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German Pages 309 [312] Year 2013
Asaf Angermann Beschädigte Ironie
Kierkegaard Studies
Edited on behalf of the Søren Kierkegaard Research Centre by Heiko Schulz, Jon Stewart and Karl Verstrynge in cooperation with Peter Šadja
Monograph Series 27 Edited by Heiko Schulz
Asaf Angermann
Beschädigte Ironie Kierkegaard, Adorno und die negative Dialektik kritischer Subjektivität
Kierkegaard Studies Edited on behalf of the Søren Kierkegaard Research Centre by Heiko Schulz, Jon Stewart and Karl Verstrynge in cooperation with Peter Šajda Monograph Series Volume 27 Edited by Heiko Schulz Die Drucklegung dieser Arbeit wurde durch einen Druckkostenzuschuss der Rosa-Luxemburg-Stiftung ermöglicht.
ISBN 978-3-11-030848-8 e-ISBN 978-3-11-030857-0 ISSN 1434-2952 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.dnb.de.
© 2013 by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Print: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
For my parents
Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im Juni 2012 vom Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt Prof. Dr. Christoph Menke, der die Arbeit betreut hat, und Prof. Dr. Rahel Jaeggi für das Zweitgutachten. Für mancherlei Hinweise, Unterstützung und Kritik danke ich den Teilnehmern und den Teilnehmerinnen des philosophischen Kolloquiums von Prof. Dr. Christoph Menke – zunächst in Potsdam, später in Frankfurt am Main –, insbesondere Prof. Dr. Juliane Rebentisch. Die Erkenntnisse und Erfahrungen, die ich während meines Forschungsaufenthalts am Goldsmiths College in London bei Prof. Alexander García Düttmann gesammelt habe, haben einige Gedanken und Überlegungen in dieser Arbeit maßgeblich bestimmt. Die Abfassung dieser Arbeit wurde durch ein Promotionsstipendium der RosaLuxemburg-Stiftung ermöglicht, die den Druck dieses Manuskripts ebenfalls finanziell unterstützte. Dafür möchte ich der Rosa-Luxemburg-Stiftung und vor allem Dr. Marcus Hawel herzlich danken. Dr. Norbert Axel Richter danke ich für die hilfreiche und engagierte Korrektur des Manuskripts. Schließlich danke ich Prof. Dr. Heiko Schulz, Prof. Dr. Jon Stewart und Prof. Dr. Karl Verstrynge, die als verantwortliche Herausgeber die Veröffentlichung des vorliegenden Bandes in der Kierkegaard Studies. Monograph Series befürwortet haben, sowie dem De Gruyter Verlag, namentlich Frau Sophie Wagenhofer und Frau Sabina Dabrowski für die kompetente Unterstützung bei der Drucklegung des Buches. Ein ganz besonderer persönlicher Dank gilt Prof. Paul Mendes-Flohr. Berlin/Jerusalem, im Januar 2013
Inhalt Einleitung 1 Kritische Subjektivität und die Negativität der Ironie
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Teil I
Kierkegaards Ironie. Das Paradox der Subjektivität
Weder/Noch. Kierkegaards Kritik der ästhetischen und der ethischen 25 Innerlichkeit Die Beherrschung der Romantik. Die Ironieschrift 31 Der Schein als Form. Ästhetische Innerlichkeit 41 60 Sublimiertes Einverständnis. Ethische Innerlichkeit
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Die Wunde der Negativität. Kierkegaards negative Konzeption der 72 Innerlichkeit 73 Der innere Dämon. Sokrates’ Negation des Bestehenden „Kraft des Absurden“. Von der Ironie zum Paradox der 84 Subjektivität Das inkommensurable Selbst. Kierkegaards negative Begründung 102 der Subjektivität 125
Teil II
Adornos Kierkegaard. Kritik der Innerlichkeit
Innerlichkeit als „Intérieur“. Adornos frühe Kierkegaard127 Lektüre Objektlose Innerlichkeit. Der leere Schauplatz Subjektivität Das Opfer der Vernunft. Der paradoxe Ursprung mythischen 148 Denkens Dialektik des Scheins. Die ästhetische Konstruktion der 155 Wahrheit
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.. . .
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Die Ideologie der Innerlichkeit. Systematische und sozialhistorische 168 Subjektivitätskritik Rettung des Einzelnen. Die konzeptionell-systematische 173 Intention Kritik der „innerweltlichen Askese“. Die sozial-historische 177 Relevanz „Das Innere des Nichtidentischen“. Adornos Konzeption der Innerlichkeit 184
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Inhalt
Teil III Adornos Negativität. Rettung und Zerfall des Besonderen . . .. ..
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Glücksversprechen und Erfahrung Die „Wahrheitsfähigkeit“ der 199 Negativität „Wahrheitsfähigkeit“. Gesellschaftliche und absolute 200 Negativität „Versprechensbruch“. Die negative Struktur subjektiver 209 Erfahrung Das metaphysische Irrtumsmodell 212 216 Das ästhetische Glücksversprechen
Die Singularität des beschädigten Lebens. Eine Lektüre der Minima 224 Moralia
Die Liquidation des Besonderen. Konzeptionelle und reale Tendenzen 251 der Beschädigung „Überlegene Kälte“. Die Aktualität der Hegelkritik 253 Zufall und Zerfall. Individualität im prekären Zustand 263 269 „Nach Auschwitz“. Die Affizierung der Subjektivität
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Beschädigte Ironie. Eine Schlussbemerkung Literatur- und Siglenverzeichnis Personenregister Sachregister
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Einleitung Kritische Subjektivität und die Negativität der Ironie Ironie ist eine Grundbestimmung der Subjektivität als eines negativ-kritischen Selbst- und Weltbezugs, der die behauptete Identität des Subjekts in Frage stellt und sein Verhältnis zur Welt problematisiert. Mit dieser These verbindet sich eine philosophische Denklinie, die mit Sokratesʼ Dialogen beginnt und über die kritische Theorie der modernen Subjektivität bis hin zur postmodernen Auffassung des ironischen Subjekts reicht. Ursprünglich als eine rhetorische Figur der Verstellung gemeint, hat die negative Bestimmung der Ironie weitreichende Konsequenzen für die Theorie der Subjektivität überhaupt. Sie liegt einer Subjektivitätskonzeption zugrunde, in der das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst ebenso wie zur objektiven Welt alles andere als unmittelbar, gesichert und selbstverständlich ist. Die Negativität der Ironie bedeutet, dass sie sich aller festen, verbindlichen und identifizierenden Deutung entzieht, dass sie eine Differenz bezeichnet, eine Diskrepanz zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Mensch und Welt. Von dieser Diskrepanz geht das Verständnis der Subjektivität als eines negativ-kritischen Selbst- und Weltbezugs aus. Der Gegenstand der folgenden Arbeit ist eine solche Diskrepanz: im Subjekt selbst und in dessen Verhältnis zum Außen, zur objektiven Welt, zu der Gesellschaft, in der es lebt. Dabei setzt die Diskrepanz schon im Begriff der Negativität selbst an: Sofern sich dieser Begriff auf das Subjekt und dessen Selbst- und Weltverhältnis bezieht, hat er mehrere Bedeutungen und verweist auf unterschiedliche Aspekte, die miteinander oft inkompatibel sind. Diese Inkompatibilität wirkt dann auf die Konzeption der Subjektivität selbst zurück und verweist auf die innere Diskrepanz im Subjekt selbst. Die Negativität bedeutet in diesem Zusammenhang zuerst ein Verneinen jeder Selbstverständlichkeit, jeder proklamierten Unmittelbarkeit – der Konstitution des Subjekts ebenso wie des gegebenen objektiven Zustands. Sie hat insofern eine kritische Absicht, als sie die bestehenden objektiven Verhältnisse in ihrem Bezug zum Subjekt in Frage stellt, sie zweifelt ihre Kohärenz und Beständigkeit an, ohne ihnen jedoch ein positives Vorbild entgegenzustellen. Ihre Bedeutung als Ironie besagt dann ebenso, dass sie nicht unmittelbar begreiflich wird, dass diese ihrerseits bis zu einem gewissen Grade unverständlich bleibt. Die Negativität des Selbst- und Weltbezugs besagt ferner, zweitens, dass dieses Verhältnis niemals in seiner vollen Bedeutung erkennbar wird, dass es sich vielmehr dem Verstehen entzieht und es gewissermaßen transzendiert. In dieser Hinsicht wird Negativität zugleich als eine Art Transzendenz verstanden, eine Absolutheit, die dem unmittelbaren Verstand oft unzugänglich bleibt, im rationalen Denken nicht gänzlich aufgeht. Das Selbst wird daher niemals ganz erschlossen, wodurch eine
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restlose Identität des Subjekts mit sich selbst grundsätzlich verhindert wird. Aus diesem Grund kann sich das Subjekt auch niemals gänzlich an das objektiv Bestehende anpassen, denn eine solche Anpassung setzt ebenfalls die in Frage gestellte Identität voraus. Schließlich verweist der Begriff der Negativität auf eine historisch oder genealogisch zu verfolgende Tendenz der Auflösung oder Verkümmerung eines Gegebenen, eines subjektiven oder objektiven Zustands. Das Negative ist demnach das, was eine bloß ephemere Existenz hat, was nicht fortbestehen oder sich aufrechterhalten kann. Im Hinblick auf die so aufgefasste negative Konzeption der Subjektivität, die Hegel als Zeichen der Unbeständigkeit und Unwahrheit bezeichnete, müsste die Frage nach dem Status subjektiver Wahrheit angesichts ihrer historischen und ideologischen Verfallstendenz gestellt werden. Diesen Status werde ich in der vorliegenden Untersuchung als den einer „beschädigten Ironie“ bezeichnen und aus mehreren Perspektiven erklären, worin die spezifische Art einer solchen Ironie besteht und auf welche Weise ihre Beschädigung zustande kommt. Die negativen Konzeptionen der Subjektivität, die ich in dieser Arbeit rekonstruieren und diskutieren möchte, bewegen sich zwischen diesen drei Deutungen der Negativität – als Kritik, Transzendenz und Verfall – und handeln von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, im Hinblick auf das Verhältnis des Individuums zu sich selbst und zur objektiven Welt unter den intersubjektiven, gesellschaftlichen und ideologischen Bedingungen der Gegenwart von subjektiver Wahrheit zu sprechen. Es wird sich zeigen, dass und inwiefern ein Begriff der Negativität jener Subjektivitätsauffassung zugrunde liegen muss, die sich als kritisch, frei, autonom versteht, und auf welche Weise gerade dieser negative Aspekt der Subjektivität sie anfällig, prekär macht und der Gefahr aussetzt, Selbsttäuschungen und ideologischen Trugbildern anheimzufallen. Was hier auf dem Spiel steht, ist die Singularität, die Besonderheit des Einzelnen, des abweichend denkenden und handelnden Subjekts. Denn das so verstandene einzelne Subjekt, dessen eigenes Leben den Gegensatz zum Allgemeinen, zum gesellschaftlichen Ganzen verdeutlicht, kann sich keineswegs aus den gesellschaftlichen Strukturen herauslösen, die es zugleich konstituieren und beschränken, hervorbringen und beschädigen. In diesem Sinne ist die Rede von einer „beschädigten Ironie“ zu verstehen: als eine Grundbestimmung jener negativen – das heißt: kritischen, singulären, abweichenden – Subjektivität kehrt sich die Ironie häufig gegen sich selbst und dient fremden, oft ideologischen Zwecken. Die ursprüngliche Suche nach Authentizität trägt dann gerade zur Entfremdung des Subjekts bei. Kritische Subjektivität birgt in sich die implizite Tendenz, zu einer Affirmation des Bestehenden zu werden. Diesen Selbstzerstörungsmechanismus möchte ich im Folgenden strukturell hinterfragen: Von der Negativität des Selbstbezugs aus gesehen führt der Me-
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chanismus von der Authentizität zur Entfremdung; im Hinblick auf den negativkritischen Weltbezug bedeutet er einen Umschlag von Emanzipation in Anpassung. Beide hängen freilich miteinander zusammen: Das Verhältnis des Individuums zu sich selbst konstituiert sich über die objektive Welt, es ist gesellschaftlich vermittelt; das Verhältnis des Individuums zur objektiven Welt ist dabei ebenfalls vermittelt; jedoch gerade durch dessen Selbstverhältnis. Sofern in diesem Zusammenhang von Negativität die Rede ist, erhält hier der doppelte Begriff des Verhältnisses eine andere Bedeutung: Ein negatives Selbstverhältnis im Sinne einer Unverständlichkeit, einer Undurchsichtigkeit des Selbst wirkt ebenso auf das Verhältnis des Selbst zum Außen; ein negatives Verhältnis zum Außen, in dem dieses kritisch betrachtet wird, wirkt ebenso auf das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst zurück, sobald dieses durch das kritisierte Außen konstituiert wird. Die Unverständlichkeit, die die Singularität des Subjekts markiert, erweist sich demnach als Ursprung einer kritischen Disposition und gleichzeitig als ihre immanente Untergrabung. Diese Gegenläufigkeiten der Negativität der Verhältnisse bestimmen die Konzeptionen der Subjektivität, die im Zentrum meiner Fragestellung stehen. Sie berühren insofern die Frage nach der Möglichkeit von Kritik, Autonomie und Singularität und beziehen sich auf die Bedingungen – die logischsystematischen ebenso wie die sozial-historischen –, in denen diese Konzeptionen verunmöglicht, aporetisch werden, in denen die Ironie als die negative Grundbestimmung der Subjektivität beschädigt wird. Philosophiehistorisch reicht das Problem der negativ aufgefassten Subjektivität bis zum Gründungsvater der westlichen Philosophie selbst zurück: Für Sokrates galt Ironie als ein Dämon, als sein eigener Dämon, der ihn auf die unüberwindbare Differenz zwischen seinem Inneren als Subjekt und dem objektiv Bestehenden (dem Gemeinwesen, dem Staat, der Gesellschaft) stets aufmerksam machte. Sie war insofern die negative Begründung seiner Subjektivität, als sie ihn vor die Erkenntnis stellte, er sei nicht eines mit dem äußeren Geschehen, er könne es nicht unmittelbar bejahen, er finde sich darin nicht wieder. Sokrates’ Singularität gehe im griechischen Gemeinwesen nicht auf. Das war einerseits die subjektive Motivation seiner ironisch-kritischen Negation des Bestehenden; andererseits führte dieser Standpunkt zu seinem fatalen Ende, zur Todesstrafe durch die griechische Gesellschaft, der er als ein Außenstehender kritisch gegenüberstand. An Sokrates’ Biographie sind insofern die wesentlichen Züge des Selbstzerstörungsmechanismus, der „Beschädigung“ der sokratischen Ironie deutlich erkennbar. Seine historische Figur verdeutlicht die disparaten Aspekte der negativen Konzeption der Subjektivität: Er verkörpert eine Form freier, kritischer Subjektivität, die vom herrschenden Ganzen abweicht und es stets einer radikalen Kritik unterzieht; durch seine indirekte Mitteilungsform vertritt er das Verständnis subjektiver Wahrheit, die nur unmittelbar, durch singuläre individuelle Erfahrung
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Einleitung
wahrgenommen wird; und seine Lebensgeschichte verdeutlicht, retrospektiv, den prekären Status einer negativ-ironisch aufgefassten und gelebten Subjektivität. Diese Rekonstruktion der Figur des Sokrates folgt in ihren Grundzügen, nicht ohne Grund, vor allem den Darstellungen Hegels und Kierkegaards. Seine spezifisch moderne, philosophisch aktualisierte Bedeutung erhält Sokrates’ Gedanke erst in Hegels Theorie der Subjektivität. Hegel beschreibt Sokrates als den ersten Philosophen, der die „Subjektivität des Denkens […] zum Bewußtsein gebracht“ hat.¹ Im Gegensatz zum seinerzeit herrschenden Denken richte sich Sokrates’ Interesse auf die Selbstbezüglichkeit, auf das innere Geschehen des Subjekts. Aus diesem heraus versucht er, zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen. Obwohl Hegel keinen direkten Zusammenhang zwischen Sokrates’ Ironie – die er lediglich als eine rhetorische Methode betrachtet – und seiner Begründung der Subjektivität herstellt, erkennt er Sokrates immerhin als einen negativen Denker an, dessen Negativität sich als subjektiv motivierte Kritik am Bestehenden ausdrückt. Subjektivität, Negativität und Kritik stehen hier in einem Zusammenhang; dazu gehört allerdings ebenfalls Sokrates’ tragisches Schicksal. Denn seine negativistische Kritik am Bestehenden führt zu einer „Kollision“ zwischen jener negativen Subjektivität und der bestehenden Objektivität des Gemeinwesens.² Sokrates’ Geschichte erhält nach Hegel ihre spezifisch moderne Bedeutung als ein tragischer Konflikt zwischen dem einzelnen Individuum und dem Gemeinwesen. An diesen Punkt eines Konflikts zwischen Besonderem und Allgemeinem, zwischen Individuum und Gesellschaft, schließt die philosophische Deutung der Ironie als eine negative Bestimmung der Subjektivität an. Dieser Gedanke drückt sich seitdem in mehreren Hinsichten als eine Kritik an Hegel aus.³ Denn es war Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in Werke, Bd. 18, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 2003, S. 441. Vgl. ebd.: „Im wahrhaft Tragischen müssen berechtigte, sittliche Mächte von beiden Seiten es sein, die in Kollision kommen; so ist das Schicksal des Sokrates. Sein Schicksal ist nicht bloß sein persönliches, individuell romantisches Schicksal, sondern es ist die Tragödie Athens, die Tragödie Griechenlands, die darin aufgeführt wird, in ihm zur Vorstellung kommt. Es sind hier zwei Mächte, die gegeneinander auftreten. Die eine Macht ist das göttliche Recht, die unbefangene Sitte, – Tugend, die Religion, welche identisch mit dem Willen sind, in seinen Gesetzen frei, edel, sittlich zu leben; wir können es abstrakterweise die objektive Freiheit nennen, Sittlichkeit, Religiosität, – das eigene Wesen der Menschen; andererseits ist es das Anundfürsichseiende, Wahrhafte, und der Mensch ist in dieser Einigkeit mit seinem Wesen.“ Zur Entstehung der tragischen Kollision zwischen Singularität und Sittlichkeit nach Hegel vgl. Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen, Frankfurt am Main 1996, S. 210 – 215. Ich gehe in meiner Interpretation von einem gewöhnlichen „orthodoxen“ Verständnis der Hegelschen Sittlichkeit aus, wie sie in den Grundlinien der Philosophie des Rechts dargestellt wird. Trotz mehrerer Versuche, dieses Verständnis zu modifizieren, bleibt es, zumindest für Kierkegaards und Adornos kritische Lektüren, weitgehend maßgeblich. Im Folgenden werde ich
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gerade Hegels Ansicht, die Lösung des Konflikts in Form einer positiven, objektiven Freiheit müsse durch eine Aufhebung der Singularität im Allgemeinen erreicht werden: in der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Institutionen.⁴ Die Negativität der Subjektivität solle folglich im Positiven münden. Diese Auffassung des Verhältnisses von Objektivität und Subjektivität, von Allgemeinem und Besonderem, hat philosophische Reaktionen ausgelöst, die Subjektivitätstheorie mit Sozial- und politischer Philosophie verbinden. Subjektivitätstheoretisch war es zweifellos Søren Kierkegaards Philosophie der subjektiven Existenz, die sich mit diesem Gedanken Hegels am kritischsten und detailliertesten auseinandersetzt, um dadurch eine alternative Konzeption subjektiver Wahrheit zu entfalten, in der gerade das Moment der Negativität eine zentrale Rolle spielt. In gewisser Hinsicht lässt sich Kierkegaards gesamte Philosophie als eine Auseinandersetzung mit Hegels Denken betrachten – vor allem mit der Stellung, die Hegel darin dem einzelnen Individuum einräumt. Hegels Kritik an der seinerzeit verbreiteten Auffassung romantischer Subjektivität stieß bei Kierkegaard zwar auf große Zustimmung; er war überzeugt von Hegels Entlarvung der Romantik als einer selbsttäuschenden und entfremdeten Subjektivität. Hegels Alternative in Form eines Systems der Sittlichkeit, in das sich das individuelle Subjekt zu integrieren habe, schien Kierkegaard hingegen äußerst problematisch. Gerade seine praktische Auffassung der Subjektivität führe Hegel dazu, so Kierkegaard, das Moment der Besonderheit preiszugeben, es sogar als defizitär und hinderlich auszuweisen. Dies führt Kierkegaard zur Reflexion über die Bedeutung der Subjektivität als Singularität, als einer Besonderheit, die im Allgemeinen nicht aufgeht, die gerade durch ihre Differenz zum Gemeinwesen markiert wird. In seiner philosophischen Dissertation Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates vertritt Kierkegaard noch eine Hegelsche Position, schließt an sie allerdings einige kritische Anmerkungen an. In seinem ersten Buch, Entweder/Oder, beginnt Kierkegaard das pseudonyme und ironische Spiel mit Hegels Philosophie, indem einerseits, im ersten Band, die ästhetische Auffassung der romantischen Subjektivität dargestellt; andererseits, im zweiten Band, die Hegelsche Konzeption der Sittlichkeit als einer ethischen Subjektivität präsentiert wird. Die verborgene kritische Ironie der Darstellung verweist mithin darauf, dass Kierkegaard keine der beiden Positionen akzeptiert, dass beide ihm problematisch und untragbar
Hegels Thesen nicht an sich hinterfragen, sondern nur gezielt wiedergeben, um die jeweils auf sie bezogene Position Kierkegaards oder Adornos zu diskutieren. Vgl. dazu Frederick Neuhouser, Foundation of Hegel’s Social Theory. Actualizing Freedom, Cambridge und London 2000, S. 82– 113; Robert Pippin, „Hegel, Freedom, The Will. The Philosophy of Right (§1– 33)“, in: G.W.F. Hegel – Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von Ludwig Siep, Berlin 1997 (Klassiker auslegen, Bd. 9), S. 31– 53.
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scheinen. Damit beginnt er, seine eigene Auffassung kritischer Subjektivität zu entfalten, deren erste Stufe eine Kritik jener falschen, defizitären, selbsttäuschenden Subjektivitätskonzeptionen bildet: der romantischen ebenso wie der Hegelschen. Er sucht nach einem praktischen Verständnis kritischer Subjektivität – jenseits von beiden. Aus dieser kritischen Erkenntnis heraus entwickelt Kierkegaard – in seinen folgenden pseudonymen Schriften – eine Subjektivitätskonzeption, in der dem Moment der Negativität in dessen verschiedenen Facetten eine entscheidende Bedeutung zukommt. Neben der Deutung der Negativität als Kritik des Bestehenden versteht hier Kierkegaard das Negative der Subjektivität als die unüberwindbare Differenz von Innen und Außen, die gerade dadurch charakterisiert ist, dass sie sich nicht charakterisieren lässt. Diese Differenz bedeutet für Kierkegaard eine grundsätzliche Inkommensurabilität von Subjektivität und Objektivität – genau im Gegensatz zu Hegels ethisch-sittlicher Forderung. Mit dem Begriff der Inkommensurabilität verfolgt Kierkegaard die praktisch-philosophische Absicht, das einzelne, abweichende Individuum in seiner singulären Andersheit zu schützen, vor der Macht des Gemeinwesens zu retten.⁵ Die griechische Figur Sokrates und die biblische Figur Abraham sind in Kierkegaards Schriften Figuren der subjektiven Ausnahme, Personen, deren Singularität keinen Raum und keine Anerkennung im Gemeinwesen finden kann, weil sie es nicht vermögen, sich kommensurabel-kommunikativ auszudrücken. In meiner Lektüre möchte ich die These akzentuieren, dass Kierkegaards philosophisches Projekt in erster Linie ein Plädoyer für Singularität als Voraussetzung freier, autonomer Subjektivität darstellt. Nicht nur das Verständnis der Negativität als einer Kritik am Bestehenden hat folglich freiheitstheoretische Dimensionen, sondern gerade in ihrer Deutung als Inkommensurabilität, als Unverständlichkeit und Unmitteilbarkeit bringt die Negativität jene Aspekte ins Spiel, die dem Individuum in dessen Besonderheit und Andersartigkeit eine entscheidende Bedeutsamkeit zuschreiben. Kierkegaards negative Konzeption der Subjektivität lässt sich in diesem Sinne als eine ethisch-politische Verteidigung jener Subjekte und Subjektivitätsformen verstehen, die sich im herrschenden Allgemeinen nicht wiederfinden, die sich grundsätzlich nicht verständlich zu machen vermögen, weil ihre Differenz von den herrschenden Normen und Strukturen so erheblich ist, dass sich keine gemeinsame Grundlage der Verständigung finden lässt: Keine Kommensurabilität zwi-
Merold Westphal glaubt deshalb, in Kierkegaard sogar einen ideologiekritischen Denker zu erkennen: „Kierkegaard belongs to the tradition of ideology critique. His quarrel with prevailing theory has its telos in his quarrel with prevailing practice.“ Merold Westphal, „Kierkegaard and Hegel“, in The Cambridge Companion to Kierkegaard, hg. von Alastair Hannay und Gordon D. Marino, Cambridge 1998, S. 120.
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schen dem Inneren des Anderen und dem Äußeren des Ganzen. Insofern erweist sich Kierkegaards Theorie der Subjektivität gerade als intersubjektives Denken des Anderen, der Alterität, der inkommensurablen Differenz. Im Zentrum der Kierkegaardschen Theorie der Subjektivität steht der Begriff der Innerlichkeit. Damit ist eine Selbstbezüglichkeit gemeint, die in sich und für sich selbst ihre Wahrheit findet. Erst als Innerlichkeit, argumentiert Kierkegaard, wird die Subjektivität wahr. Das heißt freilich nicht, dass Wahrheit durch subjektive Willkür bestimmt wird, dass das Subjekt über das Wahre nach Belieben entscheidet. Vielmehr bedeutet die Wahrheit der Innerlichkeit ein Sich-ins-Verhältnis-Setzen zum Anderen, Unbekannten in sich, im Inneren. Der Inkommensurabilität zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen entspricht nach Kierkegaard eine Inkommensurabilität des Einzelnen mit sich selbst: die Inkommensurabilität der Innerlichkeit. Innerlichkeit bedeutet insofern gerade nicht eine unmittelbare Subjektivität, sondern jenen Bezug zu sich selbst, der durch ein Anderes, Unverständliches, Inkommensurables – also: durch ein Negatives – vermittelt ist. So wird Innerlichkeit als ein negatives Konstituens der Wahrheit der Subjektivität verstanden; sie ist eine Selbstbestimmung durch ein absolut Anderes, Negatives im Selbst. Dieses absolute, unerkennbare Andere im Selbst bedeutet für Kierkegaard zunächst nichts anderes als Gott: Das vermittelte Selbstverhältnis ist das Verhältnis zu Gott. Diese These, mit der Kierkegaard eine Art theologischer Anthropologie zu entwerfen beabsichtigt, hat jedoch auch in nicht-theologischer Hinsicht weitreichende Konsequenzen, vor allem hinsichtlich der Theorie der Subjektivität und ihrer praktischen und sozialphilosophischen Dimensionen. Kierkegaard selbst hat diese These jedoch als eine Zeitkritik formuliert. Vor dem Hintergrund der Kritik am seinerzeit herrschenden positivistischen Denken hat Kierkegaard in praktischer Hinsicht ein verzerrtes Verständnis von Subjektivität als Selbstbezüglichkeit diagnostiziert und diesem die Innerlichkeit als Gegenentwurf, als ein kritisches Korrektiv entgegenstellt. Im Gegensatz zum „objektiven Wissen“ konstituiere sich die Wahrheit der Subjektivität, verstanden als Innerlichkeit, gerade durch einen negativen Prozess, der nicht in objektiven, kommunikativen, allgemeinverständlichen Kategorien ausgedrückt werden könne, sondern allein durch die Erfahrung des Einzelnen hervorgerufen werde. Aber die Negativität als Inkommensurabilität und Unverständlichkeit stellt nicht nur den Inhalt des Kierkegaardschen Denkens dar, sondern auch seine Form. Seine meist pseudonym verfassten Schriften sind selbst durch eine Ironie gekennzeichnet, die eine Identifizierung des pseudonymen Verfassers mit dem eigentlichen Autor durchaus verunmöglicht. Die in Kierkegaards philosophischen Schriften vertretenen Auffassungen lassen sich nicht auf Ansichten eines bestimmten Autors zurückführen, oft widersprechen sich die Standpunkte der verschiedenen pseudonymen Verfasser – und nicht zufällig. Die ironische Form der Darstellung entspricht der inhaltlichen Deutung der Ironie im Sinne der prinzipi-
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Einleitung
ellen Unmöglichkeit einer absoluten Identität des Subjekts mit sich selbst; eine These, die sich als ein roter Faden durch Kierkegaards Schriften hindurchzieht. Innerlichkeit bedeutet für ihn demnach keinesfalls einen subjektiven Standpunkt, vom dem ein ironisches Verhältnis zur Welt ausgeht, sondern gerade das Fehlen eines solchen Standpunkts. Ihre Ironie besteht für Kierkegaard ausgerechnet darin, dass sie die Unmöglichkeit einer unmittelbaren Identität unterstreicht. Diese ursprünglich theologisch konzipierten Thesen Kierkegaards werde ich in meiner Lektüre gerade subjektivitätstheoretisch und praktisch-philosophisch hinterfragen, denn sie beinhalten einige für das moderne Subjektivitätsverständnis bedeutsame Erkenntnisse über das Verhältnis von Subjektivität, Negativität und Wahrheit. In dieser negativistischen Lesart der Subjektivitätsfrage besteht zugleich auch der philosophiegeschichtliche Zusammenhang, der sich meiner Meinung nach unmittelbar auf den im Zentrum der Fragestellung stehenden systematischen Sachverhalt bezieht. Es handelt sich nämlich um den Zusammenhang zwischen Søren Kierkegaards und Theodor W. Adornos Denken. Ein enges thematisches Verhältnis beider Denker scheint auf den ersten Blick freilich nicht nahezuliegen. Kierkegaards existentialistische Konzeption der Innerlichkeit scheint von der sozialphilosophischen Kritischen Theorie Adornos auf den ersten Blick systematisch recht weit entfernt zu sein. Bei näherer Betrachtung wird aber eine tiefere konzeptionelle Nähe zwischen den beiden Philosophen erkennbar – wenn auch auf eine oft subtile, implizite Weise. Diese Verschränkung von Nähe und Differenz bildet den philosophiegeschichtlichen Aspekt meiner Untersuchung; allerdings nicht um objektivphilologisch herauszufinden, ob und auf welche Weise Adorno von Kierkegaards Denken beeinflusst war, sondern um durch eine Hinterfragung des thematischen Verhältnisses und der verborgenen Spuren der Kierkegaardschen Auffassung in Adornos Denken den philosophischen Sachverhalt besser klären zu können, der den Hauptgegenstand der Arbeit darstellt: die Frage nach der Bedeutung der Negativität für die Konstitution kritischer, freier Subjektivität unter den konkreten, gesellschaftlichen und ideologischen Bedingungen der Gegenwart. Adornos explizite und noch öfter implizite Auseinandersetzung mit Kierkegaard und mit der „Philosophie der Innerlichkeit“ – ein Begriff, mit dem er auf Kierkegaards Denken rekurriert, häufig ohne dessen Namen zu nennen – bezieht sich in ihren Grundzügen auf diese Thematik und stellt sie damit in ein besonderes philosophisches Licht. Die kritische Rekonstruktion dieser Auseinandersetzung soll insofern nicht nur die Nähe und die Differenz zwischen beiden Philosophen aufzeigen, sondern vor allem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ihrer jeweiligen Deutung der negativen Dimensionen kritischer Subjektivität beleuchten. Dabei soll in biographischer Hinsicht nicht unerwähnt bleiben, dass Adorno schon in seiner Jugend Kierkegaards Schriften las und sich mit dessen Denken
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intensiv auseinandersetzte.⁶ Auch wenn es nicht meine Absicht ist, den genauen Einfluss des Kierkegaardschen Denkens auf Adorno philosophiehistorisch zu „messen“, weist dieses biographische Detail darauf hin, dass Adorno mit Kierkegaards Schriften besonders vertraut war. Möglicherweise waren es dieses frühe Interesse und diese Vertrautheit, die ihn motivierten, sich in der Habilitationsschrift ausführlich mit Kierkegaards Denken zu beschäftigen.⁷ Diese Schrift, 1933 als Adornos erstes Buch Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen erschienen, setzt sich mit Kierkegaards Konzeption der Innerlichkeit kritisch auseinander und bringt seine theologisch-existentialistische Konzeption in einen Zusammenhang mit materialistischen Fragestellungen über die Entfremdung und Verdinglichung des Menschen in den spätkapitalistischen Lebensverhältnissen. In seiner Lektüre dechiffriert Adorno Kierkegaards Konzeption der Innerlichkeit als einen abstraktidealistischen Ausdruck der Isolation des Einzelnen. Den subjektiven Rückzug in die Privatsphäre erklärt er sozialkritisch als die ohnmächtige Reaktion auf eine dem Individuum fremd gewordene Welt. In dem Buch stellt Adorno seine gründliche und umfangreiche Kenntnis des Kierkegaardschen Denkens unter Beweis und behauptet, seine Schrift sei eine immanente Lektüre der Kierkegaardschen Philosophie mit dem Ziel, dessen „Wahrheitsgehalt“ freizulegen.⁸ Unter Kierkegaardforschern galt diese Lesart Adornos jedoch als inakzeptabel und wurde unmittelbar nach Erscheinen der Monographie kritisch bis äußerst ablehnend rezipiert. Es wurde Adorno vorgeworfen, an wesentlichen Aspekten der Kierkegaardschen Philosophie vorbeizugehen, ihre Intentionen und Positionen zu verfehlen. Neben wenigen Rezensionen, die die Eigenart und Originalität der Studie hervorhoben – vor allem diejenigen, die Adornos Freunde Walter Benjamin
Vgl. dazu Stefan Müller-Doohms Adorno-Biographie: „Mit den Gedanken des Dänen hatte Adorno sich bereits in jungen Jahren beschäftigt, ja auf dem Problem der ‚Personalität und Innerlichkeit des Einzelnen‘, war er, seiner eigenen Bekundung nach, ‚jahrelang kierkegaardisch herumgeritten‘. Und aus einem weit zurückliegenden Brief, den Kracauer im Dezember 1923 an Löwenthal geschrieben hatte, läßt sich entnehmen, daß Adorno schon als Gymnasiast Bücher von Kierkegaard eingehend studiert hatte. Kracauer führte aus: ‚Wenn der Teddie eines Tages eine reelle Liebeserklärung machen wird, um aus dem Stand der vollendeten junggesellenhaften Sündigkeit […] zu treten, dann wird er sie gewiß so schwierig gestalten, daß die junge Dame, die er meint […], den ganzen Kierkegaard […] gelesen haben muß, um ihn überhaupt zu verstehen.‘“ Stefan Müller-Doohm, Adorno. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2003, S. 186 – 187. Die Arbeit über Kierkegaard, mit der sich Adorno bei Paul Tillich habilitierte, war ein zweiter Habilitationsversuch, nachdem Adorno eine frühere Schrift über den Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre (1927), die er bei Hans Cornelius geschrieben hatte, „noch vor der Einleitung des Habilitationsverfahrens“ zurückgezogen hatte. (Rolf Tiedemann, Editorische Nachbemerkung zu Theodor W. Adorno, Philosophische Frühschriften, GS 1, S. 382.) Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, GS 2, S. 9.
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und Siegfried Kracauer verfasst hatten – behaupteten die meisten Kritiker, dass das Buch keinen eigenen Beitrag zur Erforschung der Kierkegaardschen Philosophie zu leisten vermag.⁹ Wahrscheinlich war es diese Behauptung, die dazu führte, dass dem Buch in den darauffolgenden Jahrzehnten sowohl in der Kierkegaard- wie auch in der Adornoforschung eine recht marginale Bedeutung zukam. Somit geriert ebenfalls die Beschäftigung mit dem philosophischen Verhältnis zwischen Kierkegaard und Adorno in den Hintergrund. Adornos Relation zu und Einfluss von Kierkegaards Denken blieben daher durchaus unbelichtet, die Gemeinsamkeiten in deren philosophischen Argumenten und Zielen unberücksichtigt. Nur wenige Studien widmeten sich seitdem diesem philosophischen Verhältnis, zumeist im Rahmen einer historischen Darstellung von Adornos Werk¹⁰ – oder von Kierkegaards Rezeption in der deutschen Philosophie.¹¹ Die historischen Studien heben hervor, dass Adornos Kierkegaardbuch keine treue Erläuterung der Kierkegaardschen Gedanken war oder beanspruchte zu sein. Vielmehr, so schreibt Heiko Schulz, „Adorno may be considered one of the very few paradigmatic representatives of what I take to be genuine borderline cases between productive reception and receptive production.“¹² Als eine der ersten Studien zu Kierkegaard, die dessen Gedanken nicht rezeptiv wiederzugeben, sondern sie fortzuschreiben und über sie hinaus zu gelangen bestrebt waren, stellte Adornos Text die Kierkegaardforschung vor eine große Herausforderung.
Für eine ausführliche Darstellung der Rezeption von Adornos Kierkegaardbuch, ebenso wie eine Liste der Bezüge zu Kierkegaard in Adornos Schriften vgl. Peter Šajda, „Theodor W. Adorno: Tracing the Trajectory of Kierkegaard’s Unintended Triumphs and Defeats“, in Kierkegaard’s Influence on Philosophy, Tome I, German and Scandinavian Philosophy, hg. von Jon Stewart, Farnham 2012 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 11), S. 3 – 48, insbes. S. 18 – 24. Vgl. Klaus-M. Kodalle, „Adornos Kierkegaard – ein kritischer Kommentar“, in Die Rezeption Søren Kierkegaards in der deutschen und dänischen Philosophie und Theologie: Vorträge des Kolloquiums am 22. und 23. März 1982, hg. von Heinrich Anz, Kopenhagen und München 1983 (Text und Kontext, Sonderreihe, Bd. 15), S. 70 – 100; ebenso wie im selben Band: Hermann Deuser, „Kierkegaard in der kritischen Theorie“, S. 101– 113; außerdem: Carlo Petazzi, „Studien zu Leben und Werk Adornos bis 1938“, in Theodor W. Adorno, hg. von Heinz-Ludwig Arnold, München 1977 (Edition Text und Kritik, Sonderband), S. 22– 43, insbes. S. 33 – 39; Romano Pocai, „Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen,“ in Schlüsseltexte der Kritischen Theorie, hg. von Axel Honneth, Wiesbaden 2006, S. 15 – 19. Vgl. in der gründlichen Studie von Heiko Schulz, „Germany and Austria. A Modest Head Start: The German Reception of Kierkegaard“, in Kierkegaard’s International Reception, Tome I, Northern and Western Europe, hg. von Jon Stewart, Farnham 2009 (Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources, Bd. 8), S. 307– 420, insbes. S. 362– 366. Ebd., S. 363.
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Eine adäquate Rekonstruktion der Kierkegaardschen Gedanken war schließlich ebenso wenig Adornos primäre Intention. Schon der programmatische Titel einer Konstruktion des Ästhetischen verweist auf das Subversive seiner Lesart. Denn das Ästhetische bildet zwar einen wichtigen Themenkomplex in Kierkegaards Denken, es dient ihm freilich gerade als Ausgangspunkt einer Kritik der ästhetischen Subjektivität. Gegenüber der ästhetischen Existenzweise an sich hegt Kierkegaard ein tiefes Misstrauen; die Frage nach der Wahrheit der Subjektivität, die in der ästhetischen Fragestellung aufkommt, sucht er gerade im Ethischen und im Religiösen zu beantworten. So stellt Adornos Rekonstruktion Kierkegaards „Stadienlehre“ auf den Kopf: Das Ethische und noch mehr das Religiöse scheinen ihm gerade eine Konstruktion des Ästhetischen zu sein. Während er Kierkegaards negativ-theologische Konzeption der Subjektivität als widersprüchlich und untragbar dekonstruiert, zentrieren sich Adornos Argumente um die Idee der Wahrheit als einer Rettung des ästhetischen Scheins. Gegen Kierkegaards Absicht meint Adorno in dessen Philosophie einen „Wahrheitsgehalt“ zu entdecken, der gerade im Ästhetischen besteht. Diese Lesart wird oft, vor allem in der Kierkegaardforschung, als fehlerhaft bezeichnet – und als eine Kierkegaardinterpretation müsste sie sicherlich so betrachtet werden. Ob Adornos Lektüre des existentialistischen Denkens Kierkegaards im Sinne einer ästhetischen Konstruktion ein Missverständnis oder eine gezielte Umdeutung darstellt, möchte ich in meiner Untersuchung jedoch offen lassen. Mir geht es vielmehr um den Sachverhalt selbst: In seiner Darstellung der Kierkegaardschen Philosophie stellt Adorno wichtige Gedanken vor, die er in seinem späteren Denken vertiefend und ausdifferenzierend fortschreiben wird.¹³ Einerseits entfaltet er im Anschluss an Kierkegaards Subjektivitätsbegriff die Grundzüge eines Arguments über die Untrennbarkeit von Subjektivität und Herrschaft, von Naturbeherrschung und Naturfeindschaft, die schließlich in eine Preisgabe von Subjektivität selbst umschlägt. So kann Adornos Auseinandersetzung mit Kierkegaards Vernunftkritik als eine Urform seiner späteren Thesen über das Wechselverhältnis von Mythos und Aufklärung, die vor allem in der Dialektik der Aufklärung eine zentrale Stellung Zusätzlich zu seinem frühen Kierkegaard-Buch verfasste Adorno zwei weitere Aufsätze, die sich direkt mit Kierkegaards Philosophie auseinandersetzen: „Kierkegaards Lehre von der Liebe“ (1939/1940), GS 2, S. 217– 236; und „Kierkegaard noch einmal“ (1966), GS 2, S. 239 – 258. Der erste bezieht sich fast ausschließlich auf Kierkegaards spätere theologische Schrift Taten der Liebe (1847), der zweite ist ein historischer Rückblick auf Kierkegaards Schreiben, vor allem in christlich-theologischer Hinsicht. Aus sachlichen Gründen – da sie das Thema der negativen Konzeption der Subjektivität und die hier behandelten Argumente Kierkegaards nicht direkt betreffen – bleiben diese Aufsätze in meiner Arbeit weitgehend unberücksichtigt. Hingegen beziehe ich mich mehrfach auf Stellen, an denen Adorno in sachlicher Hinsicht unübersehbar auf Kierkegaard Bezug nimmt, seinen Namen aber nicht erwähnt.
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einnehmen, betrachtet werden.¹⁴ Andererseits greift Adornos Lektüre gerade auf das ästhetische Moment als den „Ort“ der Wahrheit zurück (wobei allerdings fraglich ist, ob mit dem Ausdruck „ästhetisches Moment“ dasselbe gemeint ist, was Kierkegaard im Sinne hatte). Damit entwickelt er einen spezifischen, besonderen Wahrheitsbegriff, dem zufolge Wahrheit erst im Verhältnis zum ästhetischen Schein begreifbar wäre;¹⁵ eine These, die wiederum in der späteren Ästhetischen Theorie fortgeschrieben wird. Adornos Übertragung der negativ-theologischen Gedanken Kierkegaards in den Bereich der Ästhetik ermöglicht es ihm, in die Struktur der Argumentation selbst hineinzuschauen. Die Behauptung, Kierkegaards Denken komme erst in ästhetischer Hinsicht eine wichtige Bedeutung zu, muss allerdings als problematisch betrachtet werden. Denn Adorno bezieht sich sehr allgemein auf einzelne Argumente Kierkegaards, die in verschiedenen Zusammenhängen angebracht werden – und gibt diese Argumente dann aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen wieder. Bei einer genaueren Untersuchung wird sich zeigen, dass Adorno tatsächlich Ästhetisches und Religiöses (oder Transzendentes) bei Kierkegaard verwechselt, absichtlich oder im Modus des Missverständnisses, dass er dabei jedoch den Sachverhalt selbst – das Verhältnis von Subjektivität und Wahrheit –, freilich gegen seine eigene Absicht, gerade im Sinne Kierkegaards darstellt. Denn in subjektivitätstheoretischer ebenso wie in ethisch-politischer Hinsicht erweist sich die Idee einer Rettung des ästhetischen Scheins in seinem Zerfall als eine Urform jenes Gedankens von der Rettung des Besonderen: dessen also, was Kierkegaard Inkommensurabilität nennt und Adorno als Nichtidentität bezeichnet. Ein wesentlicher Kritikpunkt, den Adorno gegen Kierkegaards Konzeption der Subjektivität vorbringt, betrifft den zentralen Begriff der Innerlichkeit. Während Innerlichkeit für Kierkegaard die wahre Form negativer Selbstbezüglichkeit bildet, sieht Adorno in diesem Verständnis einen Ausdruck sozialhistorischer Verhältnisse, ein Zeichen der Entfremdung und Isolation des bürgerlichen Individuums: Kierkegaards Innerlichkeit sei demnach nichts anderes als der abstrakt-philosophische Ausdruck für den materiellen Innenraum des kapitalistischen Subjekts: des Intérieur der bürgerlichen Wohnung Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Mit dieser materialen Dechiffrierung eines abstrakten Begriffs beabsichtigt Adorno, Kierkegaards gesamte Konzeption soziologisch aufzulösen. Die verschiedenen Gegenstände und Möbelstücke im Innenraum der Wohnung entsprechen in
Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, GS 3, S. 16. Dabei war Adorno offenbar von Walter Benjamins Denken beeinflusst, insbesondere von dessen „Erkenntniskritischer Vorrede“ zum Ursprung des deutschen Trauerspiels. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 214– 218. Vgl. dazu: Müller-Doohm, Adorno, S. 188.
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Adornos Lektüre den subjektiven Eigenschaften ihres Bewohners und dessen „Innenleben“. Dabei spricht Adorno stets von Innerlichkeit als einer subjektiven Sphäre, in die das Subjekt imaginär vor der Gesellschaft fliehen, sich zurückziehen zu können glaubt. In Kierkegaards Philosophie war jedoch niemals die Rede von Innerlichkeit als einer solchen Sphäre. Sie bezeichnete nicht das unmittelbare Verhältnis des Individuums zu sich selbst, wie Adorno es polemisch und allegorisch darstellt, sondern gerade das durch ein Anderes, Unbekanntes vermittelte Selbstverhältnis. Aber auch in diesem Zusammenhang führt Adornos entstellte Darstellung des Kierkegaardschen Arguments in eine an sich richtige, zutreffende und originäre Erkenntnis. Denn Adorno geht es in erster Linie um eine immanente Kritik der Struktur der modernen Subjektivität. Kierkegaards Kategorien des Selbst, der Existenz, der Innerlichkeit sind für ihn Anlass, nach der modernen „Entfremdung von Subjekt und Objekt“ zu fragen,¹⁶ sie in ihrer inneren, immanenten Bedeutung für das Subjekt aufzuzeigen. Die Konstitution der modernen Subjektivität – so lautet die These, die Adorno im Kierkegaard-Buch entwirft und in seinen späteren Arbeiten ausarbeitet und vertieft – beruht nämlich auf derselben Grundlage, die zu ihrer eigenen Entfremdung führt. Die kategorische Entgegenstellung von Subjekt und Objekt, Geist und Natur, rufe eine Konzeption von Subjektivität hervor, die sich als reiner Geist, als objektlos begreift – und damit alle Konkretion, Sinnlichkeit, Leiblichkeit ablehnt. Daher rühre Kierkegaards spirituell-religiöse Subjektivität: Die Negativität seiner Innerlichkeitskonzeption besteht nach Adorno darin, dass sie kein Objekt hat. Eine solche Absage an die Natur, an die objektiven Strukturen der Wirklichkeit, führe deshalb zur Entfremdung, weil sie sich für die Bedeutung der objektiven, äußeren Wirklichkeit für das Innere des Subjekts blind mache.Von hier aus werde der Weg zu einer Ideologisierung der Subjektivität gebahnt. Dies ist der wesentliche Kritikpunkt Adornos am Begriff der Innerlichkeit, sowohl im Kierkegaard-Buch als auch in den späteren Schriften: Innerlichkeit sei folglich eine Form von Ideologie, die das Subjekt über dessen eigene objektive Konstitution täusche. Sie stelle eine gegebene, eigenständige, freie Kategorie vor, werde aber zugleich notwendig durch die Gesellschaft hervorgebracht und formiert. Darin besteht Adorno zufolge die Dialektik der Innerlichkeit, die zugleich eine Dialektik subjektiver Freiheit ist. Trotz Adornos radikaler Kritik an Kierkegaards Konzeption werde ich zu zeigen versuchen, dass er stillschweigend wesentliche Gedanken Kierkegaards implizit aufnimmt – und dass diese Gedanken hintergründig jedoch mit entscheidender Bedeutung in seinem Denken fungieren. Kierkegaards Konzeption
Adorno, Kierkegaard, S. 42.
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der Innerlichkeit richtet sich auf die Idee der Wahrheit, während jene negativkritische Selbstbezüglichkeit für ihn die einzige Weise darstellt, in der subjektive Wahrheit erfahrbar wird. Adorno überträgt in seinem Kierkegaard-Buch diesen Gedanken in den Bereich des Ästhetischen hinein. Mit Bezug auf Kierkegaards eigene Schriften behauptet er, dass Wahrheit zuerst eine ästhetische sei: unmittelbar und subjektiv. Adornos Argument besteht in einer Freilegung der im ästhetischen Schein verborgenen Wahrheit. Das Ästhetische sei demzufolge der Bereich, in dem sich subjektive Wahrheit erschließt – zwar, im Anschluss an Kierkegaard verstanden, durch einen negativen Prozess, jedoch im Unterschied zu diesem: Adornos Gedanke zentriert sich um die Rettung des zerfallenden ästhetischen Scheins. Gerade im Zerfall, in der Auflösung dessen, was das Ästhetische hervorruft, komme Wahrheit zum Ausdruck. Darin bestehen die Nähe und die Differenz zu Kierkegaard: Beiden zufolge konstituiert sich subjektive Wahrheit durch einen negativen Prozess; am Begriff subjektiver Wahrheit, in seiner Negativität, zeigt sich jedoch die Differenz. Während für Kierkegaard subjektive Wahrheit die innere Wahrheit des einzelnen Individuums bedeutet, hervorgerufen durch Leidenschaft und individuelle Erfahrung, stellt diese Wahrheit für Adorno die Wahrheit über das individuelle Subjekt; Wahrheit ist für ihn im Grunde eine Kritik: der Unmittelbarkeit, der Selbsttäuschung, der entfremdeten Subjektivität. Trotz dieser wesentlichen begrifflichen und perspektivischen Differenzen möchte ich behaupten und darstellen, dass und inwiefern Adorno Kierkegaard schließlich in dessen praktisch-philosophischem Ziel folgt. Beiden geht es um eine kritische Aufdeckung jener strukturellen Entstellungen des modernen Selbst in dessen Verhältnis zu sich selbst und zur objektiven Welt. Beide verfolgen das Ziel einer Rettung des Besonderen. Adornos frühe, ästhetische These über die Rettung des Scheins muss unter diesem Aspekt betrachtet werden. Denn konzeptuell bedeutet der ästhetische Schein nichts anderes als das Ephemere, Augenblickliche, Singuläre, das der Allgemeinheit, der herrschenden Vernunft unverständlich bleibt – und von dieser zugleich bedroht wird. Adornos ästhetische Auffassung – vom frühen Kierkegaard-Buch bis hin zur posthum erschienenen Ästhetischen Theorie – ist zugleich eine praktisch-philosophische, eine ethisch-politische. An dieser Idee zeigt sich eine weitere bedeutsame Gemeinsamkeit im Denken Kierkegaards und Adornos. Mit der Rettung des Besonderen wird eine bestimmte, spezifische Rettung gemeint: die „Rettung“ vor Hegels Auffassung eines Primats des Allgemeinen. In gewissem Sinne ist es gerade die Auseinandersetzung mit Hegels Ansicht zum Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem, die für Kierkegaard wie für Adorno das praktisch-philosophische Hauptanliegen bildet. Beide entwickeln ihre Argumente in kritischem Anschluss an Hegels Philosophie, insbesondere im Hinblick auf die Hegelsche Sittlichkeitskonzeption. Sowohl Kierkegaard als auch Adorno nehmen Bezug auf diese, beide beziehen sich oft insbesondere auf §140 der Hegel-
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schen Rechtsphilosophie, in dem jene negative Konzeption der Subjektivität, samt ihren ironischen Aspekten, einer scharfen Kritik unterzogen wird. Dabei hatte Hegel hauptsächlich die zeitgenössische romantische Subjektivität vor Augen. Kierkegaard und Adorno beabsichtigen zwar keineswegs eine Rückkehr zur Romantik, beide behaupten jedoch, dass Hegel mit seiner eigenen Konzeption der Sittlichkeit und mit der Stellung, die dem Einzelnen darin eingeräumt wird, jene Singularität und Besonderheit preisgebe, die für das Verständnis kritischer Subjektivität unentbehrlich wäre. Insofern teilt Adorno Kierkegaards Intention, eine Konzeption inkommensurabler und deshalb freier, kritischer Subjektivität herauszuarbeiten, ganz im Gegensatz zu Hegels Ansicht. In Adornos Augen verfehlt Kierkegaard allerdings sein eigenes Ziel. „Kierkegaard hat nicht das Hegelsche Identitätssystem ‚überwunden‘; Hegel ist bei ihm nach innen geschlagen“;¹⁷ „was diesem die Weltgeschichte, ist für Kierkegaard der einzelne Mensch“.¹⁸ Und das heißt: Kierkegaard hat zwar, so Adorno, das Problematische an Hegels Identitätsphilosophie richtig erkannt, insbesondere in deren Implikation für die Singularität des Einzelnen; er vermag jedoch keine plausible Alternative zu entwerfen. Adornos philosophisches Ziel kann insofern darin gesehen werden, Kierkegaards gescheitertes Projekt einer Rettung des Besonderen kritisch wiederaufzunehmen. Mein Interpretationsansatz in der vorliegenden Studie besteht in der Darstellung und Untersuchung dieser These im Hinblick auf das komplexe thematische Verhältnis zwischen beiden Philosophen. In der Forschungsliteratur zu Kierkegaards ebenso wie zu Adornos Philosophie wird dem Verhältnis zwischen den beiden eine angesichts seiner Bedeutung erstaunlich marginale Aufmerksamkeit geschenkt. Lediglich vereinzelte Studien widmen sich diesem Verhältnis, und zwar hauptsächlich in struktureller Hinsicht. Damit ist entweder eine vergleichende Analyse der Grundkategorien beider Denker gemeint, wie sie vor allem Hermann Deuser in seiner umfangreichen und gründlichen Studie Dialektische Theologie unternimmt;¹⁹ oder es werden die oben genannten rückblickenden rezeptionsgeschichtlichen Darstellungen vorgelegt, in denen die verschiedenen Stufen und Facetten von Adornos Kierkegaard-Rezeption analysiert werden. Meine Studie bezieht sich auf diese Untersuchungen als die soliden Prämissen, von denen sie ausgeht, um nach der inneren, impliziten systematischen Ebene des Verhältnisses zu fragen. Das thematische Verhältnis zwischen Kierkegaard und Adorno, das den Gegenstand meiner Arbeit bildet, betrifft in dieser Hinsicht zentrale philosophische Begriffe und Konzeptionen, die für beide Denker eine Ebd., S. 49. Ebd., S. 108. Hermann Deuser, Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Metaphysik und zum Spätwerk Adornos, München 1980 (Gesellschaft und Theologie: Fundamentaltheologische Studien, Bd. 1).
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besondere aber oft übersehene Bedeutsamkeit haben, deren Herausarbeitung die Philosophien Kierkegaards und Adornos – jede aus der Perspektive der anderen – jeweils anders beleuchten soll. Gerade der für Kierkegaard entscheidende Begriff der Innerlichkeit steht im Zentrum der kritischen Argumentation Adornos – gelegentlich mit direkter Bezugnahme auf Kierkegaard, oft nur in einer impliziten, assoziativen Verbindung. Für Adorno ist es gerade die zur Ideologie gewordene Innerlichkeit, die einer freien, kritischen Subjektivität entgegensteht. Die Kritik der als Innerlichkeit aufgefassten Subjektivität, die Adorno im Kierkegaard-Buch als eine philosophisch-soziologische Dechiffrierung entfaltet (der Kierkegaardschen „Philosophie der Innerlichkeit“ stellt Adorno eine „Soziologie der Innerlichkeit“ entgegen, eine Untersuchung der historischen und sozialen Hintergründe von Kierkegaards Konzeption),²⁰ wird in seinen nachfolgenden Arbeiten fortgeschrieben. Der Thematik einer Subjektivitäts- und Innerlichkeitskritik werden in allen Hauptwerken Adornos Überlegungen gewidmet, die sich auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft beziehen. Dabei problematisiert Adorno mehrfach die Innerlichkeit als „die subjektiv beschränkte Gestalt der Wahrheit“, die ideologisch zum Mittel der Herrschaft werde.²¹ Die moderne Absage an die objektive Natur und die Suche nach Wahrheit im Subjektiven allein kehren sich Adorno zufolge um und münden in einer repressiven Verinnerlichung jener negierten Objektivität selbst. Das ist die Grundstruktur der These, die Adorno in verschiedenen Zusammenhängen und auf unterschiedliche Weisen expliziert. Sofern Adornos kritische Wiederaufnahme des Kierkegaardschen Projekts hervorgehoben wird, zeigt sich hingegen, dass auch Adorno eine Art Innerlichkeitskonzeption entwirft. Zwar unterscheidet sich diese grundsätzlich von der Kierkegaardschen und wird keineswegs Innerlichkeit genannt; Kierkegaards Grundintention lässt sich aber – so ist die These, für die ich argumentieren werde – in Adornos Verständnis der Subjektivität selbst wiederfinden. Kierkegaards Begriff der Inkommensurabilität hallt unmissverständlich in Adornos Idee des Nichtidentischen nach. Subjektivitätstheoretisch bedeutet Nichtidentität jene Momente am Subjekt, die begriffslos, unverständlich, irreduzibel sind; die eine Diskrepanz markieren: im Subjekt selbst ebenso wie zwischen dem Subjekt und dem objektiven Allgemeinen. Sie verweist auf eine notwendige Spaltung im Subjekt selbst; darauf, dass subjektiver Selbstbezug durch ein Anderes vermittelt ist: durch das, was das Subjekt nicht selbst ist, aber im Subjekt selbst fungiert und es unmittelbar bestimmt. Die systematische Nähe zu Kierkegaards Verständnis der inkommensurablen
Adorno, Kierkegaard, S. 70. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 166.
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Subjektivität wird hier immer deutlicher. In einem entscheidenden Punkt bleibt jedoch die Differenz zu Kierkegaard unüberwindbar: Obwohl Adorno das Ziel einer Rettung des Besonderen vor dessen restloser Identifizierung mit dem objektiven Allgemeinen vor Augen hat, behauptet er im Gegensatz zu Kierkegaard nicht, dass die Wahrheit ausschließlich im Subjektiven zu finden wäre. Bei aller Kritik an der negierten Wirklichkeit erkennt Adorno in Übereinstimmung mit Hegel den Vorrang des Objektiven an – nicht zuletzt in der Konstruktion der Subjektivität und im Aspekt ihrer Wahrheit. Objektivität versteht Adorno, anders als Kierkegaard, nicht als jenen negierten Gegensatz der Subjektivität, sondern als für diese konstitutiv. Das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst sei demnach immer durch ein Objektives vermittelt. Dabei bedeutet das Objektive für Adorno beides: sowohl die Natur als auch die Gesellschaft und deren Ideologie. Dass Subjektivität durch ein konstitutives Objektives vermittelt wird, muss daher auf diese beiden Bedeutungen der Objektivität zurückgeführt werden. Aus der Bedeutungsdiskrepanz rührt die Komplexität der Subjektivitätskonzeption Adornos her. Das Verständnis der Natur als konstitutiv für Subjektivität hat für ihn eine durchaus positive, erwünschte Bedeutung. Dass diese Bedeutung in einigen Subjektivitätsauffassungen – von Kierkegaard bis Heidegger – fehlt, mache sie daher defizitär. Das Verständnis des Objektiven als Ideologie ist hingegen im negativen Sinne gemeint, als ursächlich für die Entfremdung des modernen Subjekts durch die gesellschaftlichen Strukturen. Das zwiespältige Selbstverhältnis des Subjekts – einerseits durch ein Nichtsubjektives vermittelt, andererseits in kritischer Opposition zur objektiven Wirklichkeit – hängt mit dem Aspekt der Nichtidentität zusammen, mit der Negativität in Adornos Konzeption der Subjektivität. Es wird sich jedoch zeigen, dass Negativität ebenfalls mehrdeutig verwendet wird; dass ihre verschiedenen Deutungen einander oft sogar widersprechen. Adornos Begriff Negativität bezieht sich einerseits auf die absolute Andersheit, die das Bestehende stets übersteigt, transzendiert und daher als solche niemals zur Gänze begriffen werden kann. Andererseits handeln seine Überlegungen oft von einer „irdischeren“ Negativität, die man als eine gesellschaftliche, kritische bezeichnen kann. Damit ist eine Kritik des Bestehenden in seinem Sosein gemeint, die auf eine Freilegung und Beseitigung unterdrückender Herrschaftsstrukturen abzielt, und zugleich auch eine Kritik jenes Denksystems – des „identifizierenden Denkens“ –, das diesen Strukturen zugrunde liegt. In diesem Zusammenhang hat der Gedanke der Nichtidentität ebenfalls subjektivitätstheoretische Konsequenzen. Wahre subjektive Erfahrung konstituiert sich nach Adorno durch einen negativen Prozess, in dem das Subjekt die Unmöglichkeit einer restlosen Identität mit sich selbst erfährt. Damit begegnet er einerseits jenen Theorien, die dem Subjekt einen Primat der Erkenntnis zuschreiben, sobald es über eine Selbstgewissheit durch Selbstidentität zu verfügen behauptet (Existentialismus); andererseits jenem „Identitätsdenken“, das die Differenz des einzelnen
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Subjekts zum Objektiv-Allgemeinen durch Identität ersetzt (Hegel). Der Gedanke der Nichtidentität des Subjekts kann als die ergänzende Antithese zu den subjektivitätskritischen Erläuterungen der Dialektik der Aufklärung angesehen werden. Kritisieren Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung eine subjektivitätstheoretische Fehlentwicklung, die darin besteht, dass die Konstitution der modernen Subjektivität stets mit einer instrumentellen Herrschaft über die Natur einherging – schließlich auf Kosten der Autonomie des Subjekts selbst – so stellt das negative Verständnis einer mit sich selbst nichtidentischen Subjektivität, eines nichtsubjektiven (mit dem Subjekt nicht identischen) Moments im Subjekt selbst, die entgegengesetzte These dar. Eine solche Offenheit, eine solche Spaltung im Subjekt selbst steht systematisch dem instrumentellen Subjektivitätsverständnis entgegen. Gerade die Undurchsichtigkeit, Ungewissheit, Unbeständigkeit sind demnach die Momente, die das Subjekt „wahrheitsfähig“ machen, die es vor ideologischen Entfremdungstendenzen „schützen“. Hinsichtlich der realen Möglichkeit einer solchen negativ-kritischen Konzeption von Subjektivität hegt Adorno jedoch tiefe Zweifel. Das Moment des Negativen, Inkommensurablen, Nichtidentischen zeigt sich zwar als notwendig für das Verständnis einer nicht-entfremdeten, freien Subjektivität; Adorno beobachtet aber zugleich die historische Tendenz einer Verunmöglichung dieses Moments. Die gesellschaftlichen und ideologischen Bedingungen, die er diagnostiziert, sind solche, in denen das auf Identität beruhende herrschende Denken bestrebt ist, jeden Widerstand, jede Abweichung zu annullieren. „Was widersteht, darf überleben nur, indem es sich eingliedert“, lautet eine der Grundthesen der Dialektik der Aufklärung. ²² So beschreiben die Minima Moralia kulturelle Phänomene, die davon zeugen, dass das „Inkommensurable […] gerade als solches kommensurabel gemacht“ werde.²³ Anhand einer mikrologischen Dechiffrierung alltäglicher Denk- und Verhaltensweisen, Lebens- und Gegenständlichkeitsformen, untersucht Adorno die strukturelle Tendenz einer Absage an das Besondere – nicht zuletzt in subjektivitätstheoretischer Hinsicht. Die Interpretation kultureller und ästhetischer Phänomene wird oft auf die Form bezogen, die die Subjektivität selbst angenommen zu haben scheint. Damit konstatiert Adorno, dass jene Subjektivitätsauffassung, die auf der inkommensurablen Singularität des Einzelnen und dessen unaufhebbarer Differenz zum Allgemeinen beruht, immer unmöglicher wird. Auch in diesem Gedanken zeigt sich Adornos Nähe zu Kierkegaards negativkritischer Auffassung. In Adornos sozialhistorischer Sicht ist es genau eine solche Inkommensurabilität, auf der wahre subjektive Erfahrung beruht – und eben diese
Ebd., S. 153. Theodor W. Adorno, Minima Moralia, GS 4, S. 73.
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Inkommensurabilität wird in den gesellschaftlichen und ideologischen Bedingungen des Spätkapitalismus zweifelhaft und prekär. Diese Betrachtungen stehen in einem sachlichen Zusammenhang mit Adornos radikalem Vorwurf an Hegel, dessen Philosophie trage zur „Liquidation des Besonderen“ bei. Dieser Vorwurf muss vor dem Hintergrund seiner These von der absoluten Kommensurabilisierung des Lebens verstanden werden. Hegels Absage an das Kontingente, Unbeständige, Begriffslose korreliere mit einer bestehenden gesellschaftlichen Tendenz, die Hegel – Adorno zufolge – zugleich beschreibt und bejaht. Inwiefern dabei ein kausales Verhältnis zwischen Hegels Standpunkt und der späteren geistesgeschichtlichen und kulturellen Entwicklung festzustellen wäre, ist freilich schwer zu sehen. Adorno zieht jedoch eine direkte Linie zwischen der philosophischen Konzeption, die das Besondere verneint, und dem historischen Prozess, der in den brutalen Exzessen des zwanzigsten Jahrhunderts kulminiert: in den Ereignissen der Menschenvernichtung, die dem Prinzip der absoluten Identität und der buchstäblichen Vernichtung des abweichenden Inkommensurablen folgen. Diese Ereignisse selbst sind Adorno zufolge auch für jenes negative Subjektivitätsverständnis von Bedeutung. Sie verdeutlichen den Liquidierungsprozess, dessen Kulminationspunkt sie darstellen, bilden jedoch keineswegs eine besondere Ausnahme vom konsequenten Geschichtsverlauf. Auch diesbezüglich – hinsichtlich der philosophischen Bedeutung des Holocaust – trägt Adorno eine gegenläufige, widersprüchliche Feststellung vor. Einerseits wendet er sich gegen jeden Versuch, dem Holocaust Sinn zuzuschreiben; die einzig mögliche Deutung des Geschehenen müsse sich auf die Unmöglichkeit einer solchen Deutung beziehen, auf ihre absolute Sinnlosigkeit. Andererseits betreffen nach Adorno diese Ereignisse die Form von Subjektivität überhaupt; sie führen zu einer absoluten und radikalen Veränderung der Bedeutung jedes Denkens über den Selbst- und Weltbezug des Subjekts. Insofern führen sie, philosophisch betrachtet, zu einer Verschiebung des Sinns von Negativität, in der nach Adorno – in Übereinstimmung mit Kierkegaard, wenn auch mit bedeutenden Differenzen – jede subjektive Erfahrung, Subjektivität überhaupt, besteht. Im Hinblick auf die oben dargestellten Äquivokationen der negativen Konzeption von Subjektivität erhält diese Konzeption „nach Auschwitz“ eine andere Dimension, die jede Ironie, Inkommensurabilität und Kritik in ein anderes Licht rückt. Der Ausdruck „beschädigte Ironie“ bezeichnet die Konvergenz dieser Dimensionen, die ich in der vorliegenden Arbeit thematisieren und analysieren werde. Die folgende Arbeit versteht sich folglich als der Versuch, diese Thesen zu entfalten und ihre ästhetische, ethische und politische Bedeutung zu hinterfragen. Das Verfahren ist dabei doppelgleisig: In erster Linie werde ich mich einer kritischen Rekonstruktion jenes Subjektivitätsverständnisses widmen, das sich als negativ, ironisch und kritisch versteht – und es im Hinblick auf seinen eigenen
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Anspruch untersuchen, eine Antwort auf positivistische, normative und somit auch unterdrückende Dimensionen zu bieten, die dem Begriff der Subjektivität seit seinen Anfängen anhaften. Die rekonstruierten negativen Konzeptionen der Subjektivität lassen sich insofern als Alternativen zum herrschenden positiven Subjektivitätsdenken verstehen, das dem Subjekt im Sinne der Aufklärung Rationalität, Handlungsfähigkeit und Identität zuschreibt, ohne die Gründe zu berücksichtigen, die diese gerade verhindern. Eine solche falsche Zuschreibung führt nach Kierkegaard zu einer Verzerrung des Selbstverhältnisses des Subjekts, weil sie vom Subjekt fordert, sich an den Strukturen des Allgemeinen zu orientieren und die singuläre Individualität damit preiszugeben. Kierkegaards Negativität richtet sich auf eine individuelle Suche jenseits der Strukturen des Bestehenden, die die Singularität des Subjekts unterdrücken. Adornos Idee einer Rettung des Besonderen ist der Versuch einer Antwort auf dieselbe Frage, jedoch mit anderen Denkmitteln. In der falschen, weil instrumentellen Rationalität unter der Herrschaft des Identitätsprinzips gründet nach Adorno ein entfremdetes Subjektivitätsverständnis, das gerade durch die Berufung auf Individualität und Freiheit das Subjekt jener individueller Autonomie beraubt, die es positiv erreicht zu haben glaubt und es in eine „bloße Reflexionsform der Eigentumsverhältnisse“ verwandelt.²⁴ Die Gesellschaft und ihre Ideologie verhindern demnach genau diese Konzeption, die sie selbst voraussetzen. In subjektivitätstheoretischer Hinsicht bildet Adornos Begriff der Nichtidentität ein Alternativverständnis zur ideologisch entfremdeten Subjektivitätsauffassung. Im Zentrum der Untersuchung steht insofern die Frage nach der Notwendigkeit eines solchen kritischen Alternativverständnisses – und nach der historischen Tendenz, die dieses immer problematischer, zweifelhafter, unmöglicher macht. In zweiter Linie wird zugleich das Verhältnis der philosophischen Konzeptionen Kierkegaards und Adornos analysiert. Damit wird jedoch keine biographische, philologische oder philosophiehistorische Untersuchung beabsichtigt, und umso weniger ein Vergleich zwischen den Argumenten beider Denker. Die Befragung des Verhältnisses zwischen Kierkegaards und Adornos negativen Konzeptionen der Subjektivität, der Nähe und der Differenz zwischen ihnen, soll zu einer gründlichen Klärung des systematischen Sachverhalts selbst beitragen. Die Suche nach verborgenen Spuren des Kierkegaardschen Denkens in Adornos Philosophie ist insofern nicht primär das Ziel der Untersuchung selbst, sondern ein Mittel zum Zweck: Sie soll die gedankliche Konstellation freilegen, die sich um jenes ironische, negative, kritische Verständnis von Subjektivität in der Moderne dreht – um damit die Bedingungen ihrer Möglichkeit und sozialhistorischer
Ebd., S. 175.
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Verunmöglichung ans Licht zu bringen. Daher werde ich mich im Grunde hauptsächlich auf Texte und Argumente konzentrieren, die diese spezifische Fragestellung berühren – und keine systematische oder historische Rekonstruktion des gesamten Denkens Kierkegaards und Adornos anstreben. Es wird sich aber zeigen, dass Adorno in fast allen Bezugnahmen auf die Probleme der Subjektivität, der Individualität und der Identität des Selbst implizit von Kierkegaardschen Prämissen ausgeht – vor allem in seiner entscheidenden Kritik an Hegel und in den Betrachtungen über die Tendenz einer Liquidation des Individuums. Gerade aufgrund dieses zweiten, hintergründigen Ziels der Studie hat sie eine eher historische Struktur. Der erste Teil der Untersuchung beschäftigt sich mit Kierkegaards Verständnis der Subjektivität als Innerlichkeit und mit der Bedeutung der Negativität als Ironie, Kritik und Unverständlichkeit hierin.Während sich das erste Kapitel hauptsächlich durch eine Lektüre von Entweder/Oder auf die von Kierkegaard ironisch negierten Begriffe der Innerlichkeit – der romantisch-ästhetischen und der hegelianisch-ethischen – konzentriert (Kapitel I.1), verhandelt das nächste Kapitel Kierkegaards eigene Konzeption einer negativ aufgefassten Subjektivität. Dabei wird auf zentrale Argumente aus verschiedenen Schriften –Philosophische Brocken, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift, Furcht und Zittern und Der Begriff Angst – Bezug genommen. Kierkegaards Darstellungen der historischen oder literarischen Figuren (wie Sokrates und Abraham) sind hier von großer Bedeutung: Kierkegaard präsentiert sie als Beispiele für jene negative Subjektivität, die durch ihre Ironie das Bestehende in Frage stellt (Kapitel I.2). Der zweite Teil der Studie bezieht sich auf Adornos Kritik der Innerlichkeit, wobei zuerst die kritische Rekonstruktion des Kierkegaardschen Denkens in Adornos frühen Kierkegaard-Buch als eine Konstruktion des Ästhetischen hinterfragt (Kapitel II.1); und anschließend eine „Spurensuche“ jener „innerlichkeitskritischen“ Argumente in Adornos späteren Hauptwerken unternommen wird (Kapitel II.2). An dieser Stelle wird die konzeptionelle Nähe Adornos zu Kierkegaard deutlich – trotz Adornos eigener ablehnender, oft pejorativer Äußerungen zu Kierkegaard, die hier detailliert diskutiert werden. Die Äquivokationen und Gegenläufigkeiten in Adornos eigenem Begriff der Negativität werden im dritten Kapitel mit Blick auf seinen Begriff der Erfahrung analysiert. Erfahrung, insbesondere die Dimension subjektiver Erfahrung, wird in Adornos Denken – so ist die These, die die Lektüre präzisieren wird – stets durch ein negatives Geschehen hervorgerufen; dies gilt vor allem für Adornos Begriffe der metaphysischen und der ästhetischen Erfahrung (Kapitel III.1). Indes wird sich zeigen, dass gerade die Kierkegaardsche Frage nach dem Verhältnis von Subjektivität und Wahrheit in Adornos Überlegungen eine besondere, wenn auch indirekte, Antwort erhält. Die thematische Begriffsanalyse richtet sich dabei auf die systematische Verwandt-
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schaft zwischen Kierkegaards Begriff der Inkommensurabilität als der singulären Wahrheit des Einzelnen, die durch das Allgemeine gefährdet wird – und Adornos Begriff des Nichtidentischen. Die Bedrohung durch das objektiv-allgemeine Gemeinwesen nimmt bei Adorno eine reale Gestalt an: Die Lektüre ausgewählter Aphorismen aus den Minima Moralia soll zeigen, worin Adornos These über die Tendenz zur „Kommensurabilisierung des Inkommensurablen“ besteht und welche Formen sie im konkreten Leben, in Kultur und Alltag, annimmt (Kapitel III.2). Denn das Kommensurabelwerden alles Inkommensurablen bedeutet eine sozialhistorische Beschädigung jener Subjektivitätsform, die ich mit Kierkegaard als negativ-ironisch und mit Adorno als negativ-kritisch bezeichne. Besteht das subjektivitätstheoretische Ziel beider Denker in der „Rettung des Besonderen“, so ist es gerade dieses Ziel, das Adorno zufolge in der spätmodernen, spätkapitalistischen Gesellschaft durchaus verfehlt wird. Sowohl die Ideologie, die das Selbstverhältnis der Individuen zugleich bestimmt und verzerrt, wie auch der historische Prozess jener „Liquidation des Besonderen“, der in Auschwitz kulminierte, sind Gegenstände des letzten Kapitels (Kapitel III.3.) Die philosophische Bedeutung einer in Ironie und Negativität begründeten Subjektivität lässt sich – so die These, mit der die Arbeit schließt – von der Beschädigung dieser Subjektivitätskonzeption selbst nicht trennen. Ihre Möglichkeit besteht jedoch, negativdialektisch, „kraft des Absurden“.
Teil I Kierkegaards Ironie. Das Paradox der Subjektivität
1 Weder/Noch. Kierkegaards Kritik der ästhetischen und der ethischen Innerlichkeit Mit der Innerlichkeit, so lautet ein Kerngedanke der Kierkegaardschen Philosophie, sei es „derzeit“ schlecht bestellt. Um diesem Gedanken in Kierkegaards Sinn auf die Spur zu kommen, müsste er zugleich als eine Kritik der Gegenwart und als Beschreibung einer überzeitlichen Konstellation verstanden werden. In seinem bedeutenden philosophischen Werk, das die frühe ästhetisch-ethische Schaffensphase beendet, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, bringt Kierkegaard das Paradox der Innerlichkeit zu einer radikalen Zuspitzung: „Die Subjektivität, die Innerlichkeit ist die Wahrheit“,¹ heißt es dort, gefolgt einige Paragraphen später von dem Satz „Die Subjektivität ist die Unwahrheit“.² An dieser doppeldeutigen, widersprüchlichen Formulierung zeigt sich der aporetische Charakter der Subjektivitätskonzeption Kierkegaards. Subjektivität, in ihrer spezifischen Bedeutung als Innerlichkeit, gründet demnach in einem Paradox, das aus ihrem Wahrheitsstatus herrührt. Zu diesem begrifflichformal negativen, weil aporetischen und paradoxen Charakter der Kierkegaardschen Innerlichkeit kommt in der Nachschrift allerdings ein weiterer negativer Aspekt hinzu – und zwar hinsichtlich ihres sozialhistorischen Status. Kierkegaards zeitkritische Diagnose lautet, „daß man in unserer Zeit vermittels des vielen Wissens vergessen habe, was es heiße, zu existieren, und was Innerlichkeit zu bedeuten habe“.³ Die problematische und paradoxe Konzeption der Innerlichkeit, so kann man die doppelte These rekonstruieren, scheint ihre praktisch-reale Relevanz zu verlieren. Nicht nur wird hier behauptet, wahre Subjektivität als Innerlichkeit sei eine beinahe unmögliche, irreale Konzeption, sondern es wird zugleich beklagt, dass sie in Vergessenheit geraten sei, dass ihre praktische Bedeutung für die menschliche Existenz nicht mehr relevant werde. Eine solche
SKS 7, 186 / AUN1, 194– 195. SKS 7, 191 / AUN1, 198 – 199; Hier rechnet Kierkegaard, unter dem Pseudonym Johannes Climacus, der „Spekulation“, also der Hegelschen Philosophie, eine negative Bestimmung der Subjektivität (im Gegensatz zur Wahrheit der Objektivität) zu. Die eigentliche Überlegung des Kierkegaard-Climacus besagt jedoch, dass die Subjektivität lediglich zunächst unwahr sei, solange das Individuum in „Sünde ist“, dass sie es jedoch nicht ewig sein könne. Diese paradoxe Behauptung ist charakteristisch für Kierkegaards Verhältnis zu Hegels Philosophie, auf das in den nächsten Kapiteln dieser Arbeit – wenn auch am Rande – eingegangen wird. Vgl. dazu Arne Grøn, „Subjektivität und Un-Wahrheit“, in Schleiermacher und Kierkegaard: Subjektivität und Wahrheit, hg. von Niels Jørgen Cappelørn, Richard Crouter, Theodor Jørgensen und Claus-Dieter Osthövener, Berlin und New York 2006 (Kierkegaard Studies. Monograph Series, Bd.11), S. 13 – 28. SKS 7, 226 / AUN1, 242; Hervorhebung im Original.
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doppelte Behauptung müsste in jeder Hinsicht eine Herausforderung für den – praktischen wie theoretischen – Verstand darstellen; sie sprengt jeden Rahmen von Logik und praktischer Rationalität. Die Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift verhandelt diese subjektivitätstheoretische These in Rückblick auf Kierkegaards bisherige pseudonyme Schriften. Dabei hängt die Frage nach der Wahrheit oder Unwahrheit der Subjektivität mit dem Begriff der personalen Identität zusammen. Sie betrifft das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst, zur eigenen Identität. Und die Ironie – als die notwendige Diskrepanz zwischen Subjekt und Objekt – ist für Kierkegaard mithin ein untrennbarer Bestandteil dieser Fragestellung. So ist auch die Weise, in der der „Anhang“ am Ende des ersten Bandes der Nachschrift die ästhetische und ethische Bedeutung der Innerlichkeit in Kierkegaards bisherigen pseudonymen Schriften darstellt, eine durchaus ironische. Unter dem Titel „Blick auf ein gleichzeitiges Bemühen in der dänischen Literatur“ legt Johannes Climacus, ebenfalls pseudonymer Autor der Nachschrift, seine Intention frei, das Problem der Innerlichkeit im „Existenzverhältnis zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen in existierender Individualität entstehen“ zu lassen.⁴ Auf Kierkegaards pseudonyme Schriften ironisch rückblickend notiert er: Was ich tun wollte,war hier just getan. Mir wurde ganz unglücklich zumute bei dem Gedanken an meinen feierlichen Entschluß, aber dann dachte ich auch wieder: Du hast ja keinem etwas versprochen; wenn es nur getan wird, so ist es ja gut. Es kam aber noch toller für mich; denn nacheinander Schritt für Schritt erschien jedes Mal, wenn ich eben anfangen wollte, meinen Entschluß zu realisieren und in die Tat umzusetzen, eine pseudonymische Schrift, die das ausführte,was ich beabsichtigt hatte. In der ganzen Sache lag etwas sonderbar Ironisches; und es war gut, daß ich nie zu einem Menschen von meinem Entschluß gesprochen habe, daß mir nicht einmal meine Wirtin etwas angemerkt hatte; denn sonst hätte man wohl über meine komische Situation gelacht, wie es ja auch recht schnurrig ist, daß die Sache, die ich zu übernehmen beschlossen habe, gute Fortschritte macht, nur nicht durch mich.⁵
Der auffallend ironische Ton dieser Bemerkung stellt hier durchaus nicht nur ein formal-stilistisches Mittel dar, sondern betrifft den inhaltlichen Kern der subjektivitätstheoretischen These: die Ironie, die die Differenz im Subjekt selbst markiert und Kierkegaards Begriff der Innerlichkeit überhaupt zugrunde liegt. Innerlichkeit lässt sich hier sowohl als die eigene wie auch als eine „fremde“ oder „entfremdete“ Subjektivität verstehen – und damit als eine innere und zugleich auch als eine „äußere“ Wahrheit. Sofern die innere, subjektive Wahrheit zu einer äußeren, objektiven Wahrheit wird, widerspricht sie sich selbst: Subjektiv wird sie
SKS 7, 228 / AUN1, 243. SKS 7, 228 / AUN1, 245.
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unwahr. Daher bildet das Versteckspiel der Pseudonyme nicht nur eine literarische Form, sondern stellt auch ein philosophisches Argument dar. Die pseudonymen Figuren, die über ihre eigene Subjektivität reflektieren, sind niemals unmittelbar so, wie sie sich selbst vorstellen und verstehen; jede Figur ist immer zugleich eine andere und wird immer durch eine andere mitkonstruiert. Damit wird, ironischerweise, die eigene Subjektivität erst durch das Verhältnis zur Selbstbezüglichkeit eines anderen wahrgenommen; jenes andere ist deshalb für die eigene Selbstbezüglichkeit konstitutiv. Das Spiel mit der Ironie betrifft folglich die genannte Diskrepanz von Wahrheit und Unwahrheit der Subjektivität, auf die ich in der folgenden Darstellung eingehen werde. Das Spiel mit der Ironie erhält schließlich am Ende des zweiten Bands der Nachschrift eine weitere Wendung. Dort räumt ihr Autor ein, „was realiter kaum für jemand ein Interesse haben kann zu wissen, daß ich, wie man sagt, der Verfasser bin“⁶ – nämlich der bisherigen pseudonymen Schriften, die anschließend einzeln aufgelistet werden. Die Identität des Autors, wie die seiner pseudonymen Figuren, ist alles andere als unmittelbar gegeben, sie formiert sich erst durch das Versteckspiel der Ironie, durch Täuschung und Verdeckung, durch Mitteilen und Geheimhalten. Innerlichkeit stellt in Kierkegaards Schriften ein unlösbares Paradox dar, weil sie sich nicht direkt mitteilen lässt, während sie zugleich einen Wahrheitsanspruch erhebt, der eine solche Mitteilbarkeit voraussetzt. Interpretationen, die diese Problematik der Innerlichkeit dadurch zu lösen behaupten, dass sie sie lediglich für dialektisch erklären,⁷ scheinen den tiefer liegenden unauflösbaren, unaufhebbaren und aporetischen Charakter der Kierkegaardschen Philosophie zu verfehlen.⁸ Denn der wichtige Kritikpunkt Kierkegaards an Hegels Dialektik betraf gerade deren „bloß“ spekulativ-abstrakten Charakter. Kierkegaards Intention war es, die Philosophie für den Einzelnen konkret und lebensnah werden zu lassen, mithin das, woran die Hegelsche Spekulation – Kierkegaard zufolge – scheiterte.Vor diesem Hintergrund geht er der Hegelschen Frage nach Wesen und Erscheinung der Subjektivität, nach dem Verhältnis von Innen und Außen, Mensch und Welt, negativ-kritisch nach.⁹ Sein Gegenbegriff der Subjektivität als Innerlichkeit, im Rückgriff auf Sokrates, bietet eine Art Antwort als eine aporetische Konkretion der
SKS 7, 569 / AUN2, 339. Stephen N. Dunning, Kierkegaard’s Dialectic of Inwardness: a Structural Analysis of the Theory of Stages, Princeton 1985. Vgl. Roy Martinez, Kierkegaard and the Art of Irony, Amherst 2001, insbes. das Kapitel „Socratic Inwardness. An Exercise in Kierkegaardian Aporetics,“ S. 39 – 50. Vgl. dazu Hermann Schweppenhäuser, Kierkegaards Angriff auf die Spekulation: eine Verteidigung, Frankfurt am Main 1967, S. 43.
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dialektischen Spekulation.¹⁰ Durch eine lebendige literarische Rekonstruktion der Widersprüchlichkeit individuellen Lebens, insbesondere der Problematik der Subjektivität, wird vor allem – so lautet die Grundthese der folgenden Interpretation – nicht ihr dialektischer Charakter (als positiv-prozessual), sondern vielmehr der aporetische (als negativ-paradoxal) hervorgehoben. Kierkegaards ironischmaieutische Methode besteht folglich in einer „Verführung“ des Lesers zum eigenen Denken, zum Treffen einer eigenen Entscheidung dadurch, dass ihm das mannigfaltige Spektrum ästhetischer und ethischer (Lebens‐)Erfahrung in deren jeweiligen Höhe- und Tiefpunkten vor Augen geführt wird.¹¹ Dem Leser soll keine klare, handfeste Antwort gegeben werden. Vielmehr soll ihn die sokratische ironischmaieutische Methode dazu bewegen, die Antwort in sich selbst zu suchen und aus sich selbst heraus zu entwickeln. So werden in der frühen Schaffensphase Kierkegaards (in der Kierkegaard-Forschung oft als die Periode der „ästhetischen Verfasserschaft“ bis 1846, im Unterschied zur „religiösen Verfasserschaft“ nach 1846, bezeichnet)¹² die ästhetische und die ethische Lebensform in erster Person geschildert.¹³ Es wird also die subjektive Perspektive, die Form der Innerlichkeit jeder dieser Lebenssphären präsentiert, betrachtet und auf ihre innere Wahrheit „überprüft“. Die Ironie der Innerlichkeitsfrage in diesen Schriften ist insofern eine mehrfache. Das pseudonyme „Schriftstellertum“ ermöglicht es Kierkegaard, „hin-
Zu Kierkegaards Verhältnis zu und Kritik an Hegel vgl. auch Niels Thulstrup, Kierkegaards Verhältnis zu Hegel und zum spekulativen Idealismus, Stuttgart, Berlin, Köln und Mainz 1972; Mark C. Taylor, Journeys to Selfhood: Hegel and Kierkegaard, New York 2000 (Perspectives in continental philosophy, Bd. 14); Jon Bartley Stewart, Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered, Cambridge 2003. Vgl. Wilfried Greve, Kierkegaards maieutische Ethik, Frankfurt am Main 1990. Die Bezeichnungen „ästhetische“ bzw. „religiöse Verfasserschaft“ beziehen sich nicht unmittelbar auf die Thematik der Abhandlungen der jeweiligen Periode, sondern vielmehr auf die Methodik und die Schreibweise. Sicherlich befasste sich Kierkegaard auch vor 1846 mit religiösen und nach 1846 mit ästhetischen Themen. Die Unterscheidung beruht also darauf, dass die frühen „ästhetischen“ Schriften unter Verwendung von Pseudonymen publiziert wurden, eine ironische Methode verwendeten und in einem oftmals literarisch-dichterischen Stil verfasst sind, während die späteren „religiösen“ Schriften nicht mehr ironisch, sondern eher positivanalytischen Charakters waren und in einem erbaulichen predigenden Stil geschrieben wurden. Vgl. Michael Theunissen und Wilfried Greve, „Einleitung“, in Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, hg. von Michael Theunissen und Wilfried Greve, Frankfurt am Main 1979, S. 23 – 53. Die religiöse Lebensanschauung, die aus einer Negation der beiden „vorhergehenden“ Lebensanschauungen hervorgeht und die für Kierkegaard die „authentische“, „wahre“ Lebensform darstellt, wird in den frühen, als „ästhetisch“ bezeichneten pseudonymen Schriften nicht an sich, also nicht unmittelbar in erster Person geschildert, sondern nur durch die Perspektive der anderen: des „Ästhetikers“ (in Die Wiederholung) und des „Ethikers“ (in Furcht und Zittern). Vgl. Dunning, Kierkegaard’s Dialectic of Inwardness, S. 105.
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ter“ seinen Autoren nicht unmittelbar zu stehen: Diese mögen ihre tatsächliche Wahrheit gerade durch die Unwahrheit ihrer Äußerungen gewinnen. Die Rolle der Ironie für die Subjektivitätsfrage besteht hier zunächst darin, dass sie es den Kierkegaardschen Figuren ermöglicht, das Nichtsubjektive an der Subjektivität zu verbildlichen. Das Versteckspiel ermöglicht es, zwischen der Person als Subjekt und deren Äußerungen zu trennen; die Äußerungen und Behauptungen der Figuren dürfen daher jeweils einer anderen Person, einer anderen Figur, einer anderen Anschauung entstammen, ohne dass darauf eindeutig hingewiesen wird. Möglicherweise bedeuten diese Äußerungen das genaue Gegenteil dessen, was die Figur damit zu behaupten beabsichtigt. So ist die Form der Subjektivität als Innerlichkeit, die in beiden „überprüften“ Lebensformen, der ästhetischen und der ethischen, aufgezeigt wird, grundsätzlich ironisch. Beide verhalten sich zur objektiven Wirklichkeit und zu der Möglichkeit ihres richtigen Erfassens notwendigerweise ironisch, da sie sich zugleich als eine Art Subjektivitätskritik verstehen; dies allerdings auf unterschiedliche Weisen. Die Unterschiede zwischen den Darstellungsweisen des ironischen Verständnisses von Subjektivität, die Kierkegaard Innerlichkeit nennt, deuten auf eine neue „Stufe“ der Ironie hin, die zwischen der Fundierung und der Kritik der Subjektivität oszilliert. Die sokratische Innerlichkeit, in ihrer spezifischen Form und subjektivitätstheoretischen Relevanz, beruht auf dem Verständnis sokratischer Ironie. Kierkegaard versteht sie nicht nur als ein rhetorisch-maieutisches Mittel; sie sei auch das Fundament der notwendigen Widersprüchlichkeit, die seiner Innerlichkeitskonzeption zugrunde liegt: Die sokratische Ironie entspricht einer negativistischen Subjektivität, die dem Bestehenden kritisch gegenübersteht – und entspricht gleichzeitig dem Bewusstsein der immanenten Unmöglichkeit einer so begriffenen Subjektivität. Als eine lebbare literarische Trope ermöglicht sie zugleich das, was sie verunmöglicht: das ständige Oszillieren zwischen der Wahrheit und der Unwahrheit der Innerlichkeit. Diese These, die Kierkegaard in der Nachschrift als eine widersprüchliche Zusammenfassung seiner bisherigen Schriften aufstellt, lässt sich in den vorangehenden ästhetisch-ethisch konzipierten Schriften zurückverfolgen und explizieren. Kierkegaards literarische Figuren verbildlichen die Suche nach einem „richtigen“ Subjektivitätsverständnis, nach „wahrer“ Innerlichkeit in der ästhetischen und in der ethischen Lebensform. Die in dieser Suche verborgene Ironie besteht freilich nicht zuletzt darin, dass in beiden Lebensformen die Bedingungen für die Wahrheit der Innerlichkeit gerade diejenigen sind, die auch ihre Unwahrheit begründen. Diese Ironie liegt der Darstellung der Hauptfiguren in Entweder/Oder zugrunde: Die Wahrheitsmomente der Innerlichkeit, über die der Ästhetiker und der Ethiker diskutieren, lassen sich, wie ich in der folgenden Lektüre zeigen werde,
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gleichzeitig an ihrer Unwahrheit erkennen; daran also, dass ihr jeweiliges Subjektivitätsverständnis sich als unplausibel erweist, ja sich selbst verrät. Sowohl in der ästhetischen wie auch in der ethischen Lebensform sind Momente subjektiver Wahrheit zu erkennen, allerdings vermag weder die eine noch die andere über das bloß Subjektive hinauszugelangen. Jenes „Entweder/Oder“, die Forderung nach einer subjektiven Entscheidung für die eine oder andere Lebensform, erweist sich unter dem ironischen Blick als ein „Weder/Noch“: Gerade in ihrem ästhetischen beziehungsweise ethischen Versuch, die Wahrheit der Innerlichkeit im konkreten Leben zu verwirklichen, bringen beide Lebensformen eine subjektive Unwahrheit zum Ausdruck: ihre Unzulänglichkeit und Untragbarkeit. Die aus beiden Lebensanschauungen hervorgehende Unmöglichkeit, wahre Innerlichkeit zu „erlangen“, ihr notwendiges Scheitern, führt das Individuum nach Kierkegaard zu einer richtigen, wahren Auffassung der Innerlichkeit, und zwar auf dem Wege der individuellen Erfahrung der Negativität. Die Negation beider untragbaren Konzeptionen stellt für ihn das wahre Fundament der Innerlichkeit dar: als eines unauflösbaren Paradoxes. Auf das notwendige Scheitern der ästhetischen und der ethischen Subjektivität antwortet Kierkegaard mit einer eigenen negativen Konzeption der Innerlichkeit. Darunter ist eine Innerlichkeit zu verstehen, deren Kraft und Plausibilität gerade aus ihrer Paradoxie gewonnen wird. Sie läuft auf eine ständige Negation des Bestehenden hinaus, jedoch in einem anderen Sinne, als es bei der ästhetischen Negation des Romantikers der Fall war. Als eine negativdialektische Aufhebung des Ästhetischen und des Ethischen entspricht sie gerade der sokratischen Ironie, die das Bestehende durch eine bestimmte Negation stets in Frage stellt. Die bestimmte Negation des sokratischen Ironikers unterscheidet sich insofern grundsätzlich von der unbestimmten ästhetischen Negation, die alles Äußere, Objektive als solches negiert, und von der konkreten ethischen Affirmation des Bestehenden, die die Innerlichkeit des ethischen Subjekts erst durch die Bejahung des Äußeren hervorbringt. Kierkegaards negativer Innerlichkeitsbegriff beruht folglich auf der immanenten Paradoxie, die in diesem Verhältnis von Innen und Außen, von Subjekt und Objekt, Individuum und Welt verborgen ist. Entsprechend werde ich nachfolgend mit einer Darstellung der ironisch-kritischen Argumente in Kierkegaards frühen Schriften beginnen – aus seiner Dissertation Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates und aus Entweder-Oder – und sie im Hinblick auf das Verhältnis von Innerlichkeit und Wahrheit untersuchen. In meiner Lektüre der literarischen Darstellung der Hauptfiguren in Entweder-Oder werde ich mich auf eine Hinterfragung jener ästhetischen und ethischen Lebensdimensionen konzentrieren und dabei vor allem den Begriff und die Problematik der Innerlichkeit diskutieren. „Wahre Innerlichkeit“ versteht sich in beiden problematisierten Lebensformen als ein Maßstab für die „Richtigkeit“ der eigenen Position und als das erwünschte Ziel eines au-
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thentischen Selbstbezugs. Eine nähere Lektüre, die den immanenten Selbstverständnissen und Selbstwidersprüchen nachgeht, wird zeigen, inwiefern diese gezielte Suche nach „wahrer Innerlichkeit“, nach Innerlichkeit als Wahrheit, stets zur Unwahrheit und Selbsttäuschung führt. Die Rekonstruktion dieser beiden frühen Werke dient hier insbesondere als Ausgangspunkt für die Untersuchung der Rolle der Negativität in Kierkegaards Subjektivitäts- als Innerlichkeitsauffassung. Denn erst durch die Negation dieser beiden Lebensformen gelangt er zur Formulierung einer Konzeption, die die Negativität – in ihren verschiedenen Bedeutungen – als notwendiges Prinzip wahrer Subjektivität versteht.
1.1 Die Beherrschung der Romantik. Die Ironieschrift Sowohl die Form der sokratischen Ironie als auch die der romantischen, die Kierkegaard in seiner Dissertation Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates behandelt, lassen sich als negative Formen verstehen: Sie erhalten ihre Geltung durch einen negativen Bezug zur objektiven Wirklichkeit – als eine Art „Negation des Bestehenden“. Jede dieser Ironieformen korrespondiert insofern mit jeweils einer bestimmten Auffassung negativer Subjektivität, die Kierkegaard Innerlichkeit nennt. Die VIII. These, die der Dissertation vorangestellt wird, lautet folglich: „Die Ironie als die unendliche und absolute Negativität ist die leichteste und unscheinbarste Bezeichnung der Subjektivität.“¹⁴ Diese Definition lässt sich auf beide in der Dissertation diskutierten Ironieformen – die sokratische und die romantische – beziehen; zwischen beiden Formen, die zwei verschiedene Konzeptionen von Innerlichkeit entsprechen, besteht eine wesentliche Differenz. Ihre Bedeutung reicht aber über den naheliegenden Unterschied von ästhetischer und ethischer Innerlichkeit hinaus. Diese Differenz werde ich im Folgenden systematisch und werkgenetisch zurückverfolgen. Denn der enge Zusammenhang von Ironie und Innerlichkeit erweist sich als komplexer, sofern man die Verschiebung betrachtet, die Kierkegaards Ironie zwischen der Dissertation und den darauffolgenden Schriften erfährt, nicht zuletzt im Hinblick auf die Entwicklung der negativen Konzeption der Innerlichkeit in diesen Schriften.
SKS 1, 65 / BI, 3. Vgl. auch SKS 1, 299 / BI, 266: „Hier haben wir somit die Ironie als die unendliche absolute Negativität. Sie ist Negativität, denn sie tut nichts als verneinen; sie ist unendlich, denn sie verneint nicht diese oder jede Erscheinung; sie ist absolut, denn dasjenige, kraft dessen sie verneint, ist ein Höheres, das jedoch nicht ist. Die Ironie richtet nichts auf; denn dasjenige, das errichtet werden soll, liegt hinter ihrem Rücken.“
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Kritik der romantischen Ironie In Kierkegaards Dissertation werden die sokratische und die romantische Ironie kritisch gegenübergestellt: Die erste, im Anschluss an Xenophons, Platons und Aristophanes’ Sokratesbilder erläutert,¹⁵ korreliert mit dem Verständnis einer Innerlichkeit, deren Anspruch auf Wahrheit in der grundsätzlichen Negation des Bestehenden gründet. Der Standpunkt des Sokrates ist der der Subjektivität, der Innerlichkeit, welche das Bestehende in sich reflektiert und in ihrem Verhältnis zu sich selbst es auflöst und verflüchtigt in der Gedankenwelle, die sich darüber auftürmt und es fortspült, während die Subjektivität selber wieder zurücksinkt in den Gedanken.¹⁶
Die sokratische Ironie versteht sich demnach als das Fundament und als die Urform aller „wahren“, negativen Subjektivität, weil sie das objektiv Bestehende unmittelbar negiert, „auflöst“. Sie lässt die Wirklichkeit jede Bedeutung „verlieren“ und konstituiert sich selbst als deren Gegensatz. Darin besteht die Differenz zur zweiten Ironieform, der romantischen: Diese wird von Kierkegaard, im Anschluss an Hegels Kritik der Ironie und in Bezug auf Schlegels, Tiecks und Solgers Ironieauffassungen, als eine falsche, defizitäre Konzeption dargestellt, die mit einer genealogisch diagnostizierten „Fehlentwicklung“ der romantischen Subjektivität einhergeht. Kierkegaard unterschiedet beide „Erscheinungsformen“ der Ironie zuerst historisch, dann ihrem Wahrheitsgehalt nach: „Die erste Erscheinungsform ist natürlich diejenige, in welcher die Subjektivität zum ersten Mal in der Weltgeschichte ihr Recht geltend macht. Hier haben wir Sokrates.“¹⁷ Die sokratische Ironie ist nach Kierkegaard nicht nur historisch die erste, sondern auch ihrem Gehalt nach die richtige und gültige, die „berechtigte“, weil sie „wahrer“ Subjektivität zugrunde liegt. Während die erste Form der Ironie nicht bekämpft wurde, sondern dadurch, daß der Subjektivität ihr Recht widerfuhr, zur Ruhe kam, ward die zweite Form der Ironie bekämpft und vernichtet; denn da sie unberechtigt war, konnte ihr allein dadurch, daß sie aufgehoben ward, ihr Recht widerfahren.¹⁸
Xenophons und Platons Sokratesbilder erweisen sich jedoch als falsche, mithin „positivistisch“ gedachte Auffassungen, während der Sokrates, der in Aristophanes’ „Wolken“ dargestellt wird, als richtig, d. h. als ein rein negativer Denker verstanden wird, dessen Gedanken, gleich Wolken, auf die absolute unendliche Negation jedes Inhalts hinweisen und daher einer negativironischen Subjektivität entsprechen. SKS 1, 212 / BI, 168. SKS 1, 282 / BI, 246. SKS 1, 282 / BI, 247.
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Die romantische Ironie stellt für Kierkegaard eine ironische Lebensform dar, die sowohl historisch aufhebbar als auch inhaltlich verfehlt war. Im Gegensatz zur sokratischen Ironie, die „wahre“ Subjektivität in einem kritischen Bezug zur Wirklichkeit, in Anerkennung und Negation des Bestehenden fundiere, formiere sich die romantische Ironie als eine trügerische „überspannte Subjektivität“,¹⁹ sie beruhe auf einer fortwährenden Abwendung von der Wirklichkeit, wodurch das romantische Subjekt gerade nicht frei von jener Wirklichkeit, sondern immer mehr an sie gefesselt wird. Die romantische Negation der Wirklichkeit sei nur eine scheinbare Negation, sie negiere das Bestehende bloß in sich selbst und münde daher in Selbsttäuschung. Die poetische Lebensweise des romantischen Ironikers erweckt bei diesem den Anschein, als wäre er aus der objektiven Wirklichkeit herausgelöst und dadurch imstande, sie aufzulösen. Hierin teilt Kierkegaard Hegels Kritik der romantischen Ironie, der zufolge der Ironiker das Bestehende grundsätzlich nicht anzuprangern vermag, weil es für ihn nicht wahrhaft, sondern nur als eine Erscheinung existiert, die in den Augen des Ironikers keine konkrete Gültigkeit besitzt.²⁰ Hegels Kritik an der seinerzeit verbreiteten ästhetisch-poetischen Lebensanschauung der Romantiker liefert einen wichtigen Impuls für Kierkegaards kritische Auseinandersetzung mit der romantischen Ästhetik im Hinblick auf das Verhältnis von Subjektivität und Wahrheit.²¹ Kierkegaard war in
SKS 1, 311 / BI, 281. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, in Werke, Bd. 13, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 2003, S. 96: „Ironie ist nun einerseits die Eitelkeit alles Sachlichen, Sittlichen und in sich Gehaltvollen, die Nichtigkeit alles Objektiven und an und für sich geltenden. Bleibt das Ich auf diesem Standpunkte stehen, so erscheint ihm alles als nichtig und eitel, die eigene Subjektivität ausgenommen, die dadurch hohl und leer und sie selber eitle wird.“ Vgl. dazu Otto Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik, München 1999 (Philosophie an der Jahrtausendwende, Bd. 2). Niels Thulstrup verweist in seiner wichtigen Studie über Kierkegaards Verhältnis zu Hegel darauf, dass Kierkegaards Kenntnisse der Hegelschen Schriften trotz ihrer mehrfachen Erwähnung in seinen Schriften nicht nur mangelhaft waren, sondern dass Kierkegaards Thesen wesentlichen Positionen Hegels widersprechen. Hinsichtlich des Ironiebegriffs spielten für Kierkegaard vor allem die Ästhetikvorlesungen eine große Rolle (weit mehr als die Rechtsphilosophie und die Geschichte der Philosophie). Die Bezugnahmen auf Hegel ließen sich – Thulstrup zufolge – sogar als ironisch verstehen. „Mit so sehr anerkennenden Worten, daß sie sich ohne weiteres ironisch verstehen lassen, auch wenn das natürlich nicht die einzig mögliche Auffassung ist, wird gesagt,“ – so Thulstrup über Kierkegaards Dissertation – „Hegel habe die ‚verlorenen Söhne der Spekulation‘ auf dem Wege des Verderbens aufhalten wollen, aber dazu bediente er sich nicht immer die glimpfligsten Mittel. Dadurch daß Hegel seine Aufmerksamkeit nur der – unberechtigten – romantischen Ironie gewidmet hat, hat er infolge Kierkegaard die Wahrheit der Ironie übersehen, d. h. ihre relative Berechtigung in einer gegebenen geschichtlichen Situation.“ Thulstrup, Kierkegaards Verhältnis, S. 188.
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seiner Dissertation stark beeinflusst von dieser Hegelschen Position und sie bleibt maßgeblich für die Charakterisierung der romantischen Ironie im Gegensatz zur sokratischen, vor allem unter dem Aspekt der Innerlichkeit.²² Kierkegaard geht es hier jedoch nicht nur um eine Kritik der Ironie als Realitätsverlust im Hegelschen Sinne, sondern auch um eine Art Korrektiv der romantischen Ironie. Über Hegels Kritik der romantischen Ironie hinaus verweist Kierkegaard auf die Verselbständigung der Ironie, die zu ihrer Entstellung und Verzerrung führe. Damit wird den Romantikern nicht nur eine prekäre Selbstentfremdung vorgeworfen, sondern vielmehr auch, dass sie die Ironie „in Wahrheit nicht ernst nehmen“, weil „der ironische Standpunkt […] zur Doktrin“, „die Ironie zum Programm eines geschichtslosen ‚poetischen‘ Lebens“ werde.²³ Das romantische Lebensideal selbst wird für Kierkegaard zum Gegenstand der Kritik. „Ein Ding ist es“, schreibt er, „sich dichten zu lassen und ein ander Ding, sich selber zu dichten“.²⁴ Diese beiden Aspekte poetischen Lebens verweisen auf dessen Aporie: Wolle sich der Romantiker „dichten“, von der Wirklichkeit inspirieren lassen, um dadurch ästhetisch über sie hinauszugelangen, so bleibe er praktisch an diese Wirklichkeit gebunden. Ein solches poetisches Übersteigen der Wirklichkeit müsse eine Selbsttäuschung bleiben. Ein solcher Selbstentwurf enthalte in sich gerade jene Momente der objektiven Wirklichkeit, die er abzulehnen behaupte. Der Romantiker täusche sich dabei über seine Distanzierung von der Wirklichkeit und lebe isoliert in der Illusion einer eigenen poetischen Welt, während er tatsächlich weiterhin in der von ihm negierten Wirklichkeit lebe. Im Anschluss an Hegel sieht Kierkegaard in der romantischen Ironie zum einen eine Entfremdung vom moralischen und sozialen Kontext, zum anderen einen Verlust des Realitätsbezugs und eine dadurch entstehende Selbstentfremdung: Alles in der gegebenen Wirklichkeit Bestehende hat für den Ironiker lediglich poetische Giltigkeit; denn er lebt ja poetisch. Wenn nun aber die gegebene Wirklichkeit dergestalt für den Ironiker ihre Giltigkeit verliert, so liegt dies nicht daran, daß sie eine überlebte Wirklichkeit wäre, die von einer wahreren abgelöst werden muß, sondern daran, daß der Ironiker das ewige Ich ist, welchem keine Wirklichkeit die angemessene ist.²⁵
Ob Kierkegaard dabei die Hegelsche Position zustimmend wiedergibt oder ironisch maskiert, bleibt in der Kierkegaard-Forschung bis heute umstritten. Vgl. Merold Westphal „Kierkegaard and Hegel“, S. 101– 124, insbes. S. 104– 105. Westphal behauptet schließlich: „Having a common enemy does not remove the differences between two people“, S. 104. Gerhard Vom Hofe, Die Romantikkritik Sören Kierkegaards, Frankfurt am Main 1972, S. 134. SKS 1, 318 / BI, 289. Hervorhebung im Original. Ebd.; zu den verschiedenen Dimensionen der Isolierung des Selbst in Kierkegaards Ironieschrift, vgl. K. Brian Söderquist, The Isolated Self. Irony as Truth and Untruth in Søren Kierkegaard’s On The Concept of Irony, Kopenhagen 2007 (Danish Golden Age Studies, Bd. 1).
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Neben der Parodierung der Fichteschen Ich-Ethik übernimmt Kierkegaard von Hegel das Urteil über den Scheincharakter der von den Romantikern hervorgehobenen Poetisierung des Lebens. Das „Sich-dichten-Lassen“ gehe in eine Poetisierung der Wirklichkeit über – und damit in eine Selbsttäuschung. Aber auch das alternative „Sich-selber-Dichten“ führe in eine ästhetische Sackgasse: Unternehme der Romantiker den Versuch, sein Leben aus sich heraus zu „dichten“, unabhängig von den ästhetischen Empfindungen, von den sinnlichen Reizen der empirischen Welt, so entreiße er sich dem Bezug zur Wirklichkeit und falle seinen inneren Stimmungen anheim. Indem nun der Ironiker dergestalt, mit größtmöglicher poetischer Freiheit, sich selbst und seine Umwelt dichtet, indem er solchermaßen ganz und gar hypothetisch und konjunktivisch lebt, verliert sein Leben alles Stetige und Zusammenhängende. Hierdurch versinkt er ganz und gar im Abgrund der Stimmung. Sein Leben besteht aus lauter Stimmungen. ²⁶
Der Romantiker, der sich selbst durch die absolute Distanzierung von der konkreten Welt dichte, werde zum Knecht seiner eigenen „inneren Welt“: seiner Triebe, Neigungen, Gefühle. „Und der Ironiker, der sich frei wähnt, fällt damit unter das grauenvolle Gesetz der Weltironie und frönert in der fürchterlichsten Knechtschaft.“²⁷ Die differenzierende Problematisierung der beiden Aporien der romantischpoetischen Subjektivität, die Kierkegaard hier aufführt, scheint jedoch auf der Grundannahme zu beruhen, dass „innere Stimmungen“ und „äußere Umwelt“ zwei verschiedene „Verfallsformen“ der Subjektivität darstellen; als sei die innere Verfasstheit des Subjekts unabhängig von der „äußeren Welt“, als sei die Erscheinungsform der „äußeren Welt“ von der inneren unbeeinflusst. Auf diese problematische Grundannahme, auf das Verhältnis von Innen und Außen, geht Kierkegaard in seinen späteren Schriften detaillierter ein. Darin wird ebenfalls der direkte Rekurs auf Hegel, die hier fast uneingeschränkte Übernahme seiner Ironieund Romantikkritik, stärker problematisiert. In einer Anmerkung zu Kierkegaards Anknüpfung an Hegels Kritik in der Ironieschrift kommentiert Emanuel Hirsch, „daß Kierkegaard schon in Entweder/Oder und dann mit jeder weiteren Schrift noch tiefer sich von Hegels Nein zum romantischen Individualismus abgeschieden hat und schon in Entweder/Oder nicht mehr hätte zugeben können, daß die romantische Ironie in Hegel ihren Meister gefunden habe“.²⁸
SKS 1, 319 / BI, 290. Hervorhebungen im Original. SKS 1, 320 / BI, 290 – 291. Hervorhebung im Original. BI, 362, Anm. 311. Nach Hirschs Interpretation stellt die ästhetische Lebensanschauung der Romantik für Kierkegaard keine rein zu negierende Lebensanschauung dar, sie ist vielmehr ein
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Hiermit ist gleichwohl nicht gemeint, Kierkegaard habe seine kritisch-hegelianische Position zur romantischen Ironie zugunsten des romantisch-ästhetischen Ideals selbst verändert. Vielmehr bedeutet dies, dass die spätere Auseinandersetzung mit der ästhetischen Lebensanschauung nicht mehr auf ihre unzweideutige hegelianische Ablehnung zuläuft, sondern auf ihre Dialektik verweisen möchte, auf die Gleichzeitigkeit ihrer Wahrheits- und Unwahrheitsmomente. Johannes Climacus’ doppelt-widersprüchliche Feststellung „Die Subjektivität ist die Wahrheit“ und „Die Subjektivität ist die Unwahrheit“ hat insofern ihre gedanklichen Ursprünge schon in diesem Frühwerk, in der Auseinandersetzung mit den Konzeptionen der ästhetischen und ethischen Innerlichkeit.
Beherrschte Ironie Um die Gleichzeitigkeit der Wahrheits- und Unwahrheitsmomente der ästhetischen Innerlichkeit zu hinterfragen, möchte ich mit dem ethischen Fazit der Ironieschrift beginnen, mit der Idee der „beherrschten Ironie“ und der Konzeption ethischer Innerlichkeit, die ihr – so werde ich argumentieren – strukturell-systematisch entspricht. In Kierkegaards Frühwerk korreliert mit der ästhetischen Subjektivität stets die ethische Antwort auf diese. Dabei bedeutet eine solche Antwort zugleich auch eine Frage: Das Ethische wird nicht als die eine Lösung, sondern als ein Lösungsvorschlag, als eine offene Denkmöglichkeit gemeint. Etliche Kierkegaard-Interpretatoren verweisen auf die Unzufriedenheit, die das Schlusskapitel der Ironieschrift hervorruft:²⁹ Obwohl er den Löwenanteil seiner Dissertation der von ihm bevorzugten und als welthistorisch „gültig bestätigten“ sokratischen Ironie neben der von ihm als zugleich welthistorisch und konzeptuell unberechtigt abgelehnten romantischen Ironie widmet, behandelt Kierkegaard seine eigene Konzeption der beherrschten Ironie kurz und knapp auf wenigen Seiten. Was zunächst als Zugeständnis an die formalen Anforderungen einer universitären Dissertation gedeutet werden könnte, dürfte nicht minder auf die Unsicherheit ihres Autors hinsichtlich der darin aufgestellten eigenen These zu-
Ausdruck unerfüllter bzw. unerfüllbarer ästhetischer Bedürfnisse. Diesen Bedürfnissen vermöge jedoch nur die ethisch-christlich-religiöse Lebensanschauung gerecht zu werden; sie sei die „alles überbietende Erfüllung des im romantisch-ästhetischen Individualismus Geahnten und Begehrten“. Vgl. exemplarisch Dunning, Kierkegaard’s Dialectic of Inwardness, S. 27; Gregory Reece, Irony and Religious Belief, Tübingen 2002 (Religion in Philosophy and Theology, Bd. 5), S. 25 – 26.
1.1 Die Beherrschung der Romantik. Die Ironieschrift
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rückzuführen sein.³⁰ Der Begriff der „beherrschten Ironie“, der Kierkegaards eigene Position in der Dissertation charakterisiert, lässt sich als ein „Vermittlungsbegriff“ verstehen, der die sokratische und die romantische Ironie miteinander verbindet³¹ – oder, nach einer hegelianischen Lesart, in sich aufhebt.³² Das Verständnis der Ironie als eines „beherrschten Moments“ bezeichnet Kierkegaard als die „Wahrheit der Ironie“³³, im Gegensatz zu ihrer verkehrten Form bei den Romantikern und zu ihrer absoluten Negativität bei Sokrates.³⁴ Während in beiden diskutierten Formen die Ironie eine Totalität darstellt, eine Lebensanschauung, die alles Äußere grundsätzlich und entschieden negiert – sei es das aktuell Bestehende bei Sokrates oder jede Form von externer Realität überhaupt, nach der romantischen Auffassung –, stellt die beherrschte Ironie im Wesentlichen keine Totalität dar, keine Lebensanschauung, sondern lediglich ein „Moment“, ein „Mittel“ zur Wahrheitsfindung. Ein richtiges Verständnis von Ironie darf nach Kierkegaard keine Wahrheit im positiven Sinne fundieren, sondern Wahrheit ausschließlich ex negativo als „Kritik der Wahrheit“ zulassen – deshalb sei die beherrschte Ironie „nicht die Wahrheit, sondern der Weg“.³⁵ Im Gegensatz zu den beiden Formen „unbeherrschter Ironie“, die sich zugleich als Totalität und als Wahrheit verstehen, entzieht sich die beherrschte Ironie als bloßes „Moment“ einem solchen Verständnis. Sie „setzt Schranken, verendlicht, begrenzt, und gewährt damit Wahrheit, Wirklichkeit, Inhalt; sie züchtigt und straft und gibt damit
Unter anderem weist Hirsch darauf hin, dass Kierkegaard kurz nach dem Abschluss seiner Dissertation diese als völlig unzureichend empfunden hat. Vgl. Emanuel Hirsch, Einleitung zu Kierkegaards Begriff der Ironie, BI, x-xi. Eivind Tjønneland, Ironie als Symptom. Eine kritische Auseinandersetzung mit Søren Kierkegaards ‚Über den Begriff der Ironie‘, Frankfurt am Main 2004 (Texte und Untersuchungen zur Germanistik und Skandinavistik, Bd. 54), S. 263. Dunning, Kierkegaard’s Dialectic of Inwardness, S. 27; Dunning erkennt in der Ironieschrift eine dialektische Struktur: Die sokratische Ironie, als abstrakte Subjektivität bzw. Subjektivität an sich steht der romantischen Ironie, als konkreter Subjektivität bzw. Subjektivität für-sich gegenüber, beide werden in der beherrschten Ironie, als absoluter Subjektivität bzw. Subjektivität an und für sich, dialektisch aufgehoben. Diese interessante hegelianische KierkegaardInterpretation scheint – wie oben schon kurz angedeutet – durch die Hervorhebung der Strukturmomente an Kierkegaards eigenem Anliegen, nämlich an der Ausdifferenzierung der Wahrheits- und Unwahrheitsmomente der Ironie, vorbeizugehen. SKS 1, 352 / BI, 328. Die „absolute Negativität“ der Ironie bei Sokrates und ihre wichtige Rolle für Kierkegaards Denken werden im folgenden Kapitel über Kierkegaards negative Konzeption der Innerlichkeit ausführlich behandelt. SKS 1, 356 / BI, 332.
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Haltung und inneren Zusammenhalt.“³⁶ Sie wird nicht als Wahrheit verstanden, sondern nur als das, was Wahrheit gewähren könnte.³⁷ Als Kritik an der Unbeherrschbarkeit, an der Absolutheit und Negativität der sokratischen und romantischen Ironie, ist die Ironie als beherrschtes Moment mit der ethischen Lebensanschauung verbunden. Sie versteht sich als eine Kritik der negativen „ästhetizistischen“ Subjektivität und fordert einen realistischeren, „pragmatischeren“ Umgang mit dem Bestehenden. Stellt die romantische Ironie das Paradigma der ästhetischen Subjektivität in Kierkegaards pseudonymen Schriften dar, so lässt sich die beherrschte Ironie als die Urform der ethischen Lebensanschauung betrachten. Diese Analogie ist jedoch nicht unproblematisch. In der Darstellung der Ironie als eines beherrschten Moments veranschaulicht Kierkegaard seine These anhand von zwei Typisierungen: Zuerst wird die beherrschte Ironie als ein poetisches, ästhetisches Mittel beschrieben, das dem Dichter zur Verfügung steht, um die Realität in ihrem „substantiellen Gehalt“ und zugleich auch in ihrer Übersteigerung „zum Wahnwitz“ darstellen zu können, als die Differenz zwischen Objektivität und Subjektivität.³⁸ Dabei ist die beherrschte Ironie ein Mittel der Ästhetik nicht nur im Sinne der Kunst, sondern auch einer Art „Ästhetik der Existenz“, denn „was da von der Existenz des Dichters gilt“, schreibt Kierkegaard in der Dissertation, „das gilt in einem gewissen Maße vom Leben eines jeden einzelnen Menschen“.³⁹ Hinsichtlich eines so aufgefassten Verhältnisses von Kunsttheorie und Ethik stellt sich zunächst die Frage: „[W]hat do these points about an artist’s employing mastered irony in her work have to do with a person’s use of irony in her individual existence?“⁴⁰ In seiner reaktualisierenden Kierkegaard-Lektüre schlägt Brad Frazier vor: „[I]n order to get the analogy off the ground, the key move is to think of an individual human existence as a work of art.“⁴¹ Die ästhetische Frage wird demnach auf die menschliche Existenz übertragen, auf die Lebensweise des Menschen, und versteht sich insofern durchaus als eine ethische Frage. Die ästhetische Lebensweise der Romantiker als eine absolute, unbeherrschte Ironie müsse sich daher beherrschen, damit sie ein „geeignetes“ Mittel für die Kon-
SKS 1, 355 / BI, 331. So werden in der Kierkegaard-Literatur sokratische und beherrschte Ironie oft verwechselt, die beherrschte Ironie wird dann als eine „richtige“ Form der sokratischen verstanden. Vgl. Vom Hofe, Die Romantikkritik Sören Kierkegaards, S. 147. SKS 1, 353 / BI, 328. SKS 1, 354 / BI, 330. Brad Frazier, Rorty and Kierkegaard on Irony and Moral Commitment. Philosophical and Theological Connections, New York 2006, S. 135. Ebd.
1.1 Die Beherrschung der Romantik. Die Ironieschrift
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struktion eines „richtigen“, „authentischen“ Lebens werden könne: Sie müsse ethisch werden. Im Anschluss an Hegel versteht Kierkegaard die beherrschte Ironie als eine Aufhebung des Ästhetischen im Ethischen; als ethisch werde sie zu einer realitäts- und selbstbewussten Existenzweise. Daher erhalte sie ihre „Berechtigung“. Kierkegaards eigene These in der Dissertation bildet insofern die „dialektische Negation“ der sokratischen und der romantischen Ironie: Sie verbindet den objektiven Realitätsbezug der sokratischen Ironie mit der subjektiv-romantischen Tendenz einer Ablehnung alles Äußerlichen. Als eine Negation der Negation stellt die beherrschte Ironie mithin ein Positives her: die ethische Lebensanschauung, die die Realität in ihrer bestehenden Beschaffenheit akzeptiert und in der Ironie ein Mittel zur Orientierung im Bestehenden sieht. Sie ist folglich zugleich Gegensatz und Fortschreibung der sokratischen und der romantischen Ironie. In seiner dialektischen Deutung hebt Robert Hall diesen ethisch-affirmativen Charakter der beherrschten Ironie hervor: In Socratic irony, the given actuality of Greek Culture, not actuality in general, is repudiated (negated). In Romantic irony, all actuality is repudiated (negated) in favor of a self-created “actuality”. In contrast, mastered irony does not repudiate (negate) the given actuality, but tells me that I could. This momentary realization that I could repudiate the given actuality has the ironic effect of deepening my positive embrace of it. For to know that I could say “no” to actuality, deepens my capacity to say “yes” to it.⁴²
Diese Lesart zeigt zugleich die widersprüchliche Struktur der beherrschten Ironie: Gerade aufgrund der Anerkennung der stets gegebenen Möglichkeit einer Negation des Bestehenden liege es dem ethischen – „beherrschten“ – Ironiker nahe, das Bestehende zu akzeptieren und zu affirmieren. Die beherrschte Ironie bildet insofern die ethische Position als ein positives, bejahendes Einverständnis mit dem Bestehenden. Das Bestehende bezeichnet hier sowohl die äußere, empirische Welt im epistemologischen Sinne als auch die konkret gegebene Realität, gesellschaftlich-historisch betrachtet. Die beherrschte Ironie zeigt sich für den jungen, ethisch und hegelianisch denkenden Kierkegaard als ein Mittel zur Einfügung des Individuums in die bestehende soziale Ordnung.⁴³ Gerade durch die aufhebende Transformation der Kritik (als Kritik der Kritik), durch die Erfahrungen der Ne-
Ronald L. Hall, “The Irony of Irony”, in The Concept of Irony, hg. von Robert L. Perkins, Macon 2001 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 2), S. 317– 346; hier S. 343. Die eigene Distanzierung von der in der Dissertation eingenommenen Position kann also auch auf eine kritischere Haltung Kierkegaards gegenüber der ethischen Einstellung hinweisen, wie er sie später in Entweder/Oder II, Die Wiederholung und Furcht und Zittern artikuliert – denn dort wird Ethik schon als Ethikkritik verstanden.
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gation (des Sokratikers und des Romantikers), verwandelt sich die Ironie in die positiv-ethische Lebensanschauung, in das affirmative Einverständnis. Die beherrschte Ironie als eine ethische Position stellt folglich keinen Gegensatz, keine Antithese zur romantischen Ironie der ästhetischen Anschauung dar. Als ihre Beherrschung ist sie die Aufhebung und Überwindung des bloß Subjektiven in der Objektivität. Diese Beherrschung bedeutet nicht eine bloße Negation der Romantik, sondern die Transformation ihres subjektiv-abstrakten, leeren, nahezu nihilistischen Inhalts in die intersubjektive, sittliche Sphäre. Damit spielt Kierkegaard auf Hegels Sittlichkeitskonzeption an: Die beherrschte Ironie ist der Versuch, Hegels Ethik fortzuschreiben, ohne dabei das ironische Moment preiszugeben. Der Blick auf die Ironie ist hier jedoch ein anderer als der Hegelsche: Die Ironie soll nicht im objektiven System aufgehoben, sondern gerade als eine ethische Lebensweise radikalisiert werden; die negative Freiheit der sokratischen und der romantischen Ironie soll sich in eine positive Freiheit transformieren. Dabei muss unter positiver Freiheit eine Freiheit verstanden werden, die ein subjektives, individuell „poetisches“ Leben gerade durch die Anerkennung der empirischen Wirklichkeit ermöglicht. Der „beherrschte“ Ironiker behält seine subjektiven romantischen Inklinationen innerlich bei, verliert aber dadurch nicht die Fähigkeit, sich in die gesellschaftliche Ordnung einzufügen. „[E]r lebt erst poetisch, wenn er selbst in der Zeit, in der er lebt, sich zurechtfindet und also in sie eingeordnet ist, positiv frei ist in der Wirklichkeit, der er angehört.“⁴⁴ Die beherrschte Ironie als die Beherrschung der subjektivistisch-romantischen Tendenz stellt für Kierkegaard gerade ein Instrument zur Bejahung des Bestehenden dar. Sie ermöglicht eine Affirmation der Wirklichkeit durch die Sublimierung der ästhetisch-romantischen, negativen Tendenzen. Folgt man diesem Gedankengang, so zeigt sich auch die Struktur der pseudonymen Schriften Kierkegaards als das kritische Hinterfragen beider letztgenannten Formen der Ironie, der romantischen und der beherrschten. In den literarischen Schriften Kierkegaards entspricht diesen Formen der Ironie jeweils eine bestimmte Innerlichkeitsauffassung: Der romantischen Ironie entspricht die ästhetische Innerlichkeit; der beherrschten Ironie entspricht die ethische Innerlichkeit. Die kritische These, die daraus folgt, bezieht sich auf den defizitären Charakter beider Formen. Wie die romantische Ironie, die keinen angemessenen Wahrheitsbegriff fundieren kann, da sie durch die absolute und abstrakte Negation des Bestehenden von diesem gerade abhängig wird, bildet die beherrschte Ironie nicht einen logischen Gegensatz zur romantischen, sondern ihre innere Umkehrung: Sie ist nicht die Widerlegung der ästhetischen Lebensanschauung,
SKS 1, 354 / BI, 330 – 331.
1.2 Der Schein als Form. Ästhetische Innerlichkeit
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sondern ihre komplementäre Ergänzung im Sinne einer Bejahung der Realität und ihrer Verwirklichung im Ethischen. In der folgenden Lektüre der beiden Teile von Entweder/Oder werde ich die aporetische Grundstruktur der ästhetischen und ethischen Innerlichkeit aufzeigen – wie sie die beiden Protagonisten des Buchs, der Ästhetiker A und der Gerichtsrat Wilhelm, figurieren.Während die Dissertation das Ethische als die beherrschte Ironie noch hervorhebt, kommt Kierkegaard in Entweder/Oder durch den Einblick in diese problematische Auffassung zur Entfaltung seiner eigenen negativ-kritischen Konzeption der Innerlichkeit.
1.2 Der Schein als Form. Ästhetische Innerlichkeit Die Problemstellung der Ironie in Kierkegaards Dissertation richtet sich auf eine Suche nach der „richtigen“ Ironieauffassung im praktischen Sinne. Die Untersuchung zielt auf die Formulierung einer Auffassung, die ein wahres Verhältnis von Subjektivität und Wahrheit begründen könnte. Dabei wird Ironie als Mittel zur Orientierung des Subjekts in der objektiven Wirklichkeit verstanden. Während Kierkegaard den selbsttäuschenden Charakter der romantischen Ironie aufzudecken behauptet, soll die beherrschte Ironie ein balanciertes und daher adäquates Verhältnis zwischen ästhetischer Subjektivität und objektiver Wirklichkeit herstellen. Die Vermittlung von Innen und Außen, die die romantische Ironie der ästhetischen Subjektivität bestreitet und aberkennt, ist für die beherrschte Ironie ein Ausdruck des Ethischen, das anzustrebende praktische Verhältnis von Subjekt und Welt. Diese Position bildet den gedanklichen Hintergrund für Entweder/Oder, Kierkegaards erste pseudonyme Schrift (1843). Viktor Eremita, der pseudonyme Herausgeber des Buchs, beginnt sein Vorwort mit folgender Ansprache an den Leser: Vielleicht ist es dir doch unterweilen beigekommen, lieber Leser, ein wenig an der Richtigkeit des bekannten philosophischen Satzes zu zweifeln, daß das Äußere das Innere ist, das Innere das Äußere.⁴⁵
Der cartesianische Zweifel als Anfang des modernen Denkens erhält hier eine kritische und subjektivitätstheoretische Wendung: Das Buch beginnt mit dem Zweifel an Hegels Idee der Identität von Subjekt und Objekt. Erst ein Zweifel an dieser Identität, hervorgerufen durch subjektive Erfahrung, vermöge auf eine solche Inkommensurabilität hinzuweisen, sie bemerkbar zu machen. In diesem Sinne wendet sich Viktor Eremita direkt an den Leser:
SKS 2, 11 / EO1, 3.
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Du hast vielleicht selbst ein Geheimnis mit dir getragen, von dem du fühltest, es sei dir mit seiner Seligkeit oder seinem Schmerz zu lieb, als daß du andre darein hättest einweihen können.⁴⁶
In indirektem Anschluss an die Ironieschrift bezieht sich hier Kierkegaard-Eremita auf die Frage der Mitteilung in ihrer subjektivitätstheoretischen Bedeutung. Aus dem Zweifel an der Möglichkeit, ein Inneres – eine radikale subjektive Erfahrung, ein Geheimnis – mitzuteilen, folgen praktisch-philosophische Konsequenzen. Dieses unmittelbare Innere verweist auf einen nicht veräußerbaren „Rest“, der zurückbleibt und sich nicht reduzieren, kommensurabilisieren und kommunizieren lässt. Sofern Ironie das adäquate „Ausdrucksmittel“ für diese unaufhebbare Diskrepanz von Innen und Außen bildet, sind beide Protagonisten von Entweder/Oder ironische Figuren: Der Ästhetiker A verbildlicht das Verständnis einer romantischen Ironie,⁴⁷ der Ethiker B., der Gerichtsrat Wilhelm, das Verständnis der beherrschten Ironie: Mit diesen Papieren erhielt ich Gelegenheit, einen Einblick zu tun in das Leben zweier Menschen, welcher meinen Zweifel daran, daß das Äußere das Innere sei, bestätigte. Dies gilt in Sonderheit von dem einen der beiden. Sein Äußeres hat mit seinem Inneren in vollkommenem Widerspruch gestanden. In einem gewissen Maße gilt das auch von dem andern, sofern er unter einem mehr unbedeutenden Äußeren ein recht bedeutendes Inneres verborgen hat.⁴⁸
Während in der Dissertation die Ironie als ein Mittel zur Unterscheidung von Wesen und Erscheinung verstanden wird – die romantische Ironie setzte Wesen und Erscheinung gleich, die beherrschte wollte eine solche Gleichsetzung bestreiten⁴⁹ –, wird hier das Verständnis von Subjektivität selbst hinsichtlich des Verhältnisses von Innen und Außen hinterfragt: Die Ironie (in ihren jeweiligen Formen) ist genau
Ebd. Der Ästhetiker A. als ein lebendiges Bild der romantischen Ironie ist jedoch keineswegs eine reine Karikatur des Romantikers. Im Gegensatz zur Figur des Verführers, die an sich eine extreme Form ästhetischer Subjektivität darstellt, gewinnt A. durch seine anderen Abhandlungen zusätzliche Aspekte, die auf eine facettenreichere Persönlichkeit schließen lassen. Emanuel Hirsch macht in seiner geschichtlichen Einleitung zu Entweder/Oder darauf aufmerksam, dass das Tagebuch zwar zuerst geschrieben wurde; aber „um mehr denn eine romantische Karikatur der aesthetischen Lebensanschauung zu sein“, bedurfte es der Erweiterung der anderen Teile des ersten Bands; einige von ihnen sind dem wirklichen Tagebuch Kierkegaards entnommen. Vgl. Hirsch, „Geschichtliche Einleitung“, in EO1, S. viii-xi. SKS 2, 12 / EO1, 4. SKS 1, 357 / BI, 334: „In theoretischer Hinsicht muß das Wesen sich zeigen als die Erscheinung. Sofern die Ironie beherrscht ist, meint sie nicht mehr, wie gewisse kluge Leute im Alltagsleben, daß immerfort noch etwas dahinterstecken müsse; sie verhindert aber auch jeglichen Götzendienst mit der Erscheinung.“
1.2 Der Schein als Form. Ästhetische Innerlichkeit
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dieser Zweifel daran, dass das „Innere“ der Subjektivität mit ihren „äußeren“ Erscheinungsformen gleichzusetzen wäre. Beide Protagonisten stellen die Möglichkeit einer Innerlichkeit dar, die eine Form von Wahrheit als einem nicht reduzierbaren, nicht kommensurablen „Rest“ in sich birgt. Gerade darin liegt zugleich das Problem, das durch die Idee einer inkommensurablen Wahrheit ausgeworfen wird. Es ist ausdrücklich die ästhetische Innerlichkeit – nach Kierkegaard: das Subjektivitätsverständnis der ästhetischen Lebensanschauung –, die in diesem ironischen, inkommensurablen „Rest“ fundiert ist. Daher die „Sonderheit“, die Viktor Eremita dem Ästhetiker zuspricht, und der immanente „vollkommene Widerspruch“, in dem „sein Äußeres mit seinem Inneren“ gestanden habe. Eine solche ironische Diskrepanz von Innen und Außen bildet demnach die Grundstruktur der ästhetischen Innerlichkeit. In den folgenden Abschnitten werde ich jedoch zeigen, dass diese Diskrepanz als Fundament der ästhetischen Innerlichkeit gleichzeitig Bedingung für ihre innere Wahrheit und für ihre Schattenseite, für ihren illusorischen, selbsttäuschend-entfremdeten Inhalt darstellt.
Diapsalmata Noch in seinem Vorwort als Herausgeber schreibt Viktor Eremita: Die Papiere von A enthalten nämlich vielfältige Anläufe zu einer aesthetischen Lebensanschauung. Eine zusammenhängende aesthetische Lebensanschauung läßt sich wohl kaum vortragen.⁵⁰
Diese Feststellung lässt sich auf zweierlei Weise verstehen, und jede dieser beiden Lesarten verweist auf ein anderes Verständnis ästhetischer Existenz. Zum einen könnte man das Zitierte so verstehen, eine tragbare ästhetische Lebensanschauung lasse sich nicht unmittelbar ausdrücken, sie sei gerade deshalb nicht mitteilbar, nicht kommunizierbar, weil sie „tief innerlich“ verwurzelt ist, weil ihre Fundierung ausschließlich subjektiv ist. Zum anderen könnte es bedeuten, eine „zusammenhängende“ ästhetische Lebensanschauung sei lediglich eine abstrakte Konstruktion, die sich als solche prinzipiell nicht konkretisieren, im realen Leben nicht umsetzen lasse. Das eine Verständnis bedeutet also, dass sich eine ästhetische Existenz nicht beschreiben lässt, das andere, dass ihre tatsächliche Verwirklichung überhaupt nicht möglich ist. Obwohl zwischen diesen beiden Deutungen kein Widerspruch bestehen muss und sie einander vielmehr ergänzen können, beziehen sie sich auf unterschiedliche Aspekte der ästhetischen Existenz: die eine auf den Aspekt der Unmittelbarkeit und Unverständlichkeit, die andere SKS 2, 21 / EO1, 15; meine Hervorhebung.
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auf den Aspekt der Wirklichkeit und Verwirklichbarkeit. Dieser Unterschied ist grundlegend für Kierkegaards spätere Argumentation, vor allem hinsichtlich der Negativität der ästhetischen Innerlichkeit. Die ästhetische Innerlichkeit wird in Entweder/Oder durch eine extreme Polarität von Ekstatik und Schwermut charakterisiert. Das notwendige Umschlagen der ästhetisch-sinnlichen Ekstase in tiefe Schwermut und Depression, in das Bewusstsein der Sinnlosigkeit und Existenzleere, lockt den Ethiker – und somit einen Großteil der ästhetikkritischen Kierkegaard-Forschung – in Kierkegaards Falle: zu der Ansicht, die ästhetische Lebensform sei lediglich eine selbstzerstörerische Illusion, falsch und inhaltsleer. In der Kierkegaard-Forschung ist die Auffassung verbreitet, Kierkegaard drücke vor allem ein Misstrauen gegenüber der ästhetischen Lebensanschauung aus, er entfalte eine Kritik der Ästhetik, die zum ethischen Leben – repräsentiert durch den Gerichtsrat Wilhelm –, zur existenziellen Wahl und Entscheidung führe, als sei nach Kierkegaard die Ethik die endgültige Antwort auf die existenziellen Probleme seiner Zeit.⁵¹ Dass die Angelegenheit komplizierter und ambivalenter sein dürfte, ist der Hintergrundgedanke vorliegender Interpretation. Die Evidenz der Unmittelbarkeit als der Wahrheit ästhetischer Erfahrung zieht sich durch Kierkegaards erste Schrift hindurch – gleichzeitig und parallel zu ihrem, dem Ästhetiker immerhin oft bewussten, Scheincharakter. Letzterer wird jedoch für das Scheitern des ästhetischen Genusses verantwortlich gemacht, für dessen Umschlagen in Depression und moralischen Verfall. Die Schwermut, für die Ästhetik-Kritik ein Zeichen der Falschheit der ästhetischen Anschauung,⁵² zeigt sich insofern nicht bloß als Gegensatz des ästhetischen Genusses, sondern vielmehr als dessen andere Seite, als seine notwendige Ergänzung. Für den Kierkegaardschen Ästhetiker hat hingegen gerade die Schwermut, die Zerstörung des ästhetischen Scheins, einen Anteil an der ästhetischen Wahrheit selbst. Es ist insofern kein Zufall, dass Kierkegaards ästhetische Schriften mit den „Diapsalmata“ beginnen, in denen gerade die Sinnlosigkeit, Leere, die Welt- und Selbstentfremdung der ästhetischen Innerlichkeit zum Ausdruck kommen. Der Dichter sei ein „unglücklicher Mensch, der tiefe Qualen birgt in seinem Herzen, aber seine Lippen sind so gebildet, daß, derweile Seufzen und Schreien über sie hinströmt, es tönt gleich einer schönen Musik“⁵³. Das notwendige Leiden des
Vgl. Theunissen und Greve, „Einleitung“, in Theunissen/Greve (Hg.), Materialien, S. 25; ebenso wie im selben Band: Wilfried Greve, „Das erste Stadium der Existenz und seine Kritik. Zur Analyse des Ästhetischen in Kierkegaards Entweder/Oder II“, S. 177– 215. So vor allem der Gerichtsrat Wilhelm in SKS 3, 32 / EO2, 25 – 28. SKS 2, 27 / EO1, 19; in Anknüpfung an die Ironieschrift kann man hier unter „Dichter“ sowohl den Künstler als auch – mit einem frühromantischen oder auch gegenwärtigen Begriff – den
1.2 Der Schein als Form. Ästhetische Innerlichkeit
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ästhetisch Existierenden ist zugleich Bedingung und Folge der ästhetischen Existenz. Die Erfahrung jener Leere und Sinnlosigkeit ist eine Bedingung für das Entstehen ästhetischer Werke ebenso wie ästhetischer Erfahrung, sie ist aber zugleich die Folge des Scheiterns dieser Erfahrung. Die Schwermut, die dieses Scheitern beim ästhetischen Subjekt hervorruft, lässt sich jedoch nicht ohne weiteres, wie der Ethiker behaupten wird, lediglich als Zeichen ihrer absoluten Falschheit deuten. Sie sei vielmehr, wie A von sich sagt, seine „treueste Liebhaberin“⁵⁴; das unauflösbare Leid, das mit der ästhetischen Existenz eng verbunden ist, sei für ihn eine Lebensnotwendigkeit: „Ich sage von meinem Kummer, was der Engländer von seinem Hause sagt: mein Kummer is my castle“.⁵⁵ Trotzdem beabsichtigt der Ästhetiker nicht, dem eigenen Leben Sinn zu verleihen. Vielmehr lebt er auf ironische Weise weiterhin in die Sinnlosigkeit hinein. „Meine Betrachtung des Lebens“, resümiert er, „ist ganz und gar ohne Sinn“⁵⁶; „das Leben [ist] so bedeutungslos und leer“ ⁵⁷, „Ich liege hingegossen, untätig; das Einzige, das ich sehe, ist Leere, das Einzige, davon ich lebe, ist Leere, das Einzige, darin ich mich bewege, ist Leere“.⁵⁸ Der Trübsinn des Ästhetikers ist insofern nicht nur ein Beweis für den Illusionscharakter der Ästhetik, sondern auch das ironische Bewusstsein ihrer notwendigen Selbstzerstörung.Wenn die Figur des romantischen Ironikers ständig und ausschließlich in der Möglichkeit und nicht in der Wirklichkeit lebt, daher eine entfremdete Existenz führt, so stellt der Ästhetiker A nicht nur die Kritik an dieser Figur, sondern zugleich ihre reflexive, ironische Wahrheit dar. Die pseudonyme Narration bildet ein „chinesische[s] Kastenspiel“:⁵⁹ Kierkeg-
„Lebenskünstler“ verstehen: also einen Menschen, der sein Leben als Kunstwerk versteht, der poetisch lebt; nach Greve: „Der Existierende soll ein Künstler werden in der Schöpfung seiner persönlichen Existenz“. Greve, Kierkegaards Maieutische Ethik, S. 40. SKS 2, 29 / EO1, 21. SKS 2, 30 / EO1, 22. SKS 2, 33 / EO1, 25. SKS 2, 38 / EO1, 31. SKS 2, 46 / EO1, 40. SKS 2, 16 / EO1, 9. So der Herausgeber Eremita in seinem Vorwort: „Das letzte der Papiere von A ist eine Erzählung mit dem Titel: ‚Das Tagebuch des Verführers‘. Hier begegnen neue Schwierigkeiten, sofern A sich nicht für den Verfasser, sondern bloß für den Herausgeber erklärt. Dies ist ein alter novellistischer Kniff, gegen den ich weiter nichts einzuwenden hätte, wenn er nur nicht dazu beitrüge, meine eigne Stellung überaus verwickelt zu machen: der eine Verfasser kommt nun dazu, in dem andern drinzustecken wie Kästchen in einem chinesischen Kastenspiel.“ Da Viktor Eremita nicht die letzte „Stufe“, also nicht der letzte Kasten in dem Spiel ist, sondern selber ein Pseudonym, so wäre auch diese ironietheoretische Bemerkung ironisch zu verstehen! Oder, wie Liessmann seine Interpretation beginnt: „Im Grunde ist ohnehin nichts und niemandem zu trauen.“ Konrad Paul Liessmann, Ästhetik der Verführung: Kierkegaards Konstruktion der Erotik aus dem Geiste der Kunst, Frankfurt am Main 1991, S. 15.
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aard „steckt“ hinter dem pseudonymen Viktor Eremita, der wiederum hinter dem Ästhetiker A steht; dieser sei seinerseits „nur“ Herausgeber der verschiedenen Aphorismen und Essays in Entweder/Oder. Dadurch wird jede eindeutige Feststellung darüber, ob die Konstruktion des Lebens als eines Kunstwerkes, wie es der romantische Ästhetiker figuriert, eine legitime Möglichkeit oder eine reine Karikatur sei, unmöglich. Die Selbsttäuschung des romantischen Ästhetikers ist insofern durchaus auch eine bewusste, notwendige Illusion, die existenzielle Wahl des Scheins als Form: des ästhetischen Scheins als einer Lebensform.
Figuren ästhetischer Subjektivität Die Erkenntnis, ästhetische Erfahrung sei durch ihre Unmittelbarkeit ein Ausdruck der Wahrheit, diese daher ausschließlich der ästhetischen Innerlichkeit „zugänglich“, zugleich könne also gerade durch diese Unmittelbarkeit, durch ihre Momentaneität und Vergänglichkeit ebendiese Wahrheit in Illusion, in Selbsttäuschung übergehen, ist ein Fundament der kunsttheoretischen Überlegungen, die A in Entweder/Oder entfaltet. Die Verflechtung der sinnlichen Unmittelbarkeit mit dem Scheitern ebendieser unmittelbaren subjektiven Erfahrung kennzeichnet die Form ästhetischer Innerlichkeit: Der Zweifel an der Korrelation von Innen und Außen zeigt sich in A’s Papieren als eine kunsttheoretische Auffassung, die die inkommensurable Diskrepanz von Innen und Außen als Bedingung ästhetischer Erfahrung versteht – und als Ursache des notwendigen Scheiterns ebendieser Erfahrung. Wenn die musiktheoretischen Überlegungen zu Mozart in A’s erstem kunsttheoretischen Papier „Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische“ eine romantische Formästhetik entfalten, die den sinnlichen Charakter der musikalischen Unmittelbarkeit hervorhebt, diese sogar für „Innerlichkeit an sich“ erklärt,⁶⁰ so betont das tragödientheoretische Papier „Der Widerschein des antiken Tragischen in dem modernen Tragischen“ die tragischen selbstzerstörerischen Dimensionen der subjektivistischen Isolation, die durch die ästhetische Unmittelbarkeit hervorgerufen wird.⁶¹ In diesem Scheitern der sinnlichen Unmittelbarkeit an der „Realität“ sieht der Ästhetiker allerdings keinen Beweis für die Untragbarkeit der ästhetischen Lebensform selbst. Der Umschlag von ästhetischer in tragische Erfahrung bedeutet demzufolge nicht, ästhetisches Leben sei zweifelhaft, falsch oder verfehlt; vielmehr gehört das Tragische selbst, wie die Schwermut, dem Ästhetischen, dem unmittelbaren sinnlichen Genuss zu. Die Wahl des ästhetischen Scheins als Le-
SKS 2, 64 / EO1, 59; vgl. auch Liessmann, Ästhetik der Verführung, S. 23 – 26. Vgl. Dunning, Kierkegaard’s Dialectic of Inwardness, S. 39 – 47.
1.2 Der Schein als Form. Ästhetische Innerlichkeit
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bensform durch den Ästhetiker ist zwar eine kritische Anspielung auf die romantische Subjektivität, auf ihre radikale Überbetonung der Form in Kunst wie im Leben. Ein eindeutiges Bekenntnis zur Hegelschen Romantikkritik ist damit aber keineswegs gemeint. Denn die kunsttheoretischen Abhandlungen entwerfen zwar eine Form romantischer Ästhetik, eine subjektivistisch konzipierte ästhetische Theorie, die in der absoluten Hingabe des Romantikers an die Schönheit fundiert wird, und so ließe sie sich gerade als eine hegelianische Karikatur der Formästhetik verstehen – der Autor der Abhandlung beruft sich in seinen ästhetischen Überlegungen immerhin explizit auf Hegel und dessen Romantikkritik. Die subtile, parodistische Ironie des Texts besteht aber nicht zuletzt darin, dass der ästhetische Romantiker, in dessen Hingabe an den formästhetischen Genuss der Oper, bei der seine Seele „demütig sich neigte in Bewunderung von Mozarts Musik“,⁶² gerade dieses romantisch-subjektivistische Sich-Hingeben an die Form der Oper mit Hegels Theorie der klassischen Kunst erklärt. Don Juans Figur in Mozarts Oper stellt für ihn die absolute Einheit von Inhalt und Form in der Idee der sinnlichen Unmittelbarkeit dar.⁶³ Wie Konrad Paul Liessmann feststellt, es ist „nicht ganz klar, ob hier jemand eine Satire auf eine systematische Ableitung des Klassischen schreibt oder eine solche Ableitung tatsächlich versucht“.⁶⁴ Vertritt A insofern die Position des romantischen Ästhetikers oder veranschaulicht er vielmehr die Hegelsche Kritik der Romantik? Bildet seine Figur das ästhetische Subjekt oder dessen Karikatur? Die ironische Struktur der Kierkegaardschen Darstellung versperrt jede eindeutige Antwort auf diese Fragen. Vielmehr lässt sie alle Fragen dieser Art offen, alle Antworten möglich. Der ironische Ästhetiker lässt sich deshalb als eine Parodie der Romantik und ihrer Kritiker (vor allem Hegels selbst) gleichermaßen verstehen.⁶⁵ Diese offenen Fragen werfen – allein dadurch, dass sie offen gelassen werden – ein anderes Licht auf die subtile ironische Position ihrer tatsächlichen Autors; sofern dieser überhaupt je erkennbar wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich freilich eine wesentliche Divergenz zwischen Kierkegaards und Hegels Verhältnis zur romantischen Subjektivität feststellen. Die durch A vertretene romantische Kunstauffassung folgt in ihren SKS 2, 55 / EO1, 49. Vgl. Liessmann, Ästhetik der Verführung, S. 38. Ebd., S. 23 – 24. Kierkegaard, oder genauer: A, übernimmt zum einen Hegels Begriff der klassischen Kunstform und seine Kritik der romantischen, behandelt jedoch die Kunstwerke nach den Maßstäben der romantischen Ästhetik, insbesondere in „Die unmittelbaren erotischen Stadien,“ SKS 2, 58 / EO1, 52– 53; vgl. auch Hirschs Fußnote 58 in EO1, 489 sowie Liessmann, Ästhetik der Verführung, S. 22; Thulstrup vertritt wiederum die Ansicht, Kierkegaard habe lediglich über flüchtige Kenntnisse der Hegelschen Ästhetik verfügt, so dass eine tiefere Bedeutung seiner Auseinandersetzung mit Hegel vergebens gesucht werde. Vgl. Thulstrup, Kierkegaards Verhältnis, S. 230 f.
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Grundzügen gerade der Hegelschen Auffassung von der „unendlichen Subjektivität“ der romantischen Ästhetik als einer übersteigerten, verzerrten Form, die das subjektive Innere auf Kosten der objektiven Welt hervorhebe. Anders als Hegel behauptet Kierkegaard nicht, dass die objektive äußere Welt für den Romantiker bedeutungslos werde: Die verschiedenen Figuren im ersten Teil des Buchs leben zwar alle in der Unmittelbarkeit der ästhetischen Innerlichkeit; sie nehmen die Welt ausschließlich aus ihrer übersteigert subjektiven Perspektive wahr – und scheitern genau aufgrund dieser Diskrepanz zwischen der objektiven Welt und der eigenen übersteigerten, entfremdeten Subjektivität. Dabei stellt aber für sie auch dieses Scheitern an der Realität – die Tragik, die der Diskrepanz von Innen und Außen innewohnt – eine ästhetische Form dar. Ich werde die Bedeutung dieser Diskrepanz für die ästhetische Innerlichkeit zunächst anhand der kunsttheoretischen Abhandlung in Entweder/Oder herausarbeiten, um sie dann aus der kritischen Sicht der ethischen Anschauung zu problematisieren.
Musiktheorie: Mozarts Don Juan In Mozarts Oper Don Juan sieht A ein klassisches „Meisterstück“ nach der Hegelschen Auffassung: Es vereinige Idee und Gestalt, Inhalt und Form in einer einmaligen, eigenartigen und daher „unsterblichen“ Weise. Die Verwirklichung der abstrakten Idee in der Übereinstimmung von Form und Inhalt wird hier anhand der Idee der Sinnlichkeit „konkretisiert“. Den „drei unmittelbaren erotischen Stadien“ entsprechen die drei Opernfiguren Cherubino (aus Figaro), Papageno (aus der Zauberflöte) und Don Juan (oder Don Giovanni). Während die Figur des Pagen Cherubino das reine Begehren des Begehrens verkörpert, ein Begehren ohne Gegenstand, eine Sinnlichkeit ohne Bewegung,⁶⁶ erwacht bei Papageno das Begehren als ein reiner Inhalt ohne Form. Es ist die Suche nach einem Gegenstand des Begehrens, jedoch ohne wirkliches Begehren, die ihn charakterisiert.⁶⁷ Erst in Don Juan erkennt A eine Einheit von Form und Inhalt, die musikalische Verwirklichung der Idee der Sinnlichkeit als wahrer Ausdruck ästhetischer Innerlichkeit. Die unmittelbare Sinnlichkeit, die die ästhetische Innerlichkeit charakterisiert, nimmt demzufolge in Don Juan ihre angemessene Form an, weil er ein wahres Begehren zum Ausdruck bringt, eine „sinnliche Genialität“: Don Juan ist der Verführer, in dessen Figur Begehren und Gegenstand (die in den ersten beiden Stadien jeweils fehlten) vereinigt werden. „Das Begehren ist daher in diesem Stadium schlechthin SKS 2, 81 / EO1, 80: „Das Sinnliche erwacht, jedoch nicht zu Bewegung, sondern zu stillem Verweilen, […] zu tiefer Melancholie.“ SKS 2, 86 / EO1, S. 86: „Das suchende Begehren ist nämlich noch nicht begehrend, es sucht bloß das, was es begehren kann, begehrt es aber nicht.“
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wahr, sieghaft, triumphierend, unwiderstehlich und dämonisch.“⁶⁸ Die Figur Don Juans als die inhaltliche Verwirklichung der abstrakten Idee erhält in der Oper ihre adäquate musikalische „Form“: Die abstrakteste Idee, die sich verwirklichen läßt, ist die sinnliche Genialität. Aber durch welches Medium hindurch lässt sie sich darstellen? einzig und allein – vermöge der Musik […], denn sie ist eine Art Bestimmung der Innerlichkeit an sich.⁶⁹
Als Ausdruck „wahren Begehrens“ zeigt die Figur Don Juans ein Wahrheitsmoment auf: Das Begehren sei ein unmittelbares subjektiv-ästhetisches Phänomen, das nicht geleugnet oder unterdrückt werden könne. Es sei Ausdruck der Wahrheit und der Unwahrheit der ästhetischen Innerlichkeit zugleich – ihrer Vergänglichkeit. Das Begehren wird damit als die subjektive Tendenz aufgefasst, der Vergänglichkeit, der Leere, der Sinnlosigkeit zu entkommen. Es wäre jedoch verfehlt, in Don Juan eine Figur ästhetischer Innerlichkeit zu sehen, solange diese mehr als reine Sinnlichkeit bedeuten soll. Don Juan ist nicht mehr als reine Sinnlichkeit; „[he] seems to lack any awareness of an inner life at all“.⁷⁰ Vielmehr figuriert er eine Form ästhetischer Unmittelbarkeit im Sinne einer unreflektierten Sinnlichkeit, die jedoch ihre eigenen „Wahrheitsmomente“ in sich trägt. Sie zeigt sich als der Wunsch, durch unerfüllbares sinnliches Begehren eine Art Kompensation der Vergänglichkeit zu gewinnen. Konrad Paul Liessmann verteidigt damit jene Wahrheitsmomente der sinnlichen Unmittelbarkeit: „Unmittelbarkeit, die Unmittelbarkeit bleiben will, Sinnlichkeit, die Sinnlichkeit bleiben will, kann nicht verweilen. Jedes Verharren im Augenblick bedeutete den Triumph der Zeit, den Einbruch von Geschichte, den Fall in die Reflexion, den Terror der Moral.“⁷¹ Defizitär ist diese Auffassung jedoch gerade durch den Widerspruch, der darin besteht, dass sie sich ausschließlich auf das „Innere“ beruft, auf die unmittelbaren „inneren“ Erlebnisse des Subjekts. Dieses hat wiederum, wie Dunning feststellt, keinerlei „inneres Leben“: Sein Inneres bestehe nur aus den von außen kommenden Stimulationen.
Tragödientheorie: Antigone Dass der Versuch, dem Außen durch das Innere zu entkommen, eine existentielle, psychologische Wahrheit darstellt, dass er aber als solcher zum Scheitern ver
SKS 2, 90 / EO1, 90 – 91. SKS 2, 64 / EO1, 59. Dunning, Kierkegaard’s Dialectic of Inwardness, S. 38. Liessmann, Ästhetik der Verführung, S. 47.
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urteilt ist, zeigt auch die Antigone-Lektüre im zweiten Essay des Bands – unter dem Titel „Der Widerschein des antiken Tragischen in dem modernen Tragischen“. Während Don Juan dank seiner Unreflektiertheit in der ästhetischen Ekstatik, in der Illusion seiner Sinnlichkeit weiterleben kann, zeigt Antigones Geschichte die andere Seite der ästhetischen Innerlichkeit: ihre Tragik. Die Bestimmung der modernen Tragödie gegenüber der antiken dient dem Autor des Essays dazu, über das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Reflexion zu reflektieren. Der Zweifel an der Kommensurabilität von Innen und Außen, der die ästhetischen Überlegungen in Entweder/Oder auslöst, entfaltet sich in der Differenz zwischen dem antiken und dem modernen Antigonebild zu einer Grundform ästhetischer Innerlichkeit. A untersucht die antike und die moderne Darstellung von Antigone, um durch die Differenz zwischen den beiden auf das Wesentliche der Tragödie zu schließen, um „zu zeigen, wie das dem antiken Tragischen Eigentümliche sich in das moderne Tragische aufnehmen lasse, dergestalt, daß das wahrhafte Tragische darin zur Erscheinung komme“.⁷² Hierin spielt er natürlich wieder ironisch auf Hegels kunsttheoretische Unterscheidung an, auf die Unterscheidung zwischen „der antiken und modernen dramatischen Poesie“⁷³. Hegels Gegenüberstellung des „Substantielle[n] in den Zwecken, Konflikten und Charakteren“ der antiken Poesie und „subjektive[r] Innerlichkeit und Partikularität“⁷⁴ in der modernen bildet dabei den Hintergrund für A’s Antigone-Lektüre, wird jedoch gerade gegen Hegels ursprüngliche Intention gelesen. Nachdem Antigones beide Brüder einander im Krieg getötet haben – Eteokles in Verteidigung seiner Heimat Theben, Polyneikes, als er die Stadt angriff – rühmt der neue König Kreon den Heldentod des Eteokles, verbietet es hingegen, ihren anderen Bruder Polyneikes zu begraben. Dieses Verbot ruft bei der antiken Antigone, A zufolge, kaum einen inneren Konflikt hervor; die griechische Figur geht ohne langes Nachdenken ihrer „substantiellen“ Pflicht nach: Sie handelt gegen das Verbot und
SKS 2, 140 – 141 / EO1, 151; eine genauere Erläuterung, worauf sich das „antike“ und das „moderne“ Verständnis Antigones jeweils beziehen soll, findet sich in der Abhandlung nicht. Freilich ist mit „antiker“ Antigone ihre Darstellung durch Sophokles gemeint, die „moderne“ Antigone hingegen nennt A ohne weitere Erklärung „unsere“. SKS 2, 155 / EO1, 168. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, in Werke, Bd. 15, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 2003, S. 534– 538. Ebd., S. 534; Vgl. hierzu auch Walther Rehm, „Kierkegaards ‚Antigone‘“, in Begegnungen und Probleme. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Bern 1957, S. 274– 316; genauer zu Hegels Ästhetik als Ausgangspunkt der Antigone-Lektüre: „In dieser scharfen Scheidung zwischen Substantiellem und Subjektivität, zwischen dem tragischen Helden als lebendigem Repräsentanten substantieller Lebenssphären und dem tragischen Helden als Repräsentanten einer subjektiven Innerlichkeit des Charakters in Macht der Subjektivität und Partikularität […] liegt einer der Ausgangspunkte für die Vorlesung des Ästhetikers über die Antigone.“ Ebd., S. 285.
1.2 Der Schein als Form. Ästhetische Innerlichkeit
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begräbt ihren toten Bruder. Die Trauer, die der Zuschauer dabei empfinde, sei „eine objektive Trauer“, eine Trauer über Antigones objektive Situation. „In der griechischen Tragödie beschäftigt sich Antigone überhaupt nicht mit des Vaters unglücklichem Geschick“, erläutert A;⁷⁵ Antigone handelt aus objektiven Motiven, aus objektiv-sittlicher Verpflichtung gegenüber ihrem Bruder – sie handelt so, weil sie nicht anders kann. In dieser Beschreibung ihrer objektiven Situation sei daher keine Tragik enthalten – die Tragik werde erst durch den Zuschauer empfunden, der in ihrem Schicksal einen Nachklang des Lebens ihres Vaters erkenne. In griechischem Sinne entsteht das tragische Interesse dadurch, daß in des Bruders unglücklichem Tod, in der Schwester Zusammenstoß mit einem einzelnen menschlichen Verbote das traurige Schicksal des Ödipus widertönt, es sind gleichsam die Nachwehen, des Ödipus tragisches Geschick, das in den einzelnen Schossen seiner Familie neue Zweige treibt. Dies Gesamtbild macht des Zuschauers Trauer so unendlich tief.⁷⁶
Die Tragödie der antiken Antigone rufe zwar Trauer hervor, diese Trauer bleibe jedoch objektiv, sie sei durch die „Substantialität“ der Lebensverhältnisse bedingt. Es sei also nicht Antigone selbst, die die Tiefe der Trauer empfinde, sondern der Zuschauer. Die ästhetische Innerlichkeit, welche die antike Antigone hier darstellt, ist eine unmittelbare, unreflektierte, und so ist auch ihre Freiheit eine bloß ästhetisch-subjektive: Wenn Antigone somit trotz dem Verbot des Königs sich entschließt, den Bruder zu begraben, so erblicken wir darin nicht so sehr die freie Handlung als vielmehr die schicksalsschwangere Notwendigkeit, welche der Väter Missetat heimsucht an den Kindern.⁷⁷
Die antike Antigone, auch wenn sie dem äußeren Verbot innerlich widerspricht, bleibt mangels Reflexion über ihr tragisches Schicksal, über ihre eigene Unschuld, in der Unmittelbarkeit der Notwendigkeit, ihr subjektiv freies Handeln ist daher nicht mehr als bloßes „Dahinleben“. Indessen nun die griechische Antigone sorglos dahinlebt, dergestalt, daß ohne das Hinzutreten dieser neuen Tatsache man sich ihr Leben in seiner Entfaltung von Stufe zu Stufe sogar als glücklich vorstellen könnte, ist das Leben unsrer Antigone im Gegensatz dazu wesentlich zu Ende.⁷⁸
SKS 2, 154 / EO1, 167. SKS 2, 154– 155 / EO1, 167 SKS 2, 155 / EO1, 168. Ebd.
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„Unsere Antigone“ ist für A die moderne Antigone, die in sich das Geheimnis ihres Vaters trägt: Sie weiß, dass ihr Vater Ödipus „seinen Vater erschlagen, seine Mutter geehelicht“ habe und sie selbst „dieser Ehe Frucht ist“.⁷⁹ Während „für die griechische Antigone […] des Vaters Schuld und Leiden eine äußerliche Tatsache [ist], eine unerschütterliche Tatsache, die von ihrer Trauer nicht hin und her bewegt wird“,⁸⁰ zeigt sich für die moderne Antigone diese Schuld des Vaters, dieses monströse Geheimnis, als tragische Unmöglichkeit ihres Lebens. Von daher entsteht ihre Innerlichkeit, ihre Subjektivität als reflektierte Unmittelbarkeit. Antigones Geschichte enthält ein Geheimnis, das mit demjenigen korrespondiert, das der Herausgeber Viktor Eremita in seinem Vorwort beschreibt. Es ist das Geheimnis, in dem ihre Innerlichkeit gründet, nämlich aufgrund der unüberwindbaren Differenz zur äußeren Welt und der Unmöglichkeit, dieses Geheimnis zu kommunizieren. Dies ist zugleich der Grund für ihr fatales Schicksal. Denn gerade dadurch, dass sie das Geheimnis ihres Vaters immer in sich trägt, dass sie es nicht verraten kann, gerade dadurch gewinnt sie wahre Innerlichkeit. Es handelt sich bei Antigone nach dieser Lesart um eine Subjektivität, deren Wahrheit verborgen bleibt, die sich nicht kommensurabilisieren und nicht mitteilen lässt; und es ist demnach ebendiese wahre Innerlichkeit, die zu einem Verhängnis wird. Wenn die Trauer der antiken Antigone eine bloß objektive Trauer war, so wird sie durch das innere Geheimnis, durch die Kenntnis der Schuld ihres Vaters zu einer subjektiven: Die Trauer verwandelt sich A zufolge in Schmerz. In der antiken Tragödie ist die Trauer tiefer, der Schmerz geringer; in der modernen ist der Schmerz größer, die Trauer geringer. Trauer enthält stets etwas Substanzielleres in sich als Schmerz. Schmerz deutet stets auf eine Reflexion über das Leiden, welche von der Trauer nicht gekannt wird.“⁸¹
Die Substantialität, von der hier die Rede ist, bezieht sich auf das Äußere, auf die objektiven Lebensverhältnisse. Der Schmerz der modernen Tragödie hängt mit der Entwicklung der modernen Subjektivität zusammen: Solange die antike Antigone sich ihres Geheimnisses, ihres Verhängnisses nicht bewusst war, war ihre Situation durch eine objektive Trauer gekennzeichnet; sobald sie sich ihrer Situation, der Sünde ihres Vaters und der eigenen Erbschuld bewusst wird, verwandelt sich die Trauer in Schmerz: „Da mittlerweile die Reflexion erwacht ist, wird sie sie nicht aus der Trauer hinaus sondern in die Trauer hinein reflektieren, sie wird ihr in
SKS 2, 153 / EO1, 165. SKS 2, 159 / EO1, 172. SKS 2, 147 / EO1, 158.
1.2 Der Schein als Form. Ästhetische Innerlichkeit
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jedem Augenblick die Trauer in Schmerz verwandeln.“⁸² Die Verwandlung der objektiven Trauer in subjektiven Schmerz bildet für A ein wichtiges Merkmal der modernen Tragödie – die ästhetische Subjektivität als Innerlichkeit. Denn die moderne Antigone ist – im Gegensatz zur antiken – zur Innerlichkeit „verdammt“: Da sie ihr Geheimnis, ihr Wissen von Ödipus’ Schuld nicht preisgeben kann, muss sie stets die Diskrepanz von Innen und Außen leidend erfahren, ihr Inneres lässt sich niemals auf äußere Ausdrucksformen reduzieren. Beide „Antigonen“ leiden zwar an ihrer Innerlichkeit – die erste geht an ihren „substanziellen“ inneren Verpflichtungen zugrunde, die andere muss den Schmerz des Geheimnisses, d. h. den Schmerz ihrer Subjektivität bis zum Tode erleiden. – „[T]he common element is that both are victims of the contradiction between externality and inwardness, between the objective relations that constitute fate for the Greek and the subjective uncertainty and guilt that are the modern’s prison.“⁸³ Während jedoch die antike Antigone eine gewisse Ähnlichkeit mit Don Juan aufweist – beide leben in der unreflektierten Unmittelbarkeit, der eine in der sinnlichen, die andere in der ethisch-sittlichen –, stellt die moderne Antigone eine dialektische Form ästhetischer Innerlichkeit dar. Sofern ihr Geheimnis sie zur Subjektivität „verdammt“, muss ihr Verhältnis zur objektiven Welt immer durch dieses Geheimnis entstellt bleiben; sie wird sich selbst notwendigerweise entfremdet, weil sie die objektiven Verhältnisse nicht so wahrzunehmen vermag, wie sie sind, sondern sie immer nur aus der Perspektive ihrer entfremdeten Subjektivität betrachtet. Ihre Innerlichkeit muss daher immer subjektiv-ästhetisch, mithin eine illusorische Scheinform bleiben und vermag es nicht, in einem adäquaten, nicht entfremdeten Verhältnis zur objektiven Welt zu stehen. „Self-conscious, reflexive subjectivity is a determinant of modernism“, referiert George Steiner A’s Tragödientheorie: In ancient Tragedy the hero suffers his fatal destiny, in modern drama ‚he stands and falls entirely by his own acts‘. All this, of course, is pure Hegel. The next stage in the argument is not. The transition from the aesthetic to the ethical, which lies at the heart of Either/Or and of Kierkegaard’s sense of personal development, relates to the quality of tragic guilt.⁸⁴
Demnach muss die ästhetische Lebensweise in eine ethische übergehen. Die ästhetische Innerlichkeit der modernen Antigone wird hier zu dem ethischen Problem der Erbschuld. Antigones Erbschuld ist der Beweggrund für die Entstehung ihrer Innerlichkeit: Das Bewusstsein ihres Geheimnisses löst ihren unendlichen Schmerz aus – und führt zu ihrem Untergang. Die Substantialität ist also das, was
SKS 2, 153 / EO1, 165. Dunning, Kierkegaard’s Dialectic of Inwardness, S. 40 – 41. George Steiner, Antigones, Oxford 1984, S. 55.
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ihre Innerlichkeit zuerst hervorbringt und sie schließlich zerstört. „Sie siegt, das will heißen, das Geheimnis siegt, und sie verliert.“⁸⁵
Das Tagebuch des Verführers Bedeutet ästhetische Innerlichkeit für Don Juan die Unmittelbarkeit des sinnlichen Genusses, für Antigone die Unmittelbarkeit des tragischen Leidens, so vertritt Johannes der Verführer, Autor des „Tagebuchs des Verführers“, die ästhetische Innerlichkeit als die bewusste, reflektierte Wahl des Scheins als Form: des ästhetischen Scheins als einer Lebensform.⁸⁶ Im Gegensatz zu Don Juan und Antigone, die in die ästhetische Innerlichkeit gewissermaßen unfreiwillig hineingeworfen wurden, wird Johannes der Verführer als ein ästhetisches Subjekt dargestellt, das sich für die ästhetische Lebensweise bewusst entscheidet. Dabei bringt der Protagonist des „Tagebuchs des Verführers“, eines Hauptstücks des ersten Bandes von Entweder/Oder, nicht nur sein Verführungsobjekt, die siebzehnjährige Cordelia, in eine unmögliche Situation, sondern bereitet auch dem Leser seiner Schrift erhebliche Schwierigkeiten. Seine Ironie steht nicht nur im Hintergrund seiner Beziehung zu der jungen Dame, sondern entzieht sich auch dem Verstehen des Lesers hinsichtlich seines Verhältnisses zur Wirklichkeit. Sein Tagebuch lässt sich als eine Parodie des realitätsfremden ironischen Romantikers verstehen – ebenso wie als eine kritische Fortschreibung dieser ästhetischen Lebensanschauung selbst. Dass die Kierkegaard-Forschung in der Frage, ob der Verführer eine autobiographische Figur oder eine Karikatur sei, seit Jahrzehnten gespalten ist, vermag auf die prinzipielle Ambivalenz hinzuweisen, die Kierkegaards Bezug zur Ästhetik kennzeichnet.⁸⁷ Johannes der Verführer verbildlicht in Kierkegaards ästhetisch-ethischer Darstellung die Form ästhetischer Innerlichkeit, die sich dem unmittelbaren
SKS 2, 161 / EO1, 175. Zur ästhetischen Subjektivität als Lebensform im „Tagebuch des Verführers“ vgl. Juliane Rebentisch, „Kunst – Leben – Liebe. Ästhetische Subjektivität nach Kierkegaard“, in Bühne des Lebens / Rhetorik des Gefühls (Ausstellungskatalog), hg. von der städtischen Galerie am Lenbachhaus München, Köln 2006, S. 15 – 32; insbes. S. 19 – 21. In der deutschen Kierkegaard-Literatur lässt sich auf eine Spaltung hinweisen zwischen Apologeten der Ästhetik, die den Verführer als eine ernst zu nehmende philosophische Figur sehen (exemplarisch: Liessmann, Ästhetik der Verführung), und ihren Kritikern, die den Verführer als eine Karikatur des Romantikers sehen (Greve, Kierkegaards Maieutische Ethik). Emanuel Hirsch plausibilisiert die ästhetisch-apologetische Lesart mit biographischer Begründung und zieht die Linien zwischen Handlungen, Gedanken, Personen, Orten etc. im Tagebuch und in Kierkegaards Leben (Hirsch, Kierkegaard-Studien, sowie an mehreren Stellen seines Anmerkungsapparats zur deutschen Kierkegaard-Ausgabe).
1.2 Der Schein als Form. Ästhetische Innerlichkeit
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sinnlichen Genuss hingibt, während dieser Genuss zugleich niemals vollständig wird ohne den Rekurs auf die Reflexion, auf die bewusste Vergegenwärtigung des Vergänglichen. Auch Johannes’ Lebensanschauung muss im Hinblick auf den eingangs erwähnten Zweifel an der vermeintlichen Adäquatheit von Innen und Außen, den Viktor Eremita in seinem Vorwort zu Entweder/Oder äußert, betrachtet werden. Wenn zwischen dem Inneren der Persönlichkeit, das in Kierkegaards Schriften stets mit einem Geheimnis in Verbindung gebracht wird, und ihrem Äußeren, dem sozialen Verhalten, eine unüberwindbare Kluft liegt, so muss der bewusste Umgang mit diesem Sachverhalt ein ironischer sein: eine permanente unaufhebbare Distanz zur Realität. Entsprechend versteht Johannes der Verführer die ästhetische Existenz: „Sein Leben“, so schreibt A, hier als Herausgeber von Johannes’ Tagebuch, „ist ein Versuch gewesen zur Lösung der Aufgabe, poetisch zu leben“.⁸⁸ Das, was zwischen dem subjektiven Geheimnis und der objektiven Welt steht, nennt er „das Poetische [als] das Mehr“, die dichterische Gestaltung der Realität.⁸⁹ Diese bestehe jedoch nicht nur im Hervorbringen und Wahrnehmen von Kunstwerken, sondern überhaupt in der Gestaltung des eigenen Lebens als eines Kunstwerkes. Der sinnliche Genuss, für Don Juan das Prinzip der ästhetischen Innerlichkeit, erfährt bei Johannes eine wesentliche Verschiebung: „Don Giovanni genießt die Frauen, Johannes der Verführer genießt das Genießen“⁹⁰; es ist die bewusste Reflexion, die den sinnlichen Genuss zu einer ästhetischen Erfahrung macht. Und es ist der Genuss des Äußeren, vermittelt durch das Geheimnis des Inneren, der Johannes’ Innerlichkeit kennzeichnet. Er gibt sich nicht, wie Don Juan, der unmittelbaren Sinnlichkeit hin, bleibt aber auch nicht, wie Antigone, dem inneren Geheimnis verhaftet.Vielmehr versucht er, sein inneres Geheimnis der Realität „aufzuzwingen“, auf sie einzuwirken. Das Mädchen Cordelia, dem Johannes eines Tages auf den Straßen von Kopenhagen zufällig begegnet, wird zum Objekt seiner dichterischen Existenz: Er betrachtet sie und verhält sich zu ihr wie zu einem Kunstwerk, seine Intention besteht nicht darin, eine Liebesbeziehung mit Cordelia im gewöhnlichen Sinne zu führen, sondern sie „zu dichten“, das Verhältnis zu ihr als Kunstwerk zu inszenieren.⁹¹ Eine bedeutende Ironie besteht gerade darin, dass sich Johannes, um die junge Dame zu „erobern“, nach außen hin als realitätsbewusster, anständiger
SKS 2, 294 / EO1, 327. Hier ist das „chinesische Kastenspiel“, von dem Viktor Eremita im Vorwort spricht, wieder erkennbar: Kierkegaard ist der Herausgeber von Eremitas Buch, Eremita von A’s Schriften, A vom Tagebuch des Verführers; jeder spricht im Namen eines anderen, jedes Wort muss ironisch verstanden werden, denn es kann nie nur das bedeuten, was es aussagt. Ebd. Liessmann, Ästhetik der Verführung, S. 66. SKS 2, 317 / EO1, 352.
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1 Weder/Noch
Mann gibt, dessen Leben tief in der Sphäre der bürgerlichen Sittlichkeit verankert sei. Um ästhetisch und „frei“ zu leben, bemüht sich der Ironiker Johannes gerade um ein ethisches, sittliches Auftreten. Insofern ist es schwierig, ihn bloß als eine Parodie des Romantikers zu verstehen: Er zieht sich nicht aus der Wirklichkeit zurück, ignoriert sie nicht durch eine absolute Negation.Vielmehr integriert er sich fest in den gesellschaftlichen Kreis, in dem Cordelia lebt. Er macht sich bekannt, geschätzt und verehrt bei Cordelias Tante, die für die junge Dame nach dem Tod ihrer Eltern sorgt. Er befreundet sich sogar mit ihrem Verlobten Edvard. Dieses skrupellose Verhalten verweist nur hintergründig auf Johannes’ ethisches Verständnis: Kein moralisches Bedenken wird erwähnt, das Ethische sei für ihn „gleich langweilig in der Wissenschaft wie im Leben“.⁹² Seine Teilnahme an der ethischen Sphäre der Sittlichkeit ist eine ironische, wenn nicht gar eine zynische: Sie dient nur dem eigenen ästhetisch-reflexiven Genuss. Denn durch seine Selbstinszenierung als ethischer, sittlicher Mann gewinnt Johannes zuerst Cordelias Aufmerksamkeit und Achtung, später ihre Liebe. Den Kern dieses ironischen Verhältnisses des Verführers zur äußeren Realität zeigen seine Überlegungen über das, was er en passant die „Dialektik des Butterfasses“ nennt, besonders deutlich. Man könnte das „Butterfass“ als eine Synekdoche für das gesamte Gebiet des ethischen, sittlichen Lebens verstehen, dem Johannes auf eine ironische Weise, gerade durch seine scheinbar affirmative Teilnahme an diesem, den Boden entzieht, wenn auch nur subjektiv, nur in seinen eigenen Augen. Sobald er ein Freund der Familie und ein regelmäßiger Gast im Hause von Cordelias Tante geworden ist, gibt sich Johannes als ein „ethischer“ Mann: Er unterhält sich mit der Tante über durchaus alltägliche, scheinbar bedeutungslose Dinge, denen er eine übertrieben wichtige Bedeutung beimisst. Er verhält sich genau entsprechend seinem Verständnis vom „langweiligen Ethischen“. Gegenüber Cordelia, seinem Verführungsobjekt, zeigt er jedoch nur Desinteresse und Distanziertheit. Dies notiert er in seinem Tagebuch: So gegen Abend wird da Tee getrunken. Für gewöhnlich wechselt dann die Tante, die bis dahin auf dem Sofa gesessen hat, hinüber zu dem kleinen Nähtisch, einem Platz, den Cordelia ihrerseits verläßt; diese rückt hinüber zum Teetisch vor dem Sofa, Edvard folgt ihr, ich schließe mich der Tante an […] ich mache kein Geheimnis aus meinen Ergießungen vor der Tante; Marktpreise, eine Berechnung, wieviel Töpfe Milch man für ein Pfund Butter braucht, durch das Medium der Sahne und die Dialektik des Butterfasses hindurch, das sind wirklich nicht bloß Dinge, die jedes junge Mädchen hören kann, ohne Schaden zu nehmen.⁹³
SKS 2, 356 / EO1, 396. SKS 2, 339 / EO1, 377.
1.2 Der Schein als Form. Ästhetische Innerlichkeit
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Das Gespräch mit der Tante, ein Bekenntnis zur ethischen Langeweile, dient genau gegenteiligen Zwecken; denn es ist auf eine indirekte Weise gerade an Cordelia adressiert, um sie von Johannes’ Charakter zu überzeugen. Als das ethisch Langweilige richtet sich für Johannes die „Dialektik des Butterfasses“ an das ästhetisch Interessante, denn gerade durch seine Langeweile und sein Desinteresse möchte er Cordelia verführen, ihre Verliebtheit „dichten“. Daher kann die scheinbar harmlose, langweilige Rede vom Butterfass für ein junges Mädchen gefährlich sein: Die „Dialektik des Butterfasses“ ist die Gefahr, die die Ästhetik für die Sittlichkeit darstellt, ihre potentielle ironische Aushöhlung. Durch die Teilnahme an der ethischen Sphäre kann diese von innen zerstört werden zugunsten der ästhetischen. Hier wird die Ironie in einem anderen Sinne als bei den Romantikern verwendet: Der Verführer ist nicht unverständlich, er zieht sich nicht in seine Subjektivität zurück, sondern gerade dadurch, dass er sich besonders verständlich macht, wenn auch auf eine entstellte Weise, und sich in den ethischkommunikativen Kreis begibt, wird er gefährlich. Zu keinem Zeitpunkt bekennt sich Johannes zur Liebe, zu irgendeinem Gefühl gegenüber Cordelia. Er möchte zwar „wissen, wie es mit ihrem Gefühlsleben steht“,⁹⁴ jedoch nur um dieses, Cordelias inneres Leben, zu manipulieren, zu dichten, ästhetisch zu inszenieren und als Kunstwerk reflektierend zu genießen.⁹⁵ Wiewohl ich mir sonst einbilde, im gesamten Felde des Erotischen ziemlich bewandert zu sein: diesen Zustand habe ich an mir selber niemals wahrgenommen, diese Angst, dies Erdbeben der Verliebtheit, will heißen in einem Maße, daß es mir die Fassung nähme […] Vielleicht möchte jemand sagen, ich sei also nie richtig verliebt gewesen; nun, vielleicht.⁹⁶
Dem Verführer geht es in erster Linie um den ästhetischen Genuss seiner selbst durch die Dichtung des anderen: den Genuss einer jungen Dame wie eines Kunstwerkes. „Sie muß im Verhältnis zu mir, wie die Philosophen mit einem Wortspiel sagen, ‚zu Grunde gehn‘.“⁹⁷ Ein Teil der poetischen Dichtung besteht in der Inszenierung des traurigen Endes nach den Regeln der dramatischen Kunst: der Auflösung der Verlobung. Nachdem Cordelia ihren ersten Verlobten Edvard verlassen und Johannes’ „Antrag“ auf Verlobung angenommen hat, beginnt er, sie SKS 2, 334 / EO1, 371. Im Rekurs auf Luce Irigaray zeigt Céline Léon, dass sowohl Don Juans als auch Johannes’ Frauenbild eine reine Abstraktion ist, dass hier kaum von „realen“ Frauen die Rede ist, dass die ästhetische Verführungskunst gerade durch die Absenz von Frauen gekennzeichnet ist. Céline Léon, „The No Woman’s Land of Kierkegaardian Seduction“, in Either/Or, Part I, hg. von Robert L. Perkins, Macon 1995 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 3), S. 229 – 250. SKS 2, 337 / EO1, 375. SKS 2, 342 / EO1, 380.
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von der Sinnlosigkeit der Verlobung zu überzeugen. Jedoch schon bei der Verlobung spielt seine Ironie, sein spielerisches Verhältnis zur bürgerlichen Ethik, eine entscheidende Rolle. Was nun die Verlobung anlangt, so darf ich mich nicht rühmen, daß sie poetisch sei, sie ist auf jegliche Weise höchst philiströs und spießbürgerlich. Das Mädchen weiß nicht, ob sie Ja oder Nein sagen soll; die Tante sagt Ja, das Mädchen sagt ebenfalls Ja, ich nehme das Mädchen, sie nimmt mich – und jetzt fängt die Geschichte an.⁹⁸
Aber dieses doppelte Spiel mit der Sittlichkeit, mit der bürgerlichen Institution der Ehe, unterscheidet Johannes nicht nur von Don Juan, der sich dem sinnlichen Genuss unreflektiert hingibt, sondern vor allem von der Figur des Romantikers, der die Sphäre der ästhetischen Subjektivität nie verlässt. Johannes begibt sich in die „objektive“ Realität, in die Welt der Ethik und der Kommunikation, um diese gleichsam von innen zu sprengen. Für ihn besteht die große Kraft der Ironie, der ästhetischen Innerlichkeit, in der Fähigkeit, die Lüge der bürgerlichen Ethik spielerisch zu entlarven. Sein Inneres, wie dasjenige Antigones, hindert ihn ständig daran, das Äußere, das bestehende Allgemeine, in dessen Sosein zu akzeptieren. Das notwendige Missverstehen der bürgerlichen Konventionen fundiert seine Ironie – positiv wie negativ. „Unser Verhältnis“, notiert er über seine Beziehung zu Cordelia, „bestimmt sich nicht durch die zarten und treuen Umarmungen des Verstehens, nicht durch Anziehungen, sondern durch die Abstoßungen des Mißverstehens“.⁹⁹ Dass Johannes sich nicht verständlich machen darf und Cordelia ihn und seine inneren Absichten nicht verstehen kann, bestimmt ihr Verhältnis zueinander. Diese Unmöglichkeit des Verstehens bildet eine Grundbedingung für Johannes’ Lebens- und Verführungskunst, denn wären seine Taten unmittelbar verständlich, so wäre der reflektierte ästhetische Genuss als Ziel seiner Handlungen undenkbar. Diese Form ästhetischer Innerlichkeit vermag bürgerlich-ethische Konventionen wie die Ehe dadurch zu untergraben, dass sie sie auf eine ironische Weise spielerisch akzeptiert und „missversteht“: Nach ein paar allgemeinen Bemerkungen rückte ich ihr etwas näher und kam nun mit meinem Antrag heraus. Ein Mensch, der wie ein Buch redet, ist äußerst langweilig anzuhören; zuweilen ist es jedoch recht zweckmäßig, in diesem Stil zu sprechen. Ein Buch hat nämlich die bemerkenswerte Eigenschaft, daß es nach Belieben ausgelegt werden kann. Auch eine Rede bekommt diese Eigenschaft, wenn man wie ein Buch redet. Ich hielt mich ganz nüchtern an die üblichen Formeln.¹⁰⁰
SKS 2, 363 / EO1, 404. SKS 2, 340 / EO1, 379; meine Hervorhebung. SKS 2, 362– 363 / EO1, 403.
1.2 Der Schein als Form. Ästhetische Innerlichkeit
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Auch hier bildet die Ironie eine literarische Form ebenso wie eine Lebensform. Sie macht es unmöglich festzustellen, ob hier „eine romantische Gleichgültigkeit gegenüber dem Wirklichen“¹⁰¹ oder eine kritische, ästhetisch motivierte Subversion der bürgerlichen Sittlichkeit gemeint ist – oder vielmehr beides oder weder dies noch jenes. Auch lässt sich behaupten, Johannes’ Verhalten gegenüber Cordelia sei ein respektloses, verdinglichendes Verhalten¹⁰² oder verfolge vielleicht die Intention, der jungen Dame die Sinnlosigkeit und die Scheinhaftigkeit der „objektiven“, „sittlichen“ Welt – auf maieutische Weise – deutlich zu machen. Stephen N. Dunning resümiert die Beziehung wie folgt: Throughout their developing relationship his every action toward her is calculated both to deceive her and to make her perceive appearances as themselves deceptive in relation to reality […]. Inwardness is no longer indifferent to the external as in desire [Don Juan]; nor is it determined as estrangement from the external, as in grief [Antigone]. Inwardness is now in control of the external, by means of deception. Yet this very sense of control is itself an illusion. Because he cannot accept the otherness of external reality, Johannes falls victim to his own self-deception. He is both deceiver and deceived. He is absolute deception incarnate and absolute deception is revealed in him as the truth of absolute aesthetic inwardness.¹⁰³
Der Verführer betrügt sich selbst: Er vermag die äußere Welt, jede soziale und sinnliche Erfahrung nur aus der Perspektive seiner ästhetischen Innerlichkeit, seines ironischen „Geheimnisses“ wahrzunehmen. Seine Lebenskunst kann die Grenzen seiner Subjektivität niemals sprengen, um sich außerhalb der ästhetischen Innerlichkeit fortzuentwickeln. Ob er dadurch ein „Opfer“ des eigenen Selbstbetrugs wird, ist jedoch nicht ohne weiteres zu entscheiden. Denn Johannes wählt bewusst und reflektiert die Ästhetik als seine Lebensanschauung, den ästhetischen Schein als seine Lebensform. Die Wahrheit seiner ästhetischen Innerlichkeit besteht also in ihrer Unwahrheit, in ihrer bewussten – und bewusst gewählten – Scheinform. Gerade aufgrund seiner ironischen Fähigkeit, die Unwahrheit, den trügerischen Schein, ja die Lüge des bürgerlichen sittlichen Ethos zu durchschauen und – subjektiv – zu destruieren, scheitert er, in gewisser Weise bewusst, an einer Selbsttäuschung, an der eigenen Unwahrheit.
Theunissen und Greve, „Einleitung“, in Theunissen/Greve (Hg.), Materialien, S. 26. Vgl. Léon, „The No Woman’s Land“, S. 230 – 231. Dunning, Kierkegaard’s Dialectic of Inwardness, S. 54– 56; Hinzufügungen in eckigen Klammern von mir.
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1 Weder/Noch
1.3 Sublimiertes Einverständnis. Ethische Innerlichkeit Die Alternative zur ästhetisch-romantischen Lebensanschauung, wie sie die Papiere des Ästhetikers A vorführen, bieten die Briefe seines Freundes, des Gerichtsrats Wilhelm. Während es sich bei den Schriften des Ästhetikers A lediglich um „Anläufe zu einer ästhetischen Lebensanschauung“ handelt, weil sich „eine zusammenhängende ästhetische Lebensanschauung […] wohl kaum vortragen läßt“, „[enthalten] die Papiere von B […] eine ethische Lebensanschauung“.¹⁰⁴ Die Grundvoraussetzung für eine ethische Lebensanschauung, wodurch sie sich auch in ihrer Wesensbestimmung von der ästhetischen abgrenzt, besteht darin, dass sie lebbar sein muss. Ihrem Selbstverständnis nach darf die ästhetische Lebensanschauung durch abstrakt-theoretische Argumente allein begründet werden. Diese dürfen sogar kunsttheoretisch formuliert werden (wobei damit ebenfalls Lebenskunst gemeint ist). Für eine ethische Lebensanschauung ist es hingegen – gemäß ihrem Selbstverständnis in Entweder/Oder – notwendig, dass sie konkret, im realen Leben, verwirklicht werden kann. Für die Ironie des Ästhetikers ist es gleichgültig, ob seine Position verständlich und überzeugend kommuniziert wird, während es dem Ethiker im Wesentlichen darum geht, den Anderen – in diesem Fall, den Ästhetiker A – von der Tragbarkeit und Dringlichkeit seiner Anschauung zu überzeugen: Der „Wahrheitswert“ seiner Ethik hängt in gewissem Sinne von ihrer Überzeugungskraft und Akzeptanz durch den Anderen ab, sie darf also nicht „bloß“ subjektiv bleiben. Sein Verständnis des ethischen Lebens schildert Wilhelm in einer Reihe von Briefen an seinen Freund A. In diesen setzt er sich mit der ästhetischen Lebensanschauung kritisch auseinander und versucht, seinen Adressaten von der Wahrheit der Innerlichkeit als einer ethischen Konzeption zu überzeugen. Hierfür sind vor allem zwei Aspekte, ein privater und ein sozialer, von großer Bedeutung: das Verständnis der wahren Liebe als Ehe und die Verteidigung der „vernünftige[n] Ordnung der Dinge“.¹⁰⁵ An diesen beiden Aspekten zeigen sich, so der Gerichtsrat, die wesentlichen Differenzen zwischen der ästhetischen und der ethischen Lebensanschauung. Das erklärte Ziel seiner Kritik besteht nicht im Abstreiten der Geltung der Ästhetik, sondern vielmehr in der Begründung der Ansicht, dass Ästhetik und Ethik sich „vereinen“ ließen: dass das ethische Leben in sich eine ästhetische Bedeutung enthalte, dass sich die Ästhetik in der Ethik
SKS 2, 21 / EO1, 15. SKS 3, 277 / EO2, 312.
1.3 Sublimiertes Einverständnis. Ethische Innerlichkeit
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aufhebe, „daß es selbst unter alltäglichen Verhältnissen möglich ist, das Aesthetische zu bewahren“.¹⁰⁶ Wilhelm intendiert nicht, auf einen Widerspruch zwischen den Lebensvorstellungen des Ästhetikers und allgemeingültigen moralischen Prinzipien (im Kantischen Sinne) hinzuweisen, er plädiert vielmehr für eine Einsicht in den illusorischen Charakter der Ästhetik, in ihre Selbsttäuschung. Ihm geht es darum, den Ästhetiker von der Falschheit seiner Position zu überzeugen, denn nur durch eine solche kritische Auseinandersetzung kann seine eigene ethische Anschauung an Plausibilität gewinnen. Ihre Anerkennung durch Andere ist für sie selbst konstitutiv und notwendig. Die maieutische Methode in diesem Verfahren der Kritik bedeutet, „den Ästhetiker bei dessen Selbstverständnis als Ästhetiker zu nehmen und aufzuzeigen, wie nicht die ästhetische Anschauung diesem Selbstverständnis gerecht wird, sondern vielmehr die ethische“.¹⁰⁷ Dies ist mithin eine aporetische Aufgabe, weil der Ethiker es auf keine Weise vermag, sich aus seiner ethischen Position herauszulösen und sich in die ästhetische Position hineinzuversetzen. So kann er den Begriff der Ästhetik niemals so verstehen, wie der Ästhetiker ihn meint. In seinen Überlegungen bleibt er stets der ethischen Sprache verhaftet und kann „Ästhetik“ nur mithilfe seines ethischen Vokabulars denken, nämlich als die „Schönheit“ des Ethischen. Insofern ist die Strategie des Gerichtsrats selbst problematisch. Sein Versuch, die Kategorien des Ästhetikers für die Darlegung der Überlegenheit der ethischen Lebensanschauung zu verwenden, scheitert an den eigenen Ansprüchen. Dies jedoch nicht nur, weil, wie Greve behauptet, „der Gerichtsrat kein rechter Maieutiker“ ist,¹⁰⁸ sondern vor allem, weil zwischen der ästhetischen und der ethischen Lebensanschauung, wie sie in Kierkegaards frühen Schriften dargestellt werden, ein unüberbrückbarer Abgrund besteht. Ebenso wenig wie die ästhetische Lebensform ethische Ansprüche erheben kann (und will), lässt sie sich nicht auf ethische Begrifflichkeit reduzieren. Die Kritik des Gerichtsrats am ästhetischen Lebensideal seines jungen Freundes
SKS 3, 18 / EO2, 9; vgl. die ausführliche Argumentation über die ästhetische „Schönheit“ in der Ethik, SKS 3, 218 – 221 / EO2, 243 – 247. Greve, Kierkegaards Maieutische Ethik, S. 42. Ebd., 43; „Der Sokratiker sollte sich mit seinem Gesprächspartner auf eine Stufe stellen und diesen, ohne auf die eigene Autorität zu pochen, ‚hineintäuschen in das Wahre‘ […]; der Ethiker aus ‚Entweder/Oder‘ vollzieht das genaue Gegenteil – er gebraucht von vornherein seine vermeintliche Autorität, wenn er die Briefform seiner Abhandlungen im letzten mit der in ihr gelegenen Möglichkeit begründet, den Ästhetiker ‚mahnend und eindringlich anzureden‘ [SKS 3, 15 / EO2, 5]. […] Seine Ausführungen sind ganz in einem väterlich-herablassenden Ton abgefaßt. Streng, aber wohlwollend tadelt er die Lebensweise des A, appelliert an das Gute in ihm und beschwört eine düstere Zukunft herauf für den Fall, daß keine Besserung auftritt […].“ Ebd, S. 43 – 44.
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1 Weder/Noch
vermag zwar in vielerlei Hinsicht die defizitären, selbstbetrügerischen Aspekte dieses Ideals offenzulegen, sie bleibt aber immer eine externe Kritik: Dem Gerichtsrat gelingt es an keinem Punkt der Argumentation, seinem erklärten Ziel gerecht zu werden, die Kategorien und das Vokabular des Ästhetikers zu verwenden, um das Trügerische an seinem Leben aufzuzeigen. Er gebraucht zwar ästhetische Begriffe, jedoch stets nur in ethischem Sinn. Es fehlt ihm die Fähigkeit, die innere Bedeutung ästhetischer Gedanken zu verstehen. Trotz seiner mehrfachen Verwendung ästhetischer Begriffe greift er letztendlich immer auf ein ethisch-belehrendes Vokabular zurück. Seine Argumentation zeigt die Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen ästhetischer und ethischer Innerlichkeit; Subjektivitätsformen, die aneinander vorbeigehen, vorbeireden, vorbeidenken. Im Folgenden möchte ich diese These erläutern und zeigen, inwiefern die beiden Hauptargumente des Ethikers – über die eheliche Liebe und über den bürgerlichen Beruf – innerhalb dieser tautologischen Struktur aporetisch bleiben. Obwohl diese Argumente die Struktur der ästhetischen Existenz sogar mit großer Genauigkeit und scharfer Brisanz beleuchten, bleibt ihnen eine direkte Kommunikation mit der ironischen Sprache des Ästhetikers durchaus versperrt. Die folgende Rekonstruktion der ethischen Auseinandersetzung mit der ästhetischen Lebensform in Bezug auf die Hauptargumente über das Liebes- und Berufsleben soll die Misskommunikation, das Nicht-Gespräch zwischen beiden Positionen veranschaulichen.¹⁰⁹
Die eheliche Liebe In seinen Papieren, insbesondere im „Tagebuch des Verführers“, äußert sich der Ästhetiker A widersprüchlich über seine Auffassung der Liebe: Zum einem gesteht er zu, er möge „nie richtig verliebt gewesen“ sein;¹¹⁰ zum anderen protokolliert er ständig, er sei verliebt. Dieser scheinbare Widerspruch ist der ästhetischen Liebe
Dieses Nicht-Gespräch lässt sich, so Emanuel Hirsch in seinen Anmerkungen zur deutschen Übersetzung von Entweder/Oder, biographisch auf ein inneres Gespräch Kierkegaards mit seinem „Gewissen“ zurückführen: „Die persönliche Zurechtsetzung des jungen Freundes durch den Gerichtsrat ist an vielen Stellen dichterische Maskierung eines Selbstgesprächs zwischen dem ethisch reflektierten und dem unmittelbaren Menschen in Kierkegaard. Was das als Gerichtsrat maskierte Gewissen Kierkegaards hier über Kierkegaards sehr zartsinnige und rücksichtsvolle Hilfsbereitschaft Armen gegenüber feststellt, läßt sich historisch als zutreffend nachweisen.“ EO2, 425: Fußnote 6. Diese Anmerkung bezieht sich jedoch auf die Thematik des Verhältnisses (vor allem des Ästhetikers) zur Gemeinschaft; was die Aspekte des Selbstgesprächs hinsichtlich der Thematik der Liebe angeht, so lassen sich viele Gemeinsamkeiten zu Kierkegaards Beziehung und der Auflösung der Verlobung mit Regine Olsen finden. SKS 2, 337 / EO1, 375.
1.3 Sublimiertes Einverständnis. Ethische Innerlichkeit
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zwar immanent, er lässt sich jedoch leicht auflösen: Denn der Ästhetiker ist zwar verliebt, allerdings nicht in das eine Mädchen, sondern in mehrere, in alle, er ist in die Liebe an sich verliebt – und das heißt: in sich selbst.¹¹¹ Sein Verständnis der ästhetischen Freiheit als Gegensatz zur moralischen Verpflichtung drückt sich sehr präzise in seiner Liebeskonzeption aus: Obgleich sie mir gehören soll, darf dies doch nicht dasselbe sein wie das Unschöne, daß sie auf mir ruht gleich einer Last. Sie darf mir weder in physischer Hinsicht ein Anhängsel werden, noch in moralischer Hinsicht eine Verpflichtung. Zwischen uns beiden soll nichts herrschen als der Freiheit eignes Spiel. Sie soll so leicht für mich sein, daß ich sie auf den Arm nehmen kann.¹¹²
Gerade diese Verpflichtung drückt für den Gerichtsrat das Wesen der ehelichen Liebe als „die ästhetische Gültigkeit der Ehe“ aus, wie die Überschrift des ersten Briefs des Gerichtsrats an seinen Freund, den Ästhetiker, lautet. Um dies zu begründen und den Ästhetiker davon zu überzeugen, dass die Ehe die wahre Form der Liebe sei, argumentiert der Gerichtsrat zunächst auf eine ähnliche Weise wie sein Freund: Er bezieht sich auf den Begriff des Ästhetisch-Unmittelbaren. Das gleiche Aesthetische, das in der ersten Liebe liegt, muß auch in der Ehe liegen […]. Das Aesthetische liegt sodann in jener Einheit von Gegensätzen, welche Liebe ist; sie ist sinnlich und doch geistig; sie ist Freiheit und doch Notwendigkeit, ist im Augenblicke, ist in hohem Maße gegenwartsbestimmt und hat doch in sich eine Ewigkeit.¹¹³
In seinem Plädoyer für die Ehe scheint der Gerichtsrat auf den ersten Blick ästhetisch zu argumentieren, denn er argumentiert für das Unmittelbare und Notwendige, für den Augenblick – seiner Auffassung nach lässt sich die Richtigkeit der ehelichen Liebe nicht durch rationale Argumente begründen; man solle weder heiraten, „um den Charakter zu schulen“¹¹⁴, noch „um Kinder zu bekommen, um seinen geringen Beitrag zu leisten für die Fortpflanzung des Menschengeschlechts
SKS 2, 350 / EO1, 389 – 390: „Auf die Art kann man sogar zur rechten Zeit in viele verliebt sein, weil man in jede Einzelne auf andre Weise verliebt ist. Eine lieben ist zu wenig, alle lieben ist oberflächlich; sich selber kennen und so viele wie nur möglich lieben, seine Seele alle Gewalten der Liebe derart in sich bergen lassen, daß jede von ihnen die ihr gemäße Speise bekommt, während das Bewußtsein gleichwohl das Ganze umfaßt – das heißt Genuß, das heißt leben.“ Zur Problematik des Narzissmus beim Ästhetiker vgl. Vincent McCarthy, „Narcissism and Desire in Kierkegaard’s Either/Or, Part One“, in Perkins (Hg.), Either/Or, Part I, S. 51– 72. SKS 2, 349 – 350 / EO1, 389. SKS 3, 66 / EO2, 64. Vgl. SKS 3, 71 / EO2, 70.
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auf Erden“¹¹⁵, noch „um ein Zuhause zu haben“¹¹⁶. Die Bedeutung der ehelichen Liebe lasse sich nur ohne Rückgriff auf rationale Gründe erklären: Sie sei eine innere Pflicht, daher unmittelbar-ästhetisch. Wilhelm spricht von der „Innerlichkeit der Pflicht in der Liebe“¹¹⁷, die darin bestehe, dass diese keine äußere, aus praktischen Gründen der Nützlichkeit zu folgernde Pflicht, sondern ein unmittelbarer Ausdruck seines Selbst sei. Erst durch diese Pflicht, durch die Ehe als äußeren Ausdruck seiner Innerlichkeit, erhält seine Existenz ihre Bedeutung. „Auf diese Art“, kritisiert er den Ästhetiker, der die eheliche Pflicht ablehnt, „bin ich ihr [der Ehefrau] gar nichts und doch alles gewesen. Du hingegen bist für eine Menge Menschen alles gewesen, und im Grunde bist Du ihnen nichts gewesen.“¹¹⁸ An dieser Äußerung lassen sich sowohl die Richtigkeit wie auch die Problematik der Auseinandersetzung des Gerichtsrats mit seinem Freund erkennen. Zum einen durchschaut er die Selbsttäuschung der ästhetischen Freiheit: Der Ästhetiker täusche sich selbst über seine zwischenmenschlichen Beziehungen, er vermöge nie über seine bloß subjektiv-ästhetischen Erfahrungen hinauszugelangen. Problematisch werden hingegen die Argumente des Ethikers, sobald man darauf aufmerksam wird, dass seine Frau, die den Sinn seines Lebens gewährt und die ethische Bedeutung seines Innerlichkeitsbegriffs affirmiert, nicht als eine eigene, selbständige Person betrachtet wird. Sie hat in seinen Ausführungen keine eigene, von ihm unabhängige Existenz. Sie wird ähnlich betrachtet wie die jungen Mädchen in den Augen des Verführers – als Objekt der eigenen Lebensanschauung: Um ästhetisch zu leben, bedarf der Ästhetiker der Frau als Objekt seines Begehrens; um ethisch zu leben, bedarf der Ethiker ebenfalls der Frau als Objekt seines ethischen Handelns. In beiden Fällen werden die Frauenfiguren „zweckhaft“ verdinglicht: Sie haben keine persönlichen Eigenschaften, weder innerliche noch äußerliche; ihre Existenz dient nur dem Selbstbezug der Männer, deren ästhetischer oder ethischer Innerlichkeit. Im Hinblick auf den Gerichtsrat gestaltet sich die Sache noch schwieriger, sofern ein wesentlicher Punkt seiner Kritik an der ästhetischen Lebensanschauung im Vorwurf des betrügerischen Solipsismus besteht. In Wilhelms Essay „Allerlei über die Ehe“, der in den Stadien auf des Lebens Weg veröffentlicht wurde, zeigt sich nicht nur das Bild einer isolierten Existenz, sondern auch das einer entfremdeten instrumentellen Beziehung. Stephen N. Dunning bemerkt dazu, dass
SKS SKS SKS SKS
3, 72– 74 / EO2, 73. 3, 84 / EO2, 86. 3, 150 / EO2, 162. 3, 85 / EO2, 87.
1.3 Sublimiertes Einverständnis. Ethische Innerlichkeit
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the judge has more to say about his wife in this essay than in the two long letters, perhaps because one purpose of the essay is to communicate what he “cannot say to her directly”. Such a confession is striking from a man who believes that marriage must be built upon self-revelation and who sentimentally applauds his wife as co-author of the essay.¹¹⁹
Zwischen den Zeilen seines Essays erweist sich der Gerichtsrat als Vertreter einer Hegelschen Ethik der Anerkennung – und zugleich als ihre Parodie. Er betont die Notwendigkeit der Reziprozität für die Liebesbeziehung – einer Reziprozität, die erst durch die Ehe ermöglicht werde. Eine wahre ethische Innerlichkeit, die Freiheit der ethischen Pflicht, erhalte demnach ihre Bestätigung reziprok nur durch die Ehefrau. Aber in seinen Argumenten hat seine Ehefrau keinerlei andere Bestimmungen, keine andere Bedeutung als diese eine: ihn in seinem ethischen Tun und Handeln zu affirmieren, anzuerkennen. Damit verliert die Anerkennung ironisch-paradoxerweise ihre ursprüngliche Bedeutung. Seine eigenen Worte widersprechen seiner ethischen Lehre, denn sie zeigen, dass the judge has very little sensitivity to his wife as an individual, [as] a person who is distinct from him and who has her own views and values and independent worth. She exists for him only in terms of their reciprocal relationship, a relationship in which he depends upon her in order to be a “genuine man”, that is, a man who is married, who is a father, who is the head and defender of the home, and so on.¹²⁰
In den Ausführungen des Gerichtsrats scheint die einzige Aufgabe der Ehefrau darin zu bestehen, das Ansehen und die soziale Rolle ihres Mannes zu gewährleisten und zu bestätigen. Als eine Ethik der Liebe ist diese Auffassung freilich äußerst bedenklich. Die Darstellung des Ethikers ist hier ohne Zweifel eine negativ-ironische – seine Äußerungen zur Ethik der Liebe zeigen nur, was diese nicht ist und nicht sein darf.
Dunning, Kierkegaard’s Dialectic of Inwardness, S. 99. Ebd., S. 101. Entsprechend der Ambiguität der Bedeutung von Wilhelms Briefen und Essays lässt sich auch das Verhältnis des Gemeinten zur Hegelschen “Sittlichkeit” als ironisch verstehen. In der Kierkegaard-Forschung findet sich sowohl die Ansicht, dass Wilhelm eine Inkarnation der Hegelschen Sittlichkeit darstelle (vgl. Smail Rapic, Ethische Selbstverständigung. Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Ethik Kants und der Rechtsphilosophie Hegels, Berlin und New York 2007 (Kierkegaard Studies. Monograph Series, Bd. 16), S. 263; Stewart, Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered, S. 225), als auch die, dass die gesamte Argumentationsweise des Gerichtsrats einen gescheiterten – und daher parodistischen – Versuch einer Systematisierung der Ethik darstelle (Dunning, Kierkegaard’s Dialectic of Inwardness, S. 101).
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1 Weder/Noch
Berufsethik Der zweite Kritikpunkt des Ethikers an der ästhetischen Lebensform betrifft die Weigerung des Ästhetikers, sich in die bestehende Ordnung zu integrieren. Zur ethischen Lebensanschauung gehört für Wilhelm vordergründig eine Berufsethik. Ein Leben ohne einen bürgerlichen Beruf, wie es A führt, sei insofern defizitär, als es über keine feste Verankerung in der konkreten Realität, im sozialen Gefüge, in der bürgerlichen Gesellschaft verfügt. Der ethische Satz, daß ein jeder Mensch einen Beruf habe, ist also der Ausdruck dafür, daß es eine vernünftige Ordnung der Dinge gibt, in der ein jeder Mensch, so er will, seinen Platz ausfüllt, dergestalt, daß er zu gleicher Zeit das Allgemein-Menschliche und das Individuelle ausdrückt. Ist das Dasein durch diese Betrachtung weniger schön geworden?¹²¹
Der Ausdruck des Allgemein-Menschlichen im Individuum korrespondiert hier sowohl mit Kants als auch mit Hegels Begriff der Ethik. Er entspricht zum einen dem Kantischen Ethikverständnis, dem zufolge das als ethisch zu bezeichnende Verhalten dem Anderen gegenüber durch eine Anerkennung des Gemeinsamen, des Allgemein-Menschlichen an diesem begründet wird: durch die Achtung für die „Menschheit in meiner Person“.¹²² Das Individuum gewinne eine moralische Berechtigung durch seine Teilnahme am Allgemeinen, diese Teilnahme werde erst durch die Erfüllung seiner individuellen Aufgabe konkret ermöglicht: durch die Ausübung eines Berufs. Zugleich klingt hier die Hegelsche Idee der Sittlichkeit nach, die eine Eingliederung des einzelnen Individuums in das Allgemeine fordert. Um den ihm zugewiesenen Platz innerhalb der „vernünftigen Ordnung der Dinge“ zu behalten, habe das ethische Individuum demnach die Aufgabe, zum Gemeinwesen beizutragen – im Gegensatz zum Ästhetiker, der sich gerade durch seine frei gestaltete Zeit außerhalb der bestehenden Ordnung stellen könne und diese insofern gefährde. „Nun, versteht sich,“ klärt der Gerichtsrat seinen Freund auf, ich habe auch nicht so reichlich Zeit wie Du; denn da ich mit Freude, aber auch mit Ernst mein Leben nach seiner Schönheit sehe, so hab ich stets genug zu tun. Hab ich dann mitunter eine Stunde frei, so steh ich an meinem Fenster und betrachte die Menschen und jeden Menschen sehe ich nach seiner Schönheit. Er sei noch so unbedeutend, noch so gering, ich sehe ihn nach seiner Schönheit; denn ich sehe ihn als diesen einzelnen Menschen, der doch zugleich der allgemeine Mensch ist, ich sehe ihn als den, welcher diese konkrete Lebensaufgabe hat; er ist nicht da um eines andern Menschen willen, und wäre er gleich der elendste Lohndiener; er hat seine Teleologie in sich selbst, er verwirklicht seine Aufgabe.¹²³
SKS 3, 277 / EO2, 311– 312. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A156, in Werkausgabe, Bd. VII, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, S. 210. SKS 3, 261– 262 / EO2, 294.
1.3 Sublimiertes Einverständnis. Ethische Innerlichkeit
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Hier ist ebenfalls eine Anspielung auf Kants Ethik zu erkennen. Die Einsicht in die innere Teleologie in jedem einzelnen Menschen korrespondiert mit Kants ethischer Forderung, jeden Menschen als Selbstzweck zu betrachten.¹²⁴ Aber hier wird zugleich die Schattenseite ebendieser Kantischen Ethik, wie sie sich in Wilhelms Argumenten zeigt, angedeutet. „Die Behauptung, selbst der ‚elendste Lohnarbeiter‘ realisiere seine innere Teleologie, macht allerdings stutzig; seine Lebensform ist ja gerade ein Paradigma der Instrumentalisierung durch andere Personen.“¹²⁵ Das moralische Lebensethos, das Wilhelm hier vertritt, erweist sich schließlich als problematisch gerade in moralischer Hinsicht, weil die einzige Bedeutung, die dabei den Mitmenschen eingeräumt wird, darin besteht, ihn in seiner freilich stärkeren Position zu bestätigen. Dieses moralische Lebensethos des Gerichtsrats zeigt sich auch an weiteren Stellen als eine Form apologetisch-repressiven Liberalismus. Zu seinem Ethikverständnis gehört die Anerkennung, die Akzeptanz des Anderen – jedoch nur solange dieser die bestehende Ordnung, die seiner Moralvorstellung zugrunde liegt, nicht gefährdet. Was Du sonst in dieser Hinsicht zu sagen hast, kann ich leichter verzeihen […], sofern Du allein die sozialen Verhältnisse angreifst. Betreffs dieser meine ich nur, jeder möge da seiner Meinung folgen, und wiewohl ich weit davon bin, Deine „Sprödigkeit“ zu billigen, werde ich doch so tolerant als möglich sein. Wir werden hierüber vermutlich immer uneinig bleiben. Ich halte es für etwas Großes, in ihnen zu leben, aus ihnen, wenn man es vermag, etwas Schöneres entstehen zu lassen, in sie, wenn man dies nicht vermag, sich einzuordnen und zu finden.¹²⁶
Die Form der liberalen Einstellung, die der Ethiker hier vertritt, zeigt sich als eine „ästhetisch“ begründete Apologie des Bestehenden, wobei das „Ästhetische“ allein im Anerkennen der „Schönheit“ der herrschenden sozialen Verhältnisse besteht. Als ein liberaler Moralist akzeptiert er auch die Anschauung des Ästhetikers, der das Bestehende – getreu der romantischen Tradition und der ihr entsprechenden Kritik – angreift; diese Akzeptanz erweist sich jedoch als eine bloß formale, rhetorische: Inhaltlich geht es dem Gerichtsrat weiterhin darum, die ästhetische Lebensform als inakzeptabel zu denunzieren. Er wirft dem Ästhetiker nicht nur Hedonismus, sondern auch eine aristokratische Überheblichkeit vor: Nicht jeder sei in der günstigen Lage des Ästhetikers,
Vgl. Rapic, Ethische Selbstverständigung, S. 185: „[M]it der Formulierung, wer seine Lebensaufgabe erfüllt, sei ‚nicht um eines anderen Menschen willen‘ da, spielt der Gerichtsrat auf Kants Forderung an, die ‚Menschheit‘ niemals ‚bloß als Mittel‘ zu behandeln, sondern stets als Selbstzweck zu respektieren.“ Ebd. SKS 3, 103 / EO2, 107– 108.
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1 Weder/Noch
schreibt Wilhelm, sich über die gesellschaftlichen Verhältnisse hinwegzusetzen. Die ästhetische Lebensform sei insofern nicht nur die „hedonistische“ Selbsttäuschung einer „isolierten Subjektivität“,¹²⁷ sondern auch ein Privileg. Hier wird noch einmal Kierkegaards subtile Ironie bemerkbar, denn der Gerichtsrat vermag hier zwar die Lebenslüge des Ästhetikers wieder zu durchschauen, jedoch nur, um in die gleiche Falle zu geraten: Während eine ästhetische Lebensform im Hinblick auf die Berufsfrage dem Gerichtsrat zufolge „etwas schlechthin Egoistisches“, eine Art „Aristokratie“, sogar eine „Räuberexistenz“ sei,¹²⁸ profitiert die von ihm propagierte ethische Lebensanschauung gerade von jenen „elendsten Lohndienern“¹²⁹, von jenen Individuen, die ihre „Aufgabe“ stillschweigend erfüllen. Sein Plädoyer für eine Akzeptanz des Bestehenden als Fundament der ethischen Lebensanschauung bildet sowohl in seinen Überlegungen über die Liebe – dort heißt es, „Einverständnis, das ist […] in der Ehe das Lebensprinzip“¹³⁰ – als auch in seiner Berufsethik die zentrale Stelle der Argumentation.¹³¹ Einverständnis mit dem Bestehenden bildet für den Gerichtsrat das Fundament der ethischen Innerlichkeit, wie er sie versteht, genauso wie die Negation des Bestehenden nach A der ästhetischen Innerlichkeit zugrunde liegt. Das Verhältnis von Innen und Außen spielt in beiden Argumentationen eine wesentliche Rolle. Dem Ethiker ebenso wie dem Ästhetiker geht es darum, die Wahrheit als das richtige Lebensverständnis in sich selbst zu finden, im Inneren. Gerade deshalb wirft der Gerichtsrat dem Ästhetiker Selbstbetrug vor: Der Ästhetiker – so übernimmt der Gerichtrat, ähnlich wie Kierkegaard in seiner Dissertation, die Hegelsche Romantikkritik¹³² – täusche sich über seine eigene Innerlichkeit und lebe ständig in Abhängigkeit vom Zufall und von der Willkür der Realität. „Wer aber
Greve, Kierkegaards Maieutische Ethik, S. 48. SKS 3, 277 / EO2, 312. SKS 3, 262 / EO2, 294. SKS 3, 117 / EO2, 124. In seiner Studie über Kierkegaards ethische Auseinandersetzung mit Kant und Hegel stellt Smail Rapic sogar fest, der Umgang des Gerichtsrats mit dem Ästhetiker sei „ein Paradigma ideologischer Argumentation“: „Indem der Gerichtsrat die Lebenswirklichkeit der benachteiligten Schichten beschönigt, wehrt er die Einsicht ab, dass er durch seine soziale Rolle an der Reproduktion von Herrschaftsstrukturen mitwirkt. [Seine] Attacke […] auf die Person des Ästhetikers wird dadurch ideologisch, dass er den Egoismus-Vorwurf zum Anlass nimmt, die argumentative Auseinandersetzung mit ihm abzubrechen.“ Rapic, Ethische Selbstverständigung, S. 284. Wie oben erwähnt, lassen sich einige Übereinstimmungen zwischen Kierkegaards Konzeption der „beherrschten Ironie“ aus der Ironieschrift und der ethischen Lebensanschauung des Gerichtsrats finden. So ist auch die Hegelsche Position der Ironie- und Romantikkritik aus dieser Schrift für die Überlegungen des Ethikers maßgeblich.
1.3 Sublimiertes Einverständnis. Ethische Innerlichkeit
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sagt“, – so Wilhelms Kritik – „er wolle das Leben genießen, der setzt stets eine Bedingung, welche entweder außerhalb des Individuums liegt oder auf eine Art im Individuum ist, daß sie nicht in dessen eigener Macht steht.“¹³³ Die ethische Innerlichkeit ist für den Gerichtsrat genau das Gegenteil: die Überwindung der ästhetischen Hingabe an den Zufall. Während der Ästhetiker stets nur in der Möglichkeit, niemals in der Wirklichkeit lebt, plädiert der Ethiker gerade für die Affirmation der bestehenden Wirklichkeit und lehnt jede Kritikmöglichkeit als Gefahr ab. Stattdessen stellt er die ethische Konzeption der Innerlichkeit vor: Vertritt die ästhetische Innerlichkeit eine Verschlossenheit, ein Sich-in-sich-selbst-Zurückziehen, das der Realität jede Gültigkeit abspricht, so bedeutet die Innerlichkeit des Ethikers eine Sublimierung der äußeren Verhältnisse durch die innere Wahl. Mit der ethischen Wahl antwortet er auf das NichtWählen des Ästhetikers: Der Ästhetiker meide jede Verpflichtung, der Ethiker plädiert für eine substantielle Selbstverpflichtung, deren Begründung in sich selbst zu finden sei. Wer […] sich ethisch wählt, der wählt sich konkret als dies bestimmte Individuum […]. Der einzelne Mensch wird sich also seiner bewußt als dies bestimmte Individuum mit diesen Fähigkeiten, diesen Neigungen, diesen Trieben, diesen Leidenschaften, als beeinflußt von dieser bestimmten Umgebung, als dies bestimmte Produkt einer bestimmten Umwelt. Indem er aber auf diese Art sich seiner bewußt wird, übernimmt er für alles miteinander die Verantwortung.¹³⁴
Es lässt sich jedoch fragen, wie eine Verantwortung „für alles miteinander“ fundiert wäre, die ihren Ursprung im Individuum selbst findet – und nicht in dem, worauf sich diese Verantwortung beziehen müsste. Der Verdacht einer solipsistisch begründeten Verantwortung verdichtet sich im weiteren Verlauf der ethischen Argumentation des Gerichtsrats: [Der einzelne Mensch] ist somit im Augenblick der Wahl in der vollendetsten Isolation; denn er zieht sich aus seiner Umgebung heraus; und gleichwohl ist er in dem gleichen Augenblick in unbedingtem Zusammenhang mit ihr, denn er wählt sich selbst als Produkt […]. Als Produkt ist er in die Formen der Wirklichkeit eingezwängt, in der Wahl macht er sich selbst geschmeidig, wandelt seine ganze Äußerlichkeit zu Innerlichkeit.¹³⁵
Ethische Innerlichkeit ist im Unterschied zur ästhetischen demnach gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie kein Gegensatz des Außen, sondern dessen Ver-
SKS 3, 175 / EO2, 191. Hervorhebung im Original. SKS 3, 239 / EO2, 267. SKS 3, 239 – 240 / EO2, 268.
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1 Weder/Noch
innerlichung ist. Das Individuum wähle sich selbst – diese Wahlfreiheit ist nach dem Verständnis des Gerichtsrats nicht die Freiheit, das Äußere zu negieren (eine Freiheit, die er im Rekurs auf die Hegelsche Argumentation überzeugend als Unfreiheit demaskiert), sondern gerade die Freiheit, das Äußere – die sozialen Verhältnisse, die Sphäre der Sittlichkeit, die herrschenden Normen – zu verinnerlichen, als eine subjektive Form zu sublimieren. Die Konstruktion der Innerlichkeit als das „Sich-selbst-Wählen“, wie sie der Gerichtsrat formuliert, ist eine berechtigte und überzeugende Kritik am „Nicht-Wählen“, am ewigen Möglichkeitsstatus des Ästhetikers, zugleich aber auch eine sich selbst aufhebende Tautologie. Denn der sich selbst Wählende hat seinen Platz in der Welt, in der Freiheit wählt er seinen Platz selber, d. h. er wählt den gleichen Platz. Er ist ein bestimmtes Individuum, in der Wahl macht er sich selbst zu einem bestimmten Individuum, zu dem gleichen nämlich; denn er wählt sich selbst.¹³⁶
Diesem gleichzeitig tautologischen und widersprüchlichen Argument zufolge besteht das „Sich-selbst-Wählen“ gerade im Wählen dessen, was das Individuum ohnehin schon ist. Wilhelms Ethik zielt auf keine Veränderung des Selbst ab, sondern vielmehr auf eine Selbstaffirmation. Sie hat insofern die gleiche selbsttäuschende Struktur wie die ästhetische Innerlichkeit. Sie ist Innerlichkeit gerade dadurch, dass sie alles andere als innerlich ist. Die Wahrheit der ethischen Innerlichkeit besteht also – genauso wie die der ästhetischen – in ihrer Unwahrheit; gerade dadurch, dass sie in sich, also im sich frei wählenden Individuum das Wahre zu finden glaubt, spiegelt sie das herrschende Lebensethos wider: Die ethische Freiheit, die „innere“ Wahl, ist zwar eine wahre, ihre Wahrheit ist aber eine historisch-soziale, „äußere“: Sie ist nicht die Wahrheit des freien Subjekts, sondern die Wahrheit über das Subjekt, das Freiheit bloß im affirmativen Einverständnis findet. Die ethische Innerlichkeit vermag also die Selbsttäuschung der ästhetischen zu durchschauen – jedoch nur, um in ihre eigene Selbsttäuschung zu verfallen. Kierkegaards kritisch-aporetische Darstellung des Ästhetischen und des Ethischen muss jedoch nicht als die Auffassung ausgelegt werden, Ästhetik und Ethik seien an sich – etwa der Religiosität gegenüber – defizitär. Vielmehr lässt sich fragen, um welchen Begriff von Ästhetik und um welches ethische Verständnis es sich hier handelt: Kierkegaard hat sich weder als Moralphilosoph noch als Ästhetiker verstanden, sondern als ein religiöser Schriftsteller und Zeitkritiker. Es geht hier im Vordergrund insofern nicht um eine dezidierte Ablehnung bestimmter Lebensformen, sondern vielmehr um eine Kritik praktisch-philosophi SKS 3, 240 / EO2, 268.
1.3 Sublimiertes Einverständnis. Ethische Innerlichkeit
71
scher Denkkonzeptionen, die seinerzeit vorherrschend waren. Es müsste insofern nicht gefragt werden, ob Kierkegaard die Ästhetik oder die Ethik an sich ablehnt, sondern welche Konzeptionen von Ästhetik und von Ethik er anvisiert. Und er nimmt diejenigen Auffassungen ins Visier, die sich selbst als richtig verstehen, die sich selbst als richtig setzen und dabei – auch wenn sie Begriffe wie Verzweiflung und Kritik gebrauchen – niemals die eigene Position in Frage stellen. Es sind Konzeptionen, die von ihrer eigenen Wahrheit ausgesprochen überzeugt sind und daher stets der Unwahrheit anheimfallen. Es handelt sich also bei den in Entweder/Oder ironisch dargestellten und implizit kritisierten ästhetischen und ethischen Lebensanschauungen um kritische, jedoch nicht selbst-kritische, um zweifelnde, jedoch nicht selbst-zweifelnde: also letztendlich doch um durchaus positive Konzeptionen. Das Problem der Innerlichkeit – ästhetisch und ethisch verstanden – zeigt sich hier daher als ein historisches und zugleich überhistorisches Problem: Die ästhetische und die ethische Lebensform im Visier der Kierkegaardschen Kritik sind die seinerzeit populären Konzeptionen – die romantische und die Hegelsche. Dass sie sich jedoch in Kierkegaards Augen als defizitär erweisen, zeigt nicht nur die geistige Situation der nachromantischen Zeit, sondern auch die immanente Problematik der Subjektivitätsfrage. Die folgenden Schriften Kierkegaards setzen sich mit diesen Konzeptionen aus der Perspektive der Negativität auseinander, die seine eigene Innerlichkeitskonzeption bestimmt.
2 Die Wunde der Negativität. Kierkegaards negative Konzeption der Innerlichkeit Anders als in der Kritik der romantischen Ironie teilt Kierkegaard Hegels Auffassung in Bezug auf die sokratische Ironie nicht. Während er zwar in Übereinstimmung mit Hegel die Selbsttäuschungs- und Selbstentfremdungstendenzen des romantischen Ironikers kritisiert, differenziert er Sokrates’ Ironie von der romantischen auf eine andere Weise als Hegel. Der Begriff der sokratischen Ironie erfährt in Kierkegaards Denken eine bedeutende Verschiebung, die ihn zum Fundament einer negativ aufgefassten Konzeption von Innerlichkeit macht. Die Ironieschrift ist dabei der Beginn einer langjährigen Beschäftigung mit der Frage nach der Bedeutung und der Rolle der Negativität für die Subjektivität. In diesem Kapitel werde ich die Entwicklung der Ironie von ihrer hegelianischen Darstellung in der Dissertation bis zu ihrer Bedeutung als Fundament von Kierkegaards späterer eigener negativer Konzeption der Innerlichkeit – die er vor allem in der Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift zu den philosophischen Brocken entfaltet, jener Schrift also, die seine philosophische Schreibphase 1846 abschließt, bevor er sich überwiegend dem theologischen Denken widmet – nachzeichnen. Die Bestimmung der Kierkegaardschen Konzeption der Innerlichkeit als eine negative betrifft auf eine besondere Weise die Bedeutung und die Stellung der Ironie in ihr. Ironie bezieht sich dabei nicht mehr allein auf die Differenz, aus der eine subjektiv fundierte Negation des Bestehenden herrührt, sondern wird radikaler verstanden – als eine unverständliche Absurdität, als das Fehlen jeglicher Maßstäbe zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt. Kierkegaard verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der Inkommensurabilität, der die Radikalität der Differenz bezeichnet: Zwischen Besonderem und Allgemeinem lassen sich demnach keine gemeinsamen Maßstäbe finden. Daraus folgt jedoch nicht, dass eine Kritik im Sinne einer „Negation des Bestehenden“ unmöglich wäre, sondern vielmehr, dass sie auf einer tieferen, fundamentaleren Ebene geschieht. Die Unmöglichkeit einer Identität, einer Kommensurabilität des besonderen Einzelnen mit dem Bestehenden stellt sich für Kierkegaard als das unüberwindbare Fundament kritischer Subjektivität dar. Nicht das Wollen, sondern das Können, nicht der Mangel an Willen zur kommunikativen Integration, sondern die Unmöglichkeit und Unfähigkeit, sich kommensurabel und mithin verständlich zu machen, ist hier von Bedeutung. Damit zielt Kierkegaard auf ein philosophisches Verständnis ab, das gerade die Stimme (oder genauer: das laute Schweigen) desjenigen verstärken möchte, der nicht imstande wäre, sich im Allgemeinen auszudrücken, sich diesem anzupassen – weil sein Inneres ihn daran hindert. Die Inkommensurabilität im Inneren
2.1 Der innere Dämon. Sokrates’ Negation des Bestehenden
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verhindert die Integration in das Äußere. Neben der Figur des Sokrates beschreibt Kierkegaard, vor allem in Furcht und Zittern, die biblische Figur Abraham. Abrahams Geschichte verdeutlicht die radikale Diskrepanz von Innen und Außen – die innere Notwendigkeit radikalen Handelns und die äußere Notwendigkeit, dieses Handeln zu erklären, zu kommunizieren, kommensurabel zu machen. Der Widerspruch zwischen dem Wahrheitsanspruch der Innerlichkeit und der prinzipiellen Unmöglichkeit, diese Wahrheit im Objektiven auszudrücken, zeigt sich Kierkegaard zufolge als fundamental für das Verständnis von Subjektivität als Selbst- und Weltbezug überhaupt. Es ist ein Verständnis, das in einer absoluten Negativität – als Unmöglichkeit und Unausdrückbarkeit – gründet und oft sogar mit negativen, weil tragischen oder fatalen Konsequenzen einhergeht. Zugleich besteht die philosophische Bedeutung dieser Konzeption Kierkegaards gerade in dem Bestreben, das Einzelne in dessen inkommensurabler, unkommunizierbarer Singularität zu verteidigen. Die Negativität bedeutet dabei nicht nur eine kritische „Negation des Bestehenden“ im Sinne der sokratischen Ironie, sondern eine absolute, paradoxe Absurdität, deren einziges Ausdrucksmedium das Schweigen ist: das Schweigen des absolut Anderen, des radikal Singulären. Die wahren ethischpolitischen Dimensionen der Kierkegaardschen negativen Konzeption der Subjektivität bestehen in dieser Verteidigung, in dieser Rettung des Besonderen, der Ausnahme, der Singularität.
2.1 Der innere Dämon. Sokrates’ Negation des Bestehenden Dies ist die allgemeine Bedeutung der genialen göttlichen Ironie, als dieser Konzentration des Ich in sich, für welches alle Bande gebrochen sind und das nur in der Seligkeit des Selbstgenusses leben mag. Diese Ironie hat Herr Friedrich von Schlegel erfunden, und viele andere haben sie nachgeschwatzt oder schwatzen sie von neuem wieder nach.¹
Die Ironie als eine Grundform der ästhetischen Subjektivität der Romantik stellte sich für Hegel – und auf eine andere Weise auch für Kierkegaard – nicht nur als ein ästhetisches, sondern zugleich als ein ethisches Problem. Sie bildet demnach nicht nur die literarische Form des sich von der objektiven Wirklichkeit distanzierenden Künstlers, sondern eine Lebensform, die die ethisch-politische Grundhaltung des Individuums zu seiner Umwelt bezeichnet. Die „Negativität der Ironie“ der Romantiker bedeutet in Hegels Ästhetik-Vorlesungen „die Eitelkeit alles Sachlichen, Sittlichen und in sich Gehaltvollen, die Nichtigkeit alles Objektiven
Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 95.
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2 Die Wunde der Negativität. Kierkegaards negative Konzeption der Innerlichkeit
und an und für sich Geltenden“.² Ein Wirklichkeitsverlust, eine absolute Vernichtung jeder Gültigkeit der objektiven Welt im Bewusstsein des romantischen Subjekts führt dieses Subjekt dahin, gar nichts mehr ernst nehmen zu können, nichts außer der eigenen poetisch gedichteten Subjektivität. Ausgerechnet in seiner Darstellung des Sokrates und dessen ironischer Methode, in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, findet Hegel die Gelegenheit, mit der Ironie in ihrer seinerzeit herrschenden romantischen Erscheinungsform abzurechnen. Dies ist für unsere Sache umso interessanter, als in Hegels Darstellung, anders als bei Kierkegaard, die sokratische Ironie gerade nicht als ein Korrektiv der verworfenen romantischen Ironie betrachtet wird. Die romantische Ironie, so Hegel in seinem „Exkurs“ zur Romantik, bevor er zum eigentlichen Thema, der Ironie des Sokrates kommt, „ist das Fertigsein des subjektiven Bewußtseins mit allen Dingen […], ist das Spiel mit allem; dieser Subjektivität ist es mit nichts mehr Ernst, sie macht Ernst, vernichtet ihn aber wieder und kann alles in Schein verwandeln“.³ Weiterhin sieht Hegel im „inneren tiefsten Leben“ der Romantiker „eben die subjektive Willkür, diese innere Göttlichkeit, die sich über alles erhaben weiß. Als die Urheber dieser Ironie, von der man versichert, sie sei das ‚innerste tiefste Leben‘,“ so verknüpft Hegel die romantische mit der sokratischen Ironie, „hat man fälschlich Sokrates und Platon angegeben, obzwar sie Moment der Subjektivität haben; unserer Zeit war es aufbehalten, diese Ironie geltend zu machen.“⁴ Den Zusammenhang zwischen der romantischen und der sokratischen Ironie führt Hegel auf einen Fehler zurück, denn zwischen beiden Formen bestehe keine innere sachliche Verbindung. Ebensowenig sieht er die romantische Ironie als eine verstellte Fortsetzung, als eine Fehlentwicklung der sokratischen, wie sie Kierkegaard sieht. Es handele sich im Grunde um zwei ganz verschiedene Konzeptionen. Hegels Kritik an der romantischen Ironie wird in ihren wesentlichen Aspekten, wie oben in anderer Hinsicht erwähnt, durch Kierkegaard übernommen. Die „Tiefe der Leerheit“⁵, nach Hegel charakteristisch für die abstrakte Subjektivität der Romantiker, sieht auch Kierkegaard als einen Ausdruck ihrer Wirklichkeitslosigkeit, ihrer Verwechslung von Wirklichkeit und Möglichkeit, ihrer Suspension von jeder Moral und Sittlichkeit. Sowohl Hegel als auch Kierkegaard beklagen die Ernstlosigkeit der Romantiker. Während jedoch Hegels Motivation zur Kritik der romantischen Ironie in der Diagnose ihrer Distanzierung von jeder sittlichen, objektiven Gültigkeit besteht, stellt sich für Kierkegaard der Hintergrund dieser
Ebd., S. 96; Hervorhebung im Original. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 460. Ebd., S. 461. Ebd.
2.1 Der innere Dämon. Sokrates’ Negation des Bestehenden
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Kritik durchaus anders dar. Diese Differenz wird in Edo Pivčevićs Studie zur Ironie herausgearbeitet. Hegel, so Pivčević, sieht in der romantischen Subjektivität eine Tragödie des Gewissens, das einer Vergegenständlichung nicht fähig ist. Diese Krise des Gewissens kann überwunden werden, indem es sich in der Sittlichkeit objektiviert. So rettet man sich vorm Nichts. Für Kierkegaard erscheint im Gegenteil diese ‚Rettung‘ zumindest genauso gefährlich wie die romantische Sackgasse. Eine völlige Entäußerung des Gewissens würde eine Preisgabe der existentiellen Innerlichkeit bedeuten. Kierkegaard ist zu diesem Opfer nicht bereit.⁶
Daher übernimmt Kierkegaard Hegels Kritik der romantischen Ironie – gerade um ihr sein eigenes Alternativmodell entgegenzustellen: die sokratische Ironie und die sokratische Innerlichkeit. An dieser Stelle scheiden sich die Wege: Beide verhandeln zwar die sokratische Ironie in ihrer Differenz zur romantischen, es bestehen jedoch wesentliche Unterschiede zwischen den Darstellungen – und insbesondere zwischen den Wertungen, die sie dieser Ironieform beimessen. Die unterschiedlichen Lesarten führen entsprechend zu ganz verschiedenen Konsequenzen und Konzeptionen. Von der romantischen Ironie, „von dieser Ironie unserer Zeit ist“ – Hegel zufolge – „die Ironie des Sokrates weit entfernt; Ironie hat hier, so wie bei Platon, eine beschränkte Bedeutung. Sokrates’ bestimmte Ironie ist mehr Manier der Konversation, die gesellige Heiterkeit, als daß jene reine Negation, jenes negative Verhalten darunter verstanden wäre.“⁷ Im Gegensatz zur romantischen Ironie, für Hegel eine ästhetischethisch problematische, jedoch historisch gegebene Lebensform, stellt für ihn die sokratische Ironie lediglich eine Art der Rhetorik, des Gesprächs, höchstens eine didaktische Form der Maieutik dar, aber schließlich keine Lebensform. Dagegen hat sie für Kierkegaard eine entscheidende praktische Bedeutung: Für ihn ist die sokratische Ironie ein „Standpunkt“ im Leben, eine existentielle Lebensform. Insofern trifft Hegels kategoriale Unterscheidung der romantischen von der sokratischen Ironie für Kierkegaard nicht zu.Wenn Hegel in der romantischen Ironie eine verabsolutierte Lebensund Subjektivitätsform sieht, in der sokratischen eine Art der Rhetorik, so rechnet er jede dieser Formen einer anderen Begriffskategorie zu und betrachtet die romantische Ironie als eine historische Fehlentwicklung, nämlich als Entwicklung einer Subjektivitätsform, eines Selbst- und Weltbezugs aus einem Begriff, der eigentlich rhetorischen, kommunikativen Kategorien zugehört. Kierkegaards Verständnis der sokrati-
Edo Pivčević, Ironie als Daseinsform bei Sören Kierkegaard, Gütersloh 1960, S. 37– 38. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 461; Hervorhebung im Original. Vgl. auch Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in Werke, Bd. 7, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 2003, § 140, S. 277: „Die Ironie betrifft nur ein Verhalten des Gesprächs gegen Personen.“ Hervorhebung im Original.
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2 Die Wunde der Negativität. Kierkegaards negative Konzeption der Innerlichkeit
schen Ironie lässt sich aber gerade derjenigen Kategorie zurechnen, die Hegel für die Romantik bereithält: Die sokratische Ironie ist für Kierkegaard nicht bloß eine rhetorische Kategorie, sondern eine reale, praktische Lebensform. Gerade die sokratische Ironie sieht er als die entscheidende Ironieform, auf der wahre Subjektivität beruht. Als Subjektivitätsformen sind die romantische und die sokratische Ironie durch einen negativen Bezug zum Bestehenden charakterisiert – sei dieses abstrakt verstanden, im Sinne einer objektiven Wirklichkeit, oder konkret, als das Gemeinwesen oder der Staat. Dabei steht die abstrakte Negation der Romantik der bestimmten Negation des Sokrates gegenüber. Seine Ironie beabsichtigt nicht, wie die romantische, jede Geltung objektiv-allgemeiner, nicht-subjektiver Sachverhalte als solche zu bestreiten, sondern diese vermittels der Ironie – hier doch auch als rhetorisches Mittel, wie Hegel sie bezeichnet hat – in Frage zu stellen, um schließlich ein klares Verständnis jener Sachverhalte zu gewinnen. Der entscheidende Unterschied betrifft insofern die Funktion der Negation. Die sokratische Negation zeichnet sich der romantischen gegenüber als kritisch aus. Auch wenn sie im Grunde keine Alternativen zum Gegenstand der Kritik bietet, negiert sie das Bestehende nicht pauschal und übergreifend, sondern bezieht sich spezifisch auf Probleme und Defizite und zeigt sie kritisch-ironisch auf. Die Negation ist dabei nicht nur, wie Hegel es mit Blick auf Sokrates beschreibt, eine argumentative Position, sondern eine absolute Lebens- und Subjektivitätsform (und darin der Romantik ähnlich): Sokrates verwendet eine ironische oder negative Methode nicht nur; er lebt sie. In dieser Relevanz der Ironie für das Leben konvergieren romantische und sokratische Ironie. Die Differenz besteht in der jeweiligen Form und Funktion der Negativität. Sokrates’ Negativität gegenüber der kontingenten äußeren Welt in deren Relativität, Bedingtheit und Endlichkeit führt ihn zur Fundierung subjektiver Wahrheit. Im Gegensatz zur romantischen Subjektivität ist die sokratische nicht auf die Erscheinungen der äußeren, sinnlichen Welt angewiesen, sondern sie findet ihre Wahrheit in sich selbst. In seiner Dissertation schreibt Kierkegaard dazu folglich: Nun ist freilich wahr, daß die Subjektivität in ihrer ganzen Fülle, die Innerlichkeit in ihrem gesamten unendlichen Reichtum ebenfalls mit den Worten ‚Erkenne dich selbst‘ bezeichnet werden kann; was jedoch Sokrates anlangt, so war diese Selbsterkenntnis nicht so inhaltsreich, sie enthielt eigentlich nicht mehr als die Abtrennung, Absonderung dessen, was später Gegenstand der Erkenntnis geworden ist. Das Wort ‚Erkenne dich selbst‘ (γνωϑι αυτόν) bedeutet: trenne dich selbst von allem andern ab.⁸
SKS 1, 225 / BI, 182.
2.1 Der innere Dämon. Sokrates’ Negation des Bestehenden
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Sokrates’ ironisch-negative Methode der Suche nach der Wahrheit der Subjektivität beruht auf einem Prozess der Abstraktion. Die Negativität seiner Ironie zielt auf das Aufzeigen der Lüge des Bestehenden, der äußeren Welt, der herrschenden Begriffe und Konzeptionen ab. Durch eine Negation des Bestehenden wird seine eigene Subjektivität formiert. Sokrates’ Subjektivität ist jedoch keine bloße Flucht vor der äußeren Welt in die innere, wie sie den Romantikern vorgeworfen wird, sondern vielmehr die Fundierung des Selbstverhältnisses durch eine Reflexion über die Welt, durch eine Auseinandersetzung mit ihr. „An die Stelle jener Scheu (αἰδώϛ), welche mächtig aber geheimnisvoll das Individuum am Gängelband des Staats gehalten hatte, trat nunmehr die Entscheidung und innere Gewißheit der Subjektivität.“⁹ Sokrates zufolge steht die Subjektivität in einem Zusammenhang mit individueller Entscheidung und innerer Gewissheit. Erst ein solches Verständnis vermag die dialektische Abhängigkeit des sich vom Bestehenden distanzierenden Subjekts – wie sie im Fall der romantischen Ironie gegeben ist – zu brechen. Hier lässt sich Kierkegaards argumentativer Zug gegen Hegel wiedererkennen. Während er im Anschluss an Hegel die romantische Subjektivität kritisiert, erklärt Kierkegaard seine Absage an Hegels Lösung im Sinne der Sittlichkeitskonzeption und der Identifikation mit dem Allgemeinen, mit dem Gemeinwesen. Diese „Scheu“ des Individuums vor dem Gemeinwesen wird Kierkegaard zufolge mit Sokrates durchbrochen. Sokrates’ Negativität und Ironie seien bestimmt, gezielt, gerichtet gegen das Bestehende in dessen konkreter Form: dem griechischen Staat. Die sokratische Ironie hat folglich eine dezidiert ethisch-politische negativ-kritische Bedeutung. Kierkegaards Lektüre der „Apologie“ des Sokrates zeigt, dass „der Standpunkt des Sokrates ganz und gar negativ ist gegen den Staat, [dass] er überhaupt nicht in den Staat paßte“. Die Figur des Sokrates verbildlicht für Kierkegaard die Zusammengehörigkeit von Subjektivität und Kritik. An der oben zitierten Stelle bezeichnet er Sokrates’ Standpunkt als die Subjektivität, die Innerlichkeit, die das Bestehende negiert und auflöst; hier bezeichnet er diesen Standpunkt als die negierende Kritik des griechischen Staats. Auch in diesem gedanklichen Zug bezieht sich Kierkegaard auf Hegels Idee der Sittlichkeit, vor allem aufgrund der Stellung, die sie dem Einzelnen einräumt. Dass Sokrates in den Staat nicht „passt“, bedeutet erstens, dass der Staat – und damit meint Kierkegaard nicht den griechischen Staat, sondern bezieht sich implizit, aber unmissverständlich auf Hegels Staatstheorie – den kritischen Einzelnen ausschließt; und zweitens, dass dieser Ausschluss, die Unintegrierbarkeit, Sokrates vor sich selbst, vor seine eigene innere Wahrheit stellt – und dadurch Subjektivität als Innerlichkeit auf eine
SKS 1, 212 / BI, 168 – 169.
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2 Die Wunde der Negativität. Kierkegaards negative Konzeption der Innerlichkeit
negative Weise hervorbringt. Sokrates’ Standpunkt ist hier der Standpunkt von Subjektivität und Kritik, von Subjektivität als Kritik, der Kritik am Bestehenden als Ursprung von Selbstbezüglichkeit überhaupt. Dies entspricht Kierkegaards Verständnis von sokratischer Ironie. Damit verkörpert Sokrates für Kierkegaard eine bis zum Äußersten durchgeführte Ironie, welche des Staates objektive Macht sich brechen läßt an der starren Klippe ironischer Negativität. Des Staates objektive Macht, seine Ansprüche an des Einzelnen Tätigkeit, die Gesetze, die Gerichte, alles verliert für Sokrates die unbedingte Giltigkeit […] und er selber schwebt darüber in ironischer Selbstbefriedigung, getragen von der schlechthinnigen inneren Folgerichtigkeit der unendlichen Negativität.¹⁰
Sokrates’ Ironie ist für Kierkegaard eine negative Freiheit; er werde durch sie „negativ frei“. Dies ist jedoch nicht nihilistisch zu verstehen – damit ist nicht eine Absage an Werte und Normen als solche gemeint, sondern vielmehr an die Werte und Normen des bestimmten Staates, die in ihrer gegebenen Verfasstheit den Einzelnen verfehlen. Sokrates’ ironische Negativität rührt her aus der Erkenntnis dieser Diskrepanz zwischen der Objektivität des Staates und dessen Gesetzen, Normen und Werten einerseits und der Subjektivität des Einzelnen, der sich darin nicht wiederfindet, andererseits. In der Ironie ist das Subjekt negativ frei; denn die Wirklichkeit, welche ihm Inhalt geben soll, ist nicht vorhanden, das Subjekt ist frei von der Gebundenheit, in welcher die gegebene Wirklichkeit das Subjekt hält, aber es ist negativ frei und als solches in der Schwebe, weil nichts da ist, das es hielte. Eben diese Freiheit aber, dieses Schweben verleiht dem Ironiker einen gewissen Enthusiasmus, indem er sich an der Unendlichkeit der Möglichkeiten gleichsam berauscht.¹¹
Die Ironie ist folglich das Mittel, das es Sokrates ermöglicht, die Lüge des Bestehenden aufzudecken und sich davon zu „befreien“. Sie vermöge allerdings nur, sich von der „gegebenen Wirklichkeit“ zu lösen, ohne eine Alternative zu ihr zu präsentieren: Der sokratische Ironiker bleibe beim Negativen, er stelle keine positive Wirklichkeit her. Er sei „von allem befreit, ohne frei zu Eigenem zu werden“.¹² Dies ist freilich ein weiteres Argument, das Kierkegaard von Hegel übernimmt.¹³ Sokrates’ Rückzug in die Innerlichkeit und die „innere Gewissheit“ seiner selbst mache ihn daher, so Kierkegaard in Übereinstimmung mit Hegel, zum „Stifter der Moral“. Die moralischen Prinzipien, die Leitlinien für das Handeln des Individuums, sollten – der Kantischen Ethik ähnlich – im Subjektiven gefunden
SKS 1, 243 / BI, 203. SKS 1, 299 – 300 / BI, 267. Michael Theunissen, Der Begriff Ernst bei Søren Kierkegaard, Freiburg 1958, S. 4. Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 458 – 467.
2.1 Der innere Dämon. Sokrates’ Negation des Bestehenden
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werden, in der „inneren Gewissheit“ des Individuums. Die Negation des Bestehenden durch die sokratische Ironie ist nicht eine alles negierende Ironie romantischer Art, sie ist vielmehr eine bestimmte Negation und insofern berechtigter, legitimer als diese. Sie versetzt das Individuum in die Lage, sich vom Bestehenden loszureißen. Die objektive Wirklichkeit wird dann aus der subjektiven Perspektive der inneren moralischen Prinzipien betrachtet. Diese Fähigkeit (hier vollzieht Kierkegaard im Anschluss an Hegels Sokratesbild denselben argumentativen Zug, den Hegel in Bezug auf Kants Ethik vollzieht) ist allerdings eine beschränkte. Kierkegaard rekonstruiert dafür die Hegelsche Moralitätskritik: Das moralische Individuum ist nun das negativ freie Individuum. Es ist frei, weil es durch etwas Anderes nicht gebunden ist, es ist jedoch negativ frei, eben weil es nicht begrenzt ist in etwas Anderm. Erst dann nämlich, wenn das Individuum, sofern es in seinem Andern ist, in seinem Eignen ist, erst dann ist es in Wahrheit, d. h. positiv frei, affirmativ frei. Die moralische Freiheit ist darum Willkür.¹⁴
Die Kritik der abstrakten Moralität, die Kierkegaard von Hegel übernimmt,verleitet ihn allerdings nicht dazu, die Hegelsche Auffassung der konkreten Sittlichkeit zu akzeptieren. „Sokratische Ironie“, erläutert Michael Theunissen, „ist nicht nur die Negation dieses oder jenes gegebenen Endlichen, sondern der ganzen Gegebenheit und damit unendlich negativ.“¹⁵ Nach Theunissen ist die sokratische Ironie gerade eine abstrakte und absolute, eine alles negierende Bestimmung der Subjektivität. „Den Begriff des Abstrakten gebraucht Kierkegaard mehrmals zur Bezeichnung der Ironie und der sokratischen Methode. Er bestimmt ihn wieder als das ‚Negative‘.“¹⁶ Die Negativität der Ironie bestehe folglich in ihrer Abstraktheit, darin also, dass sie keine andere Bestimmung habe, als alles Nicht-Subjektive zu negieren. „Abgelöst von allen Bindungen der bürgerlichen Existenz, befreit von den Verpflichtungen des Staates, versammelt sich der Ironiker auf sich selbst […]. Die Ironie ist der Rückzug auf sich selbst; sie ist darum eine ‚Bestimmung der Subjektivität‘.“¹⁷ Sokrates’ Ironie als Negativität sei daher „das Nichts“: „Dieses Nichts ist das Selbst des ironischen Menschen. Es ist nur dies: nicht in der Welt zu sein.“¹⁸ Theunissen macht deutlich, dass Sokrates für Kierkegaard ein Vorbild negativen Selbst- und Weltbezugs verkörpert. Obwohl Kierkegaards Sokratesbild in der Ironie-Dissertation noch stark von Hegels Lesart beeinflusst ist, liest Theunissen es im Hinblick auf Kierkegaards spätere, eigene
SKS 1, 270 / BI, 234. Theunissen, Der Begriff Ernst, S. 5. Ebd., S. 11. Ebd., S. 10; Theunissen zitiert aus SKS 1, 299 / BI 266. Ebd., S. 11.
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2 Die Wunde der Negativität. Kierkegaards negative Konzeption der Innerlichkeit
Auffassung. Dies ist umso berechtigter, als sich Kierkegaard selbst von seiner hegelianischen Interpretation später distanzierte und Hegel zu seinem philosophischen Gegner und Hauptangriffspunkt machte.¹⁹ So behauptet Jens Himmelstrup in seiner Studie über Kierkegaards Sokratesauffassung, daß die Gesichtspunkte Kierkegaards zu der Zeit seiner Habilitationsschrift eben einen hegelianischen Anstrich von verknöchertem Konservatismus und ethischem ‚Objektivismus‘ haben. Wo Kierkegaard die Methode des Sokrates kritisiert, geschieht dies augenscheinlich von einem hegelianischen Standpunkte aus […]. Seine Argumente sind augenscheinlich der Vorratskammer Hegels entnommen.²⁰
Kierkegaard bedient sich nach Himmelstrups Auffassung zwar eines Hegelschen antiironischen Vokabulars, distanziere sich von ihm aber zunehmend und bekämpfe ihn philosophisch in den nachfolgenden Schriften. Demgegenüber vertritt Emanuel Hirsch in seinen Kierkegaard-Studien die These, Himmelstrup habe „die eigentliche Absicht der Schrift verkannt, Sokrates gegen Hegel zu wenden und so für den Einzelnen in seinem Gottesverhältnis wider die Spekulation einen Einsatz zu finden“.²¹ Hirsch behauptet, dass die sokratische Position in der Dissertation zwar im Anschluss an Hegel kritisiert, jedoch nicht gänzlich abgelehnt werde. Er macht darauf aufmerksam, dass Kierkegaard zwischen der unberechtigten romantischen Ironie und der historisch berechtigten sokratischen Ironie unterscheidet. Laut Pivčević sind beide Auffassungen – Himmelstrups und Hirschs – unzureichend, da sie eine wichtige Tatsache nicht zu klären vermögen. In beiden Abhandlungen bleibe „unklar, warum Kierkegaard so bemüht ist, Sokrates negativ darzustellen.Was für einen Sinn hat bei ihm die Hegelsche Definition der Ironie als ‚unendliche absolute Negativität‘?“²² Eine negative Auffassung der sokratischen Ironie könnte also zwar eine hegelianisch formulierte Kritik an Sokrates, an seiner Ironie und seiner Subjektivitätsform bedeuten. Sie kann aber auch, wie ich hier argumentieren werde, eine über Hegel hinausgehende Auffassung sein, in der die negative Darstellung des Sokrates ihn nicht abzuqualifizieren beabsichtigt, sondern vielmehr seine Negativität als den kritischen Standpunkt hervorhebt, der ihm die Kraft gibt, die bestehende Ordnung aus subjektiver Perspektive in Frage zu stellen.
Vgl. Pivčević, Ironie als Daseinsform, S. 49. Jens Himmelstrup, Kierkegaards Sokratesauffassung, Neumünster 1927, S. 46 – 48. Mit der „Habilitationsschrift“ ist freilich die Ironie-Dissertation gemeint. Vgl. dazu auch Pivčević, Ironie als Daseinsform, S. 48 – 49. Emanuel Hirsch, Kierkegaard-Studien, Gütersloh 1933, Bd. II, S. 744 (Fußnote). Pivčević, Ironie als Daseinsform, S. 50.
2.1 Der innere Dämon. Sokrates’ Negation des Bestehenden
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Sokrates’ ironische Dialektik endet mit einem negativen Resultat. Alles nimmt letztlich sein Ende im Nichts. Sein Standpunkt ist der Standpunkt des absoluten Ironikers, kritisch und nicht konstruktiv. Er ist imstande, alles abzuwerten, aber nichts aufzubauen. Alles ist durch sein Fragen problematisch geworden, dafür ist aber nichts Neues in Aussicht gestellt.²³
Der philologische Streit darüber, ob Kierkegaard in Bezug auf Sokrates mit oder gegen Hegel – oder mit Hegel gegen Hegel – denkt, wirft zwar Licht auf die innere Beschaffenheit von Kierkegaards Argumentation, ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Figur des Sokrates und seine Form der Ironie eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Entwicklung seines eigenen Denkens spielen. Es geht ihm, vor allem in den späteren Werken, genau um diese Form von Negativität, die nicht in einer Position endet, sondern aporetisch, offen, absolut bleibt – und um ihre subjektivitätstheoretische Bedeutung. Sokrates wird demnach nicht nur als Urheber (oder, wie er sich selbst bezeichnet: als die Hebamme) der Subjektivität, sondern als der Vertreter einer bestimmten Form von Subjektivität gesehen, die in der Negativität der Ironie fundiert ist. Daher bildet für Kierkegaards Sokrates gerade „die Ironie als die unendliche absolute Negativität […] eine Bestimmung der Subjektivität“.²⁴
Dämonie und Unwissenheit Die Negativität der sokratischen Ironie ist nach Kierkegaard grundsätzlich eine andere, als einerseits die Romantiker, andererseits Hegel sie verstehen. Für Kierkegaard hängt sie mit zwei anderen sokratischen Begriffen zusammen: Dämonie und Unwissenheit. Die Dämonie stellt für ihn ein Fundament der „abstrakten Innerlichkeit“ dar; die absolute Unwissenheit ist Grund seines negativen Standpunkts. Diese beiden Begriffe bestimmen die Spezifik der Kierkegaardschen sokratischen Ironie in ihrer Bedeutung für seine negative Konzeption der Subjektivität – und ich möchte ihnen hier anhand seines Sokratesbildes in der Dissertation genauer nachgehen. In Platons Apologie beruft sich Sokrates, als er beschuldigt wird, seine Bürgerpflichten nicht mehr zu erfüllen und sich von den Staatsgeschäften fernzuhalten, auf sein Daimonion. Dieses, sagt Sokrates, sei „von meiner Kindheit an geschehen, eine Stimme nämlich, welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun will, zugeredet hat sie mir nie“.²⁵ Das Dämonische Ebd. SKS 1, 299 / BI, 266. Platon, Apologie des Sokrates, 31d, in Sämtliche Dialoge, hg. u. übers. von Otto Apelt, Hamburg 2004. Vgl. auch Theates 128d; Euthyphron 3b; Politeia 496c, Euthydemos 272e; Ande-
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2 Die Wunde der Negativität. Kierkegaards negative Konzeption der Innerlichkeit
als eine teils göttliche, teils innere Stimme bezeichnet Kierkegaard als eine „abstrakte Innerlichkeit“.²⁶ Michael Theunissen merkt dazu an, bei Kierkegaard sei mit dem Abstrakten oft das Negative gemeint. Sokrates’ „abstrakte Innerlichkeit“ sei folglich ein negativer Begriff: Seine Subjektivität rührt aus einem negativen Verhältnis seines Inneren zum Außen, zur Wirklichkeit, zum Bestehenden her. So bezeichnet bei Kierkegaard das Dämonische das ganz und gar negative Verhältnis des Sokrates zum Bestehenden in religiöser Hinsicht […], nicht so sehr dadurch, daß er etwas Neues einführte, denn alsdann würde sein negatives Verhältnis immer mehr sich als ein Schatten erweisen, der seiner Positivität folgte, als weit eher dadurch, daß er das Bestehende verwarf, sich in sich verschloß, sich egoistisch auf sich selber begrenzte.²⁷
Sokrates’ Dämon wird von Kierkegaard „in religiöser Hinsicht“ als eine göttliche Stimme – nicht unkritisch – dargestellt, eine Stimme, die nur für ihn hörbar sei und ihn dadurch vom Bestehenden trenne, isoliere; diese seine „abstrakte Innerlichkeit“ enthalte jedoch keine Positivität, sie sei eine reine – allerdings bestimmte – Negation. Wie Sokrates selbst sagt: Sie redet nur von etwas ab, redet aber nicht zu. Für Kierkegaard ist Sokrates’ Dämon, seine negative Innerlichkeit, genau das, was ihm jene kritische Stellung zum Bestehenden ermöglicht. Sokrates, so beginnt Kierkegaard seine Dissertation, gehörte nämlich zu denjenigen Menschen, bei denen man nicht bei dem Äußeren als solchem stehenbleiben kann. Das Äußere deutete ständig auf ein Anderes und Entgegengesetztes hin […]. Das Äußere war überhaupt nicht in harmonischer Einheit mit dem Inneren, sondern eher der Gegensatz dazu, und allein unter diesem Brechungswinkel ist er zu verstehen.²⁸
Kierkegaard zeigt in der Dissertation, dass und inwiefern Sokrates’ Dämon – die Negativität seiner Ironie als Ausdruck der Unmöglichkeit einer Kommensurabilität von Innen und Außen – eine besondere Form von Subjektivität hervorruft. Die Relevanz der Dämonie in Kierkegaards Sokratesverständnis besteht zugleich darin, dass sie die subjektivitätstheoretische Frage in einen Zusammenhang mit dem Bekenntnis der Unwissenheit bringt. In der Hervorhebung der sokratischen Unwissenheit verweist Kierkegaard auf eine weitere wichtige Bedeutung seines Negativitätsbegriffs. Deutet die Dämonie auf eine absolute Negation des Beste-
renorts wird das Daimonion als das Göttliche bzw. die göttliche Stimme übersetzt; dem entspricht der Vorwurf der Athener, Sokrates glaube an andere Götter als die Götter des Staats. SKS 1, 216 / BI 174. SKS 1, 217 / BI 174; Hervorhebung im Original. SKS 1, 74 / BI, 10.
2.1 Der innere Dämon. Sokrates’ Negation des Bestehenden
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henden als eine ständige kompromisslose kritische Haltung hin, so verweist seine Unwissenheit, die grundsätzliche Ablehnung jedes positiven Standpunkts, auf das Aporetische an seinem Begriff der Negativität selbst: Sie bietet keine Lösungen, keine positiven Alternativen, sondern bleibt unkonstruktiv. Sokrates’ Unwissenheit ist insofern einerseits ein Ausdruck für die Negativität, in der kritische Subjektivität fundiert ist. Sie ist aber zugleich auch das, was zu seinem Untergang führt. Die Verweigerung, die Staatsgötter Athens anzuerkennen, begründet durch seine Unwissenheit, ist der äußere Ausdruck seines Inneren, seines Dämons: Sie ist Ausdruck einer negativen Subjektivität. Diese erscheint aber für den athenischen Staat und vor allem für seine Ankläger verbrecherisch. „Man wird hier sofort bemerken“, kommentiert Kierkegaard in einer Fußnote die Situation der Apologie, wie schwierig die Stellung der Ankläger war; das war für Sokrates ein leichtes Ding, jedesmal, wenn sie einen positiven Klagepunkt aufstellten, diesen mit Hilfe jener Unwissenheit zunichte zu machen, und eigentlich hätten die Ankläger ihn eben wohl wegen seiner Unwissenheit beschuldigen müssen, denn es gibt natürlich eine Unwissenheit,welche,vor allem im griechischen Staat und in gewissem Maße in jedem Staat, für ein Verbrechen gelten muß.²⁹
Sokrates’ Dämonie und Unwissenheit, seine negative Subjektivität, stellte also für den griechischen Staat ein Verbrechen dar, musste als „Attentat, als eines der allergefährlichsten Unternehmen betrachtet werden […], als ein Versuch, dem Staat das Blut auszusaugen und ihn in einen Schemen zu verwandeln“.³⁰ Kierkegaards Darstellung der Negativität der sokratischen Ironie als Fundament kritischer Subjektivität ist insofern eine komplexe: Sie schließt sich der Hegelschen Kritik an, um über diese hinauszugehen und um dann wieder zum Negativen zu gelangen. In seiner Abhandlung der sokratischen Ironie bedient er sich der Methode des Sokrates selbst, oder, wie er sie selber beschreibt: seiner „reine[n] negative[n] Dialektik“.³¹ Denn so kann man schließlich auch Kierkegaards dialektische Methode selbst beschreiben: Sie negiert die beiden Alternativen, die ästhetische Subjektivität (romantische Ironie) und die ethische Subjektivität (Kantische ebenso wie Hegelsche Ethik), um in der radikalisierten Negativität der sokratischen Ironie (die sich, wie gezeigt, in Kierkegaards Darstellung von Hegels Verständnis sokratischer Ironie stark unterscheidet) das Fundament einer wahren, singulären, kritischen Subjektivität zu finden; jenseits der ästhetisch-romantischen und der ethisch-hegelianischen Konzeption. Während diese negative Auf-
SKS 1, 217 / BI, 174, Fußnote. SKS 1, 225 / BI, 183. SKS 1, 195 / BI, 150.
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2 Die Wunde der Negativität. Kierkegaards negative Konzeption der Innerlichkeit
fassung in der Dissertation noch lediglich ansatzweise und unausgearbeitet behandelt wird, nimmt sie in Kierkegaards nachfolgenden Schriften eine zentrale Stellung ein.
2.2 „Kraft des Absurden“. Von der Ironie zum Paradox der Subjektivität In seinen eigenständigen philosophischen Arbeiten nach der Dissertation beabsichtigt Kierkegaard nicht mehr, die Kluft zwischen ästhetischer und ethischer Subjektivität, zwischen romantischer Ironie und Hegelscher Sittlichkeit zu überwinden. Er sucht nicht mehr nach konstruktiven Lösungen in Form einer beherrschten Ironie. Dagegen entfaltet er seine negative Dialektik in den Bereich der absoluten Negativität, des Absurden und der „Verborgenheit“ hinein. Entsprechend verändern sich sein Begriff der Ironie und sein Sokratesbild. Hegel, der wesentlichen Einfluss auf die Ironie-Auffassung in der Dissertation hatte, wird zum philosophischen Hauptfeind und Angriffspunkt. Da weder das romantische noch das Hegelsche Subjektivitätsverständnis Kierkegaard noch plausibel und „wahr“ scheinen, schreibt er – in Auseinandersetzung mit beiden Auffassungen – seine Subjektivitätstheorie fort: als die negativ-dialektische Konzeption der Innerlichkeit. Während die Auseinandersetzung mit der Romantik und mit der sittlichethischen Bedeutung der Ironie aus Kierkegaards philosophischem Themenfeld nahezu verschwindet, werden Leitgedanken aus dem Sokrateskapitel der Dissertation nicht nur beibehalten, sondern ausgearbeitet und vertieft. In seinen eigenständigen philosophischen Schriften in den Jahren nach dem Bruch mit der Hegelschen Philosophie erhält das Problem des Sokrates, vor allem in Bezug auf seinen Ironie- und Subjektivitätsbegriff, eine weitere, radikalisierte Bedeutung. Dieser möchte ich im Folgenden nachgehen und damit darlegen, dass und inwiefern Kierkegaard einen negativen Begriff von Subjektivität entwickelt, dessen Bedeutung – wie in seinen frühen Schriften (der Ironieschrift und Entweder/Oder), jedoch auf eine andere Weise – in einer ästhetischen und einer ethischen Argumentation zum Ausdruck kommt. Die zunehmend kritische Haltung hinsichtlich der ästhetischen Subjektivität der Romantik und der Hegelschen ethischen Subjektivität bedeutetet jedoch nicht, dass die ästhetisch-ethische Terminologie ihre zentrale Stelle verliert. Das Misstrauen gegenüber der Unmittelbarkeit der Ästhetik und ihrem Ausgang in Verzweiflung ebenso wie der Zweifel an der Möglichkeit und Tragbarkeit jener ethischen Forderungen führen Kierkegaard zu Überlegungen über den paradoxalen und negativen Charakter dieser Lebensanschauungen. Die Kritik an den ästhetischen und ethischen Lebensformen bildet für Kierkegaard den Ausgangspunkt für eine negative Konzeption der Innerlichkeit jenseits von
2.2 „Kraft des Absurden“. Von der Ironie zum Paradox der Subjektivität
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Ästhetik und Ethik, jenseits der selbstbewussten positiven Existenz, jenseits erklärbarer rationaler Kategorien.
Bedeutungsverschiebung des Sokratesproblems Sokrates’ Ironie, so hat die bisherige Rekonstruktion der Ironieschrift gezeigt, ist der negative Standpunkt, der seine Subjektivität fundiert. Die ständige innere, aber bestimmte Negation des Bestehenden wird dabei als eine subjektive Ablehnung des Objektiven verstanden, die aus dem Inneren des Subjekts herrührt, ausgelöst durch einen inneren Dämon. Sokrates’ Dämon hindert ihn konsequent daran, sich in das Bestehende, in das sittliche Leben des griechischen Staates zu integrieren. Sokrates’ negative Haltung zum Gemeinwesen, zum Allgemeinen, zu allem bloß „Äußerlichen“, drückt sich in seiner Ironie aus: Er hält fest an einer unaufhebbaren Diskrepanz zwischen Innen und Außen, stellt jede Adäquatheit zwischen Denken und Sein, zwischen Sagen und Meinen, jede Möglichkeit direkter kommensurabler Kommunikation in Frage. Seine Ironie ist insofern, wie gezeigt wurde, kein bloß rhetorisches Mittel, sondern eine konkrete Lebensform. Der innere Dämon bestimmt sein Verhalten, sein Leben. Die Auffassung der Ironie als einer unvermittelbaren Differenz zwischen Innen und Außen ist die Richtlinie seines Lebens, sie führt ihn aber buchstäblich bis in den Tod.³² Auch wenn sie fatale Konsequenzen nach sich ziehen könnte, lässt sich eine ironische Konzeption wie die des Sokrates im realen Leben durchaus verwirklichen; sie ist in diesem Sinne ein möglicher ästhetisch-ethischer Lebensentwurf: „Kraft der Ironie“, so Kierkegaard in der Dissertation, „rundet sich die gesamte Dichterexistenz in sich ab […]. Aber was da von der Existenz des Dichters gilt, das gilt in einem gewissen Maße vom Leben eines jeden einzelnen Menschen.“³³ Die Ironie, die Kierkegaard hier im Sinne hat, ist freilich nicht die sokratische, sondern die beherrschte Ironie, die vermittelnde Aufhebung sokratischer und romantischer Ironie: Sokrates’ bestimmte Negation vermittelt mit der absoluten Negativität der Romantiker, Sokrates’ positive Freiheit vermittelt mit der negativen Freiheit der Romantik.
Sokrates’ Ironie kann so verstanden werden, als führe sie zu seinem Tode oder als hebe sie für ihn jede Bedeutung des Todes auf. Entsprechend könnte man Sokrates als eine tragischironische oder aber als eine im Grunde untragische Figur verstehen. SKS 1, 354 / BI, 330.
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Nicht dadurch nämlich, daß er ein Dichtwerk schafft, lebt der Dichter poetisch […], sondern er lebt erst poetisch,wenn er selbst in der Zeit, in der er lebt, sich zurechtfindet und also in sie eingeordnet ist, positiv frei ist in der Wirklichkeit, der er angehört.³⁴
Sokrates’ Ironie als eine bestimmte Negation des Bestehenden, als positive Freiheit, bildet für Kierkegaard nun ein Korrektiv zur romantischen Ironie. Sie werde zu einer praktischen ästhetisch-ethischen Konzeption. Für den frühen Kierkegaard ist dies eine Art Lösung des Ironieproblems: eine ironisch fundierte Lebensund Subjektivitätsform, eine Art negative Ästhetik der Existenz. An diesem Punkt eines praktischen Lebensentwurfs angelangt, beginnt jedoch die so aufgefasste Subjektivitätskonzeption für Kierkegaard – nach der Arbeit an der Dissertation und an Entweder/Oder – problematisch zu werden. Vor allem Hegels Begriff der Subjektivität und seine positive Aufhebung des Widerspruchs zwischen Besonderem und Allgemeinem durch die Idee der Sittlichkeit scheint Kierkegaard zunehmend unzureichend. Stellte Hegel für Kierkegaard bislang einen Verbündeten im Kampf gegen die Illusionen der Romantik dar, so hält Kierkegaard nach 1843/44 das Sittlichkeitskonzept und dessen Anspruch, dem romantischen Ästhetizismus ethisch etwas entgegenzusetzen, für eine unhaltbare Lösung. Die Auseinandersetzung sowohl mit der ästhetischen als auch mit der ethischen Lebensform, in denen laut Kierkegaard die Subjektivität ihre volle Entfaltung zur Wahrheit und Authentizität nicht zu erreichen vermag, führt ihn zur Formulierung seiner eigenen Konzeption der Innerlichkeit. Bevor ich dieser Entwicklung genauer nachgehe, möchte ich sie anhand einer Fußnote aus der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den philosophischen Brocken (1846) illustrieren. In dieser Fußnote geht es – freilich in einer allegorischen Weise – um die Bedeutung des Betens für den Heiden Sokrates. Der betende Sokrates ist für Kierkegaard hier ein exemplarischer Ausdruck des Komischen. Also, Sokrates steht und starrt vor sich hin. Nun kommen da zwei Passanten vorbei, von denen der eine zum andern sagt:Was treibt der Mensch da? Der erstere antwortet nun: Nichts. Nehmen wir an, der eine habe doch etwas mehr Vorstellung von Innerlichkeit und gebe der Handlung des Sokrates einen religiösen Ausdruck und sage: Er versenkt sich in das Göttliche, er betet. Bleiben wir bei dem letzteren: er betet! Aber gebraucht er wohl Worte, macht er vielleicht sogar viele Worte? Nein, Sokrates hatte sein Gottesverhältnis in der Weise verstehend erfaßt, daß er überhaupt nicht wagte, etwas zu sagen, aus Furcht, mit törichtem Geschwätz zu kommen, und aus Furcht, daß ihm ein verkehrter Wunsch erfüllt würde […]. Also, Sokrates tut gar nichts, er spricht nicht einmal in seinem Innern mit dem Gott – und doch tut er ja das höchste von allem. Das hat Sokrates vermutlich auch selbst verstanden und spottend hervorzuheben gewußt. Dagegen hat Magister Kierkegaard dies kaum verstanden, wie aus seiner Dissertation zu schließen ist. Dort erwähnt er nämlich, den Dialog Alcibiades
SKS 1, 354 / BI, 330 – 331.
2.2 „Kraft des Absurden“. Von der Ironie zum Paradox der Subjektivität
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secundus zitierend, das negative Verhältnis des Sokrates zum Gebet, kann aber, wie es von einem positiven theologischen Kandidaten unserer Zeit zu erwarten war, sich’s nicht versagen, Sokrates in einer Anmerkung zu belehren, daß das [Sokrates’ Verhältnis zum Gebet – Anmerkung des Übersetzers] doch nur bis zu einem gewissen Grade wahr sei.³⁵
In der Dissertation bedeutete Sokrates’ negative Haltung zum Bestehenden eine kritische Differenz; Sokrates hatte andere, subjektive Auffassungen und Meinungen, die ihn vom Bestehenden, also von der herrschenden Meinung unterschieden. Dies war jedoch – ironischerweise: Climacus zufolge – Kierkegaards Fehler. Sokrates habe gar keine Meinung und keinerlei positives Wissen besessen, auch nicht im Hinblick auf die Existenz Gottes. Sein Verhältnis zum Göttlichen, sein Gebet, sei insofern ein Nichts, ein Verhältnis zum Nicht-Existierenden, aber immerhin ein Verhältnis. Ein Gebet, das eine göttliche Existenz nicht voraussetzt, nicht wie ein Gebet aussieht, keine Worte,weder laut noch im Inneren ausspricht – aber trotzdem ein Gebet ist: Das ist das Komische an Sokrates, das Absurde an der religiösen Innerlichkeit, die Kierkegaard-Climacus konzeptualisiert. „Das sokratische Starren ist auch ein Ausdruck des höchsten Pathos und daher zugleich ebenso komisch.“³⁶
Das „schlechthinnige Paradox“: Ironie und Vernunftkritik Die Hauptfrage, die den 1844 veröffentlichten Philosophischen Brocken vorangestellt ist, lautet: Kann es einen geschichtlichen Ausgangspunkt geben für ein ewiges Bewußtsein; inwiefern vermag ein solcher mehr als bloß geschichtlich zu interessieren; kann man eine ewige Seligkeit gründen auf ein geschichtliches Wissen?³⁷
Der Schlüssel für das Verständnis dieser Fragen liegt ebenfalls bei Sokrates. Schon die Formulierung der Frage lässt die Richtung der Antwort erahnen. Ein geschichtlicher Ausgangspunkt und ein geschichtliches Wissen sind positive Bestimmungen. Ein ewiges Bewusstsein und eine ewige Seligkeit sind unendliche, unbestimmbare Begriffe. Die Frage richtet sich folglich in einer kritischen Weise auf das Verhältnis von Zeitlichkeit und Ewigkeit, von Fassbarem und Unfassbarem, von Begriff und Transzendenz. Kann man, so ließe sich die Frage rekonstruieren, das Überhistorische mit historischen Tatsachen, das Undenkbare mit denkbaren Begriffen erklären? Sokrates’ Unwissenheit ist sein Standpunkt in Fragen, in denen der Verstand scheitert und
SKS 7, 89 / AUN1, 82– 83; Fußnote. SKS 7, 89 / AUN1, 82; Fußnote. SKS 4, 213 / PB, 1.
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2 Die Wunde der Negativität. Kierkegaards negative Konzeption der Innerlichkeit
durch nicht fundiertes (Schein‐)“Wissen“ (man könnte sagen: eine Urform von Ideologie) ersetzt wird.³⁸ Hier reicht auch die Ironie nicht mehr aus, solange sie eine innere Wahrheit der äußeren Unwahrheit, dem äußeren Schein entgegenzustellen beabsichtigt. Eine solche Ironie würde dann von einem Begriff der Wahrheit ausgehen, der, obwohl subjektiv, eine positive Fundierung unterstellt. Die sokratische Frage „Inwiefern kann die Wahrheit gelernt werden?“³⁹ ist die erste Frage der Philosophischen Brocken. Kierkegaard-Climacus geht von der sokratischen These aus, dass die Wahrheit nicht von „außen“, durch objektive Tatsachen an das Individuum herangetragen werden kann, sich vielmehr im Inneren befindet und durch den Prozess der Erinnerung ins Bewusstsein gerufen wird. Die Schwierigkeit denkt Sokrates durch vermittelst dessen, daß alles Lernen und Suchen nur ein sich Erinnern ist, so daß der Unwissende bloß erinnert zu werden braucht, um aus sich selbst sich auf das zu besinnen, was er weiß. Die Wahrheit wird solchermaßen nicht in ihn hineingebracht, sondern ist in ihm gewesen.⁴⁰
Diese These wirft eine Reihe thematischer Fragen hinsichtlich des Verhältnisses von Unwissenheit, Erinnerung und Wahrheit auf. Wird demnach die Unwissenheit, nach Kierkegaard Hauptmerkmal der sokratischen Subjektivität, durch die Erinnerung aufgelöst und unmittelbar in Wahrheit verwandelt? Kann das unwissende – skeptische oder ironische – Individuum durch die Erinnerung Wissen gewinnen? Wir haben gesehen, dass Sokrates, gerade durch seine Unwissenheit über die objektiven Tatsachen, eine innere Gewissheit erlangt. Aber war der junge Kierkegaard der Meinung, Sokrates’ Unwissenheit sei ironisch gemeint, er prätendiere nur, nichts zu wissen, bloß um seinen Gesprächspartner in Verwirrung zu versetzen, ihn damit zur Klärung der Tatsachen zu bringen und zur Wahrheit zu „verführen“, so stellt er ihn nach 1844 als Vertreter einer wirklichen, absoluten Unwissenheit dar; seine Negativität wird als eine absolute verstanden, in Bezug auf jedes objektive Wissen überhaupt. Wir sehen hier folglich in der Entwicklung von Kierkegaards Sokratesbild zwei verschiedene Verständnisse negativer Innerlichkeit: Das erste, in der Dissertation,
„Im ‚Begriffe der Ironie‘“ – erklärt Himmelstrup – „war […] die Unwissenheit des Sokrates kritisch aufgefaßt als ein Ausdruck seiner negativen Stellung gegenüber der spekulativen Gedankenentwicklung.“ Himmelstrup, Kierkegaards Sokratesauffassung, S. 70. Die ironische Negation des Bestehenden versteht sich demzufolge als Negation der bloß abstrakten Gedankenkonstruktion, als Entblößung ihres täuschenden Charakters. In den Brocken wird Sokrates’ negativer Charakter als seine Innerlichkeit erläutert, die eine andere Form von Wahrheit, d. h. eine nicht positiv fundierte, darstellt. Vgl. Rapic, Ethische Selbstverständigung, S. 283 – 284. SKS 4, 218 / PB, 7. SKS 4, 218 / PB, 7.
2.2 „Kraft des Absurden“. Von der Ironie zum Paradox der Subjektivität
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besagt, dass Sokrates’ Negativität eine radikale Infragestellung der bestehenden Verhältnisse, der Ideologie des griechischen Staates sei und auf eine Entblößung deren täuschender Unwahrheit abzielt. Sokrates’ Unwissenheit sei folglich ein ironischer Standpunkt deshalb, weil er von der Wahrheit ein „Wissen“ habe, nur sein Äußeres zeuge von Unwissenheit. Das begründet folglich seine Ironie. Das zweite, spätere Verständnis der sokratischen Unwissenheit bei Kierkegaard bezieht sich auf eine radikale Infragestellung der menschlichen Vernunft überhaupt. In den Philosophischen Brocken zweifelt Sokrates nicht nur die herrschenden Verständnisse und Begriffe, die allgemein geltende Wahrheit an, seine Skepsis bezieht sich vielmehr auf die Geltung, auf den Status positiven Wissens überhaupt. Positives Wissen – das heißt: Wissen, das gelernt und vermittelt werden kann – kann demzufolge grundsätzlich keine Wahrheit begründen. Die sokratische Wahrheitsfrage ist in ihrem Denkansatz eng mit der durch Sokrates repräsentierten Subjektivitätsform verbunden. Der Zweifel an der Geltung positiven Wissens hat insofern für Kierkegaard subjektivitätstheoretische Implikationen. Ließe sich Kierkegaards frühe Auseinandersetzung mit der Ironie als Fundierung jenes negativ-ironischen Begriffs der Subjektivität (der sokratischen Ironie) verstehen, so zeigt sich in seinen späteren Schriften, vor allem unter dem Pseudonym Johannes Climacus – Philosophische Brocken (1844) und Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken (1846) – eine radikalisierte Fortschreibung dieses Begriffs: Sokrates steht hier für das Paradoxe und Absurde an der Subjektivität – als ihre andere negative Bestimmung. Wenn das Negative an der sokratischen Subjektivität beim jungen Kierkegaard eine Negation des Objektiv-Bestehenden, eine Absage an die verstellten Verhältnissen (vor allem in Bezug auf den griechischen Staat) war, entwickelt das Sokratesbild bei Climacus eine zwar darauf aufbauende, jedoch erweiterte Bedeutung des negativen Subjektivitätsbegriffs: Sokrates’ Subjektivität lässt sich demzufolge mit verständlichen, vernünftigen Begriffen grundsätzlich nicht beschreiben und auffassen. Während der junge Kierkegaard Sokrates vor allem durch seine Ironie charakterisierte, ist er bei Climacus durch das schlechthinnige Paradox gekennzeichnet.⁴¹ Obwohl Sokrates als bester Menschenkenner galt, konnte er sich selbst nicht kennen, sein eigenes Wesen blieb für ihn selbst stets ein Rätsel. Darin sieht Climacus Sokrates’ wesentliche Bestimmung und sein eigentümliches ironischabsurdes Paradox. Doch für Climacus stellt das Paradox der sokratischen Subjektivität keine Sackgasse dar, denn es verweist gerade auf das Wahre am Problem der Subjektivität. Man solle, so Climacus-Kierkegaard,
SKS 4, 242 / PB, 34.
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2 Die Wunde der Negativität. Kierkegaards negative Konzeption der Innerlichkeit
vom Paradox nichts Übles denken; denn das Paradox ist des Gedankens Leidenschaft […]. Aber die höchste Potenz jeder Leidenschaft ist es stets, ihren eignen Untergang zu wollen, und so ist es auch des Verstandes höchste Leidenschaft, den Anstoß zu wollen, ganz gleich, daß der Anstoß auf die eine oder andre Weise sein Untergang werden muß. Das ist denn des Denkens höchstes Paradox: etwas denken wollen, das es selbst nicht denken kann. Diese Leidenschaft des Denkens ist im Grunde überall im Denken vorhanden, auch in dem des Einzelnen, insofern er denkend ja nicht bloß er selber ist.⁴²
Das zu denken, was das Denken selbst nicht denken kann, ist die paradoxe Bestimmung der Subjektivität: Die subjektive Leidenschaft des Einzelnen, dem Verstand unzugänglich, markiert die Grenze rationalen Denkens und bildet zugleich die Schwelle für einen Wahrheitsbegriff jenseits allgemein-verständlicher, kommunikativer Vernunft. Die Wahrheit der Subjektivität steht für Kierkegaard-Climacus in einem Zusammenhang mit einer solchen vernunftübersteigenden Erfahrung. Während sich beim jungen Kierkegaard die Ironie, als die negative Bestimmung der Subjektivität, auf die unaufhebbare Diskrepanz zwischen Innen und Außen bezieht, sieht er nach 1844 gerade das Paradox, das Absurde als eine radikalisierte Form von Ironie, die zur entscheidenden negativen Bestimmung der Subjektivität wird. War die frühe Ironie durch die subjektive Negation des Außen bestimmt, so ist sie im Sinne des Absurden durch das gekennzeichnet, was sich nicht denken lässt, was sich dem Verstehen entzieht. Entsprechend der religiösen Motivation seines Denkens ist es für Climacus das Unbekannte, das sich nicht denken lässt und trotzdem die Subjektivität des Einzelnen bestimmt. „Die paradoxe Leidenschaft des Verstandes stößt sich so denn beständig an diesem Unbekannten, das wohl da ist, aber auch unbekannt, und insofern nicht da ist.“⁴³ Climacus erläutert weiter: Was ist denn das Unbekannte? Es ist die Grenze, zu welcher man beständig kommt, und insofern ist es, um die Bestimmung der Bewegung zu vertauschen mit der der Ruhe, das Verschiedene, das schlechthin Verschiedene. Aber das ist das schlechthin Verschiedene: wofür man kein Kennzeichen hat.⁴⁴
Das grundsätzlich Unbekannte und Unerkennbare ist für Climacus zunächst ein Begriff von Gott. „Gott ist nicht ein Name, sondern Begriff“⁴⁵, er ist keine Bezeichnung für ein Wesen, sondern, wie Liessmann erläutert, „eine Chiffre für jenes ‚schlechthinnige Paradox‘, in das der Verstand sich mit Leidenschaft immer wieder verstrickt –
SKS SKS SKS SKS
4, 4, 4, 4,
242– 243 / PB, 35. 249 / PB, 42. 249 / PB, 42. 246 / PB, 38.
2.2 „Kraft des Absurden“. Von der Ironie zum Paradox der Subjektivität
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man könnte auch sagen: für die antinomische Struktur des Verstandes selbst, der immer versucht, das Undenkbare zu denken.“⁴⁶„Alle Versuche der Vernunft selbst, dieses Gottes habhaft zu werden, müssen scheitern.“⁴⁷ Die Vernunft kann folglich das Paradox nicht denken; sie vermag es nicht, das Negative an Climacus’ Bestimmung der Subjektivität zu begreifen, weil diese sich nicht in rational erklärbare Begrifflichkeit übersetzen lässt. Dieses Unbekannte übersteigt die Vernunft und kann nur als „Leidenschaft“ subjektiv erlebt werden: Für den späteren Kierkegaard ist dies die entscheidende negative Bestimmung der Innerlichkeit.⁴⁸ Dem Scheitern der Vernunft am Verstehen des Paradoxes der Subjektivität stellt Climacus die Innerlichkeit entgegen. In seiner einflussreichen Abhandlung über Kierkegaards Sokratesauffassung vertritt Jens Himmelstrup die These, es finde sich zwischen der Ironie-Dissertation und den Überlegungen zu Sokrates in den späteren Schriften (vor allem den Brocken und der Nachschrift) keine „Änderung des objektiven Bildes des Sokrates […], sondern […] eine […] vollkommene Änderung des ethischen Wertungsstandpunktes [ihm] gegenüber“.⁴⁹ Während die Innerlichkeit, die persönliche ethische Bewegtheit, ‚Leidenschaft‘, ein Hauptmerkmal der späteren Auffassung Kierkegaards von Sokrates ist, wird im ‚Begriffe der Ironie‘ die Innerlichkeit gerade des öfteren dem sokratischen Standpunkt und der ganzen sokratischen Seinsweise entgegengestellt […]. Man muß denn wirklich sagen, daß die Sokratesauffassung Kierkegaards verändert sei. Es ist ein wirklich neues Moment – die subjektive Innerlichkeit – hinzugekommen, das solcher Art ist, daß es sich nicht tun läßt, es als ein bloßes Supplement der früheren Anschauung aufzufassen.⁵⁰
Mit der Verschiebung der Bedeutung und der ethischen Wertung des Sokratesbilds vollzieht sich bei Kierkegaard eine differenzierte Entwicklung der Innerlichkeitskonzeption und ihrer negativen Bestimmung. Innerlichkeit bedeutet nicht mehr bloß eine Negation des Außen als die Ablehnung objektiv-allgemeiner Verhältnisse. Vielmehr stellt sie bei Climacus eine andere Form, eine andere negative Bestimmung der Subjektivität dar: eine paradox-absurde. Subjektivität als Innerlichkeit lässt sich demnach nicht durch vermittelte, verständliche, vernünftige Begriffe verstehen. Dem Verstand zeigt sie sich immer als paradox, als absurd, denn sobald er sie mit rationaler Begrifflichkeit erfassen möchte, erfasst er sie gerade als das, was sie nicht ist. Erst wenn er sie aber für unverständlich, für
Liessmann, Kierkegaard zur Einführung, S. 106. Ebd., S. 105. Vgl. C. Stephen Evans, Kierkegaard’s „Fragments“ and „Postscript“: the religious philosophy of Johannes Climacus, Atlantic Highlands 1983, S. 210 – 225. Himmelstrup, Kierkegaards Sokratesauffassung, S. 71. Ebd., S. 71– 73.
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2 Die Wunde der Negativität. Kierkegaards negative Konzeption der Innerlichkeit
paradox hält, dann hat er eine adäquate Auffassung von Innerlichkeit – und das heißt: gar keine.⁵¹ Es ist insofern ein paradoxales (Un‐)Verständnis der Subjektivität: eine Subjektivität „kraft des Absurden“, auf der Kierkegaards Konzeption der Innerlichkeit beruht.
Das Paradox der Subjektivität: Innerlichkeit und Wahrheit Die Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken greift das Thema der Philosophischen Brocken auf, um deren Argumentationsstruktur in eine andere Richtung zu lenken und ihre Thesen genauer auf die Subjektivitätsfrage zu beziehen. Die Brocken haben nach der Möglichkeit historischer Wahrheit und ihrer Relevanz für das Leben des Individuums gefragt, ausgehend von der „sokratischen Schwierigkeit, wie man die Wahrheit suchen könnte, da das ja gleich unmöglich ist, man habe sie, oder man habe sie nicht“. Sie stellten aber heraus, „daß im Grunde ein jeder Mensch die Wahrheit hat“.⁵² Die Suche nach historisch-empirischer Fundierung für individuelles Glück müsse zeigen, dass dieses durchaus unmöglich sei, dass es nicht im Objektiven, sondern vielmehr im Individuum selbst zu suchen sei. In den Brocken argumentiert Climacus, dass nicht die auf das Objektive gerichtete Vernunft, sondern die subjektive Leidenschaft sich in ein Verhältnis zur Wahrheit setzen kann. Seine Vernunftkritik war in diesem Sinne (in der Intention ähnlich, in der Argumentation wesentlich anders als Kants Kritik) eine Verweisung der Vernunft in ihre Schranken, eine Markierung ihrer unüberschreitbaren Grenzen. Nach Kierkegaard-Climacus kann daher der Frage nach der Wahrheit erst dann nachgegangen werden, wenn die Vernunft sich vergewissert, dass sie das „absolute Paradox“ nicht denken, nicht begreifen könne.⁵³ Erst wenn die Frage, ob empirisches Wissen ewiges Glück fundieren kann, verneint wird, kann die Frage nach dem Verhältnis von Subjektivität und Wahrheit gestellt werden. Das ist die Grundthese der Brocken. Die Nachschrift widmet sich einer Konkretisierung dieser Frage und setzt Vgl. hierzu Sylvia Walsh, „Echoes of Absurdity. The Offended Consciousness and the Absolute Paradox in Kierkegaard’s Philosophical Fragments“, in Philosophical Fragments and Johannes Climacus, hg. von Robert L. Perkins, Macon 1994 (International Kierkegaard Commentary, Bd. 7), S. 33 – 46; hier S. 34; Herbert Garelick, „Gegenvernunft und Übervernunft in Kierkegaards Paradox“, in Theunissen/Greve (Hg.), Materialien, S. 369 – 384. SKS 4, 222 / PB, 11. Vgl. Liessmann, Kierkegaard zur Einführung, S. 105: Climacus sei „alles andere denn ein Verächter der Vernunft, im Gegenteil, er ist ein Liebhaber des folgerichtigen Denkens. Genau deshalb kann er die Vernunft bis zu jenen Grenzen führen, die sie selbst nicht mehr überschreiten kann […]. Johannes Climacus ist allerdings überzeugt davon […], daß es zum Wesen der Vernunft gehört, sich immer wieder an diese Grenze heranzutasten.“
2.2 „Kraft des Absurden“. Von der Ironie zum Paradox der Subjektivität
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entsprechend mit dem „objektiven Problem“ an, mit einer Differenzierung zwischen historischer und philosophischer Wahrheit.⁵⁴ Beide Begriffe der Wahrheit sind für Climacus jedoch unzureichend. Während unter „historischer“ Wahrheit ein empirisches Wissen vom Geschehenen verstanden wird, ist für Climacus-Kierkegaard die „philosophische“ Wahrheit eine Bezeichnung für den Hegelschen Wahrheitsbegriff, der ebenfalls auf ein objektives Wissen abzielt, wenngleich das Objektive hier nicht das empirische, sondern das spekulative Wissen bedeutet. Das forschende, das spekulierende, das erkennende Subjekt fragt somit zwar nach der Wahrheit, aber nicht nach der subjektiven Wahrheit, nach der Wahrheit der Aneignung. Das forschende Subjekt ist somit zwar interessiert, aber nicht unendlich persönlich, in Leidenschaft in Richtung auf seine ewige Seligkeit interessiert für sein Verhältnis zu dieser Wahrheit.⁵⁵
Kierkegaards Wahrheitsbegriff bezieht sich hier nicht auf das Verhältnis von erkennendem Subjekt und erkannter Wirklichkeit, sondern auf das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst. Was wahrheitstheoretisch auf einen radikalen epistemologischen Relativismus zurückgeführt werden könnte,⁵⁶ hat subjektivitätstheoretisch weiterführende Konsequenzen. Das Entscheidende an der Wahrheitsfrage ist für Kierkegaard die Möglichkeit ihrer Aneignung und ihre Bedeutung für das Leben des Individuums. Sei es, daß man die Wahrheit mehr empirisch als die Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein, oder daß man sie mehr idealistisch als die Übereinstimmung des Seins mit dem Denken bestimmt, so ist es in jedem Falle erforderlich, daß man genau darauf achtet, was unter dem Sein verstanden wird, und zugleich darauf, ob nicht etwa der wissende menschliche Geist in das Unbestimmte hinausgenarrt und phantastisch sein solches Etwas wird, was kein existierender Mensch jemals gewesen ist […].⁵⁷
Nachdem der Begriff der objektiven Wahrheit, sowohl in seiner empirischen als auch in seiner spekulativen Form, in den Brocken und im ersten, kürzeren Teil der Nachschrift abgelehnt wird, liegt der Schwerpunkt der Abhandlung auf dem Begriff subjektiver Wahrheit, auf dem Verhältnis von Subjektivität und Wahrheit. „Also, es ist ein existierender Geist, der nach der Wahrheit fragt, und das wohl, weil er darin existieren will; jedenfalls aber ist der Frager sich bewußt, ein
SKS 7, 27 / AUN1, 17. SKS 7, 29 / AUN1, 17. Vgl. C. Stephen Evans, Kierkegaard’s „Fragments“ and „Postscript“, S. 115. SKS 7, 173 / AUN1, 179; Hervorhebung im Original.
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existierender einzelner Mensch zu sein.“⁵⁸ Die gesuchte Wahrheit muss insofern für das existierende Individuum eine praktische Bedeutung haben, er soll sie sich aneignen können. Hierin liegt der wesentliche Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Wahrheit. Für die objektive Reflexion wird die Wahrheit ein Objektives, ein Gegenstand, und es geht darum, vom Subjekt abzusehen; für die subjektive Reflexion wird die Wahrheit die Aneignung, die Innerlichkeit, die Subjektivität, und hier geht es darum, sich gerade existierend in die Subjektivität zu vertiefen.⁵⁹
Innerlichkeit ist demzufolge eine subjektive Aneignung der Wahrheit, sie steht per definitionem in einem Gegensatz zur objektiven Wahrheit. „Der Weg der objektiven Reflexion macht das Subjekt zu dem Zufälligen und damit die Existenz zu etwas Gleichgültigem, Verschwindendem.“⁶⁰ Im objektiven Wahrheitsbegriff wird das Subjekt nicht miteinbezogen, es steht außerhalb der Wahrheitsfrage, als irrelevant. Die Aneignung objektiver Wahrheit wäre nach diesem Verständnis eine Verinnerlichung fremder Inhalte, die das subjektive Bewusstsein entstellen und entfremden.⁶¹ Dabei stellt sich jedoch die Frage, ob hiermit die Möglichkeit objektiver Wahrheit überhaupt in Frage gestellt wird – oder lediglich ihre Relevanz für das Leben des Subjekts. Für Kierkegaard sind diese Fragen untrennbar voneinander. Eine „objektive“ Wahrheitstheorie, die nach empirischen Tatsachen fragt, kann für ihn keine tragfähige Theorie sein, sofern sie das fragende Subjekt ausschließt. Die Bedeutung der Wahrheit für das Leben des fragenden Subjekts müsse ein immanenter Bestandteil der Erkenntnis ebendieser Wahrheit sein. Sie kann nicht in sich abgeschlossen und vom Subjekt unabhängig sein. „Wenn der Existierende wirklich außerhalb seiner selbst sein könnte, würde die Wahrheit etwas Abgeschlossenes für ihn sein; aber wo gibt es diesen Punkt?“, fragt Climacus-Kierkegaard ironisch.⁶² Der Existierende könne mithin doch „außerhalb seiner selbst sein“, wenn auch „nur momentweise“. Denn „momentweise kann das einzelne Individuum existierend in einer Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit sein, die über dem Existieren hinausliegt. Dieser Moment ist der Augenblick der Leidenschaft.“⁶³ Die Kategorie der Leidenschaft, als Gegensatz zur Vernunft und zum Verstand, ist gerade diejenige, die SKS 7, 175 / AUN1, 181. SKS 7, 176 / AUN1, 182. SKS 7, 177 / AUN1, 184. Ansatzweise zeigt diese Erkenntnis die entfremdungs- und ideologiekritischen Züge in Kierkegaards Denken. SKS 7, 180 / AUN1, 187. Ebd.; meine Hervorhebung.
2.2 „Kraft des Absurden“. Von der Ironie zum Paradox der Subjektivität
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zum einen ein Kriterium der Wahrheit darstellt, zum anderen auf ein Paradox zurückführt. Diese beiden Seiten – Wahrheit und Paradox – sind allerdings miteinander verschränkt. Leidenschaft ist deshalb eine radikal subjektive Kategorie, weil sie nur subjektiv erfahren, nicht objektiv mitgeteilt werden kann. Das Höchste der Innerlichkeit eines existierenden Subjekts ist Leidenschaft; der Leidenschaft entspricht die Wahrheit als ein Paradox, und daß die Wahrheit das Paradox wird, ist gerade in ihrem Verhältnis zu einem existierenden Subjekt begründet.⁶⁴
Das Paradox der Wahrheit der Innerlichkeit besteht demnach darin, dass die Leidenschaft als Fundament der Wahrheit keine Fundierung haben kann. Sie ist flüchtig, unbeständig, sie ist nur erfahrbar, nicht erkennbar oder beweisbar. Dies ist auch der Unterschied zwischen Climacus’ Verständnis des Paradoxes in den Philosophischen Brocken und in der Nachschrift. Während die Brocken von einem Widerspruch zwischen Vernunft und Leidenschaft in der subjektiven Konstitution der Wahrheit handeln, verortet die Nachschrift das Paradox im Verständnis der Subjektivität selbst, deren Wahrheit in einem widersprüchlichen Fundament besteht. Das Überschreitungspotential der inneren Leidenschaft gewährt ihr Wahrheitsmoment. Das als Leidenschaft in Erscheinung tretende Vermögen des Individuums, sich – wenn auch nur „momentweise“, für einen Augenblick – außerhalb seiner selbst und außerhalb der objektiven Verhältnisse zu versetzen, sich einen „Blick“ in die Unendlichkeit zu verschaffen, ist für Climacus der Garant der Wahrheit: „[D]ie Leidenschaft der Unendlichkeit ist die Wahrheit selber. Aber die Leidenschaft der Unendlichkeit ist gerade die Subjektivität, und somit ist die Subjektivität die Wahrheit.“⁶⁵ Wahrheit ist insofern eine Überschreitung, eine Transzendenz objektiver Verhältnisse: ihre Negation. Da sie nur durch die innere Leidenschaft erreicht, unmittelbar erfahren werden kann, ist sie nur im Subjektiven möglich: in der Überschreitung des Objektiv-Gegebenen. Wenn die Subjektivität die Wahrheit ist, so muß die Bestimmung der Wahrheit zugleich einen Ausdruck für den Gegensatz zur Objektivität in sich enthalten […]. Hier ist eine solche Definition der Wahrheit: Die objektive Ungewißheit, in der Aneignung der leidenschaftlichsten Innerlichkeit festgehalten, ist die Wahrheit, und zwar die höchste Wahrheit, die es für einen Existierenden gibt.⁶⁶
Climacus’ Begriff der subjektiven Wahrheit beruht also auf einer „objektiven Ungewißheit“: Nur wenn das Objektive in Zweifel gestellt, wenn die bestehende
SKS 7, 182 / AUN1, 189. SKS 7, 186 / AUN1, 194. Ebd., Hervorhebung im Original.
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Wirklichkeit für das Subjekt problematisch wird, entsteht ein subjektives Verhältnis zur Wahrheit. Kierkegaard-Climacus’ Begriff der subjektiven Wahrheit ist daher insofern ein negativer Begriff, als er allen positiv-gewissen, sicheren, feststellbaren und kommunizierbaren Aspekten entgegensteht. Gerade die „objektive Ungewißheit“ ist die Grundlage der subjektiven Wahrheit der Innerlichkeit. Hier wird der Bogen zu Sokrates’ Unwissenheit geschlagen. Sokrates’ Unwissenheit und ständige Infragestellung objektiven Wissens bildet, wie oben dargestellt, das Fundament seiner Innerlichkeit. Es ist also gerade die objektive Ungewissheit, die subjektive Gewissheit hervorruft. Das Paradox ist die objektive Ungewißheit, die der Ausdruck für die Leidenschaft der Innerlichkeit ist, in der gerade die Wahrheit besteht. So das Sokratische! Die ewige, wesentliche Wahrheit, d. h. die, die sich wesentlich zu einem Existierenden verhält, indem sie wesentlich das Existieren betrifft […], ist das Paradox. […] Die Sokratische Unwissenheit ist der Ausdruck für die objektive Ungewißheit; des Existierenden Innerlichkeit ist die Wahrheit.⁶⁷
Das Paradox der Subjektivität besteht nach dieser These nicht mehr nur zwischen Vernunft und Leidenschaft, sondern zwischen Wissen und Unwissenheit. Diese Lesart der sokratischen Unwissenheit im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Subjektivität und Wahrheit besagt, dass jedes objektive Wissen von Subjektivität sich notwendig aufhebt und in falsches Wissen umschlägt; dass gerade die Unwissenheit der wirkliche Ausgangspunkt für die Wahrheit der Innerlichkeit ist. Subjektivität lässt sich in diesem Sinne daher nur negativ bestimmen: als das, was sie objektiv nicht ist, denn sie lässt sich objektiv nicht bestimmen. Verfolgt man diese Argumentationsstruktur, so scheint es, als bestünde das Paradox der Subjektivität in ihrer wesentlichen Inkommensurabilität, in ihrer Unbegreiflichkeit. Es scheint, als müsste jeder Versuch, die Subjektivität vernünftig-objektiv zu begreifen, notwendig scheitern. Das eigentliche Paradox setzt hier aber nur an: Die These über die Wahrheit der Subjektivität als Innerlichkeit bildet nur die eine Seite des Problems. Für Climacus hat es aber noch eine andere Seite: „Also, die Subjektivität, die Innerlichkeit ist die Wahrheit; gibt es nun dafür einen innerlicheren Ausdruck? Ja, wenn die Rede: Die Subjektivität, die Innerlichkeit ist die Wahrheit, so beginnt: Die Subjektivität ist die Unwahrheit.“⁶⁸ Subjektivität als Innerlichkeit ist demnach zugleich Wahrheit und Unwahrheit. Um hegelianischen Missverständnissen vorzubeugen, erklärt Climacus vorab: Die These über die Unwahrheit der Subjektivität sei nicht im Sinne Hegels zu verstehen, gemeint ist nicht der Gegensatz, wonach die Objektivität die Wahrheit sei.
SKS 7, 187– 188 / AUN1, 196. SKS 7, 189 / AUN1, 198.
2.2 „Kraft des Absurden“. Von der Ironie zum Paradox der Subjektivität
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„Sokratisch gesehen ist die Subjektivität die Unwahrheit, wenn sie nicht verstehen will, daß die Subjektivität die Wahrheit ist, sondern z. B. objektiv sein will.“⁶⁹ Objektives Wissen von Subjektivität stellte nach der sokratischen These eine Form von Unwahrheit dar, weil es,wie gezeigt, am Wahren der Subjektivität vorbeigehen muss; weil es objektivem Wissen versperrt, unzugänglich wäre. Das Problem, auf das sich Climacus-Kierkegaard hier bezieht, ist jedoch tiefer zu verorten. Das eigentlich Paradoxe, das Absurde an der Subjektivität ist nämlich, dass es prinzipiell unmöglich ist, zu erkennen, ob sie wahr oder unwahr sei. Thulstrups Kommentar konstatiert, dass „a purely subjective definition of the truth supposedly makes it impossible to distinguish between truth and error, since both may be rooted in inwardness“.⁷⁰ Es kann demnach keine objektiven Maßstäbe, keine äußeren Kriterien für subjektive Wahrheit geben. Die Innerlichkeit des existierenden Subjekts ist daher die Bedingung dafür, dass es in einer Art „subjektiver Wahrheit“ lebt, die als solche nur ihm allein zugänglich ist, aber gleichzeitig und gerade dadurch auch dafür, dass es in „subjektiver Unwahrheit“ lebt, oder wie Climacus es auch nennt: in der Sünde. Die Innerlichkeit als Fundament der subjektiven Wahrheit ist zugleich das Fundament der subjektiven Unwahrheit. Da die Innerlichkeit im Äußeren keinen Ausdruck finden, sich nicht adäquat entäußern kann, lässt es sich nicht „von außen“ feststellen, ob das Subjekt in Wahrheit oder Unwahrheit lebt. Hier, an der Stelle, die für die meisten Denker in praktisch-subjektiver Hinsicht eine Sackgasse darstellen würde, setzt Kierkegaards eigene Konzeption der Subjektivität erst an: Gerade diese absurde Konstellation wohnt dem Verständnis der Innerlichkeit als wahrer Subjektivität inne. In theoretischer Hinsicht führt die Frage nach der Wahrheit der Subjektivität notwendigerweise in die Sackgasse des Paradoxes: Es lässt sich keine theoretisch-objektive Antwort auf diese Frage finden, die einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben könnte. Kierkegaards Subjektivitätsverständnis schließt Ansprüche auf Allgemeingültigkeit prinzipiell aus. In praktischer Hinsicht ist das Paradox der Subjektivität, ihre Absurdität, eine Grundbestimmung wahren subjektiven Handelns. Ließe sich beim frühen Kierkegaard (in der Ironie-Dissertation und in Entweder/Oder) die Ironie als die negative Bestimmung der Subjektivität verstehen, so wird das Paradox der Subjektivität in der Nachschrift als das Absurde beschrieben. Das Absurde bedeutet hier eine Transzendenz von vernünftigem Verstehen und sprachlichem Mitteilen. Mit der Idee des Absurden formuliert Kierkegaard-Climacus seine eigene Auffassung, wonach wahre Subjektivität als Innerlichkeit
SKS 7, 190 / AUN1, 198. Niels Thulstrup, Commentary on Kierkegaard’s Concluding Unscientific Postscript, Princeton 1984, S. 52.
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2 Die Wunde der Negativität. Kierkegaards negative Konzeption der Innerlichkeit
nicht begründet, sondern nur als die „Leidenschaft der Innerlichkeit“ erfahren werden kann; religiös ausgedrückt ist es der Glaube. Bei Climacus, der sich selbst für einen nicht religiösen Denker, im Gegensatz zu Kierkegaard, erklärt (die Ironie des Spiels mit den Pseudonymen wird hier spürbar und ist nicht ohne inhaltliche Relevanz),⁷¹ ist der Glaube nicht an die Existenz Gottes gebunden, sondern an die subjektive Leidenschaft: Das „Absurde, festgehalten in der Leidenschaft der Innerlichkeit, ist der Glaube“⁷²; „denn gerade das Absurde ist Gegenstand des Glaubens und das einzige, was sich glauben läßt“.⁷³ Das Absurde, weil es sich weder verstehen noch denken lässt, lässt sich nur glauben. Sobald ich das Verstehen des Paradoxes kommensurabel mache […], so zeigt meine Rede vom Verstehen eo ipso, daß das,was ich verstanden habe, nicht das absolute Paradox ist, sondern ein relatives; denn vom absoluten Paradox kann nur verstanden werden, daß es nicht verstanden werden kann. […] Vielleicht hat dies seinen Grund darin, daß es objektiv für existierende Wesen keine Wahrheit, sondern nur Approximation gibt, daß aber subjektiv für sie die Wahrheit in der Innerlichkeit besteht, weil die Wahrheitsentscheidung in der Subjektivität liegt.⁷⁴
Auf eine widersprüchliche Weise bedeutet jedes positive Verstehen des Paradoxes, dass es durchaus nicht verstanden wurde. Verstehen heißt hier Nicht-Verstehen. Das „absolute Paradox“ bezieht sich hier auf die Gottes- und Glaubensfrage. Die Frage, wie sie Climacus in der Nachschrift stellt, ist eine subjektivitätstheoretische, sie ist identisch mit der Frage nach der Möglichkeit subjektiver Wahrheit. Glaube und Gott lassen sich nicht objektiv auffassen, sie sind keine Gegenstände der objektiven Betrachtung, sondern der „Leidenschaft der Innerlichkeit“. So verhält es sich ebenfalls mit dem Absurden. In der Nachschrift wird folglich die Negativität der Ironie radikalisiert: Das Absurde tritt an die Stelle der Ironie. Zeigte die Ironie zuerst eine Art Diskrepanz zwischen Innen und Außen, war sie eine Oszillationsfigur zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen, so wird nun das Absurde, das Komische, der Humor, zu einer Brücke vom Ästhetisch-Ethischen zur negativen Innerlichkeit: zum Religiösen. Es gibt drei Existenzsphären: die ästhetische, die ethische und die religiöse. Diesen entsprechen zwei Grenzgebiete (Confinien): die Ironie ist das Grenzgebiet zwischen dem Äs-
So zeugt der pseudonyme Johannes Climacus in seinem Anhang zur Nachschrift unter dem Titel „Verständigung mit dem Leser“ von sich selbst: „Der Unterzeichnete, Johannes Climacus, der dieses Buch geschrieben hat, gibt sich nicht für einen Christen aus; […]. Er ist Humorist; genügsam-zufrieden mit den augenblicklichen Verhältnissen, darauf hoffend, daß ihm etwas Höheres werde vergönnt werden.“ SKS 7, 560 / AUN2, 331. SKS 7, 192 / AUN1, 201. SKS 7, 193 / AUN1, 202. SKS 7, 199 / AUN1, 209; meine Hervorhebung.
2.2 „Kraft des Absurden“. Von der Ironie zum Paradox der Subjektivität
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thetischen und dem Ethischen; der Humor ist das Grenzgebiet zwischen dem Ethischen und dem Religiösen.⁷⁵
Hier wird die Ironie nicht mehr der ästhetischen Subjektivität zugeschrieben, wie in der Romantikkritik, vielmehr wird sie zu einer Eigenschaft des Ethikers und dann zur Übergangsform von der ästhetischen zur ethischen Existenz. Sofern das Paradox der Subjektivität bedeutet, dass sich eine wahre von einer unwahren Innerlichkeit nicht nach erkennbaren Kriterien unterscheiden lässt,wird die Ironie gerade zur Existenzweise des Ethikers, [w]eil er den Widerspruch erfaßt, der zwischen der Art, wie er in seinem Innern existiert, besteht und dem, daß er das in seinem Äußeren nicht ausdrückt; denn zwar wird der Ethiker offenbar, insoweit er sich erschöpft in den Aufgaben der faktischen Wirklichkeit […], und das, wodurch er der Ethiker ist, ist diejenige Bewegung, durch die er sein nach außen gehendes Leben nach innen hin mit der unendlichen Forderung zusammen setzt, und das sieht man nicht direkt.⁷⁶
Die Diskrepanz zwischen Innen und Außen, die für den frühen Kierkegaard die ästhetische Existenz kennzeichnete, wird nun zum Charakter der ethischen Existenz. Es handelt sich hier aber mithin nicht um eine Ironie, wie sie beim jungen Kierkegaard gemeint war, sondern vielmehr um das Absurde oder das Komische – um Ironieformen also, die den Ethiker in die Sphäre der absoluten Negativität, in die Absurdität des Glaubens übergehen lassen. Der Ethiker ist ironisch genug, um sehr gut zu verstehen, daß was ihn absolut beschäftigt, die anderen nicht absolut beschäftigt; er erfaßt selbst dieses Mißverhältnis, und setzt das Komische zwischen sich und sie, um das Ethische desto innerlicher in sich selbst festhalten zu können. Nun fängt die Komödie an; denn das Urteil der Menschen über solch einen wird immer lauten: ihm ist nichts wichtig.⁷⁷
Obwohl hier ebenfalls von einer romantischen Diskrepanz ausgegangen wird, handelt es sich dabei um eine Gegenargumentation und eine Gegenfigur zur ästhetisch-romantischen Ironie. Der Ästhetiker hinterlässt den Eindruck, als seien ihm die äußeren Gegenstände (seien es Kunstwerke oder Menschen) an sich wichtig, während sie eigentlich nur als Objekte seiner ästhetischen Erfahrung wahrgenommen werden. Nach außen scheint es, als sei ihm alles wichtig, im Inneren ist ihm nichts wichtig – so lautete die an Hegel anschließende Ironiekritik Kierkegaards.
SKS 7, 455 / AUN2, 211. SKS 7, 457 / AUN2, 213 – 214. SKS 7, 458 / AUN2, 214.
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Die Ironie des Ethikers ist eine gegensätzliche: Nach außen hin entsteht der Eindruck, als sei ihm nichts wichtig; in seinem Inneren hingegen ist für ihn „das Ethische absolut wichtig […]; denn darin unterscheidet er sich von den Menschen im allgemeinen, denen so viele Dinge wichtig sind, ja denen beinahe alles wichtig ist – aber nichts absolut wichtig“.⁷⁸ Der Ethiker übernimmt insofern die Ironie vom Ästhetiker, er kehrt sie jedoch um. Dabei ist zu bemerken, dass die ästhetische und ethische Existenzweise, wie sie in der Nachschrift dargestellt werden, nicht identisch sind mit den Figuren des Ästhetikers und des Ethikers aus Entweder/ Oder. Die kritisch-parodistische Darstellung ästhetischer und ethischer Existenz in Entweder/Oder wird in der Nachschrift durch die ernstere Beobachtung aus subjektivitätstheoretischer Perspektive fortgeschrieben. Ästhetische Subjektivität wird nicht mehr durch die unmittelbare Sinnlichkeit gekennzeichnet, sondern durch das innere, absurde „dichterische Pathos“,⁷⁹ das sich nicht erklären oder mitteilen lässt. Ethische Subjektivität wird hier nicht mehr im Anschluss an die Kantische Verpflichtung oder an die Hegelsche Sittlichkeit erklärt, sondern als das Festhalten an der absoluten Forderung; als eine „ethische Leidenschaft“ – eine sich dem kommunikativen Verstand verschließende innere Form.⁸⁰ Die Konzeptionen von ästhetischer und ethischer Innerlichkeit in der Nachschrift lassen sich folglich als Antworten auf die in Entweder/Oder kritisch-parodistisch dargestellten Positionen verstehen, als ihre negativen Gegenbilder. Die Figuren des Ästhetikers und des Ethikers in Entweder/Oder sind dadurch gekennzeichnet, dass sie klare Vorstellungen davon haben, worin Innerlichkeit – ästhetisch oder ethisch – bestehe. Demzufolge besitzt jede der Figuren ein klares, positives Wissen von der vermeintlichen „Wahrheit“ der jeweiligen Lebensform. Das Buch an sich schlägt jedoch keine Lösung vor, denn es lasse sich – so seine Grundthese – mit vernünftigen, positiven Argumenten keine Entscheidung für die eine oder andere Position finden. So liest offenbar Johannes Climacus „Kierkegaards“ erstes Buch: Entweder/Oder, dessen Titel schon Fingerzeig-gebend ist, läßt das Existenzverhältnis zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen in existierender Individualität entstehen. Darin liegt für mich die indirekte Polemik des Buches gegen die Spekulation, der die Existenz gleichgültig ist. Daß kein Resultat und keine endgültige Entscheidung da sind, ist ein indirekter Ausdruck für die Wahrheit als Innerlichkeit und so vielleicht eine Polemik gegen die Wahrheit als Wissen.⁸¹
Ebd. SKS 7, 353 / AUN2, 93. SKS 7, 456 / AUN2, 212. SKS 7, 229 / AUN1, 246.
2.2 „Kraft des Absurden“. Von der Ironie zum Paradox der Subjektivität
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Die „Wahrheit als Innerlichkeit“ besteht insofern darin, dass kein positives Wissen von dem erlangt werden kann, was für das existierende Subjekt als Wahrheit gelten soll. Subjektive Wahrheit ist daher für Kierkegaard-Climacus stets negativ, sie lässt sich weder positiv begreifen noch mitteilen. Die aporetische Struktur der ästhetisch-ethischen Argumentation in Entweder/Oder hat darauf hingewiesen, dass jede diskursive Rede von subjektiver Wahrheit, jedes Wissen von Innerlichkeit, notwendigerweise in dessen Gegenteil umschlägt, sich widerspricht und das Unwahre an der eigenen Position offenlegt. Im Hintergrund der ästhetischethischen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von Subjektivität und Wahrheit steht der Begriff der Ironie in seiner ersten Bedeutung: Es wird davon ausgegangen, dass nur die innere Wahrheit des Subjekts für es selbst eine Geltung hat, während es sich zum Außen stets negativ verhält. Der Ästhetiker gewinnt seine innere Wahrheit durch die sinnlich-unmittelbare ästhetische Erfahrung; Der Ethiker erlangt die innere Gewissheit (von der aus er eine allgemeingültige ethische Wahrheit zu entwickeln behauptet) durch die moralische Verpflichtung, die ihrerseits ebenfalls der objektiven Wirklichkeit entgegensteht. Beide figurieren eine ironische Auffassung von Subjektivität: Ihre Ironie besteht in dem Missverhältnis zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen, zwischen subjektiver Erfahrung und objektiver Wirklichkeit. Das Negative an dieser Auffassung besteht in dem Verhältnis der jeweiligen Position zum Bestehenden. In der Nachschrift macht Climacus-Kierkegaard auf dieses doppelt defizitäre Verständnis aufmerksam. Durch seine Kritik entwirft er den Gedanken einer Innerlichkeit, in der Ironie grundsätzlich anders aufgefasst wird. Die Bedeutungsverschiebung der Ironie von einer dialektischen, verbergenden Diskrepanz von Innen und Außen zu einer paradox-absurden wirft ein anderes Licht auf die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Subjektivität und Wahrheit. Das Verständnis von Subjektivität als einer paradox-absurden besagt, dass sowohl ästhetische als auch ethische Subjektivität gerade in ihrer Unmöglichkeit bestehen. Für Climacus ist es das Scheitern des ästhetischen Subjekts am (bloß sinnlichen) Genuss seiner selbst, das eine wahre ästhetische Erfahrung fundiert: eine innere Erfahrung, unabhängig von äußeren Genussobjekten; und es ist das Scheitern des ethischen Subjekts in der Erfüllung vorgegebener moralischer Forderungen, das zu einer „Suspension des Ethischen“⁸² führt und damit zu einer wahren ethischen Erfahrung. In beiden Fällen kulminiert die wahre Erfahrung in der absoluten Negativität der Innerlichkeit. In der Nachschrift bedeutet die Negativität nicht mehr nur die Kritik jener Lebensformen, die Entweder/Oder durch die Darstellung des Ästhetikers und des
SKS 4, 150 / FZ, 60.
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Ethikers illustriert, sondern sie wird vielmehr als die Disposition des Subjekts aufgefasst, das nach dem Verhältnis von Wahrheit und Innerlichkeit fragt. Da dieses Verhältnis nicht durch positive Beschreibungen begriffen werden kann, kann es nur negativ bleiben, als negativ aufgefasst werden. Es kann nur augenblicklich, momentan, ephemer erfahren werden. Dabei wird Erfahrung als Leidenschaft, als Gegensatz zum Wissen aufgefasst. Denn, nach Climacus, alles gegen sich haben, keinen, keinen direkten Ausdruck für seine Innerlichkeit haben und doch zu seinem Wort stehen, das ist die wahre Innerlichkeit, und die Innerlichkeit ist in demselben Grade unwahr, als der Ausdruck im Äußeren, in Angesicht und Miene, in Worten und Beteuerungen sofort zur Hand ist, nicht gerade weil der Ausdruck selber unwahr ist, sondern weil das die Unwahrheit ist, daß die Innerlichkeit nur ein Moment sei.⁸³
Diese Bedeutung des Innerlichkeitsbegriffs als ausdruckslos, als inkommensurabel, ist die tatsächliche, vollendete Kierkegaardsche Begründung der Subjektivität auf negative Weise – und sie ist das Thema des nächsten Kapitels.
2.3 Das inkommensurable Selbst. Kierkegaards negative Begründung der Subjektivität Der Bogen, den Kierkegaard und seine pseudonymen Figuren bis an die Grenze des Absurden schlagen, bringt den Leser selbst in eine paradoxe Situation. Die Kritik an der „Spekulation“, wie Kierkegaard Hegels Philosophie pauschal und abwertend nennt, besteht ja selbst darin, dass diese dem Einzelnen, dem existierenden Individuum keine praktischen, lebbaren Antworten zu geben vermöge.⁸⁴ Dabei scheint es, als liefere Kierkegaard den Gegenpol zu Hegels systematischer Philosophie: eine brüchige, absurde Konzeption von Wahrheit und Subjektivität, die ihrerseits ebensowenig eine individuelle Aneignung ermöglicht. Es scheint so, als gäbe Kierkegaards Konzeption nicht nur keine praktische Antwort auf die Frage nach der Wahrheit der Subjektivität, sondern als würde sie das einzelne Subjekt, das nach existenzieller Wahrheit fragt, in den Abgrund der Ängste und der Verzweiflung stoßen. Furcht und Zittern (1843) und Der Begriff Angst (1844) lassen sich insofern als philosophische Rückgriffe auf die Fragen verstehen, die in Entweder/Oder literarisch aufgeworfen werden. Mein Interpretationsansatz bei der Lektüre von Entweder/Oder deutete darauf hin, dass die Schrift als eine kritische zu lesen ist: als eine immanente Kritik der ästhetisch-romantischen ebenso wie der
SKS 7, 214– 215 / AUN2, 228. Vgl. Schweppenhäuser, Kierkegaards Angriff auf die Spekulation, S. 63 – 65.
2.3 Das inkommensurable Selbst
103
ethisch-sittlichen Subjektivität. Es wird darin jeweils der Entwurf eines Selbstbezugs präsentiert, dessen Fundament sich „außer sich“ befindet. Der Ästhetiker gründet sein Selbstverhältnis auf seine unmittelbaren sinnlichen Erfahrungen, denen er eine tiefere subjektive Bedeutung verleihen möchte. Der Ethiker beruft sich auf den bestehenden Moralkodex, auf die im bürgerlichen Subjekt verinnerlichte Sittlichkeit, die er gegen die möglichen skeptischen Angriffe des Ästhetikers zu verteidigen beabsichtigt. Das Ausbleiben einer Entscheidung verweist auf das komplementäre Defizit beider Positionen – und auf die Unmöglichkeit, Innerlichkeit als subjektive Wahrheit überhaupt positiv zu begründen. Denn auch wenn beide Protagonisten der Schrift auf ihre „innere Wahrheit“ zurückgreifen, so wird diese freilich immer als Wissen, als ein positiv zu gewinnendes Fundament begriffen: als ein objektiv Bestehendes, das verinnerlicht wird. Demgegenüber sieht Climacus die negative Dimension der Wahrheit als Innerlichkeit darin, dass sie nicht als objektives Wissen verallgemeinert und vermittelt werden kann. Die Innerlichkeit bleibt demzufolge nur insofern wahr, als sie inkommensurabel und nicht verallgemeinerbar ist. Eine durchaus problematische Bestimmung. Während also Entweder/Oder die polemische Seite durch eine Auseinandersetzung mit Fehlkonzeptionen der Innerlichkeit darstellt, entwerfen die unmittelbar anschließend entstandenen Schriften die Konzeption einer negativen Innerlichkeit, die nach Kierkegaard die Möglichkeit der Wahrheit in sich birgt. Furcht und Zittern und Der Begriff Angst handeln von einer Selbstbezüglichkeit, die sich an einer Grenze, am Extremen und Absurden erfährt und durch diese negative Erfahrung – nicht als eine Negation der Wirklichkeit, sondern des eigenen Selbst – eine Form von Innerlichkeit ermöglicht, die Kierkegaard als wahr (und von daher als frei!) versteht. Im Folgenden werde ich entsprechend darlegen, dass und auf welche Weise(n) Innerlichkeit als wahre Subjektivität durch einen negativen Prozess erfahren wird und inwiefern dabei Absurdität und Inkommensurabilität gerade für Singularität, Individualität und Freiheit fundamental sind. Der Begriff der Negativität, von dem Kierkegaard oft in seinen Schriften Gebrauch macht, wird nicht nur als ein methodischer Begriff, als ein dialektischer Weg zu einem positiven Verständnis von Subjektivität verstanden, sondern – so möchte ich zeigen – stellt den entscheidenden Inhalt seiner Subjektivitätskonzeption dar, wie Kierkegaard diese in seinen philosophischen Schriften entwickelt.⁸⁵ So wird in Der Begriff Angst Selbstbezüglichkeit erst durch die erschütternde Erfahrung der Angst ermöglicht, die das Individuum vor sich selbst, vor dessen Möglichkeit und Freiheit stellt. Furcht und Zittern zeigt die Bedeutung und das Vgl. Michael Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung. Kierkegaards negativistische Methode, Frankfurt am Main 1991, S. 17. Meine Interpretation berücksichtigt einige Aspekte der Lesart Theunissens, unterscheidet sich von dieser jedoch in mehreren Hinsichten, vor allem in Bezug auf den psychologisch-therapeutischen Anspruch von Theunissens Schrift.
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2 Die Wunde der Negativität. Kierkegaards negative Konzeption der Innerlichkeit
Paradox des inneren Geheimnisses, das Selbstbezüglichkeit als Innerlichkeit zugleich konstituiert und in Aporien verwickelt.
„Der Schwindel der Freiheit“: Selbstwerden durch Angst Der Ausgangspunkt für das alternative Modell, das Kierkegaard als einen Gegenentwurf zu den von ihm abgelehnten ästhetisch-romantischen und ethischsittlichen Subjektivitätsauffassungen vorstellt, lautet: Das Individuum ist im Grunde nicht es selbst; die Subjektivität ist vorerst unwahr. Das Selbst- oder Subjektwerden stellt sich daher als ein Prozess dar, den das Individuum zu vollziehen habe, um wahr und frei zu werden. Dieser Prozess erweist sich insofern als problematisch, als dafür kein gesicherter Weg garantiert werden kann, weil dem Individuum ein solcher Weg überhaupt nicht beschrieben werden kann. Vielmehr würden jede Garantie und jede allgemeinverständliche Beschreibung den Prozess verunmöglichen. Eine Gelingensgarantie und eine Wegbeschreibung würden eine solche Selbstfindung notwendigerweise versperren. Die wesentliche Bestimmung der Innerlichkeit ist demzufolge ihre Maßstabslosigkeit. Kierkegaard geht es hier um die negative Dimension der inneren individuellen Erfahrung in extremen Grenzsituationen – Angst, Furcht oder Verzweiflung, in denen der Einzelne sich als Einzelner erfährt. Gerade diese negative Erfahrung stellt das Individuum vor eine unmittelbare Gewissheit, für die es keine gesicherten äußeren Maßstäbe geben kann, die jedoch auf die Innerlichkeit des erfahrenden Individuums aufmerksam macht. Kierkegaard behauptet in Der Begriff Angst: „Die Gewißheit, die Innerlichkeit, die allein handelnd erlangt wird und allein in der Handlung ist, entscheidet, ob das Individuum dämonisch ist oder nicht.“⁸⁶ Obwohl es für die Bestimmung der Innerlichkeit keine Kriterien oder Maßstäbe gibt, bestimmt sie selbst den „Wahrheitsstatus“ des Individuums. Climacus versteht sie als eine praktische Eigenschaft, die erst durch das tatsächliche Handeln des Individuums erreicht wird. Es handelt sich dabei insofern um eine paradoxe Konzeption, als es einerseits keine objektiven Bestimmungen der Innerlichkeit geben kann, während sie andererseits mehr als nur eine innere Verfassung oder Stimmung ist, sondern gerade durch die Praxis und das Handeln erfahrbar wird. Praktische Beispiele liefert Kierkegaard wiederum nur für problematische, negative Fälle, für das „Fehlen“, für die „Ausschließung oder das Ausbleiben der Innerlichkeit“.⁸⁷ Dafür, wie Innerlichkeit als negative praktische Subjektivität zu verstehen wäre, finden sich keine konkreten
SKS 4, 439 / BA, 144. SKS 4, 442 / BA, 147: Diese Fälle sind die Beispielpaare Unglaube – Aberglaube, Heuchelei – Ärgernis, Stolz – Feigheit.
2.3 Das inkommensurable Selbst
105
Beispiele, sondern lediglich Hinweise auf Grenzsituationen, die die Inkommensurabilität des Selbst verdeutlichen. Der Begriff Angst enthält wichtige Feststellungen anthropologischen Charakters. Kierkegaard, unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis, versucht hier nicht, menschliche „Wesensmerkmale“ positiv zu bestimmen, sondern auf eine spezifische Problematik hinzudeuten: auf die unaufhebbare Spannung, auf den inneren Widerspruch innerhalb des Selbst des Menschen. „Der Mensch“, so Vigilius Haufniensis, „ist eine Synthesis des Seelischen und des Leiblichen.“⁸⁸ Einige Seiten später fügt er hinzu, diese „Synthese von Seele und Leib“ werde „von Geist getragen“⁸⁹. Ergänzt wird dies jedoch an anderer Stelle durch die Behauptung, der Mensch sei „zugleich eine Synthesis des Zeitlichen und des Ewigen“.⁹⁰ In beiden „Synthesen“ wird der Mensch als ein Verhältnis gedacht, als eine Zusammensetzung zweier Komponenten, die allerdings miteinander nicht kompatibel und einander nicht kommensurabel sind. Insofern ist dieses Verhältnis gerade als ein „Missverhältnis“ zu verstehen. So wird der Mensch als ein „zusammengesetztes Wesen“ beschrieben, „zusammengesetzt aus Ungleichartigem“.⁹¹ Er sei, „ein derart zusammengesetztes Wesen, daß sein Zusammenhang oder seine Identität mit sich selbst zerbrechlich ist“.⁹² Das negative Verhältnis oder „Missverhältnis“ des Subjekts zu sich selbst bezeichnet demnach eine solche zerbrechliche Identität mit sich selbst. Diese Beschreibungen dürfen aber – dem Kierkegaardschen Anspruch zufolge – keine abstrakten Bestimmungen sein, sie müssen eine praktische Bedeutung haben. Eine solche Bedeutung sollte zum Selbstverhältnis, zum Selbstwerden des Subjekts beitragen. Michael Theunissen erläutert dazu, der Mensch sei „als ein synthetisches Verhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit, […] als ein solches Verhältnis noch kein Selbst“.⁹³ Um „Selbst“ zu werden, müsse sich der Mensch vielmehr in ein Verhältnis zu sich selbst setzen. Denn nach Theunissens Lesart verhält sich das Selbst vorerst nicht zu sich selbst, sondern zu einer „setzenden ‚Macht‘“ außerhalb seiner selbst.⁹⁴ Das Selbstwerden, das Sich-selbst-in-ein-Verhältnis-zu-sich-selbstSetzen, ist insofern die Aufgabe des Individuums, um Innerlichkeit als wahre und freie Subjektivität zu gewinnen. Dieses Verhalten setzt bei Kierkegaard in negativen
SKS 4, 349 / BA, 41. SKS 4, 354 / BA, 47. SKS 4, 388 / BA, 86. Arne Grøn, Angst bei Søren Kierkegaard, Stuttgart 1999, S. 19. Ebd., S. 21. Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung, S. 23. Ebd.
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Grenzerfahrungen an. Solche Grenzerfahrungen – Schuld, Angst, Verzweiflung – bringen das gesicherte Gleichgewicht des Menschen ins Schwanken und sind zugleich das, was eine andere, entgegengesetzte Form von Gleichgewicht ermöglicht: ein Gleichgewicht von verschiedenen, miteinander inkompatiblen und einander inkommensurablen Elementen. Die entscheidende Grenzerfahrung, in der das gesicherte Gleichgewicht ins Schwanken gerät und durch ein orientierungsloses Missverhältnis ersetzt wird, ist Angst. Wenn das Individuum vor sich selbst – vor sein eigenes Selbst – gestellt wird, wird seine innere Inkommensurabilität erfahrbar. Diese Erfahrung versteht Kierkegaard als Fundament der Wahrheit – und damit zugleich der individuellen Freiheit. Es handelt sich jedoch nicht um eine absolute, fessellose Freiheit, vielmehr um eine beängstigende: Kierkegaard spricht von der Angst als dem „Schwindel der Freiheit, der aufsteigt, wenn der Geist die Synthesis setzen will, und die Freiheit nun niederschaut in ihre eigene Möglichkeit, und sodann die Endlichkeit packt sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit zusammen.“⁹⁵ Die Inkommensurabilität des Selbst – eine Bedingung der Möglichkeit innerer Wahrheit – wird nach Kierkegaard als Schwindel, als das Zusammensinken erfahren, das die existentielle Angst auslöst. Es ist der plötzliche Verlust all jener bekannten und vertrauten Maßstäbe und Handlungsmaximen, die an das Individuum im Laufe seines Lebens von den ihm äußerlichen „Mächten“ oder Instanzen herangetragen wurden. All diese verlieren dann auf einmal ihre Allgemeingültigkeit und Selbstverständlichkeit.
Der „Ritter des Glaubens“: Schweigen und Unerkennbarkeit Auf eine noch extremere Weise verdeutlicht die Thematik von Furcht und Zittern dieses Verhältnis von subjektiver Wahrheit und Inkommensurabilität. In der Rekonstruktion der alttestamentarischen Geschichte der Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham erhält die Erfahrung der Inkommensurabilität, des Außer-Kraft-Setzens alles Vertrauten und Geltenden, ihre negative subjektivitätstheoretische Bedeutung. Die Geschichte wird vom Pseudonym Johannes de Silentio erzählt – kein zufälliger Name, denn das Schweigen zeigt sich als ein entscheidendes Moment in der negativen Konstitution der Innerlichkeit: als Unmöglichkeit, das Innere auszudrücken, mitzuteilen, verständlich zu machen. Abrahams Geschichte verdeutlicht hier, was Kierkegaard als das radikal Ironische, Absurde und somit Wahre an der Konzeption der Innerlichkeit versteht. In dieser Geschichte erhält Abraham den Befehl, seinen einzigen, geliebten Sohn Isaak auf dem Morija-Berg als Brandopfer darzu-
SKS 4, 365 / BA, 60 – 61.
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bringen. Er folgt diesem von Gott oder von einer inneren Stimme gegebenen Befehl; eine genauere Klärung ist hier prinzipiell nicht möglich. Die Opferung wird erst im letzten Moment verhindert, als Abraham seinen Sohn fesselt, auf den Altar legt, das Messer und das Feuer in die Hand nimmt. Eine Engelsstimme befiehlt ihm nun, seine Hand gegen seinen Sohn nicht auszustrecken.⁹⁶ Dabei lässt sich auf keine rational verständliche oder beschreibbare Begründung der Tat Abrahams zurückgreifen. Johannes de Silentios Rekonstruktion der Erzählung stellt Abrahams Situation auf radikalste, provokanteste Weise dar: Sie zeigt einerseits die absolute innere Gewissheit Abrahams in ihrem Widerspruch mit der Ethik, mit der allgemeingültigen Sittlichkeit; andererseits verweist sie auf das prinzipielle Unvermögen Abrahams, seine Handlung begreiflich, verständlich zu machen; er könnte sie weder legitimieren noch kommunizieren. In diesem Sinn lässt sich die Rekonstruktion als die Frage nach der Bedeutung radikaler Subjektivität deuten, oder, wie Konrad Paul Liessmann es auf den Punkt bringt, nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Subjektivität, die sich als Negation des Allgemeinen konstituieren kann. [Johannes de Silentios] Antwort lautet, daß solch eine Subjektivität nur als paradoxe, als nicht legitimierbare und nicht kommunizierbare gefaßt werden muß.⁹⁷
Ein entscheidendes Merkmal der Subjektivitätsform, die Johannes de Silentio hier beschreibt, ist ihre Unerkennbarkeit. Abraham schweigt. Er behält sein erschreckendes Geheimnis für sich. Kein Ausdruck im Äußeren könnte sein Inneres erfassen. „Das Paradox des Glaubens ist dies, daß es eine Innerlichkeit gibt, die inkommensurabel für das Äußere ist“, so de Silentio. Es gehört zum Verständnis der religiösen Innerlichkeit Abrahams – zur absurden, paradoxen, inkommensurablen Innerlichkeit, die Kierkegaard in seinen Schriften thematisiert –, dass man sie an ihrem Subjekt nicht erkennt. Hier kehrt das Motiv der Ironie als einer unüberwindbaren Diskrepanz von Innen und Außen, die in Kierkegaards früheren Schriften das zentrale Thema bildete, auf eine radikalisierte Weise wieder. In Furcht und Zittern spielt diese Diskrepanz ebenfalls eine wichtige Rolle; es besteht hier jedoch eine entscheidende Differenz zu ihrer Bedeutung in der ästhetischen und in der ethischen Innerlichkeit. Die radikale Infragestellung des Bestehenden, als eine „Suspension des Ethischen“, ist deshalb so radikal zu verstehen, weil sie sich mithin gar nicht ausdrückt. Auf eine widersprüchliche Weise manifestiert sich die kritische Negativität als das Verhalten des „Kritikers“ im bloßen Schweigen. Im Unterschied zum Ästhetiker verrät den „Ritter des
Gen 22, 1– 19. Liessmann, Kierkegaard zur Einführung, S. 65.
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Glaubens“ – so nennt Johannes de Silentio das Subjekt einer inkommensurablen Innerlichkeit – nichts an seinem Äußeren: In dem Moment, da ich ihn erstmals in Augenschein nehme, werfe ich ihn im selben Nu von mir, mache selbst einen Sprung zurück, schlage die Hände zusammen und sage halblaut: „Herrgott, ist das der Mensch, ist das er wirklich? Er sieht ja aus wie ein Steuerkassierer.“ […] Ich prüfe seine Erscheinung von Kopf bis Fuß, ob da nicht ein Riß sei, durch welchen das Unendliche hervortritt. Nein! Er ist durch und durch solide.⁹⁸
In praktisch-philosophischer Hinsicht ist die Figur des „Ritters des Glaubens“, dessen Äußeres sein Inneres nicht verrät, besonders problematisch. Hier geht es nicht mehr um eine ironische Diskrepanz, um eine subjektive Negation des Bestehenden, wie sie die Figuren in Entweder/Oder verbildlichen. Abrahams innere Gewissheit, die gerade aus der Inkommensurabilität zwischen seinem Inneren und dem objektiv geltenden Bestehenden herrührt, ist nicht nur eine innere Verfasstheit, eine innere Stimme, ein Selbstbezug – sie hat zwar keinen Ausdruck im Äußeren, jedoch hat sie besonders starke objektive Konsequenzen: Die innere Gewissheit seiner selbst führt Abraham unmissverständlich zu einem Mordversuch. Eine solche innere Gewissheit, begründet durch ein unmitteilbares Geheimnis und ein undurchschaubares Schweigen, ließe sich auch als Wahnsinn oder als Fanatismus beschreiben. Das prinzipielle Fehlen der Maßstäbe, eine solche Innerlichkeit zu bestimmen oder zu erkennen, könnte eine Form willkürlichen Nihilismus ins Spiel bringen.⁹⁹ Ein solches Verständnis würde Kierkegaards Intention jedoch verfehlen. Johannes de Silentios Argumentation richtet sich auf das subjektive Jenseits. Sie ist weder eine Rechtfertigung nihilistischen Handelns noch eine Fundierung neuer Handlungsmaximen. Ihre Negativität besteht gerade in dem Verweis auf das Aporetische an der radikal subjektiven Situation: an der Situation Abrahams, die exemplarisch für den Begriff des inkommensurablen Subjekts ist. Der Abgrund, der sich vor dem „Ritter“ eröffnet, ist nicht ein gewollter, erwünschter. Er ist ein „erzwungener“ Abgrund, der das Subjekt den extremen Erfahrungen der Angst und der Verzweiflung aussetzt. Diese sind ursächlich für das Scheitern aller Versuche, sich an das Bestehende, an die Allge-
SKS 4, 133 / FZ, 37– 38; ich zitiere hier – aufgrund wesentlicher Unterschiede in der Übersetzung – nach der neueren Übersetzung von Liselotte Richter: FZR, 34– 35. Auf die praktische Dimension dieser Gefahr und ihre gegenwärtige Bedeutung verweist auch John D. Caputo: „For Kierkegaard, the moral of this story is that ethical rule admits of exception, because God, who is the author of the moral law, can suspend any given law if God so chooses. That is a profoundly dangerous position to take, but never more than today, when we are swept up in religious violence and menaced by people who feel authorized, even commanded, to kill in the name of God.“ John D. Caputo, How to Read Kierkegaard, London 2007, S. 46.
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meinheit zu halten. Insofern handelt es sich hier nicht um eine willkürliche „Suspension des Ethischen“ (wie man sie dem Ästhetiker zurechnen könnte), sondern um eine notwendige, zwingende. Das Subjekt wird vor die Notwendigkeit gestellt, sich anders zu verhalten. Es muss sich in seiner Inkommensurabilität begreifen, als eine Abweichung, als eine Ausnahme, als Folge der Grenzerfahrungen, die es vor sich selbst stellen.
Besonderheit als eine Herausforderung des Bestehenden Von dieser Idee der Inkommensurabilität geht Kierkegaards Auseinandersetzung mit Hegels Subjektivitätskritik in der Rechtsphilosophie aus. Der Gedanke, bei dessen Entfaltung Kierkegaard in Furcht und Zittern auf die innere Geschichte Abrahams rekurriert, betrifft die Inkommensurabilität als die aufhebbare Besonderheit des Einzelnen. In Furcht und Zittern entwickelt sich der Zweifel an der Hegelschen Identität von Innen und Außen, der in Entweder/Oder noch die Form einer ästhetischen Betrachtung hatte, zu einer philosophischen Hinterfragung dieses Verhältnisses, der Hegelschen Bestimmung des Einzelnen als einer „moralischen Form des Bösen“.¹⁰⁰ Denn „die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren“, heißt nach Hegel, „böse zu sein“.¹⁰¹ Zunächst stimmt Kierkegaard mit Hegel überein, dass „der Einzelne, der in jenem Stadium verharrt, entweder sündigt oder in Anfechtung liegt“.¹⁰² Das „Verharren“ des Einzelnen in dessen bloß subjektivem Standpunkt bedeutet demnach eine Absage an die objektive Realität, die eine abstrakte, leere Subjektivität charakterisiert. Ein solches subjektives „Verharren“, so folgt Kierkegaard der Hegelschen Idee, solle „in der Teleologie des Sittlichen aufgehoben werden“.¹⁰³ Die Lage wird jedoch problematisch, wenn eine solche „Teleologie“ unmöglich wird. In Abrahams Geschichte sieht Kierkegaard einen exemplarischen Fall dieser Art. Denn nach Hegels Sichtweise verletzt Abraham aus subjektiven Gründen die „Teleologie des Sittlichen“ und lässt sich – objektiv – nicht anders betrachten denn als ein Mörder. Für Kierkegaard verdeutlicht diese Geschichte das Problem, das die subjektive Inkommensurabilität für die Ethik darstellt. Die Figur Abrahams ist eine Herausforderung sowohl für eine Moral im Sinne Kants, den Geltungsanspruch eines „allgemeinen Gesetzes“, wie auch für
SKS 4, 149 / FZ, 58. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 139, S. 261. Hervorhebung im Original. SKS 4, 149 / FZ, 58. Ebd.
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Hegels Idee der Sittlichkeit.¹⁰⁴ Nach beiden Verständnissen wäre Abrahams Tat zu verurteilen, als „Böses“ zu bestimmen, während sie für Kierkegaard zugleich eine Verdeutlichung der Problematik der Subjektivität darstellt. Demnach bestand für Abraham weder die Möglichkeit, das eigene Handeln als „allgemeines Gesetz“ zu betrachten, noch die Möglichkeit, dieses Handeln an Bestimmungen der Sittlichkeit festzumachen. Er stellt daher eine Ausnahmefigur dar, die für beide Ethikverständnisse als ein Skandal gelten muss, weil sie vor allem auf die Grenzen dieser Konzeptionen hinweist. Die Motivation für Abrahams skandalöses Handeln ist der Glaube. Kierkegaard geht es in dieser Argumentation mithin nicht um eine Untersuchung der Fundamente oder Motivationen des Glaubens an sich, sondern vielmehr um eine phänomenologische Betrachtung von dessen Bedeutung, und das heißt: von dessen Bedeutung für das Subjekt, für den Einzelnen. Der Glaube bedeutet hier folglich nicht vordergründig das Festhalten an einem bestimmten Gott, sondern eine innere Verfasstheit, die dem Subjekt unmittelbar und absolut erscheint, die jedoch nicht als solche vermittelt, kommuniziert werden kann und so den Einzelnen in seiner Einzelheit, in seinem unüberbrückbaren Sosein allein, auf sich selbst gestellt lässt. Hegels Kritik an „der sich als das Absolute behauptenden Subjektivität“, wie er sie vor allem im § 140 der Rechtsphilosophie entfaltet, verfehlt – Kierkegaard zufolge – ihren Angriffspunkt, da sie an der Subjektivität gerade jenes Moment der Abweichung und Besonderheit kritisiert, das eine restlose Aufhebung oder Integration ins Allgemeine verhindert. Kierkegaards Argument gegen Hegel besteht in der Feststellung, eine solche Aufhebung oder Integration sei nur nach außen möglich, im Inneren bestehe dagegen immer die Möglichkeit einer Divergenz, einer Inkommensurabilität: Dies stellt den gesamten Hegelschen Gedanken einer Identität des Besonderen mit dem Allgemeinen in Frage, weil die Möglichkeit einer solchen Identität nur kontingent, nur bedingt sein kann. Für Hegel gilt dieser Gedanke jedoch als allgemeingültig, universell. Denn wenn das Ethische, will sagen das Sittliche, das Höchste ist und im Menschen etwas Inkommensurables nicht zurückbleibt außer auf die Weise, daß dies Inkommensurable das Böse, d. h. das Einzelne ist, das in dem Allgemeinen ausgedrückt sein soll, so bedarf man keiner andern Kategorien als der, welche die griechische Philosophie besessen hat, oder
Auch in diesem Sinne kann man in Furcht und Zittern eine radikalisierte Fortschreibung der Problemstellung von Entweder/Oder – eine Kritik sowohl an Kants Moralverständnis wie auch an Hegels Sittlichkeit – sehen, von der die Suche nach einem Verständnis praktischer Subjektivität jenseits von beiden ausgeht.
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welche sich bei folgerichtigem Denken aus diesen herausholen lassen. Daraus hätte Hegel keinen Hehl machen sollen; denn er hat doch griechische Studien getrieben.¹⁰⁵
Mit der etwas ironischen Bemerkung, Hegel habe „griechische Studien“ betrieben, drückt Kierkegaard nicht nur seine Skepsis gegenüber jener systematischen Universitätsphilosophie aus, die auf allgemeine Theorien abziele, ohne sich mit dem konkreten Leben des Einzelnen zu beschäftigen, sondern vor allem seinen spezifischen Einwand gegen eine Philosophie, die dem bestehenden Allgemeinen die Übermacht zuschreibt, das Subjekt zur Aufhebung seiner Singularität auffordert. Denn eine solche Argumentation geht lediglich von der Annahme aus, das Besondere und Inkommensurable am Menschen müsse als Böses angesehen werden, wenn es dem Allgemeinen widerspricht; die Idee der Inkommensurabilität geht darin allerdings keineswegs auf. Kierkegaards eigentliche Behauptung besagt insofern, das Inkommensurable sei das, was „zurückbleibt“, der subjektive Rest, der im Allgemeinen nicht zum Ausdruck kommen kann und sich in die Sphäre der Sittlichkeit prinzipiell nicht integrieren kann. Inkommensurable Besonderheit ist demnach ein untrennbares Moment kritischer, freier Subjektivität. Entscheidend ist hier ferner die Unterscheidung von Können und Wollen: Während Hegels Vorwurf besagt, das „verharrende“ Subjekt verweigere sich einer solchen Integration ins Allgemeine und werde daher zu Recht als „Böses“ bezeichnet, bringt Kierkegaard das Argument eines prinzipiellen Nichtkönnens vor. Das inkommensurable Selbst ist nach Kierkegaard gerade eines, das sich im Allgemeinen nicht wiederfinden kann; es bestehe eine absolute, unendliche Unüberbrückbarkeit im Verhältnis von Subjekt und Gemeinwesen. So verhält es sich in Abrahams Geschichte: Sein Handeln lässt sich weder erklären noch vermeiden, es kennzeichnet sich durch die radikale Verbindung von Notwendigkeit und Unverständlichkeit. Diese Verbindung ist der subjektive „Rest“, der im Allgemeinen nicht aufgeht und daher nicht kommensurabel werden kann. Die Differenz von Nichtwollen (Hegel) und Nichtkönnen (Kierkegaard) ist hier eine Grundbestimmung negativer Innerlichkeit: Gerade in ihrer Unfreiwilligkeit – Abrahams Handeln ist nicht frei; er fühlt sich gezwungen, gegen die Gesetze des Allgemeinen zu handeln – stellt sie ein Moment freier Subjektivität dar. Oder genauer: Abraham verkörpert auf eine widersprüchliche Weise die Idee einer „zwanghaft“, „unfreiwillig“ befreiten Subjektivität – negativ befreit von den Zwängen des Allgemeinen. Ein solches Verständnis negativer Innerlichkeit bezieht sich zwar auf Hegels Kritik, zeigt aber ihre Unzulänglichkeit, sobald sie subjektives Handeln verallgemeinert und damit voraussetzt, dass alle Subjektivitätsformen in dieser auf-
SKS 4, 149 / FZ, 58.
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gehen. Denn nach Hegels Begriffen lässt sich Abrahams Handeln, wie jedes menschliche Handeln, das sich nicht verständlich machen und keine Berechtigung verlangen kann, als Böses bezeichnen. Böse aber und mit bösem Gewissen handeln ist noch nicht die Heuchelei; in dieser kommt die formelle Bestimmung der Unwahrheit hinzu, das Böse zunächst für andere als gut zu behaupten und sich überhaupt äußerlich als gut, gewissenhaft, fromm u. dgl. zu stellen,was auf diese Weise nur ein Kunststück des Betrugs für andere ist. Der Böse kann aber ferner in seinem sonstigen Gutestun oder Frömmigkeit, überhaupt in guten Gründen, für sich selbst eine Berechtigung zum Bösen finden, indem er durch sie es für sich zum Guten verkehrt.¹⁰⁶
Der „Betrug“ besteht hier demnach darin, dass das böse handelnde Subjekt sich als gut behauptet – und sein Handeln als gut rechtfertigt. Auch dieser Kritikpunkt kann auf Kierkegaards Situation nicht zutreffen, und somit auch nicht die zusammenfassende Behauptung: „Diese Möglichkeit liegt in der Subjektivität, welche als abstrakte Negativität alle Bestimmungen sich unterworfen und aus ihr kommend weiß.“¹⁰⁷ Damit hat Kierkegaard das Problem der praktischen Subjektivität vor Augen – nicht als abstrakte, sondern als konkrete Negativität: eine konkrete Unmöglichkeit, sich nach allgemeingültigen Vernunftbestimmungen zu erklären. Diese Unmöglichkeit ist auf den subjektiven „Rest“ zurückzuführen, auf das inkommensurable Element im Inneren, das sich nicht entäußern lässt. Die Negativität sei hier nicht im Verhältnis zum äußeren Allgemeinen zu verorten, sondern im Selbstverhältnis des Subjekts. Bezogen auf Abrahams Glaube führt Kierkegaard sein radikales Argument weiter: Der Glaube ist eben dies Paradox, daß der Einzelne als Einzelner höher ist denn das Allgemeine, ihm gegenüber im Rechte ist, ihm nicht unter-, sondern übergeordnet ist, doch wohl zu merken dergestalt, daß eben der Einzelne, der als Einzelner dem Allgemeinen untergeordnet, nun durch das Allgemeine hindurch ein Einzelner wird, der als Einzelner ihm übergeordnet ist; daß der Einzelne als Einzelner in seinem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht.¹⁰⁸
Radikal ist das Argument insofern, als es besagt, dass gerade durch das Verhältnis zum Allgemeinen, und das heißt, durch die Anerkennung der Gültigkeit der Sittlichkeit, dieses Allgemeine, das hier zugleich hegelianisch Sittlichkeit bedeutet, außer Kraft gesetzt wird. So handelt es sich in der Figur des glaubenden
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 140, S. 267– 268. Hervorhebung im Original. Ebd. SKS 4, 149 – 150 / FZ, 59.
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Abraham nicht um eine „Subjektivität als abstrakte Negativität“, wie sie Gegenstand der Hegelschen Kritik war, sondern um ein Jenseits von abstrakter ebenso wie von bestimmter Negation des Bestehenden. Der Einzelne, wie Kierkegaard ihn an der Figur Abrahams exemplifiziert, sei weder im Sinne der Romantik(‐kritik) als eine abstrakte Ablehnung bestehender objektiver Verhältnisse noch im Sinne der sokratischen Ironie, das heißt einer bestimmten Negation des Bestehenden zu deuten. Abraham verbildlicht eine negative Subjektivitätsform, die gerade durch ihre Anerkennung der Gültigkeit des Allgemeinen – und aufgrund ihrer prinzipiellen Unmöglichkeit, ihre Praxis daran zu orientieren – eine bestimmte Unzulänglichkeit des Allgemeinen aufdeckt und vom Vorrang des Andersseins des Einzelnen zeugt. Aber dieser „Vorrang“ kann als solcher nicht zum Ausdruck gebracht werden. „Dieser Standpunkt läßt sich nicht vermitteln; denn alle Vermittlung geschieht gerade in kraft des Allgemeinen; er ist und bleibt in alle Ewigkeit ein Paradox, unzugänglich dem Denken.“¹⁰⁹ In praktischer Hinsicht wirft diese Erläuterung jedoch eine Reihe von Fragen auf: Welchen Status hat ein Argument, das sich selbst als Paradox versteht und sich jeder Mitteilbarkeit, jeder Erklärung entzieht? Kann die Unmöglichkeit rationaler Vermittlung, die Unzugänglichkeit für das Denken, als ein Beweis für die Wahrhaftigkeit eines nicht erklärbaren Arguments gelten? Allein der Versuch, eine allgemeine Antwort auf solche Fragen zu finden, zeugt von einem Denken, das sich innerhalb rationaler Kategorien bewegt. Kierkegaard geht es in dieser Problemstellung allerdings nicht darum, die Grenzen rationalen Denkens zu markieren. Denn dies würde ebenfalls einer allgemeinen Antwort bedürfen. Abrahams Paradox lässt sich theoretisch nicht lösen, da es dem Denken „unzugänglich“ ist, es bleibt aber ein praktisches Problem und muss als ein solches behandelt werden, als ein Problem des Einzelnen in der radikal besonderen Situation, die sich jedem kommunikativen Verstehensversuch entzieht. In einer solchen Situation wird der Einzelne notwendigerweise mit den Denk- und Verhaltensstrukturen des Allgemeinen, mit sittlichen Normen konfrontiert, wobei sich herausstellt, dass diese in Bezug auf seine konkrete, besondere Situation keinen Gebrauch finden, keine Relevanz haben können – und so verlieren sie in dieser Hinsicht an Kraft und Gültigkeit. Da es sich dabei um eine besondere Ausnahmesituation handelt, werden alle gültigen Mitteilungs- und Kommunikationsformen auf einmal irrelevant. Wilfried Greve erläutert den intersubjektiven Aspekt des Problems: Das Allgemeine bedeutet als Sittliches, als Norm für Gemeinschaft, zugleich das Allgemeinverständliche oder Offenbare. Ein der Norm entsprechendes Handeln würde sich of-
SKS 4, 150 / FZ, 59.
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fenlegen, legitimieren können; und Legitimierbarkeit setzt Kommunizierbarkeit, intersubjektive gedankliche Nachvollziehbarkeit voraus.¹¹⁰
Die ethische Forderung, sich entweder an bestehenden Strukturen zu orientieren oder in gegebenen Situationen die Unzulänglichkeit dieser Strukturen zum Ausdruck zu bringen, um sie zu verändern, bringt Kierkegaard zufolge den Einzelnen in eine schwierige Situation, in eine Art Zwickmühle. Denn Abrahams Situation macht beides unmöglich: Er kann sein Handeln weder an ethischen Prinzipien ausrichten noch kann er eine allgemeine Kritik an diesen Prinzipien äußern, die sein Handeln legitimieren würde. Er kann sein Handeln auf keine Weise legitimieren, da jeder Legitimationsversuch auf das ethische Prinzip einer Mitteilbarkeit zurückführt. Diesem „Double Bind“ von ethischer und kommunikativer Inadäquanz entsprechen der negativ-ethische Begriff der Ausnahme und das negativ-intersubjektive Verständnis des Schweigens: In der Besonderheit seiner Situation wird der Einzelne durch beides charakterisiert, er stellt eine Ausnahme zur bestehenden ethischen Ordnung dar und kann sich als solche Ausnahme nicht artikulieren, nicht verständlich machen. Seine Ausnahmesituation zwingt ihn zu schweigen. Kierkegaards paradoxes Argument gegen die bestehende „ethische“ Ordnung und für den Vorrang der Innerlichkeit betrifft diese Spannung von einerseits Ausnahme als Herausforderung der bestehenden Ordnung, die den Ausnahmefall nicht einbeziehen kann, und andererseits Schweigen als dem Unvermögen des Einzelnen, sich an den Prinzipien und sprachlichen Regelungen (denn die sprachliche Kommunikation ist eine Grundbedingung ethisch-sittlicher Ordnung) zu orientieren und sich entsprechend zu artikulieren. Die Schwierigkeit besteht gerade in der Gleichzeitigkeit beider Bestimmungen des Einzelnen als Besonderen. Denn jede der beiden Bestimmungen – als Ausnahme und durch das Schweigen – ist als solche problematisch, aber an sich nicht aporetisch. Die Ausweglosigkeit resultiert erst aus der Koexistenz beider: Sofern der singuläre Einzelne eine Ausnahme von der bestehenden Ordnung darstellt, lässt er diese Ordnung in einem kritischen Licht erscheinen. Ihre Legitimitätsansprüche werden damit in Frage gestellt. Dies würde aber ein Artikulationsvermögen voraussetzen; die Ausnahme, die der Einzelne verkörpert, müsste in rationale Begriffe allgemeinverständlicher Kritik übersetzt werden und sich auf rationale und kommunikative Weise begründen. Die andere Seite des Arguments besagt jedoch, radikale Ausnahmefälle wie der Fall Abrahams entzögen sich jeder rationalen Mitteilung; das Schweigen sei ihr einzig mögliches Medium. Eine wahre Ausnahme kann sich demnach nicht in eine ausformulierte Kritik am Ethischen oder am Gemeinwesen
Greve, Kierkegaards maieutische Ethik, S. 181.
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verwandeln, weil sie in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu diesem steht. In praktischer Hinsicht ist die ethische Bedeutung der wahren Ausnahme nämlich, dass sie keine ethische Bedeutung haben kann. Das Ethische wird im Ausnahmefall bloß suspendiert; es verliert jede Bedeutung für das „ausgenommene“ Subjekt. Diese Bedeutung dieses Paradoxes ist jedoch eine praktische: Das Paradox muss erfahren, erlebt werden; es kann nicht sprachlich erläutert und mitgeteilt werden. Erst mit einem derartigen praktischen Verständnis des Paradoxes gewinnt die Behauptung vom Vorrang der Innerlichkeit ihre Plausibilität.
Ästhetische Erfahrung. Wiederholung und Ausnahme Gleichzeitig mit der Veröffentlichung von Furcht und Zittern – und das heißt buchstäblich am gleichen Tag im Oktober 1843 – erschien auch Kierkegaards pseudonyme Schrift Die Wiederholung.¹¹¹ Zusammen bilden beide Schriften, ähnlich wie beide Bände von Entweder/Oder, eine Einheit, in der die beiden Seiten der ethisch-ästhetischen Innerlichkeitsproblematik gegenübergestellt werden. Im Gegensatz zu Entweder/Oder, in dem die Protagonisten jeweils an ihrer ästhetischen und ethischen Innerlichkeitsauffassung beharrlich festhalten, verdeutlicht Die Wiederholung gerade das Brüchige an der ästhetischen Innerlichkeit, während Furcht und Zittern das Scheitern des Ethischen als solchen thematisiert. Erst aus diesem Bruch und Scheitern jener positiv gesetzten Lebensanschauung entsteht die Konzeption der negativen Innerlichkeit, die aus einem Paradox hervorgeht und dem inkommensurablen Charakter des Besonderen gerecht zu werden vermag. Furcht und Zittern und Die Wiederholung lassen sich insofern als kritische Anknüpfungen an Entweder/Oder betrachten. Sie ermöglichen einen negativ-kritischen Blick auf die Fragen nach der ästhetisch-ethischen Konstitution der Innerlichkeit. Die Wiederholung handelt von der Möglichkeit und Unmöglichkeit ästhetischer Erfahrung im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Konstitution der Innerlichkeit. Der pseudonyme Schriftsteller Constantin Constantius beschreibt das Scheitern seines Versuchs, die ästhetischen Erfahrungen einer früheren BerlinReise durch einen erneuten Besuch wiederzubeleben. Die Beobachtungen über die Nicht-Wiederholbarkeit der ästhetischen Erfahrungen korrelieren mit der Geschichte eines jungen Dichters, mit dem der Erzähler in Kopenhagen befreundet war. Die Geschichte des Dichters berührt den Erzähler und beeindruckt ihn, da sie ebenfalls das Problem ästhetischer Wiederholung betrifft: Der junge Dichter verliebt sich in eine junge Frau, beendet aber rasch seine Beziehung zu ihr, um das
Vgl. Hirsch, „Geschichtliche Einleitung zur vierten, fünften und sechsten Abteilung“, in FZ, S. vii.
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ästhetische Moment der Liebe zu bewahren. Denn in der Liebesbeziehung scheint das ästhetische Glücksmoment der Liebe verloren zu gehen. „Gegenstand der Wiederholung ist also nicht der Genuß, sondern die abhanden gekommene Genußbedingung.“¹¹² Um diese „Genußbedingung“ als Bedingung der Möglichkeit ästhetischer Erfahrung zu bewahren, soll der junge Dichter zwischen seiner dichterischen Existenz und der Liebesbeziehung trennen, zwischen ästhetischer Innerlichkeit und dem Bezug zum Außen, zum Objekt seiner Liebe. Denn die Unmöglichkeit, einen direkten Bezug zwischen dem ästhetischen Empfinden und dem jungen Mädchen herzustellen, führe ihn in eine tiefe Schwermut; „ob sie auf der Welt war oder nicht auf der Welt war, das war in gewissem Sinne in der Wirklichkeit für ihn ohne Bedeutung“.¹¹³ Hinsichtlich der Subjektivitätsfrage veranschaulicht der junge Dichter für den Erzähler das Moment der Ausnahme. „Ein Dichter ist im Allgemeinen eine Ausnahme.“¹¹⁴ Seine ästhetische Existenz bestehe nicht in der Genusserfahrung als solcher, sondern in der Erfahrung ihrer Unmöglichkeit. Durch die Besonderheit der inneren Verfasstheit seiner Situation verweist der Dichter auf die grundsätzliche Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen dem ästhetischen Charakter seiner dichterischen Existenz und seiner Liebe zu der jungen Frau: Diese Liebe kann, so der Erzähler, nur nach den Maßstäben des Allgemeinen realisiert werden – und somit wird ihr ästhetisches Moment verraten. Der pseudonyme Erzähler Constantin Constantius erläutert dieses Problem in Hegelscher Terminologie als einen Konflikt zwischen Besonderem und Allgemeinem. Allerdings wird hier die Möglichkeit einer Versöhnung in Zweifel gezogen. Der junge Dichter verbildlicht die Idee der Ausnahme – nicht weil er sich mit dem Allgemeinen, mit dessen ethischer Forderung an die Liebe (Liebesbeziehung, Ehe) nicht versöhnen will, sondern weil er es nicht kann. Davon zeugt seine Schwermut als eine innere Reaktion auf den Abgrund zwischen Besonderem und Allgemeinem. Die Schwermut ist demnach ebenfalls ein Ausdruck der Unüberbrückbarkeit, der Inkommensurabilität von Innen und Außen. In seinem abschließenden Brief an den Leser erläutert Constantin Constantius seine Idee der Ausnahme etwas genauer. Die Ausnahme stelle in den meisten Fällen eine Herausforderung für das Allgemeine, für die ethische Ordnung dar. Auf der einen Seite steht die Ausnahme, auf der andern das Allgemeine, und der Kampf selbst ist ein wunderlicher Widerstreit zwischen des Allgemeinen Zorn und Ungeduld über all den Lärm, den die Ausnahme verursacht, und des Allgemeinen verliebte Vorliebe für die Aus-
Greve, Kierkegaards maieutische Ethik, S. 151. SKS 4, 16 / W, 11. SKS 4, 93 / W, 94.
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nahme; denn das Allgemeine freut sich in allerletztem Betracht ebenso sehr über die Ausnahme, wie der Himmel über einen Sünder, der Buße tut. […] Auf der andern Seite streiten der Ausnahme Aufsässigkeit und Trotz, ihre Schwachheit und Kränklichkeit.¹¹⁵
Die Spannung zwischen der ethischen Ordnung und dem besonderen Fall, der sich in diese Ordnung nicht integrieren kann, wird als eine Art Kampf dargestellt, der zugleich auf jeder dieser Seiten ein innerer Kampf ist: Das Allgemeine wird durch den besonderen Fall provoziert, wird von diesem aber profitieren, sobald es das Besondere an sich heranziehen kann. Der besondere Fall der Ausnahme ist wiederum durch die Weigerung gekennzeichnet, das Allgemeine zu affirmieren und sich darin zu integrieren. Dabei wird eine wichtige Unterscheidung getroffen, die für das Kierkegaardsche Argument von großer Bedeutung ist: die Unterscheidung zwischen der berechtigten und der unberechtigten Ausnahme. Die nach dieser Unterscheidung unberechtigte Ausnahme hat weitreichende Konsequenzen für die Idee der Innerlichkeit. Das Verhältnis ist dies. Die Ausnahme denkt, indem sie sich selber durchdenkt, zugleich das Allgemeine, […] und sie erklärt das Allgemeine, indem sie sich selber erklärt. Die Ausnahme erklärt mithin das Allgemeine und sich selber, und wenn man das Allgemeine so recht studieren will, braucht man sich bloß nach einer berechtigten Ausnahme umzusehn; sie zeigt alles weit deutlicher auf als das Allgemeine selbst. Die berechtigte Ausnahme ist in dem Allgemeinen versöhnt.¹¹⁶
Die berechtigte Ausnahme bildet insofern eine Abweichung von ethischen Strukturen, sie ist jedoch in diesen Strukturen selbst fundiert und erklärt sie daher auch. Sie ist zwar eine Herausforderung der bestehenden Ordnung, lässt sich aber zugleich nur von dieser Ordnung aus verstehen. Sie vermag zwar die Gültigkeitsansprüche des Allgemeinen einigermaßen zu erschüttern – allerdings nur, um es gerade dadurch zu verstärken und zu legitimieren. „Hat die Ausnahme dazu nicht die Macht, so ist sie nicht berechtigt.“¹¹⁷ Das Unvermögen, sich mit dem Allgemeinen zu versöhnen, macht die Ausnahme zu einer unberechtigten. „Die unberechtigte Ausnahme wird eben daran kenntlich sein, daß sie von außen um das Allgemeine herumgeht.“¹¹⁸ Die unberechtigte Ausnahme wird in Kierkegaards Wiederholung durch den jungen Dichter verkörpert. Sie stellt keine subjektive Kritik am Bestehenden dar. Vielmehr illustriert sie die grundsätzliche Diskrepanz zwischen Besonderem und Allgemeinem, das
SKS 4, 92 / W, 93. SKS 4, 93 / W, 93. Ebd. SKS 4, 92 / W, 92– 93.
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Unvermögen des Einzelnen, sich in verständlichen ethischen Kategorien auszudrücken. Hierin wird auch die Ergänzung zu Abrahams Problem in Furcht und Zittern erkennbar: Abrahams Geschichte zeugt von der Unmöglichkeit, das Besondere der Ausnahme zum Ausdruck zu bringen. Gerade weil es sich dabei um eine solche Ausnahmesituation – nach den Begriffen der Wiederholung eine unberechtigte Ausnahme – handelt, die sich nicht als solche mitteilen kann, ist paradoxerweise das einzige Kommunikationsmittel, das für Abraham bleibt, eben das Schweigen. Das dritte und letzte „Problema“, das in Furcht und Zittern abgehandelt wird, fragt nämlich danach, ob es „ethisch verantwortlich von Abraham [war], daß er sein Vorhaben […] verschwiegen hat“.¹¹⁹ Darin kommt Kierkegaards pseudonymer Verfasser Johannes de Silentio auf die Bedeutung des Schweigens als ethisches Problem und als Ausdruck inkommensurabler Innerlichkeit zu sprechen. Ein ethisches Problem stellt das Schweigen für die Hegelsche Sozialphilosophie dar. Ihr zufolge ist es ethische Aufgabe des Einzelnen, sich aus seiner Verstecktheit herauszuwickeln und offenbar zu werden in dem Allgemeinen. Jedesmal somit, daß er in dem Versteckten verharrt, versündigt er sich und liegt in Anfechtung, und er kommt aus ihr nur heraus, indem er offenbar wird.¹²⁰
Genau diese Auffassung bestreitet de Silentio. Abrahams Geschichte ist für ihn exemplarisch für die Untragbarkeit der Hegelschen Forderung. Nicht die freie Weigerung, sich den Strukturen des Ethisch-Allgemeinen zu entziehen, sondern die prinzipielle Unmöglichkeit, sich aus der „Verstecktheit herauszuwickeln“, ist hier von Bedeutung. Für de Silentio „[schließt die] Hegelsche Philosophie […] eine rechtmäßige Verstecktheit, eine rechtmäßige Inkommensurabilität aus“.¹²¹ Eine solche Inkommensurabilität sieht er jedoch in Abrahams Geschichte als radikalen Ausdruck seiner Singularität. Abraham schweigt, – aber er kann nicht sprechen, darin liegen die Not und die Angst. Wenn ich nämlich damit, daß ich spreche, mich nicht verständlich zu machen vermag, so spreche ich nicht. […] So ist es bei Abraham. Er kann alles sagen; aber Eines kann er nicht sagen, und doch wo er das Eine nicht sagen kann, d. h. es so sagen kann, daß ein andrer es versteht, so spricht er nicht.¹²²
SKS 4, 172 / FZ, 91. Ebd. Ebd. SKS 4, 201 / FZ, 129.
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Das Schweigen, das mit der Besonderheit der Situation des Einzelnen korreliert, ist insofern nicht ein freiwilliges, beabsichtigtes, sondern ein Schweigen, das aus einem Unvermögen folgt, sich kommunikativ und verständlich zu artikulieren. Die subjektive Erfahrung, durch die das Gefühl einer Pflicht entsteht, den eigenen Sohn zu opfern, kann als solche niemals kommuniziert werden. Damit verliert für ihn die ethische Forderung, „offenbar zu werden“, jede Bedeutung. Er kann ihr nicht Folge leisten. Seine Individualität – als Verstecktheit oder Inkommensurabilität – ist hier vielmehr eine Art Verdammnis: Er entscheidet sich nicht, individuell oder sogar unverständlich zu handeln, sondern wird zu diesem Handeln gezwungen, geworfen, verdammt.¹²³ Daher bleibt das Schweigen sein einzig möglich-unmögliches Kommunikationsmedium.
„Die Wunde der Negativität“: Der „existierende subjektive Denker“ und die Wahrheit Das inkommensurable Selbst ist für Kierkegaard keine theoretisch-abstrakte Denkfigur. In seinen verschiedenen pseudonymen literarischen Schriften bezieht er sich auf Personen, fiktive wie historische, in deren Leben und Handeln eine inkommensurable Besonderheit zum Ausdruck kommt. Kierkegaard nennt Sokrates, Antigone und Abraham, neben anderen erfundenen literarischen Figuren. Er bezieht sich zudem auch direkt auf den Leser seiner Schriften selbst, den er als einen besonderen Einzelnen adressiert. Kierkegaards Vorstellung eines „existierenden subjektiven Denkers“, auf den sich sein gesamtes philosophisches Denken richtet, entspricht seiner Vorstellung vom Leser seiner Schriften. In der Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift erklärt der pseudonyme Verfasser Johannes Climacus die Differenz eines „existierenden subjektiven Denkers“ von den Vertretern objektiven Denkens, allen voran, implizit wie explizit, wieder: von Hegel. Diese Differenz ist durch die beiden Begriffe Innerlichkeit und Negativität zu erläutern. Denn dies sind jene Eigenschaften des „existierenden subjektiven Denkers“, die ihn in ein Verhältnis zur Wahrheit setzen. Zunächst markiert Kierkegaard-Climacus den entscheidenden Unterschied des „subjektiven Denkers“ vom hegelianischen „objektiven Denken“, das „gegen
Kierkegaard macht indes darauf aufmerksam, dass Abraham kein tragischer Held ist. Er handele nicht aus ethischen Motiven, und aus seinem Leid könne keine ethische Lehre gezogen werden. Vgl. SKS 4, 201 / FZ, 129: „Der eigentliche Held opfert sich und alles, was sein ist, für das Allgemeine; sein Tun, alles, was sich in ihm rührt, gehört dem Allgemeinen zu, er ist offenbar und in diesem Offenbarsein ist er der Ethik lieber Sohn. Das paßt nicht zu Abraham, er tut nichts für das Allgemeine, und er ist versteckt.“
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das denkende Subjekt und dessen Existenz gleichgültig“ sei.¹²⁴ Das objektive Denken sei ferner auch „ganz gleichgültig gegen die Subjektivität und damit gegen die Innerlichkeit und die Aneignung“¹²⁵. Es steht hier dem „subjektiven Denker“ gegenüber, in seiner Existenz und Innerlichkeit: Ein abstrakt-allgemeines Denken gegenüber einem konkret-besonderen Denker, ein System gegenüber einem Einzelnen. Von Objektivität ist hier immer in einem abstrakten Sinne die Rede, als einem System, oder im Plural, als der Mehrzahl der Vertreter positiven Denkens, während vom Subjekt immer im Singular die Rede ist, konkret, in Bezug auf ein einzelnes Individuum. Und dies, obwohl Kierkegaard-Climacus auch mit dem Begriff des „objektiven Denkens“ nicht nur eine Denkungsart, sondern bestimmte Individuen im Sinne hat. Er verteidigt den abweichenden, besonderen Einzelnen gegen die „Mehreren“, die das Allgemeine vertreten. Die Wahrheit der Subjektivität entsteht nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung des einzelnen Subjekts mit den zahlreichen Vertretern des Bestehenden. Kierkegaard nennt sie die „Positiven“, weil sie die Positivität des objektiv-allgemein Geltenden vertreten, weil sie – im Hinblick auf die Wahrheitsfrage der Philosophischen Brocken – die Wahrheit an objektive Tatsachen, an historisches Wissen binden. Man „hört […] oft genug“, so Kierkegaard-Climacus spöttisch, „den Wortschwall der Positiven und ihre Dankgebete zu Gott und Hegel, daß sie nicht seien wie jene Negativen, sondern Positive geworden seien“.¹²⁶ Damit werden die hegelianischen Verteidiger der bestehenden Ordnung mit Vertretern der dogmatischen Kirche in einen Zusammenhang gebracht. Beide seien im Grunde der gleichen positivistischen Auffassung: Sie lehnen die Möglichkeit subjektiver Wahrheit ab, weil sie nach einer Berechtigung im Objektiven suchen. Deshalb werden sie als Kontrahenten des Einzelnen, des „existierenden subjektiven Denkers“ angesehen. Aus der Kritik an den „Positiven“ und ihren Denkweisen heraus entwickelt Kierkegaard seine eigene Auffassung von der Negativität des subjektiven Denkers, die ihm zur Wahrheit verhilft. Diese Kritik besagt, dass die eigentliche Wahrheit „positivem Denken“ versperrt bleibt; es kann zwar richtige, geltende Tatsachen feststellen, die empirische Welt sinnlich wahrnehmen – aber eine Wahrheit, die für das Subjekt wirkliche Bedeutung hat, kann es niemals gewinnen. Das Positive beim Denken läßt sich nun auf folgende Bestimmungen beziehen: sinnliche Gewißheit, historisches Wissen und spekulatives Resultat. Aber dieses Positive ist gerade das
SKS 7, 73 / AUN1, 65. SKS 7, 76 / AUN1, 67; vgl. dazu Joachim Ringleben, Aneignung. Die spekulative Theologie Søren Kierkegaards, Berlin und New York 1983, S. 123 – 127. SKS 7, 80 / AUN1, 72– 73.
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Unwahre. Die sinnliche Gewißheit ist Trug […]; das historische Wissen ist Sinnestäuschung […]; und das spekulative Resultat ist Blendwerk.¹²⁷
Hier klingt eine direkte Kritik an Hegel mit, die sich gegen die sinnliche Gewissheit richtet und gegen die Idee, dass das Positive zugleich das Wahre sei.¹²⁸ All diese Errungenschaften objektiven Denkens vermögen es nicht, das Subjekt in ein Verhältnis zur Wahrheit zu setzen. Für Kierkegaard-Climacus sind sie falsch, weil sie nur ein Schein von Wahrheit sind, sie handeln nur vom Illusorischen, Oberflächlichen und Ephemeren; mithin nicht von dem, was dem lebenden und handelnden Subjekt Sinn und Bedeutung geben kann und worauf Climacus’ Wahrheitsfrage abzielt. Auf diese Frage habe das positive, objektive Denken keine Antwort. Kierkegaard-Climacus versteht das Denken des „existierenden Subjekts“ als negativ, weil es nicht auf allgemeingültige und objektiv geltende Antworten zurückgreift. Es muss sich in ein Verhältnis zur Unendlichkeit als absoluter Negativität setzen. Die Negativität, die im Dasein ist, oder richtiger: die Negativität des existierenden Subjekts (die sein Denken wesentlich in adäquater Form wiedergeben muß) ist in der Synthese des Subjekts begründet, daß es ein existierender unendlicher Geist ist. Die Unendlichkeit und das Ewige sind das einzige Gewisse, aber indem es im Subjekt ist, ist es im Dasein, und der erste Ausdruck dafür ist seine Trüglichkeit und dieser ungeheure Widerspruch, daß das Ewige wird, daß es entsteht.¹²⁹
Climacus greift hier freilich auf die Bestimmung des Menschen als „Synthese des Zeitlichen und des Ewigen“ aus Der Begriff Angst zurück.¹³⁰ Dieses Inkommensurabilitätsverhältnis, die Differenz von Gegenwärtigkeit und Unendlichkeit, ist demnach eine Bestimmung des Lebens des „existierenden Subjekts“ als negatives, weil der Bezug zur Unendlichkeit ein unmöglicher ist, in seiner eigenen Unmöglichkeit gegründet ist. Das existierende Subjekt ist ewig, aber als existierend ist es zeitlich. Das Trügerische der Unendlichkeit besteht nun darin, daß in jedem Augenblick die Möglichkeit des Todes vorhanden ist. Alles positive Sicherheitsgefühl ist auf diese Weise verdächtig gemacht.¹³¹
SKS 7, 80 – 81 / AUN1, 73. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in Werke, Bd. 3, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 2003, S. 82– 92. SKS 7, 81 / AUN1, 74. SKS 4, 388 / BA, 86. SKS 7, 82 / AUN1, 74.
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Dass das Subjekt zeitlich und sterblich ist, hindert es daran, einen Bezug zur Unendlichkeit zu haben, der ihm zugleich, wäre es möglich, Sicherheit, Gewissheit und Wahrheit gewähren könnte. Und gerade deshalb begnügt es sich nicht mit objektiven, empirischen Wahrheiten, die das Bestehende bloß wiedergeben und bestätigen, sondern strebt nach dem unmöglichen Bezug zur Unendlichkeit, der nicht objektiv und allgemeingültig sein kann, sondern durch Innerlichkeit vermittelt sein muss. Dieser „Gedanke der Unendlichkeit [ist] so unendlich, daß er meine Existenz gleichsam in ein verschwindendes Nichts verwandelt“.¹³² Das Nichts ist hier jedoch nicht nihilistisch zu verstehen, sondern konstitutiv – aus ihm entspringt die radikale Ironie, die das Subjekt in der Negativität seiner Innerlichkeit konstituiert. Gerade in diesem Zusammenhang bezieht sich Climacus wieder auf Sokrates: „Die Ironie des Sokrates nimmt unter anderem, gerade wenn er die Unendlichkeit hervortreten lassen will, die Form an, daß er in erster Instanz wie ein Wahnsinniger redet.“¹³³ Sokrates ist in seiner Ironie ganz unverständlich, weil er sich auf die Unendlichkeit bezieht, auf die absolute Negativität – und diese ist nicht direkt mitteilbar. Sokrates’ Ironie muss als Wahnsinn erscheinen, weil sie in ihrem Bezug zum bestehenden Objektiven ganz unverständlich ist. Sie ist Ausdruck der Negativität seiner Innerlichkeit, die sowohl dem Außen als auch sich selbst inkommensurabel ist, weil sie ein subjektives Verhältnis zur Unendlichkeit, zum Absoluten ist. Dieser Wahnsinn in erster Instanz kann dann zugleich für Sokrates bedeutet haben, daß er, während er mit den Menschen sprach, in dem, was er sagte, zugleich ganz privatim mit der Idee konferierte, was keiner verstehen kann, der nur direkt reden kann, und was nichts nützt, ein für allemal zu sagen, da das Geheimnis gerade darin besteht, daß es immer und überall zur Stelle sein muß im Gedanken und in dessen Ausdruck, ebenso wie es überall im Dasein zur Stelle ist. Es ist insofern gerade das Richtige, daß man nicht verstanden wird; denn dadurch ist man ja gegen Mißverstehen gesichert.¹³⁴
Die Unverständlichkeit der sokratischen Ironie (ein durchaus zweifelhafter Garant der Wahrheit) versteht Climacus als herrührend aus der Negativität, die sein Inneres vom Außen trennt. Sie ist negativ nicht nur,weil sie bloß unverständlich, den anderen unzugänglich ist, sondern weil sie sich auf das Unendliche und Absolute richtet, sich in ein Verhältnis zu diesem setzt. Sokrates’ Selbst- und Weltbezug ist durch dieses unbekannte Absolute vermittelt, das oft auch sein Dämon heißt und
Ebd. SKS 7, 83 / AUN1, 75. SKS 7, 83 / AUN1, 75 – 76.
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ihn stets daran hindert, die bestehende Ordnung zu akzeptieren und zu affirmieren. Das ist der Ursprung jeder Kritik als Negation des Bestehenden. Die Negativität bedeutet hier folglich beides: Sie ist zugleich Kritik und Unmöglichkeit. Sie bedeutet die unüberbrückbare Diskrepanz des einzelnen Subjekts vom objektiv Bestehenden, die es dazu veranlasst, in einem kritischen Verhältnis zum Allgemeinen zu stehen – wie Sokrates zum griechischen Staat –, sobald das Allgemeine auf einer trügerischen Positivität beruht. Und sie bedeutet das Unvermögen ebendieses Subjekts, sich selbst transparent, sich selbst souverän, verständlich zu machen, wenn es sich in ein Verhältnis zur Unendlichkeit setzt. Der subjektive existierende Denker, der die Unendlichkeit in seiner Seele hat, hat sie immer, und daher ist seine Form beständig negativ. […] Er weiß, daß das Unendliche negativ ist in Bezug auf das Dasein, er hält beständig diese Wunde der Negativität offen, was ja zuweilen das Rettende ist (die anderen lassen die Wunde zuwachsen und werden Positive – Betrogene) […].¹³⁵
Die „Wunde der Negativität“, ebenfalls eine Anspielung auf Hegels Begrifflichkeit, entsteht durch die Gleichzeitigkeit von Notwendigkeit und Unvermögen des „existierenden Subjekts“, sich in ein direktes Verhältnis zur Unendlichkeit, zum Absoluten zu setzen. Sie bedeutet eine schmerzhafte Offenheit im Subjekt selbst, die sowohl seine Identität mit sich selbst als auch seine Integrierbarkeit in die bestehende Ordnung verhindert.¹³⁶ Die Wunde ist die entscheidende Metapher für die Negativität der Innerlichkeit: Sie tritt buchstäblich an der Schnittstelle von Innen und Außen auf, dort, wo das Innen des Subjekts am stärksten der Gefahr einer „Kontamination“ durch das Außen ausgesetzt ist und wo es zugleich einer äußeren Intervention bedarf, um zu verheilen. Aber genau gegen eine solche Intervention, gegen das Verheilen wendet sich Climacus. Die Wunde „zuwachsen zu lassen“ bedeutet, die Negativität im Hegelschen Sinne positiv werden zu lassen, eine positive Antwort auf die offenen Fragen zu bieten (oder überhaupt zu suchen). Diese Antworten gelten Climacus-Kierkegaard allerdings als Selbstbetrug, denn sie greifen auf objektives Wissen in subjektiven Fragen zurück. Das Offenlassen der Wunde ist insofern ein Festhalten an negativer Dialektik: an dem notwendigen, aber unmöglichen Verhältnis zur Unendlichkeit. Und dieses birgt in sich die Fähigkeit zur Rettung – Rettung des Besonderen, des einzelnen Subjekts. Denn solange die Wunde nicht zuwächst, solange das Subjekt auf seiner Negativität –
SKS 7, 84 / AUN1, 76 – 77. Vgl. Sophie Wennerscheid, Das Begehren nach der Wunde. Religion und Erotik im Schreiben Kierkegaards, Berlin 2008, S. 14: „Der Einzelne als Wunde wird dabei als das Moment aufgewertet, das sich der vollständigen Integration in diese Ordnung nicht nur entzieht, sondern als Entzogenes das System der Ordnung zugleich bedroht.“
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als Kritik, als Unverständlichkeit, als Unmöglichkeit der Identität und der Integrierbarkeit – beharrt, bleibt die Rettung vor den Einverleibungstendenzen des Allgemeinen möglich. Die Wunde der Negativität ist, wie die sokratische Innerlichkeit, Ausdruck eines Unausdrückbaren: der verborgenen, unverständlichen, ironischen Wahrheit des einzelnen „existierenden Subjekts“.
Teil II Adornos Kierkegaard. Kritik der Innerlichkeit
1 Innerlichkeit als „Intérieur“. Adornos frühe Kierkegaard-Lektüre Dass Subjektivität durch einen negativen Prozess konstituiert wird, der durch die individuelle ästhetisch-ethische Erfahrung und ihre kritische Hinterfragung auf einen Begriff von Wahrheit abzielt, ist eine Kernthese im Denken Theodor W. Adornos – nicht zuletzt in seiner direkten und impliziten Auseinandersetzung mit Kierkegaards Philosophie. Adornos Habilitationsschrift Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, 1933 als sein erstes Buch veröffentlicht, beschäftigt sich mit dem impliziten „Wahrheitsgehalt“ von Kierkegaards Philosophie vermittels einer kritischen Lektüre der „Denkbilder“ und Konstellationen in seinem Denken. Adornos Interpretationsansatz besteht in einer Freilegung der religiösen Gedanken Kierkegaards als einer „Konstruktion des Ästhetischen“. Dabei hinterfragt er vor allem die Kierkegaardsche Fundierung subjektiver Wahrheit, seinen Begriff der Innerlichkeit als einer negativen Konzeption – und zeigt ihre innere Logik und ihre inneren Widersprüche. So wird die „Philosophie der Innerlichkeit“ als eine Form zurückgezogener, resignierter Subjektivität gelesen, die gerade in ihrer Negativität, in der „Ausschaltung“ der allgemeinen Wirklichkeit, einen objektiven Gehalt zum Ausdruck bringt – gegen Kierkegaards eigene Absicht. Kierkegaards negative Konzeption der Innerlichkeit, der zufolge gerade Unverständlichkeit und die Unmöglichkeit direkter Mitteilung subjektive Wahrheit konstituieren, wird von Adorno als wahr und unwahr zugleich beschrieben. Unwahr sei diese Konzeption gemessen an Kierkegaards ursprünglicher Intention – als ein abstraktes Selbst, losgelöst und unabhängig von objektiv-allgemeinen Gegebenheiten. Denn dabei verrate die Konzeption ihr eigenes Ziel einer „Rettung“ des einzelnen, besonderen Individuums in dessen Freiheit und subjektiver Wahrheit. Wahr sei sie aber insofern, als sie eine soziale Tendenz, eine historisch gegebene Form, ein gesellschaftlich produziertes „Bedürfnis“ nach „wahrer Individualität“ darstelle – in Zeiten, die diese Form als notwendig erscheinen lassen und zugleich verunmöglichen. Die Provokation, die dabei von Adornos Auseinandersetzung mit Kierkegaard ausgeht, ist die Gleichsetzung von Subjektivität und Ästhetik. Denn für Kierkegaard steht im Zentrum des Interesses der subjektive Denker als ein Kritiker jener ästhetischen (und ethischen) Anschauungen seiner Zeit. Gerade die kritische Auseinandersetzung mit den ästhetischen Tendenzen der Romantik und mit den affirmativ-ethischen Forderungen von Kant und Hegel begründet für ihn eine negative Konzeption von Subjektivität als Innerlichkeit. Für Adorno stellt Kierkegaards Innerlichkeit jedoch vor allem eine ästhetische Konstruktion dar. Diese Vorgehensweise könnte einerseits als eine Lektüre Kierkegaards gegen dessen eigene Absicht gedeutet werden. Dabei wird die Existenzphilosophie, vor allem die
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Bedeutung der Subjektivität in ihr, als eine durchaus ästhetische Konstruktion begriffen. Damit werden wichtige Aspekte des Verhältnisses von Subjektivität, Ästhetik und Wahrheit beleuchtet. Es ist andererseits nicht auszuschließen, dass Adorno an Kierkegaards Intention, und damit an der Grundlage seiner Philosophie, achtlos vorbeigeht und ihm so die wirkliche Bedeutung der Idee der Innerlichkeit entgeht. Meine Interpretation bezieht sich auf beide Fragen – jedoch nicht um herauszufinden, ob Adornos Konstruktion der Kierkegaardschen Philosophie philologisch gerecht wird, sondern vor allem um Adornos eigenen Gedanken zu befragen, der sich in der und durch die Kritik an Kierkegaard entwickelt. Es wird sich also zeigen, dass beides in dem Buch geschieht: Ich werde zeigen, dass Adorno wichtige Denkansätze Kierkegaards (absichtlich oder unabsichtlich) missversteht, an entscheidenden Erkenntnissen vorbeigeht – dabei jedoch zu einer Erkenntnis gelangt, die für das Verständnis der Kierkegaardschen Philosophie an sich vielleicht nicht sehr aufschlussreich ist, allerdings auf ein wesentliches Problem im Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem, von Subjektivität und Gesellschaft, schließlich von Kritik und ihrer Realisierungsmöglichkeit hinweist. Innerhalb der umfangreichen Forschungsliteratur zu Kierkegaards und zu Adornos Denken beschäftigen sich recht wenige Arbeiten mit dem philosophischen Verhältnis zwischen den beiden. Dies darf auf die Eigenart der Kierkegaard-Deutung Adornos zurückgeführt werden, die oft als äußerst problematisch, wenn nicht gar als bloßes Missverständnis abgelehnt wird. Lediglich einzelne Studien widmen sich diesem Verhältnis und untersuchen Kierkegaards Einfluss auf Adorno und seine Präsenz in dessen Denken sowie die thematische Verwandtschaft ihrer Konzeptionen. Bemerkenswert ist dabei, dass gerade die Relevanz des Ästhetischen für die Herausbildung freier, authentischer Subjektivität in diesen wenigen Studien kaum Beachtung findet.¹ Das Verbindende zwischen der Konstruktion des Ästhetischen
Hermann Deusers Dialektische Theologie. Studien zu Adornos Metaphysik und zum Spätwerk Kierkegaards (München 1980) thematisiert gründlich und ausführlich die Problematik der Innerlichkeit in existenzphilosophischer und ideologiekritischer Hinsicht. Die Bedeutung des Ästhetischen für die Subjektivitätstheorie ist jedoch in der theologischen Perspektive der Untersuchung wenig relevant. Ähnlich verhält es sich in Elke Becks Arbeit Identität der Person. Sozialphilosophische Studien zu Kierkegaard, Adorno und Habermas (Würzburg 1991), in der allerdings auf kunsttheoretische Argumente rekurriert wird, um die Frage nach Selbstfindung und Verantwortung zu stellen. Das Verhältnis zwischen Kierkegaards und Adornos Argumenten wird in beiden Arbeiten strukturell-vergleichend herausgearbeitet. Karin Pulmers Studie Die dementierte Alternative. Gesellschaft und Geschichte in der ästhetischen Konstruktion von Kierkegaards ‚Entweder-Oder‘ (Frankfurt am Main 1991) widmet sich hingegen der sozialhistorischen Relevanz des Ästhetischen in Adornos Kierkegaard-Rezeption. In den verschiedenen Arbeiten
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und Adornos Ästhetischer Theorie, geschrieben über 30 Jahre später, ist mehr als nur der Begriff des Ästhetischen, sondern ein spezifischer Gedanke, der auf die Denkverwandtschaft zwischen Kierkegaard und Adorno hinweist: „Both titles testify to the particular role and significance not only of aesthetics, but also, as will become evident soon, of Kierkegaard for Adorno’s overall thought.“² Die nachfolgende Darstellung soll insofern nicht nur rezeptionsgeschichtlich die Kierkegaardschen Spuren in Adornos Denken aufdecken, sondern vielmehr der inneren Entwicklung in Adornos Philosophie nachgehen, sie im Hinblick auf jene Kierkegaardschen Konzeptionen hinterfragen. Das Ästhetische und dessen „Konstruktion“ dienen dabei,wie sich zeigen wird, nicht zuletzt zur Verbildlichung und Veranschaulichung jener abstrakten und subjektiven Gedanken Kierkegaards, die Adorno konkret und handfest nachzeichnet und mit materialem Inhalt füllt, um sie dann einer konkreten materialen Kritik zu unterziehen.
Zeitkritische Motivationen In seiner Antrittsvorlesung an der Frankfurter Universität 1931, gedruckt unter dem Titel „Die Aktualität der Philosophie“, setzt sich Adorno mit Hauptströmungen zeitgenössischer Philosophie auseinander, um auf eine programmatische Weise das vorzustellen, was er als Idee und Aufgabe der Philosophie versteht. Aufgabe der Philosophie ist es nicht, verborgene und vorhandene Intentionen der Wirklichkeit zu erforschen, sondern die intentionslose Wirklichkeit zu deuten, indem sie kraft der Konstruktion von Figuren, von Bildern aus den isolierten Elementen der Wirklichkeit die Fragen aufhebt, deren prägnante Fassung Aufgabe der Wissenschaft ist.³
In der Idee der Philosophie bleibe das immerwährende Paradoxon: daß Philosophie stets und stets und mit dem Anspruch auf Wahrheit deutend verfahren muß, ohne jemals einen gewissen Schlüssel der Deutung zu
von Michael Theunissen, die in meiner Studie detailliert diskutiert werden, kommen mehrere Dimensionen des Verhältnisses von Kierkegaard und Adorno zur Sprache. Schulz, „A Modest Head Start“, S. 362. Adorno, „Die Aktualität der Philosophie“, GS 1, S. 325 – 344; hier S. 335; an dieser Stelle weist Adorno auf Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels hin, vor allem auf die „Erkenntniskritische Vorrede“, als Hintergrund und Motivation der Hinterfragung isolierter Elemente der Wirklichkeit als (eigenständiger) Bilder und Figuren. Die Stelle scheint für Adornos Methodologie programmatisch zu sein, im Falle der Arbeit am Kierkegaard-Buch ist sie hingegen retrospektiv zu verstehen, denn zur Zeit der Antrittsvorlesung war die Arbeit an dem Manuskript schon abgeschlossen. Vgl. Müller-Doohm, Adorno, S. 206.
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besitzen; daß ihr mehr nicht gegeben ist als flüchtige, verschwindende Hinweise in den Rätselfiguren des Seienden und ihren wunderlichen Verschlingungen.⁴
Dabei ist in der Philosophie zugleich die Erkenntnis ihres eigenen prekären Zustands enthalten: ob nach dem Scheitern der letzten großen Anstrengungen überhaupt noch eine Angemessenheit zwischen den philosophischen Fragen und der Möglichkeit ihrer Beantwortung besteht: ob nicht vielmehr das eigentliche Ergebnis der jüngsten Problemgeschichte die prinzipielle Unbeantwortbarkeit der philosophischen Kardinalfragen sei.⁵
Ließen sich in diesen Formulierungen Spuren des paradoxalen Philosophieverständnisses Kierkegaards und seines Misstrauens gegenüber der Philosophie (gegenüber Philosophie überhaupt und gegenüber der positiven „problemlösenden“ Philosophie Hegels insbesondere) wiederfinden, so gestaltet sich die Bezugnahme auf Kierkegaard im Rahmen der Durchleuchtung philosophischer Tendenzen der Zeit noch komplexer. Im Kontext seiner Kritik an Martin Heideggers Fundamentalontologie kommt Adorno auch explizit auf Kierkegaard zu sprechen. Da Heidegger Ontologie auf das Bereich der Subjektivität reduziert und […] in deren Tiefe [sucht], was sie in der offenen Fülle der Wirklichkeit nicht aufzufinden vermag. Es ist darum kein Zufall, […] daß Heidegger gerade auf den letzten Entwurf einer subjektiven Ontologie zurückgreift, den das abendländische Denken hervorbrachte: die Existenzphilosophie Sören Kierkegaards. Aber Kierkegaards Entwurf ist zerbrochen und unwiederherstellbar.⁶
Es geht daraus jedoch nicht eindeutig hervor, ob die Rede von einem „zerbrochenen und unwiederherstellbaren Entwurf“ impliziert, dieser Entwurf sei einmal plausibel, tauglich und brauchbar gewesen, habe also eine eigene Wahrheit gehabt, sie dann aber verloren, oder ob hier gemeint ist, Kierkegaards Entwurf sei von Anbeginn ein defizitärer gewesen. „Kein fest gegründetes Sein vermochte Kierkegaards rastlose Dialektik in der Subjektivität zu erlangen“, kritisiert hier Adorno weiter und lässt vermuten, er sehe Kierkegaards Entwurf als durchaus gescheitert, weil seine Subjektivitätskonzeption ausweglos im Negativen zu bleiben scheint. Eine negativ-aporetische Subjektivitätskonzeption bedeutet jedoch nicht ohne weiteres Scheitern. Und falls sie scheitert, so kann das Scheitern gerade
Adorno, „Die Aktualität der Philosophie“, S. 334. Ebd., S. 331; meine Hervorhebung. Ebd., S. 329; Zu Adornos Kritik an Heidegger in diesem Vortrag vgl. Hermann Mörchen, Adorno und Heidegger, Stuttgart 1981, S. 140 – 142.
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über die Konzeption selbst etwas aussagen – und über die Bedingungen, unter denen sie scheitert.
Entfremdung als Ausgangspunkt Sollte nach Kierkegaard von jeder positiven Bestimmung der Subjektivität abgesehen werden – eine Ansicht, die Adorno durchaus teilt –, so muss ihre negative Bestimmung ebenfalls als abstrakt und objektlos dieser Kritik anheimfallen. Dabei vollzieht sich diese Kritik der negativ-abstrakten Subjektivität auf eine andere Weise als die Hegelsche Romantikkritik. Für Adorno besteht das Defizitäre an Kierkegaards negativer Subjektivität, an der „objektlosen Innerlichkeit“, nicht in einer Art Selbsttäuschung, sondern in der Unfähigkeit, das zu erkennen, was eine „gelingende“ negativ-kritische Subjektivität verhindert. Es wird Kierkegaard nicht unmittelbar vorgeworfen, eine realitätsfremde Konzeption zu entwerfen.Vielmehr konstatiert Adorno das Problem, das Kierkegaard aufzeigt, gerade in einer emphatischen Weise. „Was Kierkegaard den Zerfall mit den Grundverhältnissen menschlichen Daseins nennt, heißt in der philosophischen Sprache seiner Zeit Entfremdung von Subjekt und Objekt. Von ihr hat die kritische Interpretation Kierkegaards auszugehen.“⁷ Kierkegaards Philosophie, seine Konzeption der Subjektivität, ist demnach die Beschreibung eines Zerfalls: die subjektive Beschreibung eines objektives Zerfalls. Dem Kierkegaardschen Begriff der Innerlichkeit wohnt ein negativer Gehalt inne, sofern er stets die reale Unmöglichkeit ebendieser Innerlichkeit enthält. Im Hinblick auf die Subjektivitätsthematik bei Kierkegaard bedeutet der „Zerfall mit den Grundverhältnissen menschlichen Daseins“ ein Verständnis von Subjektivität als einer Ruine, als einem Bruchstück, einem „flüchtigen, verschwindenden Hinweis in einer Rätselfigur“.⁸ Sollte Kierkegaards Philosophie im Sinne einer Hinterfragung der Entfremdung von Subjekt und Objekt gedeutet werden, so spielt für Adornos Lektüre dieses Problem des Rätselcharakters einer „entfremdete[n], dinghafte[n], gestorbene[n] Welt“⁹ eine besonders wichtige Rolle. Adornos Lektüre ist weitgehend von Georg Lukács’ Theorie der „zweiten Natur“ beeinflusst, die von einer „Welt der vom Menschen geschaffenen und ihm verlorenen Dinge“ handelt,¹⁰ von einer Natur also, die „in ihrer wirklichen Substanz unerfaßbar und unerkennbar“ sei.¹¹ Diese „zweite Natur“ ist nach Lukács
Adorno, Kierkegaard, S. 42. Adorno, „Die Aktualität der Philosophie“, S. 334. Adorno, „Die Idee der Naturgeschichte“, GS 1, S. 345 – 365; hier S. 356. Ebd., S. 355. Georg Lukács, Theorie des Romans, Neuwied 1974, S. 53.
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nicht stumm, sinnfällig und sinnesfremd, wie die erste [die erste Natur „ist für Lukács, ebenfalls als entfremdete, die Natur im Sinne der Naturwissenschaft“¹², erklärt Adorno]: sie [die zweite Natur] ist ein erstarrter, fremdgewordener, die Innerlichkeit nicht mehr erweckender Sinneskomplex; sie ist eine Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten.¹³
In der Begrifflichkeit der Entfremdung von Subjekt und Objekt ausgedrückt, versteht sich die zweite Natur als eine objektivierte Subjektivität, als eine Innerlichkeit, die sich selbst dermaßen fremd geworden ist, dass sie sich selbst als Objekt erscheint. Die Rede von einer „Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten“ liest Adorno sowohl diagnostisch als auch programmatisch. Diagnostisch ist diese Beschreibung eine Beobachtung des Zerfalls all jener bekannten, vertrauten Subjektivitätsformen: In der fremd gewordenen Welt sei die Rede von Innerlichkeit nur als einer zerfallenen möglich, als der „Schädelstätte“, der „Ruine“ dessen, was sie früher gewesen ist, was sie dem möglicherweise nicht mehr erfüllbaren Begriff nach bedeutete. Die Diagnose besagt folglich, dass die Konzeption der Innerlichkeit der bis zum neunzehnten Jahrhundert üblichen Bedeutung dieses Begriffs nicht mehr entspricht. Programmatisch ist für Adorno die Rede von der „Schädelstätte“ als dem „Moment der Chiffre“.¹⁴ Ähnlich dem Benjaminschen Begriff der „Ruine“¹⁵ – und freilich unmittelbar von ihm beeinflusst – bedeutet die Schädelstätte-Lesart eine interpretative Dechiffrierung des philosophischen Gehaltes einer „toten“ philosophischen Figur. Die „vermoderte Innerlichkeit“ lässt sich entsprechend historisch-soziologisch dechiffrieren; aus ihr lässt sich der im Begriff oder in der Figur selbst verborgene Hintersinn, lassen sich die darin verborgenen Bedeutungen herauslesen. So verfährt Adorno in Kierkegaard.
Äquivokationen des Ästhetischen Die Provokation, die von Adornos Herangehensweise an Kierkegaards Philosophie ausgeht, liegt in dem engen Verhältnis, nahezu der Gleichsetzung von Subjektivität und Ästhetik. Das, was für Kierkegaard die Suche nach einer Grundlegung subjektiver Existenz bedeutet, betrachtet Adorno als ein ästhetisches Unternehmen. Gerade das also, was Kierkegaard in einer kritischen Auseinandersetzung mit der Scheinhaftigkeit und Täuschung der ästhetischen Subjektivität in der
Adorno, „Die Idee der Naturgeschichte“, S. 356. Lukács, Theorie des Romans, S. 54; zitiert in Adorno, „Die Idee der Naturgeschichte“, S. 356– 357. Ebd., S. 357. Vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 353 – 358; vgl. hierzu auch Adorno, Negative Dialektik, S. 353: Ruine ist „die Transmutation von Metaphysik in Geschichte. Sie säkularisiert Metaphysik in der säkularen Kategorie schlechthin, der des Verfalls.“
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romantischen Lebensanschauung entfaltet, untersucht Adorno selbst als ein ästhetisches Projekt. Kierkegaards Konzeption der Innerlichkeit stellt für Adorno eine ästhetische Konstruktion dar, eine „Konstruktion des Ästhetischen“, wie der Untertitel des Buchs lautet. Der Begriff des Ästhetischen ist dabei kein einheitlicher, in sich identisch geschlossener Begriff. Vielmehr birgt er in sich Äquivokationen und Widersprüche, Aporien und Paradoxien – und diese führt Adorno zugleich auf Kierkegaards Konzeption der Innerlichkeit selbst zurück. Zum einen sieht Adorno in Kierkegaard, freilich nicht gegen dessen eigenes Selbstverständnis, einen Dichter. Zum anderen jedoch zieht er eine direkte Linie zwischen Kierkegaards ästhetischer Artikulation und der eigentlichen Intention seiner Philosophie, zwischen Form und Inhalt seines Werks. Gleich dem sachlichen Zusammenhang, der Ästhetik und Subjektivität miteinander verbindet, wird hier ein besonderes Verhältnis zwischen der ästhetischen Form der Darstellung und dem subjekttheoretischen Inhalt der Argumentation hergestellt. „Wann immer man die Schriften von Philosophen als Dichtungen zu begreifen trachtete“, so beginnt Adornos Abhandlung, „hat man ihren Wahrheitsgehalt verfehlt.“¹⁶ Die ästhetische Form der Kierkegaardschen Philosophie sei nicht „bloß“ Dichtung, sondern verfüge über einen besonderen, philosophischen „Wahrheitsgehalt“. Polemisch gibt Adorno zuerst die fragliche herkömmliche Ansicht wieder, „Dichtung heißt an Philosophie alles, was nicht zur Sache gehört“¹⁷ – daher sei es „das erste Anliegen einer Konstruktion des Ästhetischen in Kierkegaards Philosophie, von Dichtung sie zu scheiden“.¹⁸ Damit ist aber nicht gemeint, das Dichterische vom „eigentlich“ Philosophischen zu trennen, sondern, gegen die gewöhnliche Meinung, das Philosophische im Dichterischen selbst zu beleuchten. So insistiert Adorno – genau gegen Kierkegaards dichterische Intention – darauf, das Werk nicht als ein dichterisch-ästhetisches wahrzunehmen, es also bei der Lektüre nicht unmittelbar ästhetisch zu erfahren, sondern als ein philosophisches Werk kritisch zu lesen. Wenn „das Formgesetz der Philosophie […] die Interpretation des Wirklichen im stimmigen Zusammenhang der Begriffe [fordert]“, so sollte bei der Lektüre die Frage ausschlaggebend sein, „ob Wirkliches in die Begriffe einging, in ihnen sich ausweist und sie einsichtig begründet“.¹⁹ Die Inter-
Adorno, Kierkegaard, S. 9. Vgl. Geoffrey A. Hale, Kierkegaard and the Ends of Language, Minneapolis 2002, S. 39: „[T]o read ‚philosophy‘ merely as a ‚poetry‘ is already to circumvent and dislocate the possibility of reading – reading seriously […]. There is no point at which one would be able to delimit and know a work’s philosophical intentions, beyond which its expressions would be free of any adherence to philosophical rigor“; meine Hervorhebung. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 9.
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pretation soll also von den Begriffen ausgehen, auch wenn diese dichterisch maskiert sind, und sie weiter nicht nach ihrer „bloß“ ästhetischen Wirkung betrachten, sondern nach ihrem inneren Zusammenhalt und nach ihrem Bezug zur Wirklichkeit. Denn wie Kierkegaards „dichterischer Anspruch“, so ist auch Adornos philosophischer Anspruch zweideutig.²⁰ Zum einen bedeutet das Ästhetische für Kierkegaard eine Form indirekter Mitteilung, durch welche subjektive Inhalte ohne Rekurs auf eine rational-begriffliche Argumentation kommuniziert werden können – nicht zuletzt in der ästhetischen Form der Ironie, die „nichts meint beweisen zu können“.²¹ Zum anderen birgt das Ästhetische stets auch „das Mal des Trugs“²² in sich, die dubiose Fähigkeit, trügerische Inhalte indirekt mitzuteilen, als wären sie unfraglich und absolut. Der Scheincharakter der Ästhetik ist demnach zugleich ein Grund für Misstrauen und für eine auf Wahrheit gerichtete dichtungs- und begriffskritische Lektüre. Aber das Ästhetische, wie Adorno den Begriff im Kierkegaard-Buch verwendet, bedeutet viel mehr als das. Denn sogar das Wort „mehr“ hat hier verschiedene Bedeutungen. Zum ersten ist das Ästhetische „mehr als das“, weil das Werk verschiedene Begriffe des Ästhetischen enthält, auf die ich im Folgenden eingehen werde. Zum zweiten besteht dieses „Mehr“ jedoch darin, dass das Ästhetische hier stets nicht das ist, was es zu sein scheint, oder genauer: Es ist niemals das, was es zu sein scheint; es entzieht sich jeder Identifikation und Definition und scheitert an der Verwirklichung dessen, was es verspricht.²³ So sind auch die verschiedenen Begriffe des Ästhetischen, die Adorno bei Kierkegaard vorfindet, in sich widersprüchlich. „Einmal heißt bei Kierkegaard,wie im allgemeinen Sprachgebrauch, ästhetisch das Bereich der Kunstwerke und der Ebd., S. 11: „Zum dichterischen Anspruch steht Kierkegaards Werk zweideutig. Mit Arglist ist es auf jedes Mißverständnis hin angelegt, das beim Leser einen Prozeß der Aneignung seiner Gehalte inauguriert. Die Dialektik in den Sachen ist ihm zugleich Dialektik der Mitteilung. In ihr beansprucht er trügend den Titel des Dichterischen, so oft es ihn wieder verleugnet.“ Ebd., S. 12. Den Satz meint Adorno jedoch kritisch in Bezug auf Kierkegaards religiöse Intention, auf die das Ästhetische und vor allem das Ironische abzielt: „Die Dichterschaft des Ohne Autorität Redens rückt ihn ins Bereich religionsphilosophischer Spekulation, wie er sie an Hegel und Schelling bekämpft – von welchen sie freilich durch die Ironie einer Methode sich unterscheidet, die nichts meint beweisen zu können als was ihr geheim als Glaube bereits innewohnt.“ Ebd. Vgl. Hale, Kierkegaard and the Ends of Language, S. 44: „If aesthetics is concerned with appearances, and not with what might grant appearances a certain value or meaning, then aesthetics itself cannot be described as one category unified within itself. In his reading of Kierkegaard, Adorno traces out the multifarious and ultimately inconsistent and contradictory usage of aesthetics. Hardly grounds for condemnation pure and simple, it is in the very discrepancies of its various appearances and its inability to be contained within any single, unifying category that Adorno finds the Kierkegaardian aesthetic most liberating.“
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kunsttheoretischen Erwägung“,²⁴ damit sind vor allem die Essays im ersten Band von Entweder/Oder gemeint, aber auch die Ironie-Dissertation und andere frühe ästhetische Schriften wie Die Wiederholung. Der kunstbezogene Begriff des Ästhetischen bezieht sich bei Kierkegaard sowohl auf die ästhetische Produktion wie auch auf ästhetische Theorie. Adorno diagnostiziert bei Kierkegaard eine Spannung zwischen ästhetischer Theorie und Praxis, da „Kierkegaard als ästhetischer Theoretiker […] oft genug einen reaktionären Klassizismus vertritt, den seine eigenen literarischen Unternehmungen selbst hinter sich gelassen haben“.²⁵ Die ästhetische „Praxis“, das ästhetische Leben, das die literarischen Figuren präsentieren, steht oft in einem Gegensatz zur vermuteten ästhetischen Position des Verfassers. Adorno übersieht hier aber möglicherweise den ironischen Ansatz in Kierkegaards pseudonymen Schriften. Für Adorno ist die kunstphilosophische Bedeutung des Ästhetikbegriffs Kierkegaards in sich brüchig, weil Kierkegaard keine einheitliche ästhetische Konzeption zu formulieren vermöge. Aus Sicht der philosophischen Ästhetik arbeite Kierkegaard – jedenfalls in den früheren, ästhetischen Schriften – allegorisch: Kierkegaards ästhetische Figuren sind einzig Illustrationen seiner philosophischen Kategorien, die sie fibelhaft verdeutlichen, ehe sie begrifflich zureichend artikuliert sind. […] In ihren Farben versteckt sich, in ihrem bürgerlichen Miniaturformat verkleinert sich die große Intention des Allegorischen, die in seiner Philosophie zu hoher Dignität gelangt.²⁶
Dass philosophische Konzeptionen bei Kierkegaard als Bilder und Figuren, als allegorische Konstruktionen der Wirklichkeit illustriert werden, noch bevor diese in ihrem philosophischen Gehalt hinterfragt und thematisiert werden, führt auf die Ideen zurück, die Adorno in seiner Antrittsvorlesung präsentierte. Es soll also die Beziehung hergestellt werden zwischen den ästhetischen Bildern und den philosophischen Begriffen, denen sie entsprechen, um nach ihrem Verhältnis zur objektiven Wirklichkeit zu fragen, in der sie entstanden sind und in der sie weiterhin hintergründig fungieren. Zugleich bedeutet das Ästhetische in Adornos Kierkegaard-Buch auch eine Existenzsphäre. So ist „die zweite und zentrale Verwendung des Terminus“ bei Kierkegaard „das Ästhetische als Haltung, oder, nach seinem späteren Sprachgebrauch, als ‚Sphäre‘.“²⁷ Als das erste Stadium in Kierkegaards „Stadienlehre“ oder als die erste „Existenzsphäre“, vor dem Ethischen und dem Religiösen, zeigt
Adorno, Kierkegaard, S. 24. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14– 15. Ebd., S. 24.
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Kierkegaard das Problem und Themenkomplex der ästhetischen Subjektivität an. Die Auseinandersetzung mit der Idee ästhetischer Subjektivität vollzieht sich in seinen frühen Schriften,vor allem in Entweder/Oder, als eine Debatte zwischen der ästhetischen und der ethischen Lebensform. Da die Bestimmung der Differenz zwischen beiden Formen allein durch die fundierten Reflexionen des Ethikers ihren Ausdruck im Buch findet, scheint es, als gäbe die ethische Auffassung Kierkegaards eigene Ansicht wieder. „Das Ästhetische im Menschen ist das, wodurch er unmittelbar ist, was er ist; das Ethische ist das, wodurch er wird, was er wird.Wer in und von dem Ästhetischen, durch und für das Ästhetische in ihm lebt, der lebt ästhetisch“,²⁸ so der Ethiker im zweiten Band von Entweder/Oder. Im Gegensatz zur selbstbestimmten ethischen Lebensform bleibe demzufolge die ästhetische stets in der Unmittelbarkeit des Augenblicks verfangen, aller Entscheidungskraft beraubt. Adorno bezieht sich ebenfalls auf diese bedeutende Stelle aus Entweder/Oder. „Als Nicht-sich-Entscheiden erscheint bei Kierkegaard die ästhetische Haltung aus der Sicht der ‚ethischen‘“²⁹, erläutert er. Doch dabei bleibt es nicht, denn „die ethische tritt in der Folge zurück hinter seiner Lehre vom Paradox-Religiösen“. Die Aufhebung des Defizitär-Ästhetischen im Ethischen ist nicht die letzte Stufe, das Ethische solle vielmehr in die religiöse Sphäre hineinführen. Diese jedoch, und hier ist ein Hauptpunkt der Interpretation Adornos, trägt in sich mehrfach den Charakter des Ästhetischen. Das Kierkegaardsche Religiöse ist demnach eine Fortschreibung der Kategorie des Ästhetischen.³⁰ Beide sind in der Unmittelbarkeit fundiert – die ästhetische Haltung bedeutet ein „Sichnicht-Entscheiden“, das Religiöse verweist auf die prinzipielle Unmöglichkeit, eine Begründung, ein rationales Fundament für die Entscheidung zu finden. „Angesichts des ‚Sprunges‘ zum Glauben“, so Adorno polemisch weiter, „wird das Ästhetische aus einer Stufe im dialektischen Prozeß, nämlich der des sich NichtEntscheidens, deprekativ verwandelt in kreatürliche Unmittelbarkeit schlechthin.“³¹ Die Doppelförmigkeit der Unmittelbarkeit bildet die interpretative Grundlage und Intention der Lektüre Adornos, Kierkegaards religiöse Philosophie, oder genauer: Kierkegaards negativ-religiös fundierte Subjektivitätskonzeption als eine Konstruktion des Ästhetischen zu lesen. Die Nähe von Subjektivitätstheorie und Ästhetik zeigt sich am deutlichsten in der dritten Verwendungsweise des Begriffs „ästhetisch“, die Adorno bei Kierkegaard findet. „Hier ist das Ästhetische bezogen auf die Form der subjektiven
SKS 3, 173 – 174 / EO2, 190. Adorno, Kierkegaard, S. 25. Vgl. David J. Gouwens, „Kierkegaard’s Either/Or, Part One: Patterns of Interpretation“, darin Abschnitt 7: „The Frankfurt School and After“, in Perkins (Hg.), Either/Or, Part I, S. 22– 23. Adorno, Kierkegaard, S. 25.
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Mitteilung und rechtfertigt sich aus Kierkegaards Existenzbegriff.“³² Ästhetisch ist demnach die Form der Intersubjektivität, die Kierkegaard als indirekte Mitteilung beschreibt. Innerlichkeit als wahre Subjektivität lässt sich nur indirekt kommunizieren. Für den subjektiven Denker stellt die Innerlichkeit als unmittelbarer Selbstbezug daher das Hauptanliegen und zugleich eine Paradoxie dar: Denn Subjektivität als Unmittelbarkeit lässt sich nicht begrifflich, eindeutig und allgemeinverständlich mitteilen – diese Form subjektiver, indirekter Mitteilung versteht Adorno als ästhetisch. „Ästhetisch [heißt] geradeswegs die Weise, nach der Innerlichkeit als Wie der subjektiven Mitteilung in Erscheinung tritt, weil sie nach seiner Lehre nicht ‚objektiv‘ werden kann.“³³ Nach dieser Lesart wäre Subjektivität das „Was“, der Gegenstand der Mitteilung, als solcher ein durchaus unmöglicher Gegenstand, während die Innerlichkeit das „Wie“ bildet, die Form der subjektiven Mitteilung, und als solche ästhetisch ist, weil sie sich auf die unmittelbare Selbstwahrnehmung des Subjekts bezieht. So deutet Adorno Kierkegaards Konzeption der Innerlichkeit als eine ästhetische Konstruktion: „‚Überall, wo beim Erkennen das Subjektive von Wichtigkeit, die Aneignung also die Hauptsache ist, da ist die Mitteilung ein Kunstwerk‘, oder kurz: ‚je mehr Kunst, desto mehr Innerlichkeit‘.“³⁴ Ein adäquates Verständnis des äquivoken Begriffs des Ästhetischen bei Kierkegaard besteht für Adorno allerdings nicht nur in einer genauen Unterscheidung seiner verschiedenen – „ineinander spielend[en]“³⁵ – Verwendungsweisen, sondern vor allem in der Herstellung des Verhältnisses zwischen ihnen, in einer genauen Betrachtung der Bedeutungskonvergenz. In der Konvergenz liegt aber auch die Paradoxie, oder, wie Adorno Kierkegaard dekonstruiert: die Tragik des Ästhetischen. Es ist die Struktur der Tragik, wie sie Kierkegaard in seinen ästhetischen Schriften als eine Grundkategorie moderner Ästhetik entfaltet, die gerade auf Kierkegaards Konzeption des Ästhetischen, genauer: der ästhetischen Subjektivität, anzuwenden wäre, um ihren verborgenen paradoxalen Charakter herauszulesen. „Was Kierkegaard kritisch an den modernen Umdeutungen der Idee des Tragischen erkannte, gilt für seinen eigenen Begriff von ästhetischer Innerlichkeit.“³⁶ Die tragische Kollision zwischen Individuum und Substantialität nach Hegel betrachtet Kierkegaard kritisch insofern, als er den engen Zusammenhang zwischen Tragik und Subjektivität für ein Missverständnis hält. Es gehört nach Hegel zur Tragik der Subjektivität, dass sie mit der Allgemeinheit kol-
Ebd. Ebd., S. 26. Ebd.; zitiert aus SKS 7, 78 / AUN1, 69. Adorno, Kierkegaard, S. 24. Ebd., S. 95.
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lidiert, der tragische Held sei an seinem Untergang schuldig, obwohl er sich nicht anders verhalten könne. Diese tragische Kollision gehört nach Hegel zum Begriff der Subjektivität selbst. Für Kierkegaard wird jedoch „Tragik, als ästhetische Kategorie, […] durch Schicksal bestimmt und erstellt das Gegenbild zu aller subjektiven Dynamik“.³⁷ Wenn Hegel also die Tragik als eine Bestimmung der Subjektivität, als ihre ästhetische Darstellung versteht, so sieht Kierkegaard einen Gegensatz zwischen beiden. Die Tragik ist für ihn gerade das Nicht-Subjektive; das Schicksal ist das Außen, das sich der Subjektivität aufoktroyiert und sie beschädigt. Der Anspruch der Tragik nach Hegel, die Subjektivität im Hinblick auf ihre Kollision mit der Allgemeinheit zu bestimmen, erweist sich für Kierkegaard gerade als dessen Gegenteil: als eine Aussage über das Nicht-Subjektive, über das bloß Allgemeine. Darin besteht die Tragik nach Kierkegaard: in der Nicht-Erfüllbarkeit jenes Anspruchs. „So verhält es“, Adorno zufolge, „aber gerade auch sich mit den Gegenständen, die [Kierkegaards] Begriff des Ästhetischen umfaßt.“³⁸ Kierkegaards kritische Beobachtung über die Tragik als ästhetische Darstellung der Subjektivität überträgt Adorno auf Kierkegaards Begriff des Ästhetischen selbst. Demzufolge muss der Anspruch des Ästhetischen bei Kierkegaard, ein Fundament der Innerlichkeit, unerfüllt bleiben. Anstatt die innere Perspektive des Subjekts zu beschreiben, wie von Kierkegaard konzipiert, bildet das Ästhetische eine Betrachtung „von außen“. „Ästhetisches Verhalten“ wird von Kierkegaard „als das des Zuschauers“ definiert.³⁹ Denn als dem „Zuschauer“ liegt der objektlosen Innerlichkeit Wahrheit gleich einem fremden und rätselhaften Schauspiel gegenüber, ob er ihrer auch durch Introspektion sich zu vergewissern sucht. Der Bruch, der Wahrheit von Innerlichkeit scheidet, welcher sie als Schein bloß erscheint, markiert auch ihre eigene Figur. Daher die brüchige Vieldeutigkeit des Terminus ästhetisch bei Kierkegaard, daher die Diskontinuität des Ästhetischen selber, die er unterm „ethischen“ Aspekt gewahrt.⁴⁰
Das Kierkegaardsche Ästhetische beanspruche, Subjektivität als Unmittelbarkeit zu figurieren, während er eigentlich „bloß“ die Zuschauerperspektive wiederzugeben vermöge. Der Kierkegaardsche Anspruch der Innerlichkeit auf Wahrheit bleibe ebenfalls unerfüllt; Wahrheit erscheine so als ein „fremde[s] und rätselhafte[s] Schauspiel“, sie bleibe mythisch. „Kierkegaards Lehre von der subjektiven
Ebd. Ebd. Ebd.: „Darum wird ästhetisches Verhalten von ihm als das des Zuschauers mit tieferem Rechte definiert als es in seiner ‚ethischen‘ Sicht aufs Ästhetische liegt.“ Ebd., S. 95 – 96.
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ästhetischen Haltung“ missversteht nach Adorno ihren „mythischen Gehalt“: Als eine subjektive ästhetische Haltung diene sie mehr zum Verständnis ihres objektiven Sinneszusammenhangs als zur Klärung ihres Anspruchs auf Unmittelbarkeit. Der Anspruch auf Unmittelbarkeit muss nach Adorno scheitern. Die Paradoxie kommt in Kierkegaards Entwurf des Ästhetischen klar zutage; wohl ist „das Ästhetische“ die Sphäre bloßer Unmittelbarkeit; soll aber dialektisch sein in sich selber und zu eben jener Entscheidung führen, die bloß ästhetischem Leben abgesprochen wird.⁴¹
Als bloße Unmittelbarkeit bleibt der Anspruch des Ästhetischen eine Haltung, eine Lebenseinstellung, paradoxal; ästhetische Unmittelbarkeit widerspricht ihrem Wesen nach jeder ethisch fundierten Entscheidung, das heißt: jeder „festen“ positiven Lebensanschauung. Für Kierkegaard ist das Ästhetische als solches jedoch nicht bloß defizitär. Nach Adornos Lesart besteht die wichtige Bedeutung des Ästhetischen bei Kierkegaard in dessen Fähigkeit, den „mythischen Scheincharakter“ der „objektiven Bilder und subjektiven Verhaltensweisen“ zu enthüllen, zu dechiffrieren.⁴² Diese „objektiven Bilder und subjektiven Verhaltensweisen“ beschreibe Kierkegaard ausdrucksvoll poetisch in seinen Schriften, versäume es aber, ihrem „mythischen Ursprung“ nachzugehen. Dies ist die eigentliche Zielsetzung von Adornos Kierkegaard-Lektüre. Denn gerade da, wo Kierkegaards Philosophie, „im Selbstbewußtsein ihres mythischen Scheins, ‚ästhetische‘ Bestimmungen trifft, kommt sie der Realität am nächsten: der eigenen des Standes objektloser Innerlichkeit ebensowohl wie der der fremden Dinge ihr Gegenüber“⁴³. Es ist nach dieser Lesart gerade das Ästhetische, das imstande ist, das Wahre an der Subjektivität, an ihrer realen Erscheinungsform aufzuzeigen; dies jedoch nicht wie in Kierkegaards ästhetisch-ethischer Argumentation, sondern durch eine immanent-sachliche Kritik seiner Bilder, Figuren, Begriffe und Konstellationen. Ausgehend von der These, Kierkegaards literarische Figuren und Bilder seien Metaphern für seine Begriffe und Konstellationen,⁴⁴ stehen im Mittelpunkt meiner Rekonstruktion von Adornos Lektüre die drei zentralen Bilder oder Konstellationen, anhand deren er seine immanente Kritik entfaltet: das Bild des bürgerlichen Intérieurs des neunzehnten Jahrhunderts als Metapher der Innerlichkeitskonzeption, die Figur eines Opfers
Ebd., S. 96 – 97. Ebd., S. 97. Ebd., S. 97– 98; Dies sei „die zentrale Antinomie in seinem Begriff des Ästhetischen.“ Ebd., S. 97. Vgl. Hale, Kierkegaard and the Ends of Language, S. 47– 48
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der Vernunft als der Ursprung mythischen Denkens und die Darstellung der ästhetischen Existenz als Verkörperung einer Dialektik des Scheins.
1.1 Objektlose Innerlichkeit. Der leere Schauplatz Subjektivität Adornos Behauptung, das Ästhetische bei Kierkegaard sei nicht nur ein erstes Stadium der Existenz, sondern umfasse sein gesamtes Denken, beruht darauf, dass in Adornos Kierkegaard-Lektüre das Ästhetische im Sinne einer subjektiven Mitteilung die einzig mögliche Ausdrucksform von Subjektivität darstellt. Als solche besteht es in den ethischen und religiösen Abhandlungen fort. Während jedoch Adorno Kierkegaards Begriff der Subjektivität als Innerlichkeit für durchaus ästhetisch hält, sieht er die Bedeutung des Ästhetischen für die Subjektivitätsfrage woanders. Ihm zufolge besteht die Wichtigkeit eines vom Ästhetischen ausgehenden Verständnisses von Subjektivität nicht primär darin, dass diese, als Innerlichkeit, sich nur unmittelbar, direkt, also ästhetisch ausdrücken kann. Vielmehr betont Adorno eben den vermittelnd-vermittelten Charakter der Subjektivität. Die „Ursprungsintention“ von Kierkegaards philosophischer Frage, so Adorno, „zielt ab nicht auf die Bestimmungen von Subjektivität sondern von Ontologie“⁴⁵ – in erster Linie gehe es Kierkegaard, nach Adornos gewagter These, nicht darum, Subjektivität zu definieren, sein Anspruch sei vielmehr ontologisch: „über Wahrheit und Unwahrheit von Denken allein durch Rekurs auf die Existenz des Denkenden zu entscheiden“.⁴⁶ Die Subjektivität wird hier nicht hinterfragt, sondern es wird auf Subjektivität rekurriert, um nach ontologischer Wahrheit und Unwahrheit zu fragen. Kierkegaards Ontologie sei im Grunde eine „subjektive Ontologie“⁴⁷, die Wahrheitsfrage gehe immer vom Subjektiven aus. „Subjektivität erscheint“, so Adorno, freilich gegen Kierkegaards Intention, nicht als der „Gehalt“ von Ontologie – sie sei nicht ein Gegenstand der ontologischen Frage –, „sondern als deren Schauplatz“.⁴⁸ Der Bezug der Subjektivität zur Wahrheit ist insofern nicht deshalb ästhetisch, weil diese eine unmittelbare und unmitteilbare, eine einzig erlebbare Relation zur Wahrheit darstellt, sondern gerade weil Subjektivität als „Schauplatz“ eine Art Verbildlichung ihrer unergründlichen, undurchsichtigen Inhalte, eine Art Spiegelbild ihrer äußerlichen Verhältnisse ist. Als solche müsste sie, wie ein Text, erst dechiffriert werden, damit die in ihr verborgenen Inhalte und Verhältnisse in ihrer
Ebd., S. 38. Ebd. Adorno, „Die Aktualität der Philosophie“, S. 329. Ebd.
1.1 Objektlose Innerlichkeit. Der leere Schauplatz Subjektivität
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wahren Form erkennbar werden. Subjektivität ist demnach gerade deshalb eine ästhetische Mitteilung, weil sie das darstellt, was ihr selbst inkommensurabel ist, was das Subjekt selbst übersteigt, was es nicht durchschaut. Ähnlich einem Schauspiel auf der Bühne vermittelt nach dieser Lesart Subjektivität fremde, nicht ihr selbst entstammende Inhalte, als seien sie ihre eigenen. Dieses Verständnis einer entfremdeten ästhetischen Subjektivität entwickelt Adorno in seiner kritischen Lektüre der Kierkegaardschen Philosophie, um ihre Wahrheit jedoch woanders zu finden. Die Wahrheit, die auf dem Schauplatz der Subjektivität ins Licht rückt, ist dann doch nicht die innere Wahrheit des Subjekts, sondern die objektive Wahrheit über die Gesellschaft, über die sozialen Verhältnisse, in denen es lebt.⁴⁹ Kierkegaards negative Konzeption der Subjektivität scheitert, Adorno zufolge, an „bloß zufälligen“ Tatsachen. Nicht das Negative im Sinne einer Inkommensurabilität des Subjektiven ist hier Gegenstand von Adornos Kritik, sondern das Negative als die absolute Abstraktion, als Abkopplung des Subjektiven von der Wirklichkeit, die das negativ-abstrakte Subjekt als ein sozialpsychologisches Problem erscheinen lässt. Kierkegaards Innerlichkeit gewinnt damit ihre eigentliche Bedeutung: als eine objektive, real gegebene Gesellschaftsform. Der abstrakte Kierkegaardsche Begriff erhält in Adornos Argumentation eine konkrete sozialhistorische Bestimmung. „Objektlose Innerlichkeit“ ist die polemische Bezeichnung, mit der Adorno Kierkegaards Subjektivitätskonzeption definiert – und zugleich angreift.⁵⁰ Die Argumentation entwickelt sich jedoch zweispurig: begrifflich-logisch und sozial-historisch. Zum einen hinterfragt Adorno Kierkegaards Begriff der Innerlichkeit und zeigt die Implausibilität des Begriffs als solchen, dessen Scheitern an den eigenen Voraussetzungen. Zum anderen jedoch geht er der sozialhistorischen Bedeutung jener objektiven Figur nach, die hinter diesem Begriff steht. Die philosophische Konzeption zeigt sich hier als eine sozialhistorische Figur, die nicht zuletzt ethische und politische Implikationen hat.
In ihrer obengenannten Studie Die dementierte Alternative. Gesellschaft und Geschichte in der ästhetischen Konstruktion von Kierkegaards „Entweder-Oder“ expliziert Karin Pulmer Adornos These und zeigt, dass und inwiefern sowohl die ästhetische wie auch die ethische Lebensform und ihre Selbstverständnisse unmittelbar an die sozialhistorischen Verhältnisse in Dänemark Anfang des 19. Jahrhunderts gebunden sind. So zeigen sich die ästhetische und die ethische Sichtweise als orts- und klassenspezifisch und beinhalten „Elemente der Guldalder-Ideologie“ des damaligen Dänemark: Pulmer, Die dementierte Alternative, S. 194– 208; hier S. 202. Zur politischen Relevanz der Kritik Adornos an Kierkegaard vgl. Peter Šajda, „From Objectless Inwardness to Political Irrationalism: Adorno’s Critique and Defense of Kierkegaard“, in Religion und Irrationalität, hg. von Jochen Schmidt und Heiko Schulz, Tübingen 2013 (Religion in Philosophy and Theology, Bd. 71), S. 167– 175.
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1 Innerlichkeit als „Intérieur“. Adornos frühe Kierkegaard-Lektüre
Begriffslogische und sozialhistorische Problematisierung In seiner Auseinandersetzung mit Hegel attackiert Kierkegaard die Idee einer Identität von Subjekt und Objekt als einer Versöhnung von Individuum und Gesellschaft, die schließlich auf Kosten des Subjekts, des existierenden Einzelnen vollzogen wird. Insofern ist es nicht diese kritische Intention Kierkegaards, auf die sich Adornos Kritik richtet. Diesen Kritikpunkt an Hegels Identitätsthese teilt Adorno mit Kierkegaard. Es ist vielmehr der Vollzug der Hegelkritik in Kierkegaards Argumentation, die Adorno als unzureichend, defizitär, sogar selbstzerstörerisch bezeichnet. „Kierkegaard hat nicht das Hegelsche Identitätssystem ‚überwunden‘; Hegel ist bei ihm nach innen geschlagen, und Kierkegaard erreicht die Realität am ehesten, wo er an Hegels historischer Dialektik festhält.“⁵¹ Kierkegaards Konzeption der Innerlichkeit als der „Substantialität des Subjekts, […] geradewegs aus der Unangemessenheit zum Außen hergeleitet“ vermöge es nicht, dem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Seine Innerlichkeitskonzeption entwickelt Kierkegaard durch die Kritik an Hegel, durch die Absage an die identitätsanstrebende Versöhnung von Innen und Außen, durch sein Beharren auf der Inkommensurabilität subjektiver Erfahrung. Diese Negativität der Kierkegaardschen Innerlichkeit hat hier jedoch auch ihre Schattenseite: Denn als inkommensurable sei sie abstrakt und gegenstandslos, „da inhaltliche Objektivität nirgendwo der Innerlichkeit kommensurabel wird“.⁵² Aufgrund der Ablehnung aller positiven Bestimmungen lässt sich jedoch auch kein Objekt der Innerlichkeit erkennen. Sie beziehe sich auf keinen festen Gegenstand. „Es gibt bei Kierkegaard so wenig ein Subjekt-Objekt im Hegelschen Sinne wie seinshaltige Objekte; nur isolierte, von der dunklen Andersheit eingeschlossene Subjektivität.“⁵³ Als eine philosophische Konzeption sei Kierkegaards Innerlichkeitskonzeption deshalb problematisch, weil sie über keinen Bezugspunkt, über keine Substanz verfüge und somit den Anspruch auf Substantialität preisgebe. Nicht das Begriffslogische steht allerdings im Zentrum von Adornos Kritik, sondern das Sozialhistorische. Die sozialhistorische Argumentation vollzieht sich ebenso zweispurig: Einmal entschlüsselt Adorno den Innerlichkeitsbegriff als Ausdruck sozialhistorischer Figuren und Verhältnisse einer bestimmten geschichtlicher Epoche; sodann schildert er den selbstzerstörerischen Mechanismus der Subjektivität als Innerlichkeit, ihren notwendigen Verfall an die Allgemeinheit. Die eine Spur der Interpretation besagt, dass Kierkegaards Innerlichkeitsbegriff einem realen Bedürfnis entspricht, das für das bürgerliche Milieu Mitte des
Adorno, Kierkegaard, S. 49; meine Hervorhebung. Ebd., S. 46. Ebd., S. 45.
1.1 Objektlose Innerlichkeit. Der leere Schauplatz Subjektivität
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neunzehnten Jahrhunderts charakteristisch war. Kierkegaard habe insofern ein Problem seiner Zeit richtig diagnostiziert, sein Lösungsversuch stellt sich für Adorno jedoch nicht nur als unzureichend dar, sondern als ebenso problematisch, als eine Art Fortschreibung des Problems selbst. „Die Not des beginnenden hochkapitalistischen Zustands hat Kierkegaard erkannt“, so Adorno, „ihr stellt er sich entgegen im Namen der verlorenen Unmittelbarkeit, die er in Subjektivität behütet.“⁵⁴ Innerlichkeit, für Kierkegaard die Antwort des existierenden Einzelnen auf das Problem einer Sinnfindung für die eigene Existenz, betrachtet Adorno als die Antwort des Kleinbürgers auf die gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit, die seine ökonomische wie soziale Sicherheit in Frage stellten. So entspricht Innerlichkeit dem bürgerlichen Bedürfnis, sich aus der „äußeren“ Geschichte, aus dem objektiven Weltlauf herauszulösen, davon unabhängig zu werden. Die neuen Formen der Vergesellschaftung im neunzehnten Jahrhundert und der Bruch mit alten Lebens- und Klassentraditionen stellten die Sicherheit der bürgerlichen Existenz in Frage und verlangten nach einem Weg der Auseinandersetzung mit ihnen. Dieser Weg stellt sich jedoch als eine Art Flucht vor der heteronomen objektiven Geschichte in eine fiktive Autonomie des Selbst heraus. Der Begriff absoluter Innerlichkeit [müßte] als romantische Insel vor Augen liegen, dahin der Mensch vor der geschichtlichen Flut seinen „Sinn“ zu bergen unternimmt. Die Flut der Geschichte gleicht danach dem zerstörenden Maelstrom; in ihm aber behauptet sich frei die Person.⁵⁵
Kierkegaards Innerlichkeit ist für Adorno insofern der Ausdruck des bürgerlichen Verlangens nach einer Autonomie des Subjekts angesichts nicht mehr beherrschbarer gesellschaftlich-objektiver Heteronomie. Auf die Gefahr des Verlusts subjektiven Sinnes reagiere das bürgerliche Bewusstsein mit dem Entwurf einer inneren Sphäre, in der das Individuum jenen subjektiven Sinn ungestört von der drohenden Allgemeinheit „bewahren“, ihn vor ihr „behüten“ könne. „Sie wird zur Zuflucht des Subjekts, sobald einmal Objektivität es überwältigt.“⁵⁶ Die Idee der Innerlichkeit wird allerdings nicht nur deshalb problematisch, weil sie eine Art Selbsttäuschung, eine freiwillige Blindheit gegenüber den objektiven Verhältnissen systematisch verfestigt. Denn wie bei Kierkegaard lässt sich auch bei Adorno eine gedanklich-strukturelle Dialektik der Innerlichkeit erkennen. Dabei handelt es sich jedoch um eine andere, nahezu gegensätzliche Konzeption. Für Adorno bedeutet die Dialektik der Innerlichkeit – dies ist die andere, parallele
Ebd., S. 59. Ebd., S. 56. Ebd.
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Spur der begriffskritischen Analyse – einen Selbstzerstörungsmechanismus. „Je härter die Subjektivität von der heteronomen, unqualifizierten oder gar schlechten Außenwelt in sich zurückprallt, um so klarer prägt unmittelbar, als ‚reflektierte‘, die Außenwelt in ihr sich aus.“⁵⁷ Das Beharren auf der Innerlichkeit schlage in ihre Preisgabe an die Allgemeinheit um. Die Zuflucht auf die „Insel“ der Innerlichkeit bringt – ungewollt, unbemerkt, aber notwendig – die abgelehnte Allgemeinheit in maskierter Form in die „verborgene“ Sphäre hinein. Wenn Kierkegaards Dialektik der Innerlichkeit das Oszillieren des Subjekts zwischen der Suche nach gewisser Wahrheit und der Unmöglichkeit einer objektiven, endgültigen Gewissheit dieser Wahrheit bedeutet, wodurch der Existierende auf sich selbst, also auf das Subjektive verwiesen wird, dann besagt Adornos Dialektik der Innerlichkeit, ebendiese Verweisung des Subjekts auf seine innere Sphäre sei ein bloßes Ignorieren objektiver Verhältnisse, das gerade die vermeintliche „verworfene Außenwelt“ verinnerlicht und verabsolutiert.⁵⁸ Als Trost, als Flucht vor der „unberechtigte[n] Wirklichkeit“, trägt nach Adorno die Kierkegaardsche Konzeption der Innerlichkeit dazu bei, diese Wirklichkeit in ihrem Sosein bestehen zu lassen, sie damit zu affirmieren und unbewusst ins Innere hineinzutragen. ⁵⁹
Metaphorik der Innenräume Kierkegaards philosophische Kategorie der Innerlichkeit vermöge zwar, so Adorno, ihrem Anspruch auf „subjektive Wahrheit“ nicht gerecht zu werden, sie erweise sich allerdings als besonders aufschlussreich für ein Verständnis dessen, was Innerlichkeit unter den sozialhistorischen Bedingungen des fortschreitenden Kapitalismus bedeute. Als „unwahre“ Konzeption zeige sie historische Wahrheit auf. Für Adorno ist Kierkegaards Innerlichkeit, gerade in ihrem negativen Ansatz, in der Absicht, sich aus der Gesellschaft, aus dem „unwahren Außen“ herauszulösen, eine Projektion des Außen, der „unberechtigten Wirklichkeit“ ins Innere des Subjekts. So entlarve sich die Kategorie der Innerlichkeit als eine „Metaphorik der Innenräume“⁶⁰, sie sei die abstrakte Beschreibung eines materialen Bildes: Es ist das bürgerliche Intérieur des neunzehnten Jahrhunderts, vor dessen Arrangement alle Rede von Subjekt, Objekt, Indifferenz, Situation zur abstrakten Metapher verblaßt, obschon
Ebd., S. 57. Ebd., S. 59: „Für Kierkegaard wird die Außenwelt wirklich erst als verworfene.“ Dieser Ansatz von Adornos Kritik an Kierkegaards „Dialektik der Innerlichkeit“ wird in seinen späteren Schriften – vor allem in dem Aufsatz „Kierkegaard noch einmal“ (S. 246 – 251) und in der Ästhetischen Theorie (S. 177– 179) – weitergeführt, wie im folgenden Kapitel dargestellt wird. Adorno, Kierkegaard, S. 61.
1.1 Objektlose Innerlichkeit. Der leere Schauplatz Subjektivität
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bei Kierkegaard das Bild des Intérieurs selber als bloße Metapher für den Zusammenhang der Grundbegriffe einsteht.⁶¹
Zum einen ist die Verschränkung der literarischen Innenraummetaphorik mit der philosophischen Innerlichkeitskonzeption schon bei Kierkegaard explizit und intendiert. Der private, sichere Raum der eigenen Wohnung dient als eine Metapher für ein vor der äußeren Geschichte abgetrenntes, in der Innerlichkeit isoliertes Selbst. Aber diese Metaphorik zeigt entgegen Kierkegaards ursprünglicher Intention auch das Gegenteil: Ebenso wenig wie die Gegenstände der Wohnung unabhängig von gesellschaftlichen Prozessen entstehen, so sind auch das Selbst, das Subjekt und die Innerlichkeit keine überhistorischen Kategorien. Die Kierkegaardsche Metaphorik des Intérieurs als einer absoluten Unabhängigkeit des Inneren vom Außen korreliert mit der Inkommensurabilitätsthese; sie wird in Adornos kritischer Darstellung zu einer Metapher für den Scheincharakters der Innerlichkeit. Ebenso wie die sichere Abgeschlossenheit des Privatraums eine bloße Täuschung darstellt, sind das Intérieur und dessen Gegenstände Ausdruck geistiger und materieller Produktion der Epoche, ist die innere „Privatsphäre“ des Subjekts Ausdruck geistiger und materieller Verhältnisse seiner Zeit. Zum anderen jedoch besteht der Wahrheitskern der Kierkegaardschen Innenraummetaphorik in ebendieser Dialektik: Dass die Rede von Subjektivität, Innerlichkeit und Wahrheit stets von Bildern und Motiven der Wohnungseinrichtung begleitet wird, zeugt von der historischen Abhängigkeit von Innen und Außen, von der geistigen Formierung der inneren Sphäre des Individuums in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den materialen Gegenständen, die es umgeben. Das Intérieur hört damit auf, eine Metapher zu sein, und wird real: „Wie im metaphorischen Intérieur die Intentionen von Kierkegaards Philosophie sich verschränken, so ist zugleich das Intérieur der reale Raum, der ihre Kategorien aus sich entläßt.“⁶² Der reale Raum, der Innenraum der Wohnung, von Kierkegaard als metaphorischer Ort innerer Wahrheit begriffen, ist jedoch gerade in seiner realen Gestalt Schein. Wie die äußere Geschichte „reflektiert“ in der inwendigen, ist im Intérieur der Raum Schein. So wenig Kierkegaard den Schein an aller bloß reflektierten und reflektierenden innersubjektiven Wirklichkeit erkannte, so wenig ward der Schein des Räumlichen im Bilde des Intérieurs von ihm durchschaut.⁶³
Ebd., S. 61. Ebd., S. 62. Ebd., S. 65.
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1 Innerlichkeit als „Intérieur“. Adornos frühe Kierkegaard-Lektüre
Der reale Raum, die materialen Gegenstände und historischen Ornamente, die das bürgerliche Intérieur des neunzehnten Jahrhunderts charakterisieren – all dies erweckt bei Kierkegaard den Anschein, als hätte es einen Bezug zur metaphysischen Unendlichkeit, als sei es Symbol der Unveränderlichkeit, fern jedem sozialhistorischen Bezug und Gebrauchswert.
Dialektisches Bild der Subjektivität In seiner Kierkegaard-Lektüre rekurriert Adorno ferner auf Walter Benjamins Idee des dialektischen Bilds: eines Bildes, das über die Gegenwart des Dargestellten hinausgeht und gerade das darin Verborgene freilegt. Die dialektischen Bilder, die Adorno in Kierkegaards Denken aufspürt, ermöglichen nicht nur einen Einblick in die historische Konstellation der Kierkegaardschen Metaphern – Benjamins Beobachtungen an Gegenständen, deren Gebrauchswert verloren ging, seine Einsicht in die philosophische Bedeutung von Ruinen, Trümmern und Bruchstücken, überträgt Adorno in seiner Kierkegaard-Lektüre auf das Problem der Subjektivität selbst. „Die vollständige Fata Morgana verfallener Ornamente empfängt ihre Bedeutung nicht durch den Stoff, aus welchem sie gefertigt ist, sondern aus dem Intérieur, das den Trug der Dinge als Stilleben vereint.“⁶⁴ Während die geschichtliche Materialität der Dinge und ihr historischer Charakter ausgeblendet werden, erhalten sie ihre Bedeutung aus dem Intérieur heraus: aus der innersubjektiven Reflexion auf die Dinge, die sie zugleich unwiderruflich absorbiert. Diesem Prozess, samt dessen Ausblendungs- und Verdinglichungsstrukturen, entspricht nach Adorno auch Kierkegaards Begriff des Selbst und seine „Philosophie der Innerlichkeit“ überhaupt. Innerlichkeit, ähnlich dem Intérieur, entstehe durch einen Verdinglichungsprozess, in dem „geschichtlich scheinhafte Gegenstände […] als Schein unveränderlicher Natur eingerichtet“ werden.⁶⁵ Die Idee der Innerlichkeit zeigt sich hier in ihrem wahren geschichtlichen Charakter: als „zweite Natur“, als ein Produkt historischer Verhältnisse und vor allem materialer Gegenstände,Waren. „Das Selbst wird im eigenen Bereich von Waren ereilt und ihrem geschichtlichen Wesen.“⁶⁶ Kierkegaards Innerlichkeit konstituiert sich folglich erst durch den Bezug zu den Gegenständen in einem vom „Außen“ abgeschlossenen Innenraum und zu den Waren, die das Subjekt umgeben: „Gasbeleuchtung und Plüschsessel sind die historischen Spuren darin.“⁶⁷
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 68.
1.1 Objektlose Innerlichkeit. Der leere Schauplatz Subjektivität
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Das Verhältnis zwischen dem Selbst als reflektierender Innerlichkeit und den Waren, den Gegenständen in der bürgerlichen Wohnung, wird eindrücklich durch das Bild des Reflexionsspiegels illustriert, dem im „Tagebuch des Verführers“ eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Dieses Bild zeigt, inwiefern „gegen Kierkegaards Willen Soziales und Geschichtliches“ in das scheinbar überhistorische und vom Sozialen unabhängige Intérieur eindringt. Der Reflexionsspiegel ist in der geräumigen Mietwohnung des neunzehnten Jahrhunderts charakteristisch angebracht; […] Funktion des Reflexionsspiegels ist, die endlose Straßenlinie solcher Miethäuser in den abgeschlossenen bürgerlichen Wohnraum hineinzuprojizieren; zugleich der Wohnung sie unterwerfend und die Wohnung mit ihr begrenzend – wie in Kierkegaards Philosophie die „Situation“ der Subjektivität unterworfen ist und sie doch begrenzt.⁶⁸
Als Gegenstand des Wohnungsinnenraums bringt der Reflexionsspiegel ein Bild, wenn auch ein verzerrtes, des „Außen“ (der Straße, der Miethäuser) in die abgeschlossene „innere“ Sphäre hinein. Die „Situation“, mit der der Reflexionsspiegel metaphorisch korreliert, ist jedoch „für Kierkegaard nicht, wie für Hegel, die objektive Geschichte“⁶⁹, sondern ein Gegenstand der Reflexion: „[A]uf Grund ihrer objektiv-historischen Herkunft bietet sie Anlaß zur Reflexion und wurzelt selber zugleich im Moment einer subjektiven Reflektiertheit.“⁷⁰ So besagt die Metapher des Reflexionsspiegels, dass jede Reflexion, als Kennzeichen subjektiven Bezugs zur objektiven Wirklichkeit, zugleich eine Art Projektion, eine Widerspiegelung der negierten, abgelehnten und verlassenen Wirklichkeit ist. Hier wird noch einmal Adornos Kritik an Kierkegaard deutlich. Adorno bemängelt nicht den Denkansatz einer Ablehnung der Hegelschen Identitätsthese, sondern das Defizit der kritischen Argumentation Kierkegaards, die letztendlich hinter Hegel „zurückfällt“. Während Adorno mit Kierkegaard das Beharren auf der Inkommensurabilität des Innen und die Ablehnung der Hegelschen Identität durchaus teilt, sieht er Kierkegaards Konzeption der Innerlichkeit nicht als einen kritischen Gegensatz des Außen, sondern als dessen ergänzende Widerspiegelung. Die Metapher des Reflexionsspiegels verweist auf den Projektionscharakter der Kierkegaardschen Innerlichkeit. Diese sei vom Sozialen und Geschichtlichen ebensowenig unabhängig wie das bürgerliche Intérieur des neunzehnten Jahrhunderts samt seinen Gegenständen und Reflexionen.Vielmehr sind es die durch den Reflexionsspiegel
Ebd., S. 62– 63. Ebd., S. 56. Ebd., S. 57.
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1 Innerlichkeit als „Intérieur“. Adornos frühe Kierkegaard-Lektüre
von „außen“ hineinprojizierten Bilder und Figuren, die das Intérieur wie das „Innere“ des Subjekts konstituieren.
1.2 Das Opfer der Vernunft. Der paradoxe Ursprung mythischen Denkens Mit dem Begriff „objektlose Innerlichkeit“ kritisiert Adorno Kierkegaards Subjektivitätskonzeption als einen Selbst- ohne Weltbezug. Demzufolge existiere das Kierkegaardsche Subjekt isoliert in einer „Innenwelt“, die vom Außen abgelöst zu sein glaubt: Das Selbst konstituiere sich bei Kierkegaard gerade durch Preisgabe des Weltbezugs. Wahre Innerlichkeit verlange die Eliminierung des Kommensurablen: des Verständlichen, Begrifflichen, Vernünftigen. Kierkegaards Fundierung wahrer Subjektivität durch das Paradox-Absurde trägt in Adornos Augen romantischidealistische Züge, sofern sie rationales Denken zugunsten eines Mythischen „opfert“. In dieser Behauptung werden jedoch zwei Thesen miteinander verschränkt: Die erste These besagt, Kierkegaards Vernunftkritik führe zur Preisgabe der Vernunft. Es handele sich bei Kierkegaard demnach nicht um eine Vernunftkritik im Sinne Kants, die bestrebt ist, die Grenzen der Vernunft zu markieren und sie dadurch zu retten,⁷¹ sondern um ihre absolute Negation. Diese Negation der Vernunft, so ist die zweite These, eliminiert sie nicht gänzlich, sondern verwandelt sie in Mythos: Adorno spricht vom „mythische[n] Opfer der Vernunft“ und trifft damit gerade den Hauptkern von Kierkegaards Konzeption der Innerlichkeit.⁷² Kierkegaards konzeptionelle Absicht, die von Adorno geteilt wird, besteht zwar in der Rettung des Besonderen vor der Allgemeinheit, des Einzelnen vor der Masse. Sobald aber damit eine „Rettung“ des Individuums vor der Gesellschaft, des Subjekts vorm Objekt gemeint ist, verfängt sich die Konzeption in sich selbst und verrät ihr eigenes Ziel. Nach Adorno verfehlt Kierkegaard seine eigene Absicht, weil sich seine Paradoxie gegen sich selbst wendet, weil das Absurde an seiner Konzeption (und nicht das Absurde an sich bildet für Adorno den Gegenstand der Kritik) das Ziel seiner Rettung, das Individuum, zerstört. Im Hinblick auf die Vernunftkritik ist Adornos Kierkegaard-Lektüre insofern eine immanente Kritik, als er Kierkegaards Absicht durchaus teilt, den Vollzug der Argumentation jedoch deshalb für problematisch hält, weil sie seiner eigenen Intention nicht gerecht werde. Im Folgenden möchte ich diese Thesen erläutern und problematisieren. Dafür werde ich zunächst Adornos Rekonstruktion der Kierkegaardschen Begriffe und
Vgl. ebd., S. 106. Ebd., S. 169.
1.2 Das Opfer der Vernunft. Der paradoxe Ursprung mythischen Denkens
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Konstellationen darstellen und im Hinblick auf ihre Befragung des Verhältnisses von Vernunftkritik (aus der Perspektive des Paradoxen und Absurden) und Innerlichkeit (als Wahrheit des Einzelnen) betrachten. Anschließend werde ich Adornos Kritik an Kierkegaards Vernunftkritik untersuchen, um nach ihren Implikationen und Konsequenzen (der Vernunftkritik ebenso wie der Kritik der Vernunftkritik) für eine negative Konzeption der Subjektivität zu fragen.
Begriffe und Konstellationen Das Modell einer „objektlosen Innerlichkeit“ suggeriert ein negatives, unversöhnliches Verhältnis von Geist und Natur. Denn die Versöhnung, die Kierkegaard zwischen Geist und Natur, zwischen Subjekt und Objekt zu entwerfen beabsichtigt, wird nach Adorno stets auf Kosten beider vollzogen: Dadurch, dass sie das Objekt ausklammert, entzieht sie auch dem Subjekt den Boden. So ist für Adorno Kierkegaards Dialektik von Geist und Natur letztendlich eine Dialektik des Opfers, er nennt sie eine „Opfertheologie“.⁷³ Die Konstitution der Innerlichkeit als einer inneren Sphäre, in der die individuelle Autonomie des Einzelnen vor der objektiven Heteronomie „beschützt“ werden soll, führe dann schließlich zur „Opferung“ dieser Autonomie selbst. Der Begriff des Opfers spielt in Adornos Interpretation eine besondere Rolle, denn er verweist auf den immanenten Zusammenhang zwischen Vernunft- und Subjektivitätskritik. Das Opfer der Vernunft als eine Preisgabe rationalen, instrumentellen Nutzdenkens bildet für Kierkegaard eine Voraussetzung für die Konstitution der Innerlichkeit; für Adorno ist es aber zugleich ein Grund dafür, Kierkegaards Innerlichkeitskonzeption und seine Vernunftkritik als mythisches Denken zu dechiffrieren. Mit gewissem Recht könnte man feststellen, das negative Verhältnis von Natur und Geist bestehe darin, dass beide nach Kierkegaard geopfert, preisgegeben werden – und zwar jedes für das andere. Die Natur werde bei Kierkegaard „durch Geschichte vom objektlosen Innen ausgeschlossen“, sie „schlägt“ jedoch „in diesem selber durch“.⁷⁴ Der Begriff des Innen, nach Kierkegaard konstitutiv für Subjektivität, bedeutet für Adorno eine Art Objektlosigkeit, eine trügerische Freiheit von Heteronomie, in der das Subjekt glaubt, auf sich selbst gestellt, unabhängig vom Äußeren zu sein. Die „Tilgung“ des Objekts in Kierkegaards Subjektivitätskonzeption versteht Adorno als „Naturfeindschaft“:
Ebd., S. 153 sowie S. 199. Vgl. hierzu Klaus-M. Kodalle, Die Eroberung des Nutzlosen, Kritik des Wunschdenkens und der Zweckrationalität im Anschluß an Kierkegaard, Paderborn 1988, S. 206; Deuser, Dialektische Theologie, S. 209 – 213. Adorno, Kierkegaard, S. 77.
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Geist setzt gegen Natur sich frei und autonom, weil er sie als dämonisch erkennt: wie in der auswendigen Realität so bei sich selber. Indem aber der autonome Geist als leibhaft erscheint, nimmt Natur vom Geiste Besitz, wo er am geschichtlichsten auftritt: im objektlosen Innen.⁷⁵
Kierkegaards „Naturfeindschaft“, die Absage an die natürliche oder gesellschaftliche Heteronomie, soll das Individuum in seiner inneren Wahrheit begründen. Auf diese Weise zeigt sie sich aber, wie das Bild des Intérieurs veranschaulicht, gerade in ihrer Tendenz, den Geist zu „kolonialisieren“. Adorno liest an Kierkegaards Modell der „objektlosen Innerlichkeit“ eine Dialektik von Naturfeindschaft und Naturverfallenheit ab; eine Dialektik, die er in späteren Schriften, vor allem in der Dialektik der Aufklärung, als eine Fehlentwicklung der bürgerlichen Subjektivität erklärt. Der Opferbegriff bezieht sich dabei nicht auf den Ausschluss der Natur aus dem Bereich des Subjektiven, sondern auf den Geist. Denn es ist gerade der Geist, hier auch als Bewusstsein verstanden, der nach Kierkegaard für die unerfüllbare Versöhnung geopfert wird. Adornos Rede vom „paradoxen Opfer“ ist in diesem Sinne zu verstehen: Nirgends wird der Rechtsanspruch von Bewußtsein weiter getrieben, nirgends vollständiger verneint denn im Opfer von Bewußtsein als dem Vollzug ontologischer Versöhnung […]. Kierkegaards Dialektik [schwingt] zwischen der Negation des Bewußtseins und dessen höchstem Recht aus[…]. Für ihn muß Bewußtsein in der Bewegung ‚unendlicher Resignation‘ von allem auswendigen Sein sich losgerissen, in der Freiheit von Wahl und Entscheidung alle Gehalte aus sich selbst heraus gesetzt haben, um endlich, vorm Schein der eigenen Allmacht, diese preiszugeben und untergehend von der Schuld sich zu reinigen, die es auf sich lud, indem es autonom zu bestehen meinte. Das Opfer von Bewußtsein aber ist das innerste Modell jeglichen Opfers in seiner Philosophie.⁷⁶
Ontologische Versöhnung zwischen Subjekt und Objekt wird nach diesem Verständnis letztendlich auf Kosten des subjektiven Geistes, des Bewusstseins, vollzogen. Gerade das, was Adorno „Kierkegaards Spiritualismus“ nennt, der Kierkegaardsche Vorrang des Subjekts, wird durch das Ausschließen der objektiven Natur auf sich selbst gestellt und in einem absurden, paradoxen Akt durch sich selbst negiert, geopfert. Die Natur wird bei Kierkegaard, so Adorno, durch den Geist „vernichtet“: „Macht übers natürliche Leben [bleibt] allein dessen Vernichtung im Geiste und nicht der Versöhnung gegeben […]. Geist selber ist vernichtetes natürliches Leben
Ebd., S. 78. Ebd., S. 152.
1.2 Das Opfer der Vernunft. Der paradoxe Ursprung mythischen Denkens
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und der Mythologie verhaftet.“⁷⁷ Das Verhältnis von Natur und Geist lässt sich daher insofern als ein negatives Verhältnis bestimmen, als der Geist die Natur „vernichtet“. Er mache das Anderssein, die Heteronomie der Natur, zugänglich und verständlich für die identifizierende Vernunft und damit „leblos“. Zudem zerstöre er in einem paradoxen Akt sich selbst und übergebe sich einer Form von Mythologie, einem irrationalen Denken, das einzig eine Versöhnung mit der Natur anstreben könne. Kierkegaards Paradoxie erweise sich jedoch „als naturverstrickt durch ihre naturfeindliche Spiritualität. Seine Polemik wider mythische Hoffnung schlägt um in mythische Hoffnungslosigkeit.“⁷⁸ Mythisch ist Kierkegaards Opferbegriff, weil er ein Subjekt ohne Objekt, einen Selbst- ohne Weltbezug zu denken beabsichtigt – ein Denken, das nach Adorno auf absolute Irrationalität hinausläuft, nicht auf eine Kritik an der Herrschaft der Vernunft. Kierkegaards Vernunftkritik müsse also fehlschlagen, weil sie die Vernunft nicht kritisiert, sondern in eine Art Mythologie aufhebt. Diese Mythologie sei wiederum eine Rückkehr zum idealistischen Denken, das im Zentrum von Kierkegaards Kritik stand. Die „Befreiung“ vom idealistischen Denken, das dem Bewusstsein falsche Priorität zuschreibt, kehrt sich gegen die eigene Absicht zu einer noch stärkeren Form naturfeindlicher – und das heißt: objektfeindlicher –Bewusstseinsphilosophie, wie sie gerade Fichte, Gegenstand mehrerer Angriffe Kierkegaards, vertreten hatte. Diese gegen die eigene Absicht vollzogene Rückkehr zum Idealismus nennt Adorno ein „historisches Trauerspiel mythischen Denkens“.⁷⁹
Paradoxien und Kritik Wenn die Vernunft „als unendliche bei Hegel alle Wirklichkeit aus sich produzierte: [dann ist sie] als unendliche […] bei Kierkegaard die Negation jeder endlichen Erkenntnis; war mythisch dort ihre Allherrschaft, ist es hier ihre Allvernichtung“.⁸⁰ Kierkegaard stellt laut Adorno den ebenfalls negativen Gegenpol zu Hegels Idee der Vernunft dar. Das Vernünftige sei für ihn gerade das Unwirkliche und Unwahre. Die Form der Vernunftkritik, die Kierkegaard in seinen Schriften entfaltet, schlägt gegen sich selbst um, sie zerstört ihren eigenen Gegenstand: das Individuum als ein autonomes, frei denkendes Subjekt. Damit wird nicht das Mythische an Hegels Verabsolutierung der Vernunft in seine Schranken verwiesen,
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 155. S. 156. S. 153. S. 169.
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sondern es wird eine andere, gegensätzliche Form von Mythologie herbeigeführt: eine Mythologie des Opfers. Adorno sieht Kierkegaards Kategorien der Paradoxie und des Opfers als miteinander verschränkt. Das Paradox stelle für Kierkegaard die Grenze der menschlichen Vernunft dar, die das wahrheitsstrebende Individuum überschreiten muss, gerade weil eine innere Wahrheit mit den Mitteln der Vernunft, durch rationales Denken nicht erreichbar ist. Wäre diese Wahrheit durch Vernunft erreichbar, so müsste sie kommensurabel, allgemein verständlich sein. Kierkegaards Begriff der Innerlichkeit als der inneren Wahrheit des Subjekts steht jedoch in einem direkten Widerspruch hierzu: Kennzeichnend für die innere Wahrheit ist es, dass sie inkommensurabel und der allgemeinen Vernunft unzugänglich ist. Sonst wäre sie ein trügerisch-positives Wissen, aber keine Wahrheit. Das Ironische, Absurde oder Paradoxe, das nach Kierkegaard innere Wahrheit begründet, erfordert insofern eine Art Ausschaltung, eine Unterbrechung rationalen Denkens. Dies nennt Adorno die Preisgabe, das Opfer der Vernunft – und sieht darin den paradoxen Ursprung mythischen Denkens. Es wäre jedoch ein Missverständnis, Adornos Kritik an Kierkegaards Vernunftkritik im Sinne einer Rehabilitierung vernünftig-rationalen Denkens zu interpretieren. Die methodische Form seiner immanenten Kritik konzentriert sich auf die implizite Bedeutung der These vom Opfer der Vernunft. Vor allem sind es zwei Argumente, die Adorno vorbringt, um zu zeigen, dass und inwiefern Kierkegaards Kategorie des Paradoxes gerade für seine Konzeption der Innerlichkeit horrende Konsequenzen hat. Das erste Argument nennt Adorno das „Paradoxon“ des „Opfers bloßen Geistes“. Damit ist eine Kritik am Verständnis des Individuums als eines bloßen, reinen Geistes gemeint. Adorno zitiert hierzu Theodor Haeckers Aufsatz (und das heißt: nicht Kierkegaard selbst) über den „Begriff der Wahrheit“ bei Kierkegaard, in dem Haecker Kierkegaards Forderung, der Mensch solle „Geist werden, als der er angelegt ist,wenn möglich reiner Geist“, als „ein fast gnostischer Irrtum“ kritisiert.⁸¹ Das, was Kierkegaard als Opfer im Sinne hat, stellt sich als ein hypostasiertes Verständnis von Bewusstsein heraus: nicht ein konkret gegebenes menschliches Bewusstsein, sondern reines Denken, bloßer Geist. Kierkegaard postuliert nach Adorno ein reines, autonomes Denken, das Heterogenität ausschließt, um dann im paradoxen Akt des Opferns dieses Denken als rational zu eliminieren. „Nicht der symbolisch-gegenständliche Vollzug des Opfers entscheidet für ihn, sondern: daß bei jedem Opfer die Autonomie von Denken gebrochen wird durch Denkbestimmungen.“⁸² Geopfert
Ebd., S. 161. Ebd., S. 163.
1.2 Das Opfer der Vernunft. Der paradoxe Ursprung mythischen Denkens
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werde somit das autonome, rationale Denken, in „einem spontanen Akt des Bewußtseins“⁸³, um „seinen vollkommenen Widerspruch, das ‚schlechthin Verschiedene‘ herbeizuziehen“.⁸⁴ Mit diesem Argument, das Bewusstsein, das reine, autonome Denken solle sich selbst „opfern“ – und das heißt, durch einen spontanen Akt die Vernunft aufheben und in Widerspruch, in das Paradox hineingeraten, um das absolute Andere der Vernunft zu erkennen, rekonstruiert Adorno Kierkegaards Vernunftkritik, um sie angreifbar zu machen. Aus dem Unvermögen der Vernunft, das Andere, Paradoxe, Inkommensurable zu denken, folgt nicht, dass die Vernunft als ganze aufgegeben, geopfert werden muss. Adorno zeigt jedoch, dass Kierkegaard systematisch das Opfer mit der Paradoxie verbindet.⁸⁵ Kierkegaards Forderung nach einer Distanzierung vom vernünftigen Denken, um die wahre, inkommensurable Subjektivität des Einzelnen erfahrbar werden zu lassen, ist für Adorno eine Art mythischen Denkens: die Erhebung eines Anspruchs auf Versöhnung, der nicht erfüllt werden kann.⁸⁶ Damit hängt zusammen, dass eine Versöhnung als Versöhnung von Subjekt und Objekt, Geist und Natur, bei Kierkegaard prinzipiell unmöglich ist, weil bei ihm das Subjekt ein „bloßer“, ein reiner Geist ist und die Natur ausgeschlossen bleibt. So bedeutet das Opfer des Geistes – hier verstanden auch als Opfer der Vernunft oder des Bewusstseins – keine Versöhnung mit der Natur, sondern eine Eingeschlossenheit des Geistes in den blinden Naturzusammenhang. Das Paradox des „Opfers bloßen Geistes“ bedeutet für Adorno gerade keine Fundierung wahrer „reiner“ Subjektivität, die von der Natur und von der ratio „frei“ ist, sondern vielmehr das Fundament einer eigentümlichen Mythologie des Subjekts. Das zweite Argument bezieht sich auf die Struktur der Kierkegaardschen Vernunftkritik. Das Paradox als das Andere der Vernunft, als das, was sie nicht zu denken vermag, stellt für Kierkegaard einen Beweis ihrer Unzulänglichkeit dar. Es soll auf die Möglichkeit eines Denkens des Inkommensurablen verweisen, auf das „schlechthin Verschiedene“, auf das Besondere, das im rationalen Denken nicht zu begreifen wäre. Adorno sieht die Paradoxie als „Kierkegaards kategoriale Grundform“⁸⁷, weil sie das wesentliche strukturelle Element in seinem gesamten Ebd. Ebd., S. 161. Ebd., S. 163: „So wird die ‚religiöse Paradoxie‘ bei Kierkegaard durch einen spontanen Akt des Bewußtseins legitimiert. Das hat zur Konsequenz, daß alle Opfer in seinem Umkreis die Form der Paradoxie annehmen.“ Vgl. David Sherman, Sartre and Adorno. The Dialectics of Subjectivity, New York 2007, S. 22: „Kierkegaard’s trumpeting of conscious sacrificing itself on order to achieve reconciliation is mythical in character, […] because the commitment to reconciliation cannot be immanently fulfilled.“ Adorno, Kierkegaard, S. 164.
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Denken darstelle. „Die Offenbarung ist am Geheimnis erkennbar, die Seligkeit am Leiden, die Gewißheit des Glaubens an der Ungewißheit, die Leichtigkeit an der Schwierigkeit, die Wahrheit an der Absurdität“.⁸⁸ Für Adorno zeigt dieses Zitat aus Kierkegaards Nachschrift die fundamentale Stellung der Paradoxie für die gesamte Struktur der Argumentation Kierkegaards. Ebendieser Paradoxie unterstellt Adorno – gerade in ihrer Fundamentalität – Rationalität. „Der Primat rationaler Paradoxie“⁸⁹ in Kierkegaards Denken bedeutet, dass das Paradoxe, gegen seinen eigenen Begriff, mithin eine rationale Funktion hat. Es soll dem „spontanen Akt des Bewußtseins“ eine wichtige Bedeutung beimessen und so auch den Glauben als paradox und absurd begründen und legitimieren. Die Rede vom Opfer der Vernunft vermag es also nach Adorno nicht, der von Kierkegaard abgelehnten rationalen Denkstruktur zu entgehen. „Das Opfer des Bewußtseins wird mit dessen eigenen Kategorien vollzogen: rational.“⁹⁰ Die Implikationen dieser beiden kritischen Argumente – einerseits die Mythologisierung des paradoxen Opfers, andererseits dessen rational-irrationaler Hintergrund – führen zu der dritten und entscheidenden Behauptung Adornos, Kierkegaards Vernunftkritik und sein Opferbegriff, ursprünglich zur Fundierung eines Verständnisses inkommensurabler Subjektivität konzipiert, bedeuteten eine Untergrabung dieses Verständnisses: eine Preisgabe eben des Individuums, des subjektiv Besonderen, an die „blinde Natur“, an das objektiv Allgemeine. Während Kierkegaards erklärtes Ziel eine Fundierung der Subjektivität durch die Besonderheit des Einzelnen, die Rettung des Besonderen vor der Allgemeinheit ist, führt seine Grundkategorie der Paradoxie – und die negative vernunftkritische Argumentation überhaupt – gerade in die gegensätzliche Richtung: Sie bedeutet eine Art „Zusammenbruch des Individuums“. Dies ist die Hauptthese von Adornos Lektüre. „Der Zusammenbruch des Individuums ist aber konkret die Vernichtung von Zeit und damit die Preisgabe des immanenten Lebenszusammenhangs selber.“⁹¹ Anders formuliert: „Immanenz greift im Opfer über sich hinaus, um in den blinden, gnadenlosen Naturzusammenhang abzustürzen.“⁹² Damit ist die tragische Doppelstruktur des Kierkegaardschen Opfers gemeint: Die starke Akzentuierung der Immanenz bedeutet eine Absage gleichsam an Geist im Sinne rationaler Vernunft und an Natur im Sinne objektiven Weltgeschehens. Aus dem Opfer der Vernunft wird eine Mythologie herausgebildet, aus der Ausschließung der Natur (in der Form objektloser Innerlichkeit) ein Rückfall in den blinden Naturzusam-
Ebd. Ebd. Ebd., S. 162. Ebd., S. 165; meine Hervorhebung. Ebd., S. 168.
1.3 Dialektik des Scheins. Die ästhetische Konstruktion der Wahrheit
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menhang. Der Zusammenbruch des Individuums ist die negative Verbindung beider Enden: Wenn nach Kierkegaards These das Individuum „eine Synthesis des Zeitlichen und des Ewigen“ ist,⁹³ so lautet die Implikation von Adornos Lektüre, dass sowohl das Zeitliche, das heißt: der „immanente Lebenszusammenhang“, der preisgegeben wird, wie auch das Ewige, hier als Mythos entlarvt, gerade die Gründe für den Zusammenbruch des Individuums sind. Gerade die Elemente, die Kierkegaard als Fundamente seines Verständnisses vom autonomen Individuum betrachtet, sind nach Adorno verantwortlich für den Verfall des Individuums ins Mythische und in den blinden „Lebenszusammenhang“.
1.3 Dialektik des Scheins. Die ästhetische Konstruktion der Wahrheit Die Behauptung, Kierkegaards gesamte Philosophie, vor allem sein religiöses Denken, lasse sich als ästhetisch, als eine „Konstruktion des Ästhetischen“ beschreiben, entspricht Adornos Verständnis einer kritischen Lektüre, die ihren Gegenstand nach dessen eigenem Wahrheitsanspruch befragt. Sie beabsichtigt es insofern nicht, Kierkegaards Philosophie als gegenstandslos oder bloß ideologisch zu verwerfen, sondern vielmehr die immanente, innere Wahrheit aufzudecken, die in seinem Denken verborgen enthalten ist. So impliziert auch Adornos Lektüre die These, die Subjektivität sei die Wahrheit – jedoch in einem entschieden anderen Sinne, als Kierkegaard dies behauptete. Der Unterschied zwischen beiden „Wahrheits“-Thesen, Kierkegaards und Adornos, die zunächst ähnlich lauten, verweist auf die Nähe und die Differenz zwischen beiden Auffassungen. Bestand für Kierkegaard die Wahrheit der Subjektivität in ihrer inkommensurablen, absoluten Differenz zur Allgemeinheit, zur potentiellen Scheinhaftigkeit der objektiven Welt (daher rührt auch sein erklärtes Misstrauen gegenüber der Ästhetik), so sieht Adorno gerade im ästhetischen Schein, also im trügerischen Charakter des Objektiven, den entscheidenden Kern subjektiver Wahrheit. Adornos Übereinstimmung mit Kierkegaard ist insofern selbst eine ironische: Er rekonstruiert das gesamte philosophische Denken Kierkegaards, vor allem seine religiöse Auffassung, als ein im Grunde ästhetisches Denken – um zu behaupten, nun sei die Subjektivität die Wahrheit. Und das heißt: Adorno behauptet, dass nur dadurch, dass man Kierkegaards Philosophie als eine „Konstruktion des Ästhetischen“ verstehe, auch seine Hauptthese, die Subjektivität sei die Wahrheit, Plausibilität zu gewinnen vermöge. Der Blick auf die Entstelltheit der Subjektivität bei Kier-
SKS 4, 388 / BA, 86.
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kegaard ermögliche so ein Verständnis der Wahrheit über diese Entstellung, über die Entfremdung des Subjekts, zu der gerade die bürgerliche Subjektphilosophie beitrage.Während Kierkegaard sich erklärtermaßen zunehmend von der sinnlichunmittelbaren Bedeutung ästhetischer Reflexion distanzierte, macht Adorno den philosophischen Begriff ästhetischer Wahrheit – nicht gegen Kierkegaards Denken, sondern in ihm, wenn auch gegen seine eigene Intention – zum Hauptelement im Verstehen des „Wahrheitsgehalts“ seiner Philosophie. Denn (nur) als eine „Konstruktion des Ästhetischen“ habe Kierkegaards Philosophie, insbesondere seine These über die Wahrheit der Subjektivität und seine Konzeption der Negativität, ihre eigenartige Plausibilität. Das abschließende Kapitel des Kierkegaard-Buchs, entsprechend dem Untertitel des Buchs selbst als „Konstruktion des Ästhetischen“ betitelt, präsentiert eine Konstellation, in der Wahrheit, Subjektivität und Ästhetik untrennbar miteinander zusammenhängen. Ausschlaggebend für Adornos Kierkegaard-Interpretation ist das Verständnis einer „Dialektik des Scheins“. Damit ist gemeint, philosophische Wahrheit manifestiere sich stets im ästhetischen Schein, während erst die Auflösung des ästhetischen Scheins, sein Zerfall, subjektive Wahrheit ermögliche. In ihrer Scheinhaftigkeit hat die Ästhetik die Fähigkeit, eine Konstitution innerer Wahrheit zu ermöglichen; in dem Zerfall ebendieses Scheins stellt sie das Subjekt vor sich selbst, konfrontiert es mit jener ästhetisch gewonnenen Wahrheit. Als der „Weg“ zur ästhetischen Wahrheit ist die Dialektik des Scheins im doppelten Sinne ein negativer Prozess. Erstens stellt sie das Subjekt vor die objektive, (für Adorno immer auch: gesellschaftliche) Welt und verlangt nach einer Konfrontation mit dieser. Der ästhetische Schein ist nach diesem Verständnis immer eine Art Negation der Wirklichkeit. Zweitens besteht die Dialektik des Scheins in der auflösenden Negation jenes Scheins, der für die Fundierung subjektiver Wahrheit (als inneres Erlebnis, als unmittelbare Erfahrung) konstitutiv war. Die Auflösung des Scheins zeigt sich als eine „Ruine“ der Wahrheit des ästhetisch erfahrenden Subjekts.
Subjektives „Wie“ Im Hauptkapitel, dem letzten des Buchs, greift Adorno auf die anfangs erläuterte Äquivokation des Ästhetischen bei Kierkegaard zurück. Neben Kunstphilosophie und Existenzsphäre war die dritte – und entscheidende – Bedeutung des Ästhetischen das „Wie der subjektiven Mitteilung“.⁹⁴ Das „subjektive ‚Wie‘“, Ausdrucksform der unausdrückbaren Subjektivität, stellt für Adorno ein wesentliches
Adorno, Kierkegaard, S. 26.
1.3 Dialektik des Scheins. Die ästhetische Konstruktion der Wahrheit
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Problem in Kierkegaards Philosophie dar. Seine Kritik am Problem des „subjektiven ‚Wie‘“ bildet folglich das gedankliche Fundament für die These über die ästhetische Wahrheit, über den ästhetischen Charakter subjektiver Wahrheit. So möchte ich im Folgenden zuerst das Konzept des existentiellen „subjektiven ‚Wie‘“ nachzeichnen, das in Adornos Lesart dem ästhetischen Schein entgegensetzt wird, um dann die Konzeption ästhetischer Wahrheit zu befragen, die Adorno mit und gegen Kierkegaard vorstellt. „Das Reich des Ästhetischen“ – das in Adornos Augen das gesamte Denken Kierkegaards umfasst – ist „schmerzlich durchfurcht von Subjektivität, die in ihm ihre Spuren zurückläßt ohne es je zu beherrschen – es empfängt seine Struktur aus den Bildern, die dem Wunsch erscheinen, nicht aber von ihm erzeugt sind, da er doch aus ihnen selber hervortritt.“⁹⁵ Das Kierkegaardsche Subjekt stellt sich für Adorno als ein durchaus ästhetisches Subjekt dar, das in der Illusion der Unmittelbarkeit lebt; im Schein der Scheinlosigkeit. Dabei bezieht sich Adorno pauschal auf das gesamte Spektrum von Kierkegaards Denkens und unterscheidet nicht zwischen fiktiven Figuren, Pseudonymen und ihrem tatsächlichen Verfasser: Alle sind für ihn eins als das ästhetische Subjekt, das sich vom objektiven Lebenszusammenhang losgelöst glaubt. Auf eine widersprüchliche Weise wirft Adorno Kierkegaard eine „Kunstfeindschaft“ vor.⁹⁶ „In ihr spricht, als letzte Antwort der Dialektik des Scheins, Sehnsucht nach der scheinlosen Gegenwart sich aus.“⁹⁷ Das Misstrauen gegenüber der Ästhetik und ihrem Scheincharakter, Kierkegaards „Verdikt über die ‚ästhetische Sphäre‘“, bildet für Adorno das „negative Korrelat“ zu Kierkegaards „Theorie des subjektiven Wie“.⁹⁸ Der immanente Widerspruch, den Adorno bei Kierkegaard aufdeckt, ist der Wunsch des ästhetischen Subjekts nach einer „scheinlosen Gegenwart“. Kierkegaards „Feindschaft“, die Adorno hier im Sinne hat, ist nicht streng genommen eine Feindschaft gegen die Kunst als solche, sondern gegen ihren Scheincharakter, gegen den Trug der objektiven, sinnlichen Welt. Diese Feindschaft ist insofern ein immanenter Widerspruch, als sie die Feindschaft des Subjekts gegen das ist, wodurch es selbst konstituiert wird. Kierkegaards „existentielle Mitteilung“ strebe nach „Scheinlosigkeit“; als eine Mitteilung innerer Wahrheit duldet sie keinen Schein, keine äußere Erscheinung, denn diese würde sie kommensurabel, direkt, ersichtlich machen und sie dadurch entstellen.⁹⁹
Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd.,
S. 181. S. 193. S. 190. S. 191: „Kierkegaards scheinlose, ‚existentielle‘ Mitteilung.“
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Das „subjektive ‚Wie‘“ ist daher ein polemischer Ausdruck gegen die Kommensurabilität herkömmlich-verständlicher Sprache, die sich auf die objektive Welt bezieht. Möglicherweise wäre dem ein „objektives ‚Was‘“ entgegenzusetzen, eine allgemeinverständliche Mitteilung, eine Objektivität, die, aus der Perspektive des Kierkegaardschen subjektiven Denkers, nichtssagend dem Bereich der Unwahrheit zuzurechnen wäre. Das „subjektive ‚Wie‘“ als Ausdrucksform der Innerlichkeit des subjektiven Denkers ist nach Kierkegaard per definitionem inkommensurabel, existentiell (d. h. nur aus und in der konkreten Existenz begreiflich und erfahrbar) und als solches gegen den Schein des Gegebenen, der objektiven Welt „immun“.¹⁰⁰ Adorno stellt genau diese „Immunität“ der indirekten, subjektiven Mitteilung in Frage. Kierkegaard, so seine scharfe Kritik, verkenne die Bedeutung des Scheins – mit fatalen Folgen für seine Konzeption subjektiver Wahrheit. Denn er nehme für das Eigenste und Subjektivste etwas, das im Grunde alles andere als subjektiv ist. Sein Unvermögen, den Schein und seine Bedeutung zu durchschauen, lässt ihn diesem anheimfallen. Dieselbe Kritikfigur, die Adorno am Bild des Intérieurs extern, das heißt: sozial-historisch und literarisch (im Hinblick auf die von Kierkegaard verwendeten Metaphern) diagnostiziert, kommt hier als eine immanente, systematisch-konzeptionelle Kritik zur Anwendung: „So wenig Kierkegaard den Schein an aller bloß reflektierten und reflektierenden innersubjektiven Wirklichkeit erkannte, so wenig ward der Schein des Räumlichen im Bilde des Intérieurs von ihm durchschaut.“¹⁰¹ Das Intérieur war insofern Schein, als es alles andere als dem Außen entzogen war. Es war der räumliche Trug einer Isolation, der sich als „innersubjektive Wirklichkeit“ maskierte. So auch die subjektive Mitteilung, das subjektive „Wie“ der Mitteilung. Es enthüllt sich als Schein. Allerdings ist der Schein für Adorno, anders als für Kierkegaard, nicht verwerflich, er gleicht nicht einer Lüge; der Begriff Schein ist nicht pejorativ gemeint. Gerade in seiner Entstelltheit hat der Schein in Adornos Lesart eine dialektische Bedeutung.
Eine weitere Weise, das „subjektive ‚Wie‘“ zu erläutern, greift auf die Unterscheidung von Form und Inhalt zurück: „Mit dem Begriff „das Wie“ (dän[isch]: hvorledes) ist das näher bestimmt, was eben ‚Form‘ hieß. Das inhaltliche Komplement dazu lautet ‚das Was‘. Im Unterschied zu dem abstrakt-logischen Ausruck ‚Form‘ verlegt der Terminus ‚das Wie‘ den Ton entschiedener darauf, daß das Moment von Subjektivität gemeint ist. Ausdrücke wie ‚das Wie, die Art und Weise‘ beziehen sich bei Kierkegaard deutlicher auf subjektiv konkrete Vollzüge, denn es ist immer die Weise der Aneignung eines Was bzw. des Umgangs damit gemeint, also ein Verhaltensmodus.“ Ringleben, Aneignung, S. 301. Adorno, Kierkegaard, S. 65.
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Sind die ästhetischen Bilder, die ihn umgeben, als ontologischer Schein der subjektiven Autonomie entrückt, so verliert Kierkegaards Theorie des subjektiven Wie und ihr negatives Korrelat, das Verdikt über die „ästhetische Sphäre“, die letzte Legitimation. Denn die Erkenntnis des subjektiven Denkers und alle Kunst bleibt für Kierkegaard stets „Mitteilung“ […]. Mitteilung aber ist gebunden an Autonomie: an die des Mitteilenden, der einem „Inhalt“ die Form aufprägt, und an die des fiktiven und abstrakten Empfangenden, nach welcher jene Form sich richtet, damit er „verstehen“ kann; das Gesetz, das dem Gebilde selbst innewohnt, ist durch Mitteilung entwertet.¹⁰²
Kierkegaards Theorie der subjektiven Mitteilung scheint Adorno demnach problematisch und illegitim, weil sie zwischen ästhetischem Schein und subjektiver Autonomie einen Abgrund aufreißt, der schließlich die Autonomie selbst verunmöglicht: Die Form der Mitteilung sei alles, der Inhalt als Autonomie miteingeschlossen. Kierkegaards subjektives „Wie“ kann jedoch nicht mehr als „Mitteilung“ sein, als Veräußerungsversuch eines Nicht-Veräußerbaren, solange es das Ästhetische als bloßen Schein verwirft. So bleibt das „Wie der Mitteilung […] subjektives Surrogat für die zwangvolle Erscheinungsweise von Ontologie, die in Abstraktheit unterzugehen droht“.¹⁰³ Wird das Ästhetische dem Subjektiven entgegengesetzt und als ontologischer Schein (im Sinne des Unwahrheitsvorwurfs an die objektive Welt, das zentrale Argument in der Nachschrift) verworfen, so wird subjektive Mitteilung zum Ausdruck ebendieser objektiven Ontologie. Kierkegaards subjektive Mitteilung sei so eine Mitteilung ohne Autonomie; sie drücke, als wäre es ihr Eigenes, etwas Fremdes aus.
Schein und Existenz Adornos Feststellung, Kierkegaard verwerfe den ontologischen Schein als objektiv oder ästhetisch zugunsten der reinen, subjektiven Existenz, wirft freilich eine bestimmte Schwierigkeit auf. Adorno hält Kierkegaard vor, „jene ‚ästhetische‘ Haltung [behaupte] sich seiner Existenzlehre zum Trotz“.¹⁰⁴ Man müsste aber genauer zwischen der Bezeichnung „ästhetisch“ im „ästhetischen Schein“ und jener Beschreibung der Kierkegaardschen Theorie der Existenz als ästhetisch unterscheiden. Denn auch Kierkegaard verwendet trotz seines Misstrauens gegenüber dem Ästhetischen diesen Begriff, im Sinne von Unmittelbarkeit oder Absurdität, gerade in seiner Theorie der Existenz, nämlich in der Kritik an der „bloß“-ästhetischen Existenz. Adornos Entgegensetzung von ästhetischem Schein
Ebd., S. 190. Ebd., S. 191. Ebd., S. 182.
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(den Kierkegaard angeblich verwirft) und scheinloser Existenz (als Charakteristik seines Denkens) müsste insofern differenzierter betrachtet werden. Beides – ästhetischer Schein und (nicht-ästhetische oder Ästhetik-kritische) Existenz – enthalten Formen, wenn auch verborgene, eines ästhetischen Denkansatzes. Diese Differenzierung ist jedoch notwendig, um Adornos Konzeption einer „Dialektik des Scheins“ genauer zu verstehen. Schein und Existenz sind nach Kierkegaard extreme Gegenpole, miteinander unvereinbare Konzeptionen der Subjektivität (ästhetisch-romantische und ästhetisch-religiöse); für Adorno sind sie miteinander verschränkt. Dadurch, dass er in Kierkegaards Denken das Romantisch-Ästhetische mit dem Religiösen identifiziert, übersieht er eine wichtige systematische Differenz. „[D]ie Kierkegaardsche Unscheinbarkeit bedeutet nicht bloß die Vernichtung von Schein im Tode sondern sein endliches Verlöschen in der Wahrheit, die, einmal leibhaft gegenwärtig, die Bilder verschwinden ließe, in denen sie doch ihr geschichtliches Leben hat.“¹⁰⁵ Kierkegaards „Kampf“ gegen die „Objektivität“, gegen die „bloßen Tatsachen“, die keine ewige Wahrheit fundieren können und den Menschen in die leere Welt des „Scheins“ sich verirren lassen, bedeutet für Adorno zugleich, wie die Vernichtung der Vernunft als solcher, auch eine Zerstörung, die das geschichtlich konkrete Leben verschwinden lässt. Das Beispiel, das Adorno hier aus Kierkegaards Entweder/Oder anführt, ist die Argumentation des Gerichtsrats gegen das Ästhetische. Beide kämpfen um die Ewigkeit, gegen die Zeit. Der Ästhetiker jedoch, für den die Zeit keine Realität, sondern bloß ein Schein sei, habe die Zeit „nur totgeschlagen, wie man eben die Zeit totschlägt, wenn sie keine Realität für einen ist“¹⁰⁶; der Gerichtsrat erkennt hingegen keinen Schein an, sondern nur die eigene subjektive Existenz, er lebt im Paradox der Zeit selbst: Er „lebt in der Ewigkeit und hört doch die Uhr schlagen und ihr Schlag verkürzt nicht seine Ewigkeit, sondern verlängert sie / ein wundervolles Paradox“.¹⁰⁷ Beide Anschauungen – des Scheins und der Existenz – ließen sich als ästhetisch bezeichnen. Sie betreffen zugleich den Unterschied und die Verschränkung von Schein und Existenz. Kierkegaard, so Adornos umstrittene Deutung,¹⁰⁸ fordere die Aufdeckung des Scheins als einer falschen Ontologie, als eines ästhetischen Betrugs. Dies ist insofern undialektisch, als damit der dialektische Charakter des ästhetischen Scheins übersehen wird – eine für Adornos
Ebd., S. 193. Ebd., S. 194. Ebd. Zur Polemik gegen Adornos Kierkegaard-Verständnis vgl.: Walter Dietz, Sören Kierkegaard: Existenz und Freiheit, Frankfurt am Main 1993, S. 38 – 39.
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Denken folgenreiche These, die sich hier in ihren ersten entscheidenden Zügen herauskristallisiert. Adornos Kierkegaard „verwirft den ästhetischen Schein, ohne die dialektische Bahn zu Ende zu verfolgen, welche die Transparenz des Scheins in diesem selber sichtbar werden lässt. Undialektisch sind ihm die Bilder endliche Güter, die das unendliche der Seligkeit versperren.“¹⁰⁹ – Angespielt wird hier auf die ausschlaggebende These aus den Philosophischen Brocken, man könne keine „ewige Seligkeit gründen auf ein geschichtliches Wissen“.¹¹⁰ Nach Adorno besteht Kierkegaards Fehler darin, dass er dem ästhetischen „Bilderreich“ insofern Endlichkeit zuspricht, als diese Bilder für historische, objektive Tatsachen gehalten werden. Der Schein stellt keinen Gegensatz zu den Tatsachen – die ihrerseits ewige Seligkeit als subjektive Wahrheit versperren – dar, sondern wird als eine nahezu „objektive“ Tatsache betrachtet. Dem widerspricht Adorno nicht. Oder genauer: nicht nur. Kierkegaards Fehler bestehe also nicht in einer Verwechslung von Schein und Tatsache, sondern vielmehr darin, dass er die andere, komplementäre Seite des ästhetischen Scheins übersehe: dessen Untrennbarkeit von der subjektiven Existenz, dessen Unentbehrlichkeit gerade für dasjenige Verständnis subjektiver Wahrheit, das Kierkegaard selbst im Sinne habe. Der ästhetische Schein – das zeigt Adorno gegen und zugleich auch mit Kierkegaard – ist konstitutiv für die existentielle Konzeption subjektiver Wahrheit.
Ästhetische Wahrheit In Übereinstimmung mit Kierkegaard sieht Adorno den Begriff subjektiver Wahrheit als einen besonders problematischen Begriff, weil er sich jeder positivobjektiven, allgemeinverständlichen Bestimmung entzieht, daher nur im Negativen bleibt. Solche Negation rationalen Denkens scheint Adorno mit dem Ästhetischen selbst eng verbunden. Er legt dar, inwiefern der von Kierkegaard abgelehnte ästhetische Schein in dessen eigenem Denken eine solche zentrale Stelle besitzt, dass man gerade dieses Denken, das sich abstrakt und negativistisch versteht, als allegorisches Denken in Bildern, als eine „Bilderwelt“ von „Labyrinthen und Spiegelungen“ (wie Benjamin selbst in seiner Rezension von Adornos Kierkegaard-Buch schreibt) bezeichnen kann.¹¹¹ Hierin besteht Adornos Kritik an
Adorno, Kierkegaard, S. 194. SKS 4, 213 / PB, 1; vgl. auch SKS 7, 92 / AUN1, 86: „Lessing hat gesagt […], daß der Übergang, wodurch man auf eine geschichtliche Nachricht eine ewige Wahrheit gründen will, ein Sprung sei.“ Walter Benjamin, „Kierkegaard. Das Ende des philosophischen Idealismus“, in Gesammelte Schriften, Bd. III, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, S. 380 – 383, hier:
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Kierkegaard, an dessen Übersehen des ästhetischen Ursprungs seines eigenen Denkens, aber zugleich auch das Plausible und Produktive, das Adorno in Kierkegaards Denken findet. Denn Kierkegaard konzipiert, freilich ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, das philosophische Fundament ästhetischer Wahrheit, deren Implikationen für seine Subjektivitätstheorie unüberschätzbar sind. Demnach, so lautet Adornos Umkehrung des Verhältnisses von Schein und Existenz, „hat der Erkennende im Schein Anteil an Wahrheit, den scheinlose Existenz in ihrer leeren Tiefe niemals erlangte“.¹¹² Sprach Kierkegaard von der Wahrheit (oder genauer: von der Wahrheitsmöglichkeit) subjektiver Existenz als Gegensatz zum trügerischen ästhetischen Schein (des Genusses – sei es der Kunst oder der Sinnlichkeit), so vertauscht Adorno die beiden Seiten: Gerade durch den Schein kommt die Idee der Wahrheit zum Ausdruck, während die „scheinlose“, also nicht- oder antiästhetische Existenz in die Leere gerät, in die „objektlose Innerlichkeit“. Die hiermit gemeinte Idee der Wahrheit ist nicht deshalb ästhetische Wahrheit, weil sie den ästhetischen Schein in seiner Unmittelbarkeit und Unabdingbarkeit zum Gegenstand hat; ebensowenig im kritischen Sinne, das heißt, weil er eine subjektiv-ästhetische alternative Wirklichkeit, alternativ zur negierten bestehenden Welt, hervorbringe. Das Ästhetische der Wahrheit besteht vielmehr in der Dialektik des Scheins, die Kierkegaard selbst übersieht. Diese Dialektik, wie Adorno sie hier entfaltet, oder genauer: die andere, „wahre“ Seite der dialektischen Struktur, hat einen negativen Charakter – und zwar einen doppelten. Adorno redet in diesem Zusammenhang einerseits von Phantasie, andererseits vom Zerfall. Diese ließen sich auch als die beiden Pole betrachten, zwischen denen sich die gesamte Interpretation bewegt. „Die theologische Wahrheit“, so möchte Adorno den Bezug zu „Kierkegaards eigentliche[m] ontologische[m] Ansatz“ herstellen, „wird von ihrer Chiffriertheit und Verstelltheit gerade garantiert, und der ‚Zerfall‘ mit den menschlichen Grundverhältnissen enthüllt sich als Geschichte von Wahrheit selber.“¹¹³ Dabei überträgt Adorno allerdings stillschweigend seine eigene Behauptung über Kierkegaards „theologische Wahrheit“ auf die ästhetische. Auch hier dekonstruiert er das Theologische bei Kierkegaard als ästhetisch – er verfehlt zwar Kierkegaards eigenen Gedanken, dies jedoch in der Absicht, auf einen anderen Sachverhalt hinzuweisen. „Chiffriertheit und Verstelltheit“ garantieren für Adorno mithin die Wahrheit am Schein. Denn die Erkenntnis des ästhetischen Scheins als
S. 382. Vgl. Britta Scholze’ Ansatz zur allegorietheoretischen Bedeutung des Kierkegaard-Buchs. Britta Scholze, Kunst als Kritik. Adornos Weg aus der Dialektik, Würzburg 2000, S. 242– 264. Adorno, Kierkegaard, S. 181. Ebd., S. 178.
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solchen verweist auf das Verstellte, auf das Ent- und Gestellte jener Bilder und Schauplätze, die als Schein, als Allegorien, in der Wirklichkeit gegeben sind. Der Begriff der Phantasie – den Adorno zwar von Kierkegaard übernimmt, an dem er jedoch zugleich eine gewisse Verschiebung vornimmt – bezieht sich auf die ästhetische Einbildungskraft, mit anderen Worten: auf die Wahrnehmung des Scheins. So behauptet Adorno, Kierkegaard verrate „als Gegner [des ästhetischen Scheins] ins Wesen von Phantasie die tiefste Einsicht“.¹¹⁴ „Denn das Einbildungsbild (sic!)“ – so zitiert Adorno aus Kierkegaards Einübung im Christentum – oder das Bild, das die Einbildungskraft wiedergibt oder festhält, ist doch in einem Sinn Unwirklichkeit, ihm fehlt die Wirklichkeit der Zeit und der Zeitlichkeit und des Erdenlebens in Bezug auf Beschwerden und Leiden […].Wenn sich ein Schauspieler in Lumpen kleidet / und bestände seine Tracht fast den gewöhnlichen Anforderungen der Bühne zum Trotz buchstäblich aus Lumpen: so ist dieser Betrug einer Stunde doch etwas ganz anderes als im täglichen Leben der Wirklichkeit in Lumpen zu gehen. Nein, wie sehr sich die Einbildungskraft anstrengt dieses Bild der Einbildung zur Wirklichkeit zu machen, sie vermag es nicht.¹¹⁵
Demzufolge lautet Kierkegaards These, es müsse ein unüberwindbarer Abgrund zwischen der ästhetischen Einbildungskraft – Adorno übersetzt sie durch Phantasie – und der Wirklichkeit, oder genauer: dem Leiden in der Wirklichkeit, liegen. Der Schein als das Bild der Einbildungskraft kann demnach keiner Wirklichkeit entsprechen, das Bild bleibt stets ein „Trugbild“. Dieses wird von Kierkegaard freilich nicht deshalb verworfen, weil es bloß subjektiv, nicht „empirisch“ ist, sondern aus der Perspektive des anderen Extrems der Subjektivitätskritik: Der ästhetische Schein kann die Wirklichkeit – und hier ist nicht die objektive, sondern die subjektive Wirklichkeit gemeint: die des Leides – nicht ausdrücken. Kierkegaards eigener Satz, von Adorno zwischen den beiden Zitatteilen ausgeklammert, lautet: Das „wirkliche Leiden dieser Wirklichkeit […] kann von der Einbildungskraft nicht wiedergegeben werden, es kann nur sein.“¹¹⁶ Die wesent-
Ebd., S. 195. Zitiert in Adorno, Kierkegaard, S. 195 – 196, aus der Übersetzung von H. Gottsched (1912): ECS, 167– 168. In der neueren Übersetzung von Emanuel Hirsch (1962) heißt es: „Denn das eingebildete Bild, oder das Bild, welches die Einbildungskraft spiegelt oder festhält, ist doch in gewissem Sinne etwas Unwirkliches, es entbehrt der Wirklichkeit von Zeit, Zeitlichkeit und Erdenleben im Hinblick auf Beschwerlichkeiten und Leiden […]. Ein Schauspieler in Lumpen – und bestünde seine Tracht auch den gewöhnlichen Anforderungen der Schaubühne zum Trotz aus richtigen echten Lumpen: dieser Trug einer kurzen Stunde ist doch ganz etwas anderes als im wirklichen alltäglichen Leben mit Lumpen bekleidet zu sein. Nein, wie große Anstrengungen die Einbildungskraft auch mache, dies eingebildete Bild zur Wirklichkeit zu erschaffen, sie vermag es nicht.“ SKS 12, 186 – 187 / EC, 186 – 187. SKS 12, 187 / EC, 187.
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liche Differenz zwischen Einbildung und unmittelbarer Erfahrung wird hier deutlich. Die vorstellende Einbildung kann die unmittelbare Erfahrung nicht ersetzen. Genau an diesen Punkt knüpft Adornos Dialektik oder „Rettung“ des Scheins an.¹¹⁷ Der Schein verweist doch auf jene „Chiffriertheit und Verstelltheit“ der Wirklichkeit: mithin des realen Leids, das außerhalb der ästhetischen Betrachtung übersehen, verborgen, ignoriert bleibt. Dieses Leid kann nicht „wiedergegeben“ werden, sondern nur „sein“, nur erlebt werden. Ein solches Verständnis der Dialektik, der Rettung des ästhetischen Scheins bedeutet, dass dieser – als Trug! – doch wahr ist, dass er als „Phantasie“ gerade auf das Unphantastische in der Wirklichkeit verweist. „Wenn aber Phantasie es nicht vermag, das letzte Bild der Verzweiflung konkret zu fassen“, so Adorno, „dann ist ihr Unvermögen nicht Schwäche sondern Stärke.“¹¹⁸ Die Stärke des Unvermögens ist die wahre Dimension jenes Trugs, des ästhetischen Scheins. Seine Unfähigkeit, das nur Erfahrbare darzustellen, erzwingt eine Leerstelle in der Vorstellung, die auf das Leid als ein inkommensurables aufmerksam macht: „Die Unvorstellbarkeit von Verzweiflung durch Phantasie ist deren Bürgschaft für Hoffnung.“¹¹⁹ Adorno erkennt in Kierkegaards Denken selbst, in dem Denken also, das als ein ästhetisches, allegorisches „Bilderreich“ unbeherrschter Subjektivität dechiffriert wird, gerade den Kern einer ästhetischen Wahrheit. Darin besteht seine weitere Provokation gegen Kierkegaard; dessen allegorisches „Bilderreich“ mache zum Traditionell-Platonischen […] den vollkommenen Gegensatz aus. Es ist nicht ewig, sondern historisch-dialektisch; es liegt nicht in klarer Transzendenz über der Natur, sondern geht dunkel auf in ihr; es ist nicht scheinlose Wahrheit, sondern verspricht widersinnig die unerreichbare in der Opposition ihres Scheins; es eröffnet sich nicht dem Eros, sondern erstrahlt im Zerfall. Im historischen Zerfall der mythischen Einheit unmittelbaren Daseins; in der mythischen Dissoziation des historisch Existierenden.¹²⁰
Ewigkeit, Transzendenz und scheinlose Wahrheit, gerade die für Kierkegaards Denken bedeutenden Bestimmungen, spricht Adorno seinem Denken ab. Stattdessen diagnostiziert er darin die Tendenz des Zerfalls. Kierkegaards Denken „erstrahlt im Zerfall“, weil es gerade dort eine Einheit postuliert, wo sie als solche nicht möglich ist. Sie ist nur als mythisch möglich, als Schein. Es ist aber ebenso inhärent für Kierkegaards Denken, dass dieser Schein – einer Einheit des Subjekts,
Die These über die Rettung des Scheins, die hier ansatzweise ihre erste Formulierung findet, spielt eine zentrale Rolle in Adornos späterer Ästhetik und Metaphysikkritik. Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 164 und Negative Dialektik, S. 386. Adorno, Kierkegaard, S. 196. Ebd. Ebd., S. 181.
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einer Ewigkeit oder Transzendenz – zerfallen muss, und darin, in dieser unauflöslichen Negativität, besteht auch seine Wahrheit. Darum ist nicht das totale Selbst und sein totales Gebilde, sondern allein das Fragment der zerfallenden Existenz, bar allen subjektiven ‚Sinnes‘, Zeichen der Hoffnung, und seine Bruchlinien sind die wahren Chiffren, historisch und ontologisch in eins.¹²¹
Der verabsolutierten und isolierten Subjektivität, die Adorno in Kierkegaards Denken feststellt, lässt sich ein anderes Subjektivitätsverständnis, ein anderes Verhältnis von Subjektivität und Wahrheit gegenüberstellen, das im ästhetischen Schein, genauer: in der (Selbst‐)Auflösung des ästhetischen Scheins, sein Fundament hat. Ästhetische Wahrheit bedeutet demnach eine Aufdeckung, eine Auflösung der im Schein gegebenen Einheit, deren Zerlegung und Dechiffrierung. Die Auflösung des im Schein gegebenen subjektiven Sinns führt auf die „Vorstellung der brüchigen, fragmentarischen Menschen“ zurück:¹²² Der subjektive Sinnverlust, den Kierkegaard in seiner Zeit beobachtet, korrespondiert mit dem Sinnverlust des ästhetischen Scheins, mit der Notwendigkeit seines Zerfalls, des Zerfalls seiner Einheit, in der wiederum eine Form von Wahrheit in Erscheinung tritt: „Ist die Geschichte der schuldhaften Natur die des Zerfalls ihrer Einheit, so bewegt sie zerfallend der Versöhnung sich zu, und ihre Fragmente tragen die Risse des Zerfalls als verheißende Chiffren.“¹²³ Somit ist es nach Adorno gerade die Phantasie, die ästhetische Einbildungskraft, die imstande wäre, sich der Möglichkeit einer Versöhnung zu nähern: Versöhnung steht hier der trügerischen Einheit entgegen; sie wird erst durch den Zerfall der Einheit, des ästhetischen Scheins, ermöglicht – und genau deshalb bedarf sie dieses Scheins. Die Phantasie „wendet die Spuren des Zerfalls […] um“ und bringt damit das Bild der Versöhnung hervor – „im Schein aus Trümmern“.¹²⁴ Nicht der Schein an sich ist der „Garant“ einer ästhetischen Wahrheit, sondern seine Trümmer, sein Zerfall, seine Ruinen.¹²⁵ Demzufolge führt die Dialektik des Scheins insofern in eine ästhetische Wahrheit, als sie gerade die Zerlegung des
Ebd., S. 197. Ebd., S. 198. Ebd. Ebd. Adorno zitiert hierfür aus den Schriften des Ästhetikers in Entweder/Oder, ohne darüber zu reflektieren, ob dieser mit Kierkegaard identifiziert werden kann, ob er Kierkegaards eigenen Denkansatz tatsächlich widerspiegelt: „Nachgelassene Schriften sind Ruinen; und Ruinen sind für Abgeschiedene der rechte Aufenthaltsort. Was wir Abgeschiedenen schaffen, soll durch Kunst die Wirkung nachgelassener Schriften haben.“ Adorno zitiert aus der Schrempf-Übersetzung: EOS1, 138. Vgl. SKS 2, 151 / EO1, 163.
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Scheins, den Zerfall seiner trügerischen Einheit hervorruft und somit eine Art brüchiger, fragmentierter, aber zugleich unmittelbarer Wahrheit ermöglicht. „Es ist die Region des dialektischen Scheins, in dem Wahrheit historisch, mit dem Zerfall von Existenz sich verspricht.“¹²⁶ Genau besehen erweist sich Adornos Habilitationsschrift weder als eine Arbeit zu Kierkegaards philosophischer Ästhetik noch als eine solche zum ästhetischen Aspekt seines Existenzdenkens. Durch die Auseinandersetzung mit der Konzeption des Absurden und Paradoxalen am Verhältnis von Subjektivität und Wahrheit, die diese gesamte Konzeption für ästhetisch erklärt, entwickelt Adorno einen radikalen Begriff des Ästhetischen, der alle Facetten menschlicher Existenz samt dem Unbegrifflichen und Unbegreiflichen, dem Irrealen und Zerfallenden umfasst. Oft wird Adornos Kierkegaard-Interpretation vorgehalten, sie verwechsle Kierkegaards ästhetische Pseudonyme (vor allem den Ästhetiker in Entweder/Oder) mit dessen eigener Position. So werde zwischen den ästhetischen (ebenso wie den ethischen) Überlegungen und dem religiösen Denken nicht unterschieden.¹²⁷ Adornos eigene interpretative These darf aber durchaus in dem Sinne verstanden werden, dass eine solche klare Unterscheidung und Entscheidung zwischen dem Ästhetischen und dem Religiösen aus sachlichen Gründen nicht möglich sei. Adorno geht es demnach weniger um eine „treue“, objektive Schilderung der Kierkegaardschen Gedanken, sondern vielmehr um eine immanente Kritik im Sinne einer neuen Konstellation der Gedanken, die es ermöglicht, die verborgene Funktion des ästhetischen Moments in Kierkegaards Denken zu beleuchten und dabei vor allem die damit einhergehende Subjektivitätsform zu hinterfragen. Erweist sich die religiöse, paradoxe Innerlichkeit als eine ästhetische Konstruktion von Subjektivität, so gewinnt Kierkegaards Frage nach wahrer Subjektivität, nach dem Verhältnis von Subjektivität und Wahrheit eine neue, radikale Dimension. Denn die Konzeption ästhetischer Subjektivität, die Adorno in Auseinandersetzung mit Kierkegaard entwickelt, unterscheidet sich sehr stark von der romantischen Konzeption, in deren Kritik Adorno mit Kierkegaard (und Hegel) übereinstimmt. Die Grundlage dieses Unterschieds liegt in dem Verständnis dessen, was Kierkegaard und Adorno, im Gegensatz zur romantischen Tradition, als Negativität verstehen. Damit kommen wir auf den anfangs behandelten Begriff der Ironie in Kierkegaards Dissertation zurück. Denn gerade die Kritikfigur, die Kierkegaard in seiner Auseinandersetzung mit der Romantik vorstellt, richtet Adorno wiederum in seinem Kierkegaard-Buch gegen Kierkegaard selbst. Die „objektlose Innerlichkeit“ versteht Adorno als ein Zeichen dafür, dass Kierkegaard, trotz seiner Romantik-Kritik, der romantischen Denktradition verhaftet bleibt.
Adorno, Kierkegaard, S. 186. Vgl. Pulmer, Die dementierte Alternative; Gouwens, „Patterns of Interpretation“, S. 22– 24.
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Adorno vermag jedoch, vielleicht trotz der eigenen kritischen Absicht, zu zeigen, dass Kierkegaards Denken es ermöglicht, das romantische Verständnis ästhetischer Innerlichkeit zu zersprengen und eine andere Form ästhetischer Subjektivität zu denken, in der das entscheidende Moment der Negativität eine andere Bedeutung annimmt. Bedeutet dieses Moment für die romantische Tradition eine ständige Negation des Bestehenden als subjektive Abwendung von der realen Welt, so akzentuiert Kierkegaard die prinzipielle Unmöglichkeit einer Adäquatheit zwischen Subjekt und Objekt. Die Negativität besteht hier vielmehr im Absurden, in dem Paradox, das besagt, gerade die Ununterscheidbarkeit von Subjekt und Objekt verweise auf den Unterschied zwischen beiden: Für eine solche Unterscheidung kann es keine äußeren Maßstäbe geben. Subjektive Wahrheit, in ihrer Bedeutung als (wenn auch nicht sichtbare) Differenz zwischen Subjekt und Objekt, könnte nur durch das Subjekt erkannt, ja erfahren werden. Dieses Paradox der prinzipiellen Ununterscheidbarkeit stellt für Adorno zugleich die Faszination und das Problem der Kierkegaardschen Philosophie dar. Die Dialektik des Scheins ist folglich eine Dialektik der Innerlichkeit: In ihrer „Falschheit“, in ihrer potentiellen Täuschung (oder Selbsttäuschung) ist sie wahr, hat sie ihren Wahrheitskern, legt sie ein verborgenes sozialhistorisches Wahrheitsmoment frei. Denn wie die Dialektik des Scheins dessen Wahrheit ins rechte Licht rückt, nämlich durch die Dechiffrierung und die kritische Aufdeckung seines Zerfalls, so besteht die Dialektik der Innerlichkeit in deren Unmöglichkeit und Paradox. Sobald Innerlichkeit gesetzt, behauptet, erklärt wird, zeigt sie sich als eine objektiv gegebene sozialhistorische Konstruktion, als eine Lebensform – sie wird kommensurabel und widerspricht ihrem eigenen Begriff: Sie wird entäußert. Erst in ihrer Unmöglichkeit, genauer: in der Unmöglichkeit ihres Verstehens, wird sie möglich. So betrachtet, entwickelt jeder der beiden Denker seine eigene, besondere Konzeption negativer Subjektivität: einer Subjektivität, deren Fundament die Unmöglichkeit von Subjektivität selbst bildet; einer Subjektivität, die erst durch das Bewusstsein ihrer Absurdität einen Wahrheitskern gewinnt. Adornos KierkegaardLektüre zeigt die immanente Spannung innerhalb der Kierkegaardschen Innerlichkeitskonzeption: Kierkegaards Innerlichkeit sei einerseits im Absurden, im Inkommensurablen fundiert, andererseits – so Adornos Kritik – birgt in sich jenes Paradox, das Absurde und Inkommensurable, zugleich die Gefahr einer Mythisierung des Subjekts, einer Preisgabe des konkreten „Lebenszusammenhangs“ und führt zum „Zusammenbruch des Individuums“, zum Zerfall der Innerlichkeit.
2 Die Ideologie der Innerlichkeit. Systematische und sozialhistorische Subjektivitätskritik In Adornos Kierkegaard-Buch „liegt viel auf engem Raum. Leicht möglich, daß die späteren des Verfassers einmal aus diesem hier entspringen werden. In jedem Fall gehört es zu der Klasse jener seltenen Erstlingswerke, in denen ein beflügelter Gedanke in der Verpuppung der Kritik erscheint.“¹ Mit diesen Worten beschreibt Walter Benjamin in seiner Buchrezension 1933 die Grundintention des Buchs: die immanente Kritik eines Denkens, die dessen „Wahrheitsgehalt“ offenlegt und gegen die eigene Intention liest. Benjamins Beobachtung erschließt insofern die Erkenntnis, Adornos Kierkegaard-Buch enthalte – hinter der Fassade der Kierkegaard-Kritik – zugleich einen neuen, Adornos eigenen „beflügelten Gedanken“. Die Rolle des Kierkegaard-Buchs und des darin entfalteten Gedankens einer „objektlosen Innerlichkeit“ für die kritische Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex von Subjektivität und Wahrheit ist jedoch nicht eindeutig und umso weniger selbstverständlich. Denn während Begriff und Kategorie der Innerlichkeit stets – mit oder ohne Bezug zu Kierkegaard – als Ansatzpunkt einer Kritik des idealistisch-romantischen, in sich selbst zurückgezogenen Subjekts thematisiert werden, scheint ebendiese philosophische Konzeption Kierkegaards hintergründig und oft maskiert als die Kraft zu fungieren, die Adornos Auseinandersetzung mit Hegels Primat des Allgemeinen und seine Parteinahme zugunsten des Besonderen, Singulären, Nichtidentischen motiviert. Die vordergründig historisierende soziologische Lektüre im Kierkegaard-Buch ermöglicht eine Dechiffrierung des Innerlichkeitsdenkens: Die „Wahrheit der Subjektivität“, von der bei Kierkegaard die Rede ist, erweist sich demnach, historisch betrachtet, als die Wahrheit eines bestimmten Subjekttypus, einer bestimmten Klassenzugehörigkeit und Epoche. Die vermeintlich fundierte philosophische Konzeption wird zu einer Ideologie degradiert: Der Gedanke der „Innerlichkeit als Ideologie“ nimmt auch in Adornos späteren philosophischen und soziologischen Schriften eine zentrale Stelle ein. Der Begriff Innerlichkeit wird jedoch fast immer pejorativ verwendet: Als historisch-soziologische Wahrheit stelle Innerlichkeit philosophische Unwahrheit dar; gerade in ihrem Anspruch auf Authentizität werde sie – als abstrakte Subjektivität – zu einer Form von Verdinglichung. Im Folgenden möchte ich diesen Kritikpunkt genauer hinterfragen: Zunächst soll geklärt werden, inwiefern Adorno zufolge der Anspruch auf
Benjamin, „Kierkegaard“, S. 383.
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subjektive, innere Wahrheit in Verdinglichung, Entfremdung und Selbsttäuschung umschlägt und auf welche Weise dieser Gedanke mit Kierkegaards eigener Konzeption korrespondiert, nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass auch für Kierkegaard die Möglichkeit der „Unwahrheit der Subjektivität“ niemals ausgeschlossen bleibt. Es war schließlich Kierkegaard selbst, der tiefe Zweifel an der Selbstsetzung des Subjekts hegte: einerseits an dessen romantischer „Übersteigerung“ in der idealistischen Philosophie, andererseits an der positiven Stellung des Subjekts in der klerikalen Theologie der dänischen Kirche seiner Zeit.² Allgemein betrachtet ordnet Adorno Kierkegaards Konzeption der Innerlichkeit gesellschaftlichen Phänomenen zu, die er als „Verfallsformen“ der Subjektivität im kapitalistisch-bürgerlichen Zeitalter versteht. Im Kontext der Kritik an Heideggers Begriff der Eigentlichkeit und an Sartres Existentialismus wird Kierkegaard für eine Art negativistische Affirmation verantwortlich gemacht.³ Damit ist eine negative Subjekthaltung gemeint, die sich gerade durch die Kritik am „Bestehenden“ von diesem isoliert und es dadurch „bestehen lässt“, affirmiert. In dieser Betrachtung wird Kierkegaards Konzeption allerdings auf ein historisches, gesellschaftliches, kulturelles Phänomen reduziert und weitgehend gerade nicht auf ihren „inneren“, immanenten Gehalt befragt. Dies ist von entscheidender Bedeutung, da Kierkegaards Konzeption einer „Rettung des Einzelnen“ gerade in Adornos Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie, wenn auch implizit, eine besonders wichtige Rolle spielt. Vor diesem Hintergrund werde ich die Frage zu beantworten versuchen, ob und auf welche Weise man zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Begriff und Phänomen der Innerlichkeit unterscheiden könnte. Denn davon hängt letztlich ab, ob der expliziten Verwerfung der Innerlichkeit durch Adorno nicht eine implizitere Verbundenheit mit der Kierkegaardschen Konzeption entgegengestellt werden könnte. So soll die Rolle, die diese Diskrepanz für Adornos Verständnis von Subjektivität spielt, in den Vordergrund der Deutung seines Denkens gerückt werden. Adorno sieht in der Idee der Innerlichkeit eine Form entstellter, isolierter Subjektivität. In ihrer Negativität und Ablehnung des „Außen“ verdeutliche sie Die Auseinandersetzung mit der romantischen Subjektivität findet, wie oben im Kapitel 1.1 detailliert untersucht wurde, in der Ironieschrift statt; in Der Begriff Angst kritisiert Kierkegaard die Abstraktion der Innerlichkeit und verspottet ihre kirchlich-klerikale Form: „[D]er Individualität, die sich zu einer Abstraktion machen will, fehlt es gerade so an Innerlichkeit wie der Individualität, die sich zum bloßen Zeremonienmeister macht“ (SKS 4, 442 / BA, 147). Die religiöse Form der Innerlichkeit des Kirchenbeamten reduziert sich demnach auf das „Zeremoniale“; sie ist daher eine positiv gesetzte Subjektivität – und ebenso defizitär wie die romantisch negativ gesetzte. Für Adornos Auseinandersetzung mit Heidegger vgl. Mörchen, Adorno und Heidegger, S. 137– 200, insbes. S. 176 – 187; Für Adornos Auseinandersetzung mit Sartre vgl. Sherman, Sartre and Adorno, S. 86 – 89.
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gerade die Verunmöglichung von Subjektivität. Sie führe zu einer Verzerrung des Selbstverhältnisses des Subjekts. Mit dieser Behauptung greift Adorno auf Hegels Kritik der Romantik zurück und wendet ihre Argumente gegen Kierkegaards Konzeption an. Dabei verstand sich jedoch Kierkegaard selbst als Kritiker der Romantik ebenso wie der Hegelschen Philosophie. Bei Adorno wird folglich Kierkegaards Denken gegen seine eigene Intention dem Deutschen Idealismus zugerechnet. Zu fragen wäre hier allerdings nicht nur nach der Berechtigung einer solchen Zuordnung, sondern vor allem, ob damit nicht ein wichtiger Denkansatz Kierkegaards übersehen, ja missverstanden wird. Diese Frage beschränkt sich keineswegs auf die philologische oder philosophiehistorische Dimension der Auseinandersetzung, sie geht nicht in der Frage nach der „adäquaten“ oder „falschen“ Rekonstruktion von Kierkegaards Philosophie auf. Was hier auf dem Spiel steht, ist vielmehr der Status einer philosophischen Konzeption, in der das moderne Verständnis von kritischer Subjektivität überhaupt fundiert ist. Es geht um die Frage nach der Negativität, nach dem unentbehrlichen negativen Moment eines kritischen Selbst- und Weltverhältnisses, um die konzeptionell-systematische Bedeutung der Negativität für eine Theorie kritischer Subjektivität – und um die Differenz zwischen den verschiedenen Bedeutungen. Kierkegaards „Philosophie der Innerlichkeit“ ist einer der prominenteren Versuche, Subjektivität auf negativer Grundlage zu fassen: in ihrer Unverständlichkeit, in ihrer ironischen oder absurden, in ihrer paradoxen Verfasstheit. Genau diese Auffassung rekonstruiert Adorno als eine Verfallsform: Sie sei nicht nur eine Lüge, eine Selbsttäuschung, sondern werde, als Ideologie, zu einem resignierten und apologetischen Herrschaftsmittel. Akzeptiert man diese Rekonstruktion, so müsste geklärt werden, welches Subjektivitätsverständnis Adorno diesem entgegenstellt. Denn neben der Kritik an Kierkegaards Innerlichkeit ließe sich in Adornos Denken bei näherer Betrachtung eine, zumindest in bestimmten Hinsichten, ähnliche Konzeption feststellen. Seine Subjektivitätskritik zielt auf eine Positionierung des Subjekts jenseits der Hegelschen Aufhebung in der Allgemeinheit und der romantischen Übersteigerung zugleich ab. Während er Kierkegaard in die Nähe des Idealismus rückt und dessen Innerlichkeit als romantische „Isolierzelle“ entlarvt, verfolgt Adorno ein ähnliches Ziel wie das Kierkegaards: Subjektivität als ein negatives (Selbst‐)Verhältnis zu verstehen, um einen damit zusammenhängenden Begriff von Wahrheit zu ermöglichen: subjektive Wahrheit, die dem bestehenden Allgemeinen entgegensteht und diesem inkommensurabel bleibt – das notwendige Fundament kritischer Subjektivität. Die Nähe zwischen den philosophischen Projekten beider Denker zeigt sich daher paradoxerweise an der Differenz zwischen ihnen: Nach Kierkegaard wird kritische Subjektivität durch die negative Konzeption der Innerlichkeit ermöglicht, die stets einen inkommensurablen „Rest“, eine Diskrepanz zum Bestehenden
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aufweist; Adorno entwickelt seine negative Subjektivitätskonzeptionen hingegen durch eine Kritik an dieser – Kierkegaards – Idee der Innerlichkeit selbst. Kierkegaards Konzeption der negativ-kritischen, daher „wahren“ Subjektivität stellt für Adorno lediglich eine ideologische „Falle“ dar. In ihrer Abstraktheit, in ihrer „Objektlosigkeit“ werde sie selbst zu einem Objekt, werde sie verdinglicht. Die Dinghaftigkeit der Kierkegaardschen Subjektivität zeigt sich, so die Lesart des jungen Adorno, an den „Dingen selbst“, die in Kierkegaards Schriften stets zum Vorschein kommen. Als eine idealistische Distanzierung von jeder Dinghaftigkeit drückt sich Kierkegaards Innerlichkeit, wie Adorno sie deutet, gerade in den Dingen aus: im Intérieur, in den inneren Räumen, im Mobiliar der bürgerlichen Wohnung, in der – und aus der – er sein Denken entwickelt.⁴ Kierkegaards Absicht, mit der Konzeption der Innerlichkeit eine freie, autonome Subjektivität zu begründen – frei von den Zwängen der Objektivität, der Allgemeinheit –, verfehle demnach den eigenen Anspruch und schlage in eine noch subtilere Form von Allgemeinheit um: in Ideologie. Damit werde sie, freilich gegen die eigene Intention, zu einem Instrument des „Außen“ gegen das „Innere“. Das Verständnis von Innerlichkeit als einer Sphäre der Freiheit und Wahrheit im Individuum ermögliche die ideologische „Kolonialisierung“ des „Außen“ im „Inneren“. Die These von der Innerlichkeit als Ideologie wird im Kierkegaard-Buch zwar nur ansatzweise und implizit formuliert, wiederholt sich allerdings mehrfach in Adornos späteren Schriften und Vorlesungen, in denen er sie durch theoretische Überlegungen und konkrete Beobachtungen begründet. Dies wirft eine Reihe weiterer Fragen auf: Lässt sich zwischen dem frühen Kierkegaard-Buch und den späteren Hauptwerken Adornos eine Veränderung, eine Verschiebung der Kierkegaard-Kritik erkennen? Wie kann und soll Adornos unablässige Auseinandersetzung mit der Innerlichkeitsproblematik gedeutet werden? Was besagt sie über sein eigenes Verständnis von Subjektivität? In den nachfolgenden Überlegungen möchte ich zeigen, dass diese Auseinandersetzung sowohl philosophieinterne wie auch -externe Facetten hat und dass ihre genauere Hinterfragung einen wichtigen Aspekt von Adornos Verständnis von Subjektivität, vor allem in ihrem historischgesellschaftlichen Bezug, beleuchten könnte. Wie wir gesehen haben, stellt Kierkegaards Innerlichkeit für den jungen Adorno eine vorwiegend ästhetische Konzeption dar, die zugleich eine soziale und
Vgl. Adorno, Kierkegaard, S. 61. Adorno spricht von der „Metaphorik des Wohnungsinneren, die wohl erst der Interpretation sich offenbart, selbst aber die Interpretation durch ihre auffällige Selbständigkeit herausfordert. Es ist das bürgerliche Intérieur des neunzehnten Jahrhunderts, vor dessen Arrangement alle Rede von Subjekt, Objekt, Indifferenz, Situation zur abstrakten Metapher verblaßt, obschon bei Kierkegaard das Bild des Intérieurs selber als bloße Metapher für den Zusammenhang der Grundbegriffe einsteht.“
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ethische Bedeutung hat. Als ästhetisch beansprucht sie per definitionem eine Art Unmittelbarkeit – sie gründet in Erfahrung und Leidenschaft, in dem also, was der Vernunft versperrt, dem begrifflichen Denken inkommensurabel bleibt. Genau eine solche Unmittelbarkeit bestreitet Adorno. Je unmittelbarer die Innerlichkeit sich selbst erscheine, desto vermittelter werde sie: desto tiefer verinnerlichen sich gesellschaftliche Verhältnisse im Bewusstsein des Individuums und erscheinen ihm, als wären sie seine eigenen. Die „Philosophie der Innerlichkeit“ werde auf diese Weise zu einer Art „Agentin“ des Allgemeinen, sie trage zur Verinnerlichung des Allgemeinen im subjektiven Bewusstsein bei. Allerdings nicht die „innere“ Abhängigkeit des Subjekts von der objektiven Wirklichkeit ist hier Gegenstand der Kritik – Adorno insistiert stets auf dem „Vorrang des Objekts“ –; gerade die Absage an den gesellschaftlichen Zusammenhang, der vermeintliche Rückzug aus diesem, führe zu „Verblendung“ und „Verfall“. In Adornos Kritik lassen sich dementsprechend einige Züge voneinander unterscheiden. Zuerst möchte ich die allgemeinere Unterscheidung zwischen der konzeptionell-systematischen Intention und der sozialhistorischen Relevanz der Innerlichkeitskritik treffen, um anschließend auf die verschiedenen Züge jeweils der Intention und der Relevanz dieser Auseinandersetzung hinzuweisen. Sofern die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Innerlichkeit an sich falsch und trügerisch wäre, wäre die These über ihren sozialhistorisch bedingten Verfall überflüssig, sie würde dieser sogar widersprechen. Termini haben nach Adorno stets ihre sozialhistorische Seite, so dass, um fehlzugehen, um zu „verfallen“, ein Begriff über eine eigene historische Wahrheit „verfügt“ haben müsste, in der Vergangenheit richtig oder wahr gewesen sein müsste. Eine im Grunde falsche Konzeption kann nicht sozialhistorisch „fehlgehen“ oder „zerstört“ werden. Entweder entfernt sich die historische Entwicklung von der ursprünglichen Intention, so dass sich ein Abgrund zwischen Begriff und Wirklichkeit auftut, oder es lässt sich eine Entstellung schon im ursprünglichen Kern der Intention feststellen, eine Entstellung, die ein solches Fehlgehen prinzipiell ermöglicht. Auf den ersten Blick scheint es, als handele es sich bei Adorno um Letzteres: Die Konzeption der Innerlichkeit enthalte in sich schon den Kern ihres historischen Verfalls. „Die Geschichte der Innerlichkeit nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution in Deutschland“, stellt Adorno im Jargon der Eigentlichkeit fest, „war vom ersten Tag an auch ihre Verfallsgeschichte“.⁵ Die Konzeption sei insofern von Anbeginn zum Scheitern verurteilt gewesen. Es soll jedoch gefragt werden, ob diese Feststellung auf eine Untragbarkeit des Begriffs selbst oder auf seine historische Entwicklung zurückzuführen wäre; ob es sich dabei um eine irrtümliche Intention oder um eine Usurpation der Idee handelt, um einen falschen Gebrauch
Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, GS 6, S. 461.
2.1. Rettung des Einzelnen. Die konzeptionell-systematische Intention
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oder um einen Missbrauch des Begriffs. Werden einerseits Intention, andererseits Implikation des Konzepts und der Kritik an diesem separat betrachtet, so wird sich herausstellen, dass sich weder die eine noch die andere als wahr oder als falsch erweist. Diese prinzipielle Unmöglichkeit, die Konzeption der Innerlichkeit oder ihre Kritik eindeutig als wahr oder falsch zu qualifizieren, ja überhaupt das Wahre und das Falsche an dieser Konzeption voneinander zu unterscheiden, zeigt nicht nur die implizite Nähe von Adornos Denken zu Kierkegaards Philosophie an, sondern bringt zugleich den besonderen Charakter eines solchen negativen Verständnisses von Subjektivität selbst ans Licht. Die fehlende Identität einer so verstandenen Subjektivität birgt in sich prinzipiell die Tendenz, dass sie zu einer Ideologie wird; andererseits kann sie aber auch zu einer Art Ideologiekritik werden. Und ob das eine oder das andere geschieht, ob also Innerlichkeit zu einer Ideologie wird oder ein wesentliches Fundament kritischer Subjektivität darstellt, hängt schließlich, so soll die These dieses Kapitels lauten, von ihrer spezifischen – systematischen ebenso wie sozialhistorischen – Bedeutung ab. Die jeweilige Intention des Innerlichkeitsbegriffs kann allerdings den Umschlag von der einen in die andere Implikation, von Ideologiekritik in Ideologie und umgekehrt, nicht verhindern.
2.1. Rettung des Einzelnen. Die konzeptionell-systematische Intention Mit Grund hat man eine der ersten originalen Philosophien nach Hegel, die Kierkegaards, eine der Innerlichkeit genannt, und sie gerade hat des Motivs realer innerweltlicher Versöhnung schroff sich entledigt. Die Reflexion auf Innerlichkeit, ihre Selbstsetzung und damit etwas an ihrem Aufstieg verweist auf ihre reale Abschaffung.⁶
So resümiert Adorno seine Kierkegaard-Kritik im Jargon der Eigentlichkeit. Dass eine philosophische Konzeption in sich den Kern ihrer eigenen Selbstzerstörung enthält, verweist allerdings nicht ohne weiteres auf ihre Falschheit. Das „Motiv innerweltlicher Versöhnung“, eine Versöhnung zwischen Subjekt und Objekt also, die nicht wie die Hegelsche in einer Preisgabe der subjektiven Besonderheit mündet, wird von Adorno als ein Versprechen der Kierkegaardschen Philosophie angesehen, das diese jedoch nicht nur unerfüllt lässt – vielmehr zerstört sie das Versprochene selbst. Spricht Adorno von der „realen Abschaffung“ der Innerlichkeit als einem Versprechen „innerweltlicher Versöhnung“, vom Selbstzerstörungsmechanismus dessen, was er selbst als eine berechtigte Intention akzeptiert hätte, so stellt sich die Frage, wie ein solches Konzept zu denken wäre, wäre es Ebd.
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nicht „abgeschafft“ worden. Ein solches Konzept – so lautet die Hypothese, die ich hier aufstellen möchte – müsste mit Adornos eigener Idee von freier, autonomer Subjektivität zusammenhängen.
Subjektive Beschränkung der Wahrheit Die Kritik der abstrakten Subjektivität, „die hilflos zur Substanz sich aufwirft“⁷ lässt sich als eine argumentative Anwendung der Hegelschen Subjektivitätskritik auf Kierkegaards Denken beschreiben. Die „objektlose Innerlichkeit“ ist eine Bezeichnung für die „abstrakte Subjektivität“ als einen Selbst- ohne Weltbezug, eine inhaltsleere Existenz. Kierkegaard gelinge es demzufolge nicht, der leeren abstrakten Existenz Konkretion zu verleihen; sie bleibe ein abstraktes Moment, subjektiv beschränkt – als solche, „als die subjektiv beschränkte Gestalt der Wahrheit“ sei Innerlichkeit „stets schon den äußeren Herren mehr als sie ahnte untertan“ gewesen.⁸ Demnach werde die „subjektive Beschränkung der Wahrheit“ nicht nur an sich problematisch, sondern habe die Tendenz, sich manipulieren zu lassen, zu einer Ideologie zu werden. „Hegel wie Goethe erfuhren und kritisierten Innerlichkeit als bloßes Moment: Bedingung richtigen Bewußtseins ebenso wie ein von diesem seiner Beschränktheit wegen Aufzuhebendes.“⁹ Adorno kehrt diese Kritik allerdings um: Die immanente Tendenz der Innerlichkeitskonzeption, „untertänig“, ja ideologisch zu werden, bedeute, dass sie nicht mehr „Bedingung richtigen Bewußtseins“ sein könne, sondern gerade das Fundament eines falschen werde (während gerade dieses Falsche für Wahrheit gehalten werde). Hingegen lässt sich eine Aufhebung des Inneren im Allgemeinen ebensowenig akzeptieren, da diese auf Kosten dessen geschehen müsste, was Adorno – ebenso wie Kierkegaard – vor Augen stand: das Besondere. Die Kategorie des Besonderen, dessen also, was sich nicht subsumieren lässt, stellt den Kernpunkt und das Ziel des Kierkegaardschen Denkens dar – und zieht die kritische Aufmerksamkeit Adornos auf sich. Das inkommensurable Innere wird bei Kierkegaard als der unerreichbare Ort verstanden, an dem die Singularität des Einzelnen geschützt werden kann. Die philosophisch-konzeptionelle Intention, das einzelne Individuum vor der Allgemeinheit zu „retten“, wird von Adorno durchaus geteilt, und ihre konkrete Entfaltung bei Kierkegaard wird gerade des-
Adorno, Ästhetische Theorie, S. 177. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 166; vgl. dazu Deuser, Dialektische Theologie, S. 141. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 460; vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 139, S. 260 – 265.
2.1. Rettung des Einzelnen. Die konzeptionell-systematische Intention
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halb der (immanenten) Kritik unterzogen: Es ist das, worauf Kierkegaards gesamte Philosophie abzielt und was sie nach Adorno nicht zu erreichen, nicht zu retten vermag. Adornos Auseinandersetzung mit der sozialhistorischen Verunmöglichung einer individuellen Autonomie des Subjekts ist genau in dieser Intention fundiert. Um seine Auffassung kritischer Subjektivität in dieser Hinsicht genauer zu verstehen, müsste zwischen Wahrem und Falschem an der Idee des Inneren unterschieden werden. Als wahr ließe sich die Absicht verstehen, keine Identität zwischen Innen und Außen zu postulieren, keine Aufhebung des Besonderen im Allgemeinen anzustreben. Es ist demnach Kierkegaards Beharren auf der Unaufhebbarkeit der Diskrepanz von Innen und Außen, die ihn zu einem Verbündeten in der Kritik an der Hegelschen Idee der Versöhnung als Identität von Besonderem und Allgemeinem macht. Darauf könnte man Adornos Interesse an Kierkegaards Denken zurückführen – und zugleich seine polemische Kritik an diesem. Die Versöhnung von Innen und Außen, auf die noch die Hegelsche Philosophie hoffte, ward ins Unabsehbare vertagt, und die Fürsprache für die Entäußerung überflüssig, nachdem diese ohnehin als Gesetz der glücklich Extrovertierten waltet. Gleichzeitig jedoch wird das Bewußtsein des Risses immer unerträglicher, der allmählich Selbstbewußtsein in Selbstbetrug verwandelt.¹⁰
Die Unmöglichkeit einer Versöhnung bedeutet, dass jeder Rekurs auf das Innere zur Entäußerung wird, die Diskrepanz zwischen Innen und Außen immer zugunsten des Letzteren aufgelöst wird, als Selbstbetrug. Kierkegaards Idee der Subjektivität als Innerlichkeit basiert auf dem Verständnis des Selbst als eines Verhältnisses: von Besonderem und Allgemeinem, Abstraktem und Konkretem. Adorno zufolge vermag Kierkegaard seinem Begriff des Selbst allerdings keinen konkreten Inhalt zu verleihen, so dass es hier immer bei einem leeren, abstrakten Selbst bleiben müsse. „Das Selbst, Hort aller Konkretion“, kritisiert Adorno im frühen Kierkegaard-Buch, „zieht derart in seine Einzigkeit sich zusammen, daß nichts mehr von ihm prädiziert werden kann: es schlägt in die äußerste Abstraktheit um; daß nur der einzelne wisse, was der einzelne sei, ist lediglich eine Umschreibung dessen, daß es überhaupt nicht gewußt werden könne; so bleibt das allerbestimmteste Ich als das allerunbestimmteste zurück.“¹¹ Das Selbst wird hier als ein Inneres verstanden, als das, was im Äußeren keinen adäquaten Ausdruck erhalten kann;¹² daher ist die Behauptung, „nur der einzelne wisse, was der einzelne sei“, eine recht
Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 461. Adorno, Kierkegaard, S. 108 – 109. Vgl. SKS 4, 201 / FZ, 129; SKS 7, 214– 215 / AUN1, 228.
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problematische. Das abstrakte Selbst als objektlose Innerlichkeit bleibe, so Adorno, per definitionem unbestimmt. Als solches kann das Besondere, der Kierkegaardsche individuelle Einzelne, nicht mehr als eine Schimäre sein: die Illusion einer wahren Selbstbezüglichkeit.
Abstraktion, Selbstzerstörung, Soziale Forderung „Versuche wie der Kierkegaards,“ schreibt Adorno in den Minima Moralia, „im Zurücktreten des Einzelnen in sich selber seiner Fülle habhaft zu werden, sind nicht umsonst gerade aufs Opfer des Einzelnen und auf dieselbe Abstraktheit hinausgelaufen, die er an den idealistischen Systemen diffamierte.“¹³ Hierin lassen sich aber einige, mindestens drei Vorwürfe, beobachten und voneinander unterscheiden. Der erste ist der Abstraktheitsvorwurf. Das „Zurücktreten in sich selber“ – in die Innerlichkeit – verhindert einen konkreten Weltbezug und führt in eine Negation der Wirklichkeit, in eine Art Idealismus also, der gerade von Kierkegaard selbst stark abgelehnt wird. Der zweite Vorwurf bezieht sich auf die Selbstzerstörung der Intention. Demzufolge wird gerade der Versuch, den Einzelnen als Besonderes zu denken, zu einem Verhängnis. Dies bedeutet, dass das „Zurücktreten“ genau das besondere Element am Subjekt zerstört, das es vom Allgemeinen trennt. Die Hinzufügung „nicht umsonst“ – dass Kierkegaards Versuch also „nicht umsonst“ in Opfer und Abstraktion mündet – verweist auf ein anderes Element der Kritik: auf den allgemeineren Rahmen, auf den sozialen Kontext einer solchen Subjektsetzung. „Wenn nichts anderes verbindlich mehr vom Menschen gefordert werden könne, dann wenigstens, daß er ganz und gar das sei, was er ist“ – heißt es am Anfang desselben Aphorismus.¹⁴ Die Forderung, das zu sein, was man ist, das heißt: ein „authentisches“ Inneres zu konstituieren, führt als solche, als eine Forderung, auf das Opfer dessen, was sie fordert, zurück. „In der Identität jedes Einzelnen mit sich selber“, heißt es weiter, „wird das Postulat unbestechlicher Wahrheit sowohl wie die Glorifizierung des Faktischen von der aufgeklärten Erkenntnis auf die Ethik übertragen.“¹⁵ Eine Ethik des Besonderen, so wie Kierkegaard sie entwirft, scheitert also gerade in dem Moment, in dem sie sich als Ethik, als eine ethische Forderung setzt. Dies führt wiederum auf die sozialhistorische Situation zurück, auf die sich Adorno in seinen Äußerungen bezieht. Die pejorative Kritik an der Konzeption der Innerlichkeit teilt – gerade als Kritik – den Grundgedanken einer Notwendigkeit, das Besondere als das einzelne
Adorno, Minima Moralia, S. 175. Ebd., S. 174. Ebd., S. 173.
2.2 Kritik der „innerweltlichen Askese“. Die sozial-historische Relevanz
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Individuum gegenüber der Allgemeinheit zu verteidigen, ohne sich jedoch den Bezug zur Allgemeinheit, zur Objektivität zu versperren. Benjamin sagte einmal: die Innerlichkeit kann mir zum Puckel herunterrutschen. Das war gemünzt gegen Kierkegaard und die auf diesen sich berufende „Philosophie der Innerlichkeit“, […]. Benjamin meinte die abstrakte Subjektivität, die hilflos zur Substanz sich aufwirft. Aber sein Satz ist so wenig die ganze Wahrheit wie das abstrakte Subjekt sie ist. Geist – und wie sehr auch Benjamins eigener – muß in sich gehen, um das In sich negieren zu können.¹⁶
Diese Feststellung aus Adornos Ästhetischer Theorie wirft mehrere wichtige Fragen auf: Auf welche Weise kann – und soll – „Geist in sich gehen“, und welche Rolle spielt hier die Negativität als „das In sich negieren“? Hat Adorno einen Begriff von Innerlichkeit, der auf eine ähnliche Weise negativ ist wie der Kierkegaards, über diesen aber hinausgeht? Wie wäre ein solcher zu verstehen? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen und vor allem eine Erklärung des Umgangs Adornos mit dem Innerlichkeitsbegriff darf den sozialhistorischen Rahmen der philosophischen Fragestellung nicht ausschließen. Adorno bezieht sich auf Kierkegaards Konzeption – ebenso wie auf Begriffe und Konzeptionen überhaupt – nicht nur als eine systematisch-logische, sondern in Bezug auf ihre gesellschaftliche Bedeutung und historische Relevanz. Eine solche Vergegenwärtigung würde dazu beitragen, die Intention der Kritik und die mögliche alternative Konzeption Adornos genauer zu verstehen. Ich werde im Folgenden daher zunächst in zwei Schritten vorgehen. Als Erstes werde ich den zeitlichen und gesellschaftlichen Bezug thematisieren, der Adornos kritische Auseinandersetzung bestimmt. Denn der oft ignorierte sozialhistorische Hintergrund der philosophischen Fragestellung Adornos ist hier unentbehrlich für das Verständnis seiner kritischen Begriffsanalyse. Anschließend – und darauf aufbauend – werde ich mich der inneren Struktur seiner Argumentation zuwenden und zu erläutern versuchen, auf welche Weise er seine eigene Alternative zur kritisierten Innerlichkeitskonzeption konstruiert und welche Rolle der Begriff des Inneren und der Innerlichkeit in der philosophischen Ideologiekritik – explizit wie implizit – spielt.
2.2 Kritik der „innerweltlichen Askese“. Die sozial-historische Relevanz Philosophische Begriffe und Konzeptionen entwickeln sich nach Adorno nicht unabhängig von einem sozialhistorischen Rahmen. Sie sind immer „bedingt durch
Adorno, Ästhetische Theorie, S. 177.
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die wechselnden Konstruktionen der Philosophien, in denen sie auftreten. Darin liegt eine Art von geschichtlicher Gesetzmäßigkeit, die auch ihre soziale Seite hat.“¹⁷ So bezieht sich Adorno in der Kritik der Innerlichkeit nicht nur auf den philosophischen Gedanken allein, sondern gleichzeitig auf seine konkrete gesellschaftliche Erscheinungsform. Eine Auseinandersetzung mit einer Konzeption ließe sich insofern von ihrer historischen Rezeption nicht trennen. Wird diese Untrennbarkeit genauer beleuchtet, so müsste man fragen, welche Kritikaspekte der gegebenen Situation und welche der Konzeption an sich zuzurechnen wären. Vielleicht wäre es gerade die Differenz zwischen beiden, die etwas über Adornos Intention selbst ans Licht bringen könnte – etwas darüber, wie in seinem Denken Möglichkeit und Unmöglichkeit einer inneren Wahrheit und eines negativen Selbstverhältnisses – Kierkegaards Leitgedanken – zu verstehen wären. In seiner Vorlesung über negative Dialektik, gehalten im Wintersemester 1965/66, nimmt Adorno Bezug auf gesellschaftliche Phänomene, die als die „materiale Seite“ seiner philosophischen Arbeit angesehen werden können. In diesem Zusammenhang zieht die seinerzeit gesellschaftlich verbreitete Rede von Tiefe und Innerlichkeit Adornos idiosynkratische Aufmerksamkeit auf sich. Daß Tiefe etwas mit Leiden zu tun hat, daß sie das Denken ist, das das Leiden nicht verleugnet sondern ihm ins Auge sieht, das ist sicher. Aber wenn Sie einen Blick auf die Geschichte gerade des deutschen Geistes werfen, dann werden Sie finden, daß dieses Moment des Leidens, das in der Tiefe, in jeder philosophischen Tiefe enthalten ist, in einer eigentümlichen apologetischen und deshalb sehr problematischen Weise gewendet worden ist.¹⁸
Das an sich potentiell legitime, wahre Moment der Tiefe und die Fähigkeit, Leid zu erkennen, es philosophisch zu reflektieren, werden demnach – gerade im deutschen sozialen Nachkriegskontext – apologetisch verwendet. Tiefe wird, Adorno zufolge, ebenso als „jene Art von Rückzug in die Innerlichkeit“ verstanden, wobei dieser falsche Begriff der Tiefe als der bloßen Innerlichkeit in eins mit der Vorstellung vom „einfachen Leben“, das man nämlich dann führen muß, wenn man in seine bloße Innerlichkeit sich zurückgenommen hat, eine geradezu verhängnisvolle Rolle [spielt]. ¹⁹
In seiner sozialhistorischen Auseinandersetzung mit der Idee der Innerlichkeit als Tiefe versucht Adorno sie insofern nicht nur als konzeptionell defizitär, sondern gar als ethisch-politisch verhängnisvoll aufzuzeigen. Das Verhängnisvolle hängt
Adorno, Philosophische Terminologie, Bd. I, S. 15. Adorno, Vorlesung über negative Dialektik, S. 151. Ebd., S. 155.
2.2 Kritik der „innerweltlichen Askese“. Die sozial-historische Relevanz
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mit der gesellschaftlichen Rolle und Bedeutung der philosophischen Konzeption zusammen.²⁰ Auf den ersten Blick scheint das „praktische“ Verständnis von Innerlichkeit eine Realisierung dessen zu sein, was Adorno in seinem Kierkegaard-Buch kritisierte: der „Rückzug in die Innerlichkeit“ als ein soziales Phänomen, das auf eine Apologie des Bestehenden hinausläuft. Dieses Verständnis – in seiner gesellschaftlichen Erscheinungsform – werde apologetisch, sobald es in der Praxis der Lebensführung eine Rolle spielt, sobald eine subjektivistische Haltung zum Bestehenden dieses letztendlich so bestehen lässt, wie es ist, und jede Veränderung resignativ verhindert. Damit ist aber die Frage noch nicht beantwortet, inwiefern das gesellschaftliche Phänomen, auf das hier rekurriert wird, dem zur Debatte stehenden philosophischen Projekt tatsächlich entspricht. In der Ästhetischen Theorie argumentiert Adorno ferner: Während Innerlichkeit, noch bei Kant, auch den Protest gegen die heteronom den Subjekten auferlegte Ordnung meinte, war ihr von Anbeginn Gleichgültigkeit gegen jene Ordnung gesellt, die Bereitschaft, sie zu lassen, wie sie ist, und ihr zu gehorchen. Das war der Herkunft von Innerlichkeit aus dem Arbeitsprozeß gemäß: sie sollte einen anthropologischen Typus züchten, der aus Pflicht, quasi freiwillig, die Lohnarbeit verrichtet, derer die neue Produktionsweise bedarf und zu der die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ihn zwingen.²¹
Innerlichkeit sei demnach eine in sich gespaltene Konzeption: Sie stelle einen subjektiv motivierten Protest gegen die bestehende Ordnung dar und diene zugleich als eine Apologie ebendieser Ordnung. Die potentielle Verzerrung, der Umschlag von Protest in Apologie wohne ihr folglich inne. Denn als „Protest gegen die heteronom den Subjekten auferlegte Ordnung“ bedeutet Innerlichkeit jene negative Form kritischer Subjektivität, die Kierkegaard der Hegelschen Sittlichkeit entgegenstellt. „Gleichgültigkeit“ ließe sich insofern von Negativität nicht restlos trennen. Aber die „Verzerrung“, von der Adorno hier spricht, ist nicht nur eine immanente, sie liegt nicht nur in der Konzeption selbst, sondern vielmehr darin, dass ihre Negativität, gerade ihr kritisches Element, sich – unter den gegebenen sozialen und ideologischen Bedingungen – leicht „manipulieren“ lässt. Die „innere Gewissheit“ übersetze sich folglich in eine „subjektive Pflicht“ und in einen Herrschaftsmechanismus, der diese in eine Arbeitsmoral verwandele. „Die Kategorie der Innerlichkeit soll, nach Max Webers These, auf den Protestantismus zurückdatieren“, so beginnt der oben zitierte Absatz. Als Kategorie der „protes-
Zur sozialphilosophisch aktualisierten Kritik des Innerlichkeitsmodells vgl. Jaeggi, Entfremdung, S. 199 – 220. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 177.
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tantischen Ethik“ ist offenbar die von Weber beschriebene „innerweltliche Askese“ gemeint. Die Freiheit der Innerlichkeit werde entsprechend zur Freiwilligkeit, mit der sich das Subjekt in die Produktionsverhältnisse integriere. Die Momente, die für Kierkegaard die Gewissheit innerer Wahrheit fundieren, lassen sich nach Adorno für Zwecke einspannen, die dieser durchaus äußerlich, fremd und ihrem eigenen Selbstverständnis entgegengesetzt sind: Zwecke der Herrschaft und der gesellschaftlichen Reproduktion. Das Selbstverhältnis konstituiert sich nach Kierkegaard durch die Erfahrung des Leidens und durch die prinzipielle Unmöglichkeit, das Leiden zu veräußern, ihm einen verständlichen Ausdruck zu verleihen. Das unentbehrliche Schweigen angesichts der Unmöglichkeit kommensurabler Mitteilung bildet ein wesentliches Moment der Kierkegaardschen Innerlichkeit, wie vor allem Kierkegaards Darstellung der subjektiven Situation Abrahams in Furcht und Zittern zeigt.²² Die Ohnmacht des Subjekts, das Leid und das Schweigen darüber, bildet eine Art Selbstverhältnis, in der das Subjekt vor sich selbst gestellt wird und lernt, dass es auf nichts anderes als seine eigene Innerlichkeit zurückverwiesen ist.
„Trugbild eines inneren Königreichs“ Dieses Verständnis einer im Leiden und Schweigen fundierten Selbstbezüglichkeit hat – Adorno zufolge – in den gesellschaftlichen Verhältnissen des Spätkapitalismus die Tendenz, zu einer Form von Ideologie zu werden. Mit steigender Ohnmacht des fürsichseienden Subjekts ist folgerecht Innerlichkeit vollends zur Ideologie geworden, zum Trugbild eines inneren Königreichs, wo die Stillen im Lande sich schadlos halten für das, was ihnen gesellschaftlich versagt wird.²³
Die Ohnmacht und das Leiden des Subjekts in den spätkapitalistischen Verhältnissen, das Schweigen darüber und die Empfindung eines Inneren im leidenden Subjekt – all dies gehört demnach zu einer Art Herrschaftsmechanismus, der eine solche Selbstbezüglichkeit zugleich hervorbringt und unmöglich macht. Adorno bringt die Idee der Innerlichkeit in einen Zusammenhang mit der „Tiefe der Stillen im Lande“, die „in Wirklichkeit nach Maß angefertigt“ und „so standardisiert […] wie irgendein Produkt der Kulturindustrie“ sei.²⁴ Die Rede von den „Stillen im Lande“, ursprünglich auf den Pietismus bezogen, bezieht sich hier auf die Subjekte der Massengesellschaft: Die Ideologie der Innerlichkeit bedeutet entspre-
SKS 4, 112– 120 / FZ, 12– 22. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 177. Adorno, Vorlesung über negative Dialektik, S. 155.
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chend, Innerlichkeit sei der Schein von Subjektivität, gesellschaftlich vermittelt; ein Schein, der die reale Unmöglichkeit wahrer, freier Subjektivität nur verdecke. Durch den Schein eines „inneren Königreichs“, wie Adorno es ironisch-spöttisch ausdrückt, sei die letzte Möglichkeit eines Selbstverhältnisses, das sich von anderen unterscheidet, versperrt. Die gesellschaftlich vermittelte Identität aller Subjekte miteinander lasse sich daher nicht nur „äußerlich“, das heißt: hinsichtlich ihrer Rolle im Arbeitsprozess, sondern gerade im „Inneren“ konstatieren. Innerlichkeit als ein maßgefertigtes Produkt der Kulturindustrie – stellt sie insofern den Gegensatz oder die Fortschreibung der Kierkegaardschen Idee dar? Im Jargon der Eigentlichkeit beschreibt Adorno diese „Verfallsgeschichte“ der Innerlichkeit: Je weniger das für sich seiende Subjekt vermag; je mehr, was einmal mit Selbstbewußtsein als Innerlichkeit sich bekannte, zum abstrakten Punkt zusammenschrumpft, desto größer die Versuchung, daß Innerlichkeit sich proklamiert und auf den Markt wirft, vor dem sie zurückzuckt.²⁵
Sich zu „proklamieren“, sich auf den Markt zu werfen, widerspricht dem Kern der negativen Konzeption von Subjektivität, entspricht jedoch einer gegebenen sozialhistorischen Tendenz. Es ist die Tendenz zur Selbstsetzung des Subjekts als absolut, als wäre es von der objektiven Wirklichkeit – dem Markt, vor dem es „zurückzuckt“ – unabhängig. Die „Urgeschichte der Subjektivität“, wie sie Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung rekonstruieren, zeigt, inwiefern in dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet […], alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber, nichtig [werden].²⁶
Dadurch kommt die „Inthronisierung des Mittels als Zweck“ zustande, „die im späten Kapitalismus den Charakter des offenen Wahnsinns annimmt“: „Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht.“²⁷ Die sozialhistorische Tendenz der Subjektivierung als Entdeckung des subjektiven „Selbst“ führe demnach zur „Vernichtung“ dessen, was sie zu entdecken beabsichtigt, weil sie auf einem solchen Trug basiert, dem Trug der Selbstsetzung. Dabei bedeutet Selbstsetzung, sich als Subjekt, als Selbst „zu proklamieren“, oder
Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 461. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 73. Ebd.
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polemischer: sich „auf den Markt zu werfen“. Das Festhalten an Innerlichkeit, das Adorno als ein kulturelles Phänomen kritisiert, ruft genau das hervor: Es setzt das Subjekt als ein Absolutes, als ein Selbst, das über ein „Inneres“, eine „Tiefe“ verfügen soll, während dieses „Innere“ inhaltsleer, unbestimmt bleibt, daher nur als Schein von Subjektivität betrachtet werden kann. Damit verweist Adorno auf eine Ausweglosigkeit, die aus dem spezifischen, ideologischen Charakter der modernen Gesellschaft herrührt. Absolute, abstrakte Subjektivität erweist sich bei näherer Betrachtung als ein geistiges Produkt der kapitalistischen Gesellschaft; was dem Individuum als Selbstbezüglichkeit, als Selbstreflexion erscheint, ist für Adorno eine Reflexion und Verinnerlichung fremder Inhalte, ein Ausdruck von Ideologie. Insofern bezeichnet Subjektivität als Selbstbezüglichkeit gerade ein Nicht-Subjektives: Das Selbstverhältnis erweist sich demnach als eine Art entfremdetes Verhältnis des Selbst zu sich, ein „Fremdverhältnis“: ein Verhältnis zu dem, was das Selbst nicht ist. Selbstverhältnis ist nach diesem Verständnis durch gesellschaftliche, ideologische und Eigentumsverhältnisse vermittelt, durch das also, was dem Selbstverständnis des Subjekts scheinbar entgegensteht. Es handelt sich hier insofern nicht um eine strukturelle, prinzipielle Aporie, die jede Selbstbezüglichkeit an sich betrifft. Vielmehr hängt der aporetische Zustand der Subjektivität mit der geistigen Verfassung der gegebenen Gesellschaft zusammen, die ebendieses Verständnis von Subjektivität hervorbringt: Innerlichkeit wird zu einer Ideologie, sobald sie, gerade in ihrer Berufung auf das Innere, das Tiefe am Selbst als eine Art Autonomie, die Tatsache verdeckt, dass ein solches „Inneres“ als „autonomes“ nicht mehr möglich ist. Die makabre Passage, die das Kulturindustrie-Kapitel in der Dialektik der Aufklärung abschließt, bezieht ihre Stärke aus einer solchen Gleichzeitigkeit des Bedürfnisses nach dem „Eigentümlichen“ und dessen Verunmöglichung durch dieselbe ideologische Durchdringung, die es auslöst: Die Art, in der ein junges Mädchen das obligatorische date annimmt und absolviert, der Tonfall am Telephon und in der vertrautesten Situation, die Wahl der Worte im Gespräch, ja das ganze nach den Ordnungsbegriffen der heruntergekommenen Tiefenpsychologie aufgeteilte Innenleben bezeugt den Versuch, sich selbst zum erfolgsadäquaten Apparat zu machen, der bis in die Triebregungen hinein dem von der Kulturindustrie präsentierten Modell entspricht. Die intimsten Reaktionen der Menschen sind ihnen selbst gegenüber so vollkommen verdinglicht, daß die Idee des ihnen Eigentümlichen nur in äußerster Abstraktheit noch fortbesteht: personality bedeutet ihnen kaum mehr etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen.²⁸
Ebd., S. 190 – 191.
2.2 Kritik der „innerweltlichen Askese“. Die sozial-historische Relevanz
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Der Mechanismus der Kulturindustrie, der das „Innenleben“, jene intimsten Reaktionen beherrscht und verdinglicht, basiert gerade auf dem Bedürfnis nach Autonomie, nach individuellem Selbstverhältnis, das er zugleich hervorruft und verzerrt.
Ideologische Aporien der Innerlichkeit Die These über die Ideologie der Innerlichkeit müsste insofern als eine doppelte gelesen werden: Sie besagt einerseits (als Ideologie der Innerlichkeit), dass die kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse, der Markt und die Kulturindustrie ein solches Selbstverhältnis – Subjektivität als Innerlichkeit – als wahr und notwendig erscheinen lassen; sie bringen das „Bedürfnis“ nach dem Besonderen, „Eigentlichen“ oder Inkommensurablen am Selbst erst hervor. Verfolgt man den gedanklichen Leitfaden der Kritik der Innerlichkeit als abstrakter Subjektivität weiter, so stellt man fest, dass er sich auf alle „Abweichungsmöglichkeiten“ erstreckt und diese auf ihren ideologischen Ursprung zurückführt. Andererseits bezieht sich diese These (als Ideologie der Innerlichkeit) auf die immanente Tendenz der kapitalistischen Ideologie, alles Denken identisch, kommensurabel zu machen, an die Gleichheitsgesetze des Marktes anzupassen. Mit anderen Worten: Die Ideologie der Innerlichkeit ist gerade das, was das ursprüngliche Verständnis von Innerlichkeit, wie Kierkegaard sie entworfen hatte, unmöglich macht. Sobald sie als ein gesellschaftliches, „angefertigtes“ Produkt der Kulturindustrie begriffen – und realisiert – wird, trifft Adornos kritische Beobachtung auf ihre Identitätsstruktur zu: Durch den Schein einer Andersheit trägt sie zur Gleichmachung all dessen, was anders wäre, bei. „Kultur heute“ – so Adorno im Kulturindustrie-Kapitel, „schlägt alles mit Ähnlichkeit […]. Alle Massenkultur unterm Monopol ist identisch.“²⁹ „Für alle ist etwas vorgesehen, damit keiner ausweichen kann, die Unterschiede werden eingeschliffen und propagiert […]. Jeder soll sich gleichsam spontan seinem vorweg durch Indizien bestimmten ‚level‘ gemäß verhalten und nach der Kategorie des Massenprodukts greifen, die für seinen Typ fabriziert ist.“³⁰ Das Prinzip der Identität beruht selbst auf der Besonderheit des Einzelnen: Das Bedürfnis nach Eigenem, Besonderem, dessen subjektiver Ausdruck die abstrakte Innerlichkeit darstellt, erweist sich als eine Voraussetzung der Kulturindustrie: eine verinnerlichte Identität, die den Subjekten als Besonderheit erscheint. So verstanden, bedeutet die doppelte These über die Ideologie (oder die Ideologisierung) der Innerlichkeit, dass diese gerade das verunmöglicht, was sie
Ebd., S. 141– 142. Ebd., S. 144.
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selbst postuliert: Selbstverhältnis als ein Besonderes, Inkommensurables, Nichtidentisches. Dem Verständnis von Subjektivität als Innerlichkeit ist immanent, dass sie gerade durch ihren Anspruch auf „innere Wahrheit“, die nicht direkt mitteilbar, nicht kommensurabel werden kann, in einem besonderen Maße dem Identitätsdenken ausgesetzt ist. Adornos Polemik gegen die „Philosophie der Innerlichkeit“, seine „Warnung“ vor der seinerzeit herrschenden Denkform der subjektiven „Wahrheitsfindung“, gründet in der ideologischen Aporie der Innerlichkeit, die diese zugleich als notwendig und unmöglich erscheinen lässt. Diese Konstellation, in der Adorno zufolge Subjektivität, Wahrheit und Ideologie miteinander verwickelt sind, ließe sich insofern als ideologisch und zugleich aporetisch bezeichnen, weil sie sich weder relativieren, das heißt: auf die Kontingenz der gesellschaftlichen Verfasstheit, auf die kapitalistische Ideologie allein reduzieren, noch sich verabsolutieren, sich als eine essentielle, permanente Aporie verstehen lässt. Aporetisch ist die Ideologie der Innerlichkeit, weil sie sich gerade durch ihren Anspruch auf eine Befreiung des Subjekts vom gesellschaftlichen Zwang, von der ideologischen Verblendung, den Weg zu dieser Befreiung versperrt. Es ist weder die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft allein, die innere Wahrheit verunmöglicht, noch handelt es sich um eine Aporie im Wesen der Subjektivität selbst. Adornos Kritik drückt eine doppelte Verwicklung aus: Die aporetische Situation (Notwendigkeit und Unmöglichkeit) der Subjektivität ist zum einen Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse; die ideologische Verfasstheit der gegebenen Verhältnisse gründet zum anderen in einer solchen Aporie, die den Blick über diese Verhältnisse hinaus versperrt.
2.3 „Das Innere des Nichtidentischen“. Adornos Konzeption der Innerlichkeit „Das Paradox“, stellt Johannes Climacus, Kierkegaards Pseudonym, in den Philosophischen Brocken fest, „ist des Gedankens Leidenschaft […] des Denkens höchstes Paradox: etwas denken wollen, das es selbst nicht denken kann.“³¹ Etwas denken, das man selbst nicht denken kann, heißt nicht bloß jenseits logischer Strukturen denken, sondern über das begrifflich-rational operierende Denken hinausgehen. Nur ein solches Denken vermag es, das Paradoxe – das Nichtbegriffliche und Inkommensurable – zu denken, ohne in die absolute Beliebigkeit zu versinken. Kierkegaards Denken versteht sich als eine Kritik der Vernunft im Namen dessen, was sie nicht zu denken vermag; dies jedoch nicht, um das Un-
SKS 4, 242 / PB, 34.
2.3 „Das Innere des Nichtidentischen“. Adornos Konzeption der Innerlichkeit
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vernünftige an sich zu legitimieren, sondern um eine Perspektive auf das zu eröffnen, was durch das Netz der Vernunft hindurchfällt: das Innere als Absurdes und Inkommensurables, das Fundament der Subjektivität, das im Äußeren keinen Ausdruck erhalten kann. Dieses vernunftkritische Verhältnis hinterlässt in Adornos Subjektivitätskonzeption seine Spuren.³² In der Einleitung zur Negativen Dialektik definiert Adorno folglich: Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität; der Primat des Widerspruchsprinzips in der Dialektik mißt das Heterogene am Einheitsdenken. Indem es auf seine Grenze aufprallt, übersteigt es sich. Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität.³³
Das „Heterogene am Einheitsdenken“ ist nach Adorno das, was über dieses Denken hinausgeht, es ist weder rational (vor allem im Sinne instrumenteller Rationalität³⁴) noch irrational (im Sinne dessen, was Adorno an Kierkegaards Vernunftkritik selber kritisiert: ihres mystisch-mythischen Charakters³⁵).Vielmehr bedeutet „das konsequente Bewußtsein von Nichtidentität“ eine Aufmerksamkeit für das, was im Einheits- oder Identitätsdenken nicht aufgeht.³⁶ Die Aufmerksamkeit für das Besondere, Einzelne, Nichtidentische – für Kierkegaard Voraussetzung von Wahrheit – stellt sich für Adorno als eine Aufgabe
Vgl. Deuser, Dialektische Theologie, S. 178 – 179. Adorno, Negative Dialektik, S. 17. Vgl. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 142: „Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst. Sie ist der Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft.“ Vgl. Adorno, Kierkegaard, S. 152– 153. Identitätsdenken ist allerdings nicht an sich verwerflich, sondern notwendig und zerstörerisch. „Der Schein von Identität wohnt jedoch dem Denken selber seiner puren Form nach inne. Denken heißt identifizieren.“ Adorno, Negative Dialektik, S. 17. Als Schein, als Ideologie, ist Identitätsdenken zugleich auch wahr, wie J. M. Bernstein hervorhebt: „Adorno is here tracking the resilience not only of identity thinking and the ideology of the simple concept, but more emphatically the logical root of the belief that the world is always our world, that facts are a shadow of syntax, that the routine form of appearance of the world as proffered by identitythinking is somehow ‘inalienable’ despite nonidentity being the telos of conceptual activity.“ Aber als ein notwendiger ideologischer Schein hat Identitätsdenken, so Bernstein, zugleich die Tendenz zur Degeneration, zum Zerfall. „The communicative moment in every concept“ – das heißt: das Begrifflich-Identifizierende – „and the way in which that moment is socially secured and reproduced, entails a degenerative tendency that is structurally built into all conceptual and linguistic practice. If communicative identifying is an element in all identifying, then potentially every act of identification lodges the possibility of being levelled down to what it would be for communicative identifying on its own.“ J. M. Bernstein, Adorno. Disenchantment and Ethics, Cambridge 2001, S. 346 – 347.
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des Denkens dar: nicht zuletzt angesichts einer sozialhistorischen Situation, in der dieses der Gefahr ausgesetzt ist, eliminiert zu werden. „Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen; bei dem, was seit Platon als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde und worauf Hegel das Etikett der faulen Existenz klebte.“³⁷ Der „geschichtliche Stand“ ist freilich einer, in dem gerade eine solche Differenz vom Besonderem und Allgemeinem immer unmöglicher wird, in dem, wie Horkheimer und Adorno es in der Dialektik der Aufklärung im Hinblick auf die „Kulturindustrie“ beschrieben, „was widersteht, [nur] überleben [darf], indem es sich eingliedert. Einmal in seiner Differenz von der Kulturindustrie registriert, gehört es schon dazu.“³⁸ Der „Identitätszwang“ des Denkens lässt sich demnach nicht nur geistesgeschichtlich auf die Hegelsche Logik zurückführen, er ist vielmehr ein Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse im Denken des Einzelnen. So besteht die Aufgabe der Dialektik, wie Adorno sie versteht, darin, den „Identitätszwang durch die in ihm aufgespeicherte, in seinen Vergegenständlichungen geronnene Energie zu brechen“³⁹ – also von innen. Es ist freilich dieselbe Aufgabe, die Kierkegaard als die seiner Philosophie sah, an der er jedoch – nach Adornos Lesart – scheiterte. Kierkegaard, so Adorno, bricht aus einem solchen Denken nur zum Schein aus, verharrt in der mythischen Befangenheit. Der gegen den Identitätszwang und die Einheit sich aufbäumte, mit der das Subjekt das Nicht-ich unterjocht, war gekettet an jenes Subjekt, das anders nicht sich als wesenhaft zu bestimmen vermag denn durch Einheit, die Identität mit sich selbst.⁴⁰
So verstanden, bleibe Kierkegaard einer Konzeption von Selbstidentität verhaftet. Zwar erkennt Adorno Kierkegaards Theorie als „wahr gegen Hegel“ an, da „sie dem Moment des Nichtidentischen, in seinem Begriff nicht Aufgehenden, größeres Recht verschafft“ – „[g]leichwohl bleibt auch seine Theorie Identitätsdenken“.⁴¹ Kierkegaards eigenes Verständnis von Subjektivität als Selbstverhältnis gründet, wie ich anfangs dargelegt habe, gerade in der prinzipiellen Unmöglichkeit eines solchen Verhältnisses der Identität, oder genauer: in der Idee des Selbst- als Missverhältnisses. Entscheidend wäre in diesem Fall die Idee an sich: Die Bedeutung des Nichtidentischen am Subjekt selbst, die Aufmerksamkeit für
Adorno, Negative Dialektik, S. 19 – 20; meine Hervorhebungen. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 153. Adorno, Negative Dialektik, S. 159; meine Hervorhebung. Adorno, „Kierkegaard noch einmal“, S. 254. Ebd., S. 251.
2.3 „Das Innere des Nichtidentischen“. Adornos Konzeption der Innerlichkeit
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das Besondere, das Einzelne als Fundament von Wahrheit, die Durchbrechung des Identitätszwangs von innen.
Nichtidentische Definition des Inneren „Das Innere des Nichtidentischen“ – heißt es weiter in der Negativen Dialektik, „ist sein Verhältnis zu dem, was es nicht selber ist und was seine veranstaltete, eingefrorene Identität mit sich ihm vorenthält.“⁴² Damit geht Adornos Gedanke zugleich über Hegels Identitätsauffassung und Kierkegaards Kritik an dieser hinaus. Nicht nur bestreitet er eine restlose Identifizierung, eine Integration des Besonderen im Allgemeinen (Hegel-Kritik), auch die Form des Selbstverhältnisses, die er Kierkegaard zuschreibt, erweise sich demzufolge als Identitätsdenken: als eine Identität des Subjekts mit sich selbst. Es ist aber gerade das „Innere des Nichtidentischen“, ein inneres Prinzip, das jeder Identifizierung, jeder Anpassung im Weg steht. Vergegenwärtigt man sich Adornos Polemik gegen die „Versenkung in die Innerlichkeit“ – und sein Plädoyer für Tiefe (die dabei eine Art „Inneres“ bedeutet) als Widerstand, so zeigt sich das „Innere des Nichtidentischen“ als ein Gedanke, der nicht nur für ein Verständnis der Kategorien negativer Dialektik, sondern in besonderem Maße für das einer freien, kritischen, negativistisch aufgefassten Subjektivität aufschlussreich wäre. „Das Innere des Nichtidentischen“ ist der Begriff eines inkommensurablen Subjekts – in seiner Differenz zum äußeren Allgemeinen und zu sich selbst. Bezogen auf das Verhältnis des Individuums zu sich selbst bedeutet Identität, dass ein solches Verhältnis gesetzt werden kann, dass das Individuum sich in ein Verhältnis zu sich selbst setzt: ein Verhältnis, das es als einheitlich versteht und das ihm als sinnvoll erscheinen muss.⁴³ Genau eine solche Identität, ein selbstgesetztes Selbstverhältnis, das das Individuum zum Subjekt macht und ihm Wahrheit im Sinne von Individualität und Freiheit gewährt, führt Adorno auf eine gesellschaftliche Forderung zurück.
Adorno, Negative Dialektik, S. 165; meine Hervorhebung. Inwiefern sich mit Adorno von einer „Identität der Person“ als einem anzustrebenden Modell gelungenen Selbstverhältnisses sprechen lässt, ist eine berechtigte Frage, die jedoch weder in einer subjektiven Sinnsuche noch in einer „Befreiung“ des Individuums aus den Fängen des Sozialen aufgehen kann. Vgl. Beck, Identität der Person, S. 100: „In Zusammenarbeit mit einer Theorie der sozialen Evolution, die politischem Handeln wieder einen Weg aus der Adornoschen Diagnose der verkehrten Totalität der Gesellschaft weisen will, kann Adornos Bestimmung der Identität der Person mittels der negativen Metaphysik, ebenso wie die Vermittlung der paradoxen Dialektik Kierkegaards, einen Angelpunkt der individuellen Freiheit des Einzelnen bieten, die ihn aus den Fängen einer sozialen Identität befreit.“
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Wenn nichts anderes verbindlich mehr vom Menschen gefordert werden könne, dann wenigstens, daß er ganz und gar das sei, was er ist. In der Identität jedes Einzelnen mit sich selber wird das Postulat unbestechlicher Wahrheit sowohl wie die Glorifizierung des Faktischen von der aufgeklärten Erkenntnis auf die Ethik übertragen.⁴⁴
Die Forderung, „ganz und gar das“ zu sein, was der Mensch ist, eine weitere Polemik gegen den Existentialismus und seinen Begriff der „Echtheit“ (eine der Heideggerschen „Eigentlichkeit“ verwandte Konzeption),⁴⁵ hat demzufolge ihren Ursprung gerade nicht im Subjekt, das mit sich selbst identisch sein soll, sondern in der modernen Gesellschaft, die dies von ihm verlangt. Das „Innere des Nichtidentischen“ ist insofern das, was eine solche Identität, eine Identität des Subjekts mit sich selbst verhindert. Bestreitet Adorno zwar ein Verständnis von Innerlichkeit als einer „Substantialität“, die „aus der Unangemessenheit zum Außen hergeleitet“ werde,⁴⁶ so denkt er gleichwohl selbst ein „Inneres“ als eine Art „inneres Prinzip“, das eine Identifizierung des Nichtidentischen am Subjekt verhindert – es entzieht sich dem begrifflichen, kommunikativen, identifizierenden Denken. Ein solches Verständnis vom inneren Prinzip des Nichtidentischen korreliert mit Adornos Idee der Tiefe als Widerstand. Das nichtidentische „Innere“ – und hier zeigen sich gleichzeitig Adornos Nähe zu Kierkegaard und seine Differenz zu ihm – ist kein Garant für die Wahrheit des Subjekts, es kann ebenso ein Fundament des Widerstands wie auch eines der Ideologie werden. Dass das Subjekt kein mit sich selbst identisches ist, dass es in sich eine immanente Spannung zwischen sich selbst und dem, was es nicht ist, aufspürt, bedeutet einerseits ein Moment von Autonomie, eine Freiheit, die „dem Ausdrucksdrang des Subjekts [folgt]“⁴⁷, andererseits lässt es das Subjekt jener gesellschaftlichen Forderung nach Identität – die wiederum, nach Adorno, ideologisch konstruiert ist – leichter anheimfallen.
Adorno, Minima Moralia, S. 173. Adorno verweist vor allem auf das politische Element der Echtheit: „Es treibt zur Denunziation alles dessen, was nicht kernig genug ist, nicht aus Schrot und Korn sein soll, also der Juden.“ Ebd. Die Identität des Subjekts mit sich selbst impliziert eine „Denunziation“ und Ausschließung des Anderen; „Echtheit“ zeigt sich insofern als ein Begriff mit eindeutigen politischen Implikationen (mit oder ohne Bezug zu Heidegger). Adorno, Kierkegaard, S. 45. Adorno, Negative Dialektik, S. 29.
2.3 „Das Innere des Nichtidentischen“. Adornos Konzeption der Innerlichkeit
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Geschichtlicher Zerfall und Hervortreten des Nichtsubjektiven In seinem „Versuch, das Endspiel zu verstehen“ deutet Adorno Samuel Becketts Theaterstück im Hinblick auf den Zusammenhang von Absurdem, Unverständlichkeit und der Verunmöglichung von Subjektivität in Becketts Welt.⁴⁸ In Adornos Lesart parodiert das Stück, gerade durch seine Absurdität, jene Kierkegaardsche beziehungsweise existentialistische „Lehre“ vom Absurden als Prinzip der Subjektivität, während es Subjektivität nur in ihrer Liquidation, in ihrer historischen Verunmöglichung erkennen lässt. „Parodiert ist der Existentialismus selber; von seinen Invarianten nichts übrig als das Existenzminimum.“⁴⁹ In Adornos Lektüre bezieht sich diese Parodie freilich auf Philosophie überhaupt: „Philosophie, Geist selber deklariert sich als Ladenhüter.“⁵⁰ Zweifellos wird die Metapher der Philosophie als „Ladenhüter“ im Sinne eines leeren Versprechens Kierkegaards eigener spöttischer Darstellung der Hegelschen Philosophie in Entweder/Oder entlehnt. Dort lautet ein Aphorismus aus den „Diapsalmata“ im ersten, ästhetischen Teil: „Was die Philosophen über die Wirklichkeit sagen, ist oft ebenso irreführend, wie wenn man bei einem Trödler auf einem Schilde liest: Hier wird gerollt.Würde man mit seinem Zeug kommen, um es rollen zu lassen, so wäre man genasführt; denn das Schild steht bloß zum Verkaufe aus.“⁵¹ Im Hinblick darauf kann man behaupten, dass Adorno in seiner Beckett-Interpretation gerade die philosophiekritischen Motive Kierkegaards übernimmt, um den Existentialismus, Kierkegaards philosophisches „Erbe“, selbst bloßzulegen. Die Argumentation der EndspielLektüre richtet sich entsprechend gegen eine solche existentialistisch ausgelegte Sinnsuche im Absurden. Die Interpretation des Endspiels kann darum nicht der Schimäre nachjagen, seinen Sinn philosophisch vermittelt auszusprechen. Es verstehen kann nichts anderes heißen, als seine Unverständlichkeit verstehen, konkret den Sinnzusammenhang dessen nachkonstruieren, daß es keinen hat.⁵²
Meine Lektüre bezieht sich unmittelbar auf die negativen subjektivitätstheoretischen Implikationen von Adornos Beckett-Lektüre. Für eine umfassende Darstellung des Denkverhältnisses beider vgl. W. Martin Lüdke, Anmerkungen zu einer „Logik des Zerfalls“: Adorno – Beckett, Frankfurt am Main 1981. Adorno, „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, in Noten zur Literatur, GS 11, S. 281– 321; hier S. 284. Ebd. SKS 2, 41 / EO1, 34. Adorno, „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, S. 283; ferner: Beckett „zuckt die Achseln über die Möglichkeit von Philosophie heute, von Theorie überhaupt. Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase ist widerspenstig dagegen, sich begreifen zu lassen; das waren noch gute Zeiten, als eine Kritik der politischen Ökonomie dieser Gesellschaft geschrieben werden konnte, die sie bei ihrer eigenen ratio nahm.“ Ebd., S. 284.
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Auf den ersten Blick scheint es, als hätte Beckett genau das unternommen, was er parodiert haben soll: eine Suche nach Sinn im Sinnlosen, nach Subjektivität in einem absurden Endstadium, in der keine Subjekte mehr existieren.⁵³ Nach Adorno führt Beckett das Verständnis des Absurden selbst ad absurdum. Beckett verlängert die Fluchtbahn der Liquidation des Subjekts bis zu dem Punkt, wo es in ein Diesda sich zusammenzieht, dessen Abstraktheit, der Verlust aller Qualität, die ontologische buchstäblich ad absurdum führt, zu jenem Absurden, in das bloße Existenz umschlägt, sobald sie in ihrer nackten sich selbst Gleichheit aufgeht.⁵⁴
Das Endspiel stellt insofern eine Antithese zu Kierkegaards Konzeption selbst dar. Spricht Kierkegaard davon, dass sich Subjektivität als negatives Selbstverhältnis gerade in extremen Situationen, in Grenzerfahrungen konstituiert, in denen das Subjekt vor die Sinnlosigkeit der Welt und damit vor sich selbst gestellt wird, so zeigt das Endspiel, dass in solchen Situationen viel mehr auf dem Spiel steht: Gerade dann neigt das Subjekt dazu, im Absurden, in der Unverständlichkeit der Situation, nach Sinn zu suchen und sich einzubilden, es hätte Sinn gefunden, es wäre angesichts des Inkommensurablen an der Situation erst und allein mit sich selbst kommensurabel: Kierkegaard zufolge führt der Verlust aller Maßstäbe für das Verstehen des Außen das Subjekt zu sich selbst. Für Beckett, wie Adorno ihn liest, führt die extreme Erfahrung des Absurden, des Verlusts aller Maßstäbe, wie ihn das Endspiel darstellt, zu keiner Schlussfolgerung, zu keiner weiteren Bedeutung, sie verweist auf keinen Ausweg, und umso weniger auf die Möglichkeit einer Selbstfindung im Inneren, in der Identität des Subjekts mit sich selbst. Gerade diese Ausweglosigkeit stellt für Adorno ein entscheidendes Moment der Subjektivität dar: einer Subjektivität, die in sich keinen Sinn findet, die mit sich selbst nicht identisch ist. Dabei stellt sich die Frage, wie eine solche Konzeption der Subjektivität zu denken – und zu leben – wäre. „Sobald“, heißt es weiter im „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, „das Subjekt nicht mehr zweifelsfrei mit sich identisch, kein in sich geschlossener Sinnzusammenhang mehr ist,“ – die Figuren des Endspiels als Metaphern für das moderne Subjekt – „verfließt auch seine Grenze gegen das Auswendige, und die Situationen der Innerlichkeit werden zu solchen der Physis zugleich.“⁵⁵ Die Situation, die hier Das „Endspiel“ findet in einer solchen Situation statt: Außer den vier Hauptfiguren, die in Mülltonnen leben, leben in der Welt des Endspiel keine Menschen mehr. Es ist möglicherweise die Welt nach einer Katastrophe, eine Welt fast ohne Leben, in der die Subjekte fast Objekte, dinglich sind. „Das Endspiel findet in einer Zone der Indifferenz von innen und außen statt.“ Ebd., S. 292. Ebd., S. 287. Ebd., S. 294.
2.3 „Das Innere des Nichtidentischen“. Adornos Konzeption der Innerlichkeit
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beschrieben wird, ist die einer Ununterscheidbarkeit zwischen Innen und Außen: Wenn Innerlichkeit (nach Adorno in Naturfeindschaft, in der Distanz zum Objekt fundiert) zu einer Art Physis, dinghaft wird, so ließe sich wieder von einer Adäquatheit von Innen und Außen sprechen, vom Verlust der Diskrepanz, die für jenes negativkritische Subjektivitätsverständnis entscheidend wird. Die Adäquatheit ist dabei jedoch zugleich weit entfernt von Hegels Idee einer Vermittlung von Subjekt und Objekt – sie bedeutet keine positive notwendige Entwicklung, sondern eine dem Subjekt aufoktroyierte, zerstörerische Identität mit dem Objekt: mit dem dinghaften Außen. Wenn die Identität des Subjekts mit sich selbst zugleich eine Identität mit dem Außen, eine Art Verdinglichung bedeutet (Innerlichkeit, zur Physis geworden: wie das Kierkegaardsche Intérieur), so, scheint es, könnte nur eine Form von „Nichtidentität“ – keine Adäquatheit, sondern eine Diskrepanz zum Außen – einer solchen Selbstzerstörung durch Identität, einer „Liquidierung“ entgegenstehen. „Nichtidentität“ des Subjekts mit sich selbst bedeutet aber keine einfache Diskrepanz, sie ist nicht ohne weiteres Widerstand. Denn als eine Form von Negativität, als eine negative Subjekthaltung, birgt sie in sich genau das Moment der Objektlosigkeit, das die abstrakte Subjektivität kennzeichnet. Im unversöhnten Stand wird Nichtidentität als Negatives erfahren. Davor weicht das Subjekt auf sich und die Fülle seiner Reaktionsweisen zurück. Einzig kritische Selbstreflexion behütet es vor der Beschränktheit seiner Fülle und davor, eine Wand zwischen sich und das Objekt zu bauen, sein Fürsichsein als das An und für sich zu supponieren. Je weniger Identität zwischen Subjekt und Objekt unterstellt werden kann, desto widerspruchsvoller, was jenem als erkennendem zugemutet wird, ungefesselte Stärke und aufgeschlossene Selbstbesinnung.⁵⁶
Für diese Problemstellung negativer Subjektivität im „unversöhnten Stand“ – Zurückweichen in das trügerische Fürsichsein, postulierte Nichtidentität mit dem Objekt – bietet die Konsequenz, die Adorno aus der Problematik des Endspiels zieht, eine aufschlussreiche, wenn auch zwiespältige Lösung. „Nichtidentität“, schreibt Adorno im Beckett-Aufsatz, „ist beides, der geschichtliche Zerfall der Einheit des Subjekts und das Hervortreten dessen, was nicht selbst Subjekt ist.“⁵⁷ Liest man beide Feststellungen mit- und gegeneinander, so zeigt sich der Gedanke der Nichtidentität des Subjekts als eine unmögliche Gleichzeitigkeit: einerseits eine Nichtidentität des Subjekts mit dem Objekt, eine Diskrepanz zwischen dem Einzelnen und dem bestehenden Allgemeinen, wie Kierkegaard sie im Gegensatz
Adorno, Negative Dialektik, S. 41. Ebd., S. 294.
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zu Hegel formulierte; andererseits eine Nichtidentität des Subjekts mit sich selbst, ein Anderssein im Subjekt selbst.⁵⁸ Der „geschichtliche Zerfall der Einheit des Subjekts“ bedeutet die sozialhistorische Verunmöglichung einer solchen Identität im Inneren, eine „externe“ Beschädigung der Innerlichkeit in ihrem identitätsstiftenden Sinn. Selbstverhältnis als ein adäquater, einheitlicher, sinnhafter Bezug des Subjekts zu sich selbst wird nach diesem Verständnis durch objektive – gesellschaftliche, historische – Verhältnisse zu einem leeren historischen „Produkt“. Dieser „geschichtliche Zerfall“ ist der einer Unmittelbarkeit, eines unmittelbaren Verhältnisses des Subjekts zu sich selbst – als der unbedingten Voraussetzung von Individualität. Es handelt sich insofern nicht um eine logisch-konzeptionell notwendige Aporie der Individualität, sondern um eine historisch-ideologisch bedingte. Die Katastrophen, die das Endspiel inspirieren, haben jenen Einzelnen aufgesprengt, dessen Substantialität und Absolutheit das Gemeinsame zwischen Kierkegaard, Jaspers und der Sartreschen Version des Existentialismus war […]. Der Einzelne selbst ist als geschichtliche Kategorie, Resultat des kapitalistischen Entfremdungsprozesses und trotziger Einspruch dagegen, als ein wiederum Vergängliches offenbar geworden.⁵⁹
Angesichts der sozialhistorischen Verhältnisse erweist sich die Kategorie des Einzelnen – mit dem Verständnis der Subjektivität als Innerlichkeit eng verbunden – als eine Illusion, sowohl in ihren entfremdenden, isolierenden Aspekten wie auch in ihrer Bedeutung als Ausgangspunkt von Widerstand und Kritik. Die Unmittelbarkeit der Individuation trog; das, woran einzelmenschliche Erfahrung haftet, ist vermittelt, bedingt. Das Endspiel unterstellt, daß Autonomie- und Seinsanspruch des Individuums unglaubwürdig ward.⁶⁰
Alastair Morgan sieht ein kausales Verhältnis zwischen beiden Seiten der Begriffsbestimmung in dieser Stelle. „[T]his non-identity can be either freedom or hell, dependent on the form in which such a disintegration of the subject occurs, which determines what emerges as that which is not subject.“ Alastair Morgan, Adorno’s Concept of Life, London 2007, S. 112. Demzufolge wird das NichtSubjektive, das hervortritt, von der Form des „Zerfalls der Einheit des Subjekts“ bestimmt. Meiner Ansicht nach kann man diese Lesart nur dann akzeptieren, wenn man auch ihre Gegenseite annimmt, nämlich dass das Nicht-Subjektive zugleich auch die Form des Zerfalls bestimmt, dass das, was hervortritt, die Einheit des Subjekts verhindert. Zwischen beiden Seiten der Äquivokation müsste insofern eine Wechselwirkung bestehen, es handelt sich hier nicht um einen einseitigen historischen Determinismus, in dem die Desintegration des Subjekts sein Anderes hervorbringt. Vielmehr „befindet“ sich dieses andere, nicht subjektive im Subjekt selbst. Adorno, „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, S. 290. Ebd., S. 291.
2.3 „Das Innere des Nichtidentischen“. Adornos Konzeption der Innerlichkeit
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Aber die andere Seite der Äquivokation besagt, dass die „Nichtidentität“ des Subjekts mit sich selbst, ein „Hervortreten“ – am Subjekt selbst – „dessen [ist], was nicht selbst Subjekt ist“. Es ist demnach gerade das Nicht-Subjektive am Subjekt selbst, eine Art Fremdbestimmung, die einer illusorisch-ideologischen Identitätmit-sich-selbst entgegensteht: der Vorrang des Objekts. Damit ist sicherlich nicht eine Legitimierung bestehender objektiver Verhältnisse gemeint; die subjektive Reflexion über das, was an sich selbst „nicht selbst Subjekt ist“, stellt die einzige Weise dar, ein mit sich selbst nicht identisches Subjekt zu denken – ein Subjekt also, das in sich den „Vorrang des Objekts“, das Nicht-Subjektive, erkennt. Es handelt sich jedoch um keine Vermittlung: Das fremde, objektive, heterogene Moment am Subjekt verhindert seine Identifizierung mit sich selbst. Dieser Gedanke stellt Adornos Opposition zur Subjektphilosophie seit Kant und Fichte – zum „Trug konstitutiver Subjektivität“⁶¹ bei Kant, zu Fichtes absolutem Ich⁶² – dar, die eine solche Identität postuliert und dadurch den Weg zu einer ideologischen Entfremdung eröffnet. Solcher philosophische Subjektivismus begleitet ideologisch die Emanzipation des bürgerlichen Ichs als deren Begründung. Seine zähe Kraft zieht er aus fehlgeleiteter Opposition gegen das Bestehende: gegen seine Dinghaftigkeit. Indem Philosophie diese relativiert oder verflüssigt, glaubt sie, über der Vormacht der Waren zu sein und über ihrer subjektiven Reflexionsform, dem verdinglichten Bewußtsein.⁶³
Adorno bemängelt nicht die Idee einer subjektivistisch motivierten Opposition zum Bestehenden an sich, sondern ihre falsche Ausrichtung: die Tendenz, sich des Objekts zu entledigen, sich der Dinghaftigkeit, dem Nicht-Subjektiven an sich zu widersetzen. Hierin liegen nach seiner Lesart zugleich die Motivation und die Ursache für das Scheitern der „Emanzipation des bürgerlichen Ichs“. Gerade durch den Willen, sich frei, autonom zu setzen, die Natur zu beherrschen und nicht von ihr beherrscht zu werden, zerstörte das bürgerliche Subjekt die Grundlage seiner eigenen Emanzipation. Dies ist in gewissem Sinne die Geschichte der Dialektik der Aufklärung, die „Urgeschichte der Subjektivität“.⁶⁴ Die Alternative, die die Idee des „Nichtidentischen“ am Subjekt darstellt, bezieht sich zugleich auf diesen Zerfall des bürgerlichen Subjekts und auf das immanente
Adorno, Negative Dialektik, S. 10. In der Kritik der abstrakten Subjektivität Kants und Fichtes stellt sich Adorno zur Seite Hegels, der „Kant und Fichte […] als Sprecher abstrakter Subjektivität zu verurteilen […] nicht müde wird“. Ebd., S. 49. Hegels Alternative einer Identität, einer Vermittlung von Subjekt und Objekt weist er, wie wir sehen, ebenso ab. Ebd., S. 190. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 73.
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2 Die Ideologie der Innerlichkeit
Element im Subjekt selbst – das „Innere des Nichtidentischen“ – das das Subjekt daran hindert, „es selbst“ zu sein, mit sich selbst identisch zu sein. Sprach Kierkegaard vom Selbstverhältnis als Missverhältnis, von der Inkommensurabilität im Subjekt selbst und der Unmöglichkeit, sich selbst restlos zu verstehen, so verleiht Adorno diesem Missverhältnis eine weitere, radikalere Wendung. Die Inkommensurabilität – oder: die Nichtidentität – im Subjekt selbst bedeutet ein unmittelbares Verhältnis zum Anderen im Selbst. Während jedoch Kierkegaard dieses Verhältnis zum Anderen im Selbst als die Grundlage der Subjektivität, der Gewissheit seiner selbst verstand, sieht es Adorno als das, was eine solche Gewissheit – als Selbstidentität – prinzipiell suspekt und prekär macht. Die Unmittelbarkeit einer solchen Selbstgewissheit stellt sich als fragwürdig, als Selbsttäuschung dar; „wo das Subjekt seiner selbst ganz gewiß sich fühlt, in der primären Erfahrung, ist es wiederum am wenigsten Subjekt“.⁶⁵ Das „ganz Andere“ am Subjekt, das für Kierkegaard innere Gewissheit hervorruft, ist für Adorno selbst das, was das Subjekt nicht bestimmen kann: Es wird nicht „konstituiert“, sondern „tritt hervor“. Selbstverhältnis ist Adorno zufolge zugleich ein Missverhältnis – als das Verhältnis des Subjekts zu dem in sich selbst, was nicht selbst Subjekt ist. Die subjektive Reflexion über das Heterogene, Fremdbestimmte am Subjekt sei folglich eine Bedingung kritischer, subjektiver Autonomie. Je mehr die Autonomie von Subjektivität kritisch sich durchschaut, sich ihrer als eines ihrerseits Vermittelten bewußt wird, desto bündiger die Verpflichtung des Gedankens, mit dem es aufzunehmen, was ihm die Festigkeit einbringt, die er nicht in sich hat.⁶⁶
Das Nichtidentische am Subjekt bedeutet insofern nicht nur eine Differenz zum Außen, eine Kierkegaardsche Diskrepanz von Innen und Außen, sondern zugleich auch eine Differenz zu sich selbst, eine Reflexion über das eigene Vermitteltsein, über die eigene ideologische Durchdringung, über den „geschichtlichen Zerfall der Einheit des Subjekts“. Das Innere des Nichtidentischen als das „Verhältnis zu dem, was es nicht selber ist,“⁶⁷ drückt die immanente Tendenz jedes Selbstverhältnisses aus, zu einem Fremdverhältnis zu werden, ideologisch entfremdet zu sein, ebenso wie zugleich die Möglichkeit einer innerlich motivierten und subjektiv reflektierten Kritik an ebendieser Tendenz oder Ideologie. Das Innere – Adornos „Innerlichkeit“ – ließe sich folglich als Ausdruck von Ideologie verstehen, als ein apologetisches Verständnis von Subjektivität (Identität mit sich selbst) und zugleich als Ideologiekritik, als das Bewusstsein des Vermitteltseins und als die
Ebd., S. 50. Ebd., S. 49. Ebd., S. 165.
2.3 „Das Innere des Nichtidentischen“. Adornos Konzeption der Innerlichkeit
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Verpflichtung und Notwendigkeit, sich zu dieser Ideologie – von der man sich nicht ohne weiteres „befreien“ kann – in ein kritisches Verhältnis zu setzen.
Teil III Adornos Negativität. Rettung und Zerfall des Besonderen
1 Glücksversprechen und Erfahrung Die „Wahrheitsfähigkeit“ der Negativität Selbstbezug auf negativ-ironische Weise zu fundieren, bedeutet nach Kierkegaard, in einem ironischen Verhältnis zu sich und zum anderen in sich zu stehen, die Differenz von Subjekt und Objekt nicht zu überbrücken, die Wunde offen zu lassen. Adorno ist kein ironischer Denker; dennoch nimmt er – wie ich nachfolgend darlegen werde – trotz aller Kritik diesen negativen Gedanken auf und entfaltet ihn in seiner Auseinandersetzung mit den Fragen nach Form und Möglichkeit von Subjektivität in den spätmodernen gesellschaftlichen Lebensverhältnissen. Dabei verhindern die unterschiedlichen, oft gar widersprüchlichen Weisen des Begriffsgebrauchs eine eindeutige Bestimmung dieses Gedankens, verweisen auf eine innere Spannung in der Sache selbst. Negativität ist nach Adorno keine beständige Auffassung, keine Position, kein Standpunkt. Sein negativer Gedanke erweist sich vielmehr als ein Gedanke, der nicht durchgängig gedacht werden kann, weil er sich gerade auf den Bereich der Erfahrung, der Unmittelbarkeit, des Nichtbegrifflichen bezieht. In diesem Bereich verortet Adorno die Idee der Wahrheit selbst, die folglich ebenfalls mit einer Erfahrung der Negativität zusammenhängt: Das Subjekt kann die Wahrheit nach Adorno nur negativ erfahren. Was mit diesem Argument gemeint ist und wie es – theoretisch wie praktisch – zu verstehen wäre, ist Thema des folgenden Kapitels. Um die Bedeutung des Negativen für Adornos Verständnis von Subjektivität und subjektiver Erfahrung greifbar zu machen, werde ich zunächst Adornos Begriff der Negativität als solchem nachgehen. Hierfür werde ich im ersten Schritt in Anknüpfung an Michael Theunissens Deutung der „Negativität bei Adorno“ die verschiedenen Facetten und Äquivokationen des Negativitätsbegriffs Adornos nachzeichnen, um darin hauptsächlich zwei Formen von Negativität zu unterscheiden. Diese Negativitätsformen – die eine lässt sich als gesellschaftliche, die andere als absolute Negativität bezeichnen – werde ich anschließend in ihrer subjektivitätstheoretischen Bedeutung hinterfragen. Dabei zielt die erste Form auf eine Diagnose des Unwahren ex negativo, als Kritik an einem unterdrückenden Prinzip des Denkens und an seinen gesellschaftlichen Erscheinungsformen. Die zweite Form wäre nach Theunissen als „wahrheitsfähig“ zu verstehen. Sie bezieht sich auf eine Wahrheitsidee, die allerdings – ebenfalls negativ – nur durch das Denken des Absoluten zu gewinnen wäre, durch das also, was der Vernunft und dem „Identitätsdenken“ inkommensurabel und daher stets unbegreiflich, undurchsichtig bleibt. Subjektive Erfahrung – das soll der zweite Schritt darlegen – lässt sich von diesem doppelten Verständnis der Negativität nicht trennen. Gerade negative subjektive Erfahrungen – Enttäuschung, Scheitern, Irrtum, absolute Unverständlichkeit – ent-
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1 Glücksversprechen und Erfahrung Die „Wahrheitsfähigkeit“ der Negativität
halten in sich zugleich ein „Wahrheitsmoment“. Diese Behauptung werde ich anhand von zwei „Modellen“ der Erfahrung bei Adorno erläutern und explizieren: der metaphysischen und der ästhetischen Erfahrung. In den Überlegungen zur metaphysischen Erfahrung, die Adorno vor allem in der Negativen Dialektik entfaltet, sieht er gerade den Irrtum des Subjekts bei dessen Versuch, zwischen dem eigenen Erkenntnisvermögen und der objektiven Welt ein Verhältnis herzustellen, als ein grundlegendes Fundament metaphysischer Erfahrung. Ästhetische Erfahrung, wie Adorno sie vor allem in der Ästhetischen Theorie versteht, gründet ebenfalls in einem Scheitern, das sich im Verhältnis zwischen Subjekt und Kunstwerk ereignet. Die Begegnung mit (vor allem) modernen Kunstwerken versetzt das rezipierende Subjekt in einen Zustand der Erschütterung, in dem es sich selbst als ein anderes erfährt. Die Unmöglichkeit eines vollkommenen Verständnisses des Kunstwerkes bedeutet demnach für das Subjekt eine Erfahrung des Scheiterns, die es zugleich in ein Verhältnis zu sich selbst und zur Wahrheit setzt. Metaphysische (ebenso wie ästhetische) Erfahrung zeigt sich insofern als eine Erfahrung des Subjekts, die durch eine absolute Negativität gezeichnet ist. Um diese Deutung zu begründen, werde ich Adornos meist fragmentarische Überlegungen zur Möglichkeit metaphysischer Erfahrung und seine systematischere Konzeption ästhetischer Erfahrung nicht allgemein, sondern gezielt behandeln: im Hinblick auf die Weise, in der sich seine negative Konzeption der Subjektivität durch diese Formen der Erfahrung herauskristallisiert. Es wird sich zeigen, dass und inwiefern gerade das Unvermögen des Subjekts, sich selbst durchsichtig, verständlich zu werden, es vor sich selbst stellt und somit für das Verständnis von Subjektivität überhaupt entscheidend wird. Innere Wahrheit werde insofern gerade durch eine solche Diskrepanz erfahrbar. Bei diesem Gedanken handelt es sich freilich um ein Kierkegaardsches Motiv, das Adorno – darauf soll die folgende Lektüre hinweisen – trotz aller Kritik recht implizit von Kierkegaard übernimmt und kritisch fortschreibt. In meiner Argumentation werde ich dementsprechend die Bezüge zu Kierkegaard fortlaufend herstellen, sofern sie zur Klärung des Sachverhalts in Adornos Denken beitragen.
1.1 „Wahrheitsfähigkeit“. Gesellschaftliche und absolute Negativität Die Erfahrung des Subjekts, selbst – gänzlich oder partiell, temporär oder permanent – nicht Subjekt zu sein, stellt sich in Adornos Denken als konstitutiv für das Verständnis von Subjektivität dar, wenn auch in einer paradoxen und problematischen Weise. Dies rührt von der Äquivokation im Begriff der Negativität selbst her, mit dem die Idee des Nichtidentischen zusammenhängt. Nichtidentität,
1.1 „Wahrheitsfähigkeit“. Gesellschaftliche und absolute Negativität
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so hat das letzte Kapitel gezeigt, kennzeichnet sich in ihrem subjektiven Bezug gerade durch das Nichtsubjektive, das am Subjekt selbst „hervortritt“ und es zu einem mit sich selbst Nichtidentischen macht. Subjektivität und Negativität sind bei Adorno folglich miteinander verschränkt: Als Selbstbezüglichkeit werde Subjektivität durch eine Erfahrung konstituiert, die im Negativen gründet; das Negative erhalte seine Bestimmung durch das Verhältnis des Subjekts zu sich und zum Anderen, zur Natur oder Gesellschaft. Um Adornos Subjektivitätsbegriff zu verstehen, müsste man insofern seinen Begriff der Negativität genauer bestimmen – und umgekehrt: Der negative Gedanke beruht auf subjektivitätstheoretischen Prämissen. Dies ist jedoch umso schwieriger, als Adornos Negativitätsbegriff alles andere als eindeutig ist. Hinterfragt man die verschiedenen Bestimmungen des Negativen in seinem Denken hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Subjekt und für dessen Verhältnis zur Wahrheit, so ergeben sich widersprüchliche Konsequenzen. Im Folgenden möchte ich daher zuerst diesem Problem der Äquivokationen nachgehen, um dann Adornos Konzeption negativ-kritischer Subjektivität in ihrer Nähe und Differenz zu der Kierkegaards genauer darstellen zu können. Adornos negativer Gedanke ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass er sich auf eine Idee der Wahrheit richtet. Dabei ist zunächst anzumerken, dass Adorno sich eindeutig gegen jenes nihilistische Verständnis des Negativitätsbegriffs abgrenzt, das dem Begriff auf den ersten Blick anzuhaften scheint. Negativität hat in Adornos Denken nichts gemein mit einem solchen Verständnis grundsätzlicher Sinnlosigkeit der Existenz; vielmehr erschließen sich dem Subjekt Sinn und Wahrheit durch die Erfahrung des Negativen, durch die Negativität der Erfahrung selbst. Inwiefern sich für das Subjekt aus einer negativen Erfahrung Wahrheit erschließt und worin diese Erfahrung besteht, hängt von der Deutung des Negativitätsbegriffs ab. In seinem Vortrag „Negativität bei Adorno“ widmet sich Michael Theunissen einer solchen substantiellen Unterscheidung mehrerer Bestimmungen des Negativitätsbegriffs in Adornos Denken, die ich als Ausgangspunkt für meine Begriffsanalyse nehmen möchte.¹ Obwohl Theunissen zunächst seinen eigenen Versuch, „die verschiedenen Bedeutungen“ von Adornos Begriff der Negativität „in einen internen Zusammenhang“ zu bringen, als „problematisch“ betrachtet,² gelingt ihm am Ende, möglicherweise gegen seine eigene Lesart, eine einigermaßen fundierte Unterscheidung zwischen (hauptsächlich) zwei Formen der Negativität: Sie lassen sich
Michael Theunissen, „Negativität bei Adorno“, in Adorno-Konferenz 1983, hg. von Ludwig von Friedeburg und Jürgen Habermas, Frankfurt am Main 1983, S. 41– 65. Theunissen, „Negativität bei Adorno“, S. 42.
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1 Glücksversprechen und Erfahrung Die „Wahrheitsfähigkeit“ der Negativität
als gesellschaftliche und absolute Negativität beschreiben. Die erste hat in gewissem Sinne eine erkenntnistheoretische, die zweite eine metaphysische Dimension. Entsprechend lässt sich das Verhältnis beider Formen zueinander und ihr interner Zusammenhang auffassen. Nach Theunissen handelt es sich bei Adornos Negativitätsbegriff grundsätzlich nicht um einen ontologischen Begriff. Die Unterscheidung bezieht sich nicht auf das gegebene oder nicht gegebene Sein, auf Sein und Nichtsein. Vielmehr ist mit der Ontologisierung des Negativen eine „Ontologie des falschen Zustands“ gemeint:³ Die Frage, auf die sie abzielt, ist insofern nicht die nach dem gegebenen „Sein“, sondern die nach dem Sollen. Ein „falscher Zustand“ ist nämlich einer, der nicht sein soll. Adornos Thema ist demnach zunächst „die ontische Negativität des Nichtseinsollenden, des Schlechten, das er nur deshalb auch als Falsches ansprechen kann, weil er einen Begriff von Unwahrheit hat, der auf schlechte Wirklichkeit zielt“.⁴ Ein solches Verständnis von Negativität verbindet die erkenntnistheoretische Perspektive auf die objektive Wirklichkeit mit den metaphysischen Begriffen von Wahrheit und Unwahrheit. Für Theunissen ist es vor allem der Begriff des Absoluten, an dem sich Wahrheit und Unwahrheit bestimmen lassen; dieses steht wiederum in einer Relation zum Subjekt, oder genauer: zum Status des Subjekts.
„Negativität des Nichtseinsollenden“ Theunissens Absicht ist es zunächst, die verschiedenen Bedeutungen der „Negativität des Nichtseinsollenden“ auseinanderzuhalten. Diese Äquivokationen des Begriffs sind nicht nur eng miteinander verbunden, alle drei „Gestalten“, die ich nachzeichnen werde, beziehen sich auf die erste Form der Negativität: die gesellschaftliche Negativität, die „in die erkenntnistheoretische Perspektive der Negativen Dialektik hineinragt“.⁵ Die gesellschaftliche Negativität hat insofern eine erkenntnistheoretische Bedeutung, als sie die Weise hinterfragt, in der die Wirklichkeit – und zwar vor allem die gesellschaftliche Wirklichkeit – wahrgenommen wird. Sie ist Ausdruck einer unterdrückenden Herrschaft. Diese Herrschaft bedeutet hier aber zunächst eine begriffliche, die Herrschaft eines Denkens: Das „identifizierende Denken“ – das „Gleichmachen eines jeglichen Ungleichen“⁶ – ersetzt das an der Sache, was sich der Erkenntnis entzieht, weil es ihr inkommensurabel ist, durch ein Kommensurables, das der Logik der Identität entspricht. Vermittels solcher „Ersetzung durch Identität“ beherrscht das identi
Adorno, Negative Dialektik, S. 22; Theunissen, „Negativität bei Adorno“, S. 46. Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. Adorno, Negative Dialektik, S. 174.
1.1 „Wahrheitsfähigkeit“. Gesellschaftliche und absolute Negativität
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fizierende Denken das Andersartige an der Sache dadurch, dass es dieses „unterdrückt“.⁷ Die drei „Hauptgestalten“ dieser gesellschaftlichen Negativität betrachtet Theunissen als Ausdrucksweisen einer „Negativität des Zwangs“ in Adornos Denken. Die erste Gestalt entfaltet sich demnach in der Form jenes identifizierenden Denkens, sofern es als Negatives gesellschaftlich-real zur Erscheinung kommt. Das „Prinzip unterdrückender Herrschaft“, auf dem „Gesellschaft seit je […] aufgebaut war“, ist demnach zunächst eine begriffliche Herrschaft, eine Unterdrückung durch begriffliches Denken. Damit meint Theunissen den „Begriff im subjektiven Sinn solchen Denkens“:⁸ Die unterdrückende Verzerrung der Wahrnehmung vollzieht sich durch das denkende Subjekt selbst. Die zweite Gestalt bezieht sich nach Theunissen auf den objektiven Begriff, auf das „Allgemeine“ in der Weise, in der es sich im Begrifflichen ausdrückt. Der objektive Begriff ist, mit anderen Worten, der Begriff des Realen. Adorno ist sich aber der „Kontamination“ dieses Begriffs selbst bewusst, da er „mit dem Unwahren […] fusioniert“ sei.⁹ Die zweite Gestalt bildet insofern eine Ergänzung zur ersten: Identifizierendes Denken, das die Wahrnehmung verzerrt, bedeute nicht nur eine Art Verblendung des Subjekts, sie entspreche ebenso sehr einer objektiven Gegebenheit, die das Denken und die Begrifflichkeit überhaupt affiziere. Die erste und die zweite Gestalt der gesellschaftlichen „Negativität des Zwangs“ haben insofern eine primär erkenntnistheoretische Bedeutung. Sie beziehen sich auf das Verhältnis von Wahrnehmung, begrifflichem Denken und objektiver Welt. Ihre Negativität bedeutet insofern beides: das Falsche an der objektiv gegebenen Realität und Gesellschaft und die Entstellung der Wahrnehmung durch das identifizierende Denken, das jedoch ebenso eine Konsequenz des objektiv Falschen ist. Die dritte Gestalt, erkenntnistheoretisch ebenfalls relevant, lässt sich aber besser von den ersten beiden unterscheiden. Sie bezieht sich auf eine Beherrschung des Denkens durch ein Negatives im Sinne dessen, was sich als unmittelbar, unauflöslich zeigt und damit seinen Ursprung verschleiert. Durch den „Schein seiner Unauflöslichkeit“¹⁰ verhindert es ein Hineindringen in seine Wahrheit. Obwohl Theunissen diese dritte Gestalt, als „Unauflöslichkeit“, der gesellschaftlichen Negativität zurechnet, ließe sie sich zugleich der anderen bedeutenden Negativitätsform zuschreiben: der absoluten Negativität, die ich
Theunissen, „Negativität bei Adorno“, S. 43. Ebd. Adorno, Negative Dialektik, S. 57, zit. in Theunissen, „Negativität bei Adorno“, S. 43. (Theunissens Seitenangaben unterscheiden sich von denjenigen der Gesamteausgabe, die hier angegeben sind.) Ebd.
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1 Glücksversprechen und Erfahrung Die „Wahrheitsfähigkeit“ der Negativität
nachfolgend beschreiben werde. Wichtig ist aber zunächst festzustellen, dass der Maßstab dafür, ob die Negativität der Unauflöslichkeit – oder Unverständlichkeit – als gesellschaftliche oder als absolute begriffen werden soll, in ihrem „Scheincharakter“ besteht: nämlich ob ihr Schein ein gesellschaftlicher und als solcher zu „entschleiern“ wäre oder ob es sich dabei vielmehr um eine Grenze des Verstandes, eine Überschreitung des Erkenntnisvermögens handelt. In diesem Fall wäre die Negativität als absolute zu verstehen, eine freilich, die in einer komplizierten Relation zur Gesellschaft und zur gesellschaftlichen Negativität steht, weil sie sich als deren Fortsetzung und zugleich als deren Gegenteil verstehen lässt. Mit dem Ausdruck „gesellschaftliche Negativität“ ist freilich zweierlei gemeint: Einerseits bedeutet hier Negativität das Falsche, Unwahre an der gegebenen Gesellschaft; andererseits meint Adornos Rede von Negativität ebenso Kritik im Sinne eines Widerstands gegen das Unwahre. Es müsste also unterschieden werden – in der Begriffsbestimmung selbst – zwischen negativem Phänomen und der Negativität der Kritik an diesem. Adornos negativer Gedanke umfasst insofern auf eine widersprüchliche Weise beides: Er bedeutet einerseits die Erkenntnis einer Verunmöglichung von Erkenntnis durch das (erkenntnis‐)unterdrückende Identitätsprinzip (Herrschaft des Begriffs,Verschleierung) und andererseits zugleich Kritik an diesem Prinzip und Widerstand gegen es. Wenn dem subjektiven Bewusstsein das Erkennen und Verstehen des gesellschaftlichen Scheins der Unauflöslichkeit versperrt bleiben, dann liegt es nahe, dass Kritik und Widerstand dagegen zumindest problematisch sind. Aus diesem Blickwinkel wäre eine solche Erkenntnis nur ex negativo möglich; „die Wahrheit übers unmittelbare Leben“ sei demnach nur an „dessen entfremdeter Gestalt“ abzulesen.¹¹ Für die gesellschaftliche Negativität bedeutet der negative Gedanke Adornos – und hierin besteht der Zusammenhang zwischen unterdrückendem Identitätsprinzip einerseits, Kritik und Widerstand andererseits – eine Auseinandersetzung mit der objektiven Unwahrheit.
„Negativität des Absoluten“ Demgegenüber bezieht sich die absolute Negativität auf die Idee der Wahrheit und ihre Möglichkeit. Dabei ist Theunissens Deutung dem Verständnis Adornos durchaus nicht adäquat: „Die Negative Dialektik selbst“, behauptet Theunissen, „deutet die bestehende Welt, eine ‚bis ins Innerste falsche‘, als ‚absolute Nega-
Adorno, Minima Moralia, S. 13; Theunissen, „Negativität bei Adorno“, S. 49. Die Möglichkeit, aus der „entfremdete[n] Gestalt“ des Lebens Erkenntnis über Wahrheit zu gewinnen, ist nach Theunissen die „positive Prämisse“ des Denkens Adornos, oder besser: die „positive Prämisse“ seiner Negativität.
1.1 „Wahrheitsfähigkeit“. Gesellschaftliche und absolute Negativität
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tivität‘“.¹² Die erste „Meditation zur Metaphysik“ in der Negativen Dialektik rekurriert zwar auf eine solche „absolute Negativität“, entfaltet ihren Begriff allerdings in einem geschichtsteleologischen Sinn: Absolut ist demnach die Negativität der Geschichte, weil in dieser „die Vernichtung des Nichtidentischen teleologisch lauert“,¹³ weil sich die Geschichte im Hinblick auf Auschwitz als „in ihrem Bann“ negativ erweist. Adorno spricht von einer absoluten Negativität hauptsächlich im Zusammenhang mit einer negativen Geschichtsphilosophie; Theunissens Rede von Adornos absoluter Negativität schreibt dieser einen anderen Sinn zu, der Adornos Denken zwar generell entspricht, von Adornos eigenem Begriffsgebrauch jedoch abweicht. So verstanden, lässt sich „absolute Negativität“ besser als Negativität des Absoluten bestimmen. „Ihrem Hauptsinn nach meint Negativität als absolute bei ihm nicht das Undenkbare und Unsagbare, auf das der Begriff des Nichtidentischen abzielte, sondern das Unausdenkbare und Unsägliche.“¹⁴ Eine solche Negativität sei deshalb als absolut zu bezeichnen, weil es „keinen Ort außerhalb ihrer [gibt], von dem aus sie sich philosophisch begreifen ließe“.¹⁵ Hat die Konzeption der gesellschaftlichen Negativität eine deutliche erkenntnistheoretische Dimension, da sie sich auf die Wahrnehmung der objektiven Welt bezieht, so lässt sich nach Theunissen behaupten, die absolute Negativität sei im Grunde metaphysisch zu verstehen: Sie richte sich auf das Absolute, auf das also, was dem Subjekt nicht unmittelbar evident, fassbar, verständlich ist, es aber zugleich im Wesentlichen bestimmt. Indes soll absolute nicht mit einer totalen Negativität verwechselt werden. Absolute Negativität, als Negativität des Absoluten, richtet sich für Adorno – Theunissen zufolge – auf einen Begriff der Wahrheit, auf einen Ausweg (wenn auch einen utopischen) aus dem „Immanenz-“ oder „Verblendungszusammenhang“. Hingegen müsste totale Negativität eine Erkenntnis der Sinnlosigkeit der Existenz bedeuten; ein Nihilismus, der Adorno recht fern lag. Ihm ging es – sogar in der Rede von der objektiven Unwahrheit, von der „bis ins Innerste falsche[n] Welt“¹⁶ – nicht um ein Konstatieren der Unwahrheit im Sinne einer absoluten Unmöglichkeit von Wahrheit, sondern gerade um die Suche nach einem Wahrheitsbegriff ex negativo. Darin konvergieren beide, die gesellschaftliche und die absolute Negativität: die eine als Ausdruck der Notwendigkeit von Kritik und Widerstand, die andere durch ihre Orientierung am Nichtbegrifflichen und Unausdenkbaren, das Adornos Verständnis des Absoluten zugrunde liegt.
Theunissen, „Negativität bei Adorno“, S. 48. Adorno, Negative Dialektik, S. 355. Theunissen, „Negativität bei Adorno“, S. 48; Hervorhebung im Original. Ebd. Adorno, Negative Dialektik, S. 42.
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Konvergenz im Nichtsubjektiven Die Konvergenz zwischen beiden Negativitätsformen ist aber tiefer verankert. Sofern sich gesellschaftliche Negativität als eine Negation des Objekts – der falschen Welt, der entfremdeten Gesellschaft, des „Verblendungszusammenhangs“ – darstellt, darf die absolute Negativität als eine Negation des Subjekts verstanden werden. Theunissen bringt somit den Gedanken des Nichtidentischen, die Idee des Absoluten und die Negation des Subjekts in einen Zusammenhang.Wie oben dargelegt, ist mit der „Negation des Subjekts“ jene Subjekthaltung gemeint, in der das hervortritt, „was nicht selbst Subjekt ist“.¹⁷ Darin, nicht Subjekt zu sein, trifft sich das Objekt, auf das der […] Begriff des Nichtidentischen abzielt, jedenfalls gleichermaßen mit dem im Sinne Adornos verstandenen Absoluten. Weil Adorno Wahrheit letztlich als die des Absoluten denkt, kann er von ihr sagen, sie habe ihr Urbild an dem, „was nicht Subjekt ist“.¹⁸
Das Objekt im Sinne des Nichtidentischen ist dabei nicht das einfache Gegenteil des negierten Subjekts, sondern das, was an diesem „hervortritt“; als eine Negation von innen, die Erfahrung (des Subjekts selbst), „nicht Subjekt zu sein“. Erst durch diese Erfahrung des ganz Anderen in sich werde das Subjekt „wahrheitsfähig“, werde der Bezug zum Absoluten hergestellt. In Theunissens Lesart hängt der Bezug des Subjekts zum Absoluten, und damit zur Wahrheit, mit einer solchen Nichtidentität mit sich selbst zusammen, in der das Subjekt auf eine negative Weise vor sich selbst gestellt wird, sobald es nicht vermag, sich darin wiederzuerkennen, sich mit sich selbst zu identifizieren. Ein so verstandener Bezug zum Absoluten – zum Ungedachten, Nichtbegrifflichen, zu dem also, was Unausdenkbar und Unsäglich ist, wie Theunissen Adornos absolute Negativität deutet – eröffnet die Perspektive auf die andere Seite des Nichtseinsollenden, auf das also, was anders wäre, was anders sein könnte. Wenn die gesellschaftliche Negativität sich erkenntnistheoretisch an einer „Ontologie des falschen Zustandes“ orientiert, so richtet sich die absolute Negativität auf das absolut Andere, auf das Nichtgedachte und Unausdenkbare. Sie besteht gerade in diesem Widerspruch, in der Absicht, das Unausdenkbare zu denken, das Nichtbegriffliche zu begreifen. Dies, so lässt sich die These erläutern, wäre nur durch das „Nicht-Subjekt-Sein“ ermöglicht; nur durch eine Überwindung der fürsichseienden Subjektivität würde eine Relation zum Absoluten denkbar. Sobald das Subjekt in einer solchen Relation zum Absoluten steht, so Theunissen, gewinnt es auch einen Bezug zur Wahrheit: „[N]ur das Heranreichen
Adorno, „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, S. 294. Theunissen, „Negativität bei Adorno“, S. 58.
1.1 „Wahrheitsfähigkeit“. Gesellschaftliche und absolute Negativität
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ans Absolute macht den Negativismus wahrheitsfähig.“¹⁹ Dies bedeutet, anders formuliert, dass die Negativität in ihrer absoluten Form (die Negation des Subjekts) einen Bezug zur Wahrheit herzustellen vermag, während die innerweltliche, gesellschaftliche Negativität „nur“ eine Unwahrheit (die „entfremdete Gestalt“) diagnostiziert. Theunissen stellt keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen beiden Formen der Negativität her (er unterscheidet sie zudem nicht eindeutig), obwohl dieser Zusammenhang bei näherer Lektüre naheliegt – und sich als problematisch erweist. Der Zusammenhang besteht nämlich in mehr als einem bloßen Verhältnis von Erkenntnistheorie und Metaphysik. Denn obwohl die absolute Negativität – das „Heranreichen ans Absolute“ – dem Subjekt eine Wahrheit erschließt,wenn auch als eine „Negation des Subjekts“, so bedeutet das nicht, dass diese Wahrheit der „Maßstab“ wäre, anhand dessen die Unwahrheit der gesellschaftlichen Negativität bestimmt werden könnte. Mit anderen Worten: Das Unwahre des Allgemeinen, auf das sich die gesellschaftliche Negativität als Kritik richtet, ist nicht das Gegenteil des Wahren des Absoluten. Während auf die Unwahrheit des Allgemeinen hingewiesen werden kann, während man also an der „entfremdeten Gestalt“ des unmittelbaren Lebens dessen Unwahrheit „ablesen“ könnte, erschließt sich die Wahrheit des Absoluten nicht auf eine einsichtige Weise. So verstanden, sind beide Wahrheitsbegriffe negativ. Der erste Begriff lässt sich ex negativo aus der gesellschaftlichen Entfremdung, aus der Unwahrheit des Allgemeinen herauslesen. Der zweite, dem Absoluten entsprechende Begriff, verweist auf das „ganz Andere“, das „noch ungedacht ist“,²⁰ und lässt sich auf diese Weise überhaupt nicht im Sinne einer positiven Erkenntnis formulieren.²¹ Der interne Zusammenhang beider Negativitätsformen besteht jedoch in ihrer subjektivitätstheoretischen Bedeutung: in der Deutung der „Negation des Subjekts“. Sie bedeutet für Adorno – ähnlich wie für Kierkegaard und anders als für Hegel – eine Radikalisierung der Subjektivität, nicht ihre Auflösung. Die Wahrheit der Subjektivität zeigt sich nach Adorno als ihre Nichtidentität mit sich selbst. Dieses Verständnis – eine Subjektivitätskritik, die das Subjekt nicht preisgeben möchte – richtet sich gegen den subjektivistischen Aspekt der instrumentellen
Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. Diese Unterscheidung ähnelt in großen Zügen derjenigen, die Theunissen zwischen „methodischem“ und „inhaltlichem Negativismus“ trifft. „Methodischer Negativismus“ korreliert mit der Konzeption gesellschaftlicher Negativität bei Adorno, „inhaltlicher Negativismus“ mit der absoluten. Vgl. Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung, sowie Michael Theunissen, Der Begriff Verzweiflung, Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt am Main 1993; Tilo Wesche, Kierkegaard. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2003, S. 140.
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1 Glücksversprechen und Erfahrung Die „Wahrheitsfähigkeit“ der Negativität
Vernunft, wie sie die Dialektik der Aufklärung schildert.²² Sobald das Subjekt mit sich selbst nicht identisch ist, eine innere Zerrissenheit aufweist, sich in ein inneres Verhältnis zum Nichtsubjektiven in sich setzt, erhält auch das Moment der Herrschaft, das Adorno und Horkheimer als in der „Urgeschichte der Subjektivität wahrnehmbar“ sehen,²³ eine andere Dimension. Nach der Dialektik der Aufklärung besteht das Paradox der „Urgeschichte der Subjektivität“ darin, dass die „Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, […] virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts [ist], in dessen Dienst sie geschieht“.²⁴ Somit wird die „Negation des Subjekts“ der „Vernichtung des Subjekts“ entgegengestellt. Die erste richtet sich gegen die zweite. Sofern bei Adorno auf eine negative Konzeption der Subjektivität hingewiesen werden kann, bedeutet sie folglich zunächst beides: Die Negativität bezieht sich dabei auf einen gesellschaftshistorischen Prozess, in dem das Subjekt „vernichtet“ wird, und zugleich auf dessen philosophische Rettung, die das Ziel der Subjektivitätstheorie und -kritik Adornos darstellt – eben durch seine Negation. Der Diagnose einer solchen „Vernichtung des Subjekts“ entspricht die Deutung der gesellschaftlichen Negativität; hingegen zielt die absolute Negativität – eben durch den Gedanken der „Negation des Subjekts“ – auf seine Rettung ab: auf die Rettung dessen, was am Subjekt nicht instrumentell, nicht in Herrschaftstendenzen „verstrickt“ ist. Vor dem Hintergrund der Subjektivitätskonzeption Adornos zeigt sich das Verhältnis von gesellschaftlicher und absoluter Negativität als komplexer: Die Erkenntnis der gesellschaftlichen Negativität drückt sich aus als eine Kritik an oder als ein Widerstand gegen soziale Phänomene, die in die „Vernichtung des Subjekts“ zu münden drohen. Sie zeigt sich als eine Kritik des Bestehenden, sofern dieses einer Subjektivitätsform entspricht, die durch die instrumentelle Zweckrationalität sich selbst entfremdet wird. Ein positives Gegenbild einer nicht entfremdeten Subjektivität würde die Form, die Theunissen gesellschaftliche Negativität nennt, freilich nicht betreffen.²⁵ Diese Negativitätsform richtet sich allein auf das Unwahre. Das Wahre ist hingegen Thema der absoluten Negativität, des absolut „Unausdrückbaren und Unsäglichen“. Subjektivitätstheoretisch bedeutet dies eine prinzipielle Unverständlichkeit seiner
Vgl. dazu Anke Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtidentischen bei Adorno, Frankfurt am Main 1989, S. 65 – 69. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 73. Ebd. In dieser Hinsicht korrespondiert die gesellschaftliche Negativität mit der Kierkegaardschen bzw. sokratischen Ironie, die nur ablehnt und keine positiven Alternativen bietet.
1.2 „Versprechensbruch“. Die negative Struktur subjektiver Erfahrung
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selbst, bedeutet es, subjektiv „[n]icht Subjekt zu sein“.²⁶ Folgt man zugleich Adornos oben genannter These, Nichtidentität sei „das Hervortreten dessen, was nicht selbst Subjekt ist“, so ließe sich das Subjektivitätsverständnis der absoluten Negativität als eine Art „nichtidentischer Subjektivität“ bestimmen; eine Subjektivitätsform, deren Negativität darin besteht, dass sie mit sich selbst nicht identisch ist, dass sie sich selbst stets entgegensteht, gespalten, zerrissen. Sofern „in Adornos eigener Sicht […] das Nichtidentische das Wahre“ ist,²⁷ lässt sich erst eine so verstandene „nichtidentische Subjektivität“ als wahr denken. Die Negation des Subjekts müsste insofern als eine innere Negation verstanden werden: Sie ist eine Subjekthaltung, die ihre Aufmerksamkeit gerade auf das ganz Andere in sich selbst richtet und nach ihrer Möglichkeit überhaupt, nach der Bedingung ihrer eigenen Unmöglichkeit fragt. Diese beiden Arten von Aufmerksamkeit sind eng miteinander verknüpft: Sie besagen, jede auf ihre paradoxe Weise, dass nach Adorno die Wahrheit der Subjektivität gerade in ihrer relativen Unmöglichkeit (in Relation zum Objektiven, Allgemeinen) besteht, die ihre Möglichkeit überhaupt begründet; ebenso wie in ihrem Sich-selbst-unverständlich-Sein, in ihrem, wie es Theunissen formuliert, „Unausdenkbaren und Unsäglichen“.
1.2 „Versprechensbruch“. Die negative Struktur subjektiver Erfahrung Die Äquivokationen des negativen Gedankens Adornos haben entsprechende Implikationen für die Weise, in der in seinem Denken Subjektivität als Selbstbezüglichkeit aufgefasst wird. Zunächst bedeuten die subjektivitätstheoretischen Implikationen des Negativitätsbegriffs, dass sich Selbstbezüglichkeit im Sinne einer unmittelbaren Erfahrung seiner selbst als unmöglich erweisen muss. Zum einen, weil sie – verfolgt man den Gedankengang der gesellschaftlichen Negativität – auf einem gesellschaftlichen Schein beruht, der dem Subjekt eine falsche, täuschende Überlegenheit zuspricht und damit sein Verhältnis zur objektiven, „äußeren“ Realität und zur Gesellschaft verzerrt. Zum anderen wird eine unmittelbare subjektive Erfahrung – das zeigt der Gedanke der absoluten Negativität – aufgrund der Nichtidentität des Subjekts mit sich selbst unmöglich. Denn sie bedeutet, einmal wahrgenommen, dass das Moment des Nichtidentischen in die
Theunissen, „Negativität bei Adorno“, S. 58: „Nicht Subjekt zu sein kennzeichnet das Absolute Adornos spezifisch.“ Ebd., S. 45.
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Selbstbezüglichkeit hineindringt, sie als ein Fremdes im Inneren bestimmt, als das Andere, Unverständliche und Nichtidentifizierbare am Subjekt selbst. Beide Negativitätsformen besagen, zunächst in Übereinstimmung mit Hegel, dass eine unmittelbare Selbstbezüglichkeit als solche nicht möglich ist, dass das Subjekt stets durch sein Anderes vermittelt ist. Dieses Andere ließe sich aber – in Differenz zu Hegel – nur negativ erfahren. Es wird (entsprechend der Bedeutung der gesellschaftlichen Negativität) als gesellschaftlicher Schein, als Ideologie oder (der Auffassung der absoluten Negativität zufolge) als das Nichtidentische am Subjekt bestimmt, als das also, was dem Subjekt in sich selbst undurchsichtig ist. Obwohl es auf den ersten Blick so scheinen mag, als ginge das Erste im Zweiten auf, als könnte sich das Undurchsichtige am Subjekt als der gesellschaftlich vermittelte Schein erweisen – oder, anders ausgedrückt: als Produkt von Ideologie, wie die Innerlichkeitskritik argumentiert –, spricht Adorno dem gesellschaftlichen Schein eine Unwahrheit, dem Nichtidentischen hingegen Wahrheit zu. Wir sehen hier, allgemein und noch undifferenziert betrachtet, eine These, die derjenigen Kierkegaards recht ähnlich zu sein scheint: der doppelten These aus der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift – „Die Subjektivität ist die Wahrheit“, gefolgt von „Die Subjektivität ist die Unwahrheit“.²⁸ Diese doppelte These behauptet, subjektiver Selbstbezug werde erst dann wahr – oder genauer: wahrhaftig, sich selbst treu –, wenn es der eigenen Unwahrheit, jener Unterlegenheit dem Ganz-Anderen-in-sich gegenüber gewahr werde. Für Adorno stellt sich die Sache so dar, als müsste sich das nichtidentische, sich undurchsichtige Subjekt der (gesellschaftlichen) Bedingungen der Unmöglichkeit subjektiver Wahrheit bewusst werden, um überhaupt ein Verständnis von Wahrheit und Subjektivität gewinnen zu können. Aus diesem circulus vitiosus rührt seine aporetische Subjektivitätskonzeption überhaupt her. Obwohl Kierkegaards negative Konzeption der Subjektivität als Innerlichkeit für Adorno – zu Recht und zu Unrecht, wie die letzten beiden Kapitel gezeigt haben – gerade eine Verfallsform von Subjektivität darstellt, erweist sich Adornos Begriff der Subjektivität bei näherer Betrachtung als eine Art Fortschreibung des Kierkegaardschen Gedankens. Vor diesem Hintergrund wird auch der Zusammenhang von gesellschaftlicher und absoluter Negativität im Hinblick auf die Subjektivitätsfrage deutlicher: Das Verständnis gesellschaftlicher Negativität korreliert mit der These „Die Subjektivität ist die Unwahrheit“, die absolute Negativität mit der These „Die Subjektivität ist die Wahrheit“ – allerdings auf eine andere, kritischere Weise als Kierkegaard die Sache betrachtete. Sofern nach beiden – Kierkegaard und Adorno – subjektive Wahrheit erst durch Selbstkritik
SKS 7, 189 – 190 / AUN2, 198 – 199.
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gewonnen wird, gestaltet sich die Art dieser Vermittlung und Entäußerung für jeden der beiden auf eine andere Weise. Adorno sieht, in potentieller Übereinstimmung mit Kierkegaard, die Bedingung der Möglichkeit wahrer Subjektivität im Bewusstsein ihrer Unmöglichkeit. Dies bedeutet zunächst eine Distanzierung von jenen Theorien des Subjekts, die diesem eine selbstverständliche Souveränität zuschreiben und es als eine primäre Kategorie verstehen. „Solcher philosophische Subjektivismus begleitet ideologisch die Emanzipation des bürgerlichen Ichs als deren Begründung.“²⁹ Damit diagnostiziert Adorno den subjektivistischen Ansatz der Aufklärung als Ursache einer fehlgeleiteten Emanzipation – einer Emanzipation, die ihre eigenen Ziele verrät. Gegenüber einem solchen „Subjektivismus“, der das Subjekt als Ausgangspunkt jeder philosophischen Wahrheitsfrage postuliert, behauptet er: Was wahr ist am Subjekt, entfaltet sich in der Beziehung auf das, was es nicht selber ist, keineswegs durch auftrumpfende Affirmation seines Soseins […]. Wäre Wahrheit tatsächlich die Subjektivität, wäre der Gedanke nichts als Wiederholung des Subjekts, so wäre er nichtig.³⁰
Um „wahr“ zu sein,Wahrheit zu gewinnen, müsse sich das Subjekt vielmehr in ein Verhältnis setzen: in eine „Beziehung auf das, was es nicht selber ist“, oder, wie es im oben zitierten Beckett-Aufsatz hieß, als „das Hervortreten dessen, was nicht selbst Subjekt ist“. Das Verhältnis des Subjekts zum Anderen, Nichtsubjektiven an sich ist zugleich seine eigene inkommensurable Erfahrung, sei es als unmittelbare oder als reflexive Aneignung. Adornos Rede von der „Verarmung der Erfahrung“ weist jedoch darauf hin, dass hier gerade dieses Verhältnis des Subjekts zum Anderen, Nichtsubjektiven, auf dem Spiel steht. Im unversöhnten Stand wird Nichtidentität als Negatives erfahren. Davor weicht das Subjekt auf sich und die Fülle seiner Reaktionsweisen zurück. Einzig kritische Selbstreflexion behütet es vor der Beschränktheit seiner Fülle und davor, eine Wand zwischen sich und das Objekt zu bauen.³¹
Das „Zurückweichen“ des Subjekts vor der Erfahrung der Negation, der Nichtidentität, entspricht der Kritik der Innerlichkeit als einer „Zuflucht des Subjekts, sobald einmal Objektivität es überwältigt“.³² Es fungiert als eine Art Surrogat für die subjektive Erfahrung der Negativität, die eine Erfahrung des Objektiven – des dem Subjekt an sich selbst Inkommensurablen – bedeutet.
Adorno, Negative Dialektik, S. 190. Ebd., S. 133. Ebd., S. 41. Adorno, Kierkegaard, S. 57.
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Gerade die negative Erfahrung der Nichtidentität ist demnach eine, die der objektiven – „bis Innerste falsche[n]“ – Welt adäquat wird. Aus der Perspektive der gesellschaftlichen Negativität bedeutet diese Erfahrung die Entwicklung eines Bewusstseins von der „Falschheit“ der objektiven Welt, wovon zugleich die Möglichkeit einer solchen Erfahrung überhaupt, eines kritischen Bewusstseins, betroffen ist. Solche Erfahrung „muss sich Rechenschaft darüber geben, wie sehr sie, ihrer Möglichkeit im Bestehenden nach, mit dem Bestehenden, schließlich dem Klassenverhältnis kontaminiert ist“.³³ Sie ist insofern die Erfahrung der Unmöglichkeit oder zumindest der Verzerrung der eigenen Subjektivität. Denn diese wird ja selbst – durch das, was das Subjekt erfährt – in Frage gestellt.
1.2.1 Das metaphysische Irrtumsmodell Die Frage nach metaphysischer Erfahrung wird bei Adorno zunächst in ihrer Differenz zu der entsprechenden Kantischen Frage formuliert: „Anstelle der Kantischen erkenntnistheoretischen Frage, wie Metaphysik möglich sei, tritt die geschichtsphilosophische, ob metaphysische Erfahrung überhaupt noch möglich ist.“³⁴ Kants Absicht, die Metaphysik durch ihre Kritik zu retten, durch eine Befragung der Bedingung der Möglichkeit einer Entsprechung von objektiver Welt und subjektiver Erfahrung, verliert, Adorno zufolge, an Bedeutung, weil in der Spätmoderne subjektive Erfahrung nicht mehr als selbstverständlich gegeben zu verstehen sei.³⁵ Es sei nicht mehr hinreichend, nur nach der Bedingung der Möglichkeit von Metaphysik zu fragen; vielmehr müsse die Möglichkeit von Erfahrung überhaupt ins Zentrum der kritischen Untersuchung gerückt werden. Subjektive Erfahrung, bei Kant Voraussetzung kritischer Metaphysik, ist nach Adorno nicht mehr selbstverständlich. Ihre Rettung hat aber auch für den Status des Subjekts selbst wesentliche Konsequenzen. So konzentriert sich Adorno besonders auf die Frage, ob metaphysische Erfahrung noch möglich sei, und auf die Art, in der diese Frage selbst – angesichts der historischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart – zu denken wäre. „[M]etaphysische Erfahrung“, stellt Adorno in seiner Metaphysik-Vorlesung fest, „erhält sich nämlich eigentlich nur noch negativ.“³⁶ Statt einer begrifflichen
Adorno, Negative Dialektik, S. 52. Ebd., S. 364– 365. Vgl. Albrecht Wellmer, „Modell 3: Meditationen zur Metaphysik. Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“, in Theodor W. Adorno – Negative Dialektik, hg. von Axel Honneth und Christoph Menke, Berlin 2006 (Klassiker auslegen, Bd. 28), S. 189 – 206; hier S. 192. Adorno, Metaphysik, S. 223.
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Erklärung dessen, was er als die Negativität metaphysischer Erfahrung versteht, veranschaulicht Adorno diese Negativität in der vierten „Meditation zur Metaphysik“ der Negativen Dialektik zunächst anhand eines „dialektischen Bildes“: Was metaphysische Erfahrung sei, wird, wer es verschmäht, diese auf angebliche religiöse Urerlebnisse abzuziehen, am ehesten wie Proust sich vergegenwärtigen, an dem Glück etwa, das Namen von Dörfern verheißen wie Otterbach, Watterbach, Reuenthal, Monbrunn. Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in dem Erfüllten, als ob es wäre. Ist man wirklich dort, so weicht das Versprochene zurück wie der Regenbogen. Dennoch ist man nicht enttäuscht; eher fühlt man, nun wäre man zu nah, und darum sähe man es nicht.³⁷
Jene „subjektive metaphysische Erfahrung“³⁸ besteht demnach in der Differenz zwischen dem objektiven und dem subjektiven Sein der Dinge, oder genauer: in der Inkommensurabilität beider. Die objektive Welt – hier: die Dörfer an sich – sind dem Subjekt nicht gänzlich gleichgültig, ihr objektives Vorhandensein ist natürlich von jeder subjektiven Erfahrung unabhängig, sie kommen aber zur „metaphysischen“ Geltung erst durch die Bedeutung, die ihnen das Subjekt beimisst. Objektives Sein (die Orte, die Dörfer) besteht primär und unabhängig vom erfahrenden Subjekt; das subjektive Sein (die Namen der Orte oder Dörfer, die für das Subjekt eine besondere Bedeutung haben und schließlich subjektive Projektionen sind) wird jedoch nur durch das Verhältnis des Subjekts zu diesen Gegenständen gewährt. Metaphysische Erfahrung gründet insofern in einem ironischen Verhältnis des Subjekts zur objektiven Welt, denn das erfahrende Subjekt transzendiert zwar das unmittelbare Sosein der Welt, suspendiert die Frage nach dem objektiven Gegebensein der Orte – allerdings nur, um sie dadurch selbst zu erfahren, subjektiv vermittelt. Die entsprechende Stelle aus der Metaphysik-Vorlesung erklärt sogar noch deutlicher, wie die Rede von metaphysischer Erfahrung gemeint wird und inwiefern sie als negativ zu verstehen wäre. Dort heißt es: [W]enn man als Kind in Ferien ist und Namen wie Monbrunn, Reuenthal, Hambrunn liest oder hört, dann hat man das Gefühl dabei: wenn man dort wäre, an diesem Ort, da wäre es. Dieses „es“, – was das „es“ ist, ist außerordentlich schwer zu sagen; man wird, auch darin den Spuren Prousts folgend, wohl am ehesten sagen können, daß es das Glück sei.Wenn man dann an einen solchen Ort hingelangt, dann ist es dort auch nicht, dann hat man es nicht. Sehr oft sind das dann ganz törichte Dörfer […]. Aber das Merkwürdige ist, daß, auch wenn es dort nicht „ist“, also wenn man keineswegs in Monbrunn jene Erfüllung findet, die in diesem Namen aufgespeichert ist, daß man dann trotzdem nicht enttäuscht ist […], weil man
Adorno, Negative Dialektik, S. 366. Ebd., S. 368.
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gleichsam zu nah ist, weil man drin ist, und weil man das Gefühl hat: wenn man ganz in diesen Phänomenen drin ist, dann kann man sie eigentlich gar nicht gewahren.³⁹
Metaphysische Erfahrung bedarf einer ironischen Distanz. Ihre Wahrheit – deren Komplement hier Glück heißt – gewinnt sie nur negativ: durch die nicht-enttäuschende Enttäuschung. Denn die Objekte erfüllen ihr Versprechen nicht, wenn sie von Nahem erfahren werden; wie der Regenbogen verschwindet das Versprochene. Ihre objektive Existenz ist zwar nicht belanglos, denn ohne sie wäre Erfahrung nicht möglich, sie sind Gegenstände der Erfahrung. Aber das ironische Verhältnis des Subjekts zu diesen – das Subjekt, das an den Gegenständen etwas erkennt, was an diesen selbst weder bestätigt noch widerlegt werden kann – bestimmt die Wahrheit der metaphysischen Erfahrung. Und zwar auf eine negative Weise, weil diese Wahrheit gerade in ihrer Unerreichbarkeit besteht, in der Unerfüllbarkeit, da sie – objektiv gesehen – auf einem Fehler beruht. „Dem Kind ist selbstverständlich, daß, was es an seinem Lieblingsstädtchen entzückt, nur dort, ganz allein und nirgends sonst zu finden sei; es irrt, aber sein Irrtum stiftet das Modell der Erfahrung.“⁴⁰ Die ironische Distanz des Subjekts (des Kindes) zu den Dingen (den Orten) beruht auf einer solchen Inkommensurabilität zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem, was dem Subjekt die Ortsnamen zu versprechen scheinen, und ihrer objektiven Unfähigkeit, es zu erfüllen. Inkommensurabilität bedeutet hier allerdings eine Art Kategorienfehler, der dem Objekt Charaktere zuschreibt, die ihm nicht zukommen. Gerade dieser Fehler ermöglicht jedoch subjektives Glück – durch die Erfahrung des Objektiven. „Glück, das einzige an metaphysischer Erfahrung, was mehr ist denn ohnmächtiges Verlangen, gewährt das Innere der Gegenstände als diesen zugleich Entrücktes.“⁴¹ Das „Innere der Gegenstände“, die „innere“ Wahrheit des Objekts, wird als ein Subjektives erfahren, so als gehöre es dem Objekt nicht mehr. Damit scheint es ein anderes, neues Leben zu gewinnen, durch die Erfahrung des Subjekts, durch die Aneignung, die es ins subjektive Leben ruft. Diese Aneignung des „Inneren“ des Objekts bringt demnach das Glück des Subjekts hervor. Die Enttäuschung des Subjekts angesichts der Inkommensurabilität zwischen dem „Versprechen“ der Dinge und ihrem gleichgültigen Sosein, dem Bruch des Versprechens, bildet für Adorno den Ausgangspunkt für Überlegungen über die Bedeutung und Möglichkeit metaphysischer Erfahrung. „Bedingung der Mög-
Adorno, Metaphysik, S. 218 – 219. Adorno, Negative Dialektik, S. 366. Ebd., S. 367; In seiner Metaphysik-Vorlesung sagt Adorno noch deutlicher, „daß das Glück – und es besteht eine unendlich tiefe Konstellation zwischen metaphysischer Erfahrung und Glück – das Innere der Gegenstände als ein diesen zugleich Entrücktes sei“. Adorno, Metaphysik, S. 219.
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lichkeit solcher metaphysischer Erfahrung“ ist demzufolge ihre „Fehlbarkeit“, die „Möglichkeit des Irrtums“.⁴² Adorno behauptet nicht, es gebe keinen Maßstab zur Unterscheidung zwischen richtig und falsch, sondern vielmehr, dieser Maßstab sei für die Erfahrung selbst so gut wie belanglos. Gerade der Irrtum, die fehlerhafte Erkenntnis objektiver Gegenstände, darf für die Wahrheit der metaphysischen Erfahrung sprechen – wie für das Glück, das mit ihr korreliert. Dabei steht Adorno – trotz seiner Behauptung, Wahrheit sei objektiv⁴³ – dem Kierkegaardschen Verständnis subjektiver Wahrheit sehr nahe. Die Wahrheit metaphysischer Erfahrung zeigt sich als eine subjektive, nicht weil sie einen Primat des Subjekts, seine Überlegenheit oder Macht postuliert, sondern gerade deshalb, weil sie von seiner Fehlbarkeit ausgeht, von der Unerfüllbarkeit seiner Erwartungen an die objektive Welt, von seiner Enttäuschung.⁴⁴ Enttäuschung und Fehlbarkeit stellen insofern die negativ-subjektive Dimension der Möglichkeit von Metaphysik dar, weil sie das Subjekt mit seinem Erkenntnisvermögen und zugleich mit dessen Unzulänglichkeit konfrontieren. Das Subjekt ist stets der „Möglichkeit des Irrtums“ ausgesetzt, da es nicht anders kann, als die Welt aus dem eigenen – subjektiven – Blickwinkel zu betrachten und den objektiven Phänomenen subjektive Bedeutung beizumessen. Es ist der „Überschuß übers Subjekt […], den subjektive metaphysische Erfahrung nicht sich möchte ausreden lassen“.⁴⁵ In diesem „Überschuß“ liegt beides: eine Art Offenheit der Erfahrung gegenüber dem, was „nicht bereits unter der Identität des Begriffs [subsumiert]“⁴⁶ sei, gegenüber dem Nichtbegrifflichen und Nichtidentischen, dem Besonderen der Erfahrung; aber gerade weil diese Offenheit sich nicht begrifflich festhalten und überprüfen lässt, gehört es – immanent – zur metaphysischen Erfahrung, dass ihre Falschheit, ihr Misslingen, niemals ausgeschlossen werden kann. Die Bedingungen für ihre Wahrheit erweisen sich bei näherer Betrachtung als dieselben Bedingungen, die zur Unwahrheit, zum Selbstbetrug führen und damit zur Enttäuschung und zum Scheitern.
Adorno, Metaphysik, S. 220. Adorno, Negative Dialektik, S. 52. Simon Critchley führt diese These weiter zu der Behauptung, Philosophie überhaupt „begins in disappointment“: Simon Critchley, Very Little … Almost Nothing, London und New York 2004, S. 2– 4. Adorno, Negative Dialektik, S. 368. Adorno, Metaphysik, S. 220.
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1.2.2 Das ästhetische Glücksversprechen Der Gedanke eines Glücksversprechens, das die Erfahrung des Subjekts konstituiert, ohne dass es auf dessen Erfüllung ankommt, wurde oben in seiner Bedeutung für den Begriff metaphysischer Erfahrung erläutert. In Adornos Denken hat er jedoch vor allem eine ästhetische Dimension und wird meist in einem ästhetisch-theoretischen Zusammenhang behandelt.⁴⁷ Diese Dimension ist von großer Bedeutung für Adornos Verständnis von Subjektivität überhaupt, da das Ästhetische – im Sinne einer indirekten Mitteilung ebenso wie im Sinne von Kunsttheorie⁴⁸ – gerade als der Bereich begriffen wird, in dem das Nichtbegriffliche und Inkommensurable zum Ausdruck kommt, in dem durch subjektive Erfahrung eine Überschreitung und eine radikale Infragestellung des Bestehenden erfolgt. Insofern steht die ästhetische Dimension in einem direkten Verhältnis zu beiden Aspekten der Negativität, die ich oben im Anschluss an Theunissen rekonstruiert habe: Als Überschreitung und Unverständlichkeit korreliert sie mit der Idee einer absoluten Negativität, mit dem Bezug zum Absoluten; als Infragestellung des objektiv Bestehenden korreliert sie mit der immanenten, gesellschaftlichen Negativität als Kritik.⁴⁹ Ästhetische Erfahrung bildet insofern die Schnittstelle beider Deutungen, nämlich durch das, was die Kunst dem Subjekt verspricht: eine Art Glückserfahrung, die allerdings stets enttäuscht wird, während die Enttäuschung für diese Erfahrung selbst konstitutiv ist. Das Kunstwerk bringt in seinem Schein ein Transzendentes, Utopisches, Nicht-Existierendes hervor, das in einem komplexen Verhältnis zum Bestehenden steht, weil es nur als Schein, nur als Versprechen existiert: „[W]as nicht ist, wird jedoch dadurch, daß es erscheint,versprochen.“⁵⁰ Die Negativität der ästhetischen Erfahrung hängt nach Adorno mit jenem Versprechen der Kunstwerke zusammen, das sich im ästhetischen Schein manifestiert: Das Versprechen einer Überschreitung der Strukturen der unmittelbaren Wirklichkeit durch den sinnlichen Genuss, das Versprechen des subjektiven Glücks. „Die ästhetische Erfahrung ist In gewisser Hinsicht lässt sich die Bestimmung der metaphysischen Erfahrung, die ich oben geschildert habe, selbst als eine ästhetische Bestimmung bezeichnen – nicht zuletzt wegen ihres wesentlichen ironischen Aspekts. Die Bedeutungen des Ästhetischen in Adornos Ästhetischer Theorie führen unmittelbar auf die Äquivokationen, die er im Kierkegaard-Buch an Kierkegaards Denken abliest. Vgl. oben Kap. II.1.3: „Dialektik des Scheins. Die ästhetische Konstruktion der Wahrheit“. Zu dieser kritischen Funktion des Ästhetischen bei Adorno vgl. Andrea Barbara Alker, Das Andere im Selben. Subjektivitätskritik und Kunstphilosophie bei Heidegger und Adorno, Würzburg 2007, insbes. S. 436 – 450; zur sozialen Dimension ästhetischer Subjektivität vgl. Hauke Brunkhorst, Theodor W. Adorno. Dialektik der Moderne, München 1990, S. 203 – 217. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 347.
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die von etwas, was der Geist weder von der Welt noch von sich selbst schon hätte, Möglichkeit, verhießen von ihrer Unmöglichkeit. Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird“⁵¹ – konstatiert Adorno in der Ästhetischen Theorie. Die Bestimmung dessen, was Adorno dabei unter Glück versteht, in subjektiver ebenso wie in ästhetischer Hinsicht, ist freilich nicht eindeutig. Albrecht Wellmer argumentiert, dass „ästhetische Erfahrung bei Adorno eher eine ekstatische als eine real-utopische [ist]; das Glück, das sie verspricht, ist nicht von dieser Welt“.⁵² Die Irrealität des Glücks (und daher auch seine Unerreichbarkeit) stellt allerdings nur einen Aspekt der Negativität ästhetischer Erfahrung dar. Der andere Aspekt besteht in der Relevanz der Unmöglichkeit, des Bruchs des Versprechens selbst. Dieser Bruch hat eine kritische und daher auch in gewissem Sinne real-utopische Dimension. Denn in diesem Verhältnis von Glücksversprechen und ausbleibender Erfüllung, von Möglichkeit und Unmöglichkeit, besteht die Relevanz der ästhetischen Erfahrung für Adornos negativ-kritische Konzeption der Subjektivität selbst. Das Glücksversprechen verhält sich zum Bruch des Versprechens, zum Ausbleiben der Erfüllung wie die Möglichkeit zur Unmöglichkeit: Der Bruch des Versprechens fundiert das Glücksversprechen. Denn gerade der Bruch des ästhetischen Versprechens – des Versprechens eines sinnlichen Genusses ebenso wie eines rationalen Verstehens des Werks – ruft nach Adorno wahre ästhetische Erfahrung hervor. Es ist gerade die Unerfüllbarkeit dessen, was die Kunst verspricht, die das Subjekt auf sich selbst „zurückwirft“. „Um des Glücks willen wird dem Glück abgesagt.“⁵³ Das Scheitern der ästhetischen Erfahrung als ein Bruch des Glücksversprechens korreliert mit der These, die sich aus Kierkegaards ästhetischen Überlegungen ergeben hat, markiert dabei jedoch eine wesentliche Differenz. Für Kierkegaard, wie das erste Kapitel zeigte, konstituiert das Scheitern der ästhetischen Erfahrung die Selbstbezüglichkeit des Subjekts insofern, als es das Subjekt vor die Leere, vor die Sinnlosigkeit stellt, die im Anschluss an den unmittelbaren ästhetischen Genuss eintritt. Das Scheitern, der Bruch des Versprechens, besteht demnach in der Unbeständigkeit, im ephemeren Charakter des ästhetischen Genusses. Erst aus der Schwermut, die daraus folgt, entsteht das wahre, authentische Verhältnis des Subjekts zu sich selbst. Nach Kierkegaard ist es die Negation des
Ebd., S. 204– 205. Albrecht Wellmer, „Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos Rettung der Modernität“, in Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt am Main 1985, S. 9 – 47; hier S. 20. Vgl. dazu Rebentisch, „Kunst – Leben – Liebe“, S. 27: „Die real-utopische Perspektive auf Freiheit, die Adorno zu Recht gegen Kierkegaards Innerlichkeitsphilosophie eingeklagt hatte, bleibt damit indes auch bei Adorno noch versperrt.“ Wellmer, „Wahrheit, Schein, Versöhnung“, S. 26.
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Ästhetischen, die Negation jener Unmittelbarkeit der ästhetischen Subjektivität, aus der sich eine negative Auffassung wahrer Subjektivität herausbilde, die er Innerlichkeit nennt. Adornos Idee des gebrochenen Versprechens ist gewissermaßen ein Spiegelbild des Kierkegaardschen Arguments – und ihre Ursprünge zeigen sich schon in seinem Kierkegaard-Buch in der direkten Auseinandersetzung mit Kierkegaard. Für Adorno ist es gerade das Ephemere, das Unbeständige der Ästhetik, aus dem ihre Bedeutung als Überschreitung herrührt und in dem ihr Glücksversprechen besteht. Nicht durch die nachträgliche, post-ästhetische Erkenntnis jener Leere des Genusses, nicht durch die Einsicht in die illusionshafte Lüge des ästhetischen Scheins, sondern gerade durch die Unmöglichkeit des Genusses als solchen, durch die Unverständlichkeit des Scheins wird das rezipierende Subjekt in eine Relation zur Wahrheit gestellt. Die Negativität der ästhetischen Erfahrung ist für Adorno also nicht die negierende Relation zu einer bestimmten Lebensform (daher kann sie auch nicht, wie bei Kierkegaard, als eine Brücke zum Ethischen verstanden werden: Sie ist an sich ethisch und politisch⁵⁴). Sie ist nicht eine relative Negativität, sondern eine bestimmte und immanente. Ästhetische Wahrheit wird insofern nicht durch die Absage an den ästhetischen Schein erfahren, sondern gerade durch seine Rettung als Rettung eines Zerfallenden. Obwohl Adorno wie Kierkegaard die Wahrheit des Ästhetischen in dessen Verhältnis zum Scheitern und Zerfall verortet, in der Negativität der ästhetischen Erfahrung, besteht doch eine wesentliche Differenz zwischen ihrer jeweiligen Deutung ästhetischer Negativität.⁵⁵ Zentral ist hier die Idee des Glücks: Denn für Kierkegaard zeigt sich die Negativität ästhetischer Erfahrung im trügerischen Charakter, in einer Auflösung der Illusion jenes Glücks, das die Kunstwerke versprechen. Für Adorno ist es gerade diese Auflösung, der Bruch jenes Glücksversprechens, wodurch der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke zur Geltung kommt. Zwei Verdachtsmomente könnte man zunächst klären: Beim „Glück“ handelt es sich in dieser Formulierung erstens nicht um etwas Ethisches, es geht hier weder um ein gutes Leben noch um gelungenes Handeln; zudem hat der Begriff keine ästhetische Bedeutung im Sinne des Genusses oder der Freude, die durch das Erfahren der Kunstwerke entstehen. Die Negativität der ästhetischen Erfahrung, die Adorno mit der Idee des gebrochenen Glücksversprechens verbindet, hängt damit zusammen, dass der Kunst ein bestimmter „Wahrheitsgehalt“ zugesprochen wird. Dieser „Wahrheitsgehalt“ erscheint an den Kunstwerken allerdings nur
Vgl. Espen Hammer, Adorno and the Political, London und New York 2006, S. 122 – 143. Dabei hat Adorno grundsätzlich nicht nur ein anderes Verständnis von Ästhetik als Kierkegaard, sondern vor allem auch andere Kunstwerke im Sinne, denen er Wahrheitsgehalt beimisst: Es sind keine Kunstwerke, die einen ästhetischen Genuss bewirken, sondern solche, die diesen vielmehr de(kon)struieren.
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subjektiv und negativ: Er ist durch das Subjekt – qua ästhetische Erfahrung – vermittelt und lässt sich nur auf eine negative Weise in Erfahrung bringen: als Rätsel, als Erschütterung, als Überschreitung. Die negativen Dimensionen ästhetischer Erfahrung verhalten sich zu dem, was Adorno ihren „Wahrheitsgehalt“ nennt. Hier handelt es sich aber – anders als bei Kierkegaard – nicht primär um eine subjektive Wahrheit. Ästhetische Wahrheit ist Adorno zufolge nicht identisch mit subjektiver Wahrheit, sie kommt allerdings nur durch unmittelbare subjektive Erfahrung zur Geltung. Dass Adorno ästhetische Erfahrung als ein „negatives Geschehen“ denkt,⁵⁶ wodurch ein „Wahrheitsgehalt“ subjektiv erschlossen wird, impliziert, dass das Verhältnis von Subjektivität und Wahrheit selbst, wie es in der Ästhetischen Theorie gedacht wird, durch diese Negativität bestimmt ist. Interessant und bemerkenswert ist zunächst, dass jene Begriffe, mit denen Adorno sich auf das „negative Geschehen“ der ästhetischen Erfahrung bezieht – Rätsel, Erschütterung, Überschreitung (als Nichtidentität) – eine deutliche Ähnlichkeit mit denen aufweisen, die Kierkegaard in seiner negativen Subjektivitätstheorie gebraucht: Unverständlichkeit, Schwindel der Angst, Inkommensurabilität. Trotz der sachlichen Differenz in den Bedeutungen, die Kierkegaard und Adorno diesen Begriffen jeweils zuschreiben, lässt sich feststellen, dass Adornos negative ästhetische Begriffe in einer Relation zu Kierkegaards negativem Subjektivitätsverständnis stehen, dass Adornos ästhetische Theorie selbst diese negativen subjektivitätstheoretischen Aspekte aufweist. Adornos Ästhetische Theorie lässt sich zweifellos als eine Theorie der Subjektivität lesen (nicht nur der ästhetischen Subjektivität, sondern der Subjektivität überhaupt); die negativ-ästhetische Dimension ist dabei nicht nur kunsttheoretisch, sondern zugleich subjekttheoretisch zu verstehen. Die weiteren Überlegungen gehen von diesem Verständnis aus und beziehen sich auf diese Konstellation von ästhetischer Negativität und Subjektivität. Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rätsels eines jeden einzelnen. Indem es die Lösung verlangt, verweist es auf den Wahrheitsgehalt. Der ist allein durch philosophische Reflexion zu gewinnen. Das, nichts anderes, rechtfertigt Ästhetik.⁵⁷
So beschreibt Adorno in der Ästhetischen Theorie das Verhältnis von Philosophie, Ästhetik und Wahrheit. Die Bedeutung der Ästhetik hängt demnach von der philosophischen Reflexion ab, die den Wahrheitsgehalt des Kunstwerks er-
Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst, Frankfurt am Main 1991, S. 43: „Ästhetische Erfahrung ist ein negatives Geschehen, weil sie eine Erfahrung der Negation (des Scheiterns, der Subversion) des gleichwohl notwendig versuchten Verstehens ist.“ Adorno, Ästhetische Theorie, S. 193.
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schließt.⁵⁸ Diese philosophische Reflexion ist dabei eine subjektive, sie ist die Reflexion des Subjekts, das dem Kunstwerk als einem Rätsel begegnet, es in dieser Weise erfährt und diese Erfahrung als Wahrheit begreift. Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine subjektive Wahrheit, sondern gerade um die Wahrheit des Objekts, des Kunstwerks. Als objektive Wahrheit ist sie jedoch ein Rätsel – und die „Auflösung“ des Rätsels erfordert philosophische, subjektive Reflexion. Andererseits stellt Adorno fest: „Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist kein unmittelbar zu Identifizierendes.“⁵⁹ Die „objektive Auflösung des Rätsels“, die dem Subjekt jenen Wahrheitsgehalt zu erschließen verspricht, ist selbst kein Prozess, der zu einem endgültigen Ergebnis führen könnte. Das Verhältnis des Kunstwerks zum erfahrenden Subjekt ist insofern der endlose Prozess einer Auflösung; kein Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks kann endgültig aufgelöst werden. Das Kunstwerk ist seinem Wesen nach ein Rätsel, das jedem Auflösungsversuch trotzt. „Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache.“⁶⁰ Die Negativität der ästhetischen Erfahrung bedeutet unter diesem Aspekt ein Scheitern des Verstehens; sie ist die prinzipielle Unmöglichkeit, Kunstwerke „restlos“ zu verstehen. Kunstwerke, die der Betrachtung und dem Gedanken ohne Rest aufgehen, sind keine […]. Jedes Kunstwerk ist ein Vexierbild, nur derart, daß es beim Vexieren bleibt, bei der prästabilierten Niederlage des Betrachters.⁶¹
Adornos Gedanke besteht dabei in diesem Widerspruch: Die Betrachtung der Kunstwerke richtet sich vordergründig auf ihr Enträtseln, auf die Freilegung ihres Wahrheitsgehalts; wahre Kunstwerke hingegen, und das heißt: Kunstwerke, die einen „Wahrheitsgehalt“ haben, verhindern diese Freilegung, entziehen sich dem Verstehen durch das Subjekt. Aus diesem Widerspruch folgt, dass die „Niederlage des Betrachters“ für wahre ästhetische Erfahrung notwendig, konstitutiv ist. Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke steht in einer direkten Relation zu ihrer Unverständlichkeit, zum Scheitern des betrachtenden Subjekts. Insofern affiziert die Negativität der Kunstwerke die Selbstbezüglichkeit des Subjekts selbst. In einem anderen, jedoch sachlich verwandten Zusammenhang beschreibt Adorno die radikale Erfahrung der Erschütterung im Angesicht der Kunstwerke. In dieser Erfahrung wird die „Niederlage des Betrachters“ radikalisiert, sie ähnelt in
„[G]enuine ästhetische Erfahrung muß Philosophie werden oder sie ist überhaupt nicht.“ Ebd., S. 197. Ebd., S. 195. Ebd., S. 182. Ebd., S. 184.
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wesentlichen Zügen dem Kierkegaardschen „Schwindel der Freiheit“, der die existentielle Angst hervorruft. „Erschütterung“ bezeichnet für Adorno jene negative Erfahrung des rezipierenden Subjekts, in der es „im Werk verschwindet“, „den Boden unter den Füßen verliert“.⁶² Was dabei im weiteren Sinne geschieht, ist eine totale Erfahrung des Verlusts aller angenommenen sicheren Selbstverständlichkeit, die das Subjekt vor sich selbst stellt und es dabei gewissermaßen zerstört, „ein Memento der Liquidation des Ichs, das als erschüttertes der eigenen Beschränktheit und Endlichkeit innewird“.⁶³ Die Erschütterung korreliert in diesem Sinne mit dem Begriff der absoluten Negativität – der Unverständlichkeit, der Transzendenz und der Überschreitung. Die Bezeichnung Liquidation des Ichs wird von Adorno oft zweideutig gebraucht – und hier ist gerade die seltenere Deutung gemeint. Während die Formulierung in der häufigeren Bedeutungsvariante den gesellschaftlichen Prozess der ideologisch bedingten, verdinglichten Entindividualisierung bezeichnet, ist die hier gemeinte Liquidation des Ichs, die durch die ästhetische Erschütterung bewirkt wird, gerade eine gegensätzliche: Diese Erfahrung ist konträr zur Schwächung des Ichs, welche die Kulturindustrie betreibt. […] Das Ich bedarf, damit es nur um ein Winziges über das Gefängnis hinausschaue, das es selbst ist, nicht der Zerstreuung, sondern der äußersten Anspannung; das bewahrt Erschütterung, übrigens ein unwillkürliches Verhalten, vor der Regression.⁶⁴
Als eine negative Erfahrung hat die Erschütterung – ähnlich der Kierkegaardschen Angst – eine wichtige Bedeutung für die Konstitution der Subjektivität. Sie ist konstitutiv für die Wahrheit der ästhetischen Subjektivität gerade dadurch, dass sie das Subjekt zunächst erschüttert, zerstört, liquidiert. Die Negation des Subjekts fundiert insofern auch in ästhetisch-theoretischer Hinsicht seine „Wahrheitsfähigkeit“. Ebenso wie – nach Michael Theunissens Darlegung – in der absoluten Negativität eine Negation des Subjekts zu erkennen ist, die im nicht-subjektiven Moment am Subjekt selbst gründet, bilden die Kunstwerke in Adornos Ästhetischer Theorie genau dieses Moment: Sie sind jene mit dem Subjekt nichtidentischen Objekte, die das Nichtbegriffliche, Unverständliche, sogar Unausdenkbare darstellen. Sie negieren das Unmittelbare am Subjekt, jene Aspekte der Instrumentalisierung und überlegener Naturbeherrschung, und forcieren das Bewusstsein seiner „Beschränktheit und Endlichkeit“. Ästhetische Negativität bezieht sich demnach auf das unmittelbare Vergnügen, auf die Genusserfahrung des Subjekts – und thematisiert gerade die Absenz dieses
Ebd., S. 363. Ebd., S. 364. Ebd.
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1 Glücksversprechen und Erfahrung Die „Wahrheitsfähigkeit“ der Negativität
Vergnügens als konstitutiv für die Wahrheit des Subjekts. Diese Differenz zwischen dem Verlangen nach Vergnügen und seinem Scheitern rührt aus der Unverständlichkeit der Kunstwerke her, aus der Unmöglichkeit, sie „restlos“ zu identifizieren. Sie ist zugleich die Differenz zwischen dem Verlangen nach Verstehen, nach einem in den Kunstwerken angenommenen verborgenen Sinn und ihrem schieren Sosein, ihrer Dinghaftigkeit: die Differenz zwischen dem „versprochenen“ Geist der Kunstwerke und ihrer Oberfläche, ihrer reinen „Buchstäblichkeit“.⁶⁵ Genau diese Differenz begründet ihren Charakter als Glücksversprechen und als Bruch des Versprechens zugleich. Das Versprechen der Kunstwerke, jenes „Mehr“ zu sein, einen „Geist“ zu inkorporieren, durch das die Glückserwartung des rezipierenden Subjekts geweckt wird, wird durch ihre bloße Dinghaftigkeit gebrochen. „Versprechen sind die Kunstwerke durch ihre Negativität hindurch.“⁶⁶ Die Negativität bedeutet dabei diese Differenz von angenommenem Sinn und bloßem Sosein, von Geist und Buchstäblichkeit, die für jene Enttäuschung verantwortlich ist. Aber sie bedeutet zugleich auch, dass erst durch diese Enttäuschung und Erschütterung, durch den Bruch des Versprechens und das Scheitern des Verstehens eine subjektive Wahrheit – das heißt: ihre Erkenntnis durch den Rezipierenden – ermöglicht wird, die der Regression des Subjekts, jener gesellschaftlichen Negativität, entgegensteht. Darin besteht die kritische, emanzipatorische Kraft, die Adorno ästhetischer Erfahrung beimisst und die eine wichtige Dimension seines Begriffs der Negativität bildet. Die Wahrheit, die das rezipierende Subjekt durch die negative ästhetische Erfahrung erlangt, ist nicht zuletzt eine gesellschaftliche, eine gesellschaftskritische. Während die Produkte der Kulturindustrie (die Adorno freilich nicht als Kunstwerke betrachtet) auf sinnlichen Genuss gerichtet, unmittelbar verständlich sind und damit ideologisch affirmativ, sind die wahren Kunstwerke insofern negativ, als sie nicht nur über das Bestehende hinausweisen, es negieren statt es zu affirmieren – sondern zugleich auch das Subjekt selbst negieren. Sie fungieren als das unbekannte Andere, das die gesetzte Identität des Subjekts mit sich selbst bricht.Während die Produkte der Kulturindustrie in ihrem bloßen Glücksversprechen bestehen und das Subjekt in dessen Sosein affirmieren, führen Adorno zufolge wahre Kunstwerke gerade zum Bruch dieses Glücksversprechens und dadurch zu einer subjektiven Erfahrung, die den „Wahrheitsgehalt“ auf diese Weise erschließt. Die Werke sprechen wie Feen in Märchen: du willst das Unbedingte, es soll dir werden, doch unkenntlich. Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables.⁶⁷
Menke, Die Souveränität der Kunst, S. 36. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 204. Ebd.
1.2 „Versprechensbruch“. Die negative Struktur subjektiver Erfahrung
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Wahres Glück besteht demnach gerade in seiner Unerreichbarkeit. Nach Adorno inkorporieren Kunstwerke eine Wahrheit, die einerseits durch subjektive Erfahrung, durch philosophische Reflexion zu erschließen wäre (als Auflösung des Rätsels), sich andererseits jeder Auflösung, jedem Enträtseln, jedem restlosen Verstehen entzieht. Ästhetische Wahrheit besteht nicht nur darin, dass sie den Kunstwerken inkommensurabel ist und deshalb nicht unmittelbar durch sie zu erschließen wäre. Ästhetische Wahrheit ist diese Inkommensurabilität selbst. Die Wahrheit der Kunstwerke erschließt sich dem Subjekt in einer inkommensurablen Weise, das heißt: in einer Weise, die sich nicht begrifflich, diskursiv, kommunikativ mitteilen lässt. Als Inkommensurabilität kann sie nur indirekt kommuniziert werden. Ästhetische Erfahrung ist nach Adorno die indirekte Mitteilung der Wahrheit.
2 Die Singularität des beschädigten Lebens. Eine Lektüre der Minima Moralia Die Minima Moralia sind Adornos Reflexionen aus dem beschädigten Leben – nicht über, sondern aus einem Leben, das, wie der Autor von seinem eigenen bezeugt, beschädigt wurde. Dass es sich dabei nicht um objektive, externe Beobachtungen eines kritischen Außenstehenden, sondern um die immanente, idiosynkratische Kritik eines „Betroffenen“ handelt, stellt keine zufällige oder formale Angelegenheit dar, sondern gehört – immanent – zum Wesen und Inhalt der darin enthaltenen Beobachtungen und Überlegungen. Als Reflexionen aus dem Leben sind sie einerseits auf eine radikale Weise subjektiv, sie setzen sich mit gegebenen, teilweise aus dem Alltag vertrauten Phänomenen auseinander, hinterfragen jedoch ihren Wahrheitsgehalt aus einem ganz subjektiven Blickwinkel; aus einer Perspektive also, die ironischerweise demjenigen „vorbehalten“ ist, dessen Leben beschädigt wurde. Dass das Leben, aus dem reflektiert wird, beschädigt ist, bedeutet andererseits, dass sich gerade ein solcher Anspruch auf eine subjektive Sichtweise als äußerst problematisch erweist, denn die Beschädigung des Lebens betrifft die Möglichkeit subjektiver Reflexion selbst. Die Minima Moralia sind insofern beides: die Reflexionen eines entwurzelten, sich im Exil befindenden Denkers – und das heißt eines subjektiven Denkers im Kierkegaardschen Sinne: eines Denkers, der aus der Besonderheit und Absurdität seiner Situation heraus reflektiert – über Phänomene, die auf ihn befremdlich wirken und an denen er verschiedene Formen der Entfremdung abliest, ebenso wie Reflexionen darüber, dass in den kritisierten Lebensverhältnissen ebendiese Möglichkeit der Betrachtung aus subjektiver Perspektive äußerst fraglich wird.¹ Insofern nehmen die Minima Moralia ihren Ausgang von der Besonderheit und Absurdität der Situation des Reflektierenden, in der die alltägliche Welt befremdlich und verzerrt erscheint, so dass ihre objektiven Entstellungen und Diskrepanzen ins Auge fallen; sie setzen sich allerdings, gerade im Hinblick auf diese Situation, mit dem Status solcher Erkenntnisse auseinander. Sie bilden eine immanente Kritik der entfremdeten Welt aus der subjektiven Perspektive eines „Betroffenen“ und zugleich eine radikale Infragestellung der Geltung einer solchen Kritik überhaupt: einer Kritik des beschädigten Lebens aus dem beschädigten Leben.
Alex Demirović beschreibt diese widersprüchliche Erkenntnis in Bezug auf den Status der Erfahrung des Subjekts nach Adorno als „die Erfahrung des Erfahrungsverlustes“: Alex Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt am Main 1999, S. 527.
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Von diesem doppelten Grundgedanken geht die folgende Lektüre der Minima Moralia aus: Sie thematisiert die Gegenläufigkeit und Gleichzeitigkeit von Inkommensurabilität und Kommensurabilität im „beschädigten Leben“. Denn wenn die Besonderheit, die Inkommensurabilität der Situation des Subjekts, dessen Leben beschädigt ist, diesem einen besonderen „Zugang“, einen eigenen Blick auf die Formen und die Phänomene der Beschädigung gewähren sollte, gerade darauf also, dass im beschädigten Leben das Inkommensurable kommensurabel wird, so zeigen die Reflexionen und Selbstbetrachtungen Adornos, dass ebendiese Besonderheit der Betrachtung auf dem Spiel steht, dass die Reflexionen aus dem beschädigten Leben keinesfalls gegen die Beschädigung selbst immun sind. Die Minima Moralia sind insofern zugleich eine immanente „Kritik von Lebensformen“² und eine radikale Infragestellung der Möglichkeit einer solchen Kritik überhaupt. Diese Infragestellung bezieht sich insofern nicht nur auf eine „Inkommensurabilität von Leben und Leben, von Leben, das lebt, und Leben, das ‚nicht lebt‘, von richtigem und falschem Leben“,³ sondern vor allem auf die Tendenz, von der viele der Aphorismen der Minima Moralia zeugen – jener Tendenz nämlich, die das Inkommensurable kommensurabel werden lässt. „Verschwindet heute das Subjekt“, heißt es in der programmatischen Zueignung, die den Minima Moralia vorangestellt ist, „so nehmen die Aphorismen es schwer, daß ‚das Verschwindende selbst als wesentlich zu betrachten‘ sei. Sie insistieren in Opposition zu Hegels Verfahren und gleichwohl in Konsequenz seines Gedankens auf der Negativität.“⁴ Der Gedanke eines immanenten und widersprüchlichen Verhältnisses von Subjektivität und Negativität wird schon in der Vorankündigung deutlich ausgesprochen. Demnach erheben die Reflexionen nicht den Anspruch, ein bestimmtes Wesen des Subjekts nachzuzeichnen, um dessen Verschwinden zu konstatieren. Ein Verständnis dieses Subjekts ließe sich vielmehr nur negativ – angesichts des Verschwindens, angesichts der „Abschaffung“ – erlangen.⁵ Die Insistenz auf der Negativität bildet den theoretischen Hintergrund für die Phänomenologie des verunmöglichten Lebens, die die Aphorismen entfalten, und verdeutlicht die zwiespältige Relation zu Hegel: eine Akzentuierung seines Negativitätsgedankens im Widerspruch zu seiner Grundintention einer Aufhebung des Besonderen im Allgemeinen. Insofern knüpft
Vgl. Rahel Jaeggi, „‚Kein Einzelner vermag etwas dagegen‘. Adornos Minima Moralia als Kritik von Lebensformen“, in Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz 2003, hg. von Axel Honneth, Frankfurt am Main 2005, S. 115 – 141. Alexander García Düttmann, So ist es. Ein philosophischer Kommentar zu Adornos ‚Minima Moralia’, Frankfurt am Main 2004, S. 14. Adorno, Minima Moralia, S. 15. Ebd, S. 143.
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Adornos Intention an Kierkegaards philosophisches Ressentiment genau gegen diesen Hegelschen Gedanken an. Ohne das „verschwindende“ Subjekt „selbst als wesentlich zu betrachten“, ohne im positiven Sinne ein Subjektbild zu zeichnen, dem dann als verschwindend nachgetrauert würde, legen Adornos Reflexionen das Augenmerk auf die Prozesshaftigkeit einer solchen Auflösung: nicht des positiven Subjekts als einer bürgerlichen Grundkategorie, die schließlich zum Mittel der Herrschaft wird (wie die Dialektik der Aufklärung darlegt), sondern als eines Selbstbezugs, der durch seine Besonderheit, Inkommensurabilität, durch sein Anderssein gezeichnet ist. Es ist der Primat des Subjekts in diesem Verständnis, an dem sich Adornos Gedanke der Rettung orientiert; und dieser Primat ist nur durch eine fragmentarische Rekonstruktion der historischen Verunmöglichung des Subjekts greifbar. Die Minima Moralia entfalten zwar eine solche fragmentarische Rekonstruktion, benennen sehr oft den Prozess einer „Auflösung des Subjekts“ und stellen dennoch keinerlei Subjektivitätstheorie dar – weder explizit noch implizit. Das Negative an der Subjektivitätsform, auf die sie sich beziehen, lässt sich grundsätzlich nur fragmentarisch, in aphoristischer Form mitteilen, als eine indirekte Mitteilung Kierkegaardscher Art: eine negative Stilform, die mit der Negativität des Inhalts selbst korreliert. In ihrem Buch The Melancholy Science, einer der ersten Darstellungen des philosophischen Denkens Adornos in englischer Sprache, argumentiert Gillian Rose dafür, Adornos Stil in den Minima Moralia als ausdrücklich ironisch zu verstehen – und gibt dafür Beweise und Beispiele. Minima Moralia, so Rose, relies greatly on ‚indirect methods‘, especially ironic inversion. This indirect and more idiosyncratic way of presenting his ideas is what Adorno means by ‚the subjective standpoint‘. In Minima Moralia Adorno’s use of ironic inversion is most explicit. […] Minima Moralia is ironic in the two standard senses of the word: ‘expression of meaning by use of words normally conveying the opposite meaning’, and ‘apparent perversity of fate or circumstance’. […] [A]ll these inversions of well-known ideas imply that society has undergone an extremely perverse fate, and has turned into the obverse of its ideals, but any literal or simple reading of this is also undercut.⁶
Anschließend bringt Rose Beispiele für solche „ironic inversions“ in einzelnen Aphorismen, denen sie jedoch eher stilistisch nachgeht.⁷ Meine Absicht ist es, Gillian Rose, The Melancholy Science. An Introduction to the Thought of Theodor W. Adorno, London und Basingstoke 1978, S. 16. Ebd., S. 17– 18; Rose bezieht sich hauptsächlich auf eine ironische Erwähnung bekannter Werke und Argumente wie „Die Gesundheit zum Tode“ (§ 36) als eine ironische Verkehrung der Kierkegaardschen „Krankheit zum Tode“ oder „Das Ganze ist das Unwahre“ als eine ironische Umkehrung des Hegelschen Satzes. Eine inhaltliche Hinterfragung dieser „inversions“ unternimmt sie jedoch nicht.
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einen Schritt über dieses an sich sehr überzeugende Argument hinauszugehen und der immanenten gedanklichen Struktur der Adornoschen Ironie nachzugehen. Denn Adornos Ironie, sofern man sie so nennen kann, besteht nicht nur in der stilistischen Form der Darstellung und verweist nicht nur auf die „perverse“, objektive Ironie der Geschichte, sondern wohnt dem philosophischen Gedanken selbst inne. Die Differenz zwischen Begriff und Gegenstand, zwischen Wesen und Erscheinung, zwischen Anspruch und Realität, auf die die Ironie in ihrer Weise aufmerksam macht, erschließt sich in Adornos gedanklicher Argumentation auf eine facettenreiche Weise. Meine Intention ist es, zu zeigen, dass, sofern Adorno Verhaltensweisen, Alltagserscheinungen oder Kunstwerke und ihre Rezeption beschreibt und auf eine solche Differenz ironisch hinweist, die Ironie zugleich eine tiefere Dimension hat, denn sie erschließt eine bestimmte Denkform, die nur ironisch begreifbar werden kann, die jedoch auf eine subtile Weise zur zerstörerischen Kommensurabilisierung des Subjekts beiträgt. Durch ihre ironische Form wehren sich die Aphorismen allerdings gegen jeden spezifischen „philosophischen Kommentar“, der diesen eine bestimmte, wenn auch aporetische Theorie zuschreiben möchte. Dass sie nicht über ihr Sosein hinauszugehen vermögen, sich nicht zu einer – positiven oder negativen – Lehre vom richtigen Leben verallgemeinern lassen, sondern stets in ihrer kontingenten, idiosynkratischen Form bleiben, ist zugleich ihr inhaltlicher Ausgangspunkt.⁸ Das Fragmentarische ist das Inkommensurable der Aphorismen, das also, was im Allgemeinen nicht aufzugehen vermag, sondern beim Negativen verweilt, wie das gegen Hegel gerichtete Hegel-Zitat der „Zueignung“ anzeigt. Sofern sie in ihrem Inhalt und ihrer Form von einer solchen Inkommensurabilität – als Negativität des Gedankens und Besonderheit des Subjekts – ausgehen, handelt eine Großzahl der Stücke gerade von der Kommensurabilität, von der Kommensurabilisierung des Lebens, vom Identitätszwang, der die moderne kapitalistische Ideologie zugleich setzt und verdeckt, die „darüber betrügt, daß es kein [Leben] mehr gibt“.⁹ Die Behauptung, es gebe kein Leben mehr, die mit dem vorangestellten Motto zum ersten Teil des Buchs –„Das Leben lebt nicht“ – korrespondiert, steht zwar im Verhältnis zum Begriff des „beschädigten“ Lebens im Untertitel des Buchs und zur Feststellung, „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ aus dem Aphorismus „Asyl für Obdachlose“,¹⁰ bezieht sich aber keinesfalls auf den Lebensbegriff, wie dieser für die sogenannte Lebensphilosophie maßgeblich war, nämlich im Sinne einer Lebendigkeit, die Vernunft und Wissen Vgl. Silvia Bovenschen, Über-Empfindlichkeit – Spielformen der Idiosynkrasie, Frankfurt am Main 2001, S. 73 – 93. Adorno, Minima Moralia, S. 13. Ebd., S. 43.
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übersteigt. Auch wenn vernunftkritische Elemente dem Denken Adornos sicher nicht fremd sind, so ist sein Lebensbegriff wesentlich ein anderer: Er hat wenig mit einer nietzscheanischen Übersteigerung der Lebenskräfte oder mit Bergsons biologistischem Verständnis gemein, jedenfalls nicht in den Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in denen vom Leben – immer dem Leben eines bestimmten Subjekts – nur in Bezug auf dessen Zerstörung, Verunmöglichung, Liquidierung die Rede ist. Ein solches negatives Verständnis vom Leben, das mit der Insistenz auf der Negativität zusammenhängt, lässt sich zwar auf die konkreten Erlebnisse in Zeiten der Menschenvernichtung zurückführen,von denen Adorno während der Arbeit an den Minima Moralia allmählich erfuhr: „Die Nichtigkeit, die das Konzentrationslager den Subjekten demonstrierte, ereilt bereits die Form von Subjektivität selber“¹¹ – ein Gedanke, der im nächsten Kapitel näher zu betrachten sein wird. Aber die Beschädigung des Lebens hat ihre negative Bedeutung vor allem als die unüberwindbare Aporie, die in der Unmöglichkeit einer Differenz von Identität und Nichtidentität, von Kommensurabilität und Inkommensurabilität besteht. Die Besonderheit als die Inkommensurabilität individuellen subjektiven Lebens verliert – so die Diagnose, die sich durch die Reflexionen hindurchzieht – stets an Geltung. Die negative Ironie der Geschichte besteht demnach vielmehr darin, dass das Individuum, gerade dasjenige, von dem viele der Aphorismen handeln und dessen Leben beschädigt wurde, durch diese Beschädigung keineswegs einen besonderen kritischen Blick auf die Konstellation der Geschichte gewinnt, sondern selbst kommensurabel, ohnmächtig oder blind wird. „Die Gewalt“, schreibt Adorno über die Negativität seiner eigenen (mit den objektiven historischen Ereignissen natürlich eng zusammenhängenden) subjektiven Erfahrung, „die mich vertrieben hatte, verwehrte mir zugleich ihre volle Erkenntnis.“¹² Das kritische Subjekt wird folglich in den Verblendungszusammenhang genauso hineingezogen wie das identische, affirmative. Was hier auf dem Spiel steht, ist gerade die Differenz von Identität und Nichtidentität des Subjekts: Adorno spricht von der „Ausmerzung der Differenz“; ¹³ davon also, dass es immer schwieriger wird, blinde Affirmation des Bestehenden und kritische Haltung des Einzelnen sicher voneinander zu unterscheiden. Ohne die Aphorismen zu systematisieren, könnte man behaupten, ihre Grundintention zeige sich als die Idiosynkrasie gegen eine solche „Ausmerzung“ – und ihr Autor ist sich zugleich dessen bewusst, dass sein eigener Handlungsspielraum auf die genaue und detaillierte Benennung der expliziten und impliziten Erscheinungsfor-
Ebd., S. 14. Ebd., S. 16. Ebd.
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men des Verschwindensprozesses beschränkt ist. Schließlich scheint das Buch auch deshalb negativ zu sein, weil es den Verschwindensprozess nicht nur beschreibt, sondern eine pessimistische Ansicht über dessen weiteren Verlauf zum Ausdruck bringt. Ein solches Verständnis wäre jedoch falsch, weil es nur die eine Seite einer dialektischen Denkweise wahrnimmt: nur die Seite der Unmöglichkeit. Adornos Negativität, wie sie sich in den Aphorismen beharrlich zeigt, verweist auf die Notwendigkeit des Andersseins – auf das subjektive Anderssein als eine Differenz, eine Nichtidentität des Subjekts mit sich selbst; und auf das objektive Anderssein als Veränderung der entfremdeten Strukturen der verdinglichten Welt. Beide sind für Adorno miteinander verschränkt. Sofern viele der Aphorismen der Minima Moralia eine Art Phänomenologie der Entfremdung, der Verdinglichung des Menschen und der zwischenmenschlichen Beziehungen ausmalen, vollziehen sie dies in einer Weise, die die Phänomene einerseits bekannt und vertraut, andererseits unheimlich und fremd erscheinen lässt. Oft wird man sich selbst und den eigenen Alltag im Dargestellten leicht wiederfinden, um dann gleich eine gewisse Art von Irritation oder gar Entsetzen zu spüren, wenn die Aufmerksamkeit sich auf einmal auf die „dunkle“ Kehrseite jenes Vertrauten richtet. Die Darstellung dieser Schattenseite erweist sich als mehr denn eine historisierende Kulturkritik, sie hat immer einen philosophisch-immanenten Gehalt: Viele der Stücke handeln von der Möglichkeit und Unmöglichkeit subjektiver Erfahrung und Subjektivität überhaupt. Zumeist fungieren die Alltagsbilder und -beobachtungen in einer allegorischen Weise, hin und wieder wird der philosophische Aspekt genauer benannt. Statt jedoch die philosophischen – ethischen, moralischen, ästhetischen, politischen – Fragen direkt zu verhandeln, ruft die verfremdende Darstellung der Phänomene ein Unbehagen hervor, das die Deutlichkeit des Problems, der Verzerrung oder Entstellung, auf die oft hingewiesen wird, ins Auge springen lässt. Die Verbindung, die Adorno zwischen Alltagsphänomenen und philosophischen Konzeptionen herstellt, wirft ein anderes, kritisches, oft irritierendes Licht auf das Bekannte und Vertraute, so dass dieses in seiner Verfremdung wieder als ein philosophisches Problem erscheint. Die Aphorismen handeln einerseits von der Notwendigkeit der Singularität, des Andersseins als einer subjektiv, idiosynkratisch motivierten kritischen Negation des Bestehenden; andererseits – und im selben argumentativen Zug – konstatieren sie die Unmöglichkeit, die gesellschaftliche Verunmöglichung einer solchen Singularität. Anhand von exemplarisch ausgewählten Aphorismen werde ich nachfolgend dieser mehrfachen, widersprüchlichen Bedeutung der Negativität in den Minima Moralia nachgehen – ebenso wie ihren Konsequenzen für den Status kritischer Subjektivität unter den Lebensbedingungen, die die Reflexionen beschreiben.
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Das Verschwinden des Überschusses Eine zentrale Beobachtung, die zugleich vertraut und irritierend wirkt, lautet, es werde etwa verlernt, leise, behutsam und doch fest eine Tür zu schließen. Die von Autos und Frigidaires muß man zuwerfen, andere haben die Tendenz, von selber einzuschnappen und so die Eintretenden zu der Unmanier anzuhalten, nicht hinter sich zu blicken, nicht das Hausinnere zu wahren, das sie aufnimmt („Nicht Anklopfen“, MM § 19).¹⁴
Vor dem Hintergrund einer Kritik an der Technisierung des Alltags – „Die Technisierung“, so beginnt der Aphorismus, „macht einstweilen die Gesten präzis und roh und damit die Menschen“ – entfaltet Adorno den Gedanken vom „Absterben der Erfahrung“ überhaupt. Es geht ihm dabei nicht primär um die „neuen Formen“ des Türschließens, um die Verrohung der Gesten an sich – diese stellen den Ausgangspunkt einer Reflexion dar, die schließlich eine subjektive Wendung erfährt und sich dann von den Objekten, den Gegenständen, zum Subjekt kehrt. So klingt es zunächst überraschend, wenn Adorno, nach einer detaillierten Beschreibung verschiedener Weisen des Türschließens, die Frage stellt: Was bedeutet es fürs Subjekt, daß es keine Fensterflügel mehr gibt, die sich öffnen ließen, sondern nur noch grob aufzuschiebende Scheiben, keine sachten Türklinken sondern drehbare Knöpfe, keinen Vorplatz, keine Schwelle gegen die Straße, keine Mauer um den Garten?
Das Verschwinden der Fensterflügel, der sachten Türklinken, des Vorplatzes, das Adorno hier – offenbar angesichts seiner neuen Erfahrungen im amerikanischen Alltag – feststellt, wäre dabei nicht nur an sich zu beklagen, sondern vielmehr hinsichtlich jener Bedeutung für das Subjekt. Die Veränderungen der Alltagsgegenstände bestimmen den Umgang des Subjekts mit den Dingen, die es umgeben – und dadurch auch sein Verhältnis zu sich selbst und zu anderen. Der philosophische Gedanke, den die Reflexion entfaltet, besagt insofern, dass die neue Art der Gebrauchsgegenstände das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zur eigenen Umwelt auf eine Weise bestimmt, in der gewisse Verdinglichungstendenzen – des Subjekts selbst – unvermeidlich werden. Demnach be-
Ebd., S. 43 – 44. Jeder der folgenden Abschnitte konzentriert sich auf einen einzelnen Aphorismus, dessen Überschrift und Seitenzahl am Anfang des Abschnitts genannt werden. Da sich die meisten Aphorismen nur auf wenige Seiten erstrecken, wäre die Seitenangabe zu jedem Zitat überflüssig. Ich werde deshalb in diesem Kapitel Seitenzahlen nur dann angeben, wenn die Zitate aus anderen Schriften stammen oder aus einem anderen als dem im jeweiligen Abschnitt diskutierten Aphorismus.
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deutet die Form der Gebrauchsgegenstände selbst eine radikale Verunmöglichung von Erfahrung, Freiheit und Autonomie. Am Absterben der Erfahrung trägt Schuld nicht zum letzten, daß die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung beschränkt, ohne einen Überschuß, sei’s an Freiheit des Verhaltens, sei’s an Selbständigkeit des Dinges zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt, weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion.
Die Zweckmäßigkeit der „neuen“ Gebrauchsgegenstände wie der „Drehknöpfe“, die die „sachten Türklinken“ ersetzen, und der „grob aufzuschiebenden Scheiben“ am Fenster hat insofern eine subjektivitätstheoretische Bedeutung: Das, was damit verschwindet, ist der Überschuss. Und dieser stellt für Adorno eine Voraussetzung subjektiver Erfahrung dar: Türklinken und Fensterflügel sind hier Allegorien für die Erfahrung des Besonderen im Umgang mit den Dingen: eine Erfahrung, die die bloß zweckmäßige Funktion der Gegenstände übersteigt. Die Beschränkung des Umgangs mit den Dingen „auf bloße Handhabung“ verunmöglicht die Erfahrung ihrer Besonderheit: Adorno erkennt in den kleinsten Bewegungen des Türschließens und des Fensteröffnens die Struktur einer ästhetischen Erfahrung – gekennzeichnet durch den Überschuß – des Einmaligen, Besonderen, Nichtbegrifflichen. In diesen kleinsten Bewegungen zeigt sich eine gewisse „Freiheit des Verhaltens“, die nicht auf zweckmäßige Handhabung beschränkt ist (hier ist die Vorstellung des Fensteröffnens von großer Bedeutung: als Akt von Freiheit und ästhetischer Transzendenz), sondern in der der spezifische Gegenstand – hier: der Fensterflügel – in seiner Besonderheit (gegebenenfalls auch in seiner Schönheit) erfahren wird.¹⁵ Der Ausgang von der „Verrohung“ des Lebens durch die Technisierung bleibt insofern in erster Linie nicht eine technikbezogene Kulturkritik (wie etwa der Verlust gesitteter Verhaltensweisen am Beispiel des behutsamen Türschließens), sondern bezeichnet eine Bestimmung der Art und Weise, in der singuläre subjektive Erfahrung möglich wäre, und benennt die Faktoren, durch die diese Möglichkeit – vor allem ihr Aspekt der Freiheit – fraglich wird.
Dies unterscheidet Adornos dialektische von der konservativen Kulturkritik, die primär den Verlust alter Lebens- und Verhaltensformen beklagen. Allerdings muss man gestehen, dass ein Heideggerscher Unterton – vor allem, was die Handhabung von Gegenständen und den Umgang mit ihnen (am Beispiel des Hammers) betrifft – sich kaum überhören lässt.
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Die Verletzung des Tauschprinzips Eine verwandte Erscheinungsform der Verdinglichung im Sinne des Verlusts jener Fähigkeit, das Besondere zu denken, beschreibt der übernächste Aphorismus, „Umtausch nicht gestattet“ (MM, § 21).¹⁶ Seine Ausgangsdiagnose lautet: „Die Menschen verlernen das Schenken.“ Auch hier ist es nicht (nur) die Verhaltensweise an sich – das Schenken –, deren Niedergang beklagt wird; das Schenken und dessen „Verlernen“ fungieren hier zugleich als Allegorien und haben eine subjekttheoretische und sozialphilosophische Bedeutung. Das Schenken stellt für Adorno ein eigentümliches, besonderes Verhalten dar: eine „Verletzung des Tauschprinzips“. Denn die Idee des Schenkens bedeutet eine gewisse Aufhebung der „ökonomische[n] Bedingtheit der sozialen Beziehungen für einen Moment“;¹⁷ seine konkrete Erscheinungsform ist folglich aporetisch: In der Realität wird entweder nach dem Tauschprinzip geschenkt, mit einer „Umtauschmöglichkeit“, die der Idee des Schenkens im Grunde widerspricht, oder es wird auf das Schenken ganz verzichtet, was schließlich ebenfalls auf eine Entstellung zwischenmenschlicher Beziehungen hinausläuft. Eine solche aporetische Struktur kennzeichnet die Weise, wie die Idee des Besonderen in der auf Tausch basierten Gesellschaft gedacht wird: Zuerst wird es misstrauisch wahrgenommen („da und dort mustern selbst Kinder misstrauisch den Geber, als wäre das Geschenk nur ein Trick, um ihnen Bürsten oder Seife zu verkaufen“), dann „verfällt“ es, wird zum Gegensatz seiner eigenen ursprünglichen Bedeutung. Das Schenken entspricht einer Subjektivitätsform, die dem herrschenden Prinzip des Allgemeinen – dem Tauschprinzip – entgegengesetzt ist; durch das Schenken verletzt sie dieses Prinzip, um das absolute Andere denken zu können. Wirkliches Schenken hatte sein Glück in der Imagination des Glücks des Beschenkten. Es heißt wählen, Zeit aufwenden, aus seinem Weg gehen, den anderen als Subjekt denken: das Gegenteil von Vergeßlichkeit. ¹⁸
Das „Verlernen des Schenkens“ bedeutet, als eine solche „Vergeßlichkeit“, eine Verdinglichung des Subjektiven, Besonderen, im Anderen.¹⁹ Es zeigt das Unvermögen an, den Anderen als Subjekt zu denken – und das heißt, den Anderen gerade in dessen irreduzibler Andersheit, in dessen absoluter Alterität zu denken.
Adorno, Minima Moralia, S. 46 – 47. Andreas Bernard, „Umtausch nicht gestattet“, in Theodor W. Adorno, ‚Minima Moralia‘ neu gelesen, hg. von Andreas Bernard und Ulrich Raulff, Frankfurt am Main 2003, S. 17. Adorno, Minima Moralia, S. 47; meine Hervorhebung. Vgl. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 263: „Alle Verdinglichung ist ein Vergessen“.
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Das Identitätsprinzip, auf dem das zwischenmenschliche Tauschsystem beruht, dringt demnach in die Denkformen hinein, so dass es unmöglich geworden ist, „den anderen als Subjekt [zu] denken“: Ausdruck für diese Denkunmöglichkeit stellt die „Erfindung des Geschenkartikels“ dar. Dieser soll den Schenkenden von der erforderlichen Vorstellung des Glücks des Anderen „entlasten“. Der Geschenkartikel fungiert insofern als eine Allegorie für das Ding, als das der Andere in diesem Zusammenhang wahrgenommen wird. Er ermöglicht (oder sogar: erleichtert) es, den Anderen als Ding zu denken. Dies ist die eine Seite der Aporie des Schenkens, die von der Unmöglichkeit zeugt, Subjektivität als inkommensurabel zu denken. Die andere Seite drückt sich hingegen als ein gänzlicher Verzicht auf das Schenken aus. Wenn sich die Alternative zum Geschenkartikel in einer grundsätzlichen Ablehnung des Schenkens als solchen ausdrückt, so mündet sie in einer noch stärkeren Verdinglichung: des nicht-beschenkten Anderen ebenso wie des Nichtschenkenden. Interessant dabei ist die einigermaßen positive Bedeutung, die der Verdinglichungsbegriff hier erhält – als das Zurückgreifen auf Dinge, um die Besonderheit des Anderen auszudrücken: die „Fühlung mit der Wärme der Dinge“, die es einem ermöglichen könnte, (im „wirklichen Schenken“) in einer Relation gerade zum nichtidentischen Subjekt zu stehen, das der Andere verkörpert. Adorno denkt diese Möglichkeit allerdings von ihrer negativen Seite her: Der Verzicht auf das Schenken bedeutet eine Entsagung der Denkmöglichkeit einer „nicht entstellte[n] Beziehung“. Gegenüber der „Wärme der Dinge“, die die Besonderheit des Anderen anerkennt und dadurch eine freiere Selbstbezüglichkeit ermöglicht – „nicht in der Isolierzelle der reinen Innerlichkeit“ – bedeutet der Verzicht aufs Schenken „Kälte“. Und Kälte bezeichnet für Adorno eben die Entfremdung, die das Tauschverhältnis hervorruft – und die in einem Zusammenhang mit dem Schlimmsten steht.²⁰ Kälte ergreift alles, was sie tun, das freundliche Wort, das ungesprochen, die Rücksicht, die ungeübt bleibt. Solche Kälte schlägt endlich zurück auf jene, von denen sie ausgeht. Alle nicht entstellte Beziehung, ja vielleicht das Versöhnende am organischen Leben selber, ist ein Schenken. Wer dazu durch die Logik der Konsequenz unfähig wird, macht sich zum Ding und erfriert.
Nicht-Schenken, bewusstes Absehen von den Regeln des Tauschsystems, vermag es ebenso wenig, diese aufzuheben, sich von ihnen frei zu machen. Vielmehr verfällt derjenige, der auf das Schenken verzichtet, genau jenen Konsequenzen, die er zu vermeiden beabsichtigt.
Vgl. Adorno, Negative Dialektik, S. 280 sowie S. 355.
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Zweckmäßige Alterität Die Reflexion über das „Verlernen des Schenkens“ geht folglich über den Brauch des Schenkens hinaus. Sie verdeutlicht die aporetische Struktur, der alles inkommensurable Denken und Handeln ausgesetzt ist – so, wie die „Verletzung des Tauschprinzips“ „wirkliche[m] Schenken“ zugrunde liegt. Der Aphorismus „Struwwelpeter“ (MM, § 20)²¹ schildert, in welcher Weise diese Struktur zwischenmenschlichen Beziehungen ausweglos anhaftet. In gewissem Sinne wird das Menschliche dem Zwischenmenschlichen gegenübergestellt: Zwischenmenschliche Beziehungen, in ihrer gesellschaftlich reglementierten Form, bestehen in Unterdrückung und Ausschaltung dessen, was ihnen nicht dienlich ist, des Nicht-Zweckmäßigen. Die praktischen Ordnungen des Lebens, die sich geben, als kämen sie den Menschen zugute, lassen in der Profitwirtschaft das Menschliche verkümmern, und je mehr sie sich ausbreiten, um so mehr schneiden sie alles Zarte ab. Denn Zartheit zwischen Menschen ist nichts anderes als das Bewußtsein von der Möglichkeit zweckfreier Beziehungen.
Das Zarte, das abgeschnitten wird, entspricht hier einer solchen „Verletzung des Tauschprinzips“: einem nicht zweckmäßigen Verhalten zum Anderen. Das Problematische, weil Aporetische an diesem Charakter zwischenmenschlicher Beziehung ist allerdings die Intention, auf das „Menschliche“, „Zarte“ – im Unmenschlichen – zurückzugreifen: Gemeint sind die kleinen, „persönlichen“ Gesten, die das Zweckmäßige verdecken sollen und es gerade deshalb, bei näherer Betrachtung, noch zweckmäßiger, noch unmenschlicher werden lassen. „In Gestalt der paar Sätze über Gesundheit und Befinden der Gattin, die dem Geschäftsgespräch beim Lunch vorausgehen, ist noch der Gegensatz zur Ordnung der Zwecke selber von dieser aufgegriffen, ihr eingefügt worden.“ So wird das „Menschliche“, „Zärtliche“, der „Gegensatz zur Ordnung“ selbst zweckmäßig. Die Gesten, die die Zweckmäßigkeit verhüllen sollen, unterwerfen sich dieser noch stärker. Die Anerkennung der Alterität des Anderen als eines Besonderen jenseits der Ordnung wird insofern als solche zweckmäßig: Die „Sätze über Gesundheit und Befinden der Gattin“, die ein Interesse für den Anderen als Subjekt zu bekunden scheinen, haben eine unverkennbar andere, externe Funktion, deren sich beide Seiten bewusst sind. „Die Sachlichkeit zwischen den Menschen“, resümiert Adorno, „die mit dem ideologischen Zierat zwischen ihnen aufräumt, ist selber bereits zur Ideologie geworden dafür, die Menschen als Sachen zu behandeln.“ Die Figur des „Struwwelpeter“, im Titel des Aphorismus, verkörpert vermutlich die Notwendigkeit und Unmöglichkeit einer solchen Verletzung sozialer Normen. Adorno, Minima Moralia, S. 45 – 46.
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„Struwwelpeter“, wie die anderen Figuren im gleichnamigen Kinderbuch, sind Verkörperungen unsozialen Verhaltens. In Adornos Sichtweise dürften gerade diese Figuren auf die Dialektik eines solchen Verhaltens hindeuten, auf seinen Umschlag in zweckmäßiges, den Regeln des Systems entsprechendes Verhalten: das Besondere, das als „Agent“ des Allgemeinen fungiert.
Selbstverlust und Aufgesaugtwerden „Wer mit will, darf sich nicht unterscheiden“, konstatiert der Aphorismus „Vandalen“ (MM, § 91).²² Wenn man nicht mitmacht, und das will sagen, wenn man nicht leibhaft im Strom der Menschen schwimmt, fürchtet man […], den Anschluß zu verpassen und die Rache des Kollektivs auf sich zu ziehen.
Diese Erkenntnis knüpft an die Feststellung aus dem Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung an, dass „was widersteht, [nur] überleben [darf], indem es sich eingliedert“²³ – und bezieht sich ebenfalls auf die Weise, in der die moderne Kultur die Individuen „zu einer amorphen und fügsamen Masse […] zusammenpreßt“, die Differenzen zwischen den Subjekten, ihre jeweilige Besonderheit aufhebt, dabei jedoch beim Subjekt die Angst vor einem solchen Verlust der eigenen Besonderheit auslöst, so dass es „jedem Einzelnen vor dem als unausweichlich erfahrenen Prozeß des Aufgesaugtwerdens [graut]“. Es ist insofern erst die Angst vor einem Verlust des Eigenen, Besonderen, angesichts der Tendenz der „integrale[n] Gesellschaft, […] die einzelnen in sich positiv auf[zuheben]“, die die Aufmerksamkeit auf den Verlust lenkt. Die Beobachtung einer Gleichzeitigkeit von Verlust des Eigenen und Angst vor einem solchen Verlust verdeutlicht Adorno an der Organisation von Freizeit und Beruf: „Das ganze Leben soll“ – nach den Maßstäben der modernen Gesellschaft – „wie Beruf aussehen“, nicht zuletzt die Freizeit. Denn „Freizeit verlangt ausgeschöpft zu werden. Sie wird geplant, auf Unternehmungen verwandt, mit Besuch aller möglichen Veranstaltungen oder auch nur mit möglichst rascher Fortbewegung ausgefüllt.“ Das scheinbare Pflichtgefühl, die Freizeit detailliert zu planen und organisieren, rührt von einem Angstgefühl her. Die Angst vor der leeren, ungeplanten, „freien“ Freizeit ist nach Adorno ein Symptom für eine tiefere Angst: für die Angst des Einzelnen vor der „Kollektivierung“, vor dem Selbstverlust, die sie herbeizuführen droht. Diese Beobachtung, die wahrscheinlich auf eine existentialistische, Kierkegaardsche
Ebd., S. 157– 159. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 153.
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Komponente in Adornos Denken zurückgeführt werden kann, wird von ihm dann in einem Sinne gedeutet, der der existentialistischen Idee gerade entgegengesetzt ist: Die Angst des Subjekts vor dem „Aufgesaugtwerden“, vor der „Kollektivierung“, führt es nicht in eine Art „Selbstfindung“, in der die eigene Besonderheit einer „fremden“ Allgemeinheit gegenübergestellt wird, sondern in eine noch stärkere Identifikation mit dem Allgemeinen, in diesem Fall mit dem „Vergnügungsapparat“, der die Strukturen der Freizeit festlegt und kontrolliert. So führe „die Flucht vor sich selbst, vor der inneren Leere“ nicht in eine solche „Selbstfindung“, in der die „innere Leere“ mit konkreten Inhalten gefüllt würde, sondern vielmehr in eine Preisgabe der eigenen subjektiven Besonderheit selbst.
Bilder der Entfremdung Im nachfolgenden Aphorismus „Bilderbuch ohne Bilder“ (MM, § 92) entwickelt Adorno die These über die Preisgabe subjektiver Besonderheit und der Differenz des Einzelnen von der gesellschaftlichen „Kollektivierung“. ²⁴ Der Aphorismus geht vom Aspekt der „kulturindustriellen Bilderproduktion“²⁵ aus und hinterfragt nicht zuletzt ihre subjektivitätstheoretische Bedeutung. Auch hier liegt der Zusammenhang nicht auf der Hand; das Verhältnis zwischen den Bildern, die die Kulturindustrie produziert,²⁶ und dem historischen „Zustand“ von Subjektivität ist allegorisch zu verstehen. Die Allegorie handelt von zwei „Ordnungen des Bildes“²⁷, zwei Formen der Bildlichkeit. Die erste Bildlichkeit ist die mythische. Es sind die mythischen Bildern, denen der „Ikonoklasmus der Aufklärung galt“, da sie „die Menschen in ihren Bann zogen und unterwarfen“.²⁸ Die „Bildordnung“, die die erste, mythische ersetzte, entsprach nicht der Idee einer Entmythisierung der Bilder. „Das von Aufklärung entbundene und gegen Denken geimpfte Denken [geht] in zweite Bildlichkeit, eine bilderlose und befangene, über.“ Die „zweite Bildlichkeit“ ist nämlich die der Kulturindustrie, eine abstrakte Bildlichkeit, die jedoch gerade die Unfähigkeit zur Abstraktion darstellt: Adornos Beispiele sind hier die Bildfiguren der Statistik – „Die Männchen und Häuschen, die hieroglyphenhaft die Statistik durchsetzen“ und die „Bildwitze, welche die Magazine
Adorno, Minima Moralia, S. 159 – 161. Tom Holert, „Bilderbuch ohne Bilder“, in Bernard/Raulff (Hg.), ‚Minima Moralia‘ neu gelesen, S. 82. Adorno bezieht sich hier wie in fast allen Aphorismen hauptsächlich auf die US-amerikanische Kultur der vierziger Jahre. Vgl. dazu Claus Offe, Selbstbetrachtung aus der Ferne: Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten, Frankfurt am Main 2004, S. 91– 120. Holert, „Bilderbuch ohne Bilder“, S. 82. Ebd.
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füllen“ – abstrakte, reduzierte Darstellungen in den Massenmedien, die als Abstraktion doch eine konkrete Gestalt erhalten; „sie sehen nicht umsonst ungezählten Reklamen, Zeitungsstereotypen, Spielzeugfiguren so ähnlich. In ihnen siegt die Darstellung übers Dargestellte.“ Stellte die „erste Bildlichkeit“ der mythischen, metaphysischen, irrationalen Bilder eine Macht über die Menschen dar, gegen die die Aufklärung vorzugehen beabsichtigte, so ist die „zweite Bildlichkeit“ das unerwünschte Resultat dieser Tendenz. Aus der Konfrontation der Aufklärung mit dem bildlich-mythischen Denken folgte, so Adorno, als „zweite Bildlichkeit“ eine Darstellungsform, die über das Dargestellte hinausgeht, sich von diesem „entfremdet“. „Die Entfremdung der Schemata und Klassifikationen“ – der Bilder zweiter Ordnung – „von den darunter befaßten Daten, ja die reine Quantität des verarbeiteten Materials, die dem Umkreis der einzelmenschlichen Erfahrung ganz inkommensurabel geworden ist, zwingt unablässig zur archaischen Rückübersetzung in sinnliche Zeichen.“ Die Entfremdung dieser Bilder von der alltäglichen, vertrauten Erfahrung, die „Verselbständigung des Scheins gegenüber dem Leben“,²⁹ bedeutet eine Art „Bilderlosigkeit“, einen Verlust der „Fähigkeit zur Abstraktion“, das heißt der Fähigkeit, das Besondere auf eine Weise auszudrücken, die es verständlich macht und zugleich seine Besonderheit bewahrt. Stattdessen, behauptet Adorno, präsentieren die „bilderlosen“ Bilder „das ganz Allgemeine, den Durchschnitt, das Standardmodell als je Eines, Besonderes […] und verlachen [es zugleich]. Aus der Abschaffung des Besonderen wird auch noch hämisch das Besondere gemacht.“³⁰ Die Struktur der beiden Bilderordnungen, die Ersetzung einer entfremdeten Bilderordnung (der mythischen) durch eine noch weiter entfremdete (der Kulturindustrie), verbildlicht zugleich die Weise, in der das Besondere „abgeschafft“, in der die Möglichkeit, das Besondere zu denken, versperrt wird. Adornos Kritik an der zweiten Bildlichkeit, welche das Allgemeine – die „allgegenwärtigen Bilder“, die „Männchen und Häuschen“ – als Besonderes erscheinen lässt, verdeutlicht dabei den Modus, in dem sich diese Versperrung vollzieht. Die subjekttheoretischen Konsequenzen dieser Beobachtung bedeuten für Adorno nicht weniger als ein „Todesurteil übers Subjekt“: Wie der besonnene Blick, der dem lachenden Plakat einer Zahnpastaschönheit begegnet, in ihrem angestellten Grinsen der Qual der Folter gewahr wird, so springt ihm aus jedem Witz, ja eigentlich aus jeder Bilddarstellung das Todesurteil übers Subjekt entgegen, das im universalen Sieg der subjektiven Vernunft eingeschlossen liegt.
Ebd. Adorno, Mimina Moralia, S. 160; meine Hervorhebung.
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Die tückische Ironie besteht gerade darin, dass das Verhältnis der beiden Bilderordnungen zu ihren subjekttheoretischen Konsequenzen mehr als allegorisch wird. Zwar verhält sich der Sieg der „Darstellung über das Dargestellte“ zum „Sieg der subjektiven Vernunft“ – der unmittelbaren, einseitig vom Subjekt ausgehenden Erkenntnis – über das Subjekt selbst allegorisch; es besteht aber eine mehr als (nur) allegorische Verbindung zwischen der „Zahnpastaschönheit“ und dem „Todesurteil übers Subjekt“. Die Allegorie besteht in der strukturellen Ähnlichkeit, im Verschweigen der Schattenseite. Wie das Plakat der Werbung für eine Zahnpasta einzig die Seite der Schönheit präsentiert, andere Assoziationen, die mit den dargestellten Zähnen in Verbindung zu bringen wären – Qualen, Schmerzen, Leid – verschweigt, so verschweigt die subjektive Vernunft, die die Welt einseitig, bloß subjektiv wahrnimmt, ihre eigene Schattenseite: Gerade in ihrem Anspruch, die objektive Welt subjektiv erschließen zu können,versperrt sich die bloß subjektive Vernunft jene Möglichkeit eines zweckfreien Umgangs mit der Welt – und damit auch mit sich selbst: mit dem Subjekt. So stellt die zweite, bilderlose Bildlichkeit, zu der die „Zahnpastaschönheit“ ebenso wie die Statistikzeichnungen und die Witzfiguren gehören, nicht nur eine Allegorie dar, sie führt selbst zu einer Art Verzerrung des Erkenntnisvermögens, die bis in die Selbstbezüglichkeit des Subjekts hineinreicht. Die Darstellung des Subjekts entsprechend der herrschenden kulturindustriellen, bilderlosen Bildlichkeit, siegt insofern über das Dargestellte: über das Subjekt selbst. Sie schaltet genau das Andersartige, Inkommensurable am Subjekt aus: die Singularität. Die Repräsentationsform der zweiten Bildlichkeit vermag es nicht, das Subjekt als Besonderes darzustellen; sie bezieht sich auf es lediglich in der allgemein reduzierten Form – und führt dazu, dass es sogar sich selbst auf diese Weise wahrnimmt.
Mimesis der Echtheit Adornos dechiffrierender Einsicht in die Weisen, wie bestimmte Alltagsgesten und Wahrnehmungsformen auf die gesellschaftliche Verunmöglichung eines Denkens des Besonderen hindeuten, steht keine konkrete, positive Idee des Besonderen gegenüber. Eher betrachtet er mit großer Skepsis philosophische Konzeptionen, die ein solches Denken akzentuieren. So setzen sich mehrere Aphorismen in den Minima Moralia mit Konzeptionen des Individuums und der Innerlichkeit kritisch auseinander, weil diese das Besondere am Subjekt hypostasieren und damit verzerren. Dabei wird oft – explizit wie implizit – auf Kierkegaards Philosophie Bezug genommen. Das Stück „Goldprobe“ (MM, § 99),³¹
Ebd., S. 173 – 177.
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das einige Argumente der späteren Schrift Jargon der Eigentlichkeit vorwegnimmt, setzt sich mit dem Gedanken der „Echtheit“ und dabei mit der existentialistischen Selbstethik auseinander. „Echtheit“ bezeichnet in Adornos Lesart das angeblich ethische Verhältnis des Individuums zur Wahrheit – und zwar als ein Kriterium für den Status eines solchen Verhältnisses. Sie beziehe sich auf das „wahre Individuum“, das „echte“ Subjekt. Eine solche „Identität des Einzelnen mit sich selbst“ stellt nach Adorno ein Postulat dar, eine Forderung nach „Wahrheit“ seitens der bürgerlichen Moral, die jedoch die Tatsache verdecke, dass die religiösen und ethischen Normen, die dem Einzelnen eine gewisse Autonomie gewähren, ihre Geltung verloren haben.³² Stattdessen formulieren solche „Echtheits“-Konzeptionen eine ethische Forderung, die bloß kompensatorische Funktionen hat. „Wenn nichts anderes verbindlich mehr vom Menschen gefordert werden könne, dann wenigstens, daß er ganz und gar das sei, was er ist.“ Diese ironische Bemerkung bezieht sich explizit auf Kierkegaards „Echtheitsideal“, auf Nietzsches Begriff „ächt“ und auf Heideggers „Eigentlichkeit“.³³ Adornos kritischer Gedanke besagt dabei, die Rede von „Echtheit“ sei eine Art Surrogat für die Unmöglichkeit freier, autonomer Subjektivität unter den sozialhistorischen Bedingungen der Spätmoderne. Es handelt sich insofern um eine eigentümliche Relation der Begriffe zu den Phänomenen, auf die sie sich beziehen: Es fehlt nicht nur an einer adäquaten Relation zwischen den Begriffen (Echtheit, Eigentlichkeit, Innerlichkeit) und den Phänomenen (Subjektivitätsform, Selbstbezüglichkeit, Autonomie), denen sie entsprechen sollen; die Begriffe dienen vielmehr als abstrakte und leere Kompensationen dafür, dass die Phänomene keine realmögliche Form annehmen können. „Die Unwahrheit“ aber, so Adorno, „steckt im Substrat von Echtheit selber, dem Individuum“. Der Gedanke, das Individuum sei eine „letzte und absolute Substantialität“, sei demnach nicht nur falsch, sondern sogar irreführend, trügerisch, „Opfer eines Scheins, der die bestehende Ordnung schützt, während ihr Wesen bereits verfällt“. In diesem Schein gründet die Selbsttäuschung, das Individuum habe einen unmittelbaren Bezug zur Wahrheit oder könne diesen er-
Vgl. Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt am Main 2007, S. 10 – 12. Heidegger wird hier freilich nicht namentlich erwähnt: Adorno bezieht sich auf die „bekehrten und unbekehrten Philosophen des Faschismus“, wobei der darin enthaltene Ausdruck „Kehre“ den Bezug zu Heidegger eindeutig macht. Ob Kierkegaard, Nietzsche oder Heidegger allerdings tatsächlich einen Begriff des „Echten“ formulierten, der so zu verstehen wäre, sei dahingestellt. Adornos Auseinandersetzung bezieht sich hier, wie an anderen Stellen, insbesondere im Jargon der Eigentlichkeit, der dasselbe Problem behandelt, nicht (nur) auf die philosophischen Begriffe als solche, sondern vielmehr auf ihre gesellschaftspolitische Bedeutung.
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langen: Ein solcher unmittelbarer Bezug wäre subjektive Authentizität, die ihren nicht-subjektiven Grund verdeckt, vergißt und diesem schließlich verfällt. Gerade die unbeirrte Selbstbesinnung […], die Insistenz auf der Wahrheit über einen selber, ergibt immer wieder […], daß die Regungen, auf die man reflektiert, nicht ganz „echt“ sind. Stets enthalten sie etwas von Nachahmung, Spiel, Andersseinwollen.
Die Wahrheitsfindung im Subjekt selbst, nach Adorno gemeinsamer Nenner aller oben genannten „Echtheits“-Konzeptionen, müsse insofern notwendig scheitern, als sie gerade das nicht-subjektive Element am Subjekt ausschließt, das für dessen Wahrheit konstitutiv ist. Keine Reflexion kann absolut subjektiv sein, keine Wahrheit nur in subjektiver Reflexion erfahrbar. Für Adorno wird der Individuumsbegriff in diesen Echtheitskonzeptionen abstrakt und absolut gefasst. Beide Bestimmungen werden hier kritisch gebraucht: Als abstrakt sei das Individuum demnach der „mythische Trug des reinen Selbst“, daher „nichtig“. Das abstrakte Verständnis des Individuums verfüge folglich über keinen Bezugspunkt und keine Bestimmung, es sei leer von jedem Inhalt und könne daher nur als (Selbst‐) Täuschung eine reale Bedeutung haben. Als absolut sei es wiederum „eine bloße Reflexionsform der Eigentumsverhältnisse“. In seiner Bestimmung als einer allgemeinen, allumfassenden Kategorie erweist sich der Individuumsbegriff als bloßer Ausdruck gesellschaftlich-ökonomischer, daher ideologischer Verhältnisse. Adornos Kritik an der „objektlosen Innerlichkeit“ aus seinem Kierkegaard-Buch klingt hier unmissverständlich nach. Der Ausschluss jedes „Äußeren“, jeder Spur des Objektiven, Gesellschaftlichen, Nicht-Subjektiven aus der Konzeption des Subjekts, die „Bereinigung“ des Selbst von „fremden“ Inhalten, geht demnach mit einer verzerrten Subjektkonzeption einher: Als Selbstohne Weltbezug wird das so aufgefasste Subjekt noch stärker von den ihm heteronomen Mechanismen beherrscht. Der Ausschluss des Objektiven aus der Subjektivität qua Innerlichkeit bedeutet insofern eine Verkennung der Tatsache, dass Innerlichkeit gerade erst durch die Erlebnisse des Subjekts im Objektiven – in der Gesellschaft, in der empirischen Welt – erfahrbar wird. Hingegen erweist sich nach Adorno das Moment der Mimesis, das in der „objektlosen Innerlichkeit“ ausgeschaltet wird, als konstitutiv für ein richtiges Verständnis des Individuums qua Subjekt. „Es zehrt von dem mimetischen Erbe. Das Humane haftet an der Nachahmung: ein Mensch wird zum Menschen überhaupt erst, indem er andere Menschen imitiert.“³⁴ Der Begriff der Mimesis als
Ebd., S. 176; Adornos Rede von Mimesis – Nachahmung des Nichtsubjektiven durch das Subjekt selbst – ist allerdings ebenfalls zweideutig. Sie ist hier eine Kritik an einer vom Außen „bereinigten“ Subjektivität im Sinne dessen, wie Adorno Innerlichkeit versteht; zugleich be-
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Nachahmung des Nichtsubjektiven wird hier – im Gegensatz zu anderen Verwendungen dieses Begriffs – polemisch gegen die Idee der Echtheit eingesetzt. Nicht das Ausschalten des Fremden, Nichtsubjektiven am Subjekt stellt für Adorno das wahre Moment am Subjekt dar, sondern gerade dessen Gegenteil. Ja es wäre nicht erst das Unechte, das als seinshaltig sich aufspielt, der Lüge zu überführen, sondern das Echte selber wird zur Lüge, sobald es zum Echten überhaupt wird, also in der Reflexion auf sich, in seiner Setzung als Echtes, in der es bereits die Identität überschreitet, die es im gleichen Atemzug behauptet. ³⁵
Am Begriff des „Echten“ verdeutlicht Adorno das, was er woanders kritisch als „Dialektik der Innerlichkeit“ bezeichnet:³⁶ In dem Moment, in dem sich das Subjekt als wahr, echt, als ein „Inneres“ selbst setzt, schlägt diese Setzung in ihr Gegenteil um; denn es gehört gerade zum Begriff der Subjektivität als eines Besonderen, Inkommensurablen, dass sie einer solchen Setzung widersteht. Dieser Gedankenstruktur der Setzung von „Echtheit“ liegt eine Denkform zugrunde, die der des Warentausches gleicht. Wie das Gold, auf das die Waren nach dem Tauschprinzip reduziert werden, als etwas „Echtes“ erscheint, während es tatsächlich nur in seiner abstrakten Form wahrgenommen wird, so ist „echte“ Subjektivität eine abstrakte Bezeichnung für das, was sie nicht ist und als solche nicht sein kann. Beide werden behandelt, als wären sie das Substrat, das doch in Wahrheit ein gesellschaftliches Verhältnis ist. […] Die Unechtheit des Echten rührt daher, daß es in der vom Tausch beherrschten Gesellschaft prätendieren muß, das zu sein, wofür es einsteht, ohne es doch je sein zu können.
So besteht die Idee der „Echtheit“ gerade in dieser Differenz zwischen Sein und Schein: Ihr „Trug“ ist die notwendige Verwechslung, ihr Sein beruht auf dem Schein. Als eine Subjektivitätsform entsteht sie doch aus dem Nicht-Subjektiven, deutet Mimesis Angleichung an die Dinge, an Gegenstände, Produkte – eine Form von Entfremdung. Die doppelte Bedeutung des Mimesisbegriffs – vom philosophischen Verhältnis von Subjektivität und Gesellschaft her betrachtet – verweist auf die innere Spannung im Gedanken der Inkommensurabilität des Subjektiven. Denn dieser Gedanke bedarf einerseits des „Vorrangs des Objekts“, die Idee kritischer Subjektivität muss stets in einer Relation zum Objektiven, Gesellschaftlichen stehen, um nicht in „objektlose Innerlichkeit“ zu verfallen; andererseits enthält gerade diese Relation – als Mimesis – das Potential der Verdinglichung – als Mimesis „ans Tote“. Vgl. Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 76. Adorno, Minima Moralia, S. 176; meine Hervorhebung. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 177: „Auch Innerlichkeit hat an Dialektik teil, wenngleich anders als bei Kierkegaard.“
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sie ist eine Art Mimesis – allerdings eine Mimesis der Form (der Warenstruktur), nicht des Inhalts (der objektiven Welt). Schließlich verweist Adorno auf die politischen Implikationen einer solchen Selbstsetzung des Subjekts als eines „wahren“ oder „echten“, die mit der Konzeption der Innerlichkeit, wie er sie versteht, einhergehen. Die ganze Philosophie der Innerlichkeit, mit dem Anspruch der Weltverachtung, ist die letzte Sublimierung der barbarischen Brutalität, daß, wer zuerst da war, das größere Recht habe, und die Priorität des Selbst ist so unwahr wie die aller, die bei sich zu Hause sind.
Die Idee der „Priorität des Selbst“ beruht folglich auf selbstgesetzten und daher falschen Fundamenten und vermag, als eine Art von politischem Subjektivismus, nur sich selbst jene „Wahrheit“ zuzuschreiben. Damit werden zugleich alle anderen – nicht „echten“, nicht „ursprünglichen“ – delegitimiert: Adorno spricht von „sozialem Legitimismus“, der von der „Suprematie des Ursprungs übers Abgeleitete“ herrührt. Auf dem „mythischen Trug“, mit dem ein abstrakter Individuumsbegriff die Idee der „Echtheit“ stützt, beruht demnach ein politischer Gedanke. Denn Innerlichkeit, wie Adorno sie in diesem Zusammenhang deutet, werde zu einer Legitimation, zu einer Rechtfertigung und Selbstbestätigung der Überlegenheit derjenigen, die über sie „verfügen“: der „Ursprünglicheren“, die „zuerst da war[en]“. Die Kritik der Innerlichkeit, die der Aphorismus „Goldprobe“ entfaltet, zeigt sie – in Bezug auf ihre Bedeutung als „Echtheit“, als Primat des Ursprünglichen – als einen Begriff, dessen Ursprung, Bedeutung und Implikationen gerade nicht im Bereich der Selbstbezüglichkeit, sondern in dem des Gesellschaftlichen liegen. Adorno zeigt, inwiefern die Idee des Besonderen, sobald sie sich identifiziert, sobald sie sich selbst als richtig oder wahr setzt, in ihr Gegenteil umschlägt. Das Besondere, das – dem Begriff nach – den Strukturen des Allgemeinen entgegenstehen sollte, erweist sich dann selbst als ein „Produkt“ jenes scheinbar negierten Allgemeinen.
Verdinglichte Erinnerungsstücke Dass das bürgerliche Bedürfnis nach Innerlichkeit, überhaupt die Idee des Rückzugs ins Privat-Innerliche, gerade für das bürgerliche Subjekt zu einer Art Verhängnis wird, zeigt der Aphorismus „Die Blümlein alle“ (MM, § 106) anhand der philosophischen Konzeption der Erinnerung. ³⁷ Darin wird zunächst von der
Adorno, Minima Moralia, S. 189 – 190.
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konzeptionellen Verwandtschaft zwischen Erinnerung und Innerlichkeit ausgegangen. Erinnerung, das subjektive Fortbestehen des Erlebten, ließe sich nach bestimmten Auffassungen als Garant für Innerlichkeit betrachten. Dieser Gedanke wird in Adornos Reflexion einer immanenten Kritik unterzogen, die aufzeigt, inwiefern darin nicht nur eine kompensatorische und daher trügerische Lösung des Problems des Selbstverlusts impliziert ist, sondern diese Lösung die Verlusterfahrung gerade radikalisiert. So verweist die kurze Analyse, die das Stück entfaltet, auf das Verhältnis zwischen der verfehlten Innerlichkeitskonzeption und dem verfehlten, beschädigten Leben des Subjekts, das ihrer bedarf. Der Satz, von Jean Paul wohl, die Erinnerungen seien der einzige Besitz, den niemand uns wegnehmen könne, gehört in den Vorrat des ohnmächtig sentimentalen Trostes, der die entsagende Zurücknahme des Subjekts in die Innerlichkeit jenem als eben die Erfüllung einreden möchte, von der es abläßt.
Das Festhalten an den Erinnerungen als dem Privatesten, Subjektivsten, das dem Einzelnen keineswegs abgesprochen werden könne, als wären diese Erinnerungen in seinem „Besitz“ – so resümiert Adorno die philosophischen Gedanken vor allem Bergsons und Prousts –, sei der philosophische Ausdruck eines subjektiven Empfindens; genauer: eines Gegenempfindens, gerichtet gegen das Empfinden jenes Verlusts der eigenen Subjektivität. Dabei handelt es sich freilich um einen unzulänglichen Lösungsversuch jenes Problems, das in der Erfahrung des Selbstverlusts in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Spätmoderne besteht. Unzulänglich ist der Lösungsversuch, weil er bloß einen „ohnmächtig sentimentalen Trost“ bieten kann, sich damit aber als Erfüllung eines unerfüllbaren, weil verfehlten Bedürfnisses präsentiert. Mit der Einrichtung des Archivs seiner selbst beschlagnahmt das Subjekt den eigenen Erfahrungsbestand als Eigentum und macht ihn damit wieder zu einem dem Subjekt ganz Äußerlichen. Das vergangene Innenleben wird zum Mobiliar […]. Das Intérieur, in dem die Seele die Sammlung ihrer Denkwürdigkeiten und Kuriositäten unterbringt, ist hinfällig.
Vor dem Hintergrund eines so aufgefassten Begriffs der Erinnerung zeigt sich die „Zurücknahme“ in die Innerlichkeit als eine Verzerrung dessen, was dem Subjekt doch eine gewisse Beständigkeit gewähren soll. Wird die Erinnerung als etwas Festes gefasst, über das das Subjekt verfügt, so treffen zwar die Begriffe „Besitz“, „Eigentum“, „Archiv seiner selbst“ zu, allerdings im Sinne eines Verdinglichten. Das unmittelbare, inkommensurable, subjektive Innenleben (das also, was sich nach Kierkegaard jedem adäquaten Ausdruck im Äußeren versperrt) wird als Gegenstand – „Mobiliar“ – betrachtet. Auch hier ist der rote Faden erkennbar, der
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sich in Adornos Kierkegaard-Buch mit der Kritik der Innerlichkeit als „Intérieur“ herausgebildet hat. Die gegen Verdinglichung gewandte Konzeption Bergsons und Prousts, derzufolge das Gegenwärtige, die Unmittelbarkeit nur vermittelt durchs Gedächtnis sich konstituiert, […] hat darum nicht bloß den rettenden, sondern auch den infernalischen Aspekt.
Die Absicht, durch den Rekurs auf die Erinnerungen des Einzelnen auf dessen scheinbar nicht abzusprechende Besonderheit hinzuweisen, verkehrt sich wiederum in ihr Gegenteil. Die Erinnerungen sind keine Garantien für den Einzelnen: Sobald sie als solche wahrgenommen werden, als Rettung des Inneren vor dem Außen, werden sie selbst zu einer Art Gegenstand und somit verdinglicht. Darin besteht die strukturelle Verwandtschaft von Erinnerungen und Innerlichkeit: Sobald man an jenen festhält, schlagen sie um; sie sind subjektive Momente, die gerade als solche die Subjektivität am wenigsten garantieren. „Gerade wo sie beherrschbar und gegenständlich werden, wo das Subjekt ihrer ganz versichert sich meint, verschießen die Erinnerungen wie zarte Tapeten unterm grellen Sonnenlicht.“ Erscheinen die Erinnerungen als eine Form unmittelbarer und daher besonderer Erfahrung, die nur dem Subjekt vertraut ist, so verlieren sie ihre Bedeutung, verbleichen, werden kommensurabel, sofern sie als ein subjektiver „Erfahrungsbestand“, als geistiges „Eigentum“ identifiziert werden. Das Festhalten am subjektiv Besonderen verdinglicht es, macht es identifizierbar. Das ist die subjektivitätstheoretische These, die vielen der Aphorismen der Minima Moralia zugrunde liegt. Im Kern des bürgerlichen Denkens liegt folglich eine derartige Spannung zwischen jenem Bedürfnis nach Innerlichkeit als Besonderheit – einem „Schutz“ des Subjektiven vor den „objektiven Mächte[n], die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen“³⁸ – und der Unerfüllbarkeit ebendieses Bedürfnisses, deren Ursprünge auf dieselbe Denkstruktur rückführbar sind: ein verzerrtes Subjektivitätsverständnis, das durch die Ideologie als identifizierendes Denken hervorgerufen wird.
Die Kommensurabilisierung des Inkommensurablen Der Aphorismus „Immer davon reden, nie daran denken“ (MM, § 40) versteht sich zunächst als eine Kritik an der „Konventionalisierung der Psychoanalyse“.³⁹ Als Form aufklärenden Denkens sieht Adorno die Psychoanalyse an einem falschen
Ebd., S. 13. Ebd., S. 72– 74.
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Ort angelangt: Anstatt subjektive Erfahrung durch bewusste Auseinandersetzung mit inneren Konflikten und „schmerzlichen Geheimnissen“ zu ermöglichen, werde sie zu einem „Massenprodukt“, dessen unerklärtes Ziel gerade in einer Verharmlosung des „Drohenden“ bestehe. Zuerst wird eine heikle Verflechtung von Kulturindustrie und Tiefenpsychologie festgestellt: Den Produkten der Kulturindustrie sei die Psychoanalyse nicht fremd, vielmehr gebrauchen sie sie, damit die Konsumenten sich darin leicht wiederfinden, sogar – und gerade – in ihren „inneren“, psychischen Problematiken. Dadurch aber werden persönliche Problematiken nur vermittelt durch die Kulturprodukte erfahren, und auf diese Weise, so Adorno, „wird den Menschen auch die letzte Möglichkeit der Erfahrung ihrer selbst von der organisierten Kultur abgeschnitten“. Sobald sie von der Kulturindustrie aufgenommen werden, verhindern die Standardisierung und „Konventionalisierung der Psychoanalyse“ eine subjektive Selbsterfahrung, da eine solche Erfahrung nur noch nach vorgegebenen Strukturen verständlich gemacht wird. Während die Psychoanalyse sich in ihrem Grundgedanken auf die einzelnen psychischen Phänomene – in ihrer Einzigartigkeit: „das Abnorme und Chaotische“ – orientieren sollte, basiert ihre massenkulturelle Form auf Konventionen und zielt auf Aufhebung der einzelnen Probleme nach einem einheitlichen Muster, das in einer direkten Relation zu den Produkten der Kulturindustrie steht. Dieses Wechselverhältnis von Kulturindustrie und Psychoanalyse bedingt eine Situation, in der alles Abweichende und die vorgegebenen Strukturen Überschreitende auf Bekanntes und Allgemeines reduziert wird: „Die schmerzlichen Geheimnisse der individuellen Geschichte“ werden „in geläufige Konventionen“ verwandelt; „[d]er Schrecken vorm Abgrund des Ichs wird weggenommen“, „die Konflikte [verlieren] das Drohende. Sie werden akzeptiert; keineswegs aber geheilt“. Eine solche Verwandlung negativer Affekte ist somit nur dem Schein nach ihre Lösung, ihre „Heilung“, während sie als unbehandelt nur tiefer in den Hintergrund, ins Unbewusste gedrängt werden. Der Schrecken, die Konflikte, die schmerzlichen Geheimnisse – all dies sind negative Elemente in der Konstitution des Selbst, die für subjektive Erfahrung konstitutiv sind, die allerdings vermittels der Psychoanalyse entschärft werden, damit sich die Subjekte in den gesellschaftlichen Prozess besser einfügen können. Die negativen Elemente werden dann „von dem Mechanismus der unmittelbaren Identifikation des Einzelnen mit der gesellschaftlichen Instanz absorbiert“: Die Identifikation ermöglicht es dem Einzelnen, „in der eigenen Schwäche auch ein Exemplar der Majorität zu sein“. Dies bedeutet eine Umkehrung des Negativen zugunsten einer identifizierenden gesellschaftlichen Anpassung, die den Einzelnen gerade in den negativen Affekten, in seiner Schwäche, seinen Konflikten und Schmerzen wahrnimmt, seine Singularität aber zugleich bändigt und abschwächt. Adorno spricht in diesem Zusammengang von der „Verdinglichung und Nor-
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mierung“ des „Abnorme[n] und Chaotische[n]“. Die Psychoanalyse in ihrer herrschenden Form, im Zusammenhang mit den Produkten der Kulturindustrie, werde dann zu einem Herrschaftsinstrument, das gerade in das Innere der Subjekte hineindringe und das negative Element darin – Triebe, Konflikte, Leiden – vorgegebenen Mustern angleiche. „Das Inkommensurable wird gerade als solches kommensurabel gemacht, und das Individuum ist kaum einer Regung mehr fähig, die es nicht als Beispiel dieser oder jener öffentlich anerkannten Konstellation benennen könnte“, lautet Adornos Grundgedanke, der hier in Form einer Kritik der normierenden Psychoanalyse zum Ausdruck kommt.
Subjektives Glück im Fetisch Eine thematisch ganz andere, in ihrem Grundgedanken und ihrer Struktur jedoch ähnliche Beobachtung entfaltet der Aphorismus „Auktion“ (MM, § 77), in dem Adorno anhand einer Kritik der „entfesselte[n] Technik“ der Bedeutung subjektiven Glücks nachgeht.⁴⁰ Die „entfesselte Technik“ ist nach Adorno unter anderem für jenes bestimmte „Glücksversprechen“ verantwortlich, das sie zugleich hervorbringt und „eliminiert“. Ein solches Derivat des technischen Fortschritts zeigt sich in der Idee des Luxus, die subjektives Glück und objektive Technisierung in einen Zusammenhang bringt. Denn Luxus, privilegiertes Vergnügen, definiert sich dadurch, dass es den gewöhnlichen Lebensrahmen übersteigt. Er verspricht, mehr als bloßes Vergnügen, mehr als dessen quantitativer Wert zu sein. Das Verhältnis von Luxus und Glück, das Glücksversprechen des Luxus, erklärt Adorno aus der Nichtfungibilität, die dem Prinzip der Fungibilität widerspricht und es gleichzeitig bestätigt. Die Idee des Luxus verspricht eine Unmessbarkeit: ein Qualitatives, das sich der quantitativen Wertermittlung entzieht. Eine solche Inkommensurabilität verbindet die Idee des Luxus mit der des Glücks. Glück sei demnach das, was „inmitten der allgemeinen Fungibilität […] ausnahmslos am Nichtfungibeln [haftet]“. Jene „Nichtfungibilität“, die Glück und Luxus eint, besteht daher in der Überschreitung des Prinzips der praktischen Rationalität, sie ist weder nützlich noch rational. Aber gerade an diesem Punkt setzt Adornos kritische Beobachtung genauer an. Denn es ist doch die „Nichtfungibilität“ des Luxus, die dem Begriff des Fetischcharakters entspricht – die „Utopie des Qualitativen: was vermöge seiner Differenz und Einzigkeit nicht eingeht ins herrschende Tauschverhältnis“. Dieses differente „Nicht-Eingehen“ stellt für Adorno allerdings keinen Gegensatz zum Tauschverhältnis dar, dessen es selbst bedarf. Denn das „Glücksversprechen im Luxus setzt wiederum Privileg voraus, ökonomische Ungleichheit, eben die Ge-
Ebd., S. 135 – 137.
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sellschaft, die auf Fungibilität beruht.“ In den von Adorno diagnostizierten Denkverhältnissen zeigt sich Nichtfungibilität nicht als Gegenpol, sondern in einem Kontinuum mit der Fungibilität des Tauschprinzips. Beide beruhen auf denselben Prämissen: „Darum wird das Qualitative selber ein Spezialfall der Quantifizierung, das Nichtfungible fungibel, der Luxus zum Komfort und am Ende zum sinnlosen Gadget.“ Dass das Qualitative als „Spezialfall“ im Quantitativen aufgeht, dass das Nichtfungible fungibel wird – Adorno spricht von einem „Zirkel“, in dem „das Prinzip des Luxus zugrunde“ geht –, bedeutet, dass das Glücksversprechen der Idee des Luxus immanent ist, dass es aber, aufgrund jener zirkulären Struktur, nicht erfüllbar ist. Die Idee des Luxus verdeutlicht die Messbarkeit des Unmessbaren im Tauschverhältnis; der scheinbar unmessbare Luxus wird zum Luxus erst, indem er sich messen lässt. Darin besteht das Verhältnis des Glücks zu der eigenen Unmöglichkeit – und zur Unmöglichkeit, sich vom Tauschprinzip zu lösen. Adorno verdeutlicht diese Behauptung anhand einer Beobachtung durch die Augen eines Kindes, das Edelsteine betrachtet: Dem Kind, das über der Lektüre von Tausendundeiner Nacht an Rubinen und Smaragden sich berauschte, stieg die Frage auf, worin eigentlich die Seligkeit im Besitz solcher Steine bestehe, die ja doch gerade nicht als Tauschmittel, sondern als Hort beschrieben werden. In dieser Frage spielt alle Dialektik der Aufklärung. Sie ist so vernünftig wie unvernünftig: vernünftig, indem sie der Vergötzung gewahr wird, unvernünftig, indem sie gegen ihr eigenes Ziel sich kehrt, das dort nur gegenwärtig ist, wo es vor keiner Instanz, ja vor keiner Intention sich zu bewähren hat: kein Glück ohne Fetischismus.
In der Frage des Kinds zeigt sich das widersprüchliche Verhältnis von Glück und Fetischismus. Das Kind erkennt die Untrennbarkeit der beiden als ursächlich für den der Aufklärung innewohnenden Widerspruch. Die Edelsteine vermögen es, Glück – „Seligkeit“ – zu gewähren, indem sie sich als einzigartig, einmalig und unmessbar betrachten lassen. Der Besitz der Edelsteine, untrennbarer Bestandteil jener „Seligkeit“, steht jedoch in einem Verhältnis zu ihrem Tauschwert, bezieht sich auf sie als Tauschmittel. Das Kind erkennt – und wundert sich über – beides: das unerfüllbare Glücksversprechen, den „Fetisch“, den die Edelsteine als Gegenstände darstellen, und die Erfüllbarkeit, die das Glück verrät, die Ansehung der Gegenstände nach ihrem konkreten Tauschwert, ihren Besitz. Die Untrennbarkeit von Glück und Fetischismus bedeutet, dass gerade jene angenommene Unmessbarkeit des Glücks messbar und damit fetischisiert begriffen wird. Es wird zwar als etwas wahrgenommen, das jede bloße Gegenständlichkeit überschreitet, aber gerade in dieser Überschreitung wird es fetischisiert begriffen. Als ein Unmessbares wird es messbar. Luxus – so lässt sich die
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Beobachtung deuten – ist ebendiese Fetischisierung des Glücks, das dann denjenigen Strukturen, die es zu überschreiten glaubte, kommensurabel wird.
Unvertretbarkeit als Kritik Fortgesetzt wird dieser Leitgedanke im Aphorismus „Vizepräsident“ (MM, § 83), der sich wiederum zunächst anderen thematischen Gegenständen widmet: Betriebsräten und Vertretern, Funktionären in Organisationen und deren sozialer Rolle.⁴¹ Vertretbarkeit als eine Notwendigkeit des fortgeschrittenen Arbeitsprozesses entspricht in ihrer Denkstruktur dem Prinzip des Tauschverhältnisses. Dieses beruht auf Identität und kann daher die Inkommensurabilität der Differenz nicht zulassen. Deshalb verzerrt es sie, um sie zu integrieren. „Vertretbarkeit“, lautet die Diagnose bei Adorno, „unterwirft die Gedanken derselben Prozedur wie der Tausch die Dinge. Das Inkommensurable wird ausgeschieden.“ Auch hier, wie beispielsweise im Aphorismus „Bilderbuch ohne Bilder“ (MM, § 92), wo das „Todesurteil übers Subjekt“ konstatiert wird, zieht Adorno aus einer spezifischen, einzelnen thematischen Beobachtung weitreichende Schlussfolgerungen über den Zustand der Individualität überhaupt „im Zeitalter ihrer Liquidation“. Dasselbe Prinzip, das die Struktur der Vertretbarkeit als Notwendigkeit des Arbeitsprozesses begründet, wird hier zugleich für eine solche „Liquidation“ verantwortlich gemacht: „Während das Individuum, wie alle individualistischen Produktionsverfahren, hinter dem Stand der Technik zurückgeblieben und historisch veraltet ist, fällt ihm als Verurteiltem gegen den Sieger die Wahrheit wiederum zu.“ Gemeint ist zunächst keine Technikkritik: Nicht die Technik und der technische Fortschritt als solche hätten die Liquidation des Individuums zu verschulden. Adornos grundlegende Kritik ist hier vielmehr struktureller Art. Das Individuum – „wie alle individualistischen Produktionsverfahren“ – bedeutet hier das, was sich dem Produktionsapparat (noch) nicht eingefügt hat, was (noch) „außerhalb“ steht. Als solchem „anachronistische[n]“, diskrepanten Wesen fällt dem Individuum nach Adorno „die Wahrheit zu“. Er betrachtet aber ebendiese Form diskrepanter, inkommensurabler Wahrheit, die dem (technischen) Fortschritt und dem Produktionsprozess entgegensteht, als liquidiert – ähnlich den alten „individualistischen Produktionsverfahren“, die der neueren Massenproduktion nicht standhalten können. Gerade dies steht für Adorno im Prinzip der Vertretbarkeit auf dem Spiel. Vertretbarkeit erweist sich als der gesellschaftlich-materielle Ausdruck für eine Denkform, die andersartige Singularität ausschaltet, ausschalten muss, um sich
Ebd., S. 146 – 147.
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fortzusetzen. „Im materiellen Bereich ist Vertretbarkeit das bereits Mögliche und Unvertretbarkeit der Vorwand, der es verhindert“. Die Gegenüberstellung von Vertretbarkeit und Unvertretbarkeit hinsichtlich ihrer Bedeutung für die materielle Produktion entspricht insofern der theoretischen Frage nach Möglichkeit und Unmöglichkeit kritischer Subjektivität, die hier im Hintergrund mitverhandelt wird. Der Gegensatz zum herrschenden Prinzip der Vertretbarkeit deutet auf die Möglichkeit von Kritik, einer kritischen Einstellung des Subjekts hin: „Unvertretbarkeit allein könnte der Eingliederung des Geistes in die Angestelltenschaft Einhalt tun.“ Unvertretbarkeit bedeutet hier die Erkenntnis der Unzulänglichkeit jenes Vertretbarkeitsprinzips und richtet sich insofern gegen die gewaltsame „Eingliederung“ all dessen, was dem Produktionsprozess dient; eine „Eingliederung“ freilich, die die Unterschiede zwischen den verschiedenen Subjekten verdeckt und damit eliminiert. Der Gedanke der Unvertretbarkeit ist hier ein Gedanke der Kritik. Gerade diese betrachtet Adorno als durch die herrschende Denkstruktur gefährdet. Die Aufhebung der Unterschiede zwischen den Subjekten, die Forderung, alle gleich zu behandeln, hat indes den Nebeneffekt, dass sie jede Art von Kritik ausschaltet. Die als selbstverständlich unterschobene Forderung, es müsse jede geistige Leistung von jedem qualifizierten Mitglied der Organisation ebenso sich bewältigen lassen, macht den borniertesten wissenschaftlichen Techniker zum Maß des Geistes: woher sollte gerade dieser die Fähigkeit zur Kritik seiner eigenen Technifizierung nehmen?
Adorno argumentiert mithin nicht gegen die Gleichbehandlung aller Beteiligten, sondern weist auf den paradoxen Zustand hin, dass eine solche formale Gleichheit postuliert wird, die eine reale Gleichheit ersetzt. „Es ist eine armselige Ideologie“, kritisiert er, „daß zur Verwaltung eines Trusts unter den gegenwärtigen Bedingungen irgend mehr Intelligenz, Erfahrung, selbst Vorbildung gehört als dazu, einen Manometer abzulesen.“ Diese Ideologie werde aber „in der materiellen Produktion“ real, während der „Geist der entgegengesetzten unterworfen“ werde. Entgegen der postulierten Ungleichheit, die der Funktion des Produktionsprozesses dient, herrscht dann im Denken eine Gleichheit, die sich allen Subjekten aufoktroyiert. Vor diesem Hintergrund ist Adornos Gedanke zu verstehen, dass der Begriff des inkommensurablen Individuums der Ursprung einer solchen Kritik an der gewaltsamen Gleichsetzung aller ist, die zu einer Ideologie wird, insofern sie die Unterschiede zwischen den verschiedenen Subjekten verdeckt. Das Festhalten am Individuum als einer Kategorie, die im Produktionsprozess nicht aufgeht – und gerade deshalb von diesem eingeholt wird – bedeutet eine Unterstreichung der Möglichkeit von subjektiver Inkommensurabilität und Kritik. Denn die Gleichbehandlung für Zwecke der Produktion, unter dem Prinzip der Vertretbarkeit – der
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Identität –, vollzieht sich folglich auf Kosten einer realen, humanen Gleichbehandlung unterschiedlicher Subjekte, auf deren Erhaltung die Produktion ursprünglich abzielte. Um die Bedürfnisse des Subjekts befriedigen zu können, zerstört das System, das Adorno hier vor Augen steht, dieses Subjekt selbst. Darin besteht der Sinn des Rekurses auf das Individuum als eine anachronistische und inadäquate Kategorie. „Denn es allein bewahrt in wie immer auch entstellter Weise die Spur dessen, was aller Technifizierung ihr Recht verleiht, und wovon diese doch zugleich selber das Bewußtsein sich abschneidet.“ Hier wird Adornos negative Dialektik kritischer Subjektivität mikrologisch erkennbar: Die Wahrheit steht dem Individuum erst – und gerade – als „Verurteiltem“ zu, als demjenigen, das dem „Sieger“ nicht standhält, das veraltet und irrelevant ist. Nur als solches vermag es, die „Spur der Wahrheit“ zu bewahren, als solches ist sein Stand aber am prekärsten; es vermag dem objektiven Fortschritt nicht zu entsprechen. Allein als eine „Ruine“ dessen, was die Technik wie allen Fortschritt begründet, kann das Individuum eine wahre Kategorie sein – allein im Bewusstsein der Unzulänglichkeit dieser Kategorie. Das ist der immanente Widerspruch, der Adornos Begriff des Individuums anhaftet und dabei erklärt, weshalb und auf welche Weise die „Frage nach der Individualität […] im Zeitalter von deren Liquidation aufs neue aufgeworfen werden“ muss, nämlich als die Frage nach der Kommensurabilisierung des Inkommensurablen.
3 Die Liquidation des Besonderen. Konzeptionelle und reale Tendenzen der Beschädigung Der Satz aus der den Minima Moralia vorangestellten „Zueignung“, in dem Adorno Hegel einer verhängnisvollen „Verzerrung“ des Verhältnisses – und damit der Möglichkeit einer „Versöhnung“ – von Allgemeinem und Besonderem zeiht: „mit überlegener Kälte optiert er nochmals für die Liquidation des Besonderen“,¹ bildet zwar den philosophischen Hintergrund für die „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“, wird jedoch erst im dritten Teil der Negativen Dialektik genauer erläutert und begründet.² Das Zeugnis, das Adornos Kultur- und Alltagsbeobachtungen über die systematische Zerstörung alles Abweichenden, Individuellen, Besonderen ablegen, führt in gewissem Sinne auf ein Denken zurück, das in Hegels Philosophie seinen ausgeprägten Ausdruck erhalten haben soll. Von der (Mit‐)Schuld eines philosophischen Systems an zerstörerischen sozialhistorischen Prozessen zu sprechen, wäre sicher etwas übertrieben; Adorno sieht jedoch eine gewisse Verbindungslinie zwischen der politischen Philosophie des deutschen Idealismus und den historischen Exzessen, die ihr folgten. Um diesen Gedankenkomplex zu erläutern, möchte ich zunächst Adornos Überlegungen zur Konzeption des Besonderen rekonstruieren, sie in ihrer genauen Entfaltung verfolgen. Das bedeutet, nach dem Verhältnis von philosophischem Begriff und empirischen Beobachtungen zu fragen, anhand deren Adorno von einer Liquidation des Besonderen spricht. Das folgende Kapitel hat daher die Absicht, Adornos These der Liquidation des Besonderen als der prinzipiellen Verunmöglichung freier, kritischer, abweichender Subjektivität unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen zu hinterfragen. Dabei gilt es, nicht nach „Schuldigen“ (in theoretischer oder praktischer Hinsicht) zu suchen, sondern die verschiedenen Aspekte, Hintergründe und Verzweigungen dieser Erkenntnis zu erörtern. Damit soll zugleich auch der Zusammenhang zu und zwischen den vorangehenden Lektüren und Thesen hergestellt werden, insofern die Kritik der Innerlichkeit, die Möglichkeit von meta-
Adorno, Minima Moralia, S. 15. Adornos Vorwurf an Hegel hat mehrere Dimensionen: Das Optieren für die „Liquidation des Besonderen“, das ich in diesem Kapitel diskutieren werde, verbindet Adorno – nicht zufällig – mit dem Begriff der Kälte. Es ist jedoch dieser „Kälte“-Begriff an sich, der in einem sachlichen Zusammenhang mit einer solchen „Liquidation“ steht, nämlich als die Kälte als das „Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre“. Adorno, Negative Dialektik, S. 356; vgl. Bernstein, Adorno, Kap. 8.4. „Coldness: The Fundamental Principle of Bourgeois Society“, S. 396 – 414.
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physischer Erfahrung und Ironie sowie die Betrachtungen über die Kommensurabilisierung des Lebens überhaupt in einer Erkenntnis des prekären Status des Besonderen ihren radikalen Kulminationspunkt erreichen. Eingangs wird folglich der folgenschwere Vorwurf an Hegel erläutert, der diesen in einen Zusammenhang mit der historischen Tendenz zur Eliminierung alles Abweichenden, Andersartigen stellt. Hegels Konzeption einer Identität von Besonderem und Allgemeinem wird dann in ihrer Bedeutung für Adornos eigene Sicht auf dieses Verhältnis untersucht, um die Gemeinsamkeiten und Differenzen zu beleuchten, die zwischen Hegels und Adornos jeweiliger Diagnose eines „Verfalls von Individualität“ bestehen. Denn obwohl beide eine solche Tendenz beobachten, erklären und begründen sie ihre Diagnose auf unterschiedliche, nahezu gegensätzliche Weise. Dabei wird das Verhältnis von Zerfall und Zufall, von Kontingenz und Vergänglichkeit eine Rolle spielen – ein Verhältnis, das Adorno im Anschluss an Walter Benjamins Denken entfaltet. Abschließend werde ich die These einer – begriffslogischen wie sozialhistorischen – Liquidation des Besonderen anhand von Adornos ersten „Meditationen zur Metaphysik“ explizieren. Damit möchte ich den philosophischen Zusammenhang zwischen den Erfahrungen der Menschenvernichtung, für die der Name „Auschwitz“ steht, und der Veränderung von Begriffen, Kategorien und Konzeptionen der Subjektivität (insbesondere in ihrem Verständnis als negatives Selbstverhältnis) untersuchen. Denn angesichts der Erfahrungen von „Auschwitz“ muss selbst Adornos negative Konzeption der Subjektivität, zu der die These von der Liquidation des Besonderen gehört, in ein anderes Licht rücken. Eine nähere Betrachtung wird dabei schließlich zeigen, dass die Kategorien, in denen Adorno das „Affizieren der Metaphysik“, das heißt: die durch „Auschwitz“ bewirkten Veränderungen fundamentaler philosophischer Begriffe beschreibt, vor allem in Bezug auf die Bedeutung von Subjektivität einen Kierkegaardschen Unterton haben: Denn das in „Auschwitz“ Geschehene bewirkt Adorno zufolge eine endgültige Zerstörung jener philosophischen Kategorien der Differenz, der Besonderheit, der Singularität, die Kierkegaards Subjektivitätsauffassung zugrunde lagen und von Adorno implizit übernommen wurden. Die absolute Identität einer Welt, in der Menschen bloß als Exemplare sterben, bar jeder Individualität und Singularität, verdeutlicht die historische Verunmöglichung jenes subjektiven Denkens der Differenz und der Inkommensurabilität. Ein negativ-ironisches Verhältnis zu sich selbst und zur objektiven Welt gewinnt angesichts der Zerstörung eine durchaus andere, erschreckende Bedeutung.
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3.1 „Überlegene Kälte“. Die Aktualität der Hegelkritik In seiner Vorrede zur Negativen Dialektik bekräftigt Adorno seine oft angedeutete These über die Aufgabe einer zeitgemäßen Philosophie, die er im kritischen Anschluss an Hegel folgendermaßen formuliert: Philosophie hat, nach dem geschichtlichen Stande, ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteressement bekundete: beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen; bei dem, was seit Platon als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde und worauf Hegel das Etikett der faulen Existenz klebte.³
Unter diesem Aspekt setzt sich der „Exkurs zu Hegel“ im dritten Teil des Buchs mit Hegels Denken kritisch auseinander, um die begrifflich-systematischen ebenso wie die geschichtsphilosophischen Konsequenzen dieser „Parteinahme fürs Allgemeine“ aufzuzeigen. Hegels Ansicht über das dialektische Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem bildet den Ausgangspunkt für Adornos kritische Lektüre, in der philosophieinterne ebenso wie ‐externe Argumente eine Rolle spielen, so dass man den Text keinesfalls als eine objektive Darstellung der Hegelschen Gedanken verstehen darf: Die Auseinandersetzung mit Hegel hat nicht den Anspruch, diesem ohne weiteres gerecht zu werden, sondern vielmehr den spezifischen Anspruch, Adornos eigenen Gedanken zu entfalten. Dieser Gedanke geht jedoch in Adornos Kritik an Hegel allein nicht auf. Um ihn zu erläutern, sind offenbar Rückgriffe und Bezugnahmen auf gesellschaftliche Phänomene erforderlich, deren Zusammenhang mit Hegels Denken nicht selbstverständlich ist, vor allem im Hinblick darauf, dass sie in Hegels Lebenszeit nicht als solche gegeben waren. Möchte man Adornos eigenen Gedanken, seine These von der Liquidation des Besonderen, genauer verstehen, so müsste man ihren Ansatz in der Kritik an Hegel als Ausgangspunkt für spezifische gesellschaftskritische Beobachtungen verstehen. Aus diesem Grund wäre eine Untersuchung, ob und auf welche Weise Adornos Argumentation der Hegelschen gerecht wird, als solche nicht fruchtbar für das Verständnis des immanenten Gehalts von Adornos Behauptung. Insofern werde ich im Folgenden auf eine Beurteilung, ob Adornos Lektüre Hegels Denken adäquat wiedergibt, weitgehend verzichten, nicht nur weil dies den Rahmen der Untersuchung sprengen würde, sondern weil ausreichend Beweise vorliegen, dass dies nicht der Fall ist.⁴ Der „Exkurs zu Hegel“ bietet zwar eine Interpretation
Adorno, Negative Dialektik, S. 19 – 20. In ihrer Auslegung des Hegel-Exkurses nennt Birgit Sandkaulen manche Vorwürfe Adornos an Hegel „sinnlos“ und sogar „grotesk“. Birgit Sandkaulen, „Modell II: Weltgeist und Naturgeschichte. Exkurs zu Hegel. Adornos Geschichtsphilosophie mit und gegen Hegel“, in Honneth/
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verschiedener Denkansätze Hegels, trennt jedoch nicht zwischen Texterläuterungen und spekulativer Gesellschaftskritik, so dass eine eindeutige Klarheit, welche Aussagen sich ausschließlich auf Hegel beziehen und welche auf subjektive Erfahrungen und Beobachtungen des Autors zurückzuführen sind, oft schwer zu erreichen ist. In der folgenden Lektüre möchte ich diese Aspekte auseinanderhalten: Ich werde mich zunächst auf Adornos begrifflich-philosophische Kritik an Hegels „Parteinahme fürs Allgemeine“ konzentrieren (und wieder: nicht als Überprüfung der „Treue“ der Wiedergabe, sondern als eine eigenständige These), um in den nächsten Schritten nach dem Verhältnis dieser konzeptionellen Kritik zu den sozialhistorischen phänomenalen Beobachtungen über den spätkapitalistischen Vergesellschaftungsprozess und zu den Erfahrungen der Menschenvernichtung zu fragen. Adornos Interesse am „Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen“ markiert zunächst seine entscheidende Abwendung von Hegels Standpunkt: Wahrheit und Freiheit gründen nach Adorno in einer Differenz, nicht in der Identität von Subjekt und Objekt. Von dieser Erkenntnis hat jede Hinterfragung des Verhältnisses beider Denker auszugehen. Adornos Insistieren auf dem Besonderen besteht dabei aus zwei Zügen: Zunächst bedeutet sie eine Hervorhebung der Notwendigkeit eines konzeptionellen „Vorrang[s] des Besonderen“,⁵ des nichtidentischen Moments, für die Entfaltung freier Subjektivität. Dabei ist mit dem Begriff des „Besonderen“ weder Subjektivität noch das Individuum allein gemeint, sondern ein bestimmter Aspekt, der sich auf unmittelbare subjektive, nicht-begriffliche Erfahrung bezieht. Gerade dieser Aspekt sei allerdings, zweitens, stets einer Gefahr ausgesetzt, sein Status ist Adorno zufolge besonders prekär. Dafür werden philosophieinterne, begriffliche ebenso wie sozialhistorische, nahezu empirische Gründe (zwischen denen Adorno allerdings nicht eindeutig trennt) genannt. Da Hegel Wahrheit und Freiheit aufseiten des Allgemeinen verorte und die Ansicht vertrete, die Versöhnung beider bedeute ihre Identität durch Preisgabe der Differenz, wirft Adorno ihm vor, die Schuld an einem verzerrten, jedoch weit verbreiteten Individualitätskonzept zu tragen, dessen Folgen weit über die theoretische Philosophie hinausreichen.
Menke (Hg.), Theodor W. Adorno – Negative Dialektik, S. 169 – 187; hier S. 186. Vgl. dazu: Thomas Rentsch, „Vermittlung als permanente Negativität. Der Wahrheitsanspruch der ‚Negativen Dialektik‘ auf der Folie von Adornos Hegelkritik“, in Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter, hg. von Christoph Menke und Martin Seel, Frankfurt am Main 1993, S. 84– 102. Adorno, Negative Dialektik, S. 307.
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Der prekäre Status des Besonderen Adorno ist sich der aporetischen Sachlage des besonderen Moments durchaus bewusst. Darin stimmt er zunächst mit Hegel überein: Die Entstehung und Entfaltung jedes besonderen Moments werde grundsätzlich erst durch das Allgemeine ermöglicht. Diese Grunderkenntnis Hegels bestreitet Adorno folglich nicht. Die Verteidigung des „Vorrang[s] des Besonderen“ steht insofern nicht in einem Widerspruch zu jenem „Vorrang des Objekts“,von dem bei Adorno oft die Rede ist. Die objektive Wirklichkeit bestimmt in mehreren Hinsichten die Konstitution dessen, was Adorno als Besonderes auffasst. Das Besondere sei ohne die Allgemeinheit nicht denkbar, zugleich aber, und hier zeigt sich Adornos Differenz zu Hegels Argument, fügt ebendiese Allgemeinheit, die das Besondere in gewisser Weise hervorbringt, diesem erheblichen Schaden zu. Die aporetische, prekäre Lage des Besonderen besteht insofern darin, dass es von jenem Wesen abhängig ist, von dem es zugleich beschädigt wird. Dieses zunächst rein begrifflich-logisch formulierte Verhältnis erhält bei Adorno eine konkrete historische Form. Es lässt sich auf das objektive ebenso wie auf das subjektive Leben der einzelnen Individuen zurückführen. Die Allgemeinheit, welche die Erhaltung des Lebens reproduziert, gefährdet es zugleich, auf stets bedrohlicherer Stufe. Die Gewalt des sich realisierenden Allgemeinen ist nicht, wie Hegel dachte, dem Wesen der Individuen an sich identisch, sondern immer auch konträr.⁶
Die Gefahr des Allgemeinen für das Besondere, für das Leben des Einzelnen, resultiert demnach aus der unterstellten Identität und gilt für Adorno als ein Grund, diese Identität in Frage zu stellen. Die logische Konstruktion der Identität, auf der nach Hegel das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem beruht, ist für Adorno mit gravierenden Folgen für das einzelne Subjekt verbunden.Während er folglich mit Hegel über die objektiv prekäre Lage des Besonderen übereinstimmt, unterscheidet sich seine Wertung, seine Sichtweise auf diese Situation, von der Hegels. Im Gegensatz zu Hegel, der eine auf Identität basierende Versöhnung vor Augen hat, sieht Adorno diese Identität und mit ihr den gefährdeten Status des Besonderen (im Sinne einer logischen Kategorie ebenso wie in dessen konkreten Erscheinungsformen) als eine besonders heikle Konstruktion. So erweist sich nach Adorno Hegels Dialektik von Allgemeinem und Besonderem als problematisch und einseitig. Das heißt: als nicht dialektisch genug. Dieser Dialektik zufolge
Ebd., S. 305 – 306.
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wäre das Besondere unmittelbar das Allgemeine, weil es eine jegliche Bestimmung seiner Sonderheit einzig durchs Allgemeine findet; ohne dieses, schließt Hegel, nach einem immer wiederkehrenden Modus, sei das Besondere nicht.⁷
Diese einseitige Abhängigkeit des Besonderen vom Allgemeinen betrachtet Adorno allerdings nicht als ein Argument für ihre Einheit. Vielmehr behauptet er, das Verhältnis solle anders aufgefasst werden. Trotz der Abhängigkeit des Besonderen vom Allgemeinen, die Adorno konzeptionell akzeptiert, die nach Hegel allerdings für den Primat des Allgemeinen spricht, besteht Adorno auf dem Recht des Besonderen. Hegels „Parteinahme fürs Allgemeine“ folge nämlich aus seiner einseitigen Behandlung des Verhältnisses. Adorno bezieht sich hierfür vor allem auf § 150 der Rechtsphilosophie, in dem Hegel gegen das „Bewußtsein der Eigentümlichkeit“ als „Ausnahme“ argumentiert und dieses Bewusstsein polemisch als „die Sucht, etwas Besonderes zu sein“ bezeichnet.⁸ Die „Parteinahme“ besteht demnach darin, dass Hegel das Allgemeine – hier im Sinne des Sittlichen, der Pflichten des einzelnen Individuums gegenüber dem Gemeinwesen – nicht als eine Beschränkung, sondern als eine Befreiung versteht: Befreiung, teils von der Abhängigkeit, in der es in dem bloßen Naturtriebe steht, sowie von der Gedrücktheit, in der es als subjektive Besonderheit in den moralischen Reflexionen des Sollens und des Mögens ist, teils von der unbestimmten Subjektivität, die nicht zum Dasein und der objektiven Bestimmtheit des Handelns kommt, und in sich und als eine Unwirklichkeit bleibt. In der Pflicht befreit das Individuum sich zur substantiellen Freiheit.⁹
Das dialektische Verhältnis bedeutet für Hegel, dass gerade durch Preisgabe der eigenen subjektiven Besonderheit zugunsten einer Verpflichtung dem Allgemeinen gegenüber das Individuum konkrete Freiheit zu gewinnen vermöge. Es verliere eine unbestimmte, abstrakte und daher falsche Freiheit, um die „substantielle“, richtige, weil reale Freiheit zu erreichen.¹⁰ Zwar lehnt Adorno diese Erkenntnis durchaus nicht ab, sie gilt ihm aber als unvollständig. Aus der Preisgabe der subjektiven Besonderheit mit dem Ziel einer substantiellen Freiheit folgt seiner Auffassung nach nicht unmittelbar die erwünschte Selbstbestimmung. Das rührt daher, dass Hegel gerade die Perspektive des Besonderen nicht vor Augen hat, die nach Adorno durch ihre eigene Dialektik gekennzeichnet ist. Adorno fordert ein Gleichgewicht: Ebd., S. 321. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 150, S. 298; zit. in Adorno, Negative Dialektik, S. 323; Hervorhebungen im Original. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 149, S. 298; Hervorhebungen im Original. Vgl. Hegels Zusatz zum § 149: „Die Pflicht ist insofern nicht Beschränkung der Freiheit, sondern nur der Abstraktion derselben, das heißt der Unfreiheit: sie ist das Gelangen zum Wesen, das Gewinnen der affirmativen Freiheit.“
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Wenn Hegel die Doktrin von der Identität des Allgemeinen und Besonderen zu einer Dialektik im Besonderen selber weitergetrieben hätte, wäre dem Besonderen, das ja ihm zufolge das vermittelt Allgemeine ist, soviel Recht zuteil geworden wie jenem. Daß er dies Recht, wie ein Vater, der den Sohn zurechtweist: „Du meinst wohl, du wärest etwas Besonderes“, zur bloßen Sucht herabwürdigt, und psychologistisch das Menschenrecht als Narzißmuß anschwärzt, ist kein individueller Sündenfall des Philosophen. Die von ihm visierte Dialektik des Besonderen ist idealistisch nicht auszutragen. Weil, wider den Kantischen Chorismos, Philosophie nicht als Formenlehre im Allgemeinen sich einrichten, sondern den Inhalt selbst durchdringen soll, wird, in großartig verhängnisvoller petitio principii, die Wirklichkeit von der Philosophie derart zugerüstet, daß sie der repressiven Identität mit jener sich fügt.¹¹
Die Illustration des zurechtweisenden Vaters, der die Besonderheit des Sohns nicht anerkennt, weist auf eine eigenartige, doppelte „Blindheit“ der Hegelschen Konzeption hin. Hegel übersehe erstens, dass die Dialektik sich ebenso auf der Seite des Besonderen entfalten müsste. Nach Adornos Lesart verfolgt Hegel sie nur aus dem Blickpunkt des Allgemeinen, dem das Besondere bloß als Problem – als eine „Sucht“, als eine illusionäre Freiheit – erscheint, während die Motive der Differenz nicht zur Sprache kommen. Damit werde das Gegenteil erreicht: Das Individuum, um dessen Freiheit willen Hegel für das Allgemeine argumentiert, gewinne zwar eine bestimmte, substantielle Freiheit, müsse aber seine subjektive Besonderheit, das also, wofür – und zu dessen Schutz – reale Freiheit notwendig wäre, preisgeben. Für Adorno stellt dies ein „Kind mit dem Bade“-Argument dar: Um wirkliche Freiheit zu gewinnen, müsse der Einzelne jene Singularität aufgeben, die ihn als Einzelnen bestimmt und wofür er ebendieser Freiheit bedarf.¹² Zweitens, so Adorno, scheint in Hegels Argumentation die Differenz des Besonderen zum Allgemeinen bloß aus einer Verkennung der Notwendigkeit der Identität beider herzurühren. Diese Differenz solle aufgehoben werden, weil sie die erwünschte Einheit verhindere, die nach Hegels Auffassung für den Fortbestand des Gemeinwesens erforderlich ist. Darin sieht Adorno nicht nur einen logischen Fehlschluss: Der zirkuläre Beweis in Form der petitio principii bedeutet zunächst, das Besondere sei in seiner Differenz so lange defizitär, wie es die vorausgesetzte Bedingung der Identität oder Einheit mit dem Allgemeinen nicht erfüllt. Für Adorno ist diese Voraussetzung an sich nicht ausreichend begründet, sie werde daher „blind“ vorausgesetzt. Entsprechend verhält es sich auch mit Hegels Behandlung der Besonderheit im zweiten Teil der Wissenschaft der Logik. Die Besonderheit habe für Hegel
Adorno, Negative Dialektik, S. 323. Dabei reduziert Adorno Hegels trinitarische Formel Allgemeines – Besonderes – Einzelnes auf den Dualismus Allgemeines – Besonderes und identifiziert das Einzelne fälschlicherweise mit dem Besonderen. Vgl. dazu Sandkaulen, „Weltgeist und Naturgeschichte“, S. 183.
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keine andere Bestimmtheit, als welche durch das Allgemeine selbst gesetzt ist, und sich aus demselben folgendermaßen ergiebt. Das Besondere ist das Allgemeine selbst, aber es ist dessen Unterschied oder Beziehung auf ein Anderes, sein Scheinen nach Außen; es ist aber kein Anderes vorhanden, wovon das Besondere unterschieden wäre, als das Allgemeine selbst.¹³
Adorno liest diese Stelle, ursprünglich in logischer Hinsicht auf den „besonderen Begriff“ bezogen, als wäre sie praktisch-philosophisch gemeint. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Fehlschluss als mehr denn „bloß“ logischen Charakters: Er ist nach Adorno „verhängnisvoll“, weil das Aufzwingen der abstrakt-logischen Idee der Identität auf das reale Leben der Einzelnen repressiv wirkt. Das ist die Relation, in der Hegels Logik zu seiner Rechtsphilosophie steht: Die Pflicht gegenüber dem Gemeinwesen, für die das Individuum die subjektive Besonderheit preiszugeben habe, entspricht dem logischen Gedanken, dass die Besonderheit „keine andere Bestimmtheit [hat], als welche durch das Allgemeine selbst gesetzt ist“. Das „Verhängnisvolle“ an Hegels Konstruktion des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem ist aus dem oben Dargestellten jedoch nicht unmittelbar zu schließen. Dass das Besondere vom Allgemeinen – sei dieses begriffslogisch oder materialistisch verstanden – im Wesentlichen abhängt, darüber stimmt Adorno mit Hegel überein. Dass dabei jedoch das Besondere gänzlich eliminiert werden solle, stellt die Differenz beider dar – und damit auch Adornos fundamentale Kritik an Hegel. Die Kritik besteht nicht allein darin, dass Hegel die Einsicht in die Notwendigkeit (und damit in die Wahrheit) der Besonderheit versäume. Zwischen Hegels Ansicht und Adornos Lesart besteht vielmehr ein negativ-ironisches Verhältnis: Während Hegel seine These spekulativ-idealistisch formuliert – in der Wissenschaft der Logik begriffslogisch bzw. sprachimmanent, in der Rechtsphilosophie normativ –, ist diese für Adorno äußerst real: Sie lasse sich nicht mehr als eine spekulative These begreifen, sondern allein als die adäquate Beschreibung eines objektiven Sachverhalts. Was Hegel spekulativ-idealistisch in wohlwollender Absicht vorstellt, erweist sich nach Adorno auf eine ironische Weise als die bittere Wahrheit über die bestehende Wirklichkeit. Es ist eine Wirklichkeit, in der das Besondere preisgegeben wird – sowohl hinsichtlich einer auf Identität basierenden Denkstruktur wie auch in Bezug auf die reale Verfasstheit der Gesellschaft und der Situation der einzelnen Individuen in ihr. Hegels Begriff der Subjektivität ziele somit auf eine Affirmation des bestehenden Allgemeinen ab. Dieser Begriff, nach Adorno ein verzerrtes, weil voreingenommenes Verständnis der Subjektivität, versperre die Einsicht in die innere Verfasstheit des Subjekts; dieses wird stets nur nach den äußeren Kriterien des
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik II, in Werke, Bd. 6, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 2003, S. 281.
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Allgemeinen wahrgenommen und beurteilt. Insofern erweist sich jede Betrachtung über das Subjektive schließlich als Ausdruck des objektiv Bestehenden. „Subjektivität, welche ja selbst bei Hegel das Allgemeine und die totale Identität ist, wird vergottet. Damit aber auch das Gegenteil erreicht, die Einsicht ins Subjekt als sich manifestierende Objektivität.“¹⁴ Dadurch also, dass wahre Subjektivität für Hegel in der Identität des Besonderen und Allgemeinen besteht, wodurch die Individualität ihre substantielle Freiheit erhalte, werden gerade ihre besonderen, dem Allgemeinen nicht kommensurablen Aspekte – die Hegel als kontingent, zufällig und daher „störend“ betrachtet – ignoriert, als irrelevant markiert und damit eliminiert. So verkehrt sich das, was Hegel als substantiell-freie Subjektivität begreift, in einen bloßen Ausdruck von Objektivität. Der Mangel konkreter Bestimmtheit des Subjektivitätsbegriffs wird ausgebeutet als Vorteil höherer Objektivität eines von der Zufälligkeit gereinigten Subjekts; das erleichtert die Identifikation von Subjekt und Objekt auf Kosten des Besonderen.¹⁵
Es ist demnach gerade das Zufällige, Kontingente und daher nicht Subsumierbare am Subjekt, dem in Hegels Subjektivitätsbegriff eine mindere Stellung zugeschrieben wird. Dies macht Hegels Konzeption in Adornos Augen defizitär: Sie versäume es, die philosophische Bedeutung der Besonderheit und Einzigartigkeit anzuerkennen; und damit verfehle sie letztendlich ihr eigenes Ziel – subjektive Freiheit.
Negative Realisierung der Hegelschen Position Der Vorwurf der Befangenheit oder Einseitigkeit, begründet durch Hegels Bevorzugung der Perspektive des Allgemeinen, entspricht Adornos Grundgedanken einer „Rettung“ des Besonderen. Freilich dürfte auch in Adornos Position eine derartige „Parteinahme“ für das Besondere vermutet und damit seine Argumentation ihrerseits als tautologisch bezeichnet werden. Denn so wie Hegel dem Besonderen eine mindere Position zuerkennt und dessen Aufhebung im Allgemeinen fordert, so könnten Adornos Gegenargumentation und sein Vorwurf der „Parteilichkeit“ aus einer analogen, gegensätzlichen Befangenheit herrühren. Dass dies nicht der Fall ist, hängt unmittelbar mit der Grundidee der Negativen Dialektik zusammen: Dem Primat des Objektiv-Allgemeinen in der Konstruktion der Subjektivität erkennt Adorno ein bedeutendes Recht zu. Er bestreitet hingegen die dialektische Schlussfolgerung, die Hegel daraus zieht: die Negation der Ne-
Adorno, Negative Dialektik. S. 343. Ebd.
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gation als ein Positives. Die Negation der negativen, weil abstrakten Subjektivität, ihre Aufhebung im Allgemeinen durch Anpassung an das Bestehende, Sittliche, lehnt Adorno als eine bloß logische Konstruktion ab.Was für Hegel den Schritt zur Versöhnung darstellt, wird von Adorno als repressiv beschrieben, weil es, um das erklärte Ziel – freie Subjektivität – zu erreichen, die einzelnen Individuen in ihrer jeweiligen Besonderheit und Individualität „verrät“ und opfert. „Zur Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem hülfe die Reflexion der Differenz, nicht deren Exstirpation“, entgegnet Adorno.¹⁶ Dieser logischen Struktur einer Gegenüberstellung von Allgemeinem und Besonderem entspricht in Adornos Augen ein realer Sachverhalt. Der nach Hegel ideale Zustand einer Aufhebung der Differenz des Subjekts zum Gemeinwesen, seiner subjektiven Besonderheit, erweist sich nach Adorno als die konkrete, bestehende Wirklichkeit – allerdings in einem negativen Sinn. In dieser Wirklichkeit fungieren die einzelnen Subjekte als bloße Bestandteile, „Agenten“ des Allgemeinen. Adorno sieht die Hegelsche Konzeption in der bestehenden Gesellschaft realisiert – in einer gesellschaftlichen Verfasstheit, die auf dem Prinzip der Vereinzelung beruht, das gerade dadurch, dass es die Individualität des freien Subjekts zu einer primären Kategorie erhebt, diese zugleich beschädigt, verzerrt, kastriert. Adorno spricht in diesem Zusammenhang von einem „individualistischen Schleier“.¹⁷ Damit bringt er ein Problem zur Sprache, das einen ironischbitteren Aspekt hat: Während nach Hegel das Besondere im Allgemeinen aufgehoben werden soll, betrachtet Adorno die Kategorie der Besonderheit in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung als eine substantielle und bedeutungsvolle. Diese Bedeutung zeigt sich aber in Wahrheit als eine verzerrte. Sie ist nicht der Gegensatz der Hegelschen Konzeption, sondern wird auf eine negativ-dialektische, ironische Weise zu deren Affirmation und Fortschreibung. Der Vormacht des Allgemeinen ins Auge zu sehen, schädigt psychologisch den Narzißmus aller Einzelnen und den demokratisch organisierter Gesellschaft bis zum Unerträglichen. Selbstheit als nichtexistent, als Illusion zu durchschauen, triebe leicht die objektive Verzweiflung aller in die subjektive und raubte ihnen den Glauben, den die individualistische Gesellschaft ihnen einpflanzt: sie, die Einzelnen, seien das Substantielle. […] Solche subjektive Illusion ist objektiv verursacht […].¹⁸
Ebd., S. 341. So lautet die Überschrift des Textabschnitts aus dem Hegel-Exkurs der Negativen Dialektik, der sich mit der negativen Realisierung des Hegelschen Primats des Allgemeinen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auseinandersetzt. Adorno, Negative Dialektik, S. 306 – 307. Ebd., S. 306.
3.1 „Überlegene Kälte“. Die Aktualität der Hegelkritik
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Insofern bleibt nach Adorno gerade in der „individualistischen Gesellschaft“, die die Besonderheit als eine Grundkategorie betrachtet, der Primat des Allgemeinen bestehen. Hegels idealistische Konzeption erweist sich damit, entgegen ihrer normativen Intention, gerade als eine genaue Beschreibung bestehender Verhältnisse, wenn auch einer späteren Epoche. Es handelt sich um Verhältnisse, die durch den Schein von Individualität und freier Subjektivität gekennzeichnet sind. Dieser Schein – „sie, die Einzelnen, seien das Substantielle“ – ist nach Adorno das ideologische Fundament, auf dem die „individualistische Gesellschaft“ beruht. Das Hegelsche Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem erfährt hier eine ironische Wendung: Gerade durch das Festhalten an der Besonderheit – und durch den Schein seines Gegebenseins – setzt sich das Allgemeine ideologisch durch. Wahrhafter Vorrang des Besonderen wäre selber erst zu erlangen vermöge der Veränderung des Allgemeinen. Ihn als Daseiendes schlechthin zu installieren, ist eine komplementäre Ideologie. Sie verdeckt, wie sehr das Besondere zur Funktion des Allgemeinen wurde, die es, der logischen Form nach, immer auch war.¹⁹
Hegels logisches Argument erhält hier eine reale, gesellschaftliche Dimension. So gesteht Adorno die Plausibilität der Hegelschen Konzeption zu, jedoch anders als ursprünglich gemeint. Hatte diese Konzeption bei Hegel den Status einer Forderung, eines anzustrebenden Idealzustands, so betrachtet Adorno sie als die nahezu objektive Beschreibung eines defizitären, weil zerstörerischen und unfreien Zustands. Die Setzung des Besonderen als gegeben, als daseiend, verhindert die Einsicht in dessen Verzerrung, ideologische Verunmöglichung und reale Liquidation. Damit rückt auch die Möglichkeit der Erkenntnis und der Veränderung in die Ferne. Sofern die Differenz aufgehoben und das Besondere nicht als Gegensatz des Allgemeinen verstanden wird, sondern als in diesem enthalten, bedeutet eine „Rettung“ des Besonderen die Veränderung des Allgemeinen, das heißt: eine Veränderung sowohl der Denkstrukturen, die auf dem verzerrten Verständnis des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem beruhen, als auch der gesellschaftlichen Strukturen, die in diesem Verständnis fundiert sind und es weitertragen. Dabei verhindert ein solches Verständnis jede Einsicht in die Verzerrung selbst; solcher bedingten „Blindheit“ entspricht Adornos Begriff der Ideologie. Somit versteht Adorno Hegels Konzeption als eine derartige Ideologie, die eine falsche, trügerische Beschreibung der Wirklichkeit im doppelten Sinn bedeutet. Sie sei zunächst die wahre Beschreibung einer falschen Wirklichkeit. Hegels Entwurf eines anzustrebenden ideal-normativen Sachverhalts wird von Adorno als gegeben betrachtet – gegeben allerdings auf eine defizitäre Weise. Das Normative Ebd., S. 307– 308.
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erweist sich als deskriptiv. Zweitens verdeckt diese Konzeption – sofern sie gesellschaftlich gegeben ist – die Erkenntnis eines problematischen Sachverhalts und lässt diesen weiter bestehen, als einen Zustand des Leids und der Unfreiheit. „Soviel ist wahr an der Hegelschen Insistenz auf der Allgemeinheit des Besonderen,“ räumt Adorno ironisch ein, daß das Besondere in der verkehrten Gestalt ohnmächtiger und dem Allgemeinen preisgegebener Vereinzelung vom Prinzip der verkehrten Allgemeinheit diktiert wird. Die Hegelsche Lehre von der Substantialität des Allgemeinen im Individuellen eignet den subjektiven Bann sich zu […]. Die Grundschicht der Unfreiheit […] dient dem antagonistischen Zustand, der heute das Potential, von den Subjekten aus ihn zu verändern, zu vernichten droht.²⁰
So stellt Adornos Beobachtung Hegels Theorie über das Verhältnis Subjekt – Objekt auf den Kopf: Das Allgemeine stelle sich nicht als eine Aufhebung der Besonderheit dar, sondern die innere Verfasstheit des Besonderen sei schon durch das Allgemeine konstituiert. Die Subjektivität des Einzelnen werde durch das Allgemeine – das Gemeinwesen und dessen Ideologie – vor- und mitbestimmt.Von der Ohnmacht des Einzelnen sprechen lässt sich nicht nur angesichts der Macht des Allgemeinen. Diese Macht erweist sich nach Adorno als beteiligt an der Konstitution des Einzelnen selbst, die dessen eigene Freiheit strukturell verhindert. Adorno beschreibt hier eine aporetische Sachlage, die Ausweglosigkeit des Einzelnen, die jedoch in dessen konstitutivem Verhältnis zur Allgemeinheit (und deren Ideologie) fundiert ist.
Aporetisches Verhältnis von Substantialität und Freiheit Das „Potential“ der Freiheit verkehrt sich folglich in Unfreiheit: Das, was Hegel als substantielle Freiheit begreift, die Verwirklichung des subjektiven Willens in der objektiven Wirklichkeit, wird zu einem apologetischen Instrument der Herrschaft, des Bestehenden. Sofern das einzelne Subjekt, Hegels Forderung folgend, sich in der objektiven Welt zu verwirklichen sucht, wird es mit den Strukturen des Allgemeinen konfrontiert, so Adorno, die eine solche Verwirklichung nur nach dem vorgegebenen Muster des Bestehenden ermöglichen. Die „substantielle“ Freiheit des Subjekts erweist sich demnach zwar als „substantiell“, im Gegensatz zur bloß subjektiven, abstrakten Freiheit; dabei ist sie aber umso weniger eine wahre Freiheit. Im kritischen Anschluss an Hegel verortet Adorno die Aporie im Verhältnis von Substantialität und Freiheit. Während nach Hegel wahre Freiheit den konkreten Strukturen des Bestehenden entsprechen muss, sieht Adorno gerade in
Ebd., S. 338.
3.2 Zufall und Zerfall. Individualität im prekären Zustand
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der Anpassung an diese Strukturen eine „Falle“, die notwendig zur Unfreiheit führt. Obwohl Adorno Hegel keinen „bösen Willen“ unterstellt, keine Absicht, einen Zustand der Unfreiheit herzustellen, verweist er auf die immanente Logik einer Argumentation, die dem einzelnen Subjekt erst dann eine Freiheit einräumt, wenn es diese aufgibt. Das, wofür Hegel argumentiert, ist nach Adorno kein anzustrebender, normativer Zustand, sondern die deskriptive Darstellung eines defizitären und trügerischen Sachverhalts. Defizitär ist dieser Sachverhalt insofern, als er Individualität, die Freiheit des Einzelnen, jenseits der Strukturen des Allgemeinen verunmöglicht; trügerisch insofern, als er die Erkenntnis des Defizits – an Freiheit und Individualität – strukturell verhindert. Das Verhängnisvolle an Hegels Konzeption sieht Adorno folglich darin, dass sie zwar (unbeabsichtigt) die verzerrte Verfasstheit der gegebenen Situation erschließt und die Wahrheit über sie ausspricht, zugleich aber unmittelbar auf das Fortbestehen dieser Situation hinwirkt, mithin jede Veränderung verhindert. Adorno verwendet in diesem Zusammenhang der Hegel-Kritik stets den Begriff des „Bannes“. Nach wie vor stehen die Menschen, die Einzelsubjekte unter einem Bann. Er ist die subjektive Gestalt des Weltgeists, die dessen Primat über den auswendigen Lebensprozeß inwendig verstärkt. Wogegen sie nicht ankönnen, und was sie selber negiert, dazu werden sie selber.²¹
Hegels Lehre ist in Adornos Augen eine Beschreibung jenes „Bannes“, der die Einzelsubjekte unter den Primat des herrschenden Allgemeinen stellt. Dabei bleibt sie aber nicht eine bloße Beschreibung, harmlos und unbeteiligt; Adorno beschließt seinen „Exkurs zu Hegel“ mit der Feststellung – zugleich Diagnose und Vorwurf –, die „Hegelsche Metaphysik“ (gemeint ist freilich das Verhältnis von Logik und praktischer Philosophie) blicke „um ein Geringes hinaus über den mythischen Bann, den sie auffängt und verstärkt“.²²
3.2 Zufall und Zerfall. Individualität im prekären Zustand Adornos Auseinandersetzung mit Hegel geht, wie wir gesehen haben, über die innere Systematik seines Denkens hinaus; sie betrifft den Knotenpunkt von philosophischer Begrifflichkeit und realer gesellschaftlicher Verfasstheit. Wäre Hegels Standpunkt zulasten des Besonderen eine ausschließlich abstrakte Option, so
Ebd., S. 337. Ebd., S. 353; meine Hervorhebung.
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wäre er nicht dermaßen heikel und bedrohlich, wie Adorno ihn versteht. Denn mit Hegels philosophischer Argumentation verbindet Adorno einen realen Zustand, in dem freie Individualität – als kritische, nichtidentische Subjektivität – immer unmöglicher, immer prekärer wird. Während Hegel jedoch diesen Verschwindensprozess diagnostiziere und zu erklären versuche, trage sein philosophischer Standpunkt selber zu dem Prozess bei. „Hegels Philosophie“, so schildert Adorno die eine Seite der Diagnose, reißt die Perspektive des Verlusts auf, den der Aufstieg von Individualität im neunzehnten Jahrhundert bis tief ins zwanzigste hinein involvierte: den an Verbindlichkeit, jener Kraft zum Allgemeinen, in der erst Individualität zu sich käme.²³
Adorno gibt Hegel insofern recht, als dieser einen Verlust an Verbindlichkeit als Ursache des kritischen Zustands moderner Subjektivität diagnostiziert.²⁴ Demzufolge sei „der Aufstieg von Individualität“ von Grund auf mit einem solchen Verlust verknüpft gewesen, der schließlich in ihre eigene Auflösung münden musste. Eine derartige Verfallstendenz war der modernen Idee der Individualität von Anbeginn einbeschrieben. Hatte Hegel vor einem solchen Verlust und Auflösung gewarnt, so betrachtet Adorno das,wovor die Warnung galt, als inzwischen gesellschaftlich und historisch realisiert: Der mittlerweile evidente Verfall von Individualität ist solchem Verlust gekoppelt; das Individuum, das sich entfaltet und differenziert, indem es von dem Allgemeinen immer nachdrücklicher sich scheidet, droht dadurch auf die Zufälligkeit zu regredieren, die Hegel ihm vorrechnet.²⁵
Hegels Warnung vor einem solchen Verlust an Verbindlichkeit rührt aus der Erkenntnis her, subjektive Unbestimmtheit bedeute ein Hindernis für die Entfaltung des Subjekts. „Zufälligkeit“ entsteht demnach aus einer Distanzierung des Einzelnen vom Allgemeinen, sie stellt einen Gegensatz zur Verbindlichkeit dar. Nach Hegel kommt das Individuum erst durch eine solche Verbindlichkeit dem Allgemeinen gegenüber zur vollen Entfaltung; Zufälligkeit hingegen bedeutet Unfreiheit. Aber der Verfall von Individualität, vor dem Hegel warnt und den Adorno aus
Ebd., S. 344. Vgl. Axel Honneth, Leiden an Unbestimmtheit, Stuttgart 2001, S. 49. Honneth diagnostiziert im Anschluss an Hegel die Pathologien, die durch falsche Konzeptionen der Individualität entstehen. Sein Lösungsversuch, ebenfalls durch eine Aktualisierung der Hegelschen Rechtsphilosophie, steht jedoch in einer wesentlichen Differenz zu Adornos kritisch-negativer Position. Adorno, Negative Dialektik, S. 344.
3.2 Zufall und Zerfall. Individualität im prekären Zustand
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seiner Zeitperspektive als evident konstatiert, steht in einem komplexeren Verhältnis zum Gegensatz zwischen Verbindlichkeit und Zufälligkeit. Für Hegel hängt Zufälligkeit, sofern sie die Individualität bestimmt, sofern das Subjekt ihr überlassen wird, mit dem „Zerfall der Individualität“ zusammen: Der Zufall führt zum Zerfall, weil sich das so begriffene Subjekt aus den Strukturen des Allgemeinen herauslöst – oder genauer: herauszulösen glaubt – und dabei unbestimmt, unbeständig bleibt.²⁶ Hegel rechnet wahre Individualität der Seite der Verbindlichkeit, des Allgemeinen zu und betrachtet die Zufälligkeit der abstrakten Subjektivität als Hindernis. Für Adorno ist diese Sicht einseitig und apologetisch, das Verhältnis von Zufall und Verfall stellt sich für ihn anders, komplexer dar: Die bloße Gegenüberstellung von Verbindlichkeit und Zufälligkeit, von Substantialität und Kontingenz führe auf ein einfaches, undialektisches Verständnis des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem zurück. Diese bilden aber, so Adorno, keinen einfachen Gegensatz: Das Allgemeine sei „kein der Individualität bloß Übergestülptes, sondern ihre inwendige Substanz“.²⁷ Dies bedeutet, dass jede „Abweichung“ des einzelnen Subjekts vom Allgemeinen, jeder „Verlust an Verbindlichkeit“, nicht allein der Hybris des kontingenten Einzelnen zuzurechnen ist, sondern aus diesem Allgemeinen selber herrührt. Der Ursprung des historischen „Verfall[s] von Individualität“ ist daher tiefer zu verorten, als Hegel es nahelegt. Er ist nicht allein in einer Verzerrung des Verhältnisses des Subjekts zum Allgemeinen (Unverbindlichkeit) fundiert, sondern das Allgemeine selbst, die Strukturen der Gesellschaft und ihre Ideologie, sind an der Formierung der Verzerrung beteiligt. Genau aus diesem Grund kann die „Verbindlichkeit“ als Verbundenheit mit dem Allgemeinen vor dem Verfall nicht retten. Hierin besteht Adornos Differenz zu Hegels Position. Denn nach Adorno diagnostiziert Hegel das Problem zutreffend, sein Lösungsversuch verwickelt sich jedoch in das Problem, verfängt sich in ihm und vertieft es. Kontingenz, die Zufälligkeit des Subjekts, zeugt von dessen Unbeständigkeit, von einer Öffnung, die jene Verbindlichkeit, jene Bindung an Substantialität verhindert. Adorno stellt sich dabei nicht ausschließlich auf die Seite des kontingenten Einzelnen. Er schließt sich der Hegelschen Auffassung an, wonach das Besondere lediglich eine Kategorie des Allgemeinen sei,verleiht dieser Auffassung jedoch eine andere Bedeutung. Das Besondere wird demnach zwar durch das Allgemeine formiert, es kann nur in den Strukturen des Allgemeinen ent- und bestehen; dabei ist aber gerade die Zufälligkeit eine Folge des objektiven, histo Zur logischen Bedeutung dieser These vgl. Dieter Henrich, „Hegels Theorie über den Zufall“, in Hegel im Kontext, Frankfurt am Main 1971, S. 157– 186; hier S. 169; zur moralisch-tragischen Bedeutung vgl. Menke, Tragödie im Sittlichen, S. 28. Adorno, Negative Dialektik, S. 344.
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rischen Prozesses. „Zufall“, so Adorno, „ist das geschichtliche Schicksal des Einzelnen, sinnlos, weil der geschichtliche Prozeß selber es blieb, der Sinn usurpierte.“²⁸ Damit erweist sich das, wovor Hegel warnt, als Folge seiner eigenen Auffassung. Die Zufälligkeit, auf die das Individuum „zu regredieren droht“, ist kein immanenter, freiwilliger Charakter des Individuums, sondern sein „geschichtliches Schicksal“, verursacht durch den „gesellschaftlichen Prozeß“. Die prekäre Lage des Besonderen zeigt sich als aporetisch: Seine Zufälligkeit führt zum „Verlust an Verbindlichkeit“ und damit zum „Zerfall“ (in diesem Zug stimmt Adorno mit Hegel überein), die Zufälligkeit wird jedoch durch das Allgemeine selbst, durch den historischen Prozess hervorgerufen und bedingt (so argumentiert Adorno gegen Hegel). Der „Zerfall von Individualität“ führt auf ihre Zufälligkeit zurück, diese wiederum erweist sich als nicht zufällig, sondern als notwendig, weil historisch bedingt. An diesem Punkt einer inneren Spannung im Verständnis des ohnmächtigen und kontingenten Einzelnen selbst setzt Adornos eigene Auffassung des Besonderen an. Sie lässt sich in dieser Hinsicht als ein negatives Spiegelbild der Hegelschen vorstellen: Versteht Hegel die Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem als die Identität beider, als die Aufhebung des Besonderen im Allgemeinen, so ist es nach Adorno das Besondere, das in sich die Strukturen des Allgemeinen enthält (als seine Substanz), um damit die Differenz, das eigene Anderssein auszudrücken. Optiert Hegel für das Allgemeine als die anzustrebende Identität von Allgemeinem und Besonderem, so stellt sich Adorno auf die Seite des Besonderen als Nichtidentität. Individualität ist demzufolge weder deckungsgleich mit einer Bindung an das Allgemeine noch mit der totalen Abweichung von diesem – und das heißt: Sie ist weder das, was Hegel anvisiert, noch Gegenstand seiner Kritik. Sie ist ein Verhältnis zum Allgemeinen, eine Auseinandersetzung mit diesem und zugleich stets zufällig, kontingent, nicht identisch und nicht gänzlich identifizierbar. Betrachtet Hegel die Zufälligkeit des Besonderen als ursächlich für den Zerfall, so sind in Adornos Sicht beide – Zufall und Zerfall – Aspekte der Individualität in ihrer wahren Form. Um die Bedeutung des Zufalls für seine Auffassung der Individualität darzustellen, setzt er sich ausgerechnet mit einer Formulierung aus Hegels Rechtsphilosophie, die sich auf die historische Relevanz des Zufälligen bezieht, auseinander. Sie sei hier daher in Gänze angeführt: Was von der Natur des Zufälligen ist, dem widerfährt das Zufällige, und dieses Schicksal eben ist somit die Nothwendigkeit, wie überhaupt der Begriff und die Philosophie den Gesichtspunkt der bloßen Zufälligkeit verschwinden macht und in ihr, als dem Schein, ihr Wesen, die Nothwendigkeit, erkennt. Es ist nothwendig, daß das Endliche, Besitz und Leben als Zu-
Ebd., S. 354.
3.2 Zufall und Zerfall. Individualität im prekären Zustand
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fälliges gesetzt werde, weil dieß der Begriff des Endlichen ist. Diese Nothwendigkeit hat einer Seits die Gestalt von Naturgewalt und alles Endliche ist sterblich und vergänglich.²⁹
Die Anführung dieser Formulierung gerade an dieser Stelle ist bemerkenswert, weil sie sich zwar auf das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem bezieht, jedoch nicht in subjektivitäts-, sondern in staatstheoretischer Hinsicht, und zwar nicht in Bezug auf das Verhältnis des Staates zum Individuum, das heißt zum Bürger, sondern auf das Verhältnis zwischen Staaten. Der Titel des Abschnitts lautet „Die Souveränität nach außen“. Bemerkenswert dabei ist auch die Bedeutung, die dem Besonderen in diesem Zusammenhang zugeschrieben wird: „Das Moment, worin die Idealität des Besonderen ihr Recht erhält und Wirklichkeit wird“ – ist das des Krieges. Hegel bezieht sich in dieser Formulierung freilich auf ganz andere Ideen als die, die Adorno in seinem Hegel-Exkurs verhandelt. Dessen ungeachtet hat seine Auseinandersetzung mit Hegels Begriff des Zufälligen ihre eigene Relevanz. Wie die angeführte Stelle zeigt, ist das Zufällige für Hegel deckungsgleich mit dem Unbeständigen: Es sei ein Schein und somit vergänglich, historisch verschwindend. Das Allgemeine – in diesem Zusammenhang der preußische Staat – sei hingegen das „Nothwendige“ und somit das Beständige, das historisch überlebt. Hegels Maßstab ist insofern die historische Überlebenskraft: Das Beständige sei notwendig, das Verschwindende zufällig und bedeutungslos. Darin sieht Adorno einen verhängnisvollen Fehlschluss. Hegels Fehler bestehe darin, dass er über Wahrheit und Unwahrheit nach historischen – und das heißt äußerlichen – Kriterien entscheide und dabei vom immanenten Gehalt des jeweiligen Moments absehe. Dieser immanente Gehalt – für Adorno: der Wahrheitsgehalt – steht in keinem Verhältnis zur Überlebenskraft. Vielmehr ist es gerade das Wahre, das sich als zerbrechlich und vergänglich erweist. Der Widerspruch, den Hegel zwischen Zufälligkeit und Wahrheit (als Notwendigkeit) sieht, ist folglich ein falscher, weil damit das Zufällige allein wegen seiner Zufälligkeit – das heißt: tautologisch und ohne einen konkreten Grund – verworfen wird. Solche „geschichtliche Kontingenz“ steht im Gegensatz zu Hegels Ansicht vom Sinn der Geschichte, weil sie eine historische Vollendung der Naturgeschichte, des Weltgeistes, nicht anerkennt. Stattdessen spricht Adorno vom Schicksal, vom „geschichtlichen Schicksal“ des Einzelnen, der gerade durch den Zufall bestimmt werde. Was Hegel als Verfallstendenz des Individuums kritisiert, ist insofern für Adorno dessen Schicksal – aber auch, potentiell, seine Wahrheit. Eine Wahrheit freilich, die
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 324, S. 492; zit. in Adorno, Negative Dialektik, S. 350.
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sich nicht in allgemein verständliche Begriffe übersetzen ließe. Sie muss daher stets idiosynkratisch, kontingent und negativ bleiben. Aus dieser Perspektive erhält auch die Rede vom Verfall der Individualität eine andere Bedeutung. Nach Hegel wäre der Verfall ein Zeichen der Unwahrheit des einzelnen Subjekts gegenüber dem Ganzen; für Adorno hingegen gehört diese Idee immanent dem Begriff des Besonderen an. Es ist vielleicht kein Zufall, dass das Hegel-Kapitel der Negativen Dialektik gerade mit einer, freilich etwas kryptischen, Bezugnahme auf Walter Benjamin endet. Adorno konfrontiert dabei Hegels und Benjamins Auffassung der Naturgeschichte miteinander und stellt sich auf Benjamins Seite. Während Hegel das Zufällige aufgrund dessen minderer, nichtiger Stellung in der Weltgeschichte negiert, stellt Adorno im Anschluss an Benjamin fest: „Das Moment jedoch, in dem Natur und Geschichte einander kommensurabel werden, ist das von Vergängnis.“³⁰ Dabei bezieht sich der Begriff Vergängnis auf die naturgeschichtliche Bedeutung des Besonderen, Zufälligen; auf das, was nicht überlebt, keine historische Vollendung – im Hegelschen Sinne – erreicht und daher nur eine ephemere Existenz hat, die im Verfall endet. Benjamins Begriff dafür ist die Ruine. Die Ruine ist zugleich die historische Wahrheit des Besonderen, dessen also, was sich nicht niederschlägt, keine Verbindlichkeit gewinnt, sich der Allgemeinheit nicht fügt.Wahre Individualität ist insofern per definitionem immer eine Ruine, immer durch den unentbehrlichen Verfall gekennzeichnet. Zufälligkeit (Zufall) und Vergänglichkeit (Vergängnis, Zerfall) sind beide in Adornos Augen wesentliche Dimensionen von Individualität, sofern diese durch das Besondere, das nichtidentische Moment bestimmt wird und dem Allgemeinen inkommensurabel bleibt. Die Rede vom Verfall der Individualität ist dabei allerdings doppeldeutig: Zunächst betrachtet Adorno, im Anschluss an Hegel, den Prozess einer Auflösung der Beziehung des Individuums zur Gesellschaft, der mit der modernen Individualisierungstendenz zusammenhängt. (Adorno nennt diese Tendenz oft „Pseudo-Individualisierung“, weil sie letztendlich das Individuum noch stärker an die Ideologie der Gesellschaft bindet.)³¹ Hier trifft Hegels Diagnose eines „Verlusts an Verbindlichkeit“ durchaus zu, sofern sie auf eine zunehmende Entfremdung des Einzelnen vom gesellschaftlichen Ganzen hinweist. Zugleich ist eine bestimmte Verfallstendenz jeder wahren Individualität immanent, sofern sie mit dem herrschenden Allgemeinen uneins ist. Solche Nichtidentität des Besonderen (mit dem Allgemeinen) ist in ihrer Negativität zugleich Ursprung seiner Wahrheit – und ebenso seiner Vergänglichkeit, seiner prekären Lage und schließlich seines (historischen) Verfalls.
Adorno, Negative Dialektik, S. 353. Vgl. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 424– 425.
3.3 „Nach Auschwitz“. Die Affizierung der Subjektivität
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3.3 „Nach Auschwitz“. Die Affizierung der Subjektivität Adornos Kritik an Hegels theoretischem „Optieren für die Liquidation des Besonderen“ bleibt nicht, getreu der Hegelschen Methode, eine abstrakt-begriffliche, sondern bezieht sich zugleich auf die konkreten, gesellschaftlichen Ausdrucksformen dieser Liquidation. Von einer „Liquidation des Besonderen“ zu sprechen, heißt demnach nicht nur, ein Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem in Frage zu stellen, in dem das einzelne Individuum zugunsten des bestehenden Ganzen preisgegeben wird. Es ist zugleich die Beschreibung eines gesellschaftlichen Prozesses, in dem die Individuen selbst, aus sich heraus, ihre Individualität einbüßen, sich der Ideologie des Bestehenden fügen. In welchem Verhältnis jedoch diese beiden Seiten der Rede von der „Liquidation des Besonderen“ – die abstrakt-begriffliche Hegel-Kritik und die konkret-phänomenologische Sozialkritik – zu den Überlegungen stehen, die Adorno in Bezug auf die Erfahrungen der Menschenvernichtung anführt, bedarf einer weiteren Erläuterung. Zunächst ist festzustellen, dass Adorno an keiner Stelle einen eindeutigen systematischen Zusammenhang zwischen Hegels theoretischem Standpunkt und den Ereignissen der Menschenvernichtung herstellt.³² In seinen Überlegungen, allen voran den „Meditationen zur Metaphysik“, trennt er jedoch nicht zwischen Hegel-Kritik, Gesellschaftskritik und Reflexionen über die tatsächlich und buchstäblich systematisch geschehene Liquidierung von Individuen. Die Einsichten über die Verunmöglichung von Individualität in der Moderne ebenso wie die negativ-kritische Konzeption der Subjektivität erhalten angesichts dessen, was sich in „Auschwitz“ ereignete, eine weitere, noch negativere Bedeutung.³³ Sie Dies im Gegensatz zu manchen anderen Denkern, vor allem zu Georg Lukács in seiner historischen Studie Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1988 [1954]. Hingegen stellt Yirmiyahu Yovel in seiner systematischen Untersuchung von Hegels Werken fest, Hegels Ansichten seien – trotz seiner in mancher Hinsicht dem Zeitgeist entsprechenden ablehnenden Haltung zum Judentum – letztendlich nicht als antisemitisch zu bezeichnen. Vgl. Yirmiyahu Yovel, Dark Riddle. Hegel, Nietzsche, and the Jews, Cambridge 1998. Ich setze im Folgenden den Namen „Auschwitz“ stets in Anführungszeichen, weil die Rede davon zugleich im Sinne eines direkten und eines indirekten Bezugs gemeint ist: Der Name bezeichnet das spezifische Konzentrationslager ebenso wie die Ereignisse, die dort und an vielen anderen Orten geschehen sind. Bei seiner Verwendung des Namens Auschwitz als eines allgemeinen Ausdrucks für die Ereignisse der nationalsozialistischen Menschenvernichtung war sich Adorno wahrscheinlich nicht dessen bewusst, dass eine solche allgemeine Bezeichnung zur Verselbständigung dieses Ausdrucks im deutschen Diskurs führen würde, wogegen er sich am stärksten gewehrt hätte. Um der Begrifflichkeit Adornos einigermaßen treu zu bleiben und dabei eine solche Verselbständigung zu vermeiden, verwende ich Anführungszeichen. Damit lässt sich das Problem zwar keineswegs umgehen, denn es lässt sich auf keine Weise umgehen – die Anführungszeichen können und sollen nur auf die Differenz und auf das Problem der Ver-
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verleihen der Idee einer „Negativität der Negativität“ auf eine fatal-ironische Weise eine weitere negativ-dialektische Wendung. Dass, wie Hegel gemeint habe, „das Unveränderliche Wahrheit sei und das Bewegte, Vergängliche Schein, die Gleichgültigkeit von Zeitlichem und ewigen Ideen gegen einander“, ist nach Adorno „nicht länger zu behaupten“.³⁴ Die erste „Meditation zur Metaphysik“ schließt insofern genau an die Kritik an, die Adorno gegen Hegels Absage an das Besondere, Zufällige und Abweichende vorträgt. Diese Absage findet, so Adornos Grundbeobachtung, in den Erfahrungen von „Auschwitz“ ihren erschreckend radikalen Ausdruck. Während Adorno die Herstellung eines direkten Zusammenhangs zwischen Hegels Identitätsthese und den Ereignissen der Menschenvernichtung vermeidet, ist es dennoch ersichtlich, dass für ihn die Idee des Identitätsprinzips und des Identitätsdenkens in einem bestimmten Verhältnis zu den Geschehnissen steht.Worin dieses Verhältnis genau besteht, wird jedoch nicht weiter erläutert und soll hier genauer untersucht werden.
Bedeutungsverschiebung und kein Sinn Der Ausdruck „nach Auschwitz“, den Adorno in den „Meditationen zur Metaphysik“ wie an mehreren anderen Stellen gebraucht, ist von einem eigentümlichen Widerspruch begleitet. Einerseits argumentiert Adorno kritisch dagegen, dass aus dem Schicksal der Opfer „ein sei’s noch so ausgelaugter Sinn gepreßt wird“.³⁵ Er warnt unmissverständlich davor, dass aus den Ereignissen der Menschenvernichtung eine positive Schlussfolgerung, eine feste Lehre gezogen wird, die den Ereignissen einen historischen oder politischen Sinn verleiht. Andererseits verbindet sich bei ihm mit dem Ausdruck „nach Auschwitz“ der Gedanke, die Ereignisse der Menschenvernichtung hätten nicht nur einen unverkennbaren Sinn, sie hätten überhaupt die Art und Weise verändert, in der über Metaphysik und damit über Philosophie insgesamt nachgedacht werden muss. „Gelähmt ist die Fähigkeit zur Metaphysik, weil, was geschah, dem spekulativen metaphysischen Gedanken die Basis seiner Vereinbarkeit mit der Erfahrung zerschlug.“³⁶ Die Rede von einer „Fähigkeit zur Metaphysik“, die auf Erfahrung basiert, ist nicht selbstverständlich. Metaphysik bezeichnet vielmehr in der Geschichte der Philosophie gerade jene Aspekte des Denkens, die der Erfahrung transzendent, un-
selbständigung selbst hinweisen. Zum Themenkomplex von „Auschwitz“ als Begriff vgl. Bernstein, Adorno, S. 372– 373; Morgan, Adorno’s Concept of Life, S. 24– 25; Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt am Main 2003, S. 25 – 28. Adorno, Negative Dialektik, S. 354. Ebd. Ebd., S. 355.
3.3 „Nach Auschwitz“. Die Affizierung der Subjektivität
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zugänglich sind. Adorno hingegen denkt Metaphysik „erfahrungsabhängig“, und das heißt: materialistisch.³⁷ Noch stärker: „Metaphysik kann überhaupt nichts anderes mehr sein als Nachdenken über Metaphysik.“³⁸ Ein Nachdenken über Metaphysik bedeutet folglich eine subjektive Reflexion, ein Verhältnis des Subjekts zu den Kategorien der Wirklichkeit, zu ihrer Metaebene. Wenn Adorno insofern Metaphysik als erfahrungsabhängig, als subjektive Reflexion über das Metaphysische (und das heißt: über das Absolute) begreift, dann bedeutet eine „Lähmung“ der „Fähigkeit zur Metaphysik“, dass das Verhältnis des erfahrenden Subjekts zum metaphysischen Absoluten als Gegenstand seiner Reflexion beschädigt wäre. Die Beschädigung lässt sich insofern als eine Verzerrung des Verhältnisses zwischen dem erfahrenden Subjekt und dem erfahrenen Objekt beschreiben, wobei sich das Subjekt selbst als ein Objekt erfährt, das auf das Geschehen, das ihm widerfährt, nicht mehr einwirken kann.³⁹ Insofern lässt sich den Ereignissen der Menschenvernichtung kein Sinn „abgewinnen“, keine allgemeine Lehre kann daraus gezogen werden; zugleich bedeuten sie aber eine radikale Veränderung von Kategorien – und das heißt vor allem: eine Veränderung der metaphysischen Kategorien von Subjekt und Objekt (sofern die Bestimmung „metaphysisch“ sich auf subjektive Erfahrung bezieht) und ihres Verhältnisses zueinander. Obwohl sich beide Aspekte – die Sinnlosigkeit von „Auschwitz“ und die radikale Bedeutungsverschiebung der Begriffe und Kategorien „nach Auschwitz“ – zu widersprechen scheinen, handelt es sich dabei schließlich nicht um ein Paradox. Denn die Bedeutungsverschiebung, von der in Adornos Negativer Dialektik oft die Rede ist, bedeutet keinen „Sinngewinn“ aus „Auschwitz“. Es handele sich dabei nicht um eine metaphysische oder historische Zäsur, sondern um einen Kulminationspunkt (so Adornos eigentliche These, die er mit Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung aufstellt) einer historischen Entwicklung, deren materiale Fundamente in der Entstehung der modernen Subjektivität als Herrschaft des Menschen über die Natur zu Zwecken der Selbster-
Christoph Menke, Spiegelungen der Gleichheit, Frankfurt am Main 2004, S. 184– 199; hier S. 193. Adorno, Metaphysik, S. 156. Zu den praktisch-philosophischen Aspekten dieser Beschädigung vgl. Menke, Spiegelungen der Gleichheit, S. 199: „‚Nach Auschwitz‘ ist für Adorno der Name für eine Situation, in der die Fähigkeit zu dieser metaphysischen Idee [des Glücks] gelähmt ist, weil dem Erfahrenden der Zusammenhang zwischen dem, was er tut, und dem, was ihm widerfährt, zerbrochen ist.“ Dass dieser Zusammenhang zerbrochen ist, bedeutet nach meiner Lesart, dass die – metaphysischen oder nicht-metaphysischen – Kategorien, in denen sich das Subjekt versteht, außer Geltung geraten sind: Das Verhältnis von Subjekt und Objekt kann nicht mehr so aufgefasst werden wie bisher und muss grundsätzlich umgedeutet werden.
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haltung liegen.⁴⁰ Diese Entwicklung kulminiert in „Auschwitz“ als dem Ausdruck einer Verkehrung des Verhältnisses von Besonderem und Allgemeinem, in der die Aufhebung des Besonderen im Allgemeinen durch dessen endgültige Auslöschung zu geschehen droht. „Nach Auschwitz“ ist insofern nicht im engeren Sinne temporal zu verstehen, da die Tendenz zur „Liquidation des Besonderen“ auch vor „Auschwitz“ bestand; es wäre vielmehr als „angesichts von Auschwitz“ zu deuten: im Hinblick auf die Erfahrungen, die damit für immer assoziiert sind. Angesichts von „Auschwitz“, so Adorno, erweist sich „jegliche Behauptung von Positivität des Daseins als Salbadern, Unrecht an den Opfern“;⁴¹ es sei nicht mehr möglich, „die Positivität eines Sinnes in dem Sein zu urgieren“.⁴² Damit begründet er seine These, angesichts von „Auschwitz“ müsse sich überhaupt der Status der Metaphysik verändern, sofern diese dem Sein und der Geschichte einen positiven, und das heißt: verständlichen und kohärenten Sinn zu verleihen beabsichtige.⁴³ Davon ist nicht zuletzt der für Adornos Denken besonders zentrale Begriff der Negativität betroffen. Insofern Negativität nach Adorno eine Grundbestimmung wahrer, weil kritischer Subjektivität darstellt, ist die gesamte negativsubjektive Konstellation, das Verhältnis von Subjektivität und Negativität in seinen verschiedenen Facetten, von der Bedeutungsverschiebung des Negativitätsbegriffs nach „Auschwitz“ betroffen.⁴⁴ Jenes Verständnis des Nichtidentischen, Inkommensurablen am Subjekt, das Theunissen als „absolute Negativität“ bezeichnet und damit Adornos gedankliche Nähe zu Kierkegaard deutlich zum Vorschein bringt, erhält hier eine andere, negativere Deutung. Denn von einer „absoluten Negativität“ spricht Adorno ebenfalls in Bezug auf „Auschwitz“. „Auschwitz“ steht demnach für die „absolute „Nicht bloß mit der Entfremdung der Menschen von den beherrschten Objekten wird für die Herrschaft bezahlt: mit der Versachlichung des Geistes wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext, auch die jedes Einzelnen zu sich. Er schrumpft zum Knotenpunkt konventioneller Reaktionen und Funktionsweisen zusammen, die sachlich von ihm erwartet werden.“ Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 45. Adorno, Negative Dialektik, S. 354. Adorno, Metaphysik, S. 160. Dies ist jedoch nicht mit einer negativistischen Geschichtsphilosophie zu verwechseln. Von der Frage, ob Adorno eine negative, und das heißt: rein pessimistische Geschichtsphilosophie vertritt, sehe ich hier ab. Auch hier: „Nach Auschwitz“ ist nicht als temporaler Ausdruck gemeint. Denn historisch gesehen wurden alle bedeutenden Schriften Adornos nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst und damit zeitlich „nach Auschwitz“. Der Ausdruck „nach Auschwitz“ ist besonders hier als systematisch zu verstehen: „Auschwitz“ habe zu einer systematischen, konzeptionellen Verschiebung der Begriffe und Kategorien geführt. Die Auseinandersetzung mit der Verschiebung „nach“ (und das heißt: „angesichts von“) „Auschwitz“ bezieht sich daher systematisch auf die Begriffe und Kategorien und auf die Bedeutung, die ihnen durch die Erfahrungen der Menschenvernichtung anhaftet.
3.3 „Nach Auschwitz“. Die Affizierung der Subjektivität
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Negativität“ überhaupt. Auch hier bestimmt das „Unausdenkbare und Unsägliche“ die Konstitution des Subjekts, allerdings auf eine andere Weise als bislang gemeint. Die Bedeutung des Negativen erfährt nunmehr selbst eine Verschiebung. Argumentierte Adorno bislang begrifflich-konzeptionell gegen die Hegelsche Figur einer „Negation der Negation“ als Positives, so zeigt – angesichts von „Auschwitz“ – die historische Facette dieser Figur ihre grausamen Züge. Im zweiten, begrifflichen Teil der Negativen Dialektik behauptet er, „Die Gleichsetzung der Negation der Negation mit Positivität ist die Quintessenz des Identifizierens, das formale Prinzip auf seine reinste Form gebracht.“⁴⁵ Die erste „Meditation zur Metaphysik“ gibt dieser logischen Behauptung ihren historischen Gehalt. Dieser besagt, dass das Negative – hier als das Nichtidentische, Besondere, radikal Andere – historisch und real negiert wurde. Sofern die Formel einer „Negation der Negation“ als Positives weiterhin ihre Gültigkeit behält, ist sie nun in ihrer historisch-objektiven erschreckenden Ironie zu verstehen. Die Positivität erweise sich als eine Integration des negierten Besonderen in das negierende Allgemeine: Der Völkermord ist die absolute Integration, die überall sich vorbereitet, wo Menschen gleichgemacht werden, geschliffen, wie man beim Militär es nannte, bis man sie, Abweichungen vom Begriff ihrer vollkommenen Nichtigkeit, buchstäblich austilgt. Auschwitz bestätigt das Philosophem von der reinen Identität als dem Tod.⁴⁶
Damit wird „Auschwitz“ keine philosophische Bedeutung verliehen – oder „abgewonnen“, (heraus‐)“gepresst“ in Adornos Worten –, sondern es wird gezeigt, verdeutlicht und unmissverständlich bewiesen, dass und inwiefern von metaphysischen, oder noch allgemeiner: philosophischen Kategorien wie jenen des Besonderen, des Individuums, sogar der Subjektivität nicht mehr im selben Sinn wie „vor Auschwitz“ gehandelt werden kann. Denn mit den konkreten Individuen, die in „Auschwitz“ liquidiert wurden,verändert sich überhaupt die Bedeutung, die Art und Weise, in der das Individuum als ein Besonderes, Singuläres, Partikuläres gedacht werden kann. Das ist die relevante Grundthese der „Meditationen zur Metaphysik“: Das Geschehene stellt fundamentale (und in diesem Sinne metaphysische) philosophische Kategorien und Begriffe auf eine derart radikale Weise in ein anderes Licht, dass diese nicht mehr so verwendet werden können wie zuvor. Die negative Bedeutungsverschiebung der Kategorien und Begriffe wird von Adorno durch mehrere Argumente erläutert. Durch den unsystematischen, aphoristischen Charakter des Textes werden
Adorno, Negative Dialektik, S. 161. Ebd., S. 355.
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die Argumente jedoch neben- und ineinander dargelegt, sie durchdringen einander, wie oft in der Wirklichkeit; die Aufmerksamkeit für jedes einzelne Argument wird dadurch allerdings erschwert. Vor allem scheint es mir problematisch, dass nicht unterschieden wird zwischen objektiven Argumenten, die sich auf das Thema aus objektiv-allgemeiner sozialhistorischer Perspektive beziehen, und subjektiven Argumenten, die die Zerstörung aus der Perspektive des Beschädigten, des Opfers und Überlebenden betrachten. Adorno erhebt implizit den Anspruch, in seiner Darstellung beides miteinander zu verknüpfen: die Deutung der Vernichtung in ihrer gesellschaftlich-historischen Relevanz und ihre Beschreibung aus der Innenperspektive der Opfer. Eine Unterscheidung beider Ebenen würde es aber erlauben, die Dimensionen und die genauere Bedeutung seiner These von der „Liquidation des Besonderen“ exakter darzustellen.
Historisch reale, zerstörerische Integration Die objektive und die subjektive Ebene unterscheiden sich voneinander zunächst hinsichtlich ihrer Blickrichtung auf das Geschehene und hinsichtlich des Erklärungsansatzes: Auf der objektiven Ebene der Darstellung erscheint die Liquidation als Teil und Ausdruck eines historischen Prozesses, der mit einem bestimmten Denktypus – Identitätsdenken – verbunden ist. Die subjektive Ebene beschreibt die innere Zerstörung, die innere Auflösung von Subjektivität, der Innerlichkeit der Subjekte selbst. Aber was die beiden Ebenen voneinander trennt, ist mehr als das: Sie unterscheiden sich auch in der Form, in welcher Subjektivität, ihre Möglichkeit und ihre Verunmöglichung überhaupt begriffen werden. Wenn in historischer Hinsicht bei Adorno von einer „Liquidation des Besonderen“ die Rede ist, so ist dies nicht in einem übertragenen, sondern in einem ganz realen, konkreten Sinn gemeint, als die praktisch und real geschehene Vernichtung von Individuen. Aber die real-konkrete „Liquidierung“ wirkt zurück auf das Verständnis von Individualität selbst: Die Gleichsetzung von „absoluter Integration“, „absoluter Negativität“ und absoluter, d. h. „reiner Identität“ bedeutet auf eine makabre Weise, dass die Identität von Besonderem und Allgemeinem eine Integration beider ist, die durch die buchstäblich-reale Negation des Besonderen „hergestellt“ wird: durch dessen Liquidierung. Im Ausdruck „Liquidation des Besonderen“ verbindet Adorno freilich zwei Deutungen miteinander, eine begriffslogische (entfaltet durch die Kritik an Hegel) sowie eine historischreale (auf die Ereignisse von „Auschwitz“ bezogen). Während er zwar, wie oben erwähnt, keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Hegels Denken und den historischen Ereignissen feststellt, führt Adorno gleichwohl den gedanklichen Hintergrund, der mit der Fähigkeit zu einem solchen realen Vernichtungswillen in einem systematischen Zusammenhang steht, auf die gesellschaftliche Verbreitung
3.3 „Nach Auschwitz“. Die Affizierung der Subjektivität
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eines bestimmten Denktypus zurück: einer Denkungsart, die auf dem Identitätsprinzip beruht. Das Denken der Identität ist demnach das Verbindungsglied zwischen beiden Deutungen der „Liquidation des Besonderen“, zwischen der Kritik an Hegels Identitätsthese und einer gesellschaftlich verbreiteten Denkform, die auf dem Prinzip ebendieser Identität beruht. Eine solche Denkform ist durch die Unfähigkeit gekennzeichnet, das Andersartige und Inkommensurable überhaupt wahrzunehmen, zu denken und zu reflektieren. Das Inkommensurable erscheint vielmehr als Hindernis, als eine Verletzung des Identitätsprinzips, und muss deshalb beseitigt, „gleichgemacht werden, geschliffen“. Auch hier handelt es sich um ein Prinzip des Denkens, das einen wesentlichen Zug der modernen bürgerlichen Gesellschaft bildet und in „Auschwitz“ seinen radikalen Ausdruck findet.⁴⁷ „Auschwitz“ ist auch in dieser Hinsicht keine Abweichung vom Geschichtsverlauf, sondern Ausdruck einer bestehenden Tendenz.⁴⁸ Die „Vernichtung des Nichtidentischen“, die sich dabei realisierte, die „in den Lagern ihr erstes Probestück lieferte“, ist nach Adorno eine, die schon im vorangehenden Geschichtsverlauf „teleologisch lauert[e]“.⁴⁹ In „Auschwitz“ wird aber die bislang begriffslogisch abstrakte Vernichtung real, das Identitätsprinzip verwirklicht. Die Idee der Identität von Allgemeinem und Besonderem verwirklicht sich in diesem Sinne teleologisch zur tatsächlichen Vernichtung dessen, was als nichtidentisch erscheint.⁵⁰ Dies ist Adornos systemati-
In der Rekonstruktion dieser These über die Kontinuität von „Auschwitz“ und der sozialhistorischen Tendenz knüpfe ich an Bernsteins Lesart an. „At least part of the intelligibility of Auschwitz is that it is utterly continuous with, fulfils and exemplifies the destruction of individuality and particularity that the disenchantment of the world and the rationalization of reason have been preparing from the beginning of the modern epoch.“ Bernstein, Adorno, S. 380. Hinzu kommt, dass Adorno in einem anderen Text aus dem gleichen Jahr feststellt, dass die gesellschaftlichen Bedingungen – und das heißt: die Form des Denkens und des Bewusstseins –, die zu Auschwitz führten, auch Jahrzehnte nach den Ereignissen weiterbestehen. „Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, sondern Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern. Das ist das ganze Grauen. Der gesellschaftliche Druck lastet weiter, trotz aller Unsichtbarkeit der Not heute. Er treibt die Menschen zu dem Unsäglichen, das in Auschwitz nach weltgeschichtlichem Maß kulminierte.“ Adorno, „Erziehung nach Auschwitz“, in Kulturkritik und Gesellschaft II, GS 10.2, S. 674. Adorno, Negative Dialektik, S. 355. In ihrem Essay über die „Elemente des Antisemitismus“ aus der Dialektik der Aufklärung behaupten Horkheimer und Adorno, die jüdischen Opfer der Menschenvernichtung seien für die Liquidatoren das „negative Prinzip“ gewesen, das allein durch dessen Dasein das Identitätsprinzip verletzt. „Für die Faschisten sind die Juden nicht eine Minorität, sondern die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches; von ihrer Ausrottung soll das Glück der Welt abhängen.“ Horkheimer und Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 192. Dabei bezieht sich Adornos These von der Liqui-
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sche Erklärung der philosophischen Bedeutung jener Ereignisse der Menschenvernichtung, die zugleich einem objektiv-historischen Prozess entsprechen. Der Prozess einer fortschreitenden Auflösung von Individualität und Besonderheit, den die moderne Gesellschaft noch vor „Auschwitz“ kannte, zeigte demnach in „Auschwitz“ sein wahres Gesicht in radikalster Form. Adornos „Meditationen“ beschäftigen sich aber nicht nur, wie andere Schriften, mit der objektiv-historischen Tendenz und der geschichtsphilosophischen Bedeutung von „Auschwitz“. Vielmehr sind sie, in dieser Hinsicht den Minima Moralia ähnlich, als persönliche Reflexionen eines (bis zu einem bestimmten Grade) selbst Betroffenen geschrieben worden. Als solche umfassen sie verschiedene Gedanken über die innere Verfasstheit einer Subjektivität, die von der sonst objektiv-historisch beschriebenen Tendenz zur Liquidation des Besonderen betroffen ist. Mit anderen Worten: Die Meditationen zur Metaphysik handeln nicht nur von der objektiven Möglichkeit von Philosophie als Metaphysik „nach Auschwitz“ und von der Weise, in der diese Möglichkeit von dem Geschehenen „affiziert“ wird; sie beschäftigen sich vielmehr ebenso sehr mit dem Stand der Subjektivität selbst, nicht als einer metaphysischen Kategorie, sondern aus der Innenperspektive des betroffenen Subjekts. Der Satz aus der ersten „Meditation“, dass „in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar“, beschreibt das Verhältnis der objektiven und subjektiven Ebene der Liquidationsthese. Denn die objektive Perspektive bezieht sich auf die Methode der Liquidatoren, die die Opfer ihrer Singularität und Partikularität beraubten und sie zu bloßen Exemplaren, bar jeder individuellen Besonderheit, herabwürdigten. Der Satz ist aber durch eine gewaltige, makabre Ironie gekennzeichnet, denn subjektiv gesehen war jedes einzelne „Exemplar“ bis zum letzten Lebensmoment ein Individuum. Es handelt sich vielleicht um eine Übertreibung, die auf die radikale Bedeutung der Ereignisse für jede Auffassung des Selbst als eines dem äußeren Ganzen Inkommensurablen hinweist.⁵¹ Am Verständnis der Entwürdigung der Individuen zeigt sich die Differenz der objektiven Ebene der Betrachtung zur subjektiven, das heißt zur Ebene der Innerlichkeit der Betroffenen. Denn aus der objektiven Perspektive entspricht die Entsubjektivierung
dation des Besonderen zwar im engeren Sinn auf die Vernichtung der Juden in „Auschwitz“, als philosophische These geht sie aber über die spezifischen Ereignisse hinaus und bezieht sich – das wird in der „Metaphysik“-Vorlesung eindeutig – auf Ereignisse der Massenvernichtung und „die Welt der Tortur“ überhaupt. „Durch Auschwitz, und damit meine ich nicht Auschwitz allein, sondern die Welt der Tortur, die weitergeht nach Auschwitz und über deren Fortdauer wir ja aus Vietnam die entsetzlichsten Berichte empfangen, – durch die hat tatsächlich der Begriff der Metaphysik bis ins Innerste sich verändert.“ Adorno, Metaphysik, S. 160. Vgl. Alexander García Düttmann, Philosophie der Übertreibung, Frankfurt am Main 2004, S. 32– 53.
3.3 „Nach Auschwitz“. Die Affizierung der Subjektivität
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der Opfer der historischen Tendenz der Liquidation des Besonderen und des Verfalls der Individualität. Was die Sadisten im Lager ihren Opfern ansagten: morgen wirst du als Rauch aus diesem Schornstein in den Himmel dich schlängeln, nennt die Gleichgültigkeit des Lebens jedes Einzelnen, auf welche Geschichte sich hinbewegt: schon in seiner formalen Freiheit ist er so fungibel und ersetzbar wie dann unter den Tritten der Liquidatoren.⁵²
Auf diese makabre Weise sieht Adorno die quälenden Misshandlungen als eine Parabel dafür, dass das Leben des Einzelnen gegenüber dem Allgemeinen gleichgültig geworden ist. Hinsichtlich der subjektiven Ebene aber handeln die „Meditationen“ nicht nur von der Ohnmacht des Einzelnen angesichts der historischen Tendenz. Vielmehr werfen einige Überlegungen Adornos zur philosophischen Bedeutung von „Auschwitz“ ein anderes Licht auf das philosophische Verhältnis von Negativität und Innerlichkeit und damit auf seinen eigenen Begriff der Subjektivität. Sofern Adornos Konzeption der Subjektivität als eine negative aufgefasst werden kann, stehen die Überlegungen über die „Vernichtung des Nichtidentischen“ und die „reine Identität“, die sich auf die Erfahrungen von „Auschwitz“ beziehen, in einem komplexen Verhältnis zur Idee einer negativ aufgefassten Subjektivität. Ich werde abschließend die Komplexität dieses Verhältnisses an drei Punkten explizieren.
Die negative Dialektik kritischer Subjektivität: Die Beschädigung im Inneren Adornos Behauptung, infolge der Veränderung des „Stellenwert[s] der Metaphysik“⁵³ „nach Auschwitz“ könnten bestimmte philosophische Grundkategorien nicht mehr so aufgefasst werden wie bislang, betrifft in ihrem Kern Adornos Denken selbst. Es handelt sich dabei freilich nicht um eine geschichtliche Veränderung der Gedanken vor und „nach Auschwitz“, denn historisch gesehen wurden alle Überlegungen Adornos über die Bedeutung von Subjektivität während und nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben. Vielmehr möchte ich auf eine Spannung innerhalb der Überlegungen selber hinweisen, zwischen verschiedenen Aspekten, die oft im gleichen Werk oder in Schriften aus der gleichen Zeit zu finden sind: eine Spannung zwischen der Negativität der Subjektivitätskonzeption an sich und der Negativität, die in Bezug auf „Auschwitz“ in Erscheinung tritt. Dabei spielt der Begriff der Nichtidentität eine wichtige Rolle – als eine negative Bestimmung des Subjekts. Ich
Adorno, Negative Dialektik, S. 355. Adorno, Metaphysik, S. 160.
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möchte hier an zwei Sätze Adornos erinnern, die ich in anderen Stellen dieser Arbeit hinsichtlich ihrer Relevanz für die Konzeption der Subjektivität diskutiert habe und die hier in ein anderes Licht gestellt werden müssten. Wie oben in Bezug auf Adornos Konzeption der Innerlichkeit erläutert, wird nach Adorno das Subjekt selbst durch dessen Verhältnis zum Anderen in sich selbst bestimmt; zu dem, was am Subjekt selbst nicht Subjekt ist.⁵⁴ Nicht die Identität des Subjekts mit sich selbst, sondern die Nichtidentität, der Bezug zum Objektiven, Fremden, Anderen in sich, kennzeichnet eine Subjektivitätsform, die der Entfremdung entgegensteht, die in gewissem Sinn als wahr oder „wahrheitsfähig“ beschrieben werden kann.⁵⁵ All dies muss mit der Erfahrung der Entsubjektivierung, die die „absolute Negativität“ von „Auschwitz“ hervorbringt, eine grundsätzliche Bedeutungsverschiebung erfahren. Denn solche Erfahrungen betreffen das Verhältnis von Identität und Nichtidentität selbst. Es ist dabei gerade die „reine Identität“, die sich in der Entsubjektivierung vollzieht, die Verwandlung des Individuums in ein Exemplar, die „das Verhältnis des Subjekts zu dem, was es nicht selber ist“ bestimmt. Die Selbstidentität, die „eingefrorene Identität“ des Subjekts wird diesem zwar, wie es in Adornos Beschreibung heißt, „vorenthalten“ durch ein Anderes, durch das Objektive, allerdings in einem ganz anderen Sinn, als Adorno es meinte. Wenn Adorno in diesem Zusammenhang von einer „Vernichtung des Nichtidentischen“ spricht, so bedeutet dies eine Umkehrung der Theorie der Subjektivität als eines Nichtidentischen. Die Erfahrung von „Auschwitz“ zeigt, dass gerade die Auffassung der wahren Subjektivität als kritisch, nichtidentisch, als Widerstand gegen Entfremdung und Verdinglichung, angesichts der Negativität der „absoluten Integration“ jede Bedeutung verliert. Mit anderen Worten: Die „absolute Negativität“ der Geschichte, die sich in „Auschwitz“ realisiert hat, steht in einem zerstörerischen Verhältnis zur Idee der „absoluten Negativität“ im subjektivitätstheoretischen Sinn (als Unverständlichkeit, Inkommensurabilität und Nichtidentität): Jene erste verunmöglicht diese zweite. Der zweite Punkt, der das Verhältnis von Subjektivität und Negativität angesichts der Erfahrungen der Menschenvernichtung kompliziert, betrifft Adornos Kritik am Existentialismus, insbesondere an dem, was er Heideggers „Todesmetaphysik“ nennt. Dabei lässt sich zwar keine bedeutende Veränderung der Position Adornos zu Heidegger und zum Existentialismus feststellen, allerdings zeigt sich das Thema des Todes als in gewisser Hinsicht relevant für die Veränderung des Subjektivitätsbegriffs. Im Begriff des „Seins zum Tode“ versteht Heidegger den Vgl. oben Kap. II.2.3. „‚Das Innere des Nichtidentischen‘. Adornos Konzeption der Innerlichkeit.“ Vgl. oben Kap. III.1. „Glücksversprechen und Erfahrung. Die ‚Wahrheitsfähigkeit‘ der Negativität.“
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Tod als einen Horizont, der das Subjekt auf eine negative Weise bestimmt: Durch das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit werde demnach das Dasein, das einzelne Subjekt, auf seine individuelle Existenz, auf seine „Eigentlichkeit“ aufmerksam.⁵⁶ Für Adorno hat Heideggers Theorie ideologischen Charakter, da sie gerade in ihrer Negativität resignative und affirmative Konsequenzen hat. Sie sei nichts als der ohnmächtige Trost der Gesellschaft darüber, daß durch gesellschaftliche Veränderungen den Menschen abhanden kam, was ihnen einmal den Tod erträglich gemacht haben soll, das Gefühl seiner epischen Einheit mit dem gerundeten Leben.⁵⁷
Aber auch die „Todesmetaphysik“, die Adorno von Grund auf kritisiert und ablehnt, auch sie müsste angesichts von „Auschwitz“ umgedeutet werden. Denn so wenig grundsätzlich der Tod als Horizont des Lebens verstanden werden kann, zeigen die Erfahrungen des Massenmordes, dass Tod, Sterben und Sterblichkeit überhaupt in ihrer philosophischen Bedeutung anders gedacht werden müssen. Subjektiv gesehen muss der Massenmord „das Sterben auch derer affizieren, die der Maßnahme entgingen“.⁵⁸ Das Affizieren des Sterbens bedeutet, dass die Relevanz der Mortalität für das Selbstverständnis des Subjekts eine andere geworden ist. „Sogar die Erfahrung des Todes reicht nicht hin als Letztes und Unbezweifeltes“⁵⁹; „seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod“.⁶⁰ Sterblichkeit und Vergänglichkeit werden hier, als negative Bestimmungen des Subjekts, in einem weiteren negativen Sinn umgedeutet. Drittens lässt sich aus Adornos „Meditationen“ ein Gedanke herauslesen, der sich auf das Innere des Subjekts, auf die Liquidation und Beschädigung im Inneren bezieht. In diesem Sinn bedeutet die „Liquidation des Besonderen“ nicht nur die physische, sondern zugleich die psychische, innere Zerstörung jenes Bewusstseins der Nichtidentität, jener kritischen Negativität des Subjekts. Es ist vielleicht kein Zufall, dass dieser Gedanke – gewissermaßen im Widerspruch zu der These über Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2001 [1927], S. 235 – 240. Diese verkürzte Darstellung des Heideggerschen „Seins zum Tode“ erhebt nicht den Anspruch, den gesamten Rahmen der Konzeption verständlich zu machen und dient hier nur als Grundlage für die Darstellung der relevanten Überlegung Adornos. Vgl. dazu: Thomas Rentsch, Martin Heidegger – Das Sein und der Tod, München 1989; ferner: Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität, Frankfurt am Main 2007, S. 15 – 21. Adorno, Negative Dialektik, S. 362; mit Heideggers Philosophie setzt sich Adorno im „Jargon der Eigentlichkeit“ ausführlich auseinander. In den „Meditationen zur Metaphysik“ werden hingegen nur jene Aspekte genannt, deren Bedeutung durch die Erfahrung des Massentodes verändert wird; dazu auch: Adorno, Metaphysik, S. 167. Adorno, Negative Dialektik, S. 355. Ebd., S. 361. Ebd., S. 364.
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das Nichtsubjektive am Subjekt, die Adornos Beckett-Lektüre entfaltet – sich ebenfalls auf Samuel Beckett bezieht: Einer, der mit einer Kraft, die zu bewundern ist, Auschwitz und andere Lager überstand, meinte mit heftigem Affekt gegen Beckett: wäre dieser in Auschwitz gewesen, er würde anders schreiben, nämlich, mit der Schützengrabenreligion des Entronnenen, positiver. Der Entronnene hat anders recht, als er es meint; Beckett, und wer sonst noch seiner mächtig blieb, wäre dort gebrochen worden und vermutlich gezwungen, jene Schützengrabenreligion zu bekennen, die der Entronnene in die Worte kleidete, er wolle den Menschen Mut geben: als ob das bei irgendeinem geistigen Gebilde läge; als ob der Vorsatz, der an die Menschen sich wendet und nach ihnen sich einrichtet, nicht um das sie brächte, worauf sie Anspruch haben, auch wenn sie das Gegenteil glauben.⁶¹
In seiner „Metaphysik“-Vorlesung führt Adorno diesen Gedanken etwas weiter aus und zeigt, inwiefern gerade in solchen radikalen Grenzsituationen aus einer „Negation der Negation“ ein Positives entsteht, das sich jedoch als noch negativer erweist: als Ausdruck der Zerstörung im Inneren. Die Situationen, in denen die Menschen dann gezwungen werden, nur um überleben zu können, das „Positive“ zu denken, [sind] selber Zwangssituationen […], die sie so einschränken, so auf ihre pure Selbsterhaltung zurückwerfen, sie so sehr dazu zwingen, nur das zu denken, dessen sie bedürfen, um in einer solchen Situation überleben zu können, – daß dadurch der Wahrheitsgehalt dessen, was sie denken, hoffnungslos untergraben und gänzlich zerstört wird.⁶²
Der Beschädigung im Inneren entspricht oft das Schweigen über das Geschehene. Dass Adorno dabei (insbesondere wieder mit Bezug auf Beckett)⁶³ vom Verstummen spricht, vom Unvermögen des Subjekts, das Geschehene auszudrücken, mitzuteilen, hängt mit einem Gefühl zusammen, das viele Überlebende – und Adorno stützt seine Überlegungen in mehrerer Hinsicht auf Berichte von Überlebenden – in sich tragen. Es ist das Gefühl, die eigenen subjektiven Erfahrungen nicht mitteilen zu wollen oder zu können. Das Verhältnis des betroffenen Subjekts zum Allgemeinen, zur objektiven Wirklichkeit wird dann durch ein Geheimnis markiert, durch die subjektive Erfahrung, die dem konkreten, alltäglichen Leben nicht kommensurabel werden kann. Adorno spricht von den „Veränderungen in den Gesteinsschichten der Erfahrung, die durch
Ebd., S. 360 – 361. Adorno, Metaphysik, S. 194– 195; Hervorhebung im Original. Vgl. Adorno, „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, S. 303; Adorno, Ästhetische Theorie, S. 123.
3.3 „Nach Auschwitz“. Die Affizierung der Subjektivität
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diese Dinge bewirkt worden sind“.⁶⁴ Einerseits sind diese Erfahrungen durch ihre Inkommensurabilität und Unmitteilbarkeit gekennzeichnet, sie werden oft als ein Geheimnis (für die meisten Überlebenden ein sogar, subjektiv empfunden, beschämendes Geheimnis) gedacht,von dem man zu schweigen habe. Andererseits, so stellt Adorno fest, sind diese Erfahrungen nicht einfach in die Subjektivität des Erfahrenden auf[zu]lösen. […] Das Gefühl [der] Nichtigkeit eines jeden einzelnen von uns für das Ganze: das ist die in der objektiven gesellschaftlichen Entwicklung heute liegende Begründung jenes Gefühls auch unter den Bedingungen der formalen Freiheit.⁶⁵
Adorno, Metaphysik, S. 166. Adorno spricht in diesem Zusammenhang von Jean Amérys Aufsatz „Die Tortur“, der in dieser Zeit erschienen war. Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977. Adorno, Metaphysik, S. 170 – 171.
Beschädigte Ironie. Eine Schlussbemerkung Trotz meiner Darlegung der konzeptionellen Nähe zwischen Kierkegaards ironischer und Adornos negativ-dialektischer Auffassung der Subjektivität lässt sich in Adornos Schriften an keiner Stelle eine Bemerkung zur Ironie finden, die sie in einen subjektivitätstheoretischen Zusammenhang bringt. Vielmehr bezieht sich Adornos sparsame Verwendung dieses Begriffs auf die objektive Dimension der Ironie: zumeist auf die boshafte, zynische Ironie der Geschichte, die deren Verlauf in eine dem Erwünschten entgegengesetzte Richtung führt und die Konsequenzen des Handelns auf eine der Absicht widersprechende Entwicklung hinauslaufen lässt.¹ Meine Interpretation bestand zum großen Teil darin, zu zeigen, dass Adornos negativ-dialektisch verstandene Subjektivität das Kierkegaardsche ironische Moment in sich trägt, ohne es beim Namen zu nennen. Dies sollte nicht nur philosophiegeschichtlich auf Adornos Verhältnis zu Kierkegaard und dessen Einfluss auf ihn ein anderes Licht werfen, sondern auf den sachlichen Bezug selbst: auf die Bedeutung und auf den Status einer negativ-ironisch aufgefassten Subjektivität. Meine Grundthese lautete, dass nur eine solche Subjektivität, die in einer unaufhebbaren Differenz zu sich selbst und zum Allgemeinen besteht, die Fähigkeit hat, im eigenen Tun und Handeln der Übermacht des Allgemeinen zu widerstehen. Eine praktische „Rettung des Besonderen“ müsste daher mit einer solchen negativen, weil kritischen, unverständlichen, ironischen Subjektivität einhergehen, trotz der gesellschaftlichen und ideologischen Tendenzen, sie zu verunmöglichen. Eine direkte philosophische Auseinandersetzung mit der Frage der Ironie führt Adorno im Aphorismus 134 der Minima Moralia, der die Überschrift „Juvenals Irrtum“ trägt. Auch hier wird kein direkter Bezug zur subjektivitätstheoretischen Bedeutung der Ironie hergestellt. Adorno geht vielmehr von ihrer literarischen, publizistischen Bedeutung aus, vor allem für das Medium der Satire. Die Struktur seiner Argumentation in diesem Aphorismus, seine Erkenntnis über den Status der Ironie in einer ideologisierten, konformen, „totalen Gesellschaft“, betrifft jedoch den Kern der von mir vorgeschlagenen Interpretation des Status – der Notwendigkeit und Verunmöglichung – negativ-ironischer Subjektivität. Die Gleichzeitigkeit von Wahrheitsfähigkeit und Beschädigung der negativ-ironischen Subjektivität bezeichnet ihre aporetische Lage. Aporetisch ist sie aber nicht in
Zur objektiven Ironie als „Ironie des Schicksals“ vgl. Düttmann, Philosophie der Übertreibung, S. 72: „Für die objektive Ironie gilt freilich die Voraussetzung eines der Ironie Entzogenen […], sei es, daß sie als Ironie des Schicksals dessen Herrschaft inthronisiert, sei es, daß sie als romantische Ironie das beschränkende einzelne auf das unbeschränkt Allgemeine […] bezieht, sei es, daß sie durch die Absicht des ironischen Subjekts und zugleich über diese Absicht hinaus die Wahrheit meint.“
Beschädigte Ironie. Eine Schlussbemerkung
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einem begrifflich-systematischen, metahistorischen Sinn; vielmehr verunmöglicht gerade die Ideologie einer Gesellschaft, in der Subjektivität als positive Gewissheit, als Eigenschaft, als Identität begriffen wird, eine kritische, freie, nichtidentische Subjektivität. Adorno sieht einen direkten Zusammenhang zwischen Ironie und Ideologie. Als Mittel der Kritik sollte Ironie ursprünglich auf eine unmittelbare Aufdeckung der Lüge, der ideologischen Täuschung hinführen. Ironie überführt das Objekt, indem sie es hinstellt, und ohne Urteil, gleichsam unter Aussparung des betrachtenden Subjekts, an seinem Ansichsein mißt. Das Negative trifft sie dadurch, daß sie das Positive mit seinem eigenen Anspruch auf Positivität konfrontiert.²
Der Gegenstand der Ironie ist insofern die Differenz – zwischen der Erscheinung des Objekts und dessen tatsächlichem „Ansichsein“; ihre Negativität ist ihre kritische Funktion. Sie befragt das Objekt im Hinblick auf seinen eigenen Wahrheitsanspruch und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Differenz zwischen Anspruch und Realität. Adorno beschreibt eine geschichtliche Wendung im Gebrauch der Ironie: Ursprünglich als bürgerliche Ausdrucksweise, deren Gegenstand „der Verfall von Sitten“ war,³ sei sie „zuzeiten zu den Unterdrückten übergelaufen, besonders wo sie es in Wahrheit schon nicht mehr waren“.⁴ Erst mit dem bürgerlichen Verfall hat sie zum Appell an Ideen von Menschheit sich sublimiert, die keine Versöhnung mit dem Bestehenden und seinem Bewußtsein mehr duldeten. Aber sogar zu diesen Ideen zählte Selbstverständlichkeit: kein Zweifel an der objektiv-unmittelbaren Evidenz kam auf.⁵
So stellte sich die Ironie seitdem auf die Seite des Besonderen, Abweichenden, desjenigen also, das die behauptete Identität in Zweifel zog. Das war freilich der Ursprung der Ironie Kierkegaards, dessen Subjektivitätsbegriff durch jene Differenz zum Allgemeinen begründet war. Und es war zugleich sein ironischer Kritikpunkt an Hegels Versöhnungs- und Identitätsbegriff. Der immanente Widerspruch dieser Ironie haftete ihr Adorno zufolge von Anbeginn an, denn als Mittel der Kritik an der Versöhnung mit dem Bestehenden bot sie ihrerseits keinen Ausweg aus der negierten Selbstverständlichkeit, aus der problematischen Evidenz, die sie aufdeckte. Dies war die Kritik an jener sokratischen Ironie, die bloß im Negativen bestand, keine positiv-realisierbare Alternative vorschlug. Aber das
Adorno, Minima Moralia, S. 237. Ebd. Ebd., S. 238. Ebd.
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Beschädigte Ironie. Eine Schlussbemerkung
Problem der Ironie, auf das Adorno in der „Gegenwart“ hinweist, ist ein anderes. Es bezieht sich nicht auf das Wesen der Ironie an sich, sondern auf ihren „gegenwärtigen“ Status. Adornos Ausgangsdiagnose lautet: „Das Mittel der Ironie selber ist in Widerspruch zur Wahrheit geraten.“ Damit verweist er auf eine historische Entwicklung des Begriffs – oder des Mittels – der Ironie selbst. Ursprünglich als Mittel zum Erkennen der Wahrheit durch Aufdeckung einer verborgenen, selbstverständlich gewordenen Lüge, sieht Adorno die Ironie in die Immanenz selbst hineingeraten; sie sei keine äußere Kraft mehr, die es erlaube, das Entstellte im Inneren in seiner Entstelltheit aufzudecken, sondern sie gehöre selbst dazu. Sie sei ein Teil des „Immanenzzusammenhangs“ geworden. „Einverständnis selber, das formale Apriori der Ironie, ist zum inhaltlich universalen Einverständnis geworden. Als solches wäre es der einzig würdige Gegenstand von Ironie und entzieht ihr zugleich den Boden.“⁶ Setzt Ironie als Mittel der Kritik eine Selbstverständlichkeit voraus, als ihr „Apriori“, die sie dann „überführt“ und die darin verborgene Entstellung oder Täuschung bloßlegt, so behauptet Adorno, diese Selbstverständlichkeit habe inzwischen eine solche totale Dimension erreicht (das ist das Moment der Ideologie – und der Ideologiekritik), dass kein Mensch mehr in der Lage sei, die externe Perspektive der Ironie wirklich einzunehmen. Da jene Selbstverständlichkeit keine „bloße“ Selbstverständlichkeit mehr ist, sondern eine „inhaltlich universale“ Wahrheit, die niemand bestreitet, verliert Ironie nicht nur ihren Gegenstand, sondern überhaupt ihre Funktion als Mittel der Kritik. Es ist insofern die Totalität der Ideologie, wie Adorno sie konstatiert, die die kritische Funktion der Ironie in eine affirmative verwandelt: Ihr Medium, die Differenz zwischen Ideologie und Wirklichkeit, ist geschwunden. Jene resigniert zur Bestätigung der Wirklichkeit durch deren bloße Verdopplung. Ironie drückte aus: das behauptet es zu sein, so aber ist es; heute jedoch beruft die Welt noch in der radikalen Lüge sich darauf, daß es eben so sei, und solcher einfache Befund koinzidiert ihr mit dem Guten. Kein Spalt im Fels des Bestehenden, an dem der Griff des Ironikers sich zu halten vermöchte.⁷
In ihrer Funktion, die Aufmerksamkeit auf die Differenz zu lenken, muss die Ironie folglich scheitern, da diese Differenz selbst nicht mehr besteht. Sollte Ironie als Mittel der Kritik auf die Differenz von Ideologie und Wirklichkeit hinweisen, die Ideologie als solche anzeigen, so macht die von Adorno diagnostizierte Identität von Ideologie und Wirklichkeit eine solche Aufdeckung der Differenz nunmehr unmöglich – weil die Differenz tatsächlich nicht mehr besteht. Die Beschädigung
Ebd., S. 239. Ebd.
Beschädigte Ironie. Eine Schlussbemerkung
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des Lebens, von der in Adornos Minima Moralia die Rede ist, betrifft insofern die objektiven Strukturen der Wirklichkeit selbst und besteht nicht zuletzt in der pessimistischen Ansicht, dass jede Veränderung in gewisser Weise unmöglich sei: weil „kein Spalt am Fels des Bestehenden“ mehr vorhanden sei, weil das Verschwinden der Differenz das Bestehende so „glatt“, so unangreifbar mache, dass kein „Haltepunkt“ der Kritik mehr zu finden sei. Die Bedeutung dieser Erkenntnis für die Frage nach Notwendigkeit, Möglichkeit und Verunmöglichung kritischer Subjektivität liegt auf der Hand. Die Differenz von Innen und Außen war Kierkegaards Motivation, nach einem kritischen Subjektivitätsverständnis zu suchen, das sich dieser Unüberbrückbarkeit bewusst ist. „Vielleicht ist es dir doch unterweilen beigekommen, lieber Leser, ein wenig an der Richtigkeit des bekannten philosophischen Satzes zu zweifeln, daß das Äußere das Innere ist, das Innere das Äußere“, so beginnt das Vorwort des „Herausgebers“ zu Entweder/Oder. Die Skepsis gegenüber jener angenommenen oder angestrebten Identität von Innen und Außen bewegt Kierkegaard zu seinem gesamten philosophischen Werk, das auf die Begründung einer mit dem objektiven Außen nichtidentischen Subjektivität zielt; die kritische Negativität seiner Philosophie bedeutete, dass Wahrheit gerade nicht im positiv-objektiven Wissen zu suchen sei, sondern im Subjektiven. Aber das Subjektive war für Kierkegaard nicht das Unmittelbare, Zugängliche, sondern kennzeichnete sich gerade durch Unverständlichkeit, durch die Inkommensurabilität mit sich selbst und mit dem Allgemeinen. Ich habe versucht zu zeigen, dass diese Inkommensurabilität in mehreren Hinsichten mit Adornos Begriff des Nichtidentischen korreliert – und dass insofern eine Konvergenz besteht zwischen dem, was Kierkegaard als Ironie versteht und Adorno als negative Dialektik. Aber Adorno geht (mindestens) einen Schritt weiter, indem er diese gesamte Konzeption auf dem Spiel stehen sieht. Denn mit dem „Schwinden der Differenz“, die er in der spätmodernen Gesellschaft beobachtet, lässt sich auch das Verschwinden jener Differenz zwischen Innen und Außen, zwischen der Besonderheit im Inneren und der Allgemeinheit im Außen beobachten, die Kierkegaard nicht aufgeben wollte. Die Beschädigung des Lebens, die Adorno konstatiert, ist nichts anderes als die Beschädigung jenes inneren Lebens des Subjekts, das im Allgemeinen und zugleich im Gegensatz zum Allgemeinen lebt. Es ist die Beschädigung der Ironie, wie sie Kierkegaard und gewissermaßen auch Adorno verstanden. Die Struktur von Adornos Argumentation über die Verunmöglichung der Ironie als einer literarischen Figur der Satire trifft insofern auf die subjektivitätstheoretische These deutlich zu. Die Beschädigung der Ironie bedeutet eine Verunmöglichung jener kritischen Subjektivität, die in der Negativität der Ironie begründet ist. Sie bedeutet den Umschlag von Kritik in Affirmation, der durch das ideologische „Schwinden der Differenz“ bedingt ist – so lässt sich der letzte Schritt der negativen Dialektik
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Beschädigte Ironie. Eine Schlussbemerkung
Adornos im Hinblick auf die Frage nach kritischer Subjektivität beschreiben. Diese Erkenntnis ist jedoch nicht als eine totale, umso weniger als eine fatale zu betrachten. Sie ist keine Absage an die Handlungsfähigkeit der Subjekte, umso weniger ein Unterstreichen der Unfreiheit, von der bei Adorno oft die Rede ist. Denn wie die Ironie im Literarischen eine endlose Figur, eine sich immer wieder neu entfaltende Trope darstellt, so kann auch die These über ihre Beschädigung verstanden werden: als eine Erkenntnis über die Faktoren der eigenen Verunmöglichung, die gerade die Möglichkeit eröffnet, aus der prekären Situation heraus einen Blick auf die Inkommensurabilität zu riskieren, die immer verdeckter, subtiler wird, aber noch besteht. Gerade die beschädigte Ironie hält die Wunde der Negativität offen – und damit den inneren Impuls der Kritik.
Literatur- und Siglenverzeichnis Kierkegaards Werke zitiere ich im Folgenden mit Angabe der Band- und Seitenzahlen aus Søren Kierkegaards Skrifter (SKS), Kopenhagen 1997 ff., gefolgt von Belegen aus der deutschen Übersetzung von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans-Martin Junghans: Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke, hg. von Emanuel Hirsch, 2. Auflage (GW2), Gütersloh 1986 – 1995. Die Abkürzungen der Einzelbände folgen den Vorgaben der Kierkegaard Studies. Monograph Series. In einzelnen Fällen folge ich der Zitierweise in Adornos Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen und verwende entsprechend die Ausgabe Sören Kierkegaard, Gesammelte Werke, hg. von Hermann Gottsched und Christoph Schrempf, Jena 1909 – 1922 (GWS). Adornos Werke zitiere ich mit Angabe des jeweiligen Schrifttitels, gefolgt von Band- und Seitenzahlen aus Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 2003.
1 Quellen 1.1 Kierkegaard 1.1.1 Gesamtausgaben SKS
Søren Kierkegaards Skrifter, hg. von Søren Kierkegaard Forskningscenteret, Bd. 1 – 55, Kopenhagen 1997 – 2013. GW2 Gesammelte Werke, übers. und hg. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans-Martin Junghans, 2. Aufl., 36 Abtlg. in 30 Bdn., Gütersloh 1986 – 1995. GWS Gesammelte Werke, übers. und hg. von Hermann Gottsched und Christoph Schrempf, Bd. 1 – 12, Jena 1909 – 1922.
1.1.2 Einzelausgaben AUN1 Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, erster Teil, in GW2, 16. Abt., Bd. 1, hg. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans, Gütersloh 1982. AUN2 Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken, zweiter Teil, in GW2, 16. Abt., Bd. 2, hg. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans, Gütersloh 1982. BA Der Begriff Angst, in GW2, 11./12. Abt., hg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, Gütersloh 1983. BI Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, in GW2, 31. Abt., hg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, Gütersloh 1998. EC Einübung im Christentum, in GW2, 26. Abt., hg. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans, Gütersloh 1986. EO1 Entweder Oder, Erster Teil, in GW2, 1. Abt., hg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, Gütersloh 1986. EO2 Entweder Oder, Zweiter Teil, in GW2, 2./3. Abt., hg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, Gütersloh 1987.
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Literatur- und Siglenverzeichnis
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1.2 Adorno 1.2.1 Gesamtausgaben GS Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 1 – 20, Frankfurt am Main 2003.
1.2.2 Einzelausgaben — „Die Aktualität der Philosophie“, in Philosophische Frühschriften, GS 1, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003, S. 325 – 344. — Ästhetische Theorie, GS 7, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003. — „Erziehung nach Auschwitz“, in Kulturkritik und Gesellschaft, GS 10.2, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003, S. 674 – 690. — „Die Idee der Naturgeschichte“, in Philosophische Frühschriften, GS 1, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003, S. 345 – 365. — Jargon der Eigentlichkeit, GS 6, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003, S. 413 – 526. — Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, GS 2, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003. — „Kierkegaard noch einmal“, in Kierkegaard, GS 2, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003, S. 239 – 259. — „Kierkegaards Lehre von der Liebe“, in Kierkegaard, GS 2, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003, S. 217 – 236. — Metaphysik. Begriff und Probleme (1965), hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1998. — Minima Moralia, GS 4, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003. — Negative Dialektik, GS 7, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003. — Noten zur Literatur, GS 11, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003. — Philosophische Terminologie, hg. von Rudolf zur Lippe, Frankfurt am Main 1973. — Probleme der Moralphilosophie (1963), hg. von Thomas Schröder, Frankfurt am Main 1996. — „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, in Noten zur Literatur, GS 11, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2003, S. 281 – 321.
2 Sonstige Literatur
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Personenregister Abraham (biblische Figur) 6, 21, 73, 106 – 114, 118 – 119, 180 Améry, Jean 281 Antigone (literarische Figur) 49 – 55, 58 – 59, 119 Aristophanes 32 Beckett, Samuel 189 – 192, 211, 280 Benjamin, Walter 9, 12, 129, 132, 146, 161, 168, 177, 252, 268 Bergson, Henri 228, 243 – 244 Bernstein, Jay M. 185, 251, 270, 275 Butler, Judith 239 Cornelius, Hans 9 Critchley, Simon 215 Deuser, Hermann 10, 15, 128, 149, 174, 185 Don Juan (literarische Figur) 47 – 50, 53 – 55, 57 – 59 Dunning, Stephen N. 27 – 28, 36 – 37, 46, 49, 53, 59, 64 – 65
Honneth, Axel 264 Horkheimer, Max 18, 181, 186, 208, 271 Isaak (biblische Figur) 106 Jaeggi, Rahel 179 Jaspers, Karl 192 Jean Paul 243 Kant, Immanuel 61, 66 – 67, 78 – 79, 83, 92, 100, 107, 109 – 110, 127, 148, 179, 193, 212, 257 Kracauer, Siegfried 9 – 10 Lessing, Gotthold Ephraim 161 Liessmann, Konrad Paul 45, 47, 49, 54, 90, 107 Löwenthal, Leo 9 Lukács, Georg 131 – 132, 269 Menke, Christoph 4, 219, 265, 271 Morgan, Alastair 192 Mozart, Wolfgang Amadeus 46 – 48
Fichte, Johann Gottlieb 35, 151, 193 Frazier, Brad 38
Nietzsche, Friedrich 228, 239
García Düttmann, Alexander 225, 276, 282 Goethe, Johann Wolfgang 174 Greve, Wilfried 28, 44 – 45, 54, 59, 61, 68, 92, 113 – 114, 116
Pivčević, Edo 75, 80 Platon 32, 74 – 75, 81, 186, 253 Proust, Marcel 213, 243 – 244 Pulmer, Karin 128, 141
Haecker, Theodor 152 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2, 4 – 6, 14 – 19, 21, 25, 27 – 28, 32 – 41, 47 – 48, 50, 53, 65 – 86, 93, 96, 99 – 100, 102, 109 – 113, 116 – 127, 130 – 131, 134, 137 – 138, 142, 147, 151, 166 – 170, 173 – 175, 179, 186 – 183, 207, 210, 225 – 227, 251 – 270, 273 – 275, 283 Heidegger, Martin 17, 130, 169, 188, 231, 239, 278 – 279 Himmelstrup, Jens 80, 88, 91 Hirsch, Emanuel 35, 37, 42, 54, 62, 80
Rapic, Smail 65 – 67, 88 Rose, Gillian 226 Sartre, Jean-Paul 169, 192 Schlegel, Friedrich 32, 73 Schulz, Heiko 10 Schweppenhäuser, Hermann 27, 102, 161, Sokrates 1, 3 – 6, 21, 27, 30 – 32, 37, 72 – 91, 96, 119, 122 – 123 Sophokles 50 Steiner, George 53 Stewart, Jon Bartley 28, 65
296
Personenregister
Theunissen, Michael 79, 82, 103, 105, 129, 199, 201 – 209, 216, 221, 272, Thulstrup, Niels 28, 33, 47, 97 Tillich, Paul 9
Weber, Max 179 – 180 Wellmer, Albrecht 217 Xenophon 32 Yovel, Yirmiyahu 269
Sachregister Absurdität, das Absurde 72 – 73, 84, 87 – 92, 99 – 103, 106 – 107, 148 – 154, 166 – 170, 189 – 190 Aneignung 93 – 95, 120, 137, 214 Anerkennung 65 – 67, 234 Angst 102 – 109, 219 – 221, 235 – 236 Ästhetik, das Ästhetische 11 – 14, 25 – 72, 115 – 116, 127 – 129, 132 – 141, 155 – 172, 216 – 223, 231 Auschwitz, nach Auschwitz 205, 251 – 252, 269 – 281 Ausnahme 73, 109 – 118 Autonomie 18 – 20, 143, 149, 152, 159, 175, 182 – 183, 188 – 195, 230 – 231, 239 Beruf, bürgerlicher Beruf 62, 66 – 71, 235 Besonderheit, das Besondere 4 – 6, 12 – 19, 72 – 73, 109 – 119, 153 – 154, 173 – 176, 183 – 187, 224 – 244, 251 – 286 das Böse 109 – 112 Dämonie, Daimonion
81 – 85, 104
Ehe, eheliche Liebe 58, 60 – 71 Emanzipation 193, 211 Entfremdung 2 – 3, 9 – 18, 34, 131 – 132, 192 – 193, 233, 236 – 238, 278 Erfahrung 104 – 106, 164, 190, 199 – 201, 230 – 231, 245, 252 ästhetische Erfahrung 44 – 55, 101, 115 – 119, 216 – 223, metaphysische Erfahrung 200, 212 – 215, 270 – 271 subjektive Erfahrung 18 – 19, 41 – 42, 209 – 212, 228 – 229, 280 Erinnerung 88, 242 – 244 Erschütterung 219 – 222 Ethik, das Ethische 36 – 41, 44 – 48, 53 – 58, 60 – 71, 77 – 85, 91, 98 – 103, 109 – 110, 117 – 119, 136, 176 – 188, 218, 239 – Suspension des Ethischen 101, 107, 109, 115 Existentialismus 169, 188 – 193, 239, 278
Existenz 13, 26, 38 – 39, 44 – 46, 85 – 87, 100, 120 – 122, 135 – 140, 143, 158 – 162, 165 – 166, 189 – 190, 201, 205, 244, 279 Freiheit 5 – 6, 13, 20, 35, 51, 63 – 65, 70, 103 – 106, 149 – 150, 180 – 182, 187 – 188, 221, 231, 254 – 259, 262 – 264, 281 – negative Freiheit 40, 78, 85, Geheimnis 42, 52 – 59, 106 – 109, 245, 280 – 281 Gesellschaft 2 – 5, 13 – 20, 66 – 68, 127 – 128, 141 – 145, 169 – 173, 177 – 184, 199 – 212, 232 – 250, 259 – 268, 275 – 281 Gewißheit 95 – 96, 120 – 121, 154 Glaube 98 – 99, 106 – 115, 154 Glück 92, 213 – 218, 222 – 223, 246 – 248 Gott 86 – 91, 98, 106 – 110 Humor
98 – 99
Ideologie 16 – 22, 88 – 89, 168 – 173, 180 – 188, 194 – 195, 210, 227, 234, 249, 261 – 268, 283 – 284 Identität 1 – 2, 8, 17 – 21, 26 – 27, 72, 105, 109 – 110, 123 – 124, 173 – 176, 183 – 184, 187 – 194, 239 – 241, 248 – 250, 255 – 259, 283 – 286 Identitätsdenken, identifizierendes Denken 17, 184 – 188, 199, 203 – 204, 233, 244, 270, 274 – 275 Idiosynkrasie 178, 224 – 229, 268 Individualität 20 – 21, 119, 127, 187 – 192, 248 – 250, 252 – 254, 259 – 277 Inkommensurabilität 6 – 7, 12, 15 – 22, 41 – 46, 72 – 73, 96, 102 – 124, 141 – 148, 152 – 158, 167 – 174, 183 – 187, 211 – 214, 222 – 228, 233 – 250, 275 – 281 Innerlichkeit 7 – 16, 25 – 124, 131 – 133, 137 – 152, 166 – 195, 210 – 211, 217 – 218, 238 – 244, 274 – 278 – abstrakte Innerlichkeit 81 – 82, 183 – objektlose Innerlichkeit 131, 138 – 141, 148 – 150, 162, 166, 174 – 176, 240
298
Sachregister
Dialektik der Innerlichkeit 13, 143 – 144, 167, 241 Intersubjektivität 137 Ironie 1 – 8, 19 – 22, 26 – 102, 106 – 108, 134 – 135, 155, 181, 199, 213 – 216, 224 – 228, 238 – 239, 252, 258 – 262, 273 – 276, 282 – 286 – sokratische Ironie 29 – 40, 72 – 83, 113, 122, 208, 283, – romantische Ironie 32 – 41, 72 – 86, 99, 282 – beherrschte Ironie 36 – 41, 68, 84 – 85
Negation der Negation 39, 273, 259 – 260, 280 Negation des Bestehenden 3, 30 – 33, 39 – 40, 68, 72 – 88, 108, 113, 123, 167, 229 Negation des Subjekts 206 – 209, 221 – Wunde der Negativität 119 – 224, 286 Nichtidentität, das Nichtidentische 16 – 22, 168, 184 – 195, 200 – 212, 219, 221, 228 – 229, 254, 264 – 269, 272 – 286 Nihilismus 40, 78, 108, 122, 201, 205
Isolation 9, 12, 46, 69, 158
Paradox, das Paradoxe 25 – 30, 84 – 104, 107, 112 – 115, 129, 137 – 139, 148 – 154, 167, 184, 208 – 209, 249, 271
Kapitalismus 9, 12, 19 – 22, 143 – 144, 169, 180 – 184, 227, 254 das Komische 86 – 87, 98 – 99 Kulturindustrie 180 – 186, 221 – 222, 235 – 238, 245 – 246 Kunst, Kunstwerke 38, 45 – 60, 134 – 137, 156 – 159, 200, 216 – 223 Leid, Leiden 44 – 45, 52 – 54, 163 – 164, 178 – 180, 238 Leidenschaft 14, 69, 90 – 102, 172 Maieutik, maieutische Methode 28 – 29, 61 Metaphysik, metaphysisch 132, 146, 187, 202, 205, 211 – 215, 252, 263, 270 – 274, 277 – 281 Mimesis 238 – 242 Mythos, das Mythische 11, 138 – 140, 148 – 155, 164 – 167, 185 – 186, 236 – 242 Natur 13 – 17, 149 – 156, 164 – 165, 191, 266 – 268 Naturbeherrschung 11, 18, 193, 221, 271 zweite Natur 131 – 132, 146 Negation, Negativität 1 – 8, 13 – 14, 17 – 22, 30 – 33, 37 – 40, 44, 56, 71 – 91, 98 – 104, 107 – 108, 112 – 113, 119 – 124, 127, 142, 148 – 151, 156, 165 – 170, 176 – 179, 191, 199 – 229, 268 – 279, 283 – 286 – abstrakte Negation 40, 76 – bestimmte Negation 30, 76, 79, 85 – 86, 113
Ontologie 130, 140, 150, 159 – 165, 202, 206
Rätsel 89, 130 – 131, 138, 219 – 223 Religion, das Religiöse 4, 11 – 13, 86 – 87, 98 – 99, 135 – 136 Rettung 148, 173, 208, 212, 218, 226, 244, – Rettung des Besonderen 12, 14 – 22, 73, 123 – 124, 127, 148, 154, 259 – 262, 281 – Rettung des Scheins 11, 14, 164 Romantik 5 – 6, 30 – 42, 45 – 48, 54 – 59, 67 – 68, 73 – 86, 113, 127, 131 – 133, 166 – 170 Ruine 131 – 132, 146, 156, 165, 250, 268 Schein, ästhetischer Schein 11 – 14, 41 – 47, 54 – 59, 138 – 140, 145 – 146, 155 – 167, 216 – 223 Scheitern 30, 44 – 54, 101, 115, 130, 199 – 200, 215 – 222 Schweigen 72 – 73, 107 – 119, 180, 280 Selbst 1 – 4, 7 – 22, 31, 34, 64, 79, 102 – 124, 143 – 148, 181, 208, 240 – 246, 276 Selbstbezug, Selbstbezüglichkeit, Selbstverhältnis 1 – 4, 12 – 16, 27, 31, 64, 73 – 75, 78, 103 – 104, 108, 137, 174 – 194, 199 – 200, 209 – 210, 217, 220, 226, 233, 238 – 239, 242, 252 Selbsttäuschung, Selbstbetrug 2, 14, 31 – 35, 46, 59 – 61, 64 – 72, 123, 131, 143, 167 – 170, 175, 194, 215, 239 – Selbstzerstörung 2 – 3, 45, 144, 173, 176, 191
Sachregister
Singularität 2 – 6, 15 – 20, 73, 103, 111, 118, 175, 224 – 250, 252, 257, 276 Sittlichkeit 4 – 5, 14 – 15, 40, 56 – 59, 67 – 70, 74 – 79, 84 – 86, 100 – 112, 179 Solipsismus 64, 69 Souveränität 123, 211 Sünde 25, 52, 97, 117, 257 Teleologie 66 – 67, 109, 205, 275 Tragödie, das Tragische 4, 46 – 54, 85, 119, 137 – 138 Trauer 51 – 53, 151 Überschreitung 95, 204, 216 – 221, 245 – 248 Unerkennbarkeit 106 – 109 Unverständlichkeit 3 – 7, 43, 111, 122 – 124, 127, 170, 189 – 190, 199 – 223, 278 – 285 Unwissenheit 81 – 84, 87 – 89, 96
299
Verdinglichung 9, 59, 64, 146, 168 – 173, 182 – 183, 191 – 193, 221, 229 – 233, 241 – 245, 278 Vernunft 11, 14, 66, 87 – 92, 112, 140, 148 – 155, 160, 172, 184 – 185, 199, 208, 227 – 228, 237 – 238, 247 Versöhnung 116, 142, 149 – 153, 165, 173 – 175, 251 – 268, 283 Verzweiflung 71, 84, 102 – 108, 164, 260 Wissen 7, 25, 87 – 104, 119 – 124, 152, 161, 227, 285 Zufall, Zufälligkeit 68 – 69, 259, 263 – 268 Zerfall 12 – 14, 131 – 132, 155 – 167, 189 – 195, 218, 263 – 268