen, Uniformen, 6 Wochen Kaserne, Ölsockel an den Wänden der Kasernenflure mit Scheuerbürsten schrubben. Kommandos: „Ein Lied!“ Und dann ein Lied zum Marschieren anstimmen. Wieder und nochmal sinnlose Löcher in die kaputte Winterlandschaft des Erzgebirges schaufeln. Euch Möchtegernintellektuellen zeigen wir es und Ihr wisst, wir können Euch immer wieder holen. Ihr seid Reservisten, Ihr gehört uns.

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Missverständnis Armee und Widerstand

Am 31. September 1986 wurde ich wie in den letzten 1096 Tagen früh um 6 geweckt, musste die Uniform der Nationalen Volksarmee anziehen und mit allen anderen Soldaten und Unteroffizieren der Fliegerabwehr-SelbstfahrlafettenBatterie zum Frühstück marschieren, in der Schlange stehen, das schlechte Essen

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im Empfang nehmen, hastig und noch lustloser als sonst essen und zurückmarschieren. Heute war alles weniger formell, weniger strikt und von einer Stimmung überformt, die wie ein Luftanhalten war, ein stundenlanges Zurückhalten der Luft, die nach draußen wollte und mit dieser Luft Wut und Erleichterung. Zurück im den Räumen der Einheit ein Appell, noch einmal in der Uniform mit Allen auf dem Gang stehen, den Vorgesetzten salutieren, alle Vorschriften einhalten, nur weniger schroff. Dann wurden wir – drei oder vier müssen es gewesen sein – befördert und aus dem aktiven Wehrdienst entlassen. Die private, sogenannte zivile Bekleidung, die seit ein paar Tagen bei einem Vorgesetzten lagerte, durfte in Empfang genommen werden und alle Kleidungs- und Ausrüstungsstücke der NVA wurden nach und nach in den verschiedenen „Kammern“ zurückgegeben, ausgetragen, gegengezeichnet, bürokratisch und kleinlich wie immer. Stundenlanges Warten. Mit den eigenen Sachen kann ich dann – ganz anders als an den tausend tagen vorher – auf dem Armeebett liegen, das 2 und ein halbes Jahr mein, „mein“ Bett gewesen war und nun fiel das ganz ab und war ein fremdes, hässliches, unertragbares Bett in diesen letzten Stunden des Wartens, überflüssigen, sinnlosen Wartens bis sich die Genossen Offiziere endlich dazu herabließen, die Entlassenen – natürlich im Marschblock – aus der Kaserne hinaus zu führen zu den wartenden Familien. Meine Eltern umarmten mich kurz, wir stiegen in ihr Auto und fuhren nach Hause in die thüringische Kleinstadt, die schon nicht mehr mein zu Hause war. Ein paar Tage später begann ich in Dresden, das noch lange nicht mein zu Hause sein sollte, ein Studium. Einen Monat später als alle anderen und so auch wieder gekennzeichnet als der, der „3 Jahre war“, you know. Aber alles, was ich lernen musste, um nicht einmal drei Jahre später Teil einer Bewegung zu sein, die die Vorherrschaft der SED und ihrer Organisationen an der TU Dresden beendete und Teil der Bewegung, die das Machtsystem der SED insgesamt stürzte, alles was ich dafür noch lernen musste, habe ich erst dann gelernt. Nach der Uniform, jenseits der Uniform, in der Ablehnung aller Uniformität, in der Ablösung von den Sprachformeln, in der subtilen Unterwanderung der Hierarchien, in der Selbstermächtigung in Sprache und Handeln. Es ist wahrscheinlich Teil der besonderen Geschichte der USA, vielleicht des amerikanischen Optimismus und ganz sicher Teil der Logik des Unterhaltungsfernsehens, dass aus den in Uniform gepressten Unterdrückten eine Armee des Widerstandes sich selber formt. Aber es ist Quatsch. Die Uniform ist ein sehr wirksames Mittel der Entindividualisierung und der Entfremdung von Freiheit und demokratischer Kultur. Und die kluge Margaret Atwood hat diesen Optimismus auch nicht in ihrem Buch geschrieben. Und nicht zuletzt fällt die Idee der Widerstandsarmee in den Uniformen der Unterdrücker*innen inszenatorisch

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auch aus der restlichen Serie auffällig heraus. Aber vielleicht braucht die USamerikanische Gesellschaft diesen Optimismus gerade, also auch gerade jetzt. Und es ist beeindruckend inszeniert. Und obwohl mich die großartige Nina Simone fast überredet hätte, bleibt es die aus meiner Sicht unglaubwürdigste Szene. Sorry, kämpferischer Optimismus.

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Selbstkritik

Die Selbstkritik vor Anderen, vor den Vorgesetzten, den Mächtigen, den Gleichen, vor dem Kollektiv ist ein erprobtes und verbreitetes Mittel der Unterwerfung. June Osborne hat einen Fehler gemacht. Seit 2 Wochen ist sie in das Zimmer eingesperrt, das gar nicht ihres sein sollte und dann doch ihres wurde und nun vom Wartezimmer zum Gefängnis geworden ist. Sie hat eine unstillbare Sehnsucht nach der Sonne, frischer Luft, dem lebendigen Gefühl von Jahreszeit. Deshalb entschließt sie sich zu einem Akt der Unterwerfung (Abb. 2). June entschuldigt sich bei Serena Joy (S01 E04 Min 00:21:20 bis 00:22:20): „Ms Waterford, ich… ich weiß, dass ich versagt habe. Ich habe Sie enttäuscht und mich selbst. Und ich werde mein Bestes tun, damit sich das nicht wiederholt. Ich habe meine Lektion gelernt. Es tut mir so leid. Bitte, lassen Sie mich raus.“

Abb. 2 The Handmaid´s Tale. (Hulu) S01 E04 21:30

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Ein Freund hat mir aus seinem Fundus zwei Schriftstücke überlassen. Zwei Soldaten einer Einheit in Weißenfels sind überführt worden, kleine Dienstvergehen begangen zu haben. Beide mussten ihr Vergehen, obschon längst klar und überführt, selber nochmal aufschreiben. Nichts könnte weniger wahrhaftig sein als diese Selbstbezichtigungen. Und doch wurden sie geschrieben (Abb. 3). Nationale Volksarmee 17. MSR/ II GWB Soldat [..] WDA-Nr. […] O.U. den 16.8.1987 Stellungnahme Ich stehe vom 15.8.1987 bis 16.8.1987 Wache in der Fritz Weineck Kaserne. Ich bin für den Posten 1 und 1. Aufzug eingeteilt worden, beim 2.mal in der Zeit von 11:00 bis 1:00 habe ich gegen die Dienstvorschrift des Postens verstoßen. Auf dem Postenturm ist ein Feldtelefon das eigentlich nur bei der Übergabe zur stündlichen Kontrolle und wenn was vorfällt benutzt werden sollte. Wir fanden heraus das man mit diesem Feldtelefon sich von Posten zu Posten unterhalten kann und wir taten das auch. Da wurden wir von den Wachhabenden abgehört. Ich rauchte auch eine Zigarette. Ich sehe es ein das ich in dieser Zeit gegen die Dienstvorschrift verstoßen habe obwohl ich bei der Wachbelehrung darauf hingewiesen wurde was ein Posten nicht zu tun hat In dieser Zeit konnte ich meine zugeteilte aufgabe als Posten nicht voll konzentriert erfüllen und habe somit gegen die Dienstvorschrift verstoßen. Ich muß mit einer Bestrafung rechnen und werde diese auch zur Kenntnis nehmen. Soldat […]

MST 17( II GWB Soldat […] WDA.-Nr.: […] Halle, 16.8.87 Stellungsnahm Hiermit möchte ich zu dem Vorfall während meines Wachdienstes Stellung nehmen. Ich hatte eine Zigarette während meines Wachdienstes geraucht. Ich hatte 1 Zigarette und 3 Streichhölzer dabei. Es ist für mich sehr schwierig als starker Raucher den Wachdienst zu überstehen. Da ja auch Bonbon und Kaugummi verboten sind um das Rauchen zu unterdrücken. Ich sehe ein das es ein großer Fehler von mir wahr. Ich versicher hiermit das soetwas nie wieder vorkommt Unterschrift

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Abb. 3 Faksimile Stellungnahme Soldat A, Herkunft Kaserne Halle, 1987, privates Archiv

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Ich nehme an, dass es nicht bei diesen erniedrigenden Zetteln blieb, sicher mussten sie weitere Akte der Erniedrigung über sich ergehen lassen (Abb. 4). Ich habe an solchen Versammlungen teilgenommen, die einzig und allein dazu dienten, zu erniedrigen und die Machtverhältnisse nicht nur zu klären, sondern in den Untergebenen zu internalisieren. Ich hatte mich im Frühsommer 1986 mit einem Zimmergenossen unerlaubt nachts über die Mauer aus der Kaserne gestohlen, einfach weil wir es konnten und endlich drauf hatten. Und wir wurden verpfiffen, abgeholt und bestraft. Aber die Strafe – Eintragung in die Personalakte, Urlaubs- und Ausgangssperre, zusätzliche Wachdienste, reichte nicht aus. Die Strafen wurden bei einem Appell vor der Truppe ausgesprochen, Grinsen war nicht erlaubt. Du musst wirklich ernsthaft alles vermeiden, was weiteren Ärger macht. In den armeeeigenen Knast willst Du nicht. Und nach dem Appell müssen sich alle in ihrer kostbaren, knappen Freizeit nochmal versammeln, damit Du Dich hinstellen kannst und sagen, wie schlimm Dein Vergehen ist, wie sehr Du den Frieden und die Sicherheit des Sozialismus, das Ansehen Deiner Truppe gefährdet hast. Ernst bleiben. Ein Kollege wurde verpflichtet, das nochmal anprangernd zu wiederholen: Du hast mit Deinem abscheulichen Verhalten den Frieden… Ernst bleiben. Nicht Grinsen, Zu Ende bringen. Die Beispiele dieser erniedrigenden Selbstkritik beinhalten auch schon ein weiteres Element, auf das ich verweisen will:

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Infamie der Beteiligung

Es reicht nämlich nicht aus, dass sich eine Person, die sich abweichend verhalten hatte, selbst beschuldigt und erniedrigt. Zum System gehören die Gleichen, denen es jeder einzelnen/ jedem einzelnen genau so gehen könnte, schon gegangen ist und noch gehen wird. Sie werden beteiligt, sie müssen zuschauen und die Schuldanerkennung und Unterwerfung zur Kenntnis nehmen und sich womöglich verstärkend beteiligen. In einer Szene (S01 E01 Min 00:25:10 bis 00:26:50) sollen die Mägde noch während ihrer Misshandlung und Indoktrinierung im sogenannten Roten Zentrum vom Übel erzählen, dass ihnen als Frauen vor der guten und beschützenden Zeit der Republik Gilead geschehen ist (Abb. 5). Die Perfidität dieser „Selbstkritik“ besteht eben nicht nur darin, von der Person, die Selbstkritik üben muss, einen Kotau zu verlangen, eine vermeintlich freiwillige Unterordnung unter die Regeln des Systems, sich von seinen Überzeugungen öffentlich abzuwenden. Es bedeutet auch, dass die Zuschauenden und Zuhörenden zu Zeug*innen des Geschehens gemacht werden. Die Scham, die es hinterlässt,

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Abb. 4 Faksimile Stellungnahme Soldat B, Herkunft Kaserne Halle, 1987, privates Archiv

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Abb. 5 The Handmaid´s Tale. (Hulu) S01 E01 26:43

zusehen zu müssen und passiv beteiligt zu werden, ist bei Vielen noch größer, als die derjenigen, die zum Kotau gezwungen werden. Und es ist auch weitgehend egal, ob die Erniedrigten hinterher ihre Unterdrücker hassen oder über sie lachen. Sie waren beteiligt, die Scham darüber, aktiv oder passiv solchen Erniedrigungen beigewohnt haben zu müssen, wird sie Jahre und Jahrzehnte begleiten. Und oft genug wiederholt, wird diese Scham Bestandteil Ihrer Persönlichkeit und Hebel der Unterordnung sein. An anderer Stelle sehen wir, wie die Angestellten des Hauses Waterford in die monatliche Vergewaltigung von June Osborne einbezogen werden. Sie stehen nur daneben, als die Psalme der sogenannten Zeremonie zur religiösen Begründung und rituellen Eröffnung verlesen werden, Sie werden zu Beteiligten gemacht. Sie werden mit erniedrigt und weil sie diese Erniedrigung von sich abwehren müssen, trivialisieren sie den Vorgang: „Hoffentlich geht es schnell, andere Leute haben zu tun“, sagt die Köchin zum Fahrer leise. So schützen sie sich und normalisieren diesen zutiefst abstoßenden, brutalen Vorgang. Die sicher brutalste Form der Beteiligung an der unmoralischen Herrschaft sehen wir in der Einbeziehung der „Mägde“ in die Ermordung von vermeintlichen Straftätern (S01 E01 Min 00:39:20 bis 00:46:05).

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Abb. 6 The Handmaid´s Tale. (Hulu) S01 E01 44:56

June Osborne hat eben zugeraunt bekommen, dass ihrer besten Freundin die Flucht nicht gelungen, sie gefangen und in ein Vernichtungslager deportiert worden sei und sie deshalb jetzt schon nach aller Wahrscheinlichkeit tot ist. Erzählt wird ihr das zum Beginn eines Rituals der „Reinigung“ von „Straftätern“ (Abb. 6). Die Verzweiflung und Wut, die sich in dem Erschlagen eines angebotenen und moralisch als berechtigt markierten Opfers – ganz wortwörtlich mit den eigenen Händen – Bahn bricht, ist auch noch großartig inszeniert und gespielt (Abb. 7). Und diese Art von unendlich beschämender Beteiligung ist überzeugender, als der für die Serie (im Unterschied zum Buch) erfundene Akt der Verweigerung einer solchen Tat. Wir zoomen noch einmal in einen Teil dieser Szene: Wir hören Tante Lydia, die Foltererin der aufsässigen Frauen und Beschützerin der Schwangeren zu gleich ist: Sie stellt das Opfer des bevorstehenden Mordes vor: „Der Mann hat eine Frau vergewaltigt. Es war eine Magd. Die Magd war schwanger, das Kind ist gestorben. Darauf steht die Todesstrafe. Diese Kreatur hat uns keine Wahl gelassen.“ Ich will hinaus auf die „Objektive Notwendigkeit der Maßnahmen“.

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Abb. 7 The Handmaid´s Tale. (Hulu) S01 E01 42:13

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„Objektive Notwendigkeit der Maßnahmen“

Tante Lydia macht deutlich, dass sie selbst, dass die Gesellschaft und deshalb auch die anwesenden Mägde gar nicht anders können, als nun diesen Mann zu töten. Sie entlastet sie moralisch, es ist ja objektiv notwendig und nicht zu vermeiden. Aber diese herbeigeredete Objektivität ist eben auch ein Fragment, dass mir in den ersten 25 Jahren meines Lebens oft begegnet ist. Die Objektivität des Marxismus-Leninismus wird in der Literatur der DDR folgendermaßen begründet: „Marx, Engels und Lenin haben die Ideologie der Arbeiterklasse als Wissenschaft begründet“. Die Einmaligkeit des Marxismus-Leninismus im Gegensatz zu anderen Ideologien besteht laut dieser ersten Quelle darin, dass dieser auf dem Erwerb und der Verarbeitung des ganzen von den Menschen konstituierten und auf der Kultur beruhenden Wissens basierte. „Sie ist eine wissenschaftliche Ideologie, eine strenge Wissenschaft, die auf der Erkenntnis der objektiven Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit beruht“. In dem Fall stammt das aus der Lehrer*innenausbildung der DDR: Neuner, Gerhart: Allgemeinbildung – Lehrplanwerk – Unterricht. Ausgearbeitet von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Gerhart Neuner. Volk und Wissen Volkseigener Verlag, Berlin 3. Auflage, 1976.

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Die Objektivität und Gesetzmäßigkeit finden Sie in Abwandlungen in der Literatur der DDR, der Sowjetunion natürlich allenthalben. Mit der Begründung von Tante Lydia für den gemeinsam zu begehenden Mord der Mägde ist das nicht wirklich zu vergleichen, möchte man denken. So wurde in der DDR nicht gemordet. Aber Schießbefehl an der Grenze und die Ermordung von Dissidenten in Stasigefängnissen mussten zumindest unter den Beteiligten eben auch mit dieser objektiven Notwendigkeit begründet und die Beteiligten moralisch entlastet werden. Es ist offensichtlich und ich will nicht näher darauf eingehen, dass es nun wirklich ein wesentliches Element des Faschismus ist, dass die zum Nichtmenschen erklärten vogelfrei werden und von jedermann und -frau ohne moralische Einschränkung erniedrigt, enteignet und ermordet werden dürfen. Die Parallele dürfte auch in der angesprochenen kurzen Sequenz augenfällig gewesen sein.

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Gegenseitige Überwachung

Über das System der Bespitzelung, der daraus folgenden Selbstbeschneidung im Reden und des Verlustes des öffentlichen Redens in der DDR ist viel publiziert und diskutiert worden. Das werde ich nicht vertiefen, man wird aber nachvollziehen können, dass die Frage von gegenseitiger Überwachung, von tagtäglichem Misstrauen, wem man was anvertrauen kann und bis zu welchen Umständen das Anvertraute bei der Person sicher ist, ein wesentlicher Bestandteil meines Alltags bis 1989 war. Bei jeder neuen Begegnung wieder das Abtasten in Phrasen, über Umwege, vielleicht Musik oder Bücher. Wie tickt der andere? Nur noch eine kleine letzte Episode, auch wieder aus der Schule und jenseits der großen Stasiknastdramen: Es ist ein Morgen in der Friedrich-Schiller-Oberschule, Dienstags wahrscheinlich. 1982. Wir sind 17, längst eingeübte Profis in der Frage, mit wem man mit welchen Worten worüber spricht. Auskenner. Glaubten wir. Der Lehrer für Biologie und Chemie, Herr G. ist ein nicht sehr großer, gepflegter Mann, der stolz ist auf seinen Charme und sein überlegenes Wissen über die Photosynthese, Moleküle und Knalleffekte. Und der natürlich hier und da einer der jungen Frauen die Hand auf den Arm legt. Diese Art von Charme. Wie immer kommt er mit übergroßem Elan und Schwung aus seinem Vorbereitungszimmer. Das Chemielabor hat ein erhöhtes Podest für den Lehrer, da kann er schön stolzieren und über alle und alles hinweg schauen. Keine Prüfung steht an, keine Leistungskontrolle, ein entspannter, normaler Morgen. Auch Herr G ist entspannt und freundlich. Er nimmt die Meldung über an- und abwesende Schüler*innen entgegen, wartet bis der meldende Schüler

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sich gesetzt hat, wendet sich lächelnd zur Klasse und fragt: „Wer hat denn gestern Abend den schönen Tierfilm gesehen?“ Sofort ändert sich die Atmosphäre im Raum, augenblicklich spannt sich eine ganze Klasse an. Was soll das? rattert es in Köpfen. Bei manchen schneller, bei anderen langsamer. Bei einer Langsameren geht der Arm hoch. Ach C., du hast den Film gesehen und willst es sagen. Wie rührend. Ein paar von uns stöhnen innerlich, viele verstehen es nicht gleich. Der Film kam im Westfernsehen. Der charmante Herr G. weiß jetzt, die gutmütige C. hat´s geschaut. Nichts ganz Schlimmes, nichts was sich heute und morgen auswirkt. Aber bei Bedarf werden sie es rausholen. Und in irgendeinem Bericht steht es sicher auch bald. Arme C., heute hast Du wieder ein bisschen die Flanke aufgemacht. Herr G. wurde nach 1990 als informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt. Keine Überraschung.

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Zurück in die Zukunft

Ich will zum Schluss doch nach all den Geschichten der Vergangenheit eines Erzählers, der sich dabei alt und geschwätzig vorkommt, auf die Frage zurückkommen, was mir die Serie für die Zukunft sagt: Gerade weil ich mein eigenes Erleben im Report der Magd wiedergefunden habe und weil ich meine Gegenwart mit zunehmenden Erschrecken beobachte, scheint mir die Dystopie der Republik Gilead eine sehr realistische. So kann das gehen: Eine Problemsituation – hier Umweltverschmutzung und in Folge Ernährungsprobleme und Unfruchtbarkeit – wird instrumentalisiert, emotionalisiert und irrational aufgeladen. Ein Anlass wird gefunden. Margret Atwood veröffentlicht 1984 ein Buch, dass sie also in den Monaten vorher geschrieben hat und beschreibt, wie ein ultrakonservatives Netzwerk, dass sich über Jahre in Verwaltungen und Politik, aber eben auch in der öffentlichen Debatte und im Denken und Fühlen breitgemacht hat, einen Anschlag organisiert und diesen islamischen Fanatikern in die Schuhe schiebt, um den Ausnahmezustand ausrufen zu können. Der Ausnahmezustand wird mit der Begründung von mangelnder Sicherheit verlängert und auf dieser Basis werden neue Privilegien von Macht und Ressourcenzugängen organisiert. Die Rechte von Frauen werden abgeschafft, alle Ausdrucksformen von Liberalität unterbunden. Diejenigen, die profitieren, machen mit: Männer mit Zugewinnen an Macht – ökonomischer Macht, Macht über Körper. Manche übernehmen nur den kleinen Zigarettenkiosk, den vorher eine Frau betrieben hat, andere deren Häuser, Firmen, Frauen und Kinder. Es findet sich eine Mehrheit, die profitiert. Die findet sich. Wer sich wehrt, wird nach und nach ausgeschlossen, umerzogen oder eliminiert. Der Rest wird durch Kontrolle und limitierte Ressourcenzuweisung diszipliniert.

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Alle Mechanismen von Machtstabilisierung werden uns vorgeführt, ich habe ein paar aufgeführt. Kommt uns das unrealistisch vor? Atwood hat das vor dem Hintergrund des Sieges der religiös begründeten Reaktion im Iran geschrieben. Aber es trägt als bedrohlich realitätsnahe Dystopie eben bis in unsere Gegenwart. Es ist der Vorlage von Margaret Atwood nicht hoch genug anzurechnen, wie klug, komplex und vielschichtig das recherchiert ist, wie viele reale Erfahrungen sie zusammengetragen hat. Und es ist natürlich beeindruckend, wie die Vorlage zur Serie konstruiert ist und trotz der Einschränkungen und Abweichungen, die ich oben angedeutet habe, ist es weitgehend der Umsetzung in der ersten Staffel der Serie zu verdanken, dass uns, naja, zumindest mir, das nah und schmerzhaft realistisch vorkommt. Es erinnert uns daran, dass die Kämpfe um Liberalität in der Gesellschaft insbesondere auch immer rings um die Rechte von Frauen gerade in der Beziehung auf Reproduktion geführt werden. Es erinnert uns hoffentlich daran, dass unsere Art einigermaßen frei und gleich, mit Rechten und Leichtigkeit zu leben, hart, hart erkämpft ist, gerade auch von den Frauen der 60er, 70er und 80er Jahre. Unter Einsatz von Körpern. Nichts davon dürfen wir wieder aus der Hand geben.

Literatur Atwood, Margret. 2017. Der Report der Magd. Piper Taschenbuch.

Erratum zu: Bildung nach reaktionären Revolutionen Anja Besand

Erratum zu: A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3 Durch einen Fehler im Ablauf der Produktion wurde der Inhalt des Werks leider vor Autorenfreigabe des Werks veröffentlicht. In der korrigierten Version finden Sie die finale inhaltliche und vom Autor freigegebene Fassung.

Die aktualisierte Version des Buchs finden Sie unter https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 A. Besand (Hrsg.), Bildung nach reaktionären Revolutionen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-32617-3_14

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