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German Pages [255] Year 1973
J^olfgang Fritz Hang bestimmte Negation Das umwerfende Einverständnis des braven Soldaten Schwejk < ind andere Aufsätze :dition suhrkamp N
edition suhrkamp Redaktion: Günther Busch
Wolfgang Fritz Haug, geboren 1936 in Esslingen am Neckar, ist Privatdozent für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Buchveröffentlichungen: J.-P. Sartre und die Konstruktion des Absurden 1966; Der hilflose Antifaschismus 1967; Kritik der Warenästhetik 1 9 7 1 ; Warenästhetik, Sexualität und Herrschaft - Gesammelte Aufsätze 1972. In Vorbereitung: Vorlesungen zur Einführung in »Das Kapital«. Seit 1959 Herausgeber der Zeitschrift Das Argument. Der Titelbegriff bestimmte Negation dient in diesem Buch zur Bezeichnung der für den Marxismus spezifischen, den wissenschaftlichen Sozialismus begründenden Haltung. Geschrieben zwischen 1968 und 1973, verdeutlichen die sechs Aufsätze diese Haltung in Auseinandersetzungen vor allem mit rivalisierenden linken Positionen, die früheren vor allem mit solchen, die in der Studentenbewegung vertreten wurden. Einen Schwerpunkt bilden Überlegungen und Vorschläge zur Verhaltensweise des sozialistischen Individuums, einen anderen Schwerpunkt stellen Klärungsversuche zur Programmatik des Marxismus dar und zur Vermittlung von Wissenschaft, Geschichte und Parteilichkeit in der Kritik der politischen Ökonomie.
Wolf gang Fritz Haug Bestimmte Negation >Das umwerfende Einverständnis des braven Soldaten Schwejk< und andere Aufsätze
Suhrkamp Verlag
edition suhrkamp 607 Erste Auflage 1973 © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973. Erstausgabe. Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags und der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Satz, in Linotype Garamond, Druck und Bindung bei Georg Wagner, Nördlingen. Gesamtausstattung Willy Fleckhaus.
Inhalt
Das umwerfende Einverständnis des braven Soldaten Schwejk 7 Nützliche Lehren aus Brechts >Buch der Wendungen< 70 Das Ganze und das ganz Andere. Zur Kritik der reinen revolutionären Transzendenz 94 Lehren aus dem Scheitern und der Angreifbarkeit des Schülerladens >Rote Freiheit 123 Die Bedeutung von Standpunkt und sozialistischer Perspektive für die Kritik der politischen Ökonomie 143 Privatmann und Ursprungsmythos. Die restaurative Hermeneutik bürgerlicher Marx-Engels-Biographien Nachweise
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Das umwerfende Einverständnis des braven Soldaten Schwejk
Absicht Haseks unliterarischer Roman 1 und die Figur des Schwejk sind mehr als Literatur. Sie hatten von Anfang an diejenigen auf ihrer Seite, deren Sache Literatur sonst nicht ist. Über den Schwejk lachte die unliterarische Menge, lachte »das Volk«, international. Seither wird um den Sinn der Figur Schwejk gestritten. Und da man sagen kann, daß in dem Lachen über Schwejk ein mögliches Verhalten des Volkes zum Ausdruck kommt, ist es keine bloß akademische Tätigkeit, in diesen Streit einzugreifen. Von allen möglichen Seiten wird Schwejk interpretiert wie ein Verhaltensvorschlag. Bevor die Fragestellung der folgenden Untersuchung formuliert wird, sei daher zunächst gezeigt, welche Verhaltensweisen »dem Volk« auf dem Umweg über die Interpretation seines Lieblings Schwejk in der spätbürgerlichen Gesellschaft gegenwärtig nahegelegt werden. Weil dabei im Grunde ein einziger Gedanke immer wieder abgewandelt wird, mögen einige Kostproben genügen. i Jaroslav Hasek, Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk. Ich zitiere nach der - im Gegensatz zu mancher anderen - zuverlässigen Ausgabe des Aufbau-Verlags, Berlin/DDR und Weimar 1966 (mit einem informativen Nachwort von Pavel Petr).
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Vom bürgerlich-liberalen Standpunkt hat Max Brod schon 1923 das Verhalten Schwejks als »vollendete Gleichgültigkeit aller Politik gegenüber« gedeutet. Überhaupt gelte alles Interesse des Volkes der Privatperspektive, meinte Max Brod und rief aus: »Wie versöhnlich wirkt diese Volksperspektive!« Pavel Petr merkt dazu an: »Hier ist der Wunsch [seiner Klasse] der Vater des Gedankens [ihres Sprechers Max Brod].« 2 Nach dem Zweiten Weltkrieg ist in den kapitalistisch gebliebenen Ländern zum Teil mit großem Erfolg das Interesse an Privatexistenz und Konsum als Desinteresse an der Politik propagiert worden. Dies findet auch in der ScÄwe/^-Interpretation seinen Ausdruck. In der 1966 in Bern und München erschienenen Hasek-Darstellung von Gustav Janouch3 wird der Versuch unternommen, den biographischen und den das literarische Werk betreffenden Informationen zu Hasek trotz ihrer Widerspenstigkeit und ohne Rücksicht auf Widersprüche in der Darstellung den Stempel des Unpolitischen, ja sogar Antipolitischen aufzudrücken. Janouch bewegt sich dabei in einer ideologischen Welt, worin konservative Kulturkritik und pessimistische Geschichtsphilosophie mit dem verbreiteten Gerede über die »Industriegesellschaft;«, das geflissentlich die Besitzverhältnisse außer acht läßt, zusammenfließen. Der Grundkonflikt, den Haseks Werk austrage, sei der historisch sich immer 2 Pavel Petr, Haseks Schwejk in Deutschland, Berlin/DDR 1963, S. 84. 3 Gustav Janouch, Jaroslav Hasek, Der Vater des braven Soldaten Schwejk, Bern und München 1966.
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mehr zuspitzende Gegensatz von Industriegesellschaft und Privatperson. Janouch bemüht sich besonders um eine Sprache, in der die Unterschiede der gesellschaftlichen und politischen Systeme verschwinden und nur dieser allgemeine Gegensatz greifbar bleibt. Die »Grundtendenz« Haseks sei es, in diesem Gegensatz »als einzige wahre Autorität nur die unwiederbringliche Einmaligkeit jedes Lebens gelten« zu lassen. Den Sinn der Schwejkiaden interpretiert er als »Konfrontation der großen, geschichtlich bedeutsamen Welt mit der in ihr eingebetteten mikroskopisch kleinen Privatwelt des Herrn Schwejk«. Hasek und seine Figur Schwejk sollen nach dieser Interpretation den Einzelnen und seine Eigenart vertreten; sie sollen auf der Seite des Irrationalen stehen, gegen Rationalität, Organisation, Gesellschaft und Kollektiv. Seit das Bürgertum keinen allgemeinverbindlichen politischen Anspruch mehr überzeugend artikulieren kann, wird von bürgerlicher Seite jeder Versuch einer rationalen, zielbezogenen und allgemeinverbindlichen politischen Programmatik als »Ideologie« verdrängt. Janouch macht Hasek zum Helden der Entideologisierung. Er sei Anhänger der »ideologischen Kampfmethode der grundsätzlichen Nicht- oder Gegenideologie«. Vermutlich um diese Auffassung abzusichern, zeigt sich Janouch bemüht, selbst aus der schriftstellerischen Tätigkeit Haseks die Rationalität auszutreiben: »Haseks Schreibmotor war nur das nackte, elementare Gefühl.« - So erscheint Schwejk in dieser Deutung als Figur der Entideologisierung, die alle allgemeinen politischen Vorstellungen ablehnt; der 9
Nachbarschaftsideologie, die nur die kleinen menschlichen Beziehungen des Privatlebens und des unmittelbar persönlichen Kontakts zwischen Privatleuten anerkennt; und schließlich des liberalen bürgerlichen Staates, der nur Nachtwächterstaat sein und dem Schutz der Privatexistenzen dienen soll. Setzt man alle Richtungs- und Reizwörter, die Janouch auf Hasek und seinen Schwejk bezieht, zusammen, so entsteht die Haltung eines geradezu instinktiven Antisozialismus. Soweit sich eine solche Interpretation durchsetzt, unterschiebt sie denen, die über Schwejk lachen, diesen Sinn ihres Lachens. Dem behaupteten unpolitischen Individualismus Schwejks widerspricht Haseks politisches Engagement. Solange man letzteres nicht kurzerhand verschweigt, löst man den Widerspruch so, daß Hasek zum Anarchisten und sein Schwejk zur Figur des Anarchismus hingedreht werden. »In seinem Herzen«, teilt z. B. Walter Schamschula4 seinen Lesern 4 Jaroslav Hasek, Die Partei des maßvollen Fortschritts im Rahmen der Gesetze. Auswahl, Anmerkungen und Nachwort von Walter Schamschula, Ubersetzung von Schamschula und Peter Richter. Band 283 der Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt/ M. 1 9 7 1 . - Gabriel Laub merkte zu dieser Ausgabe an: »Herr Richter scheint allzusehr von dem Helden des Kapitels >Der Dichter Louis Krikava< beeinflußt, der den deutschen Satz >Die Affen sprangen von Ast zu Ast< als >Die Affen sprangen von Fall zu Fall< wiedergab; sonst könnte er nicht (in der kurzen Geschichte >Die Verfolgung der ersten Christen in den >WeinbergenGegner< zu stoßen, die er nicht zuletzt deshalb überwinden kann, weil ihnen ein Mangel an ideologischer Besessenheit ein wenig Menschlichkeit gelassen hat.« Unter diesem Mangel scheint Schulze nicht zu leiden. Der Leser möge im Verlauf der folgenden Untersuchung besonders darauf achten, wie das »ein wenig Menschlichkeit« und die »liebenswürdige Verschlamptheit« der k. u. k. Herrschaft im Ersten Weltkrieg von Hasek dargestellt werden.
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Notwendigkeit, die sich besonders bei den Kopfarbeitern geltend macht, soll im folgenden an die Figur des Schwejk die Frage gestellt werden, wie sie sich in diesem Widerspruch verhält. Der Verhaltensvorschlag, der in ihr und in den Episoden enthalten ist, soll herausgeholt und diskutiert werden. Zu diesem Zweck ist eine eigene Methode nötig. Schwejk muß so betrachtet werden, wie er im gesellschaftlichen Zusammenhang wirkt. Darin steckt insofern eine Vorentscheidung, als für gewöhnlich vorausgesetzt wird, daß er als sich-selbst-erhaltendes Individuum zu betrachten sei. Im folgenden soll dagegen beobachtet werden, wie Schwejk den anderen erscheint, wie seine Erscheinung auf sie wirkt, wie sie es Hasek erlaubt, die anderen darzustellen, wie Schwejk durch seine Anekdoten und wie durch sein Verhalten auf sie einwirkt, was er bewirkt. Da der Schwejk-Roman zwar viel gelesen ist, die folgende Untersuchung jedoch verbreiteten Ansichten zuwiderläuft, wird es nötig sein, ausführlich zu zitieren, um Beobachtungen am Material zu ermöglichen.
Schwejks Erscheinung Fangen wir beim Äußerlichen an, bei der Gestalt Schwejks, bei seiner Erscheinung. Beim Versuch, Schwejk in ihr zu fassen, stößt man auf eine erste Schwierigkeit, die ins Zentrum der Figur Schwejk hineinführt. Es scheint nämlich nicht möglich, ein einheitliches Portrait zu zeichnen. Und zwar bleibt 16
Schwejk im Verlauf der Handlung nicht unverändert. Es fängt an mit der berühmten Eröffnungsszene. »>Also sie ham uns den Ferdinand erschlagenWas für einen Ferdinand, Frau Müller?< fragte Schwejk, ohne aufzuhören, sich die Knie zu massieren. >Ich kenn zwei Ferdinande. Einen, der is Diener beim Drogisten Pruscha und hat dort mal aus Versehn eine Flasche mit irgendeiner Haartinktur ausgetrunken, und dann kenn ich noch den Ferdinand Kokoschka, der, was den Hundedreck sammelt. Um beide is kein Schad.< >Aber gnä' Herr, den Herrn Erzherzog Ferdinand, den aus Konopischt, den dicken frommen.< >Jesus MariaDas is aber gelungen. Und wo is ihm denn das passiert, dem Herrn Erzherzog?Ziehen Sie sich Stiefel und Hosen aus, zeigen Sie . . .Wohin schauen Sie?< Schwejk blickte mit Interesse zur Seite auf die Wand, wo der Käfig mit dem Kanarienvogel hing, und antwortete, seine gutmütigen Augen nunmehr auf den Oberleutnant heftend, in freundlichem, gutmütigem Ton: >Melde gehorsamst, Herr Oberlajt-
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nant, dort is ein Harzer Kanarienvogels Und den Strom der Rede des Oberleutnants auf diese Weise unterbrechend, stand Schwejk militärisch da und blickte ihm ohne zu zwinkern geradewegs in die Augen. Der Oberleutnant wollte etwas Scharfes erwidern, allein als er den unschuldigen Ausdruck in Schwejks Gesicht bemerkte, sagte er: >Der Herr Feldkurat hat Sie als ungeheuren Blödian empfohlen, ich glaube, er hat sich nicht geirrt.Professor, Herr Lajtnant. Er war auch beim Militär und hat die Offiziersprüfung abgelegte« Die Antwort ist, hierin dem Blick Schwejks ähnlich, wie ein reiner Spiegel, der dem Dub seine beleidigende Fratze zurückwirft. Aber sie hat einen seltsamen Doppelsinn; es ist, als gäbe Schwejk selbst dieser Karikatur eines Dieners der herrschenden Klasse zu verstehen, er sei — ihr Bruder. Dub wird diesem ungetrübten Spiegel gegenüber immer wieder toben, als müsse er sich selbst zer23
stören. Seine Bosheit gegen Schwejk fällt fortwährend auf ihn selbst zurück. Die Erscheinung Schwejks ist bestimmt durch Freundlichkeit und Gelassenheit, Sanftmut und Zufriedenheit, Gutmütigkeit und Ungezwungenheit, Aufrichtigkeit und Unschuld. Er wirkt umwerfend arglos und einverstanden. Wie verhält er sich?
Schwejks Verhalten Wie seine Erscheinung ist Schwejks Verhalten fast immer charakterisiert durch unmittelbares Einverständnis. Nie widersetzt er sich den Vorgesetzten. Ihnen gegenüber ist er in Wort und Tat unmittelbar gehorsam. Äußern sie Befehle oder Wünsche, so ist Schwejk ihnen zu Willen. Allerdings erfüllt er die Wünsche in einer Art, die katastrophale Wirkung zeitigt. Als Bursche des Feldkuraten etwa kommt er dessen Wünschen auf umwerfende Weise nach. Jeder beiläufige Wunsch, ja die bloße Andeutung eines Wunsches, wird im Nu erfüllt. Mit anzüglichen Lügen macht Schwejk für seinen Herrn bei dessen Offizierskollegen hemmungslos Schulden und besorgt Nußschnaps. »Schwejk erfüllte seine Aufgabe glänzend. Seine Einfalt und sein ehrliches Gesicht sicherten ihm vollkommenes Vertrauen: Man glaubte ihm ohne weiters, daß alles, was er sagte, wahr sei.« Er verkauft Klavier und Kanapee, die dem Kuraten gar nicht gehören, an einen Trödler. Mit dem Kanapee zirkuliert der Feldaltar aus dem Hause. Der Diener
Schwejk beschleunigt Verschuldung und Ausverkauf seiner Herrschaft und verschärft an anderer Stelle den Gegensatz zwischen Schuldner und Gläubiger. Dem Gläubiger Lukaschs kommt er frech und grob, Lukasch liest er die Wünsche von den Augen ab. Aber der wird dessen nicht froh. Zum Beispiel wünscht er sich einen Hund; Schwejk läßt den eines Obersten stehlen, wofür Lukasch aus dem süßen Leben in der Etappe an die Front abkommandiert wird. »Er will einen Hund, also bekommt er einen Hund!« Lukasch brüllt den Schwejk an, warum er den Hund gestohlen habe. »Damit ich Ihnen eine Frajde mach, Herr Oberlajtnant«, antwortet Schwejk. Er macht jede gewünschte Freude ohne Rücksicht auf die Folgen. Diese Rücksichtslosigkeit ist die Folge seiner Dienstverpflichtung bei eigener Ohnmacht. Für das von oben Befohlene oder Gewünschte trägt er keinerlei Verantwortung und verhält sich also ganz verantwortungslos. Auf Katze und Kanarienvogel seines Oberleutnants sollte er besonders aufpassen. »So habe ich sie zusammen bekannt machen wolln, und im Fall, daß die Bestie was unternommen hätt, wollt ich ihr den Pelz verbleuen, damit sie ihr Leben lang nicht dran vergißt, wie sie sich zum Kanari benehmen soll, weil ich Tiere sehr gern hab.« In der Form des Gegenteils verschafft Schwejk der Katze Gelegenheit, sich ihren Wunsch zu erfüllen, nämlich den Kanari zu fressen. Der Besitzer solle nun über die Strafe entscheiden. »Bei dieser Erzählung schaute Schwejk dem Oberleutnant so aufrichtig in die Augen, daß dieser, der sich Schwejk anfangs in roher Absicht genähert 25
hatte, von seinem Vorhaben abließ, sich auf einen Stuhl setzte und fragte: >Hören Sie, Schwejk, sind Sie wirklich so ein Rindvieh Gottes?< >Melde gehorsamst, Herr Oberlajtnantja! - Von klein auf hab ich so ein Pech, immer will ich was besser machen, gut machen, und nie kommt was heraus als eine Unannehmlichkeit für mich und die Umgebung.« Nun wendet er sich der möglichen Bestrafung der Katze zu und fährt fort: »Katzen ham aber ein zähes Leben. Wenn Sie befehln, Herr Oberlajtnant, daß ich sie umbring, wer ich sie zwischen der Tür zerquetschen müssen, anders geht sie nicht drauf.< Und Schwejk erklärte dem Oberleutnant mit der unschuldsvollsten Miene und seinem lieben, gutmütigen Lächeln, wie man Katzen tötet, und brachte Einzelheiten vor, die einen Tierschutzverein sicherlich ins Irrenhaus hätten bringen müssen.« Schwejks Erscheinen und sein Verhalten scheinen einander zu widersprechen. Was hier in liebenswerter Form erscheint, ist ganz mitleidlos, die Freundlichkeit hat kein Gewissen; und ist nicht die Unschuld der Erscheinung bestimmt als objektive Schuld ohne Schuldgefühl? Ist er, der zunächst als Kind und Gott, als Dionysos und Hermes in einer Gestalt gezeichnete Schwejk, ein in seiner Entwicklung zurückgebliebenes, infantiles Wesen, gefühl- und gewissenlos, grausam und gleichgültig? Nach oben ist er gehorsam, aber die Folgen des Gehorsams verantwortet er nicht. Den Tieren scheint er - in gutmütiger Form - mitleidlos zu begegnen. Als Händler mit gestohlenen Hunden, deren Stamm-
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bäum er fälscht, war er eingeführt worden. Und nach jenem Hundediebstahl, aufgrund dessen Schwejk und sein Herr an die Front abkommandiert wurden, »dachte Schwejk philosophisch: Wenn mans rundherum nimmt, wird eigentlich jeder Soldat auch aus seinem Heim gestohlen«. Die Art, mit der Schwejk seinesgleichen, später vor allem anderen Soldaten, begegnet, ist die einer oft umwerfenden Bejahung. Jede Regung, als deren Publikum man ihn benutzt, wird von ihm unmittelbar bestärkt, Furcht und Lust ebenso wie Anpassung oder Auflehnung, schlechtes Gewissen oder die Absicht, Selbstmord zu begehen. Als Schwejk einmal im Gefängnis sitzt, wird ein düsterer Mann zu ihm in die Zelle gesteckt, der lange Zeit auf keinen der Versuche reagiert, mit ihm ein Gespräch anzufangen. Schließlich richtet er sich auf »und fragte Schwejk: >Haben Sie nicht zufällig einen Riemen bei sich, damit ich Schluß mache?< >Damit kann ich Ihnen herzlich gern dienern, antwortete Schwejk, während er seinen Riemen abknöpfte, >ich hab noch nie gesehen, wie sich Leute in der Separation auf einem Riemen aufhängen. Es is nur ärgerlichdaß kein Haken hier is. Die Klinke am Fenster wird Sie nicht erhalten. Außer Sie hängen sich kniend an der Pritsche auf, wie's der Mönch im Kloster in Emaus gemacht hat, der was sich wegen einer jungen Jüdin am Kruzifix aufgehängt hat. Ich hab Selbstmörder sehr gern, also nur lustig ans Werk.Verzeihn Sie, gnä' Herr, daß ich Sie nie mehr sehn wer, weil ich aus dem Fenster spring.< >Sie lügtWenn Sie aus dem Fenster springen wollngehn Sie ins Zimmer, das Fenster hab ich aufgemacht. . .Es zieht nämlich, und das wär nicht gut für den gnä' Herr sein Rheumatismus.Melde gehorsamst, Herr FeldkuratSchwejk< nicht gefallen zu lassen«, anonyme Bombendrohungen und Terroranrufe gegen das Theater und den Regisseur gingen ein. Anlaß war die Darstellung einer von Katz gehaltenen Feldmesse. Vgl. dazu den Bericht in der Frankfurter Rundschau vom 8 . 3 . 1 9 7 1 : Das Määnzer Gemüt überfordert / Skandal um >Schwejkich beichte dem allmächtigen Gott und Ihnen, Hochwürdiger Vater, der Sie an Gottes Stelle sind, daß ich wirklich nur hetzhalber geweint hab. Ich hab gesehen, daß zu Ihrer Predigt ein gebesserter Sünder fehlt, den Sie vergeblich in Ihrer Predigt gesucht ham. So hab ich Ihnen wirklich die Freude machen wolln, damit Sie nicht denken, daß es keine ehrlichen Menschen mehr gibt, und mir selbst wollt ich einen Jux machen, damit mirs leichter ums Herz wird.< Der Feldkurat blickte prüfend in das einfältige Gesicht Schwejks . . . >Sie fangen an, mir zu gefallen^ sagte der Feldkurat . . .«, und so gelangt Schwejk aus dem Gefängnis und in den Dienst von Katz. Mit diesem objektiven Zynismus, der einer der Verhältnisse selbst ist, in denen Katz eben seinen Vorteil wahrnimmt, verbindet sich Schwejks Einverständnis. Er ist nicht Sand im Getriebe, sondern ö l , und doch stört er gerade dadurch die Maschine. Anscheinend durch keinen Kinderglauben mehr gehemmt, betätigt er sich voll einverstanden im Gewerbe des staatlich angestellten Priestertrugs. Er ministriert begeistert bei der Feldmesse, die nach kirchlicher Regel ungültig ist, wenn ein Ungläubiger kultische Funktionen ausübt. »>Dann, Herr Feldkurat, is ein großer Irrtum geschehnich bin konfessionslos. Ich hab schon so ein Pech.Daß ich Dir eins mit dem Heiligen übern Kopf hau!< sagte Schwejk zu dem Kondukteur.« .Schließlich verlieren sie das Tabernakel. Schwejk stellt sofort das Einverständnis wieder her. »>Das macht nichtsdie ersten Christen haben die Heilige Messe auch ohne Tabernakel gelesen.Bitte ein Fläschchen vom Bischof geweihtes ölGießen Sie ihm zehn Deka Hanföl Nr. 3 ein, Herr Tauchen.Wir müssen am Weg läuten, damit die Leute vor uns den Hut abziehn, wenn wir Gott den Herrn und dieses Hanföl Nr. 3 tragen, Herr Feldkurat. Das macht man so, und es sind schon viele Leute, die das nichts angegangen is, eingesperrt worn, weil sie nicht den Hut gezogen ham.Sport< bekommen, für eine Frau und für ein Kind fünf. Dann hat die Intendantur angefangen zu sparen, und man hat massenweis erschossen.« Einer der Soldaten wird seinen Kameraden dadurch verdächtig, daß er immer nachts auf die Kanzlei gerufen wird, »und einmal in der Nacht, wie er weg war, is jemandem eingefalln, ihm in seinen Sachen herumzuwühlen, und der Kerl hat im Rucksack ganze drei Schachteln zu hundert >Sport< gehabt. Dann is er gegen früh in unsere Scheune zurückgekommen, und wir ham mit ihm kurzen Prozeß gemacht.« Hasek mischt sich in keiner Weise direkt moralisierend in die Erzählung ein. Aber er läßt Woditschka - und das ist seine, des Erzählers, indirekte Einmischung - detailliert berichten, wie der Soldat, der für Zigaretten die Komitadschi und ihre Frauen und Kinder ermordet hat,von seinen Kameraden zu Tode gebracht wird. Parteinahme und vom Standpunkt des Autors einzuschärfende Moral der Geschichte sind in der einfachen erzählerischen Widerspiegelung aufgehoben: »>Wir ham ihn zu Boden geworfen, und ein gewisser Beloun hat ihn mitm Riemen erkrängelt. Der Kerl hat ein zähes Leben gehabt wie eine Katze.< Der alte Sappeur Woditschka spuckte aus. >Er war nicht und nicht zum Erkrängeln, er hat sich uns schon bemacht, die Augen 42
sind ihm herausgekrochen, und fort hat er gelebt wie ein nicht ganz totgeschnittener Hahn. Da ham sie ihn zerrissen wie eine Katze. Zwei beim Kopf, zwei bei den Füßen und ham ihm das Genick umgedreht. Dann ham sie ihm seinen Rucksack samtn Zigaretten übern Kopf gezogen und ham ihn hübsch in die Drina geworfen. Wer möcht solche Zigaretten rauchen. Früh hat man ihn überall gesuchte« An dieser Stelle mischt Schwejk sich ein: »>Da habt ihr melden solln, daß er desertiert istdaß er sich schon drauf vorbreitet hat und daß er jeden Tag gesagt hat, daß er verduften wird.Das hast Du an der Front an der Tagesordnung. Ein Kamerad . . . hat mir erzählt, daß seine Kompanie, wie er als Infanterist vor Belgrad war, im Gefecht ihren Oberlajtnant erschossen hat, auch so einen Hund, was selbst zwei Soldaten am Marsch erschossen hat, weil sie schon nicht weiter konnten. Der, wies mit ihm zu Ende gegangen is - hat plötzlich das Rückzugssignal zu pfeifen angefangen.«« Das war seine letzte Regung. Hier die Reaktion der Soldaten: »Sie ham sich herich um ihn herum totlachen können.« Vor der Szene, in der Schwejk mit dem Feldkuraten Katz eine Feldmesse zelebriert, schaltet Hasek selber sich unmittelbar mit einer allgemeinen Vorbemerkung über die Rolle der Feldkuraten im Krieg ein. Unvermittelt blendet er eine Anekdote ein: »Ich erinnere mich, daß uns einmal bei einer solchen Feldmesse ein feindlicher Aeroplan eine Bombe gerade auf den Feldaltar warf und vom Feldkuraten nichts übrig blieb als blutige Fetzen.« Während die k. u. k. Propaganda ihn als Märtyrer feierte, reagierte die Truppe, die mit seiner Mithilfe betrogen und zur Schlachtbank geführt werden sollte, genauso einver45
standen wie in der Anekdote Woditschkas: »Uns bereitete das einen ungeheuren Spaß . ..« Viele der erzählerischen Mittel, die Hasek anwendet, lenken die Aufmerksamkeit auf die Verfaultheit des imperialistischen Staates. In vielen Episoden wird die allgemeine Knechtung und Erniedrigung der proletarischen, aber auch der kleinbürgerlichen Massen dargestellt. Grausige Justizirrtümer, die an spätantike Geschichten von der Art des Goldenen Esels erinnern, absurde Beispiele für die offizielle Gewalttätigkeit schärfen immer wieder das Bewußtsein des grundlegenden Antagonismus. In einer der Episoden ist es wieder die Figur des Hundes, in der die allgemeine Erniedrigung ihren Ausdruck findet. Schwejk wird in dieser Szene für einen russischen Gefangenen gehalten, und der Feldwebel-Aufseher will ihm die Überlegenheit der k. u. k. Armee gegenüber der zaristischen vorführen. »Jetzt werd ich Dir was zeigen, damit Du weißt, was für eine Disziplin bei uns herrscht.« Er ruft einen Soldaten herbei. »>Hans Löflers befahl der Feldwebel, >nimm Dir dort meine Pfeife, steck sie Dir ins Maul, wie wenn ein Hund apportiert, und lauf so lang auf allen Vieren um den Tisch herum, bis ich >halt< sag! Dabei mußt Du bellen, aber so, daß Dir die Pfeife nicht aus dem Maul fällt, sonst laß ich Dich anbinden!Tragen Sie diesen Simulanten weg!< sagte Bautze, als er festgestellt hatte, daß der Mann tot war.« Im Gefängnis droht der Stabsprofos damit, was geschieht, wenn einer davonlaufen will: »Das is eigentlich Selbstmord, der bei uns auch so bestraft wird.« Derselbe Stabsprofos und sein Feldwebel erinnern sich schwelgerisch drohend, was sie mit einem Fleischer angestellt haben, der sich aufgelehnt hat. »>Na ja, der hat uns Arbeit gegeben, Herr Stabsprofosdas war ein Körper! Ich bin über fünf Minuten auf ihm herumgetrampelt, bevor ihm die Rippen zu krachen angefangen ham und das Blut ausm Maul geflossen is. Und er hat noch zehn Tage gelebt. Er war nicht zum umbringen !das ist für unsern Geschichtschreiber< eine tüchtige Scheibe gekochten Schlegel in die Suppe warf, erklärte er, daß unter der Mannschaft alle gleich sind, was allgemeinen Beifall erweckte und Ursache zur Beschimpfung der Köche gab«. Dem Koch ist eine Verhaltensweise, die auf Gleichheit und Gerechtigkeit abzielt und »allgemeinen Beifall erweckt«, so vollkommen unbegreiflich, daß er sie für einen Trick hält; er raunt deshalb Marek zu, er möge später wiederkommen, er werde ihm dann ein besonders großes Extrastück zuschanzen. - Auch innerhalb des Offi5i
zierskorps stellt Hasek diese Hierarchie dar. Die Etappenoffiziere, die über den Frontoffizieren stehen, stellen das absolute Fressen, Saufen und Huren dar. Während die Truppe hungert, schlagen sich die Herren voll - buchstäblich bis zum Erbrechen. Sinnbildlich ist die Szene mit einem Oberleutnant, der, als er auf der Toilette gefunden wird, »kniend, mit dem Mund über der Öffnung, schlief, so wie ihn der Schlaf beim Erbrechen übermannt hatte«. - Zwischen solchen Gelagen gehen die Offiziere wieder ans Schikanieren, Unterschlagen, amtliche Morden und an ähnliche Tätigkeiten. Es ist ein ganzes Bestiarium hoher Militärs, das Hasek zeichnet; und alle diese Typen, der Latrinengeneral ebenso wie Feldwebel Sondernummer oder Fähnrich Dauerling und viele andere mehr, verbinden das Festhalten an einer besonderen Gier mit dem Stück Macht zu ihrer Befriedigung, das ihnen der Staatsdienst einräumt. Auch auf der Seite der Unterdrückten hat jeder sein mehr oder weniger drastisches besonderes Kennzeichen. Sinnbildlich hierfür mag stehen, was in der ersten Verhaftungswelle nach dem Attentat von Sarajevo mit Schwejk in einer Zelle zusammengewürfelt wird. Vom Unpolitischen war schon die Rede. Die besonderen Interessen, Eigentümlichkeiten und Denkweisen der anderen sind nicht gerade politischer. Jeder hält zäh an seinem kleinen bürgerlichen Besitzstück fest. Einer begreift nicht, daß es für seine Rehabilitierung nicht genügt, wenn er sich darauf beruft, er sei unpolitischer Geschäftsmann. »Auf alle Fragen bei der Voruntersuchung auf der Polizeidi-
rektion jammerte er stereotyp: >Ich habe ein Papiergeschäfte Worauf ihm ebenfalls die stereotype Antwort zuteil wurde: >Das entlastet Sie nicht.Maul halten und weiter dienen !< - wie mans uns beim Militär gesagt hat. Das is das Beste und Schönste.« Nach diesen Worten legt er 53
sich hin und schläft friedlich ein. - Als er kurz darauf vorübergehend wieder freikommt, erzählt ihm die Wirtin vom Kelch, daß inzwischen ihr Mann und ein Tapezierer aus ebenso unpolitischen Gründen wie die bisher Erwähnten verhaftet worden sind, zuletzt der Tapezierer, und auch der »is nicht mehr zurückgekommen«. Worauf Schwejk entgegnet: »Ja, ja, es wern ihrer viele nicht mehr zurückkommen, geben Sie mir einen Rum.« Mit dieser Voraussicht gibt er zu verstehen, worauf man sich einrichten muß. Er sieht, was gespielt wird, und bildet sich nicht ein und strebt auch nicht an, daß bei ihm das allgemeine Schicksal eine Ausnahme machen werde. Schwejk sieht genau das Unvermeidliche, und er sieht auch, daß die private Besonderheit unhaltbar geworden ist. Wer sie festzuhalten versucht, der hängt bald an ihr wie der Fisch an der Angel. Ungezählte Beispiele und Anekdoten, die er den andern erzählt, teilen immer wieder diese Einsicht mit. Sie zeigen den Ruin eingefahrener Gewohnheiten, verfestigter Bedürfnisse, privater Unnahbarkeiten usw. Die Geschichten zeigen immer wieder, wie es darüber zur Katastrophe für den Einzelnen kommt, daß er besonders auf sich hält, daß er sich etwas Besonderes herausnimmt. Wer hartschädlig und eigensinnig bleibt, der nimmt sich eine Freiheit heraus, die daran, daß sie, mit Hegels Ausdruck, in der Knechtschaft stehenbleibt, zerbricht. In der Knechtschaft muß spätestens bei so extremer Zuspitzung von der privaten Freiheit abgelassen werden, damit die Knechtschaft abgeschafft und die allgemeine Freiheit verwirklicht 54
werden kann. Daß die spießigen Gestalten aus Schwejks Umgebung um so vieles freundlicher gezeichnet sind als die Offiziere und Polizeioberen, hat manchen Leser dazu geführt, zu meinen, in dieser Spießerwelt stelle Hasek die positive Gegenwelt zu der des Staates, ja zu jeglicher Ordnung dar. Schaut man näher hin, so entdeckt man, daß diese Kleinund Kleinstbürger die der Unterdrückung adäquaten Gegenstücke sind. Da ist der Chauvinist und Raufbold Woditschka, der, obwohl er hauptsächlich unterm Klassengegensatz zu leiden hat, den nationalen Gegensatz leidenschaftlich betreibt. Da ist der Okkultist Jurajda, der erst nachdem er in die Latrine gefallen ist, seine Deklamation über Prädestination und Scheinhaftigkeit aller Verkörperungen unterbricht und verlangt, man möge ihn herausziehen. Da ist vor allem der gefräßige Baloun, der sich ständig mit Essen wie einen Ballon vollpumpen wollen muß. Als Bauer und Müller konnte er sich dies Laster vielleicht leisten, zumal wenn er seinen Kunden kräftig Kleie unters Mehl mischte; als einfachen Soldaten, »gestohlenen Hund«, speist man ihn mit der gleichen dünnen Ration ab wie alle andern, ernährt ihn gleich ungerecht wie alle - außer die Herren und ihre Agenten. Als starker Esser kann er es nicht ertragen, gleich schlecht wie alle behandelt zu werden. Er bekommt zwar keine Extrawurst mehr, aber er bringt es nicht fertig, auf Extrawürste zu verzichten. So ist es im Modus der Ungerechtigkeit doch die allgemeine Gleichheit, die er aufgrund seiner Verfressenheit nicht ertragen kann. Was ist an Baloun komisch? 55
Sein »verzweifeltes Gesicht, von Hoffnungslosigkeit erfüllt, sein gehetzter Ausdruck sprach herzzerreißend: >Wann werden diese Leiden aufhören?Ich verstehs nichtich hab überhaupt einen dummen Schädel. Mir sollt man alles zehnmal wiederholen^ >KannstDu nichts nachlassen?< - fragte Schwejk, >also ich wer Dirs nochmal erklären. Soeben hast Du gehört, daß Du Dich dran halten mußt, was für ein Geist in der Armee herrscht, daß Du an den heiligen Josef glauben mußt [der ja Zimmermann gewesen sein soll, W. F. H.], daß Du schaun mußt, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat, damit Du Dich für den Kaiser rettest und für neue Kriege. Jetzt verstehst Dus vielleicht . . . < « - Dem Leser geben solche Hinweise zu verstehen, was die Bedeutung dessen ist, was man zu Schwejk sofort assoziiert, nämlich seine Geschichten. Die Beispiele »Sie sind nichts als Beispiele«, sagt der verunsicherte Oberleutnant Lukasch einmal zu Schwejk, von dem er noch nicht weiß, ob er »ein raffinierter Nichtsnutz oder ein ungeschickter Idiot« ist. Daß Hasek den Schwejk durch sein dauerndes Erzählen von Ge57
schichten charakterisieren will, wird an einer Stelle beiläufig besonders deutlich. In einer der Verwicklungen mit der Offizierskarikatur Leutnant Dub hat Schwejk eine ganze Flasche Cognac, ohne abzusetzen, auf einen Zug austrinken müssen. Er bittet seine Kameraden nicht direkt, dafür zu sorgen, daß er ausschlafen kann, sondern er beginnt bezeichnenderweise, eine Geschichte zu erzählen: »>Einmal hat sich euch ein Mensch besoffen und hat gebeten, daß man ihn nicht wecken soll. . .< Nach diesen Worten wälzte er sich auf die Seite und fing an zu schnarchen.« Mit »einigen Beispielen aus seiner Geschichte der menschlichen Mißgeschicke« läßt Hasek ihn auch auf Fragen im militärgerichtlichen Verhör antworten. Seine Art zu erzählen hat, im Gegensatz zu Schwejk selber, der als bedächtig und langsam beschrieben wird, etwas, wovon den Leuten ganz wirr im Kopf wird, das sie von ihrem ursprünglichen Vorhaben ab und auf ganz andere Gedanken bringen kann. In einer dieser Situationen zuckt Oberleutnant Lukasch »die Achseln wie ein Mensch, der keine Worte hat, um einen bestimmten Gedanken auszudrücken und vergeblich nach ihnen sucht«. Die Beispiele kommen in endloser Folge, zermürben eine bestimmte Haltung, ermuntern eine andere; sie schaffen eine Vertraulichkeit, wo zunächst Unnahbarkeit war; sie schläfern eine Wachsamkeit ein, während sie gleichzeitig bisher Verdrängtes aufwecken. Sie tun dies alles in einer zensurgerechten, verschobenen und nur mittelbaren Weise, mit Doppelsinn und doppeltem Boden, so daß der gegen seinen Willen verlockte Zuhörer 58
nicht weiß, woran er ist. Der Offizier Lukasch nennt dieses Erzählen Schwejks »Blödeln« und fordert verzweifelt: »Geben Sie mir Ruh, mit Ihren Beispielen!« Die Beispiele bringen Unruhe in den begrenzten Zustand eines jeden, sie bringen die Grenzen zum Verschwimmen. »Jesus Maria«, ruft Woditschka einmal aufgeregt, »ich halt das nicht mehr aus, warum erzählt er das alles. Ich begreif das nicht. Da war gestern beim Verhör mit uns grad so ein Mensch. Wie ihn der Auditor gefragt hat, was er in Zivil ist, hat er gesagt: >Ich mach Rauch beim Kreuz.< Und es hat über eine halbe Stunde gedauert, bevor er dem Auditor erklärt hat, daß er beim Schmied Kreuz den Blasebalg zieht. ..« Der besondere Gedanke, den Woditschka gegen Schwejks Geschichten festhalten will, ist die Zwangsfixierung auf die nächste vermeintliche Abrechnung mit den Ungarn, auf den Nationalitätenhaß. »Ich hab Dich nur trösten wolln, Woditschka«, sagt ihm Schwejk merkwürdigerweise. - Dieses Erzählen ist Schwejks eigentliche Wesenskraft, der ungewöhnliche Fähigkeiten zugeschrieben werden. Z. B. verliert ein Feldwebel, der ihn beim Strafexerzieren kommandieren muß, über Schwejks Erzählung, wie ihm mal einer erzählt habe, auf welche Weise man sich Zahlen merken könne, buchstäblich das Bewußtsein und trägt eine Hirnhautentzündung davon. Wenn Schwejk »nichts als Beispiele« ist, so gilt es den Sinn dieser Beispiele herauszufinden, um den Sinn der Figur Schwejk zu verstehen. Schwejk äußert sich über sein Erzähltalent einmal folgendermaßen: »Ich 59
hab, wie man sagt, ein entwickeltes Beobachtungstalent, wenns schon zu spät is und etwas Unangenehmes geschieht.« Um die »Beispiele« zu verstehen, muß gefragt werden, für welches Allgemeinere sie ein Beispiel unter vielen sind. - Eine große Gruppe dieser Geschichten führt immer wieder an wechselnden Beispielen vor Augen, »wie es schon zu spät is und etwas Unangenehmes geschieht«, indem ein Individuum, das an seiner Besonderheit gegen andere Individuen und gegen eine allgemeine Situation festhält, gerade daran sich ruiniert. Wenn das griechische Wort Idiot ursprünglich den sich absondernden Privatmann bezeichnet, so erzählt Schwejk ein Beispiel nach dem anderen für die regelmäßig eintretende Katastrophe dieses »Idiotismus«. Die Maske, die er dabei aufsetzt; ist die des »Idioten«. Gefängnis und Militär sind die Orte, an denen die Staatsmacht die Privatleute aus den Gehäusen ihrer Privatheit heraus- und zusammenzwingt. Der Krieg und die allgemeine Entwicklung der Verhältnisse, die Geschichte, sind die Bewegung, in die alle hineingezogen werden. Schwejks Beispiele lehren eine Form der Gegenwehr, indem sie einschärfen, daß der individuelle Widerstand zwecklos ist. Wer an seiner privaten Besonderheit festhalten wollte, der müßte Widerstand leisten, könnte ihn aber auf diesem Privatgrund nur individuell leisten und wäre also verloren, weit mehr verloren, als wenn er seinen besonderen Anspruch preisgibt. Schwejks Geschichten vermitteln zwischen dem persönlich Besonderen und der allgemeinen Geschichte. Immer wieder wird in den Geschichten ein Indivi60
duum aufgrund der Verhältnisse, aber in Verfolgung seiner besonderen, persönlichen Ziele an die Grenzen seiner Privatexistenz geworfen, so daß sie aufbrechen oder es an ihnen zerbricht. Wenn über dies Zerbrechen gelacht werden kann, dann deshalb, weil es etwas ungeheuer Optimistisches hat. Indem diese kleinen Privatexistenzen als solche zertrümmert werden, widerfährt ihnen nicht nur etwas Negatives, sondern es wird ein anderes Negatives, ihre Isolation, aufgehoben. Um als Beispiele dieser Art zu wirken, müssen die Geschichten Vergleiche darstellen. Da Vergleichen in gewisser Beziehung ein Gleichsetzen ist, wohnt den Beispielen eine egalitäre Tendenz inne. Schwejk unterlegt ihnen in der Maske der Blödigkeit oft geradezu unverschämte Gleichsetzungen. Als Lukasch ihn zum ersten Mal als Blödian anspricht, bekennt sich Schwejk sogleich gehorsam als einen solchen und erzählt alsbald die Geschichte, wie außer ihm »auch« ein Hauptmann von Kaunitz wegen Blödheit vom Militär entlassen worden ist. Was als Gleichsetzung anhebt, legt einen Vergleich nahe, bei dem der Offizier im Gegensatz zum Soldaten Schwejk außerordentlich schlecht abschneidet. »Wenn der, mit Erlaubnis, Herr Oberlajtnant, auf der Gasse gegangen is, hat er sich gleichzeitig fort mit einem Finger der linken Hand im linken Nasenloch gebohrt, und mit der andern im rechten Loch, und wenn er mit uns zur Übung gegangen is, so hat er uns immer antreten lassen wie bei der Defilierung und hat gesagt: »Soldaten, eh, merkts Euch, eh, daß heut Mittwoch is, weil mor61
gen Donnerstag sein wird, eh.Woher dennich hab Ihnen nur erzählen wolln, Herr Oberlajtnant, wie sich die Leute früher beim Militär selbst ins Unglück gestürzt ham. Nämlich der Mensch hat sich gedacht, daß er gebildeter is wie der Herr Oberlajtnant, er hat ihn mitn Mond in den Augen der Mannschaft erniedrigen wolln, und wie er den irdischen Watschen übers Maul gekriegt hat, so ham Ihnen alle so aufgeatmet, niemanden hats verdrossen, im Gegenteil, alle ham Freude gehabt, daß der Herr Oberlajtnant so einen guten Witz gemacht hat mit den irdischen Watschen; das nennt man eine Situation retten . . .Der Scheißer Jenom< und hat sich überall erzählt, wie er hat die Situation retten wolln«. Nachdem Schwejk mit dieser Geschichte den Oberleutnant Lukasch, der das Offizierskorps in sonderbarer Weise herabgesetzt fand, verwirrt hat wie jemanden, der fasziniert nach einer Lösung und Bedeutung sucht, wo er keine findet, macht er eine Bemerkung über die Moral der Verhältnisse, innerhalb derer jeder einzelne Mensch sich verhalten lernen muß: »Das menschliche Leben [. . .] is so kompliziert, daß das bloße Leben von einem einzelnen Menschen dagegen ein Hader is«, was soviel wie ein Lumpen ist«. Der vorlaute Lehrer wollte dabei bleiben, daß er etwas Besonderes war, etwas Besseres als ein Tier zumindest, und ist darob vor die 65
Hunde gegangen. Er hat sich innerhalb der bestehenden Verhältnisse - und ohne sie ändern zu können oder auch nur zu wollen - »selbst ins Unglück gestürzt«. In unendlichen Abwandlungen wiederholen Schwejks Beispiele die indirekte Belehrung durch die Wirklichkeit, vermittelt durch die Darstellung des Ruins der Unbelehrbaren. Die Beispiele verallgemeinern das Besondere in seiner Auflösung; sie bieten keine fertige positive neue Gestalt an. Eine organisierte Arbeiterbewegung war nicht gegenwärtig. Den Unterdrückten fehlte das klare Bewußtsein ihrer Unterdrükkung. Zwar »stinkt alles in der Armee nach Fäulnis«, wie Marek bemerkt; aber »bis jetzt sind die bestürzten Massen noch nicht zur Besinnung gekommen. Mit herausgewälzten Augen lassen sie sich zu Nudeln zerhacken, und wenn einen eine Kugel trifft, flüstert er nur: >Mutter . . .Buch der Wendungen
Neue ökonomische Politik< zu lernen.« Die hier zu ziehende und schwierig anzuwendende Lehre ist die Einführung der wirtschaftlichen Rechnungsführung, die vom proletarischen Staat verlangt, daß er ein tüchtiger Großkaufmann werde. So sehr dieser ökonomische Typus im Widerspruch steht zum kommunistischen Ziel, wird gerade seine Einführung das Land dem Sozialismus näher bringen. Das Wichtigste ist: »zielstrebig und beharrlich lernen, jeden unserer Schritte an der praktischen Erfahrung überprüfen, uns nicht fürchten, Begonnenes mehrmals umzuarbeiten, unsere Fehler zu korrigieren, und uns dabei aufmerksam in ihre Bedeutung vertiefen.«
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von notwendigen Konflikten. Sie zu begreifen und auszusprechen ist tendenziell gleichbedeutend mit richtigem Verhalten und dessen Propagierung. Hierfür bedarf es der richtigen Wendungen der Rede. Insofern ist das Buch der Wendungen ein kasuistisches Lehrbuch über objektive Dialektik und zugleich über Dialektik als Methode des Begreifens und Sagens und als politische Verhaltensstrategie. - Das Wort Dialektik kommt freilich nirgends vor. An seiner Stelle steht der Name »die große Methode«, - die hilft, sich in den Wendungen der Sache und der Sprache zurechtzufinden. Dialektik ist nicht der einzige Begriff, der derart mythisierend übersetzt wird. Sozialismus heißt im Buch der Wendungen »die große Ordnung«. Die Namen der Personen werden nicht anders behandelt. Indem die Namen der Personen und der Begriffe fremd gemacht werden, nur soweit aber, daß sie immer noch erkennbar bleiben; indem so getan wird, als sei diese fremdverständliche Sprache die selbstverständliche von anderswann und anderswo, sollen mit dem Mittel der Manier die Verfügungen überspielt werden, die in der eingefahrenen Terminologie festgelegt sind. Die mythisierende, kunstvollkünstliche Einfachheit, die auf solchem Weg erreicht wird, ist nicht unbedenklich. Es kann aber kaum bezweifelt werden, daß die dialektische Methode im Buch der Wendungen ihr Ziel gerade dadurch erreicht, daß sie ihre Kodifizierung zum Jargon ignoriert. >Subjekt-ObjektUmschlagTotalität< und schließlich >Dialektik< selbst werden nicht einfach, indem ihr terminologischer Name genannt wird, behaup73
tet, wie weithin üblich. Die bloße Terminologie wäre zu billig. Sondern das, dessen Erkenntnis diese Begriffe allenfalls versprechen, wird selber realistisch nachgebildet. Dabei werden einige Widersprüche sichtbar, deren Beachtung von Nutzen sein kann. Zunächst macht, was als brechtische Manier erscheint, bald umgekehrt das Manieristische in der Sprache der linken »Tuis«3 spürbar. Offene Manier steht gegen uneingestandene Manier. Dieser Aspekt der brechtischen Sprache ist nicht ablösbar vom Widerspruch gegen eine festgefahrene Sprache. Die Erkenntnischance liegt im Zusammenstoß beider. Künstliche Fremdheit bricht falsche Vertrautheit. Sobald das verfremdend Fremde selbstverständlich würde, verschwände mit dem Verfremdungseffekt der befreiende Erkenntniseffekt. Dies gilt vor allem für die Namenscharaktere; sie sind das Verschwindende, das als manieristisches Relikt zu bleiben droht. Das Bleibende, um dessentwillen der ganze Aufwand getrieben wird, sind die Erfahrungen. Damit sie bleiben, verschwände die Sprache Brechts am liebsten in den ausgesprochenen Erfahrungen. Dies Verschwindenwollen lenkt wiederum gerade das Interesse auf sie; aus diesem Widerspruch ist offenbar kein Entkommen. Der hohe Wert, den Brecht der einfachsten Wendung beimißt, rechtfertigt sich allein als Wert einer Technik, die etwas Widersprüchliches leisten soll, etwas, das es nach Brechts Einsicht eigentlich nicht geben kann: das Festhalten jener Bewegung, die man Er3 »Tui« = Intellektueller; Brecht bildet das Wort durch Umstellung: »Tellekt-Uell-In«.
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kenntnis nennt. Die Sätze sollen abgeschliffen sein wie Kieselsteine, als wären es von weit her überlieferte Sprichwörter. Diese entfernende Stilisierung bildet die Distanz nach, aus der allein richtig erkannt wird: gebraucht wird Unverbrauchtes. Die fingierte Ferne des Vergangenen fungiert als Noch-nicht. Die einfachen Sätze lesend, legt man einen Weg zurück, der scheinbar in die Vergangenheit führt; aber nachher ist man weiter. Es ist dies kein Verfahren zur Lösung des Problems, sondern eine Technik, die dem fortbestehenden Problem entgegengesetzt wird. Das Widersprüchliche und Fragwürdige dieser Technik ist nicht zu trennen von ihrer Leistung. Zugleich ist es ein Gradmesser für die Schwierigkeit, unter der geistig produziert werden muß: oft werden die Sätze vereinnahmt und verlieren ihren Erfahrungsgehalt schneller, als man sie niederschreiben kann. Gerade dem Pathos der Erfahrung, die es aufzubewahren gilt, entspricht als schriftstellerische Technik die Manier des Einfachen. Für wen werden Erfahrungen aufbewahrt? Warum gewinnt der Aspekt der Haltbarkeit im Buch der ^Wendungen ein so hervorragendes Interesse? Sein Gegenstand ist in gewissem Sinn das Ausharren: in der Zeit wie in der Solidarität. Sein Adressat und vorgesehener Benutzer ist zunächst der Verfasser selbst, sodann jeder Einzelne. Sein Ziel ist es, jeden Einzelnen in allem auf die »große Ordnung« zu beziehen. Aber die Beziehung wird motiviert mit dem wohlverstandenen Eigeninteresse des Einzelnen. Deshalb ist eine in vielen Episoden beantwortete Frage 75
des Büchleins: wie verwirklicht und erhält der Einzelne sich selbst als Sozialist? So drehen viele Stücke sich von allen Seiten um sozialistische Haltung. Den Hintergrund bildet eine Geschichte, in der nicht wenige Sozialisten die Haltung verloren haben. Viele finden sich gerade durch ihre marxistische Unbeugsamkeit isoliert, andere wieder durch ihre Anpassungsfähigkeit gebrochen. Eine solche Situation entstand zum Beispiel unter der Regierung Stalins. In der Sowjetunion wurde der ökonomische Aufbau vorangetrieben. »Aber die Vereine außerhalb Sus verfielen. Nicht die Mitglieder wählten die Sekretäre, sondern die Sekretäre wählten die Mitglieder. Die Losungen wurden von Su verfügt und die Sekretäre von Su bezahlt. [. . .] Sie waren bald nicht mehr die Besten, sondern nur mehr die Gefügigsten. Einige Gute blieben die ganze Zeit durch, weil sie, wären sie gegangen, nicht mehr mit den Mitgliedern hätten sprechen können, aber bleibend konnten sie ihnen nur sagen, was sie für falsch hielten. Dadurch verloren auch sie das Vertrauen der Mitglieder und zugleich ihr eigenes.« Eine Moral der Geschichte und vieler ähnlicher scheint gnadenlos: auf wen nicht mehr gehört wird, der hat am Ende nichts mehr zu sagen. Diese Gnadenlosigkeit, die sich an die Adresse des Einzelnen richtet, ist näher zu betrachten. Zynisch erscheint sie in vielen Wendungen Me-tis, etwa in der vom Erfolg, der erfolgreich und ein Gesicht macht. »Me-ti sagte: nur Narren sind bitter, wenn sie im Erfolg die Stimmung zu ihren Gunsten umschlagen sehen, beim Mißerfolg zu ihren Ungunsten. Er76
folg macht erfolgreich, Mißerfolg schwach.« Wer von sich selber beeindruckt sein kann, macht vielleicht eine noch bessere Figur. »Der Erfolg macht schön, großzügig und sicher, zumindest macht er ein Gesicht. Der Mißerfolg verwischt ein Gesicht.« Gegen solche Formulierungen wehrt sich ein Gefühl, das viele für fortschrittlich halten: das Mitleid, das Unterlegenen entgegengebracht wird. Me-ti argumentiert mit Lenin gegen das Mitleid. »Wenn er das Elend der Ausgebeuteten und Unterdrückten sah, entstand in ihm ein Gefühl, das er sogleich in Zorn verwandelte. Das gleiche Gefühl wird bei unwissenden Naturen zu Mitleid.« Dem folgt eine analytische Definition, die von Spinoza stammen könnte: »Es ist dies eine dumpfe Wehmut, der Verzweiflung ähnlich.« Gefordert ist statt dessen »Zorn gegen das Unrecht«, ohne den man kein guter Sozialist sein kann. Wieder empfiehlt es sich, auf die Differenzierung zu achten: »Zorn gegen das Unrecht ist mehr als bloße Verurteilung des Unrechts oder Angst, sich am Unrecht zu beteiligen.« Erster Fixpunkt ist das Interesse des Einzelnen - sogar im Modus der Privatheit: »Wer nicht fähig ist, über ein privates Unrecht, das ihm geschehen ist, zornig zu werden, der wird schwer kämpfen können. Wer nicht fähig ist, über andern angetanes Unrecht zornig zu werden, der wird nicht für die große Ordnung kämpfen können. Und der Zorn muß kein schnell aufflackernder, ohnmächtiger sein, sondern ein langdauernder, der die rechten Mittel zu wählen weiß.« Aber widerspricht nicht die Gerechtigkeit dem Erfolg? Genügt es, als verbindende Mitte 77
das Kämpfen einzuführen? Wer für sich selbst kämpfen kann, warum sollte der für andere kämpfen? Steht Erfolg nicht unter der Herrschaft der Konkurrenz? Freilich fallen Mißerfolg und Ohnmacht noch hoffnungsloser unter diese Herrschaft. Dies spürend, versucht Brecht, einen Begriff von Erfolg aus dem System von oben und unten zu befreien. Er faßt Erfolg nicht als Kategorie der Konkurrenz, sondern als eine der »Produktion«. Me-ti, der jedes andere moralische >Du sollst< ablehnt, findet ein einziges Gebot akzeptabel: »Du sollst produzieren.« Die zusammengehaltenen Momente: Erfolg, Schönheit, Glück, fallen unter dieses Gebot. Was als Zynismus erschien, will nützliche Einsicht sein. Der Verweis auf Erfolg ist nicht identisch mit dem zynischen »Es deckt einen da keiner zu« des früheren Brecht. »Freiheit, Güte, Gerechtigkeit, Geschmack und Großzügigkeit sind Produktionsfragen, sagte Me-ti zuversichtlich.« Selbst das bloße Überleben ist ein produktiver Vorgang und muß als solcher gesehen werden. »Produktion« heißt zunächst Selbstverwirklichung. Als Kategorie der Selbstverwirklichung tritt Erfolg in zwei gegensätzliche Momente auseinander. Das erste ist das der Effektivität. Daher gilt zuerst die Frage: >Wie sind Dinge und Prozesse beherrschbar?< Denken bekommt einen technizistischen, operationalistischen Einschlag. Viele Lehren des Me-ti scheinen zu bedeuten: alles, was nicht zur Anpassung an die jeweiligen Notwendigkeiten und zur Beherrschung »der Dinge« dient, soll aufgegeben werden. Aber verwirklicht man so sich selbst? Wird so nicht nur technische Subjektivität, 78
die allein auf Herrschaft, Leistung, Erfolg aus ist, entfesselt? Wenn vom Erfolg gesagt wurde, daß er ein Gesicht macht, konnte gefragt werden: >Ist ein Gesicht so wichtig?< Wichtig wird es beim Versuch, das Moment losgelassener Herrschaft zu beherrschen. Dieser Versuch trägt das zweite, dem ersten entgegengesetzte Erfolgsmoment: Schönheit, Gerechtigkeit, Bestehen vor sich selbst, sind Instanzen, die sich nicht vom Einzelnen loslösen können. Aber wie können sie mit der Effektivität produktiv verbunden werden? Eine der Verhaltenslehren, die Brecht im Buch der Wendungen immer wieder gibt, ist die Empfehlung, in der dritten Person zu leben. Man kann nicht nur, wie Cäsar, in der dritten Person von sich schreiben. »Man kann auch in der dritten Person leben.« So wird nämlich die erste sichtbar und ihr eigener Zeuge. Wie sieht der Machende und wie sieht das Machen aus, heißt jetzt die unabweisbare und trotz allem merkwürdige Frage. Am Feuer-Machen der Lai-tu kritisiert Me-ti: »Der Augenblick ging verloren, [ . . . ] eines geschah fürs andere, aber nichts für sich selber. Und was hätte alles [. . .] zum Ausdruck kommen können!« Die Argumente wirken merkwürdig altmodisch. »Es ist eine Sitte darinnen, die Gastlichkeit ist etwas Schönes.« Schön heißt auch das achtlos verheizte Holz. »Die Bewegungen können schön sein und Liebe erzeugen; der Augenblick kann ausgenutzt werden und kommt nicht wieder. Ein Maler [. . .] hätte kaum etwas zu malen gehabt. Es lag kein Spaß in diesem Feuermachen, es war nur Sklaverei.« So werden also Schönheit, Liebe, Spaß gegen die ver79
sklavende Herrschaft der bloßen Effektivität angerufen. - Der erfüllte Moment, in dem etwas für sich selber geschehen kann, ist allein keine Antwort, wo ein langdauernder Zorn, der die rechten Mittel zu wählen weiß, notwendig ist. Darum verlegt Brecht das Sichtbare, das in vielen Momenten verloren geht, in die Geschichte. »So empfahl er dem Einzelnen nach vielem Nachdenken, sich selber ebenso wie die Klassen und großen Menschengruppen historisch zu betrachten und sich historisch zu benehmen. Das Leben, gelebt als Stoff einer Lebensbeschreibung, gewinnt eine gewisse Wichtigkeit und kann Geschichte machen.« »Jeder möge sein eigener Geschichtsschreiber sein, dann wird er sorgfältiger und anspruchsvoller leben.« So gehört die erste Person in der dritten zugleich den andern. Dementsprechend modifiziert Brecht seinen Vorschlag an anderer Stelle: man solle seine jeweiligen Beschäftigungen notieren, als sei es für eine Biographie, angefertigt für die »Klasse«. Ist so die Kluft, die den Einzelnen von den Massen und dem Sozialismus trennt, wenigstens von dieser Seite her tendenziell überbrückt, so existiert doch die andere, übermächtige Seite des Widerspruchs fort. Geschichte und Massenkämpfe drohen den Einzelnen zu vernichten. Wie verhält und erhält sich in ihnen der Einzelne? Bei der Produktion, auch seiner eigenen, ist der Einzelne auf die Massen verwiesen. Die Masse ist für Me-ti die Mitte, an den Endpunkten steht der Einzelne. Der Einzelne ist in der Masse zwar negiert, Me-ti richtet aber durch diese Erfahrung des Negiert80
seins hindurch sich an den Einzelnen als an den Verwirklicher einer Synthese. Die lehrhafte Auseinanderlegung dieser Dialektik nimmt großen Raum ein im Buch der Wendungen. Zahlreiche Wendungen zeigen die Negation von Individuen, lehren das Individuum, sie zu bejahen. Aus dem unabwendbar Schlimmsten, das sie dem krampfhaft an sich Festhaltenden bedeutet, kann das Beste, was überhaupt möglich ist, gemacht werden. Daher ist Lernen allgemeinste Produktionsbedingung. Für den Einzelnen ist es ein wichtiges Lernziel, die Dialektik seiner Beziehungen zu den Massen und zur Geschichte, auch zu den Institutionen der Herrschaft, zu begreifen. »In der Nähe großer Menschenmassen verändert sich das Denken des Einzelnen. Der Politiker Si-jeh bemerkte bei sich, daß er vor seinen Hörern, wenn sie in großer Zahl anwesend waren, gänzlich anderes sagte, als er sich zu Hause vorgenommen hatte. Der Philosoph Min hielt dies für einen körperlichen Vorgang. Er wies auf das Herzklopfen hin, das sich bei Rednern vor dem Reden einstellt. So hat auch der Angeklagte vor Gericht meist eine gewisse Mühe, sich von Gedanken frei zu halten, die seine Richter haben. Gelingt dies nicht, dann setzt er sich gleichsam selbst unter seine Richter, nur weil sie Viele sind (Viele zu vertreten scheinen).« Folgt der lapidare Nachsatz: »Die Gefahr dauert für gewöhnlich länger als die Flucht.« Konkretisiert wird der Satz auch an anderer Stelle: »Die Gegner Ro-pi-jehs wurden für ihn zu einer Gefahr, als es für sie gefährlich wurde, gefährlich zu scheinen.« - Me-ti lehrt viele solcher Pro81
zeßerfahrungen, die berücksichtigt werden müssen, sollen Veränderungen bewirkt werden oder soll der Einzelne in ihnen auch nur bestehen. Die von Me-ti aufbewahrten Erfahrungen sind fast immer als ihre eigene kurzgefaßte Geschichte mitgeteilt. Indem sie die Wendungen einer Sache und ihrer Erkenntnis aufeinander beziehen, bilden sie jeweils die Geschichte einer Überzeugung, wie sie entstanden ist aus Einsichten in Notwendiges. So leuchten sie ein. Mit dem Vermögen, einleuchtend zu argumentieren, steht und fällt in gewissen Situationen das politische Ziel. »Um von Volksherrschaft zu reden, muß man dem Wort Überzeugung einen neuen Sinn verleihen. Es muß bedeuten: Das Überzeugen der Menschen. Volksherrschaft bedeutet Herrschaft der Argumente.« »Zu der Zeit der großen Umwälzung, sagte Me-ti, eroberten Mi-en-leh und seine Freunde soviel Macht, als sie Menschen überzeugten. Die Befehle Mi-en-lehs waren kurzgefaßte Überzeugungen. Mi-en-leh konnte nicht sagen, die Übermacht seiner Gegner zwinge ihn, zu befehlen. Sie zwang ihn, zu überzeugen. Ni-en hatte weniger Gegner und befahl.« Von richtigen Einsichten in Veränderungen kann das Leben abhängen, von der richtigen Argumentation die Macht. Darum ist Genauigkeit eine, auch den »Klassikern« nachgerühmte, Tugend. Me-ti argumentiert zum Beispiel gegen abstrakte Argumente. »Der Sturm, der die Birken biegt / Gilt für gewalttätig / Aber wie ist es mit dem Sturm / Der die Rücken der Straßenarbeiter biegt?« Falsch ist der abstrakte Protest gegen unmittelbare Gewalt, der die selber abstrakte mittelba-
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re Gewalt nicht erkennt. Falsch ist auch der Protest gegen Gewalt, der sich nicht gegen die Bedingungen wendet, in denen die Notwendigkeit irrationaler Gewaltanwendung verankert ist. Auch ist Gewalt nur legitim, wenn sie gegen solche Bedingungen sich richtet. Eine Schlüsselfrage kann sein: Wie wird mittelbare Gewalt als Gewalt sichtbar? Um es zu werden, darf sie dabei nicht aufhören, mittelbar zu sein, sonst wird immer nur die unmittelbare Gewalt sichtbar. Nein, sichtbar zu machen ist die Gewalt, die den Rücken der Straßenarbeiter biegt, jenen, denen sie den Rücken biegt. Freilich lehren die »Klassiker«, daß es Interessen gibt, die durch Überredung nicht zu besiegen sind. Die Klassiker »kämpften gegen die Gewalt, die zuschlägt, und gegen die Gewalt, die die Bewegung hindert. Sie zögerten nicht, der Gewalt die Gewalt entgegenzustellen.« - In der Auseinandersetzung um derartige Fragen können falsche Formulierungen über einen politischen Kampf vorentscheiden. »Als die Offiziere von Ni einen Haufen von Staatsmännern töteten, die gegen einen Eroberungskrieg waren, nannten die Zeitungen sie Aktivisten, d. h. solche, welche die Tat lieben. So erreichten sie, daß man nicht über die Tat urteilte, sondern darüber, ob es besser sei, nur zu reden oder auch zu handeln.« Warnt dieses Beispiel vor der Wahl falscher Argumentationsebenen, so wenden sich andere Beispiele gegen die Fixierung auf Argumente, die in bestimmten Situationen einmal richtig waren. Das Richtige ist nämlich vielleicht nicht lange richtig. Die Dinge haben einen Drang »unter dem Denken weg«. »Me-ti 83
nannte jene Art von Erkenntnis die beste, welche Schneebällen gleicht. Diese können gute Waffen sein, aber man kann sie nicht zu lange aufbewahren. Sie halten sich auch zum Beispiel nicht in der Tasche.« Diese Erkenntnis freilich ist haltbar. Eine weitere Argumentationserfahrung besagt: an sich richtige Argumente können von den Vertretern der Unterdrükkung vereinnahmt werden. Darin liegt zum Beispiel »einer von Me-tis Fehlern«: »wenn jemand behauptet, 2 mal 2 sei vier, weil acht minus 5 gleich 7 sei, dann sage ich sofort, 2 mal 2 sei dann nicht vier. Das kolportiert er dann. So hat man mich sagen hören, daß es keine Klassen gibt, daß die Oberen sich für die Unteren aufopfern, daß man in Ketten frei sein kann, daß die Literatur durch Intelligenz verdorben wird und ähnlichen Unsinn.« Gedachtes und Gesagtes löst sich leicht los von seinem Urheber wie von der Wirklichkeit. Zu den Prozeßerfahrungen, die Me-ti mitteilt, gehört das Mißtrauen gegen Urteile. Gegen sie steht ein pathetischer Begriff von Erfahrung. »Es ist eine bestimmte Technik nötig, die Erfahrungen frisch zu halten, so daß man immerzu aus ihnen neue Urteile schöpfen kann.« Diese Technik trägt dem »Fluß der Dinge« Rechnung. In der Veränderung gilt es, identisch zu bleiben. Dies wird erreicht durch Veränderung. Argumente müssen wie Schneebälle sein, aber die Hand, die sie wirft, muß fest sein. Die Dialektik von Veränderlichkeit und Festigkeit ist unerbittlich. Wer sie nicht beherrscht, wird von ihr beherrscht. Aus dem Versuch, diese Dialektik zu beherrschen, erklärt sich eine bestimmte Härte. Man 84
muß zum Beispiel immer dabeisein. Das ist die andere Seite der befreienden Technik, Erfahrungen frisch zu halten und Erkenntnisse wie Schneebälle zu behandeln. Hier ist die Geschichte zu erwähnen, wie Me-tis Schüler ihren Lehrer nicht mehr erkennen. Zuvor war er freundlich, und sie waren überall geschätzt, »weil er ihnen half, das höchste Maß des ihnen Möglichen zu erlangen.« Mit Me-ti geht eine unerklärte Veränderung vor sich: »Aber eines Morgens trat ein fremder Mann in ihre Mitte, ihrem alten Lehrer noch ähnlich in Figur und Stimme, und doch hatte er andere Bewegungen, und er gebrauchte andere Wörter. Als sie ihm das sagten, rasch und freundlich, wie er es sie gelehrt hatte, wandte er sich verdrießlich von ihnen. An diesem Tage sahen sie ihn nicht mehr.« Me-ti kommt noch weiter in das Klassenzimmer, aber so, wie man ein Pensum erledigt. Schließlich bleibt er weg. »Als das Jahr sich neigte, baten die Leute von Ma, Me-ti möge ihnen einen seiner Schüler schicken. Er suchte sie in dem Klassenzimmer auf. Sie waren noch dort, aber sie sprachen von Dingen, die ihm gleichgültig waren, mit ihm fremden Wörtern. Nach wenigen Minuten, ehe er ihnen noch den Grund seines Kommens hatte erklären können, schrie er zornig, er könne keinen von ihnen brauchen.« Me-ti und seine Schüler trennen sich wie Fremde. Die Geschichte hat keine Auflösung. So ist es die Geschichte von einer Veränderung, die weder Me-ti noch seine Schüler verstehen. Verständlich daran ist nur: man muß auf dem laufenden bleiben. Wo nichts stehenbleibt, muß man 85
mitgehen, oder man trennt sich. Man muß fortwährend im Gespräch bleiben. Es ist hierin eine Nähe zu ganz ordinären Anpassungszwängen, wie die Gruppenpsychologie sie beschreibt. So also geht es, wenn einer, und sei es der Lehrer, sich absentiert. Eine andere Gefahr ist, daß er zu lange bleibt. So wird er zum schlechten Beamten, wie Me-ti ihn immer wieder beschreibt. Das Schlimmste ist sein Ehrgeiz, sich unentbehrlich zu machen. »Selbst wenn es nichts mehr zum Verwalten gibt, geht der Verwalter nicht weg.« Überhaupt ist es ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Betrachtung des herrschenden Apparats: er sichert sich das Monopol, das Nützliche zu tun. Zweifellos sind Brecht und seine dritte Person, Me-ti, im Spiegel des Buches der Wendungen stilisiert und geschönt. Aber ihr Bild wird nicht verfälscht durch die Abwesenheit von Fehlern und Niederlagen. Mit den Klassikern war es nicht anders, wie jeder weiß. »Sie konnten nicht alle überzeugen, die mit ihnen sprachen, und erlebten häufig Niederlagen.« Auch war ihr Leben »einfach verlaufen«. »Eine der größten Taten der Klassiker war es, daß sie ohne jede Entmutigung auf den Aufstand verzichteten, als sie die Lage verändert sahen. Sie sagten eine Zeit des nochmaligen Aufschwungs der Unterdrücker und Ausbeuter voraus und stellten ihre Tätigkeit darauf um. Und weder ihr Zorn gegen die Herrschenden wurde geringer, noch ließen ihre Anstrengungen, sie zu stürzen, nach.« Das Ziel heißt bei Me-ti die große Ordnung, das Bestehende: die große Unordnung. Die Unordnung fordert Gehorsam, die Ordnung 86
Disziplin. Über das Verhältnis des Bestehenden zum Ziel äußert Me-ti sich so: viele halten den Sozialismus »für eine aller vorhandenen Ordnung oder Unordnung ganz entgegengesetzte Ordnung. [. . .] Nun ist sicher, was wir haben, Unordnung, und was wir planen, Ordnung, aber das Neue ergibt sich aus dem Alten und ist- seine nächste Stufe. Wir versuchen weniger, etwas ganz Anderes, zu dem es keinen Zugang gibt, durchzusetzen, als den nächsten Schritt zu tun, d. h. den Schluß aus dem Vorhandenen zu ziehen. Das Neue entsteht, indem das Alte umgewälzt, fortgeführt, entwickelt wird.« Deshalb ist ein ganz großer Begriff für Me-ti das Erkennen der Wirklichkeit.. Es gilt, sich von solchen allgemeinen Urteilen zu befreien, die immer wieder die Tendenz haben, das Erkennen der Wirklichkeit zu behindern. Im Nein zur schlechten Wirklichkeit steckt ein J a zur Wirklichkeit. Ohne dieses J a wäre das Nein kein richtiges Nein. »Die Klassiker lebten in den finstersten und blutigsten Zeiten. Sie waren die heitersten und zuversichtlichsten Menschen.« Das Ganz Andere kann gesehen werden als die andere Seite des schlechten Bestehenden. Me-ti, der für kühle Ausdrucksweise eintritt, warnt vor Beschäftigungen mit dem Unmöglichen. Solche Beschäftigungen müssen als »schlechte Gewohnheiten« bekämpft werden. »Gehen nach Orten, die durch Gehen nicht erreicht werden können, muß man sich abgewöhnen.« Der Satz wird noch zweimal variiert: Gleiches gilt fürs Reden und fürs Denken. Als Kontrast kann hier eine merkwürdige Geschichte dienen. Zu Me-ti kommt sein Schüler Tu, der von 87
ihm lernen möchte, am Kampf der Klassen teilzunehmen. »Me-ti lachte und sagte: sitzt du gut? Ich weiß nicht, sagte Tu erstaunt, wie soll ich anders sitzen? Me-ti erklärte es ihm. Aber, sagte Tu ungeduldig, ich bin nicht gekommen, sitzen zu lernen. Ich weiß, du willst kämpfen lernen, sagte Me-ti geduldig, aber dazu mußt du gut sitzen, da wir jetzt eben sitzen und sitzend lernen wollen. Tu sagte: wenn man immer danach strebt, die bequemste Lage einzunehmen und aus dem Bestehenden das Beste herauszuholen, kurz, wenn man nach Genuß strebt, wie soll man da kämpfen? Me-ti sagte: wenn man nicht nach Genuß strebt, nicht das Beste aus dem Bestehenden herausholen will und nicht die beste Lage einnehmen will, wie sollte man da kämpfen?« Die Tätigkeit für die Befreiung steht in der Gefahr, aus gewissen Notlagen Zwangstugenden zu machen, die sie um ihre Früchte bringen. Das Buch der Wendungen ist ein Fragment, dessen Stücke sich auch untereinander fragmentarisch verhalten. Oft scheinen sie sich zu korrigieren bis zur Unvereinbarkeit. Vereinbaren soll sie der Einzelne, dem die Verhaltenslehren helfen sollen beim Bestehen in den Widersprüchen. Laufen diese Lehren nicht nur auf eine Verdoppelung des Einzelnen hinaus, dem sie zumuten, simultan auf beiden Seiten des Widerspruchs zu stehen? Läuft der Einzelne nicht Gefahr, bei diesem Versuch zerrissen zu werden? Brechts Formulierungen bezeugen den angestrengten Versuch, aus der bloßen Verdoppelung und dem mechanischen Hin-und-her-Klappen vom Einerseits 88
zum Anderseits und retour auszubrechen. Aber selbst ein Brecht kann das nicht allein. Vorerst stellt er sich in der Sprache gültig und allgemein wie ein Sprichwort, das in aller Munde ist, und wartet auf Verwirklichung. Ist auch die Sprache geglättet, so bleiben die Lehren doch brüchig. Diese Verhaltensweise hebt Brecht ab von vielen Zeitgenossen, die meinen, sie könnten sich eher den Verzicht auf Wirklichkeit als auf Widerspruchsfreiheit leisten. Brecht vertritt den widersprüchlichen Versuch, der nicht abläßt von den Sachen. Seinem Realismus opfert er allemal die einwandfreie Idee. Der Versuch steht gegen Realitätsverlust und Selbstzerstörung, in denen er das einzige spürt, was unter gegebenen Umständen vollkommen >einwandfrei< sein kann. Brechts Me-ti plädiert mit Lenin für Kompromisse. Allerdings warnt er in dessen Sinne davor, Wein und Wasser zu mischen, weil ein derartiger Kompromiß nicht mehr rückgängig zu machen ist. Das inkonsequente Sowohl-als-auch ist besser als das konsequente Entweder-oder, aus dem ein Weder-noch wird. Dies immer vorausgesetzt, arbeitet Brecht dann doch an der Möglichkeit zur Synthese. Seine Arbeitsweise grenzt an Wortzauber. Durch Veränderung der Worte scheint er veränderte Wirklichkeit anlocken zu wollen. In der Tat kann die Arbeit an Begriffen kommender Praxis einen Weg bahnen. Einer solchen Tätigkeit wird regelmäßig vorgeworfen, daß sie nicht schon am Ziel ist. Der Vorwurf verfehlt jedes Ziel, für das es sich lohnt, nun erst recht. Wer an Brechts Praxisfragmente mit der Haltung dessen herangeht, der, wie Bloch es einmal 89
ausgedrückt hat, ein historisch Aufgegebens fertig gegeben haben möchte, dem werden sie als null und nichtig erscheinen. Es steckt aber etwas Verwirklichbares in ihnen. — Um einen Begriff davon zu geben, worauf es hinaus soll, geht Brecht ohne Zögern auf gut materialistischem Grund einen Weg des besten Idealismus zurück. Wie nämlich den Begriffen Schönheit und Produktion ein zusammenhängender Sinn gegeben werden kann - wodurch die bloße Verdoppelung überwunden wäre-, exemplifiziert er an der Liebe. Er lehrt sie als eine Produktion betrachten. »Sie verändert den Liebenden und den Geliebten, ob in guter oder in schlechter Weise. Schon von außen erscheinen Liebende wie Produzierende, und zwar solche einer hohen Ordnung.« Aus der Liebe, die noch etwas ist, was alle kennen, macht Brecht einen historischen Präzedenzfall für die glückliche Sozialisierung des Einzelnen, der darin erst recht er selber wird. Über Schönheit und Glück der Lai-tu heißt es: »Nicht ich mache sie glücklich, sie macht sich für mich glücklich.« Glück erscheint als Selbsttätigkeit mit der Wendung zum andern. Die Wendung, die nicht unproblematisch ist, lehrt: Man muß nach Möglichkeiten suchen, in denen das Für-andere nicht dem Für-sich entgegengesetzt ist, weil sonst der Einzelne für den Sozialismus wie der Sozialismus für den Einzelnen unaufhebbar schlecht bleiben. Die Liebenden erhalten die Bedeutung eines alltäglichen Unterpfands für die Realisierbarkeit der Utopie. »Die Verpflichtungen, die sie eingehen, sind Verpflichtungen gegen sich selber«, und keine Moral ist so streng wie dieser Egois-
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mus. »Es ist das Wesen der Liebe wie anderer großer Produktion, daß die Liebenden vieles ernst nehmen, was andere leichthin behandeln, die kleinsten Bemühungen, die unmerklichsten Zwischentöne.« Produktion ist fruchtbarer, wenn sie eine Frage des Interesses ist und nicht als Du-sollst von außen kommt. »Den Besten gelingt es, ihre Liebe in völligen Einklang mit anderen Produktionen zu bringen; dann wird ihre Freundlichkeit zu einer allgemeinen, ihre erfinderische Art zu einer Vielen nützlichen, und sie unterstützen alles Produktive.« - Einen zusammenhängenden Sinn gilt es auch für die Begriffe Schönheit und Wahrheit festzuhalten. »Kien-leh gebrauchte mitunter das Bild >schön wie die Wahrheitaußerhalb< des Positiven sowohl als des Negativen, der konstruktiven sowohl als der destruktiven Tendenzen in der Gesellschaft.« Das bedeutet einen radikalen Bruch mit dem Marxismus. Denn dessen Begriffe sind zwar auch »negativ« und oppositionell, aber auf sozialer Basis; sie bauen auf Widersprüche innerhalb der Gesellschaft. Die von Marcuse deduzierte Norm verbietet solche Begriffe. »Mit der zunehmenden Integration der Industriegesellschaft«, lautet eine Begründung, »tendieren diese Begriffe dahin, [. . .] deskriptive, trügerische oder operationeile Begriffe zu werden.« Der Widerspruch muß aus dem Ganzen heraus, sonst wird er vereinnahmt. Wie aber kommen Begriffe >von außenVon außen< übersetzt sich in Exotik und Utopie. Kolonisierte und Outcasts werden zu Trägern des letzten Widerspruchs von außen. Und der von Engels bezeichnete Weg des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, heißt es in einem der Berliner Vorträge Marcuses von 1967, muß zurückgegangen werden von der Wissenschaft zur Utopie. Die Begriffe müssen von der Wirklichkeit wegorientiert werden hin zur Möglichkeit. Dieser spricht Marcuse einen geradezu ontologischen Vorrang vor jener zu. Die geforderten Begriffe richten sich vom bestehenden Ganzen weg und auf ganz andere Möglichkeiten hin. Marcuse nennt diese Richtung »Transzendenz«. Der Umfang der geforderten transzendenten Begriffe schließlich muß den Umfang der Ablehnung des Ganzen widerspiegeln. Gefordert sind Totalbegriffe: alles, immer, nichts, noch 97
nie, nicht mehr, total. Immanenz und Differenzierung, die nicht unmittelbar aufs Ganze gingen, sondern bloß mittelbar, muß diese revolutionäre Transzendenz sich verbieten. Rein, unmittelbar und unbedingt soll sie in den Begriffen sich aussprechen. Hierauf zielen auch die normativen Empfehlungen an die »kritische Theorie«: sie wähle den Bruch anstelle der Kontinuität, die Negativität anstelle der Positivität. Gegen die Eindimensionalität steht sie als das unbedingte Zweite. Die Verhaltenslehre läßt in den einen Satz sich zusammenfassen: von außen trete die kritische Theorie dem Ganzen gegenüber und entgegen als Statthalterin dessen, was ganz anders wäre. Gegen Marcuses Sozialtheorie sind, auf empirischem Grund, gewichtige Einwände erhoben worden. Man kann diese Einwände dahingehend zusammenfassen, daß Marcuse die Effektivität und innere Zweckhaftigkeit der Techniken der Integration und ökonomischen Stabilisierung überschätzt, während er alle divergierenden Tendenzen und Interessen ebensosehr verkleinert. Daraus spricht nicht nur der ideologische Glaube an die Zaubermacht eines >linken< Keynesianismus, sondern es manifestiert sich in der Achtlosigkeit, mit der das zur »kontingenten Faktizität« abgekanzelte soziologische Material behandelt wird, und in der theoretischen Geschlossenheit ein entschlossener Vorrang der Idee vor der Erfahrung, der Darstellung vor der Realität. Die Deduktion der kritischen Norm aus der Analyse der Gesellschaft ist nur scheinbar. Die scheinbar deduzierte Haltung ist vielmehr ebensosehr bereits konstitutiv für die scheinbar 98
vorgängige Sozialtheorie. Zu untersuchen ist deshalb diese Haltung. Nicht der Sprache des Bildes ist einfach zu glauben, als vielmehr die Abbildungstätigkeit auszufragen und zum Sprechen zu bringen. In der Sichtweise steckt eine Hoffnung und eine Verzweiflung, die Haltung bringt eine Erfahrung zum Ausdurck, die ausformulierte Theorie antwortet auf ein Bedürfnis. Brecht kritisiert zwar Bücher, die das Interesse des Lesers von der Welt auf sich ablenken, aber wir lassen uns im folgenden von der Realität auf die Darstellungsweise ablenken in der Hoffnung, nachher ein Stück Wegs zur Realität hin freigelegt zu haben. Beim Versuch, Marcuses Theorie zunächst einmal darin zu beschreiben, wie sie sich als Text darstellt, fällt sogleich ihr vorwiegend deskriptiver Charakter auf. Bei aller hochgradigen Abstraktheit ist sie nicht analytisch, sondern vermittelt geschlossene Ansichten. Nach dem Sinn dieser Art von Deskription ist zu fragen. In der Kritik der politischen Ökonomie zerlegte Marx widersprüchliche Phänomene in ihre konstituierenden Elemente. Nach dem Auffinden einfachster Funktionsgesetze wurden die komplizierten Erscheinungen in der analytischen Sprache solcher einfachsten Gesetze nachgebaut und also erklärbar. Für den Vorgang konnte die Metapher verwendet werden: Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft. Analyse geht in die Dinge hinein. Von außen aber spricht die Deskription, die den fertig erscheinenden Komplex nicht zerlegt, sondern irgendwie ganzheitlich beschreibt. Sie spricht die Sprache der Erscheinungen, 99
will aber das Wesen aussagen. Dadurch kommt ein mythischer Zug in die deskriptive Theorie, und eine bestimmte Art von Metaphern tritt in den Vordergrund. Die von Marcuse beschriebene »glückliche Ehe von Positivem und Negativem«, die das Wesen des bestehenden Unglücks ausmache, ist eine solche Metapher, »Eindimensionalität« eine andere. In ihrem Bilde soll sich das Wesen der Erscheinungen widerspiegeln - und zwar ohne den Umweg über Analyse. Die Erkenntnis von außen verlangt eine neue Unmittelbarkeit, die unmittelbar und über die Einzelheiten hinweg vom Wesen kündet. Eindimensionalität und glückliche Ehe der Gegensätze sagen aus: zwischen Auseinanderliegendem, Gegensätzlichem, Widersprüchlichem besteht ein integrierender Zusammenhang. Dieser wird aber nicht funktionsanalytisch ausgesprochen, sondern unmittelbar sprachlich nachgebildet. Wortrepräsentanten der Gegensätze werden sprachlich in Einheit gesetzt, indem das Eine als Eigenschaftswort ans Andere gerückt wird. Daraus resultieren Zustandsnamen. Ihren Ort haben diese Namen zwischen Mythos und Paradoxie. Die mythische Redeweise beläßt Strukturen, wie Marx sie im Abschnitt über den Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis dargestellt hat, nicht nur in ihrer erscheinenden Verkehrtheit, sondern sie hypostasiert noch die falschen Zusammenhänge und die SubjektObjekt-Vertauschungen. Eine ähnliche Redeweise setzt die Gegensätze in die Identität eines absurden Gewordenseins: »Vernunft ist zur Unvernunft geworden«. Neben solchen Figuren nehmen terminoloioo
gische Paradoxien in Marcuses Sprache einen prominenten Platz ein. Da ist die Rede von »unnötiger Notwendigkeit« und von einem Zustand, in dem eher das Bestehende als sein Gegenteil utopisch sei; von Befreiung, die Versklavung ist; von Euphorie im Unglück, »faithless faith«, repressiver Befreiung, repressiver Entsublimierung - »die Freiheit ausweitet, während sie Herrschaft intensiviert« —; schließlich von repressiver Produktivität und der Irrationalität des Rationalen. Der sprachbahnende Effekt solcher Formulierungen ist schlagend; Zusammenhänge lassen sich jetzt spielend aussprechen. Solche abkürzenden Sprachbahnungen bieten der theoretischen Spannung jederzeit rasche Abfuhrmöglichkeiten. Es sind ja auch auf den erforderten Umwegen viele vom Weg abgekommen. Viele zeigten sich beeindruckt von nur scheinbar bestehenden Gegensätzen und waren deshalb für eine radikale Opposition, die den komplizierten Zusammenhang aussprechen mußte, nicht zu gewinnen. Sprachbahnungen, die die Gegenteile zusammenbringen, können in solcher Situation von rasch sich auszahlendem taktischen Nutzen sein. Sie sind also nicht einfach abzulehnen. Die Paradoxie bestimmter Erscheinungsformen des Monopolkapitalismus wird jedoch von einer Theorie, die solchen taktisch brauchbaren Sprachbahnungen erliegt, nicht mehr durchbrochen und aufgelöst, sondern nurmehr benannt und reziprok bewertet. Darin steckt ein theoretisches Zugeständnis ans »Bestehende«: seine Erscheinung wird ihm ohne langen Prozeß als Wesen zugestanden. Marcuses Texte bilden hierin einen IOI
Trend nach, den er kritisch als Trend zur »eindimensionalen Sprache« beschreibt. Diese bewege sich in Tautologien und Synonymen, niemals in qualitativer Differenz: die unversöhnlichsten Widersprüche werden in Familiarität eingebunden in Ausdrücken von der Art der »sauberen Bombe«. »Einst als prinzipieller Verstoß gegen Logik angesehen, erscheint der Widerspruch nun als Prinzip der Logik von Manipulation - realistische Karikatur von Dialektik.« Manipulative und gegenmanipulative Rede sind strukturell verwandt. Beide reden leicht über Gegensätze hinweg. Auch sollen beide einen Widerstand besiegen. Intention und Inhalt beider sind freilich grundverschieden. Die Sprache der Manipulation soll den Widerstand der Individuen gegen Selbstverrat überwinden. Sie baut das gegen die Individuen Gerichtete ein in das, was ihnen familiär ist; schließlich kombiniert sie Forderung und Verlockung, »Über-Ich« und »Es«. Die Form erzeugt einen falschen Schein von Ich-Gerechtigkeit. Die Geläufigkeit dieser Sprache resultiert daraus, daß sie dem Ich Widerstände aus dem Weg zu räumen scheint — während sie in Wirklichkeit ein Stück vom Ich selbst aus dem Weg geräumt hat. Kurz: die Übermacht des Objektiven setzt in ihr sich durch vermittels des täuschenden Scheins vom Primat des Subjekts und subjektiver Allmacht. - Die gegenmanipulative Sprache deckt die Täuschung auf. Der Widerstand, den sie zu überwinden hat, ist das Moment von Konzession und Verlockung in der Manipulation. Während diese den trügerischen Schein von Subjektivität und Vertrautheit erzeugt, versucht je-
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ne, Wissen von Objektivität und Fremdheit dagegen zu setzen. Ihre Geläufigkeit resultiert daraus, daß sie die von der Manipulation affizierten Stücke des Ich - die Zugeständnisse, mit deren Hilfe die Manipulation sich ansprechend machte, und auf welche bestimmte Ichteile ansprachen - unterschiedslos auf die Seite des Gegners schiebt. Ihre ins Kurze zusammengezogenen Ausdrücke wie »repressive Befriedigung« appellieren ebenfalls zugleich an Es und Über-Ich: die Form der Assoziation von Widersprüchen (Unterdrückung und Befriedigung) und das Versprechen nichtrepressiver Befriedigung appellieren an das Es; die Bedeutung, daß Befriedigung denunziert und Verzichthaltung abgefordert wird, der abstrakt-moralische Impuls derartiger Ausdrücke, appelliert ans Über-Ich. Das Ich lassen sie sprachlos. Negativität ist der Sinn des Ich-Residuums, das die gegenmanipulative Sprache anzustreben scheint. Kurz: der Primat des Subjektiven setzt in ihr sich durch vermöge einer Hypostasierung der Objektivität und des Scheins von deren Allmacht. Diese Widerstandstechnik gebraucht also eine List, die für den, der sie anwendet, nicht ungefährlich ist. Sie entlarvt nicht den manipulativen Schein als falsch, sondern sie übertreibt ihn noch in der Richtung seines Scheinens. Die Opposition soll nurmehr das Ganze sehen können. Hoffnung und Verzweiflung machen sich in diesem Verfahren den Rang streitig. Nur noch die Chance des Jüngsten Tags scheint gegeben. Man kämpft nicht mehr gegen den Schein an, indem man ihn durchscheinend macht, sondern indem man ihn opak beläßt und
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vollends undurchdringlich macht. Da soll keiner mehr durchsteigen. Das Bestehende soll als das ganz Fremde gesagt werden. Die Idiosynkrasie gegen sein Positives, die den Umweg über sein Negatives ersparen soll, stellt dieses jenem gleich, und das »Bestehende« zieht sich zusammen zu einem einzigen ungeheuren Namen, für den nurmehr Synonyme gesagt werden können. - Die reine Negativität der »großen Verweigerung« hat unbestreitbare Vorzüge gegenüber dem Marxismus: sie ist leicht übertragbar, transportabel, nicht faßbar und doch leicht faßlich. Sie ist restlos wendig, bis zum Zynismus. Sie verspricht etwas ganz Anderes und baut doch auf gleichen Strukturen wie das »Bestehende« auf. Sie verzichtet auf zwei Widerstandsleistungen, die in der Tat viel Energie der Marxisten verschlingen: Widerstand gegen das sozialpsychologisch wie gegen das ideologisch Mächtige; dieser doppelte Widerstand muß vom marxistischen Individuum kontinuierlich geleistet werden. Es soll fortwährend gegen den Sog schwimmen. Die reine Negativität entlastet von diesem Leistungszwang. Indem nicht mehr in concreto nein zu sagen ist, sondern nurmehr en bloc, werden Bewegungsenergien frei. Es ist eine Art von Rationalisierung: bestimmte Produktionen werden aufgegeben, um die Produktivität insgesamt zu erhöhen. Die Radikalität des Nein soll den Widerstand zentral und einheitlich übernehmen, aber es ist doch Widerstand aufgegeben worden. Der Bruch mit dem Marxismus manifestiert sich vor allem andern in der Ablösung des Interesses 104
von den Produktionsverhältnissen und in seiner Hinwendung zu den Produktionsmitteln, insbesondere zu den technologisch fortgeschrittensten Entwicklungen. Marcuse prägt hierbei den problematischen Begriff von der »kapitalistischen Technologie«, die auch in den Sozialismus übernommen worden sei. Dem Kapitalismus aber überläßt er kampflos einen Anspruch, fortgeschrittene Industriegesellschaft schlechthin zu sein. Dafür richtet er den Angriff generell auf Industriegesellschaft. Im Zentrum der Kritik stehen jetzt Phänomene der Instrumentalisierung. Die zweite Seite dieser Konzession zeigt sich in Marcuses Hypostasierung positiver Aspekte des Kapitalismus, die dessen Ideologen gegen allen empirischen Augenschein bei bestenfalls partiellem Recht hervorzuheben lieben: Rationalität, Leistungsfähigkeit, Stabilität, Ordnung, Freiheit, Bedürfnisbefriedigung. Der Kapitalismus ist alles dies nach wie vor partiell und im ganzen doch das Gegenteil. Das Verhältnis der Momente zum Ganzen müßte differenziert werden, wie Marx Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse differenzierte. Marcuse bietet nur paradoxale Umbenennungen: die totale Rationalität, die in Wirklichkeit Irrationalität sei; die Leistungsfähigkeit, die in Wirklichkeit Zerstörung sei; Freiheit und Bedürfnisbefriedigung, die in Wirklichkeit Unterwerfung seien. Bestritten wird von ihm keines dieser Momente, die doch von der gesellschaftlichen Wirklichkeit fortgesetzt widerlegt werden. Marcuse macht sich, zugunsten eines totalen Mangelempfindens, blind für die immanenten Mängel des Systems. Es ist,
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als fürchte er in ihnen eine Verführung zum Sicheinlassen. Der Effekt eines solchen Purismus ist nun wahrhaft paradox: die eigenen Werkzeuge werden verdächtig und müssen weggelegt werden. Rationalität steht plötzlich auf Seiten des Gegners, der rational nicht mehr zu kritisieren ist. »Und die transzendierenden Weisen des Denkens scheinen die Vernunft selbst zu transzendieren.« Der Bruch mit der Tradition, den Marcuse namens der Revolution fordert, deutet sich deshalb vor allem andern an als einer mit der marxistischen Tradition. Marcuse spricht sich gegen die bestimmte Negation aus, in der man das Herzstück der marxistischen Dialektik sehen kann. Er schlägt vor, sie durch den Begriff der »bestimmten Wahl« zu ersetzen. Gewählt werde unter »transzendierenden Entwürfen«. Den Begriff der bestimmten Negation mißversteht Marcuse als einen Begriff des historischen Automatismus. In Wirklichkeit steht dieser Begriff nur gegen Visionen des ganz Anderen, und Marcuse muß in ihm einen Widerstand aus dem Weg räumen. Die Negation darf nicht bestimmt sein, weil sonst der Begriff des »historischen Entwurfs« hinfällig wäre, der des »transzendenten« zumal. Der vorgeschlagene Begriff von der »bestimmten Wahl« soll den »Eingang von Freiheit in geschichtliche Notwendigkeit« offenlassen. Unter dem Namen »negative Freiheit« wird ein weiteres geschichtsontologisches Apriori genannt: sie soll bezeichnen die Freiheit von der unterdrückenden und ideologischen Macht der gegebenen Fakten, und sie soll sein »das Element von Wahl und Entscheidung in und gegen Geschichtsbe10 6
stimmtheit«. In den »gegebenen Fakten« sind Unterdrückung und Ideologie fetischistisch geortet. Und die Schlüsselbegriffe Wahl, Entscheidung, Transzendenz verfehlen nicht nur die wirklichen Brennpunkte historischer Kämpfe. Für die Massen sind sie zudem barer Hohn. Sie sind entweder belanglos oder elitär, denn sie bringen Geschichte aufs Format des Individuums, um dieses zu retten. Marcuse scheint nicht zu sehen, daß sie ganz offenbar nur Spielzeug für einzelne große Individuen und deren Biographen sein können. Sie fordern das nietzscheanisch Charismatische geradezu heraus. - Dem Stellenwert derartiger Begriffe bei Marcuse wird man allerdings erst gerecht, wenn man sie mit dem Zielbegriff »Bewußtwerdung« zusammensieht. Nicht praktische Kämpfe interessieren, nicht historische Arbeit. Den Kommunisten wirft Marcuse vor, sie konzentrierten sich zu sehr auf die Industrialisierung, unter Vernachlässigung des Bewußtseins. Auch Brecht notierte im Buch der Wendungen, in der Sowjetunion sei unter der Regierung Stalins alle Vernunft aus der Politik herausgezogen und in den ökonomischen Aufbau gesteckt worden. Marcuse jedoch nimmt dieses Moment, »Bewußtsein«, fürs Ganze. Es wird zum universellen Gegner wie zum absoluten Ziel. Bewußtsein, und zwar falsches, von dem Gesellschaft nicht mehr unterschieden wird, ist umfassend zu bekämpfen. Strategisches Ziel ist wiederum: das Bewußtsein, seine Konversion. Die historische Arbeit scheint getan. Alles scheint möglich, und nur noch die schlechte Wirklichkeit scheint der Verwirklichung des Möglichen im
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Weg zu stehen. Verankert in den Individuen scheint sie in deren falschen »repressiven« Bedürfnissen, »und es ist genau diese Kontinuität der repressiven Bedürfnisse, die den Sprung von der Quantität in die Qualität einer freien Gesellschaft bisher verhindert hat«. Hier setzt das Pathos des Neuen und ganz Anderen ein. Gefordert ist ein kraft konvertierten Bewußtseins neuer Mensch, mit neuen »vitalen« Bedürfnissen, »nämlich die Aktivierung, die Befreiung einer Dimension der menschlichen Existenz diesseits der materiellen Basis, die Aktivierung der biologischen Dimension der Existenz. Was auf dem Spiel steht, ist die Idee einer neuen Anthropologie, nicht nur als Theorie, sondern auch als Existenzweise, die Entstehung und Entwicklung von vitalen Bedürfnissen nach Freiheit, von den vitalen Bedürfnissen der Freiheit«. Die angestrebte Einheit von neuer Theorie und Existenzweise resultiert aus einer angestrengten Trennung und Distanzierung des Befreiungsimpulses vom »Bestehenden«. Die Zielintuition des »ganz Anderen« soll die Individuen herauslotsen aus dem Bestehenden in die neue Existenzweise. Es gilt, wie Marcuse in der Diskussion nach einem seiner Berliner Vorträge formulierte, den Menschen zu schaffen, »der die Revolution haben muß, weil er sonst zusammenbricht«. Das Ziel ist nicht weniger endzeitlich als die eindimensionale Herrschaftswelt. Es heißt »Versöhnung von Logos und Eros. Diese Idee zielt auf das ZurRuhe-Kommen der repressiven Produktivität der Vernunft, auf das Ende von Herrschaft im Konsum
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(domination in gratification)«. Marcuses Zielformulierungen, sofern sie nicht einfach die Negationszeichen des >Schluß-mit< oder >Heraus-aus-dem-Bestehenden< setzen, versichern in der Regel das ganz Andere als Kategorie. Ausdrücklich attestieren sie das Neue am Angezielten als neu. So fordert Marcuse eine »neue Vernunft«, eine »neue Technologie«, »neue Qualitäten«, eine »neue Moral«, »eine radikale Umwertung der Werte«. Die angestrebte Erwartungsnegativität als Haltung wird deutlich in der Forderung an den Sozialismus, Freiheit so zu definieren, daß sie als nirgends noch realisiert bewußt werde. Positive Zielwörter sind Friede, Ruhe, Alleinsein, Glück. Ihren Stellenwert kennzeichnet, daß sie häufig den Index des >Zurück-zu< tragen. Zu reduzieren sei die Übervölkerung und, ganz allgemein, die »Überentwicklung«. Andere Ziele heißen »Wiederherstellung der Natur« oder »Wiederherstellung« des individuellen Denkens und der »Prärogative der Privatheit«. Solche Zielformulierungen beinhalten ein Nicht-mehr, dessen historische Triftigkeit außerordentlich fragwürdig ist. Zu unterscheiden ist dieses Nicht-mehr von einer ähnlichen Figur in Marxens Analyse des Kapitals und der Transformation der Dinge in Waren. Marx beschreibt die Entqualifizierung im Prozeß der Entfaltung des Tauschprinzips und der systemimmanenten radikalen Trennung von Gebrauchswert und Tauschwert. Löst sich das Nichtmehr aus diesem Zusammenhang und verselbständigt es sich, regrediert der Protest in Romantik. Die gegenläufige Bewegung freilich wäre schlimmer: sie ist 109
für den Protest tödlich. Das Auslöschen der Erinnerung an das vom kapitalistischen System Negierte macht auch die Kritik zunichte. - Gewisse Komponenten des Marxismus hält Marcuse mit großer Treue fest. Aber das so Festgehaltene löst sich leicht los, und diese Treue fängt dann an, sich selbst zu verraten. Gerade vermöge ihrer radikalen Negativität bleiben Marcuses Zielbegriffe an das »Bestehende« geheftet, und das bestimmende Motiv fürs ganz Andere bleibt durchweg das zu zerstörende Ganze. Weil das Tun des Nützlichen allzulange ein mit Ausbeutung verknüpftes Privileg war, scheidet diese Utopie den Begriff des Nützlichen aus. Die gemeinte Freiheit intendiert Befreiung von den Strukturen der Arbeit, von Instrument und Ausnutzung. Wissenschaft würde frei für »trans-utilitarische Projekte«. Am Horizont stehen »Existenz in freier Zeit«, Kunst, Spiel, »grenzenloses Experiment«, Zweckfreiheit. Diesem Horizont, der eindeutig gemeint ist, ist seine fundamentale Zweideutigkeit entgegenzusagen. Gefesselten mag Unverbindlichkeit als Erlösung vorschweben. Sie ist ebensosehr die Hölle. Der Primat des bloß Möglichen ist ihre ontologische Grundlage, auf der kein Wirkliches mehr besteht. Was von dieser Utopie bedroht wird, steht, wie das vormals rationale bürgerliche Ich, ohnehin schon auf schwachen Füßen und wird vom spätkapitalistischen Betrieb aufgerieben. Ein Moment von solcher Ambivalenz des Utopischen charakterisiert auch das Kriterium für nichtrepressive Triebsublimierung, das Marcuse im Vorwort zur Vintage-Edition des Freudbuches formuliert: die 110
Triebe würden durch solche Sublimation dazu befähigt, ihr unmittelbares Objekt zu transzendieren. Im Eindimensionalen Menschen weitet Marcuse diesen Gedanken aus zur Skizze eines Universalienrealismus. Etwas Schönes werde transzendiert von seiner Schönheit. In solchen transzendierenden Universalien scheint die Utopie nun doch einen festen Ort zu finden. »Sie sind historisch und überhistorisch.« An ihnen richtet Marcuses »Metaphysik der Befreiung« sich aus als am Möglichen des bloß Wirklichen, als versuchte sie so, die Abhängigkeit des Subjekts vom Objektiven, die immer die Abhängigkeit von Etwas ist, zu brechen. Auch diese Befreiung trägt den Stempel der Unfreiheit. Denn das System der Manipulation verkauft längst zum Schein Etwas mit bloßen Universalien. In der Werbung nicht anders als in der abstrakten Utopie kompensieren bloße Universalien den Mangel an etwas Befriedigendem. Statt den Herren dieser Welt diese Welt streitig zu machen, entwirft Marcuse eine zweite Welt. In aller höheren Kultur der Geistesgeschichte sucht er die Zeichen, die auf diese transzendente Welt hindeuten. Er findet sie in der traditionellen Metaphysik und in der Dichtung, etwa bei Stefan George als »Luft von anderen Planeten«. Für die innere Konstruktion seiner Theorie ist es wesentlich, daß und wie er diese Luft von anderen Planeten zurückwehen läßt in die Welt des einen Planeten. Die Frage ist also jetzt noch einmal genauer: welchen Anblick des »Bestehenden« konstituiert der ideelle Reflex dessen, >was ganz anders wäre