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German Pages 222 [224] Year 2017
Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung
Klassiker Auslegen
Herausgegeben von Otfried Höffe
Band 63
Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung Herausgegeben von Gunnar Hindrichs
ISBN 978-3-11-044879-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-044876-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-044888-7 ISSN 2192-4554 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung geht verwickelte Wege. Der Reichtum der Anspielungen, die Synkrisis des Entfernten, die Schärfe der Detailuntersuchungen machen sie zu einer voraussetzungsreichen Lektüre. Die hier vorgelegten Kommentare erschließen sie unter unterschiedlichen Ansätzen. Die ersten sechs Beiträge erkunden die sechs Fragmenteinheiten, aus denen das Buch besteht. Die anschließenden fünf Beiträge gehen dem Einfluss bestimmter Konzeptionen nach, der sich über das gesamte Buch erstreckt. Eine Forschungsbibliographie schließt den Band ab. Angesichts der dort verzeichneten Flut an Arbeiten verwundert es, dass man sich bisher nicht an einen kommentierenden Zugang gewagt hat. Zwar ist zuzugeben, dass das Buch keinen Klassiker im eigentlichen Sinne darstellt, den man kommentieren könnte. Es löst ja alles Musterhafte auf. Aber es gibt auch die Tradition des Kommentars, der sich auf fragmentarische Einsichten richtet, die von sich aus der Auslegung bedürfen, in der sie erst leben. Auf diese Weise verlangt auch Horkheimers und Adornos Buch nach seiner Kommentierung. Ob die Philosophischen Fragmente, die es unter dem Titel einer Dialektik der Aufklärung versammelt hat, tatsächlich in den folgenden Auslegungen leben, bleibe den Lesern überlassen. Immerhin lautet der Wunsch ihres Herausgebers, dass ihre Kommentierung sie nicht nur verwalte. Nadja Heller Higy, Alisha Stöcklin, Mario Schärli und Marc Nicolas Sommer ist für vielfältige Hilfe bei der Fertigstellung des Bandes zu danken, Mario Schärli zudem für die Erstellung der Bibliographie.
Inhalt Vorwort Zitierweise
V IX
Gunnar Hindrichs 1 Einleitung Birgit Sandkaulen 1 Begriff der Aufklärung
5
Marc Nicolas Sommer 2 Exkurs I. Odysseus oder Mythos und Aufklärung Julia Christ 3 Exkurs II. Juliette oder Aufklärung und Moral Gunnar Hindrichs 4 Kulturindustrie
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41
61
Eva-Maria Ziege 5 Elemente des Antisemitismus
81
Gérard Raulet 6 Aufzeichnungen und Entwürfe
97
Brian O’Connor 7 Kant in the Dialectics of Enlightenment
115
Guido Kreis 8 Die Dialektik in der Dialektik der Aufklärung. Die Spur Hegels Martin Saar 9 Verkehrte Aufklärung. Die Spur Nietzsches
151
Emil Angehrn 10 Kritische Theorie und Psychoanalyse. Die Spur Freuds
165
131
VIII
Inhalt
Hauke Brunkhorst 11 Die Dialektik der Aufklärung nach siebzig Jahren 12 Auswahlbibliographie Biographische Angaben Namensregister
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199 209
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Zitierweise Zitate aus der Dialektik der Aufklärung werden allein durch Angabe der Seitenzahl in Klammern ausgewiesen. Zitiert wird – sofern nicht anders vermerkt – nach folgender Ausgabe: Horkheimer, Max, und Adorno, Theodor W. 2008. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. Die Werke Adornos, Horkheimers und Benjamins werden nach folgenden Ausgaben zitiert: AGS [Band], [Seite]: Adorno, Theodor W. 1970 ff. Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Moss und Klaus Schultz, Frankfurt a. M. ANS [Abteilung].[Band], [Seite]: Adorno, Theodor W. 1993 ff. Nachgelassene Schriften, hg. v. Theodor W. Adorno-Archiv, Frankfurt a. M. ABW [Band], [Seite]: Adorno, Theodor W. 1994 ff. Briefe und Briefwechsel, hg. v. Theodor W. Adorno-Archiv, Frankfurt a. M. BGS [Band]/[Teil], [Seite]: Benjamin, Walter. 1972 ff. Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gersholm Scholem, Frankfurt a. M. HGS [Band], [Seite]: Horkheimer, Max. 1985 ff. Gesammelte Schriften, hg. v. Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a. M.
Gunnar Hindrichs
Einleitung
Die Dialektik der Aufklärung gehört zu den einflussreichsten Zeitdiagnosen der Moderne. Entstanden im amerikanischen Exil, deutet sie Liberalismus, Faschismus und Stalinismus ihrer Gegenwart. Zugleich greift sie weit aus auf die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, deren Strukturen sie bis in das Altertum zurückverfolgt. Ihr Gegenstand ist die Selbstzerstörung der Aufklärung. Horkheimer und Adorno bekennen: „Wir hegen keinen Zweifel – und darin liegt unsere petitio principii –, dass die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, dass der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet.“ (3) Hiernach verhilft die Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“ zur Einsicht in die Herrschaftsformen, die sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts zur Kenntlichkeit veränderten, und umgekehrt geben diese Formen eine neue Antwort auf jene Frage. Bei der Diagnose einer Selbstzerstörung der Aufklärung bleibt das Buch jedoch nicht stehen. Es skizziert immer wieder verschiedene Möglichkeiten, mittels einer Aufklärung der Aufklärung deren Dialektik umzuwenden. Hierzu dient an erster Stelle die Reflexionsfigur des Eingedenkens. (47) Der von Bloch (1918, 259 ff., 333 ff., 373 ff.) und Benjamin (BGS I, 701) stammende Begriff kennzeichnet die Geschichte als unabgeschlossen und der Erlösung fähig, indem man sie nicht nur erinnert, sondern auf ein Zukünftiges hin liest. Wenn daher Horkheimer und Adorno die Dialektik der Aufklärung bis zu Odysseus zurückverfolgen, dann soll damit das befreiende Denken nicht in seiner düsteren, allumfassenden Geschichte ertränkt werden, sondern umgekehrt deren Offenheit wieder gewonnen werden. Im Bezug auf die Selbstzerstörung der Aufklärung heißt das: die Freiheit in der Gesellschaft, die das aufklärende Denken verspricht, wird im Eingedenken seiner Regression zu neuer Geltung gebracht. Die charakteristische Verbindung von philosophischer Untersuchung, Geschichtsdiagnose und politischer Befreiung hat dem Buch bis heute eine große Leserschaft beschert. Von den Verfahren der Kulturwissenschaften oder der Soziologie wurde sie ebenso aufgegriffen wie vom allgemeinen Unbehagen an der Gesellschaft. Oft gerinnen seine Ausführungen allerdings zum Jargon. Um ihren Gehalt zu erfassen, darf der Horizont nicht vernachlässigt werden, in dem sie geschrieben wurden. Das Buch entstand innerhalb des exilierten Instituts für Sozialforschung. Dessen wichtigste Idee hatte sein Leiter Horkheimer 1937 in dem Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ entworfen. Dort unterscheidet er die fachwissenschaftliche OrganiDOI 10.1515/9783110448764-001
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Gunnar Hindrichs
sation des Tatsachenwissens von einem Denken, das sich als ein Moment der Anstrengung weiß, eine menschliche Welt zu schaffen. Ein solches Denken – die „kritische Theorie“ – ist mit dem „Interesse an der Aufhebung der Klassenherrschaft“ (HGS 4, 216) verbunden. Ersichtlich folgt diese Bestimmung der elften Feuerbachthese des Karl Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ (Marx 1961, 7) Auch die kritische Theorie interpretiert nicht die Welt neu, sondern beurteilt sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Veränderung, den sie an die Aufhebung der Klassenherrschaft bindet. Allerdings geht sie, anders als der klassische Marxismus, nicht in die Praxis der Revolution über, sondern bekennt sich weiterhin als Theorie. Diesen Schwellenstatus zwischen traditioneller Theorie und revolutionärer Praxis zeigt das Attribut „kritisch“ an. Es bedeutet „prüfend“ und „richtend“ und markiert dadurch die Distanz der Theorie sowohl zum Bestehenden als auch zu dessen bloßer Erkenntnis. Indem die Theorie kritisch wird, verwandelt sie sich aus der Erfassung des Bestehenden in eine Judikative, die ihm das Urteil spricht. Zur Exekutive wird sie hingegen nicht. So klammert die kritische Theorie die Verwirklichung ihres Urteilsspruches durch die praktische Aufhebung der Klassenherrschaft ein. Die Dialektik der Aufklärung ist der Vollzug kritischer Theorie. Sie verfolgt daher das Interesse an der Aufhebung der Klassenherrschaft. Im Blick auf dieses Interesse erhält ihre These, dass „die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar“ sei, ihren vollen Gehalt. Damit wird aber auch die Reichweite der Selbstzerstörung der Aufklärung erkennbar. Marx hatte die Vorgeschichte der Menschheit, deren Antagonismen von ihren eigenen Machern nicht durchschaut werden, von ihrer bewusst gestalteten Geschichte unterschieden. (Marx/Engels 1968, Bd. 13, 9) Jene ist die Geschichte der Klassenherrschaft, diese wäre die Geschichte freier Menschen. Im Anschluss an Marx erklärte Georg Lukács die Vorgeschichte der Menschheit sodann mittels zweier Sachverhalte: erstens erscheint in ihr Gesellschaft als Natur, so dass das Streben nach Veränderung so sinnlos erscheint wie das Streben nach Veränderung der Naturgesetze; zweitens erscheint das Verhältnis zwischen Menschen als ein Verhältnis zwischen Sachen, so dass die Menschen sich als funktionale Dinge in die Welt einpassen. (Lukács 1923) Beide Sachverhalte verhindern den Gedanken, dass das gesellschaftliche Leben auch grundsätzlich anders sein könnte. Sie präsentieren es als naturartige Funktionalität. Horkheimer und Adorno führen Lukács’ Beurteilung weiter und bezeichnen diese Geschlossenheit des Bestehenden als „gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang“. (48) Er kennzeichnet die Vorgeschichte der Menschheit im Gegensatz zu ihrer bewusst gestalteten Geschichte. Wenn nun, wie Horkheimer und Adorno schreiben, die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist, dann hängt auch der Übergang von der Vorgeschichte in die bewusst gestaltete Menschengeschichte
Einleitung
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von diesem Denken ab. Aber die Selbstzerstörung der Aufklärung besteht darin, dass das aufklärende Denken selber den gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang verhängt, der die Unfreiheit kennzeichnet. Entsprechend findet die Vorgeschichte der Menschheit kein Ende: Dialektik der Aufklärung heißt unendliche Vorgeschichte. Und entsprechend würde erst das erwähnte Eingedenken, das die Geschichte der Aufklärung wieder aufzuschließen sucht, den Weg zu einer bewusst gestalteten Geschichte eröffnen. Es zielt auf die Verwandlung der Vorgeschichte in Geschichte ab. Allerdings wird die Aufhebung der Klassenherrschaft, von der Horkheimer in seinem Aufsatz spricht und die den Horizont der Dialektik der Aufklärung bildet, in dieser selbst sorgfältig umgangen. Das beruht nicht nur auf den Gründen eines obliquen Sprechens zu Zeiten, in denen befreiendes Handeln unmöglich ist und seine Beschwörung Schlimmeres zur Folge haben kann. Es folgt auch aus der Einsicht darein, dass alle Sprache der Befreiung zur Sprache des aufklärenden Denkens gehört und also in dessen Selbstzerstörung verwickelt ist. Daher kann neben der Sprache der traditionellen Theorie auch die Sprache der Befreiung nicht mehr die Sprache der kritischen Theorie sein. Diese muss die Aufhebung der Klassenherrschaft, die ihr Interesse darstellt, aus ihren Untersuchungen heraushalten. Das betrifft auch die anderen aufklärenden Verfahren, insbesondere das Verfahren der Ideologiekritik. Sie können nicht mehr mit dem Selbstverständnis des richtigen Bewusstseins durchgeführt werden, da das richtige Bewusstsein auf seinem Weg zur Freiheit eine andere Art von Unfreiheit herbeigeführt hat. Das trennt die Dialektik der Aufklärung von den meisten Positionen der Gesellschaftskritik, zumal von deren aktivistischen Spielarten. Hieraus auf eine resignative oder defätistische Grundhaltung des Buches zu schließen ist jedoch falsch. Das Eingedenken hebt ja die Geschichte der Selbstzerstörung ins Licht, um sie auf die Möglichkeit ihrer Öffnung zu lesen. So bleibt die Aufhebung der Klassenherrschaft im Hintergrund, ohne dass man sie zur Sprache bringen könnte, und gerade die Arbeit daran, dass man sie nicht zur Sprache bringen kann, hält an ihrer Möglichkeit fest.
Literatur Bloch, Ernst. 1918. Geist der Utopie. Berlin Lukács, Georg. 1923. Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik. Berlin Marx, Karl. 1961. Thesen über Feuerbach, in: Marx-Engels-Werke 3. Berlin, 5 – 7. Marx, Karl. 1968. Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx-Engels-Werke 13. Berlin, 3 – 160.
Birgit Sandkaulen
1 Begriff der Aufklärung 1.1 Einleitung Aufklärung zielt wörtlich auf Klarheit. Um etwas klar zu sehen, bedarf es des Lichts. Noch besser als im deutschen Begriff kommt der Bezug auf Helligkeit und Licht in den englischen und französischen Begriffen zur Geltung: „Enlightenment“ und „Les Lumières“ heißt „Aufklärung“ hier. Ihren Ursprung hat die Auszeichnung des Lichts bei Platon. Aus der Gefangenschaft in der Höhle, wo Schatten für die Wahrheit gehalten werden, führt der Weg der Erkenntnis ins Helle, dahin, wo die Sonne, und nicht ein unterirdisch flackerndes Feuer, Licht und Wärme spendet. Auch dieser Aufstieg aus der Höhle ist ein Weg der Aufklärung. Wer ihn unter Mühen auf sich nimmt, wird schließlich gewahr, dass er Schein und Sein, Schein und Wahrheit in der Höhle verwechselt hat. Und im Rückgang auf Platon sieht man zugleich auch, worüber sich Aufklärer streiten könnten: nämlich darüber, ob der Prozess der Aufklärung in der schmerzhaften Anstrengung besteht, die Augen öffnen zu lernen, um im Licht der Sonne klar zu sehen, oder darin, zu einer Erkenntnis durchzudringen, die deshalb Erleuchtung bringt, weil sie selber die Lichtquelle ist. Diesen Streit um die Aufklärung führen Horkheimer und Adorno nicht. In ihrem Text zum Begriff der Aufklärung, den sie als „theoretische Grundlage“ (5) allen folgenden Texten der Dialektik der Aufklärung vorangestellt haben, spielt die Metaphorik des Lichts überhaupt keine maßgebliche Rolle. Das hat seinen guten Grund. Die ganze traditionelle Bilderwelt der Aufklärung, die seit Platon Erkenntnis und Licht positiv aufeinander bezieht, wird eingangs radikal ins Gegenteil verkehrt und darin zerstört: Die „vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ (9). In der grellen Helligkeit solcher Strahlen wird nichts sichtbar als Schwärze. Der Weg der Aufklärung, gleichgültig in welcher Variante, führt nicht ins Licht, sondern immer tiefer in die Finsternis hinein. Eine grauenhafte Vision, aber dass diese Diagnose die Wahrheit ist, ist die programmatische These, die sich mit der Behauptung der „Verflechtung von Rationalität und gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (5 – 6) auf nichts Geringeres als die gesamte Menschheitsgeschichte erstreckt. Ihren Ausgangspunkt bildet die Gegenwart des 20. Jahrhunderts: Die Frage ist, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“ (1). Faschismus, Stalinismus und der „Massenbetrug“ der „Kulturindustrie“ (128) stellen nicht etwa barbarische DOI 10.1515/9783110448764-002
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Birgit Sandkaulen
Abirrungen vom Weg der Aufklärung dar, sondern sind deren direkte Konsequenz. Das bedeutet zugleich, die von der Aufklärung kultivierte Emanzipation aus dem mythischen Weltbild einzureißen. „Grob ließe die erste Abhandlung in ihrem kritischen Teil auf zwei Thesen sich bringen: schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ (6). Von jeher war die Menschheitsgeschichte in das „Grauen“ verstrickt (236), von Beginn an sind Fortschritt und Rückschritt, der vermeintliche Gang in die Freiheit und die tatsächliche Befestigung der Herrschaft ununterscheidbar zusammengefallen, deren Ursprung in der Verflechtung von „Natur und Naturbeherrschung“ ausgemacht wird (6). Was sich im Fluchtpunkt der Dialektik von Aufklärung und Mythos im 20. Jahrhundert manifestiert, besiegelt diesen Befund, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Denn am Ende des Textes und nicht zufällig noch einmal in negativer Anspielung auf die Metaphorik des Lichts ziehen die Autoren ihre Radikalkritik der Aufklärung in einem ihrer eindrucksvollsten Sätze zusammen: „Schuld ist ein gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang“ (48). Wer verblendet ist, sieht nichts – wie seit je die Gefangenen in Platons Höhle. Jedoch: Wer diese These formuliert, wer also den „Verblendungszusammenhang“ als einen „Verblendungszusammenhang“ erkennt, sieht doch zumindest dies? Und wer für sich in Anspruch nimmt, das „triumphale Unheil“, das die Aufklärung zu verantworten hat, beim Namen zu nennen, will nicht etwa Einsicht und Erkenntnis befördern – also aufklären? Und wenn es in der Finsternis nichts zu sehen und also auch nichts zu unterscheiden gibt, bedarf es doch eines Lichts, einer Sonne, die scheint, ob man sich ihr zuwendet oder nicht, oder einer aus eigener Quelle leuchtenden Erkenntnis, um die Radikalkritik der Aufklärung durchzuführen? Mit anderen Worten: Von welchem Standpunkt aus wird die Dialektik von Aufklärung und Mythos in ihrer totalen Verflechtung mit dem gesellschaftlichen Zustand der Welt sichtbar? Und kann sie überhaupt sichtbar werden, wenn die Menschheitsgeschichte den katastrophischen Verlauf genommen hat, den die Autoren behaupten? Der programmatische Text zum Begriff der Aufklärung ist berühmt – ein Klassiker nicht nur im Kontext der Frankfurter Schule und ihrem „schwärzesten Buch“ der Dialektik der Aufklärung (Habermas 1985, 130), sondern des 20. Jahrhunderts insgesamt. Selten dürfte aber ein Text klassisch geworden sein, der so viele Fragen aufwirft wie dieser. Entsprechend umstritten ist er. Dabei dreht sich die Diskussion nicht allein um den Inhalt, ob also die hier formulierte Diagnose der Aufklärung plausibel ist oder nicht, ob sie das Interesse kritischer Gesellschaftstheorie fördert oder unterhöhlt oder ob sie auch aktuelle Bedeutung hat oder aus gegenwärtiger Perspektive veraltet erscheint. Entscheidend für die Diskussion ist, dies hat sich in der ersten Annäherung ja bereits gezeigt, dass der Inhalt des Textes, wie immer man zu ihm steht, ein gravierendes methodisches
1 Begriff der Aufklärung
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Problem mit sich führt. Offenkundig hat man es mit einem Dilemma zu tun. Mit ihrer Kritik unterminieren die Autoren zugleich die Bedingung der Möglichkeit ihrer Kritik, und umgekehrt: Wenn die Bedingung der Möglichkeit der Kritik gegeben ist, läuft ihr radikal negativer Impetus ins Leere. Die zentrale Frage ist, ob dieses Dilemma in irgendeiner Weise tragbar ist oder ob es das Unternehmen letztlich ruiniert. Und wie schwerwiegend diese Problematik wirklich ist, lässt sich auch daran ermessen, dass sie für so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal des Textes sorgt. Radikale Kritik der Aufklärung hat es vielfach gegeben (Vico, Rousseau, Herder, Jacobi, Hegel, Nietzsche, um nur einige zu nennen), aber nirgends, auch bei Heidegger nicht, ist sie so durchgreifend wie bei Horkheimer und Adorno mit dem methodischen Problem ihrer Darstellbarkeit verwachsen. Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Text kann daran nicht vorbeigehen. Das macht die Aufgabe anspruchsvoll, und sie wird keineswegs leichter angesichts einer Textur, die bis in die essayistisch-fragmentarische Form und das verwendete Vokabular hinein den Charakter einer diskursiv argumentierenden Abhandlung sprengt. Zwar kündigt der Titel einen Begriff der Aufklärung an, aber mit den üblichen Verfahrensweisen begrifflicher Verständigung hat dies bewusst nichts zu tun. Die „Arbeit des Begriffs“,wie es in Anlehnung an Hegel heißt, soll etwas ganz anderes als die „falsche Klarheit“ sein, die die Aufklärung erzeugt (4). Die falsche Klarheit ist „dunkel“ (4), womit man erneut auf die Verkehrung der Lichtmetaphorik und im selben Moment auf die Frage stößt, in welcher Art Licht sich diese Kritik der Aufklärung bewegt. Die Verführung ist groß, dieser Problematik auszuweichen. Entweder gibt man sich dann der Suggestivkraft des Textes hin oder man geht auf Abstand dazu um den Preis zu großer Distanz. Beides ist im Interesse einer genauen und problemorientierten Erörterung zu vermeiden. Um diese Erörterung so transparent wie möglich zu führen, werden im Folgenden zwei Durchgänge durch den Text unternommen. Zunächst geht es in wohlgemerkt künstlicher Isolierung um inhaltliche Aspekte des hier vertretenen Aufklärungsbegriffs, danach folgt die Diskussion des Methodenproblems.
1.2 Inhaltliche Aspekte I: Instrumentelle Vernunft und Naturbeherrschung „Seit je hat Aufklärung im umfassenden Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen
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Birgit Sandkaulen
auflösen und durch Wissen stürzen. Bacon, ‚der Vater der experimentellen Philosophie‘, hat die Motive schon versammelt“ (9). Auch Horkheimer und Adorno versammeln hiermit ihre Motive – im Grunde ist mit diesem Auftakt alles Entscheidende gesagt. Von Beginn an wird Aufklärung mit dem Komplex aus Furcht und Herrschaft und deren Initial der Naturbeherrschung identifiziert. Dabei fungiert Aufklärung nicht als Epochenbegriff, den man traditionell mit dem 18. Jh. assoziiert, sondern soll „im umfassenden Sinn“ verstanden werden. In diesem umfassenden Sinn kommen alsbald auch die Antike und dann das mythische Weltbild ins Spiel; zunächst aber wird das Selbstverständnis der Aufklärung, sich vom Mythos zu befreien, beim Wort genommen. Mit Francis Bacon soll es den naturwissenschaftlichen Aufbruch der Neuzeit markieren und mit der Formel aus Max Webers Schrift Wissenschaft als Beruf, der „Entzauberung der Welt“ (Weber 1992, 87), wird es programmatisch unterlegt. Für alles Weitere sind damit die Weichen gestellt. Indes ist zu beachten, wie eigenwillig dieser Auftakt wirklich ist. Ganz abgesehen davon, dass die Adaption der Weberschen Formel quer zu dessen eigenem Anliegen steht und auch die Einfügung Bacons in diesen Kontext nur um den Preis einer Verkürzung seiner Position geschieht, sollte vor allem auffallen, wer hier nicht genannt wird: Descartes nämlich, mit dem sonst jede – auch kritische – Darstellung moderner Rationalität beginnt. Als Gewährsmann einer Neubegründung der Naturwissenschaft, die auf Anwendung zielt und den Menschen als „maîtres et possesseurs“ der Natur nützlich sein soll (Descartes 2011, 107), hätte er durchaus hierher gepasst. Und in gewisser Weise hätte er sogar noch besser als Bacon gepasst, weil er die Erkenntnis der Natur in direkter Abhängigkeit von ihrer Erkennbarkeit durch den Geist bestimmt und eben damit den vielkritisierten Dualismus von Geist und Körper herbeigeführt hat, der die Natur auf eine berechenbare „res extensa“ herunterbricht. Und doch fehlt sein Name hier offenbar nicht umsonst. Denn nicht nur hat Descartes die Grundlagendisziplin einer Metaphysik konzipiert, die als solche allen Anwendungsoptionen vorausliegen soll. In eins damit ist er auch einem Konzept von Vernunft gefolgt, das sich dem widersetzt, was Horkheimer und Adorno dem Auftakt und Fortgang ihres Textes als alternativlose Version eingeschrieben haben: dem Konzept einer ausschließlich instrumentellen Vernunft. ¹ „Technik ist das Wesen dieses Wissens“ (10), und, das berühmte Wort Bacons zitierend, „Macht und Erkenntnis sind synonym“ (10).
In seiner im Umkreis der Dialektik der Aufklärung entstandenen Schrift Zur Kritik der instrumentellen Vernunft bestätigt Horkheimer dies interessanterweise selbst, insofern er hier nicht allein den völlig anderen Ansatz einer Unterscheidung zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Vernunft vertritt, sondern damit einhergehend auch die rationalistischen Philosophien sämtlich
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Mit anderen Worten: Was der stillschweigende Ausschluss Descartes’ exemplarisch deutlich macht, ist das Verfahren einer Reduktion. Indem der „Begriff der Aufklärung“ auf die Charakteristika instrumenteller Vernunft festgelegt und ausgehend davon dann auch dem Mythos ein instrumentell verstandenes Aufklärungspotential unterstellt wird, handelt es sich um eine Engführung der Vernunft auf lediglich einen Typus von Rationalität. Das wäre dann nicht problematisch, wenn es den Autoren darauf ankäme, die Aufklärung als ein spezifisches Projekt zu analysieren, neben dem es in der Menschheitsgeschichte auch andere Projekte gegeben hat. Auf solche Projekte könnte sich eine Kritik der instrumentellen Vernunft dann unter Umständen auch berufen oder in ihnen zumindest Möglichkeiten eines alternativen Selbst- und Weltverständnisses freilegen. Indessen wird genau diese Option vergleichsweise traditioneller Vernunftkritik im Begriff der Aufklärung gezielt überboten. Aufklärung ist hier kein spezifisches Projekt. Mit der ihr zugewiesenen instrumentellen Grundausrichtung (die als solche im übrigen nicht originell, sondern eingestandenermaßen aus dem Aufklärungskapitel von Hegels Phänomenologie des Geistes übernommen ist; Wiggershaus 1988, 371; vgl. DA 19) soll sie vielmehr den Gesamtverlauf menschlichen Denkens ausnahmslos beherrschen: „Einheit bleibt die Losung von Parmenides bis auf Russell“ (14). Für differenzierende Einschätzungen, abgesehen von der Behauptung einer sich von der Antike über die Neuzeit bis in die Gegenwart fortschreitend steigernden Logik instrumenteller Vernunft, ist hier kein Platz, und damit wird die Sachlage nun sehr wohl problematisch. Dass sie der Vielzahl verschiedenster Positionen erkennbar nicht gerecht wird, ist dabei noch die geringste Schwierigkeit, denn dies, um es etwas ironisch zu sagen, können Parmenides und Russell und alle die, die dazwischen gelebt und gedacht haben, verschmerzen. Viel wichtiger ist, was sich daraus für die Anlage des Textes selbst ergibt. Zum einen kann man den Autoren auf der inhaltlichen Ebene vorhalten, dass sie mit ihrer Kritik mindestens so reduktionistisch verfahren wie die Aufklärung, der sie dies vorwerfen, oder mehr noch, dass sie mit Sätzen wie „Aufklärung ist totalitär“ (12) den Totalitarismus selbst allererst erzeugen, den sie auf die Aufklärung projizieren (Hesse 1984, 117– 119). Und zum anderen entsteht ja genau so auch das zentrale methodische Problem: die Frage nach dem Standpunkt oder dem Maßstab, an dem Horkheimer und Adorno ihre Kritik orientieren. Auf vertrackte Weise drängt sich diese Frage auch gleich anfangs schon auf. Um das Verfahren instrumenteller Vernunft anzugeben, sind die Autoren darauf
noch als Ausläufer der objektiven Vernunft begreift. Demgegenüber wird die instrumentelle Vernunft als „subjektive“ mit dem angelsächsischen Empirismus assoziiert.
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Birgit Sandkaulen
angewiesen, es gegen einen Hintergrund abzuheben, und nachdem die Aufklärung ihnen zufolge ja die gesamte Denkgeschichte einschließlich ihrer mythischen Ursprünge umfasst, wird dieser Hintergrund in die archaische Gestalt des magischen Animismus verlegt: „Die Entzauberung der Welt ist die Ausrottung des Animismus“ (11). Vertrackt ist dieser Bezug deshalb, weil daraus einerseits folgt (was oft, so jüngst auch bei Hetzel 2011, übersehen wird), dass Mythos und Magie nicht dasselbe sind und auch nicht sein dürfen, wenn die Kritik überhaupt einen Anhaltspunkt haben soll, andererseits aber keiner Wiederverzauberung das Wort geredet werden soll, so als würde das animistische Weltbild das verlorene Paradies eines glücklichen Urzustandes bezeichnen, in den die Menschheit vielleicht nicht zurückgelangen, aber ihre Sehnsüchte nach einem guten Leben daran doch messen kann. Nach diesem – methodisch stabilen – Modell hat seinerzeit Rousseau die erste „Dialektik der Aufklärung“ verfasst, während Horkheimer und Adorno eben nicht die „Rousseauisten“ des 20. Jahrhunderts sind. Unter dem Stichwort der „Mimesis“ wird darauf später zurückzukommen sein. Hier kommt es zunächst auf die inhaltliche Bestimmung der instrumentellen Vernunft an, wie sie sich aus der Konfrontation mit dem Animismus ergibt. „Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen“ (10) – das ist der schon erwähnte Leitgedanke der Technisierung des Wissens. Demgegenüber wird der Animismus unter dem Leitgedanken der „Qualitäten“ charakterisiert (14, 16, 19). Eine qualitativ bestimmte Erfahrung der Natur „rechnet“ nicht nur mit der Fülle heterogener Phänomene, sondern vor allem auch mit ihrem originären Eigensinn, weil sich einer solchen Weltsicht alles als lebendig und mit eigenen Kräften begabt darstellt. Sich davon als von einer „Illusion“ (12) befreien zu wollen, ist das Interesse der Aufklärung. Und ihrem kritischen Duktus zum Trotz ist dieses Interesse Horkheimer und Adorno zufolge sogar nachvollziehbar, in dem Maße nämlich, wie sich im Animismus – von einem ursprünglich heilen Naturzustand weit entfernt – die Urszene menschlicher Furcht manifestiert. Am Anfang der Menschheitsgeschichte steht der „Ruf des Schreckens“: „Mana, der bewegende Geist, ist keine Projektion, sondern das Echo der realen Übermacht der Natur in den schwachen Seelen der Wilden“ (21). Um solcher Übermacht zu entkommen, wird im Zeichen fortschreitender instrumenteller Vernunft die Vernichtung der Qualität zugunsten durchgreifender Quantifizierung vollstreckt. Die Grundoperation eines solchen auf Berechenbarkeit zielenden Denkens ist die gewaltsame Herstellung von Identität, die durch Abstraktion, Formalisierung und systematische Vereinheitlichung gekennzeichnet ist (13). „Was anders wäre, wird gleichgemacht“ (18). Aufklärung „schneidet das Inkommensurable weg. Nicht bloß werden im Gedanken die Qualitäten aufgelöst, sondern die Menschen zur realen Konformität gezwungen“ (19).
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Mit dieser im folgenden Abschnitt näher ausgeführten These eines direkten Zusammenhangs zwischen dem Aufklärungsprozess und seinen realgesellschaftlichen Folgen widersprechen die Autoren nicht nur der Vorstellung einer kontextlos reinen Denkgeschichte, sondern auch, und diese Pointe ist für das Profil der Kritischen Theorie dieser Zeit mindestens so wichtig, der marxistischen Doktrin von Basis und Überbau. Dass sich aber im Gang dieses Prozesses alles zu einem einzigen totalitären Zwangszusammenhang zusammenzieht und somit jeglicher Rede von angeblich eroberter Freiheit spottet, wird hier als das zentrale Merkmal des Mythos markiert. Als frühestes Produkt der Aufklärung wollen bereits die Mythen die Welt „erklären“ (14). Entscheidend aus Sicht Horkheimers und Adornos ist dabei der im Mythos greifbare Erklärungstyp, der alles Geschehen in den Bann schicksalhafter „Wiederholung“ stellt (17– 18). Scheinbar das Gegenteil dessen, was Aufklärung für sich beansprucht, verkörpert der Mythos in Wahrheit den zwanghaften Komplex unentrinnbarer Notwendigkeit, in den Aufklärung nicht so sehr „zurückschlägt“, wie es in der Vorrede heißt, sondern in den sie sich von Anfang an verstrickt. Instrumentelle Vernunft ist die unheimliche mythische Vernunft, deren Auswüchse in der Barbarei des 20. Jahrhunderts zu Tage liegen. Worauf die Genealogie der Aufklärung damit hinausläuft, das ist hier noch einmal in aller Deutlichkeit zu unterstreichen, ist eine ununterbrochene Kette der Gewalt, die mit der Reaktion gewalttätigen Denkens auf die Übergewalt der Natur beginnt. „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen“ (19).
1.3 Inhaltliche Aspekte II: Instrumentelle Vernunft und Selbsterhaltung „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt“ (40). Dieser Abschnitt zählt zu den bekanntesten Stücken des Begriffs der Aufklärung, wohl auch deshalb, weil er das Syndrom der „Selbsterhaltung“, mit dem der Grundbefund der Gewalt jetzt auf seine gesellschaftlichen Folgen hin durchleuchtet wird, höchst plastisch am Fall der Odysseus-Geschichte illustriert (vgl. hierzu auch Exkurs I). Gewalttätig ist jedoch wiederum auch der Zugriff der Autoren selbst, dem diesmal Spinoza zum Opfer fällt. Auf das von ihm formulierte Streben der Selbsterhaltung beruft sich der Text zu Beginn als auf die „wahre Maxime aller westlichen Zivilisation“ (35). Wie aber der übergangslose und mit dem ganzen Ansatz der Ethik unvereinbare Sprung
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„zum transzendentalen oder logischen Subjekt“ (36) zeigt, hat das, was Horkheimer und Adorno anprangern wollen, mit Spinozas naturalistischer Theorie gar nichts zu tun. „Was anders wäre,wird gleichgemacht“, so hieß es vorhin – dass die Autoren ihrerseits ganz genau so verfahren, setzt den Text in kein günstiges Licht. Und sich zu ihrer Verteidigung womöglich das Argument auszudenken, dass ihr Vorgehen eben Teil und Abbild des kritisierten Zwangszusammenhangs ist, fällt schon deshalb schwer, weil sie diesen Zusammenhang durch ihr Vorgehen ja selber allererst konstruieren. Überdies gibt es für ein solches Argument keinen methodischen Anhaltspunkt im Text. Im Gegenteil: Wenn am Ende von der Selbstreflexion des Denkens auf die ihm eigene Gewalt gesprochen wird (45 – 47), dann ist längst etwas anderes gemeint. Darauf wird zurückzukommen sein. An dieser Stelle ist auf eine gewisse Verschiebung der Argumentation zu achten. Mit dem Motiv der „Selbsterhaltung“ wird die generelle Herrschaftskritik wie schon gesagt auf gesellschaftliche Zwänge bezogen. Der Herrschaft über die äußere Natur, so könnte man dies auf Anhieb verstehen, entspricht die SelbstBeherrschung, die Unterdrückung der Natur also im Subjekt selbst, das dem „Naturzwang“ auch im Kern seiner eigenen Existenz ausgeliefert ist und das sich gegen den damit drohenden Verlust seiner selbst durch disziplinarische Maßnahmen immunisieren muss. In diesem Sinne geht es um die „Wahl zwischen Überleben und Untergang“, in der sich der „Zwangscharakter der Selbsterhaltung“ zuspitzt (37). Zuerst unmerklich wird dann aber zusehends eine Wendung kenntlich, die die Deutung des „Naturzwangs“ betrifft. Der Schrecken vor der Natur, der zuvor als Reaktion auf ihre Übermacht bestimmt worden war, erscheint jetzt auf einmal doch als eine rückwirkende Projektion auf die Natur, als Schrecken, „daß das Selbst in jene bloße Natur zurückverwandelt werde, der es sich mit unsäglicher Anstrengung entfremdet hatte, und die ihm eben darum unsägliches Grauen einflößte“ (37). Der hier auftauchende Gedanke der Entfremdung legt eine Trennung und Entzweiung von der Natur nahe, in der die Menschen ursprünglich einmal zu Hause gewesen sind. Operieren Horkheimer und Adorno demnach doch mit dem Modell einer verlorenen Einheit, einer vorgeschichtlichen Versöhnung von Mensch und Natur, die durch den Einsatz instrumenteller Vernunft zerstört worden ist, die aber zugleich in den Tiefenschichten der Zivilisation als unheimliche Verlockung virulent bleibt und darum mit einem Tabu belegt werden muss? Gemeint ist wohl, und diese Perspektive machen sich die Autoren in ihrer Deutung der Geschichte als Naturgeschichte zu eigen, dass es im Rückblick so erscheint: „Die Angst, das Selbst zu verlieren und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben, die Scheu vor Tod und Destruktion“ sind, so lautet die These, „einem Glücksversprechen verschwistert“ (40), und diese Deu-
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tung gibt dann auch den Schlüssel zur Interpretation der Odysseuserzählung an die Hand. Das Glücksversprechen, das im Gesang der Sirenen ertönt, wirkt als übermächtig lockende Gefahr. Dem entsprechen die Zwangsvorkehrungen, die Odysseus trifft: Seinen Gefährten verstopft er die Ohren, damit sie den Gesang nicht hören, sondern aus Leibeskräften rudern, und sich selbst lässt er an den Mast des Schiffes fesseln, so dass er den Gesang zwar vernimmt, seiner Glücksverheißung aber nicht nachgeben kann. In diese Deutung schreiben Horkheimer und Adorno zugleich ihre Übernahme des Herr-Knecht-Kapitels aus Hegels Phänomenologie hinein. Odysseus ist der „Grundherr“, der die anderen für sich arbeiten lässt (40 – 41). Damit wird das Zwangssyndrom der Selbsterhaltung mit dem Herrschaftszusammenhang der Arbeit verknüpft, den die Autoren in die Gegenwart der „Industriegesellschaft“ (43) extrapolieren. Ganz anders als bei Hegel hat die Dialektik von Herr und Knecht in der hier präsentierten Version demnach nicht nur nichts mit der Frage der Anerkennung zu tun (Hegel 1988, 127– 136). Genau besehen wird der Ansatz einer dialektischen Beziehung überhaupt stillgestellt, weil es nicht wie bei Hegel darum geht, dem leeren Genuss des Herrn die produktive Arbeit des Knechts zu kontrastieren. In der Überblendung der Homerischen Erzählung mit der Darstellung Hegels verfallen bei Horkheimer und Adorno beide Seiten der „Regression“, die der Unterdrückung sinnlicher Lusterfahrung – darauf läuft hier die „Eliminierung der Qualitäten“ hinaus (43) – entspringt. „Die tauben Ohren, die den fügsamen Proletariern seit dem Mythos blieben, haben vor der Unbewegtheit des Gebieters nichts voraus“ (43). Unter den Bedingungen einer durchrationalisierten Arbeitswelt zieht so schließlich eine „neue Gestalt der Verblendung“ (43) herauf, was auf das Kapitel über die Kulturindustrie vorausdeutet. „Durch die Vermittlung der totalen, alle Beziehungen und Regungen erfassenden Gesellschaft hindurch werden die Menschen zu eben dem wieder gemacht, wogegen sich das Entwicklungsgesetz der Gesellschaft, das Prinzip des Selbst gekehrt hatte: zu bloßen Gattungswesen, einander gleich durch Isolierung in der zwangshaft gelenkten Kollektivität“ (43).
1.4 Methodische Probleme I: Die Vorrede Mit dem Stichwort der „Verblendung“ kehrt die Diskussion des Textes an den Anfang zurück. Man kann darüber streiten, ob die These des total vermittelten Verblendungszusammenhangs nicht ihrerseits – ebenso wie die Geschichtskonstruktion, auf der sie beruht – eine Mystifizierung der Verhältnisse ist, die im Wiederholungszwang des Immergleichen eine differenzierte Gesellschaftsanalyse blockiert (Schnädelbach 2004). Die Rückfrage methodischer Art geht darüber
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noch hinaus. Sie gilt dem Problem, ob sich diese Kritik der Aufklärung aus theorieinternen Gründen überhaupt durchführen lässt.Wären auch die Kritiker mit der kollektiven Verblendung geschlagen, wüssten sie nichts von ihr. Außerhalb der Geschichte können sie aber auch nicht stehen, einen solchen Ort gibt es dem hier vertretenen Aufklärungsbegriff zufolge nicht.Worauf also stützt sich die Kritik und worauf will sie letztendlich hinaus? Zur Eröffnung dieser Diskussion ist ein Vorschlag zu erwähnen, mit dem sich die Problematik, so scheint es auf Anhieb, weitgehend verflüchtigen würde. Danach soll die Dialektik der Aufklärung als „Beispiel einer radikalen Kritik“ zu verstehen sein, „die die Übertreibung als Erkenntnismethode nutzt, in der nicht unbegründeten Furcht, es könnte wahr werden, was doch nicht ganz wahr sein kann, solange solche Bücher noch geschrieben und gelesen werden können“ (Wellmer 2005, 240). Der Vorschlag ist nicht einfach abzutun, zumal er ja das Dilemma sehr genau benennt. Ob er es lösen kann, ist aber bei näherem Hinsehen fraglich. Denn was wäre dann im Begriff der Aufklärung nicht übertrieben? Wo finge die Übertreibung an und wo hörte sie auf? Welche These wäre beim Wort zu nehmen und welche wäre bestenfalls nur die Anzeige einer Tendenz? Und vor allem ist damit ja noch nichts über die zentrale Frage gesagt: nicht nur, an welchem Maßstab sich die radikale Kritik orientiert, sondern auch, woher und mit welchen Folgen für ihre Aussagen sie ihn bezieht. Interessant und beunruhigend zugleich ist nun zuallererst der Befund, dass die Vorrede der ganzen Problematik gegenüber merkwürdig blind erscheint. Zwar ist hier die Rede von einer „Aporie“ (3). Aber damit ist nicht eine Reflexion auf das methodische Dilemma des Textes gemeint, sondern die im Verlauf der geplanten Gegenwartsanalyse gewonnene Einsicht, sich nicht länger auf konventionelle wissenschaftliche Mittel verlassen zu können. Erst über dieser Einsicht, dass „im gegenwärtigen Zusammenbruch der bürgerlichen Zivilisation nicht bloß der Betrieb sondern der Sinn von Wissenschaft fraglich geworden“ ist (1), hat sich dieser Schilderung zufolge der „erste Gegenstand“ der Untersuchung überhaupt erst herauskristallisiert: „die Selbstzerstörung der Aufklärung“ (3). Dies gewährt einen bemerkenswerten Einblick in den Entstehungsprozess des Textes und die Theorielage der Kritischen Theorie in den 1940er Jahren. Jedoch ist inzwischen klar, dass genau in diesem Moment auch erst das eigentlich brisante methodische Problem entsteht, die Frage also, wie sich die „Selbstzerstörung der Aufklärung“ als Gegenstand und seine Darstellung zueinander verhalten. Eine befriedigende Auskunft auf diese Frage geben Horkheimer und Adorno nicht. Was sie primär interessiert, scheint die Abgrenzung gegenüber einer kulturkonservativen Aufklärungskritik zu sein, mit der sie nichts gemein haben wollen (5). In diesem Sinne versichern sie als ihre „petitio principii, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist“ (3), und
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in diesem Sinne wollen sie ihre Kritik als Selbstkritik der Aufklärung verstanden wissen. „Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal“ (3). Dass die Autoren damit, wenn auch indirekt, unterstreichen, sich an einem Aufklärungskonzept zu orientieren, das sich im Appell an die Freiheit genau gegenläufig zur Zwangsdiagnose im Begriff der Aufklärung verhält, ist festzuhalten. Dass aber das damit verbundene Problem, worauf sich denn die in Anschlag gebrachte „petitio principii“ der Freiheit stützt, nicht in ihrem Fokus steht, zeigt sich daran, dass es in der höchst vagen Rede von der „Einlösung der vergangenen Hoffnung“ allenfalls beiläufig gestreift wird (5). Wie wenig belastbar als Ausweis methodischer Reflexion die Vorrede wirklich ist, kommt vollends zum Vorschein, wenn es in der knappen Inhaltsanzeige zur ersten Abhandlung schließlich heißt, die „dabei an Aufklärung geübte Kritik [solle] einen positiven Begriff von ihr vorbereiten, der sie aus ihrer Verstrickung in blinder Herrschaft löst“ (6). Was immer dies für den noch zu erörternden Schluss des Textes besagen mag – in methodischer Hinsicht wirft es nichts ab, sondern verstärkt nur das Problem, indem die Kritik demnach etwas „vorbereiten“ soll, was sie zugleich schon als ihre „petitio principii“ in Anspruch nehmen muss, ohne dass diese verschiedenen Perspektiven des Vollzugs und des Resultats der Kritik überhaupt als verschiedene Hinsichten expliziert und auf die Frage ihrer Verbindung hin thematisch gemacht würden. Damit aber noch nicht genug. Denn das vielleicht größte Problem der Vorrede besteht darin, dass sie mit ihren wenigen und in sich widersprüchlichen Äußerungen über den Status der Kritik zum Text über den Begriff der Aufklärung gar nicht passt und noch nicht einmal den Aufschluss eines gewissen Wiedererkennungseffekts bietet.² Das heißt: Im Zuge der Fixierung des „Begriffs der Aufklärung“ auf seine rein negative und in dieser Form auf die gesamte Menschheitsgeschichte ausgedehnten Deutung wird hier erstens nicht als Gegenstand des Textes der Prozess einer „Selbstzerstörung der Aufklärung“ demonstriert, der ja hätte anzeigen müssen, was Aufklärung vor oder unabhängig von ihrer Zerstörung ist, um von einer „Selbstzerstörung“ überhaupt sprechen zu können – eine solche Sicht auf die Aufklärung gibt es hier nicht. Bereits mit dem ersten Satz, der nicht von „Freiheit“, sondern von der Einsetzung der Menschen „als Herren“ spricht,
Nicht auszuschließen ist, dass alle diese Verwerfungen auch auf konzeptionelle Differenzen zwischen Horkheimer und Adorno zurückzuführen sind, die in der Betonung des Gemeinschaftswerks ihres Buches zwar keine Rolle spielen sollen, aber spätestens mit den folgenden Veröffentlichungen, Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft einerseits und Adornos Negativer Dialektik andererseits, klar zu Tage treten. Allerdings hat es wenig Sinn, den Begriff der Aufklärung auf solche Differenzen hin auseinanderlegen zu wollen. Selbst wenn es gelänge, würde der Text im Ganzen dadurch nicht klarer.
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wird sie annulliert. Zweitens wird auch der Vollzug der Kritik im Text nicht als ein aufklärerisches Unternehmen anderer Art, als „Selbstkritik der Aufklärung“ benannt. Auch dies hätte den gleichsam mitlaufenden Bezug auf eine andere Aufklärung verlangt, der sich hier nicht findet. Ob es überhaupt einen Hinweis auf die Selbstreflexion des eigenen Tuns gibt, ist für jetzt eine offene Frage. Und drittens schließlich läuft die Kritik auch nicht auf das Resultat einer Vorbereitung eines „positiven Aufklärungsbegriffs“ hinaus. Allenfalls laufen hier zwei verschiedene Aufklärungskonzepte durcheinander: „Aufklärung ist mehr als Aufklärung“ (46) und „Aufklärung vollendet sich und hebt sich auf“ (49). Und inwieweit damit eine Einsicht in den gewaltsamen Verblendungszusammenhang oder eine über ihn hinausreichende Vision gemeint sein soll, ist ebenfalls bis auf Weiteres offen. Solche Unstimmigkeiten zu beobachten, ist keine philologische Spitzfindigkeit, so als ginge es nur um den Gebrauch von „Wörtern“. Was daraus vielmehr folgt, ist, dass man sich nun ohne konzeptionelle Klarstellung seitens der Autoren auf die Suche nach Motiven begeben muss, die im Text in einem wie immer intendierten Bezug zum Methodenproblem stehen könnten. Zu erkennen sind davon vier, wobei ihr Verhältnis untereinander und ihre jeweilige Signifikanz für das methodische Dilemma wiederum der Nachfrage bedarf: Theorie, Mimesis, bestimmte Negation und schließlich die Selbstbesinnung des Denkens als „Eingedenken der Natur im Subjekt“.
1.5 Methodische Probleme II: Motive methodischer Reflexion im Begriff der Aufklärung Das erste Motiv ist nicht mehr als ein Spurenelement. Ob und wie es überhaupt hierher gehört, wäre an anderer Stelle weiter zu diskutieren. Sichtbar wird es eingangs nur via negationis, wenn man sehr genau hinsieht: Das Wissen, dessen Wesen Technik ist, „zielt nicht auf Begriffe und Bilder, nicht auf das Glück der Einsicht [Herv. BS], sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital“ und „Das unfruchtbare Glück aus Erkenntnis ist lasziv für Bacon wie für Luther“ (10). Vielleicht, dies ist nicht mehr als eine Konjektur, hat dieser andeutungshafte Verweis auf eine nicht-instrumentelle Vernunft mit der am Ende ebenfalls nur andeutungshaft beschworenen „Unnachgiebigkeit der Theorie“ zu tun, von der „umwälzende wahre Praxis“ abhängig gemacht und damit gegen die „Bewußtlosigkeit“ instrumentellen Denkens in Stellung gebracht wird (48). Bemerkenswert ist das beinahe ganz versteckte Aufblitzen dieses Motivs in jedem Fall deshalb, weil es an eine ganz klassische Denkfigur erinnert, ohne sie zu nennen: Die von
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Aristoteles noch über das gute Leben in der Polis und ohnehin über alles technische Wissen gestellte „theoria“ zielte auf eben solch ein Glück der Einsicht, das dem „bios theoretikos“, dem theoretischen Leben in reiner Betrachtung der Wahrheit zuteil werden sollte. Berufen sich Horkheimer und Adorno heimlich auf diese antike Auszeichnung der Theorie, als Maßstab ihrer Kritik und als Vorschein einer Alternative zur instrumentellen Vernunft? Und wenn es so wäre – was bedeutete dies für das Selbstverständnis Kritischer Theorie und zumal für die Leitthese des Begriffs der Aufklärung, wonach es immer nur den – namentlich auch von Platon und Aristoteles beförderten (28) – katastrophalen Verlauf technischen Wissens gegeben hat? Das zweite Motiv der Mimesis steht im Kontext von Animismus und Magie. In diesem Motiv hat insbesondere Habermas die „Rolle des Statthalters für eine ursprüngliche Vernunft“ gesehen, „deren Platz durch die instrumentelle Vernunft usurpiert worden ist“ (Habermas 1981, 512 Anm.). Dem ist zu Recht mit dem Argument widersprochen worden, dass Kritische Theorie sich hüte, so etwas wie „wahre Ursprünge, in welcher Weise auch immer, zu imaginieren“ (Hesse 1984, 185).³ Das Dilemma, das daraus erwächst, scheinen Horkheimer und Adorno in Gestalt der Mimesis unausgesprochen zu umkreisen. „Die Zauberei ist wie die Wissenschaft auf Zwecke aus, aber sie verfolgt sie durch Mimesis, nicht in fortschreitender Distanz zum Objekt“ (17). Um Haaresbreite wird das mimetische Vermögen, insofern es auf den Zweck der Naturbeschwörung ausgeht, der instrumentellen Vernunft einverleibt, und insofern es diesen Zweck durch nachahmende Anähnlichung (15) und nicht durch die Herstellung von Identität verfolgt, innerhalb der instrumentellen Vernunft von ihr auch unterschieden. „Magie ist blutige Unwahrheit, aber in ihr wird Herrschaft noch nicht dadurch verleugnet,
Der Ansatz, der Dialektik der Aufklärung die Diagnose einer Deformation zu unterstellen, die einen nichtdeformierten Zustand voraussetzt, liegt auch noch Habermas’ späterer Kritik zugrunde, wonach sich Adorno in der Beschreibung der „Selbstzerstörung des kritischen Vermögens“ bewusst in den „performativen Widerspruch“ begeben habe, „im Augenblick der Beschreibung noch von der totgesagten Kritik Gebrauch machen“ zu müssen (Habermas 1985, 144). Tatsächlich wird aber im Begriff der Aufklärung gar nichts für tot erklärt, was demnach früher einmal lebendig gewesen wäre. Was Habermas seiner Feststellung eines performativen Widerspruchs unterlegt, dass sich Vernunft „als instrumentelle, an Macht assimiliert und dadurch ihrer kritischen Kraft begeben“ hat (Habermas 1985, 144), ist mit anderen Worten gerade keine These, die Horkheimer und Adorno im fraglichen Text selber vertreten, sondern die sie mit der Behauptung einer wesentlich technischen Vernunft von Beginn an unterlaufen. Genau deshalb entsteht das eigentliche methodische Dilemma ihrer radikalen Vernunftkritik ja erst, das mit der Diagnose eines performativen Widerspruchs nicht verwechselt werden darf und von dem nach allem auch zweifelhaft ist, ob es den Autoren in seiner Schärfe überhaupt bewusst gewesen ist.
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daß sie sich, in die reine Wahrheit transformiert, der ihr verfallenen Welt zugrundelegt“ (15). In diesem Sinne ist der Rekurs auf Mimesis eine höchst ambivalente Kippfigur. Wenn die Behauptung richtig sein soll, dass sich die gesamte Menschheitsgeschichte aus dem Zusammenhang von Naturzwang und Naturbeherrschung erklären lässt, kann auch Mimesis nur das Dokument des Schreckens sein (vgl. 189 – 190). Identifizieren lässt sich die behauptete totale Negativität des Geschichtsverlaufs zugleich aber nur, wenn dafür ein Maßstab zur Verfügung steht, der seinerseits wiederum nicht einem zwanglosen Zustand entnommen sein darf, weil sonst die Behauptung durchgehender Zwangsherrschaft in sich zusammenfiele. Der Rekurs auf Mimesis spiegelt dieses Dilemma, aber er bewältigt es nicht, weil er die Theorie vielmehr in einen rastlosen Zirkel führt.⁴ Eine ganz andere Perspektive wird dann mit dem Motiv der bestimmten Negation eröffnet. Das Motiv als solches entlehnen die Autoren Hegel, der damit „ein Element hervorgehoben“ habe, „das Aufklärung von dem positivistischen Zerfall unterscheidet, dem er sie zurechnet“ (30). Zeigt dies nun, und sei es unter der Hand, eine Selbstreflexion auf den Vollzug der Aufklärungskritik an, die die Grundfrage nach der Möglichkeit einer im Verblendungszusammenhang agierenden Kritik beantworten kann? Auch hier ist Skepsis angebracht. Zu beachten ist, dass das Motiv im Zusammenhang der jüdischen Religion und ihres absoluten Bilderverbots eingeführt wird. Eindeutig geht es darum, dieses Verbot zu verteidigen, und zwar so, dass es von einer abstrakt genannten Verneinung unterschieden wird. Als bestimmte Negation lässt sich die Durchführung des Bilderverbots auf das Bild ein und „lehrt aus seinen Zügen das Eingeständnis seiner Falschheit lesen“ (Hindrichs 1998). Selbst wenn Horkheimer und Adorno ihre Anleihe bei Hegel nicht explizit durch den Vorwurf flankiert hätten, dass bei Hegel der Gesamtprozess der Negation zum absoluten Wissen führt und damit Mythologie an die Stelle des strikten Bilderverbots gesetzt worden sei, wäre klar, dass bestimmte Negation hier von vornherein etwas ganz anderes meint als bei Hegel. Hegels Dialektik zielt darauf, durch den Einsatz bestimmter Negation, anstatt ins Leere abstrakter Verneinung zu laufen, je neue und weitere Bestimmungen eines Sachverhalts zu generieren, der so zusehends an Konkretion gewinnt. Horkheimer und Adorno hingegen ge-
Die im weiteren Umfeld skizzierte Bedeutung „authentische[r] Kunstwerke“ (24) mag im Keim auf Adornos spätere Delegation des Mimesis-Motivs an die Kunst verweisen. Im Rückblick der Ästhetischen Theorie wird zugleich klar, welch gewaltiger Transferleistung aus dem archaischen Ritual an ein ganz anderes Medium es offenbar bedurfte, um Potentiale der Mimesis fruchtbar zu machen. Ob sich das methodische Grundproblem dann im Verhältnis zwischen Kunst und ästhetischer Theorie wiederholt, ist hier nicht zu diskutieren.
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ben als Gegenteil abstrakter Verneinung ein Verfahren aus, das ausdrücklich nicht zu konkreten Bestimmungen gelangt, sondern von allem Konkreten sagt, dass es nicht das Wahre ist. Für den Vollzug der Aufklärungskritik, sofern sie sich an diesem Modell orientieren soll, hat das zwei gravierende Folgen: Auch wenn sie es angeblich nicht ist, ist solche Kritik erstens sehr wohl abstrakt, nämlich in genau dem Sinne, dass sie unterschiedslos von der gesamten Menschheitsgeschichte behauptet, je schon im Falschen verstrickt zu sein. Und zweitens wird damit um so mehr herausgestellt, dass diese Kritik, wenn sie denn via negationis auf die Wahrheit verweisen will, des Maßstabs der Wahrheit bedarf, für den hier nun nichts Geringeres als das Absolute selber aufgeboten wird. Im Kontrast zu Hegels absolutem Wissen, dem mythologische Verblendung bescheinigt wird, ist das hier adressierte Absolute dem Verblendungszusammenhang offenkundig transzendent – was damit wiederum und erst recht die Frage provoziert, aufgrund welcher Hinweise oder Anzeichen sich davon im Verblendungszusammenhang auch nur so etwas wie eine Idee gewinnen lässt, vorausgesetzt, dass man sie nicht einfach wie an dieser Stelle aus der jüdischen Religion bezieht. Vor diesem Hintergrund scheint mit dem Motiv der Selbstbesinnung des Denkens als „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (47) eine nochmals andere Variante formuliert zu sein. Darauf deutet bereits der Kontext hin, in dem es darum zu gehen scheint, dem negativen Befund der Aufklärung eine Perspektive seiner Überwindung zu kontrastieren: „Diese logische Notwendigkeit aber ist keine endgültige“ (43). Erratisch bleibt der Hinweis auf die befreiende „Gestalt der Maschinen“ (44), der vielleicht für eine über Lukács (Lukács 1970) vermittelte restmarxistische Adresse steht, um dann aber die Bestimmung des Denkens ins Zentrum zu stellen. Kein Denken, so heißt es hier, kann „sich der Verstrickung, in der es in der Vorgeschichte befangen bleibt, entwinden“, aber: „Denken, in dessen Zwangsmechanismus Natur sich reflektiert und fortsetzt, reflektiert eben vermöge seiner unaufhaltsamen Konsequenz auch sich selber als ihrer selbst vergessene Natur, als Zwangsmechanismus“ (45 – 46). Anders als das eben skizzierte Verfahren bestimmter Negation scheint dieser Gedanke ganz ohne den Maßstab absoluter Wahrheit, ohne die Utopie einer Versöhnung auszukommen. Es genügt gleichsam das diesmal implizit von Hegel geliehene Motiv der Reflexion der Reflexion. ⁵ Wenn Aufklärungskritik sich selber im Herrschaftsdiskurs der Aufklärung verortet, wenn sie gar nicht beansprucht, etwas anderes als Herrschaft zu sein, Die unentwegten, expliziten und impliziten, Bezüge auf Hegel zeigen an, was unausgesprochen im Hintergrund des ganzen Textes steht (vgl. 234): der Einspruch gegen Hegels Satz, dass die Weltgeschichte der „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ sei (Hegel 1970, 32). Das Problem, den ja nicht unverständlichen Protest gegen Hegel methodisch überzeugend durchzuführen, hat Adorno jedoch auch in der Negativen Dialektik nicht lösen können (Sandkaulen 2006).
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dann entdeckt sie im Vollzug ihres eigenen gewalttätigen Denkens das Opfer der Gewalt – die verstümmelte Natur. Der „Bruch zwischen Subjekt und Objekt, den [Aufklärung] zu überdecken verwehrt“, wird „zum Index der Unwahrheit seiner selbst und der Wahrheit“ (46). Allenfalls so und mithin in genau gegenläufiger Richtung lässt sich dem in der Vorrede formulierten Gedanken der „Selbstzerstörung der Aufklärung“ ein Sinn abgewinnen. Indessen ist auch klar, dass sich mit dieser Figur das ganze Unternehmen nun vollends im Kreise dreht. Eine Aufklärungskritik, die sich konsequent zur Herrschaftslogik der Aufklärung bekennt und mit solchem Bekenntnis „mehr als Aufklärung“ sein will, überdeckt mit der Beschwörung eines gleichsam automatischen Umschlags nicht allein die Frage, wie das Denken dazu kommen mag, inmitten der Verblendung die Metaebene seiner Selbstreflexion zu erklimmen. Vielmehr setzt sie ja schon mit der behaupteten Zwangslogik der Aufklärung das ganze Arsenal ihrer unausgewiesenen Prämissen voraus. Herrschaft am Maßstab des Opfers zu identifizieren, ohne das sie keine Herrschaft wäre, verlangt mit anderen Worten, wenn es sich nicht um eine leere Tautologie handeln soll, bereits das Wissen darum, dass kein Opfer erbracht werden soll. Woher Horkheimer und Adorno dieses Wissen beziehen, das der Konstruktion des Verblendungszusammenhangs ebensosehr wie der Einsicht in ihn zugrunde liegt, bleibt unerfindlich, nachdem durch die radikale Reduktion der Vernunft auf ihre instrumentelle Gestalt jegliches Licht einer normativen Vergewisserung zugehängt worden ist. Demgegenüber ist es zuletzt eine zweitrangige Frage, die sich am Text auch gar nicht eindeutig entscheiden lässt, ob die gegenläufig zur Vorrede skizzierte Selbstzerstörung der Aufklärung am Schluss nur in der fortgesetzten Anklage der Gewalt oder darüber hinaus auch in der Verheißung realen Glücks besteht.
Literatur Descartes, René. 2011. Discours de la Méthode, Franz.-Deutsch, hg. v. Christian Wohlers, Hamburg Früchtl, Josef. 1986. Mimesis. Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adorno, Würzburg Habermas, Jürgen. 1981. Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1, Frankfurt a. M. Habermas, Jürgen. 1985. Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung, Horkheimer und Adorno, in: Ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M., 130 – 157 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1988. Phänomenologie des Geistes, hg. v. Wessels, Hans-Friedrich/Clairmont, Heinrich, Hamburg Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1970. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke Band 12, hg. v. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Frankfurt a. M. Hesse, Heidrun. 1984. Vernunft und Selbstbehauptung. Kritische Theorie als Kritik der neuzeitlichen Rationalität, Frankfurt a. M.
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Hetzel, Andreas. 2011. Dialektik der Aufklärung, in: Klein, Richard/Kreuzer, Johann/Müller-Doohm, Stefan, (Hrsg.): Adorno-Handbuch, Stuttgart/Weimar, 389 – 397 Hindrichs, Gunnar. 1998. Unendliche Vorgeschichte. Zur Modernitätsdiagnose der Dialektik der Aufklärung, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 7, 41 – 61 Horkheimer, Max. 2007. Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a. M., vgl. Mannsküp. Georg Lukács. 1970. Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats, in: Ders.: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Darmstadt, 170 – 355 Sandkaulen, Birgit. 2006. Weltgeist und Naturgeschichte. Adornos Geschichtsphilosophie mit und gegen Hegel, in: Honneth, Axel/Menke, Christoph, (Hrsg.), Theodor W. Adorno, Negative Dialektik. Klassiker Auslegen, Berlin, 169 – 187 Schnädelbach, Herbert. 2004. Adorno und die Geschichte, in: Ders.: Analytische und postanalytische Philosophie, Frankfurt a. M., 150 – 178 Weber, Max. 1992. Wissenschaft als Beruf, in: Gesamtausgabe Band 17, hg. v. Mommsen, Wolfgang Justin, Tübingen Wellmer, Albrecht. 2005. Über Negativität und Autonomie der Kunst. Die Aktualität von Adornos Ästhetik und blinde Flecken seiner Musikphilosophie, in: Honneth, Axel (Hrsg.), Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno-Konferenz, Frankfurt a. M., 237 – 278 Wiggershaus, Rolf. 1988. Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München
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2 Exkurs I. Odysseus oder Mythos und Aufklärung Nicht die letzte der Aufgaben, vor welche Denken sich gestellt sieht, ist es, alle reaktionären Argumente gegen die abendländische Kultur in den Dienst der fortschreitenden Aufklärung zu stellen. Theodor W. Adorno: Minima Moralia
Der erste Exkurs der Dialektik der Aufklärung fasziniert und irritiert gleichermaßen. Homers Odyssee als Zeugnis der Dialektik der Aufklärung und ihren Protagonisten als ersten Bürger zu verstehen, geht gegen das geläufige Geschichtsbild, das Bürgerlichkeit und Aufklärung erst von der Neuzeit an kennt. Das dezidiert anachronistische und gewaltsame Moment eines solchen Zugriffs liegt klar zutage; dennoch wurde es den Autoren immer wieder vorgehalten. (Geyer-Ryan und Lethen 1987; Bolz 1987; Schmidt 2004; Schnädelbach 2008) Wer sich aber vom Klischee des schwarzen, des „schwärzesten“ Buches (Habermas 1988, 130) freimacht, unterliegt kaum der Illusion, die Autoren seien sich dessen nicht bewusst gewesen. Der hyperbolische Charakter einzelner Deutungen – etwa dass der Bürger Odysseus „in seiner Smartheit ein hobby“ habe (82) – zeigt an, dass die Anachronismen der Interpretation aus bestimmten Gründen in Kauf genommen worden sind. Einsichtig ist, dass die Deutung der Odyssee etwas über die Gegenwart, mithin den Faschismus aussagen soll (vgl. Figal 2008, 53). Wie das Buch als Ganzes antwortet auch der Exkurs auf die Frage, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“ (1). Obwohl diese Zielsetzung im Buch klar formuliert ist, wird der erste Exkurs kaum als eigenständiger Beitrag zur Antwort auf diese Frage wahrgenommen. Das mag auch daran liegen, dass der eigentliche Problemzusammenhang – die Auseinandersetzung mit der neoromantischen Reaktion und der klassischen Philologie – in der vorliegenden Fassung nur unterschwellig präsent ist; in einer mittlerweile veröffentlichten frühen Fassung des Exkurses aus Adornos Nachlass tritt dieser Zusammenhang dagegen deutlich hervor (Adorno 1998; dazu Martella 2011, 289, Figal 2008, 56 – 57). Die frühe Fassung ist ein Werk Adornos (ABW 5, 182, 187, 190); die endgültige Fassung ist ein Gemeinschaftswerk. Die Unterschiede zwischen der frühen Fassung und dem publizierten Exkurs betreffen, abgesehen von kleineren Streichungen, die einleitenden Abschnitte und einen größeren Abschnitt am Schluss DOI 10.1515/9783110448764-003
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des Textes. Die ersten drei Abschnitte der endgültigen Fassung wurden stark gekürzt. Am Schluss des Textes wurde zwischen dem 18. und dem 19. Abschnitt eine größere Passage ganz gestrichen, die von Adorno unter dem Titel „Über epische Naivetät“ gesondert publiziert wurde (AGS 11, 34– 40). In der endgültigen Fassung besteht der Exkurs aus 19 Abschnitten, die sich nach thematischen Gesichtspunkten in drei Gruppen aufteilen lassen: Die Abschnitte 1 bis 4 sind einleitender Natur und legen Rechenschaft ab über Gegenstand und Verfahren (2.1); die Abschnitte 5 bis 12 entfalten den Zusammenhang von Opfer, Tausch und List (2.2); Abschnitte 13 bis 19 interpretieren einzelne Stationen des eigentlichen Nostos nicht bloß aus der Perspektive der Verschlingung von Mythos und Aufklärung, sondern auch im Hinblick auf Potentiale einer gelingenden Aufklärung (2.3).
2.1 Die Odyssee als Zeugnis bürgerlicher Aufklärung (Abschnitte 1 bis 4) Was ist Gegenstand des Exkurses? Die Antwort scheint einfach: Die Odyssee – gelesen als „Zeugnis“ der Verschlingung von Mythos und Aufklärung (50). Indem bereits eines der frühesten Zeugnisse der abendländischen Kultur als Dokument nicht bloß der Aufklärung, sondern der Verschlingung von Mythos und Aufklärung gelesen wird, unterlaufen die Autoren sowohl eine verfallsgeschichtliche Konstruktion als auch das Topos einer aus dem Ruder gelaufenen Aufklärung: Aufklärung ist weder der Abfall von ursprünglicher Naturverbundenheit noch ein anfangs heilsamer Prozess, der auf späterer Stufe etwas über das Ziel hinausgeschossen ist; sie ist von Beginn weg in einen Kampf mit dem Mythos verstrickt, der bis in die Gegenwart andauert. Diese These wird gerne als Totalverdammung der abendländischen Geschichte missverstanden, so als ob Hitler nur konsequent entfaltet hätte, was bei Homer schon angelegt ist. (Bolz 1987, 112; Schnädelbach 2008, 132) Die plumpe Auslegung übersieht, dass es den Autoren weniger um eine Auseinandersetzung mit der Odyssee als um eine Auseinandersetzung mit einer bestimmten Deutung der Odyssee zu tun ist. Insofern ihre Auslegung ein Gegenprogramm zur neoromantischen Homerlektüre bildet, geht es im Exkurs nicht um fernste, sondern um die jüngste Vergangenheit. Nicht Homer ist Wegbereiter des Faschismus, sondern die „spätromantisch-deutsche Interpretation der Antike, die Nietzsches frühen Schriften folgte“ (51), zumal diejenige Rudolf Borchardts (52). Mithin erschließt sich uns der Exkurs erst über eine Rekonstruktion des Problemzusammenhanges, der von Nietzsches frühen Schriften zu Borchardts Homerdeutung führt.
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2.1.1 Nietzsche und die klassische Philologie Die frühe Fassung beginnt mit der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Zugriffsweisen auf die Antike durch die neoromantische Reaktion und die klassische Philologie. Deren Verhältnis ist, so Adorno, notwendiges Resultat der innerfachlichen Entwicklung der Philologie als Wissenschaft und dem dieser Entwicklung gegenläufigen Interesse gebildeter Kreise an der Antike. In der Entwicklung der klassischen Philologie zeigt sich ein Stück Dialektik der Aufklärung: Die zunehmend positivistisch eingestellte Forschung muss sich die Deutung versagen, weil die ausschließliche Konzentration auf durch Fakten unmittelbar Verbürgtes einen radikalen Verzicht auf Deutung zur Folge hat. (Adorno 1998, 38) Denn Deutung ist nicht möglich ohne einen minimalen Überstieg: Deuten heißt die Fakten in eine bestimmte, „lesbare Konstellation“ zu bringen, „in der die Elemente zur Schrift zusammentreten“ (AGS 6, 399). Deutung ist ein im weitesten Sinne spekulatives Verfahren. In Konstellation gebracht, bedeuten die Fakten mehr als ihre bloße Summe. Dieses Mehr ist der spekulative Überschuss, den sich der Positivismus verbieten muss. Deshalb sind Deutung und streng positivistisch orientierte Forschung unversöhnlich. Das von der Forschung unbefriedigte Verlangen nach Deutung wird in Folge durch andere Parteien bedient, die sich zwar souverän über die Fakten erheben, aber zugleich unbekümmert um dieselben ihr eigenes reaktionäres Programm in die Antike hineindeuten. Gerade weil sich die klassische Philologie im Bemühen um strenge Wissenschaftlichkeit den deutenden Überschuss über den wissenschaftlichen Zugriff versagt, lässt sie ein unwissenschaftliches, mythisches Bild der Antike gewähren, das umso wirkmächtiger wird, je mehr sich die Wissenschaft in ihre Wissenschaftlichkeit zurückzieht.¹ Diese Schwäche des Positivismus wird im Exkurs personifiziert durch Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf, die „höchste Autorität in der deutschen Altertumswissenschaft“ (E. A. Schmidt 2006, 151). Die Zuschreibung ist keineswegs willkürlich. Sie wird vom Wilamowitzschüler Karl Reinhardt bestätigt: Dem Dilemma, zugleich den Kriterien strenger Wissenschaftlichkeit genügen und eine sinnvolle Deutung des bereits im Namen der Philologie enthaltenen „Klassischen“ liefern zu müssen, habe sich Wilamowitz entzogen, indem er das Klassische zugunsten der Wissenschaftlichkeit aufgab. (Reinhardt 1966, 348) Bereits eine seiner ersten Schriften, die Streitschrift gegen Nietzsche, verteidigt das wissenschaftlich abgesicherte Antikebild der Philologie gegen „auf dem wege der intuition erlangte weisheit“ (Wilamowitz-Möllendorf 1872, 6). Nietzsche – auf den sich die neoro-
Die Einsicht in den Zusammenhang von Positivismus und Mythos in den Altertumswissenschaften verdanke ich zahlreichen Gesprächen mit Anika Kolster-Sommer.
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mantische Reaktion stützt – hatte sich mit seinem Erstling Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik nicht bloß dem herkömmlichen Verständnis der antiken Tragödie entgegengesetzt, sondern auch deutliche Kritik an der philologischen Zunft geübt. (KSA 1, 130) Wilamowitz hält Nietzsche im Gegenzug vor, Quellen zu übersehen und fertigt ihn beinahe schulmeisterlich ab. (Wilamowitz-Möllendorf 1872, 13) Der Streit bleibt polemisch; es kommt zu keiner sachlichen Auseinandersetzung. Rückblickend wird Wilamowitz seinen „Kampf für die bedrohte Wissenschaft“ als „verzweifelt naiv“ abtun: Nietzsche, das sehe er jetzt, sei es gar nicht um „wissenschaftliche Erkenntnis“ gegangen. Nur solange Nietzsche als Philologe auftrat, wirkte er auf Wilamowitz als Bedrohung; sobald er „Lehramt und Wissenschaft“ aufgegeben hatte, konnte man ihn gewähren lassen. (Wilamowitz-Möllendorf 1929, 129 – 130) Die Relativierung ist bezeichnend: Der Narr mag erzählen was er will, solange er nur als Dichter und nicht als Wissenschaftler auftritt. Dieser naive Glaube an die Kraftlosigkeit nicht wissenschaftlich verbürgter Einsichten ist das Unheil des Positivismus; seit Comte ruht er auf dem durch Fakten keineswegs verbürgten Vertrauen in die Macht des wissenschaftlichen Fortschritts, der im Positivismus, dem „régime définitif de la raison humaine“ zum Abschluss komme. (Comte 1966, 4) Der durch Wilamowitz und Nietzsche personifizierte Konflikt von Positivismus und Mythos ist der Hintergrund, vor dem Adorno und Horkheimer ihre Deutung der Odyssee entfalten: Wilamowitz wirft Nietzsche Unwissenschaftlichkeit vor und beschränkt sich auf am Textbestand Überprüfbares; Nietzsche kritisiert die unfruchtbare Kleinstarbeit an Textfragen und schwingt sich zu einer gewagten Deutung des Griechentums auf, die der neoromantischen Reaktion den Weg zu ihrer Antike freimacht. Adornos versteckte Auseinandersetzung mit Wilamowitz und der Philologie gipfelt im Vorwurf, dass Wilamowitz im positivistisch ausstaffierten Innenraum der Philologie verbleibt und die neoromantische Reaktion ihre irrationalistischen Blüten treiben lässt; gleichzeitig verbaut er sich damit auch Einsichten, die – den Händen der Irrationalisten entrissen – auch der Philologie zu Gute kommen würden. (Adorno 1998, 40) Als Beispiel nennt Adorno den britischen Altphilologen Gilbert Murray, der auch in den Fußnoten der endgültigen Fassung noch als das reflektierte und liberale Gegenbild zum verstockten und autoritären Wilamowitz fungiert. Die Rekonstruktion des Wilamowitz-Nietzsche-Konfliktes zeigt: Adorno und Horkheimer inszenieren ein in der endgültigen Fassung nur schwer überschaubares Drama, in dem Wilamowitz als Galionsfigur der klassischen Philologie in Deutschland eine fast tragische Rolle spielt: Seine ὕβρις, der „verstockt departementale Hochmut des Graecisten verwehrt ihm die Einsicht in die Dialektik von Mythos, Religion und Aufklärung“ (60); sie verwehrt ihm darum auch die Bekämpfung der neoromantischen Reaktion, deren irrationalistischer Rückgriff auf
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die Antike das intellektuelle Klima entscheidend prägte, in dem der Faschismus gedeihen konnte.
2.1.2 Borchardt und die neoromantische Reaktion Als „Kulturfaschisten“ oder „neoromantische Reaktion“ (51) bezeichnen Adorno und Horkheimer eine uneinheitliche und nicht genau umgrenzte Gruppe von Intellektuellen. Neben dem namentlich genannten Borchardt gehören dazu der später im Text zitierte Ludwig Klages und die restlichen „Kosmiker“; dann aber auch nationalsozialistische Autoren wie Alfred Rosenberg und Alfred Baeumler. Gleichermaßen von Nietzsches Geburt der Tragödie wie von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes beeinflusst, reagieren sie auf die Industrialisierung, die Atomisierung und gleichzeitige Vermassung der vormals heilen Lebenswelt mit einer Mischung aus Untergangsstimmung und Wiedererweckungsphantasien. Dem Verlust der ursprünglichen Gemeinschaft zwischen den Menschen setzen sie die Idee einer neuen einheits- und sinnstiftenden Macht, einer Neuen Mythologie entgegen. Die Idee geht zurück auf „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“, ein in Hegels Hand überliefertes, aber vermutlich von ihm, Hölderlin und Schelling gemeinschaftlich verfasstes Fragment, das zugleich Systementwurf und politische Agitationsschrift ist. (Hegel 1986) Neue Mythologie bildet bereits dort die Antwort auf die Probleme einer durch einseitige Verstandesaufklärung zersplitterten Moderne. Ursprünglich als Aufklärung über die Aufklärung konzipiert und mit anarchistischen Tendenzen durchsetzt, verkehrt sich die Idee einer Neuen Mythologie bei den Neoromantikern in eine reaktionäre und nationalistische Ideologie (Frank 1982 und 1988). Die Idee einer Wiederherstellung verlorener Gemeinschaft verkommt zu einem undifferenzierten, gegen den Logozentrismus der Aufklärung gerichteten Archaismus; die am Vorbild der attischen Tragödie orientierte Idee der gemeinschaftsstiftenden Funktion der Kunst wird in ein nationalistisches Korsett gezwängt; die korrosiven Konsequenzen kapitalistischer Expansion werden als Raub- und Zerstörungsaktionen fremder, in der Zirkulationssphäre agierender Gesellschaftsgruppen wahrgenommen. Auch wenn sich diese Ideen nicht immer mit Antisemitismus und Rassenideologie verbanden, stellten sie doch einen fruchtbaren Boden für nationalsozialistisches Gedankengut dar; in dieser Hinsicht, als – bisweilen unfreiwilliger – geistiger Wegbereiter des Faschismus, spielt die neoromantische Reaktion im Exkurs über Odysseus eine bedeutende Rolle. In der frühen Fassung setzt sich Adorno eingehend mit Borchardts „Einleitung in das Verständnis der pindarischen Poesie“ auseinander. In diesem ausufernden Text macht Borchardt den Jahrhunderte nach Homer geborenen Pindar zum
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„Restaurator“ des ursprünglichen Griechentums gegen den kleinasiatischen Fremdling Homer. Borchardt richtet sich gegen die klassizistische Auffassung der homerischen Epen als „Urpoesie des Abendlandes“; dieser Titel gebühre vielmehr dem Werk Pindars, der die ursprüngliche Dichtung von Hellas wiederherstellt. Homers Epen gelten Borchardt als Zeichen fremder Kultur; sie sind nicht eigentlich griechisch, sondern ionisch und damit asiatisch. Borchardts Verständnis der griechischen Kultur ist um diesen Gegensatz zentriert: Hellas ist Adel, Gesang, Poesie; Ionien ist Markt, Handel und Prosa. Pindar ist Mythos, Homer ist Aufklärung. Borchardt macht die ob ihrer zersetzenden Kraft bekämpfte Rationalität bereits in den homerischen Epen ausfindig. Der einheits- und sinnstiftende Mythos wird in den Epen zum bloßen Stoff der formgebenden Rationalität des Marktes herabgesetzt. In Borchardts Interpretation ist diese eigentlich kosmopolitische Marktrationalität als ionisch-asiatische die Rationalität eines fremden Kulturkreises. Ihr gegenüber stellt Pindars Poesie – wider die Chronologie – die einheimische Urpoesie Griechenlands dar: eine sich dem Mythos anschmiegende Poesie, die ihn nicht in fremde Formen zwingt, die ihn organisch hervortreten lässt, statt ihn mechanisch zu unterwerfen. (Borchardt 1959, besonders 174– 175) Der Konflikt zwischen Pindar und Homer dient Borchardt offenkundig als Folie des Konfliktes zwischen verlorener Heimat und den zersetzenden, vermassenden, vermarktenden Tendenzen der Moderne. Als Restaurator ist Pindar eine Projektion des von Borchardt verfolgten Programms einer „schöpferischen Restauration“ (Borchardt 1955), die sich gegen Massenkunst und Demokratie richtet, sowie sich Pindar gegen die zum Roman – zur Massenliteratur – tendierenden Epen richtet. Borchardts Verfahren schließt bedeutsame Einsichten nicht aus; aber sie wären „dem Bann des Unheils“ zu entreißen, damit sie „dem gescholtenen Epos zum Guten ausschlagen“ vermögen (Adorno 1998, 41). Das ist die eigentliche Aufgabe des Exkurses über die Odyssee: Borchardts bedeutende „Einsicht in das bürgerlich aufklärerische Element Homers“ (50) von der reaktionären Ideologie der Neoromantik zu trennen. Da die Antike Borchardts eine „Funktion seiner Modernismuskritik“ darstellt (E. A. Schmidt 2006, 9), ist der mit ihm geführte Streit um die Deutung der Odyssee letztlich ein Streit um die Kritik der Moderne. Der Gegenentwurf zum borchardtschen Homer ist Gegenentwurf zu einer reaktionären Totalverdammung der Gegenwart.
2.1.3 Das Epos als Auseinandersetzung von Mythos und Aufklärung Die Auseinandersetzung um Homer muss als doppelte Frontstellung gegen zwei Tendenzen verstanden werden, die beide den Aufstieg des Faschismus und damit
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den Rückfall in die Barbarei mitverschuldet haben. Adornos und Horkheimers Deutung wird sich gegen die archaisierenden Tendenzen der Neoromantik richten, indem sie aufzeigt, dass der Rückgang in den Mythos in der Katastrophe endet; diese Gegendeutung aber hat auch den Anspruch – gegen die positivistische Philologie – Deutung und Forschung exemplarisch wieder zusammenzuführen – deshalb die Fülle philologischer und ethnographischer Belege. Vor diesem Hintergrund lässt sich ein dreifaches Beweisziel des Exkurses rekonstruieren. Er zeigt an der Odyssee… 1) dass die verlockende Rückkehr zu einem vermeintlich heilen Urzustand in Wahrheit eine gefährliche Regression ist: Das Epos ist – hier stützen sich die Autoren auf Nietzsche – als vollkommen apollinische Kunstform das Resultat des schwer errungenen Sieges des apollinischen Prinzips der Individuation über das „Titanenreich“ und dessen „Ungethüme“ (Nietzsche KSA 1, 37; KSA 7, 398). Die Odyssee legt Zeugnis ab von der prekären Verfassung des bürgerlichen Individuums: Das nicht gefestigte Selbst droht den Lockungen zu verfallen und damit in die Barbarei des Titanenreichs zurückzufallen. 2) dass das Selbst nicht einfach das Andere der mythischen Gewalten ist: Die Formung des Selbst in der Auseinandersetzung mit dem Mythos gelingt nur, wenn Odysseus sich in dieser Auseinandersetzung dem Mythos aussetzt und sich ihm zu einem gewissen Grade gleichmacht. (55) Die gegen innen gekehrte mythische Gewalt perpetuiert das Leiden am Naturzwang und macht das Selbst gerade dadurch anfällig für mythische Lockungen. 3) die Möglichkeit einer gelingenden Aufklärung: An den Irrfahrten des ersten Aufklärers tritt der ursprüngliche Zweck des Aufklärungsprozesses hervor: das Entkommen aus dem Naturzusammenhang. Der durch alle Gefahren hindurch nie die Heimat vergessende Odysseus erinnert die Aufklärung an „die Einlösung der vergangenen Hoffnung“ (5), an die Hoffnung auf eine Überwindung des Mythos, die diesem nicht verhaftet bleibt.
2.2 Opfer, Tausch und List (Abschnitte 5 bis 12) Der in den Abschnitten 5 bis 12 behandelte Zusammenhang von Opfer, Tausch und List soll zeigen, dass der von der neoromantischen Reaktion gegen die Aufklärung in Stellung gebrachte Mythos bereits selbst Aufklärung ist. Die erste Leitthese des Buches – „schon der Mythos ist Aufklärung“ (6) – wird sich am Nachweis erhärten, dass „Blut und Opfer“, das von Borchardt am Mythos als „Echtheit“ gepriesene, bereits Keime der verfemten Rationalität enthalten und dass diese, umgekehrt, nur die Entfaltung „der nackten Gewalt“ ist, die Borchardt „am Mythos vergöttert“ (52). Eigentlicher Adressat der Kritik ist jedoch Klages. Dessen „Nachtrag über den
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Ursinn des Opfers“, das letzte Kapitel seines monumentalen Hauptwerks Der Geist als Widersacher der Seele, bildet den Hintergrund, vor dem Adorno und Horkheimer den Zusammenhang von Opfer, Tausch und List entfalten (Dörr 2007, 104– 184). Klages und Borchardt teilen das Interesse an archaischer Vorzeit im Dienste einer Fundamentalkritik der Gegenwart. Auch Klages kritisiert die zunehmende Vermassung, die Industrialisierung und Rationalisierung aller Lebensbereiche; wie Borchardt in der Gestalt Pindars konstruiert Klages mit dem Volk der „bildgefesselten“ Pelasger einen von Aufklärung und Zivilisation unberührten Archetyp, der den zerstörerischen Einflüssen der abendländischen Rationalisierung noch nicht erlegen ist. (Klages 1981, 1251– 1252) Dieser konstruierte Bewusstseinszustand soll innerhalb der entfremdeten Moderne erneuert werden. Eines seiner zentralen Elemente ist die magische Verbundenheit mit der Umwelt, die sich unter anderem in Opferhandlungen zeigt. Das Opfer ist zwar ein Tausch aber – da das Pelasgische der Tauschrationalität vorausliegt – nicht im Sinne des Warentausches; es handelt sich vielmehr um einen „Austausch der Fluiden und Essenzen durch Hingebung der Eigenseele an das tragende oder nährende Leben der Welt“ (Klages 1981, 1409).
2.2.1 Opfer und Tausch Adorno und Horkheimer richten sich vornehmlich gegen diese magische Auffassung des Opfers. In Klages Theorie machen sie einen Widerspruch aus: Der „magische[n] Selbstpreisgabe des Einzelnen ans Kollektiv“ widerspricht die Selbsterhaltung des Kollektivs durch die „Technik solcher Magie“. (56) Im Tausch von Individuum und Kollektiv liegt das rationale Element des Opfers begraben. Denn der Tausch ist nicht magisch – nicht die Selbstpreisgabe der Eigenseele an das tragende oder nährende Leben der Welt –, sondern rational im Sinne des Warentausches: „1 geopferte Seele = Kollektiv“ unterliegt derselben Rationalität wie „20 Ellen Leinwand = 1 Rock“. Die im Opfer vermummte Rationalität ist nur die Urform der bürgerlichen Rationalität des Warentausches. Da die Opferhandlung nach dem Äquivalenzprinzip erfolgt, betrügt sie den Gott, dem sie gilt, insofern sie ihn „dem Primat der menschlichen Zwecke unterstellt“. (57) Gegen die neoromantische Theorie der magischen Opferhandlungen und deren archaische Ursprünglichkeit zeigt dieser Betrug, dass das Opfer immer schon ein rationales Element besitzt (vgl. 58). Zwar mögen Menschenopfer ursprünglich unmittelbar dem Erhalt des Kollektivs zugekommen sein, das nur durch den Verzehr von Menschenfleisch überleben konnte. (59) Aber mit der Notwendigkeit solcher Praktiken verschwindet auch die ursprüngliche Rationalität des Opfers: Es wird irrational, aber nicht weil es magisch ist, sondern weil es
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unter neuen Produktionsbedingungen nicht mehr notwendig ist; es wird zum Betrug des Priesters am Kollektiv. Gerade dieser Betrug – die magische Interpretation – ist nichts anderes als „priesterlich[e] Rationalisierung des Mordes“ (58). Es zeigen sich nun zwei Momente der Rationalität im Opfer: Einerseits wird das Opfer bereits nach dem Modell der Tauschrationalität vollzogen; andererseits wird das irrational gewordene, weil nicht mehr notwendige Opfer magisch rationalisiert. Diese Dialektik von Rationalität und Irrationalität des Opfers wird gegen die neoromantische Reaktion und gegen Wilamowitz zugleich verteidigt: Was die neoromantische Reaktion als das Magische am Opfer interpretiert, stellt bloß dessen priesterliche Rationalisierung dar; die „geradlinig aufgeklärte Annahme“ von Wilamowitz, der Mythos sei einst wahr gewesen, ist dagegen „zu harmlos“ (59). Wilamowitz trennt zu stark zwischen altem und neuem Mythos und bleibt deshalb blind gegen die Dialektik der Aufklärung. (60) Gegen beide – Philologie und Reaktion – betonen Adorno und Horkheimer die Verschlingung von Mythos und Aufklärung. Die Rationalität des Opfers erhält sich in der Bildung des Selbst (61); das Irrationale des Opfers wird dagegen abgeschafft. Mit sich selbst identisch, kann das Selbst nicht mehr Stellvertreter für Anderes sein; es ist nicht mehr magisch austauschbar. (58) So überwindet es das Opfer; zugleich aber vollzieht es einen anderen Tausch, in welchem das Opfer fortlebt. Das Selbst überwindet die magische Austauschbarkeit des Opfers, indem es die unmittelbare Kommunikation mit der Natur auftrennt und dieser sein Selbst entgegenstellt; dieser Akt ist selbst ein Opferritual, in dem der Mensch die Natur in und außer ihm um willen des identischen Selbst opfert. (61) In dieser Opferung der inneren Natur des Menschen um Willen der Herrschaft über die äußere Natur sehen Adorno und Horkheimer zugleich den „Kern aller zivilisatorischen Rationalität“ und „die Zelle der fortwuchernden mythischen Irrationalität“ (61). Kern aller zivilisatorischen Rationalität ist dieses Opfer, weil erst es die Herauslösung des Menschen aus dem blinden Naturzusammenhang möglich macht; Zelle der fortwuchernden mythischen Irrationalität ist das Opfer, weil dadurch das eigentliche Ziel der Naturbeherrschung und das Ziel „des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig“ wird. Das Opfer hatte den Zweck, der Herrschaft der Natur zu entkommen; durch die Beherrschung innerer und äußerer Natur begibt sich das Selbst jedoch nur unter eine andere Herrschaft, die der instrumentellen Rationalität, die nicht nach Zwecken fragt, sondern das Mittel – Naturbeherrschung – zum Zweck macht. Diese Verkehrung findet sich bereits bei Odysseus (vgl. 62– 63). Odysseus verkörpert die Urgeschichte der Subjektivität, weil sich an ihm die Herausbildung des modernen Selbst in actu ablesen lässt. Er vollzieht sichtbar die Opferhandlungen, die das moderne Selbst als verinnerlichte Opferhandlungen
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tagtäglich vollzieht und gar nicht mehr als Opferhandlungen wahrnimmt. „Die Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte der Introversion des Opfers. Mit anderen Worten: die Geschichte der Entsagung.“ (62) Adorno und Horkheimer schließen an Freuds (Freud 1930, 225 – 226) These an, dass Zivilisation ein höheres Maß an Entsagung vom Menschen verlangt, als ihre Früchte wiedergutmachen können. Es ist – gerade nach der Rationalität des Tausches – ein schlechter Tausch (vgl. 62). Entsagung, das introvertierte Opfer, hat sich verselbständigt und wird nicht mehr durch ihren Gewinn aufgehoben: Das ist der Grund, warum das bürgerliche Selbst anfällig ist für die Verlockungen des Mythos.
2.2.2 List und Aufklärung List ist das Mittel, durch das Odysseus den Mythos überwindet. Die List nutzt das Betrugsmoment im Opfer und erhebt es „zum Selbstbewußtsein“ (56 – 57); sie nutzt den Spalt „zwischen Rationalität und Irrationalität des Opfers“, um es zu überwinden (60 – 61); aber sie besorgt auch die „Transformation des Opfers in Subjektivität“ (63). Die List ist nach diesen Stellen zwar das zentrale Mittel der Überwindung des Mythos; indem sie aber die Introversion des Opfers besorgt, führt sie ebenso den Rückfall in den Mythos herbei. Das Schema der Kämpfe des Odysseus mit den mythischen Gewalten ist das Schema der Herausbildung des Selbst gegenüber dem Naturzusammenhang. Da er einem mythischen Ungeheuer wie dem Kyklopen Polyphem an körperlicher Stärke hoffnungslos unterlegen ist, sieht Odysseus sich auf die List zurückgeworfen. Diese besteht stets darin, die Opferstruktur anzuerkennen, in der er sich befindet. Odysseus verstellt sich, er passt sich mimetisch der jeweiligen Rationalitätsform an, um sie so zu überlisten. (64) In der Anpassung an den Mythos nimmt Odysseus deshalb immer wieder mythische Züge an, die er auch als Überwinder des Mythos mit sich trägt. Die mythischen Ungeheuer treten ihm als „Figuren des Zwangs“ entgegen (65). Sie sind gebunden an bestimmte Regeln, die sie stets erfüllen müssen. Darüber vermögen sie selbst so wenig wie ihre Opfer. Odysseus überlistet sie, internalisiert aber durch die List das Zwangsverhältnis und setzt es damit fort. Er widersteht den mythischen Verlockungen durch Entsagung: „Er windet sich durch, das ist sein Überleben, und aller Ruhm, den er selbst und die andern ihm dabei gewähren, bestätigt bloß, daß die Heroenwürde nur gewonnen wird, indem der Drang zum ganzen, allgemeinen, ungeteilten Glück sich demütigt.“ (65) Endgültig überwunden wäre der Mythos erst, wenn die Verfolgung der Selbsterhaltung nicht auf Kosten des Glücks und des Lebens anderer geschehen würde. Als Werkzeug der Aufklärung ist die List aber nicht notwendig deren Dialektik unterworfen. Nach dem Vorwort soll die Kritik an der Aufklärung „einen positiven
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Begriff von ihr vorbereiten, der sie aus ihrer Verstrickung in blinde Herrschaft löst“ (6). Bis jetzt hatten wir bloß eine ambivalente Aufklärung gesehen: eine, die zwar den Mythos überwindet, aber nur um den Preis der Internalisierung mythischer Herrschaft. Nichts spricht jedoch dagegen, die gegen den Mythos verwendeten Mittel der Aufklärung gegen die mythisch erstarrte Aufklärung selbst zu richten. Angesichts der mythischen Gewalten ist der blinde Trotz zwecklos: „List aber ist der rational gewordene Trotz.“ (66) Wie Odysseus, versuchte er blind den Sirenen zu trotzen, diesen hoffnungslos unterliegen würde, vermag die Aufklärung den Mythos nicht durch Trotz zu überwinden. Die List aber, die Odysseus anwendet, ließe sich auch gegen die dem Mythos verfallene Aufklärung richten: Die später ausgearbeitete negative Dialektik transzendiert den Naturzusammenhang ohne Herrschaft, Opfer und Rache (AGS 6, 144– 145); negative Dialektik, die List gegen den mythischen Zwang des Identitätsdenkens, ist die Einlösung des in der Dialektik der Aufklärung vorbereiteten positiven Begriffs der Aufklärung. In der Figur des Odysseus wird dieser positive Begriff der Aufklärung erst angedeutet (63). Implizit wird die Intention der Entmythologisierung – der Kampf mit dem Mythos – vom nicht intendierten Rückfall in den Mythos, in Herrschaft und Entsagung, unterschieden. Odysseus, das zeigen die Stationen seiner Reise, perpetuiert den Mythos, weil er den Naturzusammenhang nur durch Opfer und Rache transzendiert. Die in der Dialektik der Aufklärung vollzogene Aufklärung über die Aufklärung weist diese auf ihre immer noch mythischen Elemente hin: auf Herrschaft und Entsagung.
2.3 Nostos: Aufklärung als Heimkehr (Abschnitte 13 bis 19) An vier verschiedenen Stationen der eigentlichen Heimfahrt (Nostos) belegen Adorno und Horkheimer die bisher entwickelten Gedankengänge. Die Episoden zeigen, dass die Regression auf frühere Stufen der falsche Weg ist, mit den negativen Konsequenzen der Modernisierung umzugehen. Als Regression bezeichnet Freud das Zurückweichen des Ichs auf frühere Entwicklungsphasen aufgrund des Drucks einer Realität, den das Ich nicht bewältigen kann (Freud 1916/1917, 349 – 351); indem sie sich eines Ausdrucks aus der Psychopathologie bedienen, verweisen die Autoren auf den pathologischen Zug der neoromantischen Reaktion. Die Episoden zeigen aber auch, dass die Aufklärung bisher hinter ihrem Impuls zurückgeblieben ist, dass Odysseus die mythischen Gewalten nur bezwingen kann, indem er selbst etwas von ihnen annimmt. In dieser Hinsicht wiederum verweist die Deutung auf die mythischen Überreste im Bürgertum: auf
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Opfer, Rache, Herrschaft. Eine gelingende Aufklärung, so wird deutlich, würde nicht das Glück dem Überleben opfern, sondern das Glück durch geschichtliche Arbeit verwirklichen. Statt sich wie die neoromantische Reaktion vom Mythos bezirzen zu lassen, muss die Aufklärung gegen ihre mythischen Residuen gewendet werden.
2.3.1 Lotophagen: Glück und geschichtliche Arbeit (Abschnitt 13) Die erste von Adorno und Horkheimer gedeutete Station der Heimfahrt ist der Aufenthalt bei den Lotophagen (IX, 85 – 104); die vorangehende Episode bei den Kikonen wird übergangen, wohl weil kein Kampf mit mythischen Mächten, sondern gegen bloß menschliche Feinde stattfindet (vgl. IX, 39 – 61).² Im Gegensatz zu anderen Stationen droht den Reisenden bei den Lotophagen kein Unheil. Das vom Lotos verursachte Vergessen verweist auf einen urtümlichen Zustand ohne Arbeit und Mühe. Adorno und Horkheimer deuten diese Episode sowohl als falsche Idylle wie auch als ältestes Glücksversprechen. Das vermeintliche Glück der Idylle gleicht dem „Glück der Rauschgifte“; dieses soll in „verhärteten Gesellschaftsordnungen“ den unterworfenen Schichten Unerträgliches erträglich machen (70). Regressiv ist die Lockung des Lotos, weil sie eine Flucht aus einer unerträglichen Realität darstellt; es ist die Flucht vor den negativen Folgen der Rationalisierung in einen vorrationalen Zustand, in „dumpfes Hinvegetieren“ (70). Das von den Lotophagen versprochene „Bild der Seligkeit“ ist zwiespältig wie das von der neoromantischen Reaktion beschworene Bilderreich: Es markiert nicht eine Rückkehr zur verlorenen Wurzel, sondern bloßes Vergessen der drückenden Last der Gegenwart. Wahrhaftes Glück, so Adorno und Horkheimer, besteht in der bewusst vollzogenen Aufhebung von Leid, in „Verwirklichung der Utopie, durch geschichtliche Arbeit“ (70). Deshalb ist der Aufklärer Odysseus gegen die Gefährten im Recht, wenn er sie gefesselt auf das Schiff zurückschleppt. Indem er dieses Recht wahrnimmt, ist er zugleich im Unrecht, weil jedes Bild von Glück, mithin auch das Glück der Aufhebung von Leid, vom Bild dieses ursprünglichen Glücks zehrt. (70) Adorno und Horkheimer deuten dieses ursprüngliche Glück als einen paradiesischen Zustand, allerdings nicht in biblischer, sondern in materialistischer Perspektive: als einen Zustand vor jeder Produktion. (71) Indem Odysseus die Gefährten mit Recht aus ihrem geistlosen
Alle Stellen aus der Odyssee werden unter Angabe von Buch- und Verszahl nach der von Adorno und Horkheimer benutzten Übersetzung von Johann Heinrich Voß zitiert.
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Schlummer zerrt, tritt er unmittelbar für Herrschaft und Entsagung und gegen das ursprüngliche Glück ein. Dennoch bleibt auch er vom Bild dieses Glücks beherrscht: „mit trauriger Seele“ fährt er weiter (IX, 105). Die Deutung der ersten Episode fällt das ambivalente Urteil über die Aufklärung und verweist zugleich auf einen positiven Begriff derselben: Nur wenn der Aufklärer dieses Urbild des Glücks durch geschichtliche Arbeit verwirklicht, wird Aufklärung ihrem Begriff gerecht.
2.3.2 Polyphem: Barbarei und Logozentrismus (Abschnitte 14 und 15) Polyphem und die anderen Kyklopen stehen bereits für ein späteres Zeitalter: das Zeitalter der Barbarei. Indem er Polyphem das „gesetzlos denkende Scheusal“ nennt (IX, 428),³ bezeichnet Homer nicht allein dessen Nichtbeachtung der Gastgesetze, sondern auch den Charakter seines Denkens: Polyphem vermag nicht gesetzmäßig, mithin nicht logisch, sondern bloß „unsystematisch, rhapsodisch“ zu denken. (72– 73) Deshalb kann er weder die „Denkaufgabe“ lösen, auf welche Weise Odysseus aus der Höhle entkommen könnte, noch ist es ihm möglich, das Spiel mit dem Namen des Odysseus zu durchschauen. In der Überwindung des gesetzlosen Kyklopen durch den gesetzmäßigen Denker Odysseus sehen Adorno und Horkheimer die Austragung des Konflikts zwischen der „elementarischen Volksreligion“ – verkörpert durch Polyphems Vater, den Meeresgott Poseidon – und „logozentrischer Gesetzesreligion“ – verkörpert durch Zeus. (73) Da der Ausdruck „Logozentrismus“ ursprünglich von Klages gegen die einseitige Rationalität der Aufklärung in die Diskussion eingebracht wurde (Klages 1981, 130, 374– 375), muss der Triumph des Odysseus über Polyphem auch als Triumph der „logozentrischen“ Aufklärung über die neoromantische Idealisierung der Barbarei gedeutet werden. Trotzdem gestehen Adorno und Horkheimer dem Kyklopen auch versöhnliche Züge zu – nicht ohne Seitenhieb auf Wilamowitz, der in den Kyklopen nur „Tiere“ sieht (Wilamowitz-Möllendorf 1931, 14; 71). Als Beispiel nennen sie den zärtlichen Umgang des Kyklopen mit seinen Tieren. (73; vgl. IX, 309, 342) Aber dieses Verhalten bleibt isoliert; es hat sich noch nicht „zum Charakter objektiviert“ (74). Anders als Odysseus ist Polyphem noch kein Selbst – auch deshalb erliegt er der List des Namens (75) –, das seine Handlungsoptionen rational reflektiert; insofern steht er noch diesseits von Gut und Böse. So ist auch die Bezwingung des Kyklopen zutiefst zwiespältig. Während der Widerstand gegen den Lotos so weit mythisch
„πέλωρ, ἀθεμίστια εἰδως“. Voß übersetzt: „das gottlose Ungeheuer“.
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war, als er mit Herrschaft und Entsagung verbunden war, ist der Sieg über den Kyklopen so weit mythisch, wie er mit Rache verbunden ist. Odysseus gleicht sich der Rationalität des Kyklopen an, wenn er ihm wohlschmeckenden Wein zum Menschenfleisch empfiehlt. (IX, 347– 348) Im Unterschied zu Polyphem aber weiß Odysseus es besser: Seine List setzt kalte Berechnung voraus, die den Verlust der verspeisten Gefährten miteinkalkuliert. Diese Kälte ist dem Kyklopen fremd, und deshalb repräsentiert seine Dummheit im Augenblick des Sturzes durch kalte Rationalität das Bessere. (74) Die Deutung der Episode zeigt den Sieg der Aufklärung über das Barbarentum, aber auch den Preis dieses Sieges: die Kälte als „Grundprinzi[p] der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre“. (AGS 6, 356)
2.3.3 Kirke: Mythos und Versöhnung (Abschnitte 16 bis 18) Im Verhältnis von Kirke und Odysseus entdecken Adorno und Horkheimer die Grundstruktur der späteren bürgerlichen Ehe. Odysseus widersteht den Verlockungen Kirkes; sie gewährt ihm dafür die Lust des Beischlafs, die sie den Gefährten, die ihr nicht widerstehen konnten, nur trugvoll verhieß. Deren Verwandlung in Schweine deutet auf die Wiederkehr der unter der Herrschaft der Kultur verdrängten Sexualtriebe hin: Im Hintergrund steht die These Freuds, dass der Übergang primärer Sexualreize von den Geruchsreizen zu den Gesichtsreizen ein zentraler Vorgang der Kulturentwicklung ist (Freud 1930, 229). Die Verwandlung ist einerseits Befreiung der Sexualität von den Fesseln der Kultur, andererseits Erniedrigung des selbstbestimmten Menschen im „unfreien Schnüffeln dessen, der die Nase am Boden hat und des aufrechten Ganges sich begibt“ (79). Das Glück der Befreiung wird bezahlt mit dem Verlust der Autonomie. Deshalb verlangt Odysseus von Kirke, bevor er mit ihr schläft, „mit hohem Schwur zu geloben“, dass sie ihm nichts antut. (X, 343 – 347) Mit dieser Urform des Eheschwurs unterstellt er die Frau und die in ihr repräsentierten Naturkräfte seiner Herrschaft. Die bürgerliche Ehe ist das Vehikel dieser Herrschaft des Mannes über die Natur. Wie alle Formen bürgerlicher Rationalität ist die Ehe nicht nur Mythos. Ehe bedeutet bereits in der Odyssee auch: „solidarisch, gemeinsam dem Tod standhalten“ (83; XXIII, 210 – 212). Versöhnung entwickelt sich in der Ehe nicht gegen den Mythos, sondern durch ihn hindurch: „Wohl gehört die Ehe zum Urgestein des Mythos auf dem Grunde von Zivilisation. Aber ihre mythische Härte und Festigkeit entragt dem Mythos wie das kleine Inselreich dem unendlichen Meer.“ (83) Die Verlängerung des Mythos als Herrschaft und Entsagung in der bürgerlichen Ehe schlägt in ihrer Verhärtung um in Versöhnung: Verzicht auf Promiskuität und
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Unterwerfung der Triebe unter den gemeinsamen Vertrag binden die Gatten mythisch aneinander; die gegenüber allen anderen Beziehungen, zumal den Funktionszusammenhängen der Gesellschaft verdinglichte Zweisamkeit widersteht den Zwängen der Gesellschaft, die selber auf Entsagung und Herrschaft aufgebaut ist. Dass dinghafte Verhärtung Bedingung von Humanität ist, erwähnt Adorno auch in der Negativen Dialektik: Dinghaftigkeit steht sowohl für die „Unterwerfung der Menschen unter herrschende Produktionsverhältnisse“ als auch für „das Unidentische des Objekts“ (AGS 6, 192). Das Unidentische des Objekts ist gerade das, was der Auflösung in den Funktionszusammenhang der Gesellschaft widersteht. Humanität gedeiht nur am Widerstand gegen die universale Fungibilität, die in der „absolute[n] Integration“ des Völkermords kulminiert (AGS 6, 355).
2.3.4 Hades: Mythos und Heimat (Abschnitt 19) Die Höllenfahrt des Odysseus ist die äußerste Station der Irrfahrt. Wenn Odysseus im Totenreich die „Nichtigkeit der Bilder“ erkennt und sich vom „archaischen Bilderreich“ löst (83), ist dies in Bezug auf Klages Konstruktion des „bildgefesselten Menschen“ – des Pelasgers (Klages 1981, 1251) zu lesen: Erst die äußerste Station der Irrfahrt der Aufklärung, die Hölle des Faschismus, offenbart den Trugcharakter des neoromantischen Archaismus. So deuten Adorno und Horkheimer die Höllenfahrt der Aufklärung als mögliche Peripetie ihrer Entwicklungsgeschichte: Indem die Aufklärung sich im Dunkel der Hölle vom Zauber der Bilder löst, leuchtet die Möglichkeit einer anderen Aufklärung auf. Deshalb kommuniziert das „Totenreich“, das „der Heimat am fernsten“ ist, dennoch „in der äußersten Ferne“ mit ihr. (84) Heimat ist der Gegenbegriff zum Mythos: sie ist einerseits dem Totenreich – der Heimstätte des Mythos – entgegengesetzt, anderseits auch innig mit ihm verbunden – denn sie ist nichts anderes als das Entrinnen aus dem Mythos. Das Entrinnen aus der Hölle geht „über den Mythos am entschiedensten hinaus“, insofern „das Motiv der Sprengung der Höllenpforten, der Abschaffung des Todes, die innerste Zelle jeglichen antimythologischen Gedankens“ bildet (84). Die Abschaffung des Todes stellt für Adorno den „neuralgische[n] Punkt“ der Utopie dar. (Adorno und Bloch 1975, 65; vgl. Sommer 2016, 346 – 352) Heimat ist in der Odyssee die den Aufklärer antreibende Utopie. Die Bestimmung der Heimat als Utopie ist dezidiert als Gegenprogramm zur neoromantischen und später faschistischen Beschwörung von Heimat als Mythos entworfen. Der Begriff von Heimat hat sich im Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit herausbildet; erst die feste Eigentumsordnung der Sesshaftigkeit begründet die Entfremdung, die Heimat in den Urzustand zurückprojiziert. (85) Mithin war Heimat stets die Projektion einer Vergangenheit, die niemals Gegen-
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wart war. Wenn die neoromantische Reaktion und der Faschismus Heimat zu einem verlorenen Ursprung als real existierenden Ort machen, dann verwandeln sie Heimat in einen Mythos. Heimat ist nicht als Rückkehr in die verlorene Natur, sondern als in der Aufhebung der Entfremdung wiederhergestellte Natur zu denken. Heimat ist „Natur selber als das dem Mythos Abgezwungene“. In anderen Worten: „Heimat ist das Entronnensein.“ (86) Ist Odysseus nach diesem Maßstab heimgekehrt? Solange Heimat bloß als das Königreich Ithaka verstanden wird, ist er dem Mythos noch nicht entronnen. Er trägt ihn mit sich als Mahnmal seiner ambivalenten Triumphe über die mythischen Gewalten. Dennoch ist ihm die Möglichkeit zur endgültigen Heimkehr nicht verbaut. Jeder glücklich bestandene Kampf war ein Entrinnen und jedes Entrinnen bringt Odysseus näher zur Heimat; endgültig erreicht wird sie, wenn er den Impuls, dem er gegen die mythischen Ungetüme gefolgt ist, nun gegen die eigenen mythischen Residuen wendet. Versprochen wird das in der Weissagung des Tiresias, welche die Möglichkeit der Versöhnung des Elementargottes Poseidon mit dem Aufklärer Odysseus andeutet. (XI, 121– 137) Bezeichnend ist, dass die Odyssee mit einer Versöhnung zwischen Odysseus und den Vätern der von ihm getöteten Freier endet. Die von Tiresias versprochene Versöhnung mit der Natur steht noch aus und das Epos lässt es offen, ob Odysseus diese Versöhnung und damit die Heimkehr noch vollbringt. Die durch Tiresias verbürgte Möglichkeit der endgültigen Versöhnung und der im Hinblick auf die Wirklichkeit der Versöhnung offene Ausgang der Odyssee legen Zeugnis ab von der wesentlichen Offenheit des Aufklärungsprozesses und der Möglichkeit des endgültigen Entrinnens aus dem Mythos. So gedeutet, erzählt die Odyssee die noch nicht abgeschlossene und deshalb offene Heimkehr der Aufklärung im Kampf mit dem Mythos. Heimat ist die Utopie der mit Natur versöhnten Aufklärung und damit die Aufhebung der Entfremdung, die nur im ständigen Kampf gegen den Mythos in all seinen Formen erreicht werden kann. Dass die Heimkehr offen ist, bedeutet nicht, dass sie eine „unendliche Heimkehr“ ist (Martella 2011, 306). Der Gedanke der Unerreichbarkeit der Utopie und der unendlichen Aufgabe enthält, so Adorno, ein im Kern antiutopisches Moment. (ANS IV.4, 113 – 114) Heimat, die Versöhnung von Natur und Aufklärung, muss als erreichbares Ziel gedacht werden, wie es auch von Tiresias geweissagt wird. Sie ist kein auf der Karte verzeichneter Ort, den man zielgerichtet ansteuern kann. Heimat als Entronnensein kann sich nur im Entrinnen aus dem Mythos und im Aufheben von Leid, mithin nur negativ – in der Überwindung des Falschen – herausbilden. Diese Überwindung heißt Aufklärung und ihre Heimat ist das Entronnensein aus ihren mythischen Residuen.
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3 Exkurs II. Juliette oder Aufklärung und Moral 3.1 Einleitung „Aber nur die Übertreibung ist wahr.“ So endet fast der zweite Exkurs der Dialektik der Aufklärung. Feststellung, die zugleich Rechtfertigung ist: der Übertreibungen Sades und Nietzsches, auf deren Schriften sie sich bezieht, aber auch der Darstellungsstrategie der Dialektik der Aufklärung im Bereich der praktischen Philosophie, deren sich Adorno und Horkheimer in jenem zweiten Exkurs bedienen. Dessen Zweck, so erläutert die „Vorrede“, ist zu zeigen „wie die Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt zuletzt gerade in der Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen gipfelt“. Einschränkend weisen die Autoren darauf hin, dass es sich hier nur um eine „Tendenz“ handelt, eine Tendenz jedoch, die auf nichts weniger hinausläuft als auf die Einebnung aller „Gegensätze des bürgerlichen Denkens“, zumal des Gegensatzes der „moralischen Strenge und der absoluten Amoralität“ (6). Aufgezeigt werden soll diese Tendenz anhand der schwarzen Autoren der Aufklärung, Sade und Nietzsche. Dies sei im Rückblick legitim, insofern als das „faschistische Kollektiv“ jene Tendenz in Reinform realisiert (125). Die Folgen der Aufklärung im Bereich des Praktischen, hier verstanden als Bereich des politischen Handelns, rechtfertigt die Übertreibungen Sades und Nietzsches, aber auch die der Dialektik der Aufklärung. Letztere stützt ihre Interpretation wesentlich auf eine Analyse des Gesetzes, welches das Handeln der von Sade fiktional in Szene gesetzten Figuren anleitet. Das gesamte Kapitel kann insofern als eine Variation über die Transformation des Begriff des Gesetzes in der Moderne gelesen werden, wobei das Gesetz verstanden wird als Triebfeder des individuellen Handelns – und dies ist in der Tat der Kantische Begriff des moralischen Gesetzes. Zwei Thesen werden vertreten: Erstens, dass es eine immanente Tendenz der Philosophie Kants zur Zerstörung der praktischen Philosophie durch die theoretische gibt. Diese Unterordnung der praktischen Philosophie unter die theoretische ist gleichzeitig die erste und wichtigste der Übertreibungen, die Adorno und Horkheimer bewusst vollziehen: Aufklärung sei praktische Vorherrschaft der theoretischen Philosophie, der theoria, des Systems, der Wissenschaft. Zweitens wollen die Autoren unter Rückgriff auf die Hegelsche Dialektik von Theorie und Praxis zeigen, dass Kants praktischer Imperativ des moralischen Handelns strukturell nur die Ideologie eines sich über die eigene wirkliche Praxis beruhiDOI 10.1515/9783110448764-004
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genden Bürgertums sein kann. Dessen Praxis erzeuge aus sich selbst heraus keinen moralischen Imperativ, ja, so die These, keinerlei inhaltlich orientiertes Gesetz, sondern eine orientierungslose, leere Subjektivität, die, könnte sie von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abstrahieren, souveräne Gesetzgeberin ihrer selbst wäre; nachdem sie das aber nicht kann, sich den jeweils bestehenden pragmatischen Regeln des gesellschaftlichen Handelns blind unterwirft. Die Zerstörung jeglichen universell gültigen Gesetzes durch die theoretische Vernunft der Aufklärung führt so zur Ersetzung des Begriffes „Gesetz“ durch den der pragmatischen Regel. Die Aufklärung, so kann man die These des zweiten Exkurses zusammenfassen, hat in ihrem Unternehmen der Entmythologisierung der Wirklichkeit in letzter Instanz die Gesetzgebung dem vereinzelten Subjekt überlassen und es damit grundlegend überfordert: Ihm bleibt die Unterwerfung unter die Regeln des Seienden oder das verzweifelte Aufbegehren gegen jene Beleidigung der freien Subjektivität in der radikalen Negation der Wirklichkeit, so wie Sade und Nietzsche sie in ihren Figuren der Souveränität dargestellt haben; ein Aufbegehren, das im Faschismus die Form eines scheinbar gemeinsamen politischen Handelns annimmt. Im Folgenden wird zunächst die immanente Kritik der Autoren von Kants Philosophiegebäude dargestellt (3.2). In einem zweiten Schritt wird das Verhältnis von Theorie und Praxis, auf das sich untergründig die Kantkritik und damit das gesamte Kapitel stützt, erläutert (3.3). Hier erweist sich, dass das Faktum der Vernunft, auf dem Kants Moralphilosophie aufbaute, kein fait social ist und damit nicht als Letztbegründung des moralischen Handelns eines in der bürgerlichen Gesellschaft normal sozialisierten Subjekts vorgebracht werden kann. In einem vierten Abschnitt des Kommentars wird die Gleichsetzung von Kants und Sades Gesetz diskutiert (3.4), wobei das wirkliche Gesetz der Praxis, das Adorno und Horkheimer herausarbeiten – das Gesetz der Selbsterhaltung oder das Recht des Stärkeren – in seiner inhaltlichen Leere aufgezeigt wird (3.4.1). Ausgehend hiervon wird ihre Theorie der Souveränität dargestellt (3.4.2), die sich in ihren Augen in Sades Figuren exemplifiziert (3.4.3). Anschließend wird die Theorie der Lust erläutert, die die Autoren für ein an kein Gesetz gebundenes Subjekt erarbeiten (3.5). Die zentrale These hier ist, dass Lust ersetzt wird durch fun, Befriedigung so nicht mehr möglich ist und das schlechte Unendliche der Sadeschen Spiele die Wahrheit über die Struktur der Subjektivität der modernen Subjekte ist.
3.2 Theoretische und praktische Philosophie Der Auftakt des zweiten Exkurses, dessen Überschrift „Aufklärung und Moral“ den Leser vermuten lässt, er hätte es mit einer Diskussion der praktischen Philosophie
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der Aufklärung zu tun, erstaunt unmittelbar. Die Autoren beginnen zwar ihre Ausführungen unter Bezugnahme auf den größten Moralphilosophen der Aufklärung, also Kant, zitieren aber zunächst dessen Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? und in der Folge nur die Kritik der reinen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft. Man muss mehrere Seiten warten, bis die Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre angeführt werden und stellt mit Verblüffung fest, dass die Kritik der praktischen Vernunft im Verlauf des gesamten Kapitels nur einmal Erwähnung findet. Gesetzt ist damit unmittelbar, dass die Autoren Kants praktische Philosophie ausgehend von seiner theoretischen Philosophie lesen, der sie das Primat zusprechen. Es wird zunächst kein Argument dafür angegeben, warum das Gebäude der Kantischen Philosophie auf diese Art rekonstruiert wird. Bei Kant selbst werden erstens die Bereiche der theoretischen und der praktischen Vernunft nach den beiden Kritiken streng getrennt: Zwar handelt es sich in beiden Kritiken um „dieselbe Vernunft“, so Kant, doch muss sie „in der Anwendung unterschieden sein“ (Kant 1978a, 391). Zweitens setzt Kant, in der Kritik der praktischen Vernunft, das „Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“ (Kant 1963, 119 – 121). Soweit die praktische Vernunft als rein praktische tätig ist, ihre Prinzipien nur aus sich selbst nimmt und nicht aus „pathologischen“ – d. h. sinnlichen – Bestimmungsgründen, muss die theoretische Vernunft, auch wenn die Prinzipien der praktischen „die Grenzen, die diese [die theoretische – JC] sich selbst gesetzt, aufhebt“ (Kant 1963, 120), sich der praktischen unterordnen. Nach Kant soll also die Idee der Freiheit, so wenig man zu ihr eine Anschauung in der Wirklichkeit finden kann, die Leitidee der durch Vernunft gestifteten Einheit der Welt sein. Horkheimer und Adorno verfahren nun so, als hätte Kant die Bemühung, der praktischen Vernunft das Primat vor der theoretischen zuzusprechen, nie unternommen. Dieses Verfahren enthält in sich die These des ganzen Exkurses. Gleich zu Beginn definieren sie das Projekt der Aufklärung nach Kant, klassisch, als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen“, um zu bestimmen, was es heißt, „sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen“, nämlich sich einzig und allein von der „Vernunft“ leiten zu lassen.Vernunft wird reduziert auf die theoretische Vernunft, auf das Vermögen, das dafür sorgt, dass der Verstand „vermöge seiner eigenen Konsequenz die einzelnen Erkenntnisse zum System zusammenfügt“. Einzige Forderung der Vernunft ist „das System“, verstanden als „wissenschaftliche Ordnung“, die vom „Satz vom Widerspruch“ strukturiert wird (88). Aufklärung, so die These, ist, auch wenn man ihr Kant zum Stammvater gibt – es sei daran erinnert, dass das erste Kapitel zum „Begriff der Aufklärung“ sich im Wesentlichen
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auf die französischen Lumières und das Projekt der Enzyklopädie bezieht –, wissenschaftlich systematisches Denken, Realisierung einer von theoretischer Vernunft angeleiteter Verstandestätigkeit, die kein anderes Prinzip der Anordnung des Wirklichen kennt als deren Systematizität. Das Argument, das die Autoren für den behaupteten Vorrang der theoretischen Vernunft vor der praktischen vorbringen ist zunächst ein systematisches, das innerhalb von Kants Theoriegebäude verbleibt, insofern als die Autoren einzig aus dem systematischen Zug der Philosophie der Aufklärung Kants schließen, dass „anderes Denken, als solches, das aufs System sich richtet, […] direktionslos oder autoritär [ist]“ (88 – 89). Die rhetorische Spielerei, nach der sich Aufklärung sowohl dagegen, wehrt, ohne Leitung (Direktion) zu sein, wie dagegen, geleitet zu werden, kündigt die unmögliche Position des aufklärerischen Denkens an, mit dem sich die folgenden Seiten des Kapitels beschäftigen werden und die in einem Umschlag des Antiautoritarismus in Autoritätshörigkeit mündet – des Protestes gegen jede Form von Gesetz in die Unterwerfung unter irgendeine „Regel“. Die Begründung für jenen Umschlag setzt an mit dem Antiautoritarismus der Aufklärung, der Geste der Befreiung aus der Unmündigkeit, die sie vindiziert. Jener Antiautoritarismus wird zunächst dadurch erläutert, dass Vernunft, als rein formales Prinzip der systematischen Einheit von Einzelurteilen, keinerlei inhaltliche Strukturierung der zu stiftenden Einheit liefern kann (vgl. 95): Die regulative Idee, dass eine Ordnung sein muss, sagt nicht, wie sie gestaltet sein soll. Jede inhaltliche Zwecksetzung, welche die gesuchte Ordnung strukturieren könnte, muss von der theoretischen Vernunft als irrationale und usurpierte Autorität zurückgewiesen werden. Kant selbst sieht dieses Problem, das man auch zusammenfassen könnte unter der Formel, dass es zum Begriff der Freiheit eben keine Anschauung gibt, woraus man nach der Kritik der reinen Vernunft schließen müsste, dass der Begriff der Freiheit „leer“ ist. Er versucht bekanntlich, es zu beseitigen, indem er das Gesetz der praktischen Vernunft als ein „Faktum“ einführt, das denselben Grad von Evidenz hätte wie „der gestirnte Himmel über mir“. Kants Beispiel desjenigen, der von seinem Fürst unter Androhung des Todes dazu gezwungen wird, falsch Zeugnis abzulegen und der in sich zumindest der Möglichkeit gewahr wird, dass er den Tod auf sich nehmen könnte, um das moralische Gesetz nicht zu brechen, ist bekannt (Kant 1963, 30). Es dient dazu, sagen zu können, dass das Faktum der Moral unstrittig ist, wenn nicht in der objektiven Wirklichkeit, so doch unstrittig in der Subjektivität vorhanden. Insofern gibt es eine Anschauung zum Begriff der Freiheit: in der Innerlichkeit. Adorno und Horkheimer in ihrer immanenten Argumentation gegen Kants Artikulation von theoretischer und praktischer Vernunft attackieren die Kantische Moralphilosophie genau in Bezug auf jene angebliche, innerlich erfahrbare Faktizität des moralischen Gesetzes. Wie Kant selbst schon in der „Antinomie der
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praktischen Vernunft“ (Kant 1963, 113) stellen sie zunächst fest, dass moralisches Handeln in der Tat nicht möglich ist, da die empirische Wirklichkeit die reine moralische Intention des Subjekts stets ablenkt. Diese Widerständigkeit der Empirie hat aber zur Folge, dass die Subjekte an die Kausalität durch Freiheit glauben müssen, denn verwirklichen und damit anschauen können sie sie nicht. Die Faktizität der Welt, selbst dort, wo sie durch die Handlungen der Subjekte hervorgebracht wird, spricht gegen das Faktum der Vernunft. Glauben aber gerade war der erste Feind der Aufklärung und der kategorische Imperativ hat so gute Chancen demselben Verdikt zu verfallen, wie alle moralischen Imperative, die an einen Akt des Glaubens gebunden waren: „Der Bürger, der aus dem kantischen Motiv der Achtung vor der bloßen Form des Gesetzes allein einen Gewinn sich entgehen ließe, wäre nicht aufgeklärt, sondern abergläubisch – ein Narr“ (92). Abergläubisch, weil er ein Gesetz befolgen würde, dessen objektiver Zwangscharakter nicht nachweisbar ist: Das Kantische Gesetz zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass es nur das einzelne Subjekt in seiner Besinnung auf sich selbst zwingt, nichts in der Wirklichkeit jedoch diesen Zwang gegenüber dem Subjekt durchsetzen würde. Moralität ist in Kants System eine Angelegenheit, die das Subjekt mit sich selbst auszumachen hat.
3.3 Theorie und Praxis Innerhalb des Kantischen Systems ist die Sache mit dem Faktum der Vernunft also nicht durchzuhalten: Nichts garantiert den Subjekten, dass ihr scheinbares Wissen vom moralischen Gesetz etwas anderes wäre als Aberglaube. Nun sehen Horkheimer und Adorno aber durchaus, dass Kant versucht hat, mit der Einführung des Begriffs „Faktum“ dem moralischen Gesetz objektiven Zwangscharakter zu geben. Sie kommen nun zunächst Kant zur Hilfe, indem sie jenes „Faktum der Vernunft“, dem bei Kant gerade die Objektivität fehlt, so uminterpretieren, wie Durkheim (vgl. 2012, ebenso Karsenti 2006, 69 – 91) die Kantische Pflicht schon umformuliert hat: als fait social.Wäre das moralische Gesetz fait social in dem Sinne, dass es als soziale Wirklichkeit die Individuen zwingt und diszipliniert, könnte auch das aufgeklärte Subjekt der theoretischen Vernunft die Faktizität der praktischen Vernunft als für sich zwingend anerkennen. Kant hat sich getäuscht, als er dachte, Subjekte annehmen zu dürfen, die auf Dauer in der Lage wären, das eine Gesetz gegen die Regeln des Gemeinwesens zu vertreten; das heißt aber nicht, dass man auf Grund jenes, dem Kantischen Individualismus geschuldeten Irrtums den Ort der zwingenden Faktizität des Gesetzes betreffend die Idee eines Alle zwingenden Gesetzes aufgeben muss. Man muss es nur als wirkliches Gesetz nachweisen
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können. Genau diese Frage nach der Wirklichkeit des Gesetzes stellen nun die Autoren. Den Rahmen der Kantischen Philosophie zunächst nicht verlassend, sagen Horkheimer und Adorno, dass ein Faktum nach der Kritik der reinen Vernunft nur wahrgenommen werden kann, wenn es zum Begriff stimmt. Ohne den Schematismus der Einbildungskraft (Kant 1978, 136) würde keine Erfahrung zu den Kategorien des Verstandes passen. Horkheimer und Adorno interpretieren dieses Zusammenspiel von Wahrnehmung und Begriff so, dass die „Wahrnehmung schon dem Verstand entsprechend strukturiert ist“ (89). Übersetzt heißt dies, dass die Kategorien die Erfahrung strukturieren, die Wirklichkeit also vom Subjekt hervorgebracht wird. Diese Hervorbringung der Wirklichkeit durch das Subjekt liegt nun allerdings nicht daran, dass die Begriffe irgendwo im Einzelsubjekt lägen, dessen transzendentaler Anteil der Erfahrung vorhergehen und sie konstituieren würde. Im Gegenteil: Der Prozess der Subjektivierung der Individuen ist nichts anderes als der Prozess ihrer über Erfahrung vermittelten Integration in die in sich selbst schon strukturierte – auch logisch strukturierte – Wirklichkeit. Das die Kategorien tragende Subjekt ist für Horkheimer und Adorno Hegels objektiver Geist, von Marx schon interpretiert als gesellschaftliche Praxis. Das Argument, das die Autoren liefern, um den Vorrang der Objektivität in der Produktion des im Subjekt vorfindbaren Begriffsapparats zu begründen, ist somit, wenn auch ungenannt, das Hegels und Marx‘: Das Einzelsubjekt ist kein Teilhaber an einem transzendentalen Subjekt, sondern Teilnehmer an einer sozialen Praxis; diese Teilnahme garantiert die Gleichförmigkeit der Begriffe und in der Folge der Wahrnehmung von gleichförmig sozialisierten Individuen. Es ist also die gesellschaftliche Praxis selbst, die bestimmt, welche Kategorien auf sie zutreffen; Denken, das nicht die praktische Selbststrukturierung der Wirklichkeit in Rechnung stellen würde, käme „mit der realen Praxis in Konflikt“ (90). Die unvermittelte Bemerkung der Autoren über die Kulturindustrie, die heute den Subjekten die Aufgabe der Schematisierung abnehmen würde (91), erklärt sich nur im Kontext dieser Reformulierung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt der Erkenntnis. Durch diese Umdrehung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, nach der es die Praxis – also die Objektivität – ist, die die Kategorien – also die subjektive Denkleistung – hervorbringt, die ihrerseits die Wahrnehmung jener Objektivität strukturieren, ist es den Autoren ein leichtes, zu sagen, dass auch das „Faktum der Vernunft“ abhängt von der gesellschaftlichen Praxis. Und dies auch, wenn man Kant folgen würde und sagen, dass es nur in den Subjekten anhand des moralischen Gesetzes, das sie in sich vorfinden, jedoch nicht in der Wirklichkeit wahrgenommen werden kann; selbst dann nämlich müsste es in den Subjekten durch eine bestimmte gesellschaftliche Praxis hervorgebracht werden. Damit hinge es
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von einer bestimmten Konstellation der Sinnlichkeit ab, wäre kein Faktum der Vernunft, sondern eine moralische Tatsache im Sinne Durkheims oder auch Freuds, die von einer bestimmten historischen Konfiguration gesellschaftlicher Praxis hervorgebracht würde. Wo diese Praxis nicht gegeben ist, kann man jenes Faktum nicht wahrnehmen, da die Kategorie, deren es zu seiner Wahrnehmung bedürfte, in den Subjekten dieser Praxis nicht ausgebildet ist: „Tatsachen gelten aber dort nichts, wo sie nicht vorhanden sind“ (101), was nichts anderes heißt, als dass das Faktum der Vernunft dort das Subjekt nicht zwingt, ja nicht einmal sich ihm als Evidenz aufzwingt, wo es nicht produziert wird: in der bürgerlichen aufgeklärten Gesellschaft. Horkheimer und Adorno bringen somit zwei Argumente gegen das Faktum der Vernunft vor: Erstens gibt es zu ihm nach Kant selbst keine Anschauung, so dass das Subjekt seine eigenen „freien“ Handlungen in der Wirklichkeit nicht als solche erkennen kann und damit, selbst wenn man Kant zugesteht, dass es „in sich“ das Faktum der Vernunft erkennt, in jedem Fall jene Innerlichkeit gegen die Wirklichkeit setzen muss und schlussendlich jene Setzung nur dann durchhalten kann, wenn es an seine eigene Moralität (Kausalität durch Freiheit) gegen die erkennbare Struktur der Wirklichkeit (Naturkausalität) glaubt. Ein Glaubensbekenntnis, das die theoretische Vernunft selbst verbietet. Zweitens, hilft man Kant und erweitert seine Theorie, indem man das Faktum der Vernunft zur sozialen Tatsache macht, was erklären würde, warum es gleich vergesellschaftete Subjekte in der gleichen Weise von innen her zwingt, so muss man nach Horkheimer und Adorno anerkennen, dass die gesellschaftliche Praxis der bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft jene moralische Tatsache, von der Kant spricht, nicht hervorbringt, sondern – und das ist ja die zentrale These des Kapitels – genau jenes Gesetz, das Kants theoretische Vernunft anleitet, das Gesetz nämlich, das nur und ausschließlich Systematizität in der Anordnung des Wirklichen verlangt. Nach den vorhergehenden Ausführungen sollte klargeworden sein, dass, wenn dieser Imperativ der Systematizität wirklich das Gesetz des Handelns und Denkens der Individuen ist, das Gesetz durch die Wirklichkeit als gültiges hervorgebracht werden muss: Systematizität ist die Selbststrukturierung der Wirklichkeit. Dies nun behaupten Horkheimer und Adorno in der Tat: Die gesellschaftliche Praxis des Spätkapitalismus wird verstanden als vorwiegend „technische Übung“, Befolgen von „Spielregeln“ (92), „Kalkulation“, „Plan“ oder reine „Koordination“, die „neutral gegen Ziele“ ist (95), was auch bedeutet, dass Kants Philosophie ein ihrer selbst nicht bewusster Ausdruck jener damals aufkommenden gesellschaftlichen Praxis ist, insofern als sie jede inhaltliche Strukturierung des Wirklichen als dialektischen Schein abtut und damit den Weg freimacht für eine rein formalistische Organisation des Wirklichen. In diesem Licht wird ihr praktischer Teil zum „üblichen Versuch des bürgerlichen Denkens, die Rücksicht, ohne
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welche Zivilisation nicht existieren kann, anders zu begründen als durch Interesse und Gewalt“ – „sublim und paradox wie keiner vorher, und ephemer wie sie alle“ (92).
3.4 Kants Gesetz – Sades Gesetz Die provokante und auf den ersten Blick schwer einsehbare These des Kapitels ist nun, dass es die Philosophie des Marquis de Sade sei, die Kants Philosophie konsequent ausbuchstabiert habe. Schwer einsehbar wirkt diese These deshalb, da man leicht in Versuchung gerät, zu meinen, die Autoren wollen sagen, dass das Sadesche Grundgesetz „J’ai le droit de jouir de ton corps, peut me dire quiconque, et ce droit, je l’exercerai, sans qu’aucune limite ne m’arrête dans le caprice des exactions que j’ai le goût d’y assouvir“¹ eine Umformulierung des Kantischen Grundgesetzes der praktischen Vernunft sei. Anders gesagt: Man gewinnt leicht den Eindruck, Horkheimer und Adorno behaupten, es sei möglich, den uneingeschränkten Gebrauch des Körpers eines anderen Menschen zur allgemeinen Maxime des Handelns zu machen. Nun ist diese Gleichsetzung von Kants praktischem Gesetz und Sades Gesetz aber gar nicht die These des Exkurses; dessen These ist vielmehr die Vorherrschaft der theoretischen über die praktische Vernunft. Sprechen Horkheimer und Adorno von einer Verwirklichung der Kantischen Philosophie durch Sade, so reden sie über die Verwirklichung Kants theoretischer Philosophie im Praktischen. Genau das sagen sie auch: „Die Hand der Philosophie hatte es an die Wand geschrieben, von Kants Kritik bis zu Nietzsches Genealogie der Moral; ein einziger hat es bis in die Einzelheiten durchgeführt. Das Werk des Marquis de Sade zeigt den ‚Verstand ohne Leitung eines anderen‘ das heißt, das von Bevormundung befreite bürgerliche Subjekt.“ (93) Anders gesagt: Sades Werk zeige, nach welchem Gesetz ein Subjekt handelt, das durch kein inhaltliches Gesetz mehr bestimmt ist, sondern nur noch durch das Gesetz, das zur systematischen Anordnung des Seienden zwingt. Kurzum: Durch das Gesetz absoluter Souveränität über die Kausalität der Natur, herrsche sie nun Innen (sinnliche Antriebe) oder Außen.
So die Formulierung des Sadeschen Gesetzes durch Jacques Lacan (Lacan 1971, 123), der die zweite große Interpretation einer möglichen Identität von Kant und Sade verfasst hat.
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3.4.1 Selbsterhaltung Die Autoren benennen unverblümt das Gesetz, welches Handeln bestimmt, wenn keine inhaltliche Bestimmung mehr vorliegt: das der Selbsterhaltung. Da sie in jenem zweiten Exkurs die These vertreten, dass die Philosophie der Aufklärung einen radikalen Bruch mit vorhergehenden aufklärerischen Fortschritten darstellt (99 – 100), muss auch die Logik der Selbsterhaltung, die nun am Werke ist, qualitativ mehr und anderes sein als die in den vorhergehenden Kapiteln dargestellte Beherrschung der inneren und äußeren Natur. Die doppelte Frage ist also, welchen Begriff der Selbsterhaltung die ausschließliche Herrschaft der theoretischen Vernunft generiert und inwiefern das Werk Sades jenen neuen Begriff der Selbsterhaltung darstellt? Die theoretische Vernunft, praktisch geworden, ist „das Organ der Kalkulation, des Plans, gegen Ziele ist sie neutral, ihr Element ist die Koordination.“ Sie wird weiter bestimmt als „zweckvolle Betriebsamkeit“, die an „willkürlich gesetzten Regeln“ sich orientiert (95) und in letzter Instanz „zwecklose Zweckmäßigkeit […], die eben deshalb sich in alle Zwecke spannen lässt.“ (96) Kurzum, vernünftiges Handeln, wenn es sich an keinem inhaltlichen Zweck mehr orientiert, besteht in dem einfachen Umstand, nach Regeln zu handeln, egal was sie vorschreiben. Vernünftiges selbstbestimmtes Handeln besteht so in der Aufstellung von Regeln, oder, wie die Autoren sagen, in „dem Plan an sich“ (96). Im Aufstellen eines Plans entspricht das Subjekt dem „praktischen Gesetz“ der theoretischen Vernunft. Dieses Gesetz, paradox gesagt, würde vorschreiben, willkürlich Regeln zu setzen und in diesem willkürlichen Akt der Setzung von Regeln bewiese das Subjekt seine Freiheit. Diese abstrakte Macht des Subjekts impliziert die vollständige Negation aller objektiven Bestimmungen seines Wollens, also derjenigen, die die sittliche Ordnung des Gemeinwesens – wenn auch autoritär – gestiftet hat, indem sie die Subjekte an verpflichtende Plätze gestellt hat. Das antiautoritäre Subjekt der theoretischen Vernunft, freigesetzt wie es sich weiß, wendet sich auf sich selbst, um zu entdecken, wie es handeln soll. In sich findet es aber nichts außer Affekte, Triebe, Begehren; Bestimmungen also, die in den Augen von Kants praktischer Vernunft irrationale Bestimmungsgründe des Handelns wären, die aber, sobald das Faktum der Vernunft ebenfalls für irrational erkannt wurde, nun dem Vergleich mit jenem Faktum und damit mit dem moralischen Gefühl der Achtung als Triebfeder des Handelns (Kant 1963, 73 – 75) durchaus standhalten. Horkheimer und Adorno schließen aus dieser Situation, dass, „wenn alle Affekte einander wert sind, so scheint die Selbsterhaltung, von der die Gestalt des Systems ohnehin beherrscht ist, auch die wahrscheinlichste Maxime des Handelns abzugeben.“ (97) Anders ausgedrückt: Selbsterhaltung als Maxime des Handelns hat vor dem moralischen Gesetz den Vorzug der Tatsächlichkeit.
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Diese These impliziert nun mehr als Kant selbst in Anspruch nimmt, der in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zugibt, dass ohne moralisches Gesetz das einzige Gesetz des Handelns das der Selbsterhaltung wäre, also ein Handeln nach Naturkausalität (vgl. Kant 1969, 27). Denn sie führt erneut die Verdrehung von Subjekt und Objekt, Theorie und Praxis ein, auf die Horkheimer und Adorno die Argumentation des Kapitels stützen. Sie sagen nicht nur, dass das moralische Gesetz vor dem Gericht der theoretischen Vernunft nicht standhält, kein Faktum ist und dadurch seinen Zwangscharakter verliert, was die Subjekte auf ein Handeln nach Naturkausalität verweist. Sondern sie behaupten, dass die kapitalistische, also konkurrenzförmig verfasste soziale Wirklichkeit sowieso schon beherrscht sei von der Maxime der Selbsterhaltung und die Einzelsubjekte, insofern sie jene Maxime zu der ihrigen machen, gerade als gesellschaftliche Subjekte handeln, nicht als egoistische Individuen. Horkheimer und Adorno übernehmen hier die Marxsche These vom Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in einen neuen „bellum omnium contra omnes“ (Marx 1969, 377), der durch die dem Kapitalismus eigene Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung instituiert wird. In diesem Bürgerkrieg ist Selbsterhaltung in der Tat eine sinnvolle Maxime des Handelns. Wobei die Verfolgung der egoistischen Triebe hier im Wesentlichen für die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse sorgt,weswegen Horkheimer und Adorno die „dunklen Schriftsteller der Frühzeit, wie Machiavelli, Hobbes, Mandeville“ dafür loben, die „Gesellschaft als das zerstörende Prinzip erkannt“ (97) zu haben.
3.4.2 Bindungslosigkeit Selbsterhaltung wäre also die Logik des Handelns des Subjekts unter dem Primat der theoretischen Vernunft.Was diese Form der Selbsterhaltung auszeichnet – und sie zu einer neuen Form der Selbsterhaltung macht – ist die Radikalität, mit der das Subjekt auf sich selbst verwiesen ist. Adorno und Horkheimer erläutern diese Radikalität in Bezug auf die Bindungslosigkeit, in die das Subjekt der Aufklärung verfällt. Die Verurteilung jeglicher Bindung durch die theoretische Vernunft, mit dem Argument, dass alle Bindung gleich irrational sei, trifft zwar in erster Linie die Bindung an Glaubensinhalte, inhaltliche Regeln des Zusammenlebens oder Tabus im Allgemeinen; dann aber auch die Bindung an die anderen Menschen, die – Adorno und Horkheimer folgen hier sowohl Freud als auch Hegel und Durkheim – durch solche transzendenten Entitäten vermittelt ist. „[V]or dem Licht der aufgeklärten Vernunft [zerging] jede Hingabe als mythologisch, die sich für objektiv, in der Sache begründet hielt“ (100). Die Zurücknahme aller Gründe des Handelns in das autonome Subjekt lässt solche durch die Objektivität diktierten Bindungen
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nicht mehr zu. Das Subjekt könnte sich zwar nun selbst binden, findet aber in sich keinen vernünftigen Grund für die Bindung. Kant selbst versucht dieses Problem dadurch zu lösen, dass er dem Subjekt „Achtung“ vor dem moralischen Gesetz mitgibt. Die wirklich subjektivierende Kraft ist bei Kant die Achtung vor dem Gesetz, nicht das Gesetz selbst, das nur negativ verlangt, alle Sinnlichkeit als Motiv des Handelns auszuschließen. Durch das Gefühl der Achtung hingegen fühlt sich das Subjekt positiv an das Gesetz gebunden. Achtung hat das Subjekt vor seiner eigenen Allgemeinheit, seiner Vernünftigkeit, die sich der Möglichkeit nach gegen alle sinnlichen Antriebe durchsetzen kann. Diese Achtung, in der sich die Einsicht in die Selbstbestimmung des Subjekts durch das Gesetz ausdrückt, wird erweitert auf das ganze Menschengeschlecht, vor dem man Achtung hat, weil es in sich jene Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit trägt (vgl. Kant 1963 76 – 77). Dies ist nun zwar keine starke Bindung an den Anderen, aber auf sie stützt sich Kants kategorischer Imperativ, den Anderen immer auch als Zweck zu behandeln. Genau jene Zweckhaftigkeit des Anderen ist nun für das Subjekt, das Horkheimer und Adorno in Szene setzen, verloren. Die Kantische Konstruktion der Achtung ist in den Augen der Autoren der verzweifelte Versuch, einen objektiven Grund für die wie immer auch nur respektvolle Bindung an den Anderen zu finden, dort, wo dieser Grund in der Objektivität selbst abhandengekommen ist. Ist das Subjekt bindungslos, so weil in der gesellschaftlichen Praxis, die es subjektiviert, „alle vorgegebenen Bindungen […] dem tabuierenden Verdikt“ verfallen. Die neue gesellschaftliche Praxis wird anscheinend durch ein allgemeines Gesetz strukturiert, welches die Subjekte subjektiv und objektiv als zwingendes Faktum erfahren und das ihnen jegliche stabile Bindung untersagt. Verbindlichkeit selbst wird ihnen zum Tabu, und die Ambivalenz im Begriff des Tabus (unrein und heilig zugleich (Freud 1913, 26)) drückt sich in der Spaltung der Philosophie der Aufklärung in eine theoretische und eine praktische aus: Dort,wo die theoretische alle Bindung radikal verurteilt und auflöst, setzt die praktische, sentimental, eine absolute Bindung ans moralische Gesetz, die nach der Analyse der theoretischen Vernunft ebenso irrational ist wie jegliche Bindung. Die Einsicht in diese Irrationalität löst die Ambivalenz im Verhältnis zum Verbindlichen nicht auf, sie sorgt aber dafür, dass irgendetwas irgendwann und irgendwie als verbindlich gesetzt werden kann: Vom moralischen Subjekt Kants bleibt nichts übrig außer auf der subjektiven Seite eine periodisch auftretende Sentimentalität, die sich im Hollywoodfilm ebenso befriedigen kann wie in der Tierliebe des SS-Schergens und auf der objektiven Seite die Unterwerfung unter die eben gerade sozial gültige Verbindlichkeit. So die Autoren: „Das anti-autoritäre Prinzip [der Aufklärung – JC] muß schließlich ins eigene Gegenteil, in die Instanz gegen die Vernunft selber umschlagen: die Abschaffung alles von sich aus Verbindlichen, die es leistet,
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erlaubt es der Herrschaft, die ihr jeweils adäquaten Bindungen souverän zu dekretieren und zu manipulieren. Nach Bürgertugend und Menschenliebe, für die sie schon keine guten Gründe hatte, hat denn auch die Philosophie Autorität und Hierarchie als Tugenden verkündigt, als diese längst auf Grund der Aufklärung zu Lügen geworden waren. Aber auch gegen solche Perversion ihrer selbst besaß die Aufklärung kein Argument, denn die lautere Wahrheit genießt vor der Entstellung, die Rationalisierung vor der Ratio keinen Vorzug, wenn sie nicht etwa einen praktischen für sich aufzuweisen hat.“ (100) Jene Unterwerfung unter die dekretierte Verbindlichkeit ist unumgänglich, da irgendeine Art des gemeinsamen Handelns existieren muss, soll das Subjekt nicht bei der Suche nach der objektiven Begründung seines Handelns verrückt werden. Die Entleerung der Subjektivität hat somit in letzter Instanz dazu geführt, dass sie für alle Inhalte offen wird: Ohne Kriterien, die ihr sagen könnten, mit welchen sie sich identifizieren darf, identifiziert sie sich blind mit allen, die ihr erfolgreiches Handeln versprechen. Adorno hat für diesen Umstand den Ausdruck der Ichschwäche (vgl. u. a. AGS 6, 273 – 275) verwendet und die Abwesenheit des stabilisierenden Gesetzes im Subjekt mit dem Verschwinden des Vaters als ökonomisch unabhängigem und damit sich selbst bestimmenden Familienoberhaupt erklärt – eine These, die im vorliegenden Exkurs nur kurz angedeutet wird (vgl. 114), die darum aber nicht weniger zentral ist. Man kann die beiden Argumente gegen das Gefühl der Achtung vor sich und den Anderen folgendermaßen zusammenfassen: Aus dem rein negativen Moment des moralischen Gesetzes die Naturkausalität zu brechen kann man das positive Gesetz der Achtung nicht ableiten, sondern im besten Fall die Verpflichtung, die eigene Souveränität gegen die Natur radikal zu verwirklichen. Zur Verwirklichung der Souveränität – niemand hat das überzeugender gezeigt als Bataille – gehört strukturell der Bruch mit allen Bindungen oder Solidaritätsverpflichtungen. Jener Bruch nun – und hier verlässt die Argumentation der Autoren wiederum die immanente Kritik der Kantischen Philosophie – ist gesellschaftliches Faktum, produziert durch eine bestimmte Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Diese hat aus der Bindung an Andere ein Tabu gemacht, zum dem die Subjekte ein ambivalentes Verhältnis einnehmen, das sich in Kants Philosophie insofern ausdrückt, als deren theoretischer Teil Bindung als irrational abschafft, dort wo ihr praktischer Teil das moralische Gesetz, das Achtung vor dem Anderen verlangt, für heilig erklärt. Jene Achtung ist zu arbiträrer Sentimentalität verkommen, die Verachtung für die Bindung jedoch stabil geblieben, denn sie allein wird vom Gesetz der theoretischen Vernunft instituiert. Es ist die radikale Souveränität, die aus der absoluten Bindungslosigkeit folgt, in der sich die neue Figur der Selbsterhaltung verwirklicht.
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3.4.3 Souveränität Sades Werk ist jene Souveränität gewordene Selbsterhaltung, der Gipfel der Herrschaft der theoretischen Vernunft. Die Autoren haben mit dieser Diagnose insofern Recht, als Sade nichts anderes in Szene setzt als Pläne; im Zentrum seines Werkes steht weniger Sexualität – und schon gar nicht Erotik – als die Erfüllung von abstrusen Plänen der Anordnung von Körpern im Raum. Die Lust des Sadisten – und die wenige psychoanalytische Literatur, die bis heute zum Phänomen Sadismus vorliegt, ist sich in diesem Punkt einig² – beruht in der Tat auf dem Ordnen und Anordnen des Wirklichen unter Absehung aller sinnlichen Hindernisse, namentlich des Schmerzes derjenigen, die da geordnet und angeordnet werden: eine Tätigkeit des Sadisten, die Castel (2014, 36) treffend als „faire faire“ fasst. Seine Lustquelle ist Allmacht; der Schmerz, den er produziert, nur kontingentes Anzeichen dieser Allmacht. Insofern sagen Horkheimer und Adorno zurecht, dass es Sade allein um die Inszenierung der „abstrakten Macht des Subjekts“ (97) geht, die Kants theoretische Vernunft rein ausgearbeitet hat. Mit jener Inszenierung der Allmacht stellt Sade aber nur eine der möglichen Figuren der Subjektivität unter dem Primat der theoretischen Vernunft dar: die nämlich, der es gelingt, sich zur absoluten Souveränität zu erheben, das heißt zu einer Form der Selbsterhaltung, die das Selbst völlig abstrakt setzt, und um sich die Wirklichkeit dieser Setzung zu beweisen, stur repetitiv alle Bindungen an Andere immer wieder brechen muss: Nietzsches „Kühnheit der vornehmen Rassen“, die ihre „Freiheit von allem sozialen Zwang“ genießen (105), entspricht jener von Sade inszenierten Souveränität. Die unendlich langweilige Wiederholungsstruktur des Sadeschen Werks erklärt sich aus diesem Bedürfnis des immer zu erneuernden Bruchs aller Verpflichtungen, der sich in letzter Instanz im Lob des Gattenmordes und Inzestes artikuliert (vgl. 124). Das andere Moment der modernen Subjektivität – ihr Verlangen nach Unterwerfung unter die je gerade existierenden Regeln – wird von Sade weniger dargestellt, als in den ausschweifenden Reden seiner souveränen Figuren erläutert, in welchen sie erklären, dass man für das Volk die „religiösen Schimären durch den äußersten Terror ersetzen“ (94) muss. Sades Figuren im eigentlichen Sinne, die also, aus deren Praxis man im Folgenden den Begriff des Sadismus ableiten wird, verwirklichen nur und ausschließlich die absolute Souveränität des aufgeklärten Subjekts. Horkheimer und Adorno nehmen sie aber genau deswegen als Exemplifikation: Weil Sade die
Diese Literatur (André 1993 und 2013, Castel 2014) findet man vor allem im französischsprachigen Raum, was nicht nur an Sades Herkunft liegt, sondern auch an Lacans Kommentar zu Sade und Kant (Lacan 1971).
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untergründige Tendenz der Aufklärung darstellt, das, was das Subjekt werden müsste, könnte es sich wirklich aus aller Verbindlichkeit und damit aus allem kollektiv sanktionierten Handeln lösen. Das Werk Sades, dies sei nochmals betont, inszeniert nicht eine perverse Variante der Kantischen praktischen Vernunft, sondern das Praktischwerden der theoretischen Vernunft. Es ist „intransigente Kritik der praktischen Vernunft“ (101) und „steigert das szientifische Prinzip [der theoretischen Vernunft – JC] ins Vernichtende.“ (101) Jene Verwirklichung der theoretischen Vernunft wird von Horkheimer und Adorno anhand der weiblichen Hauptfigur der Sadeschen Romane erläutert: Juliette. Juliettes Realisation der theoretischen Vernunft setzt an dort, wo Aufklärung in der Tat angesetzt hat: an der Kritik der Religion. Juliette beginnt ihre Karriere bekanntlich im Couvent de Panthemont, wo sie von dessen Äbtissin Madame Delbène in die Grundsätze der libertinage eingewiesen wird. Dessen erster und in gewisser Hinsicht wichtigster besteht in der Leugnung der Religion im Namen aufgeklärter Vernunft. So beginnen auch Horkheimer und Adorno die Darstellung Juliettes mit jener Leugnung der Religion – des Katholizismus als „jüngster Mythologie“ (101) – durch die „aufgeklärte, geschäftige“ Besorgung „des Sakrilegs“. Dabei ist die Negation aller fundamentalen Regeln der Zivilisation, die sich aus dem christlichen Gesetz „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ ergeben, und deren institutionelle Garantie der Katholizismus sein soll, in Juliettes Praxis kein Rückfall in die Natur, sondern sie realisiert ihre Bestialität als „tabuierte“ (101): sie weiß um das Verbot und überschreitet es, um zu zeigen, dass es unbegründet ist, seine Transgression keine Reaktion – weder göttlicher noch menschlicher Ursache – hervorruft. Juliette, so die Autoren, repräsentiert „weder unsublimierte noch regredierte libido, sondern intellektuelle Freude an der Regression, amor intellectualis diaboli, die Lust, Zivilisation mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Sie liebt System und Konsequenz.“ (102) Wir lassen für den Augenblick die schwierige Gleichsetzung von „Freude“, „Lust“ und „Liebe“ außer Acht. Zentral ist nur, dass Juliette als Inkarnation des „wissenschaftlichen Geistes“ der Aufklärung alle inhaltlich gehaltvollen Regeln des Handelns negiert. Diese Negation sei, so Juliette, nur dann rein, wenn sie keinerlei Gefühlsregungen provoziert, sondern sich in Apathie vollzieht – daher das Problem der „Lust“, von der man nicht so richtig weiß, in was sie besteht. Horkheimer und Adorno zeigen hier mit bestechender Klarheit (vgl. 103), dass die Apathie, die Juliette von sich selbst verlangt, vom selben Schlage ist wie die Gefühllosigkeit, die Kant von seinem moralisch handelnden Subjekt fordert: nach dem moralischen Gesetz handeln heißt, alle Affekte abzutöten, absolute Negation der Sinnlichkeit; genau das realisiert Juliette in ihrem sadistischen Handeln. Apathie ist in beiden Fällen der Ausdruck eines völlig in sich zurückgenommenen Subjekts, das alles Natürliche in und außer sich negiert. Negation, die bei Kant Wirkung des moralischen
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Gesetzes ist, in dem sich die Kausalität durch Freiheit ausdrücken soll, wo sie bei Sade unmittelbare Wirkung jener Kausalität durch Freiheit ist, die sich an kein Gesetz mehr gebunden weiß. Jene Negation des Natürlichen ist schon in Kants Augen schmerzhaft, weil das Subjekt alle sinnlichen Antriebe, Lüste, Begierden und Möglichkeiten ihrer Befriedigung abtöten muss. Sade hat gesehen, dass die geforderte Negation der Sinnlichkeit mehr impliziert als die Nötigung der eigenen Sinnlichkeit, nämlich auch die Negation aller affektiven Bindung an andere Menschen, aller Verhältnisse der Solidarität und des Zusammenlebens (dazu Bataille 1957, 197– 218 und 219 – 245; sowie Bataille 1952, Bataille 1953, Bataille 1957a), allen voran das Mitleid (108 – 111). Deswegen gehen Sades Figuren bis zur Vernichtung der Natürlichkeit – des Lebens – des Anderen dort, wo Kant bei der Vernichtung der inneren Natur stehen bleibt. Um die eigene Unabhängigkeit von aller äußeren Bestimmung zu beweisen, muss gezeigt werden, dass der Andere nur Gegenstand der anordnenden Macht der theoretischen Vernunft ist. In dieser Hinsicht ist es eigentlich egal, ob die Anordnung des Seienden nach dem Plan des allmächtigen Subjekts Schmerzen hervorruft oder nicht: Die Lust des Sadeschen Subjekts scheint mehr an der exakten Erfüllung eines schier unmöglichen Plans zu hängen, als an den eigenen leiblichen Reaktionen oder denen der Opfer dieses Plans. Deswegen können die Autoren in einem ersten Schritt mit der Behauptung sich begnügen, dass „Juliette […] die Wissenschaft zum Credo“ hat (104). Die Lust an Blasphemie oder Folter ist weniger die an der Transgression, sondern die am Ich, dem alles möglich ist. Nachdem die theoretische Vernunft alle objektive Ordnung aus der Welt weganalysiert hat, bleibt von dieser Welt nicht mehr übrig als „Masse von Materie“ (106), die beliebig manipuliert werden kann. In diesem Punkt träfen sich dann auch Sade und Nietzsche, der so wenig wie der Erste von Gesetzen weiß, die er nicht nur erkennt, sondern auch über sich anerkennt (vgl. 106). Und die erkannten Gesetze, die der Natur, müssen gebrochen werden, soll sich das Subjekt in seiner Souveränität bewähren – nur nicht mehr gebrochen nach einer Kausalität durch Freiheit, die selbst durch das moralische Gesetz gebunden wäre, sondern nach einer Kausalität durch Willkürfreiheit, reine Negativität; jener reinen Negativität, die als intrinsische Bestimmung dem moralischen Gesetz als Negation aller sinnlichen Antriebe des Handelns in dem Moment zukommt, wo jede Bestimmtheit dieses Gesetzes als Aberglauben entlarvt wurde. Allein diese Denkbewegung erklärt, warum die Autoren in der „Vorrede“ behaupten, das Kapitel zeige, inwiefern „die Unterwerfung des Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt zuletzt gerade in der Herrschaft des Objektiven, Natürlichen gipfelt“ (6). Die Brechung der Kausalität der Natur „im Namen des Subjekts“, die Kant mit „im Namen der Freiheit“ fasste, wird in einem ersten Schritt zur bloßen, blinden Affirmation der Selbstherrlichkeit des Subjekts, zu einem Han-
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deln aus Willkürfreiheit, aus dem dann jener Krieg Aller gegen Alle folgt, der zur Vorherrschaft des Rechts des Stärkeren führt, also, in letzter Instanz, zu einem Rückfall in die Natur. Sade betreibt diesen Rückfall bewusst. Seine Figuren verfallen nicht blind der Natur, sondern machen aus der Logik der theoretischen Vernunft den Imperativ ihres Handelns. Ein Imperativ allerdings, der genauso leer ist wie es das moralische Gesetz Kants gewesen ist. Und so wie Kant sieht, dass er der objektiven Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz eine subjektive Triebfeder mitgeben muss – das Gefühl der Achtung – so sieht Sade, dass er seinen Figuren ebenso eine subjektive Motivation des Handelns zusprechen muss; in seinem Fall ist das die Lust am sadistischen Handeln. Diese spezifische Form der Lust, welche aus unumschränkter Anwendung der theoretischen Vernunft folgt, gilt es noch zu erläutern.
3.5 Funny games – Lust im Zeichen der Aufklärung Horkheimers und Adornos Theorie der Lust ist uneindeutig: Es ist so, als hätten sie versucht, zu denken, was Lust jenseits von Verbot und Gesetz heißen soll, ohne in der Lage zu sein, jenen Gedanken zu Ende zu denken. Das zentrale Indiz dafür findet sich in der Übersetzung, die sie für Juliettes berühmtes Motto „oser tout dorénavant sans peur“ (105) geben. Sie sagen: „Gefährlich leben“ (105); eine Fehlübersetzung, die nicht an den mangelnden Sprachkenntnissen der Autoren liegen kann. „Oser tout dorénavant sans peur“ heißt wörtlich: „ab jetzt alles ohne Angst wagen“. Das von Nietzsche stammende „gefährlich leben“ verwischt mehrere zentrale Momente dieses Satzes: erstens, das „alles“, das man „ab jetzt“ wagen kann; jene Möglichkeit des „alles“ verweist eindeutig auf die Abwesenheit eines Gesetzes, das bestimmen würde, was möglich und unmöglich ist. Zweitens sagt Juliette „ohne Angst“, was das genaue Gegenteil jenes „gefährlich leben“ ist, insofern als man ohne Angst auch kein Bewusstsein von Gefahr hat: dort wo kein Gesetz ist, droht auch keine Gefahr. Anders gesagt: Wer kein Gesetz kennt, kennt auch keine Angst. Juliette ist konsequent in ihrem Lebensmotto: sie ist nur an ihr eigenes Gesetz entäußert, stellt das unmögliche Subjekt dar, das sich selbst konstituiert, weil es sein eigenes Gesetz ist. Die sadistische Lust kann deswegen nicht mit Begriffen wie dem der Gefahr oder der Transgression gefasst werden. Adornos und Horkheimers Theorie der Sadeschen Lust, der Lust also, die aus der strikten Realisierung der theoretischen Vernunft folgt, mündet in eine Theorie des Amüsements, der Lust als „fun“ (111). Die These hier ist, dass Juliette zwar die
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Gesetze der sozialen Ordnung, in der sie lebt, bricht, die Lust an und in ihrem Handeln aber nicht aus der Transgression zieht. Als würdige Vertreterin der Aufklärung ist sie das Gesetz, was heißt, dass sie ihre Lust aus diesem „Gesetzsein“ selbst generiert, nicht aus dem Bruch anderer Gesetze. Man hat es hier mit dem eher seltenen Fall zu tun, in dem die Erfüllung des Gesetzes Lust generiert, nicht seine Überschreitung. Erfüllung des Gesetzes der theoretischen Vernunft, das die planmäßige Anordnung des Seienden verlangt, koste es, was es wolle. Selten ist diese Form der Produktion von Lust nach den Autoren selbst, die – daher die Verwirrung – in Hinblick auf ihre Theorie der Lust Freud folgen. Nach Freud generiert die Befolgung eines Gesetzes nur dann Lust, wenn der Fall eintritt, dass Ich und Ich-Ideal zusammenstimmen (Freud 1914 und Freud 1921, 147– 148), was eine glückliche Ausnahme ist – oder Zeichen einer schweren narzisstischen Störung. Im Allgemeinen ist die Lust daran gebunden, dass das Subjekt dem IchIdeal entwischt. Sie ist als solche ephemer und widerspricht gerade allen hehren Idealen, die im Ich-Ideal vermittelt durch die gesetzgebende Instanz des Überichs sich ausgebildet haben. Horkheimer und Adorno wiederholen nahezu jene Freudsche Theorie der Lust: Lust sei immer gebunden an Akte, in denen sich die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Natur (vgl. 112) kurzfristig realisiert. Genuss sei gleichsam die Rache der Natur, der kurze Moment, in dem man der Zivilisation entrinnt (vgl. 113). Damit steht Lust im engsten Zusammenhang mit Transgression, oder zumindest der Umgehung des Gesetzes. Lust stamme „aus der Entfremdung“, ist insofern immer „gesellschaftlich“, da sie sich allein in der kurzfristigen Aufhebung jener Entfremdung, verstanden als Herrschaft- und Zuchtlosigkeit, realisiert. Insofern „verrät“ jeder „Genuss“ eine „Vergötzung“ (112), denn er ist nur in der Abweichung von dem Zwang, den Zivilisation einem auferlegt, also in der Abweichung vom allgemein anerkannten einen Gesetz. Da aber die Aufklärung alle strukturierenden Gesetze negiert, ist jene Lusterfahrung ihr nicht mehr möglich. Das bloße regelförmige Tun, das jeder anderen Regel auch folgen könnte, kennt keine Abweichung vom Gesetz mehr. Daher die Behauptung der Autoren, dass die Betriebsamkeit, in der sich die Praxis der theoretischen Vernunft inkarniert, die Lust eigentlich „absorbiert“ (112), keine Lusterfahrung mehr möglich ist, wo kein Gesetz mehr gilt, sondern nur noch Regeln. Die Lust des konsequenten Sadisten hat so nur noch eine mögliche Quelle: Die Identität seines Gesetzes und der Wirklichkeit. Lust ist nur noch absolute Souveränität, die in der Brechung der dem Gesetz des Subjekts widerstehenden Natur besteht. Daher die schlechte Unendlichkeit der Praxis der Sadeschen Figuren, die unglaubliche Langlebigkeit der Opfer, der Zwang, ständig neu zu veranstalten, was man gerade schon veranstaltet hat. Denn in letzter Instanz ist die Natur eben
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nicht zu brechen, was die Sadeschen Figuren zu dem Wunsch verhält, die gesamte Welt zu vernichten. Aus der schlechten Unendlichkeit eines so verfassten Handelns, in dem die Konformität mit dem Gesetz zu keiner Befriedigung führt, da sie im eigentlichen Sinne unmöglich ist, insofern als Natur nicht abschaffbar ist, Überschreitung des Gesetzes aber auch nicht möglich, da alles, was das Subjekt tut, seinem eigenen Gesetz entspricht, denn ein anderes erkennt es nicht mehr an, folgern Horkheimer und Adorno, dass keine Lust mehr existiert, sondern höchstens noch Handeln nach dem Prinzip „just for fun“ (111). Das Subjekt Sades beweist sich seine Souveränität, gewinnt aus deren Verwirklichung aber keine Lust: Es tut nur noch (vgl. 112). Handeln verkommt so zur jener leeren planvollen Betriebsamkeit, die die Autoren für das Handeln unter dem Primat der theoretischen Vernunft schon diagnostiziert haben. Ohne Bindung, und das heißt eben ohne triangulierendes Gesetz, bleibt von Subjektivität nicht mehr als das langweilige Nacheinander von Akten, das niemand besser als Sade inszeniert hat. *** Wie bemerkt, ist das alles übertrieben. Sade übertreibt, wenn alle seine Figuren ungeschoren davon kommen, Hemmungslosigkeit konsequent belohnt wird (126). Sade übertreibt auch in der Konsequenz, mit der sich theoretische Vernunft in seinen Figuren praktisch durchsetzt. Die Autoren übertreiben, indem sie die Handlungslogik von Sades Figuren und Nietzsches Übermenschen zur angeblichen gesellschaftlichen Logik des Handelns im Spätkapitalismus erklären. Sie wissen so gut wie Sade, dass die Negation aller Bindungen für das Subjekt nur schmerzhafte Aufgabe sein, nicht aber rein sein individuelles Handeln bestimmen kann. Sie sehen aber auch angesichts des Faschismus, dass jene sadistische Negation des Anderen, die ihn als Mittel dazu nimmt, sich zu beweisen, dass man in letzter Instanz doch seine Kausalität durch Freiheit gegen alle Naturbestimmungen – und die Körper der Anderen sind ja nun Natur – gesichert durch das Kollektiv realisieren kann. Die Gefahr für die Menschheit, die mit der Philosophie der Aufklärung des Alleszermalmers Kant aufgekommen ist und die er selbst nicht durch seine praktische Philosophie zähmen konnte, jene Gefahr eines gesetzlosen freien Willens, hat man, so die Diagnose der Autoren, solange im Griff, wie jene gesetzlose Selbstbestimmung den Einzelsubjekten überlassen wird. Hier sorgt die unerfüllbare Aufgabe nur für Neurosen, entstehend aus der Schuld des Subjekts, dem Gesetz, selbstgesetzgebend zu sein, nicht entsprechen zu können; oder aber zu einem blinden Befolgen von Regeln, deren Inhalte alle gleichgültig sind und deswegen alle befolgt werden können. Sobald jedoch ein Kollektiv jenen gesetzlosen freien Willen inkarniert, kann es ihn auch verwirklichen. Sade, in gewisser
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Hinsicht, hat sogar das gesehen, als er für die wahrhafte Republik Institutionen der libertinage fordert, so als ob selbst sein Subjekt nur institutionell abgesichert dauerhaft seine Gesetzlosigkeit realisieren könnte.³ Horkheimer und Adorno sehen diese Institution der freien Gesetzlosigkeit im Faschismus realisiert. Dessen Wirklichkeit rechtfertigt in ihren Augen die Übertreibung, die in der Behauptung liegt, Sade hätte Kant zu Ende geführt. Eine Übertreibung, mit der sie sich in die Tradition jener schwarzen Schriftsteller einschreiben, deren Übertreibungen sie im zweiten Exkurs verteidigen: denen, die „es nicht den Gegner überließen, die Aufklärung über sich selbst zu erschrecken“ (126). Damit markieren die Autoren nicht das Scheitern der Aufklärung, sondern nur die Notwendigkeit ihrer Selbstkritik. Selbstkritik, deren Übertreibungen nicht gegen die Vernunft sprechen (so Habermas 1988, 130 – 157), sondern sie an den Punkt treibt, an dem sie ihre selbstzerstörerische Kraft reflektieren muss.
Literatur André, Serge. 1993. L’imposture perverse, Paris André, Serge. 2013. Les perversions #2. Le sadisme, Paris Bataille, Georges. 1952. Le Souverain, in: Ders. : Œuvres Complètes Vol XII, Paris, 195 – 208 Bataille, Georges. 1953. Sade, 1740 – 1814, in: Ders. : Œuvres Complètes Vol XII, Paris, 295 – 304 Bataille, Georges. 1957. L’érotisme, Paris Bataille, Georges. 1957a. L’affaire Sade (le procès), in: Ders. : Œuvres Complètes Vol XII, Paris, 453 – 456 Castel, Pierre-Henri. 2014. Pervers, analyse d’un concept suivi de Sade à Rome, Paris Deleuze, Gilles. 1967. Présentation de Sacher Masoch, Paris Durkheim, Émile. 2012. L’éducation morale, Paris Freud, Sigmund. 1913. Totem und Tabu, in: Gesammelte Werke Bd. IX, Frankfurt 1999 Freud, Sigmund. 1914. Zur Einführung des Narzissmus, in: Gesammelte Werke Bd. X, Frankfurt 1999 Freud, Sigmund. 1921. Massenpsychologie und Ichanalyse, in: Gesammelte Werke Bd. XIII, Frankfurt 1999 Habermas, Jürgen. 1988. Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt Hegel, G. W. F. 1999. Phänomenologie des Geistes, in: Suhrkamp-Werke Bd. 3, Frankfurt a.M. Kant, Immanuel. 1963. Kritik der praktischen Vernunft, in: Akademie-Ausgabe, Berlin, Bd. 5 Kant, Immanuel. 1969. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Akademie-Ausgabe, Berlin, Bd. 6 Kant, Immanuel. 1978. Kritik der reinen Vernunft, in: Akademie-Ausgabe, Berlin, Bd. 4
So in jedem Fall die politische Philosophie, die Sade in „Français, encore un effort si vous voulez être républicains“ (Sade 1999) entwickelt hat. Die Idee, dass Sade das Gesetz durch die Institution ersetzen wollte, findet sich entwickelt in (Deleuze 1967, 81– 90).
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Kant, Immanuel. 1978a. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Akademie-Ausgabe, Berlin, Bd. 4 Karsenti, Bruno. 2006. La société en personnes. Etudes durkheimiennes, Paris Marx, Karl. 1969. Das Kapital, in: Marx-Engels-Werke Bd. 23, Berlin Sade, D. A. F. 1999. La philosophie dans le boudoir, Paris
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4 Kulturindustrie Horkheimers und Adornos Ausführungen über Kulturindustrie bilden vermutlich das bekannteste Fragment der Dialektik der Aufklärung. Sie gelten als klassische Kritik der Popkultur und Massenmedien. Zugleich macht sich an ihnen oft auch der größte Unmut fest. Ihre Urteile erscheinen als Zeugnisse eines elitären Denkens, das mit den Bedürfnissen und Wünschen der Konsumenten nichts anzufangen weiß und das den subversiven Eigensinn von Pop und Medien nicht erkennt. Da Horkheimer und Adorno die Kulturindustrie zudem als eine Form totaler Herrschaft verstehen, rücken Popkultur und Massenmedien neben die Herrschaftsformen von Faschismus und Stalinismus. Auch das kommt manchem überzogen vor. So steht das Fragment über Kulturindustrie gemeinhin als eine Form überanstrengter Kulturkritik von oben da. Gegen diese Einschätzung spricht, dass die Kritik der Kulturindustrie einen geheimen Subtext besitzt: Sie kritisiert mit Film, Schlager und Cartoons zugleich zentrale Kategorien der bürgerlichen Ästhetik. Diese Kategorien lauten: Versöhnung (128 – 132), Stil (132– 139), Katharsis (139 – 152), Schein (152– 158), Tragik (158 – 163), Autonomie (163 – 170) und L’art pour l’art (170 – 176). Daher schaut die Kritik der Kulturindustrie nicht von oben auf die Popkultur herab.Vielmehr werden die Antinomien ästhetischer Grundbegriffe reflektiert, die sich in der Kulturindustrie zur Kenntlichkeit verändert haben, so dass sich in deren Problematik die Problematik des Ästhetischen insgesamt spiegelt. Ganz im Sinne der These von einer Dialektik der Aufklärung schlägt die Freiheit, die die ästhetische Sphäre verspricht, in Unfreiheit um. Im Blick auf die angegebenen Grundbegriffe soll im Folgenden das Fragment kommentiert und gedeutet werden.
4.1 Versöhnung Das Konzept der Kulturindustrie verbindet zwei Begriffe, die gewöhnlich gegensätzliche Bereiche kennzeichnen. In den Bereich der Industrie gehören Arbeit und Mühe, Fleiß und Eifer, Berechnung und Organisation, Wertschöpfung und Ausbeutung. In den Bereich der Kultur hingegen gehören Muße und Kult, Phantasie und Befriedigung, Individualität und Bildung, Selbstbestimmung und Gemeinsinn. Um das Verhältnis dieser Bereiche zu bestimmen, gibt es zwei Großdeutungen, die in verschiedenen Varianten bis heute wirksam sind: Liberalismus und Konservativismus. Für das liberale Denken bereitet die Industrie die gesellschaftliche Grundlage der Kultur, während diese von wirtschaftlicher Rationalität DOI 10.1515/9783110448764-005
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dispensiert, um der freien Entfaltung des Individuums Raum zu gewähren. Für das konservative Denken überwindet die Kultur die Entfremdungen des industriellen Bereichs, indem sie von dessen Erfordernissen entlastet und Traditionen und Bildungshorizonte lebendig hält.Wenn Horkheimer und Adorno beide Bereiche in dem einen Konzept „Kulturindustrie“ verbinden, widersprechen sie daher von Anfang an sowohl dem liberalen als auch dem konservativen Selbstverständnis moderner Gesellschaften. Als Kulturindustrie stellt Kultur keinen Freiraum für Selbstentfaltung und kompensierende Bildung dar; stattdessen gehört sie in den Zusammenhang jener wirtschaftlichen Rationalität hinein, die zu übersteigen sie verspricht. Wie Adorno in einem aus den sechziger Jahren stammenden Rückblick festhält, bezieht sich der Begriff „Industrie“ hierbei weniger auf den Produktionsvorgang als auf die Standardisierung der Produkte und auf die Rationalisierung ihrer Verbreitung (AGS 10.1, 339). Kulturindustrie besteht in der planvollen Herstellung von Produkten in einem nahezu lückenlosen System von Sparten, die auf den Massenkonsum zugeschnitten sind und diesen Konsum zugleich bestimmen. An die Stelle des Gehalts kultureller Erzeugnisse tritt hier der unverhüllte Primat ihrer Verwertbarkeit. Dadurch entstehen ganz neue Phänomene, deren Organisation nicht in ihrer inneren Logik besteht, sondern in ihrer Ausrichtung auf Verbreitung und Reproduktion, von deren Techniken sie leben. Sie nehmen daher keine Rücksicht darauf, was die Rationalität solcher Techniken für kulturelle Gehalte bedeutet, und bieten ein Gemisch aus streamlining und individualistischen Restbeständen dar. Ein prägnantes Beispiel dafür ist das Starsystem (AGS 10.1, 340). Es verschmilzt die Geltung des Individuums, die im Zentrum des traditionellen Kulturverständnis steht, mit seiner kommerziellen Ausbeutung, so dass ein entmenschlichter Betrieb mit angeblich großen Persönlichkeiten entsteht. Die auf diese Weise hergestellten Produkte, die Stars, werden in Sparten für alle Bedürfnisse angeboten, die sie umgekehrt wiederum erzeugen. Entscheidend ist hierbei, dass die neuen Produkte, die unter dem Primat ihrer Verwertbarkeit entstehen, nicht als Erzeugnisse einer neuen, „von unten“ bestimmten Kultur verstanden werden. Die konservative Kulturkritik legt nahe, dass die auf den Massenkonsum zugeschnittenen Kulturwaren aus einer Einebnung der feinen Unterschiede und Hierarchien der Bildung folgen, die mit dem Gleichheitsgedanken der Französischen Revolution einherging. Und die Verteidiger der Kulturindustrie zeichnen dasselbe Bild unter umgekehrten Vorzeichen: In ihren Augen entsprechen die neuen Produkte demokratischen Bedürfnissen. Gegen solche Diagnosen hält Adorno im Rückblick fest: „In unseren Entwürfen war von Massenkultur die Rede. Wir ersetzten den Ausdruck durch ‚Kulturindustrie’, um von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache genehm ist: dass es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur
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handle, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst“ (AGS 10.1, 337). Und: „Kulturindustrie ist willentliche Integration ihrer Abnehmer von oben“ (AGS 10.1, 337). Mit dem Begriff der Integration ist der ästhetische Grundbegriff angesprochen, der im Hintergrund des ersten Abschnitts des Fragments über Kulturindustrie steht. In der bürgerlichen Ästhetik wird die Unterscheidung zwischen den beiden Bereichen, für die die Begriffe „Kultur“ und „Industrie“ stehen, unter anderem daran festgemacht, dass in der Kultur das Allgemeine und das Besondere versöhnt seien. Während im Wirtschaftsleben allgemeine Gesetzmäßigkeiten und individuelle Bedürfnisse sich immer wieder entzweien, steht die Kultur für die Möglichkeit, dass der Einzelne sich in einen allgemeinen Horizont so hineinbildet, dass er sich in ihm wiederzuerkennen vermag (Gadamer 1990, 19 – 24). Auf diese Weise führt die Aneignung des Kulturellen, das immer etwas Allgemeines ist, zugleich zur Selbstbestimmung des Individuums. Für Horkheimer und Adorno wird dieses Versprechen von der Kulturindustrie als Verwirklichung totaler Herrschaft durchgeführt. Ihre These lautet: Kulturindustrie ist „die falsche Identität von Allgemeinem und Besonderen“ (128). Sie besagt: So wie es die bürgerliche Ästhetik versprach, ermöglicht Kultur in der Tat die Einheit von Individuum und Allgemeinem. Aber diese Einheit besteht in der Auslöschung des Unterschieds. „Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit“ (128). Sie lässt das Besondere nicht mehr als Besonderes gelten, sondern macht es in einem Allgemeinen gleichnamig. Die behauptete Ähnlichkeit suchen die Autoren unter zwei Gesichtspunkten aufzuweisen: als Einstimmigkeit der Sparten und als Einstimmigkeit von Produktion und Konsumtion. Kulturindustrielle Erzeugnisse treten als bunte Vielfalt auf. Ihre differenzierten Genres aber erweisen sich für Horkheimer und Adorno als Sparten. Das heißt, sie sind Unterteilungen eines Systems. Die bunte Vielfalt ist immer schon vereinheitlicht, und etwas wahrhaft Anderes bietet sie nicht. Um das Argument hierfür zu erkennen, ist der zweite Gesichtspunkt zu berücksichtigen. Denn die Genres der Kulturindustrie stellen deshalb Sparten dar, weil sie der organisierten Erfassung der Konsumenten dienen. „Jeder soll sich gleichsam spontan seinem vorweg durch Indizien bestimmten ‚level’ gemäß verhalten und nach der Kategorie des Massenprodukts greifen, die für seinen Typ fabriziert ist“ (131). Was unterschiedlich auftritt, weiß sich in seiner Eigenart jeweils durch dieselbe Funktion bestimmt. Dementsprechend sind auch die Bedürfnisse der Konsumenten bereits erfasst. Indem sie sich in Sparten organisieren lassen, werden sie vom System der Produktion vorgeformt. Dieser „Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis“ (129) entlarvt die Ausdifferenzierung der Produkte als deren Einhegung. Denn hier geht es nicht um die Produktion des Anderen, sondern um die Produktion von etwas, dessen Eigenart stets durch die
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Funktion bestimmt ist, von den bereits erfassten Konsumenten konsumiert zu werden. Eben dadurch schlägt die Versöhnung von Allgemeinem und Besonderen in eine neue Form von Herrschaft um. Ihre Besonderung erfahren Individuen durch ihre Bedürfnisse. Die Bedürfnisse aber sind durch die Sparten vorbestimmt, in denen die Produkte zu ihrer Befriedigung hergestellt werden. Sie stehen daher im Einklang mit dem allgemeinen System kulturindustrieller Produktion. Das bedeutet: Während die bürgerliche Ästhetik die Einzelnen durch ihre Bildung mit dem Allgemeinen versöhnen wollte, identifiziert die Kulturindustrie die Einzelnen mit ihrem auf Massenkonsum angelegten System, indem sie sie zu in Sparten gegliederten Konsumtionsfaktoren macht. Das Versprechen der Kultur, durch die Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem individuelle Freiheit zu gewähren, wird in Gestalt einer vollständigen Einordnung verwirklicht.
4.2 Stil Das einheitliche System von Spartenprodukten erfordert, dass alle Einzelheiten im Sinne seiner Ausrichtung auf Konsumtion funktionieren. Entsprechend stellen die Details kulturindustrieller Produkte kalkulierte Wirkungsgrößen dieses Systems dar. Sie dürfen keinen Eigensinn einbringen, sondern gewinnen ihre Bestimmtheit durch den Effekt, den sie im Konsumtionsbereich erzielen. Deshalb sind sie wie alles Einrechenbare reproduzierbar und handhabbar. Das heißt, sie gleichen fertigen Versatzstücken, die sich um einer bestimmten Wirkung willen einsetzen lassen, und tendieren zum Klischee. Die Folgen dieser Behandlung der Einzelheiten verdeutlichen Horkheimer und Adorno im Vergleich zum Kunstwerk (133 – 134). Auch das Kunstwerk bildet eine Einheit von einzelnen Momenten, und auch im Kunstwerk erfüllen die einzelnen Momente bestimmte Funktionen. Aber das Verhältnis zwischen seiner Einheit und ihren Einzelheiten ist grundsätzlich anders geartet. Denn die Details des Kunstwerkes stehen in einer Spannung zueinander und zu ihrer Einheit. Sie haben einen Eigensinn, der sich im Einspruch gegen die übergreifende Organisation geltend macht. In der avantgardistischen Kunst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gelangte dieser Eigensinn der Einzelheiten zutage. Zwar gelangt das Einzelne nur innerhalb der Werkeinheit zur Sprache, doch schwingt in ihm stets eine Eigentendenz gegen diese Einheit mit. In der Musik lässt sich das gut an Motiven beobachten, die sogar in klassischen Formen wie der Sonate einen Hang zur Verselbständigung aufweisen, aufgrund dessen sie Nebenwege zu ihrer formalen Funktion einschlagen. Das Verhältnis von Einheit und Einzelheit bildet im Kunstwerk demnach ein Spannungsverhältnis. Adorno wird es in seiner späten
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Ästhetischen Theorie mit dem Begriff „gewaltlose Synthesis“ bezeichnen (AGS 7, 216). Von dieser Spannung ist in kulturindustriellen Produkten nichts zu spüren. Weil sie Einzelheiten nur als Wirkungsgrößen kennen, können sie ihnen keinen Einspruch gegen das Ganze zugestehen. Stattdessen unterwerfen sie alle einzelnen Momente einer übergreifenden Formel, in der sie einkalkuliert sind. Ihre Verfassung besteht entsprechend in einer Harmonie, die bereits vor dem konkreten Durchgang durch die Details garantiert ist. An die Stelle der gewaltlosen Synthesis tritt eine unerbittliche Einheit, der sich die Einzelmomente fügen. Mit dieser Verfassung kulturindustrieller Produkte geht sodann eine veränderte Rezeptionshaltung einher. Die ästhetische Erfahrung der Kunst hat die beschrieben Spannung von Detail und Ganzem auf sich zu nehmen. Sie vollzieht sich in einer Vereinheitlichung widerstrebender Momente, die die Einbildungskraft entwirft und zugleich von dem Eigensinn der Details erschüttern lässt. Kulturindustrielle Produkte hingegen erfordern den Nachvollzug der einkalkulierten Versatzstücke. „Sie sind so angelegt, daß ihre adäquate Auffassung zwar Promptheit, Beobachtungsgabe, Versiertheit erheischt, daß sie aber die denkende Aktivität des Betrachters geradezu verbieten, wenn er nicht die vorbeihuschenden Fakten versäumen will“ (134– 135). Die Fakten huschen vorbei, weil sie von der Formel des Ganzen einberechnete Effekte darstellen, die es prompt und versiert zu erfassen gilt, ohne eine Vereinheitlichung seitens der Rezipienten zu verlangen; denn durch ihre Kalkulation sind sie ohnehin schon vereinheitlicht. Statt der Leistung der Einbildungskraft ist die Anspannung einer automatisch erfolgenden Aufmerksamkeit gefragt. In der eigentümlichen Einheit, die kulturindustrielle Produkte aufweisen, sehen Horkheimer und Adorno die Kategorie des Stils zur Kenntlichkeit gelangt. Stil bedeutet: Einheitlichkeit der Gestaltung durch gewisse Regeln, Normen und Muster. Das wird von der Kulturindustrie zu Ende gedacht. Die Strenge und Geltung des Stils finden ihre Zuspitzung in der Übersetzung aller Einzelmomente in das Schema, das sie als Wirkungsgrößen der Konsumtion einkalkuliert. Hiermit ist ein ausdrücklicher und unausdrücklicher Katalog verbunden, nach dem die Einzelheiten gemodelt werden (135 – 136). Verstöße gegen den Jargon, die kulturindustrielle Produkte eines spezifischen Stils durchaus durchführen, sind im Voraus berechnete Unarten, die in die Einheitlichkeit der Gestaltung einbezogen bleiben (137). Das so erzeugte Idiom bildet den kulturindustriellen Stil. Es differenziert sich in die Idiome der verschiedenen Sparten. Ihre jeweilige Strenge und Geltung erfordert genaue Befolgung, um sich als Kenner der entsprechenden Sparte zu erweisen, und die Konsumenten müssen sie sprechen, wenn sie die Verfassung der Produkte nachvollziehen wollen.
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Mit dem Begriff des Stil lassen Horkheimer und Adorno ein Konzept anklingen, das die kunstgeschichtliche Methode geprägt hat: die Stilkritik. Sie sollte die Erforschung formgeschichtlicher Phänomene anleiten, indem Individualstile, Volksstile, Zeitstile und Stilwandel mit Hilfe grundlegender Darstellungsformen erfasst werden (Wölfflin 1915, 10 – 17). So bot die Stilbestimmung einen Schlüssel zum Kunstverständnis. Entsprechend konnten die neuartigen Produkte der Kulturindustrie als stillos erscheinen. Hiergegen konstatieren Horkheimer und Adorno lakonisch: „Die Klagen der Kunsthistoriker und Kulturanwälte übers Erlöschen der stilbildenden Kraft im Abendland sind zum Erschrecken unbegründet“ (135). Durch ihre Vereinheitlichung der Details besitzt die Kulturindustrie eine besonders starke stilbildende Kraft. Weil es sich hierbei allerdings um einen Stil handelt, der sich grundlegend vom Stil der Kunst unterscheidet, ist der Stil der Kulturindustrie zugleich die Negation von Stil (137). Zur Kennzeichnung dieses Sachverhaltes bemühen Horkheimer und Adorno ein Nietzsche-Zitat (Nietzsche 1960a, 143): der neue Stil sei „ein System der Nicht-Kultur, der man selbst eine gewisse ‚Einheit des Stils’ zugestehen dürfte, falls es nämlich noch einen Sinn hat, von einer stilisierten Barbarei zu reden“ (136). Im Zusammenhang, aus dem das Zitat stammt, greift Nietzsche die „Bildungsphilister“ an: die Kulturmenschen, die das, was Kultur verneint, für Kultur halten. Sie und ihre Institutionen (Schulen, Universitäten, Kunstbetrieb) erzeugen jenes System der Nicht-Kultur, der man eine gewisse Einheit des Stils zugestehen muss. Horkheimer und Adorno wenden diese Überlegung auf die Kulturindustrie an. Sie kennzeichnen diese damit als Fortsetzung der Gleichförmigkeit der Gebildeten, die den Bildungsphilister ausmacht, der sich selber in der Regel über die kulturindustrielle Produktion erhaben glaubt. Allerdings wendet sich ihr Gedankengang zugleich unausgesprochen gegen Nietzsches eigenen Versuch, der stilisierten Barbarei zu begegnen. Nietzsche glaubte, den Widerspruch gegen diese in der Form des „großen Stils“ zu finden. „Der große Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt“ (Nietzsche 1960b, 918). Mit ihm würde man den Durchschnitt, das Alltägliche, die Massenkultur durchbrechen. Wenn aber Stil als solcher in der Kulturindustrie sein Zerrbild findet, dann bietet auch der große Stil nicht das Andere zum Massenkonsum, sondern nur das unverzerrte Original. In ihrer stilbildenden Kraft spricht die Kulturindustrie die Wahrheit über den Stil aus.Weil Stil sich nur am ihm widerstrebenden Material bewährt, behält Kunst ein Misstrauen gegen ihren Stil, der die Eigenheiten des Materials zu bändigen sucht. Schönberg hat dieses Misstrauen mit seiner Unterscheidung zwischen Stil und Gedanke bekundet. Stil, das ist das zeitgebundene Idiom, in das ein Gedanke sich kleidet; der Gedanke hingegen stellt die wahre Totalität des Kunstwerkes dar, die die Sprache der Zeit übersteigt. Stil kann daher veralten; ein Gedanke bleibt immer neu (Schönberg 1992, 49 – 53). In Adornos Begrifflichkeit heißt das: der
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Gedanke ist die gewaltlose Synthesis, die das Werk ausmacht, während der Stil in den Regeln, Normen und Mustern besteht, die in jene Synthesis eingehen. Demnach gelangt der Gedanke ohne Stil nicht zum Ausdruck; aber als bloßer Stil wird er verfehlt. Diese Überlegung lässt sich auf die Kritik der Kulturindustrie übertragen. Indem diese die Einheit des Stils so verwirklicht, dass sie sich seinem Scheitern nicht mehr aussetzt, verliert sie den ästhetischen Gedanken aus dem Blick. Das heißt, sie hat das Misstrauen in den Stil verloren. Gerade dadurch aber plaudert sie sein Geheimnis aus: Stil ist das ästhetische Äquivalent von Herrschaft (138). Ihm haben die Einzelheiten und das Material zu gehorchen, sofern sie zum Ausdruck kommen wollen. In der Kunst ist diese Gefahr angelegt, in der Kulturindustrie wird sie ausdrücklich. So „erfüllt sie höhnisch den Begriff der einheitlichen Kultur, den die Persönlichkeitsphilosophen der Vermassung entgegenhielten“ (139).
4.3 Katharsis Wenn die Kulturindustrie auf ihre Konsumtion angelegt ist, dann muss sie darauf abzielen, die Bedürfnisse der Konsumenten zu erfüllen. Damit kommt deren Triebstruktur ins Spiel. Triebe und ihre Regungsherde werden von kulturindustriellen Produkten bedient. Hier gilt allerdings der bereits eingeführte Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis. Auch die kulturindustrielle Triebstruktur erlangt ihre Bestimmtheit in diesem Zirkel. Der ästhetische Grundbegriff, der die Triebstruktur betrifft, ist der Begriff der Katharsis. „Katharsis“ heißt „Reinigung“. Aristoteles hatte den Zweck der Tragödie in der Reinigung von Erregungszuständen gesehen: Schauder und Jammer sollten in der Erfahrung des Schauspiels abgebaut werden (Poetik VI, 1449 b 27– 28). Von der Moderne ist diese Bestimmung in zwei Richtungen aufgegriffen worden. Einerseits hat Lessing den Schauder und Jammer als Furcht und Mitleid interpretiert, die die Zuschauer mit den Personen des Dramas haben, und ihre Reinigung als „Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten“ gedeutet. Das Durchleben leidenschaftlicher Extreme soll von diesen Extremen befreien (Lessing 1973, 595). Katharsis steht hier für die ästhetische Bewältigung von Regungsherden im Fluchtpunkt der moralischen Erhebung. Anderseits hat Jacob Bernays die Reinigung der Tragödie nach Art der medizinischen Reinigung der Körpers von angestauten Flüssigkeiten (Sperma, Menstruationsblut) gedeutet. Im tragischen Spiel wird durch das Durchleben von Schauder und Jammer ein Erregungsstau abgebaut (Bernays 1875). Diese Interpretation wirkte nicht zuletzt in Nietzsche und Freud weiter; Wolfgang Schadewaldt hat sie gegen die „humanitärmoralisierende, geschmäcklerische (‚interesseloses Genießen’), spekulativ ver-
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geistigende oder sensualistische Ästhetik“ (Schadewaldt 1955, 171) positioniert und die lustvolle Ausscheidung von elementaren Erregungszuständen betont. Katharsis bedeutet hier die „Macht des Lebens“ in der Kunst. Beide Deutungen des aristotelischen Begriffs zeigen Möglichkeiten der ästhetischen Befriedigung von Triebstrukturen an. Während die erste Richtung diese Befriedigung als Verwandlung der Leidenschaften durchführt, will die zweite Richtung in deren Tiefe eintauchen. „Wie über den Stil enthüllt die Kulturindustrie die Wahrheit über die Katharsis“ (152). Auch dieser Grundbegriff bürgerlicher Ästhetik verändert sich demnach zur Kenntlichkeit. Das Stichwort lautet „Amusement“. Es vermittelt die Verfügung über die Konsumenten. Indem kulturindustrielle Produkte ihnen Spaß bereiten, beglaubigen sie ihre Einheit mit den Bedürfnissen ihrer Abnehmer. Sie versetzen sie in einen lustvollen Zustand. Doch was hier wie die Befriedigung von Erregungen aussieht, ist für Horkheimer und Adorno ein Betrug um das Versprochene. „Der Begierde, die all die glanzvollen Namen und Bilder reizen, wird zuletzt bloß die Anpreisung des grauen Alltags serviert, dem sie entrinnen wollte“ (148). Und: „Mit der Flucht aus dem Alltag, welche die gesamte Kulturindustrie in allen ihren Zweigen zu besorgen verspricht, ist es bestellt wie mit der Entführung der Tochter im amerikanischen Witzblatt: der Vater selbst hält im Dunkeln die Leiter“ (150). Die hier angesprochene Struktur lässt sich folgendermaßen erläutern. Bedürfnisse zielen immer auf etwas noch nicht Vorhandenes. Kulturindustrielle Produkte sind aber gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie das Andere nicht als Anderes gelten lassen können. Sie haben es immer schon einkalkuliert. Sie versprechen das noch nicht Vorhandene – und lösen dieses Versprechen mit einem Vorhandenen ein, in dem alle Details eingeplant sind. Die eigentümliche Bekanntheit der bunten Neuheiten der Kulturindustrie lässt sich hieraus erklären. Amusement ist der Titel für die Lust an Bedürfnisbefriedigungen, die den Zustand, den das Bedürfnis nach etwas anderem übersteigen will, für dieses Andere ausgeben. Dementsprechend entpuppt sich das kulturindustrielle Vergnügen als Verlängerung der Arbeit (145). Arbeitsprozesse beherrschen den Alltag. Das Vergnügen wird gesucht, um ihnen auszuweichen. Kulturindustrielle Produkte aber sind durch einkalkulierte Elemente bestimmt, deren Nachvollzug die aufmerksame Anspannung der Konsumenten erfordert. Sie folgen daher derselben funktionalen Rationalität wie die Arbeitsprozesse. Auch hier kehrt der Alltag auf der Seite wieder, die die Befriedigung der von ihm unbefriedigten Bedürfnisse ankündigt. Dieser Gedanke steht quer zu der bis heute verbreiteten Kulturkritik, die die Zerstörung der westlichen Arbeitsethik durch den popkulturellen Hedonismus anklagt. Sie besagt: Dessen Ausrichtung auf individuelle Bedürfnisbefriedigung untergrabe die Leistung rationaler Institutionen und Wirtschaftsformen. Und
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umgekehrt kann sich die Hingabe an seine Versprechungen als Entspanntheit gegenüber der Funktionalität des Arbeitens feiern. Das Argument der Dialektik der Aufklärung verläuft anders. Unter kulturindustriellen Bedingungen gibt es keinen Gegensatz zwischen rationaler Arbeitsethik und popkulturellem Hedonismus. Vielmehr ist dieser mit jener strukturverwandt, weil die Kulturindustrie dieselbe Rationalität aufweist wie die funktionale Wirtschaftsform. Darum ist ihr Versprechen auf Lusterfüllung ein Betrug. Den kulturindustriellen Betrug legen Horkheimer und Adorno an drei Themen dar: Gewalt, Sex, Lachen. Als Beispiel für den Spaß an der Gewalt führen sie Trickfilme an. Deren Lust an der Zerstörung sehen die Autoren aus dem Verlust einer sinnvollen Zeitgestaltung entstanden (146). Die überschnappende Zeitfolge der Cartoons wird zur Hetze. Weil aber die Lust an der Gewalt nur scheinbar befriedigt wird, verschiebt sich ihre Befriedigung auf einen Zeitpunkt außerhalb des Trickfilms. Die Lust am Trickfilm hält die Lust auf gewalttätige Realhetzjagden lebendig. Unerfüllt bleibt auch die Begierde, die von der kulturindustriellen Darbietung von Sexualität angesprochen wird. Hier entwickeln die Autoren eines der interessantesten Argumente des Abschnitts. Es gewinnt seinen Skopus durch den Kontrast: „Kunstwerke sind asketisch und schamlos, Kulturindustrie ist pornographisch und prüde“ (148). Mit Freud kann die Kunst als Sublimierung von Triebregungen verstanden werden (Freud 1948, 441– 442, 457). Alle Sublimierung versagt die unmittelbare Erfüllung der Triebe. Indem nun Kunst die Triebregung sublimiert, rettet sie das Begehrte in seiner Versagung: Die Begierde wird nicht ausgelöscht, sondern durch ihre sublimierte Form anerkannt. Das bedeutet, dass sie sich der Triebe nicht schämt und sich zugleich asketisch gegenüber ihnen verhält. Kunst stellt deshalb die Erfüllung der Bedürfnisse als gebrochene Erfüllung dar. Anders die Kulturindustrie. Sie sublimiert die Triebe nicht, sondern unterdrückt sie, indem sie die Vorlust in erotischer Betriebsamkeit aufstachelt. Ihre unverhüllte Darstellung sexueller Reize sehen von der Sublimierung des Triebs ab. Aber weil das noch nicht Vorhandene, auf das das Bedürfnis zielt, von einem Vorhandenen, in dem alles eingeplant ist, eingelöst wird, bleibt der Trieb unbefriedigt. Er ist unsublimierte Vorlust. Aus diesem Grund sind kulturindustrielle Produkte pornographisch (unsublimiert) und prüde (triebverneinend) zugleich. Das Lachen schließlich, das mit dem Vergnügen einhergeht, ist der Vollzug jovialer Unbefriedigung. Es scheint Ausdruck eines lustvollen Zustands zu sein, wird in der Kulturindustrie aber im Zusammenhang nur versprochener Lust provoziert. Lachend finden sich die Konsumenten daher mit ihren unerfüllten Wünschen ab. „Fun ist ein Stahlbad“ (149). Nun könnte das Amusement der Kulturindustrie ein Korrektiv der Kunst bilden. Denn die ernste Kunst ähnelt durch den Ernst ihres Widerspruchs zum Bestehenden allzu sehr dem Ernst des Bestehenden (150 – 151). Aber durch die
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funktionale Verfassung kulturindustrieller Produkte werden freie Assoziationen, bloßer Unsinn oder das Erotische wie alle Details in ein Schema gefügt, das sie einkalkuliert. Das Amusement sorgt daher für die Beherrschung der Triebe. Sie strukturiert sie als Regungen, die sich in ihrer Nichterfüllung ergehen und allein dort ihr Leben haben. Das hat Folgen für die menschliche Emanzipation. Marx zufolge schreibt sich die freie, kommunistische Gesellschaft auf die Fahne: „jedem nach seinen Bedürfnissen“ (Marx 1968b, 21). In der Kulturindustrie verschwindet der Sinn dieser Forderung, da sie die Versagung von Bedürfnissen mit deren unsublimiertem Aufstacheln verdeckt. Dadurch reinigt ihr Amusement die Leidenschaften von ihren transzendierenden Schüben. In diesem Vorgang spiegelt sich die Katharsis der Erregungen, die diese entweder moralisch verwandeln oder hygienisch abbauen sollte. Katharsis führte die Leidenschaften in die bestehende Ordnung zurück. Kulturindustrielle Produkte vollziehen das durch Spaß und Vergnügen.
4.4 Schein Mit dem Eigensinn des Ästhetischen eng verbunden ist der Begriff des Scheins. Der schöne Schein der Kunst hebt sie von der Wirklichkeit des Lebens ab. So hat Schiller die bürgerliche Kultur als ästhetischen Staat gekennzeichnet: als „Reich des schönen Scheins“, in dem die Gebildeten frei miteinander leben (Schiller 1993a, 668). Hegel wiederum, der keinen ästhetischen Staat kennt, spricht vom „sinnlichen Scheinen der Idee“, das die Kunst auszeichnet. Bei ihm tritt in der Kunst die Wahrheit in der Form des schönen Scheins zutage (Hegel 1965, 117). Nietzsche schließlich, der sowohl das Bildungs- als auch das Wahrheitskonzept einer schneidenden Kritik unterzog, konfrontiert den „vernünftigen Menschen“, der vergessen hat, dass seine Wahrheiten versteinerte Illusionen sind, mit dem „intuitiven Menschen“, der „nur das zum Schein und zur Schönheit verstellte Leben als real annimmt“. Bei ihm ist alles Schein; der Glaube an Wahrheit verbirgt diesen Sachverhalt, der ästhetische Zustand bekennt ihn freudig (Nietzsche 1960c, 321). Bildungsästhetik, Wahrheitsästhetik und Illusionsästhetik kreisen somit allesamt um den Begriff des Scheins. Er markiert aus verschiedenen Perspektiven das Ästhetische. Auch die Kulturindustrie ist durch den Schein bestimmt. Aber dieser Schein ist der notwendig falsche Schein, den man Ideologie nennt. Er folgt aus dem kulturindustriellen Amusement. Wie gesehen, hat es der Forderung „jedem nach seinen Bedürfnissen“ den revolutionären Stachel gezogen und verbreitet Einverständnis mit der bestehenden Gesellschaft. Das heißt: Es ist deren Ideologie. Diese These darf nicht missverstanden werden. Kulturindustrielle Ideologie zeichnet
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sich nicht durch gewisse „falsche“ Inhalte aus, die sie zugunsten der gesellschaftlichen Einrichtung verbreiten würde. Ihr ideologischer Charakter geht tiefer. Er betrifft selbst die Inhalte, die mit kritischem Bewusstsein auf die Gesellschaft reagieren. Denn der ideologische Charakter der Kulturindustrie entspringt ihrer funktionalen Integration aller Einzelheiten in das einheitliche Ganze, das die Rationalität der bestehenden Welt wiederholt. Entsprechend erklären kulturindustrielle Produkte den Sinn alles Einzelnen und seines Zusammenhangs als dessen faktisches Funktionieren. Aber dann lässt sich die Frage danach, ob das Funktionieren selber sinnvoll ist, nicht mehr stellen. An ihre Stelle tritt die schiere Faktizität des Bestehenden, in dem alles seine Funktion einnimmt. Mit anderen Worten: Der Funktionszusammenhang wird zum „Surrogat von Sinn und Recht“ (157). In dieser Ersetzung der Rechtsfrage durch schiere Faktizität besteht die kulturindustrielle Ideologie. Sie ist darum „leer“ (156) und erzeugt in ihrer Leere den falschen Schein, dass das Bestehende nicht auf sein Recht befragt werden kann. Entsprechend wird die Kulturindustrie durch die kritischen Inhalte, die sie zu vermitteln vermag, nicht berührt. Auch diese bilden integrierte Funktionen ihres einheitlichen Ganzen, obwohl sie die Rechtsfrage zu stellen beanspruchen. Sie sind einkalkulierte Einsprüche. Als leere Ideologie verdoppelt die Kulturindustrie die bestehende Welt. Sie wiederholt die Faktizität als Faktizität. Dieses blinde Fortbestehen des Systems wird durch das streamlining der Einzelheiten in unendlichem Weitergehen und Weitermachen bekräftigt. „Ewig grinsen die gleichen Babies aus den Magazinen, ewig stampft die Jazzmaschine“ (157). Die Kritik an der Kulturindustrie, die Horkheimer und Adorno üben, lautet demnach nicht auf ihre Flucht aus dem Alltag. Es verhält sich genau umgekehrt: Statt aus dem Bestehenden in eine falsche Traumwelt zu fliehen, verdoppeln kulturindustrielle Produkte durch ihre funktionale Form die Realwelt, mit deren Tatsächlichkeit sie alle Rechtsfragen verdrängen. Kulturindustrieller Schein besteht im „Kultus der Tatsache“ (156) – also in der Verherrlichung dessen, was gerade keinen Traum, sondern Wirklichkeit darstellt. Auf den ersten Blick hat sich diese Verherrlichung der Wirklichkeit vom Reich des Scheins verabschiedet. In Wahrheit ist sie selber Schein, weil sie die falsche Gesellschaft als wahre Gesellschaft geltend macht. Im Hintergrund steht stillschweigend folgender Gedankengang. Der Begriff des Scheins bezeichnet das Gegenteil zum wahrhaft Seienden. „Wahrhaft seiend“ heißt für Horkheimer und Adorno aber nicht „faktisch seiend“, sondern „eine vernünftige Verfassung aufweisend“. Das haben sie von Hegels Logik gelernt, die die Unmittelbarkeit des Faktischen in den Vermittlungszusammenhang der vernünftigen Wirklichkeit überführt (Hegel 1932, 3 – 6). Und wenn Hegel das sinnliche Scheinen der Idee als Kennzeichen des Schönen darlegt, dann bedeutet das, dass die wahrhafte,
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nämlich vernünftig verfasste Wirklichkeit zur sinnlichen Erscheinung gelangt. Anders liegen die Dinge im Fall der Kulturindustrie. Indem sie die bestehende Gesellschaft ohne Einspruch verdoppelt, setzt sie das faktisch Seiende als wahrhaft Seiendes – und bleibt dadurch in der vorvernünftigen Welt befangen. Sie ist nicht die Welt des schönen Scheins, in der Wahrheit zur Erscheinung gelangt, sondern eine Scheinwelt, die mit dem Faktischen das Vernünftige verdrängt. Gesellschaftliche Faktizität wird in ihrer kulturindustriellen Verdoppelung zum Schein, weil ihre Verdoppelung die Frage nach ihrer Vernünftigkeit zugunsten ihrer Wiederholung aufgibt. Aus dieser Struktur erhellt der Ideologiebegriff, den Horkheimer und Adorno entwickeln. Oft wird Ideologie als notwendig falsches Bewusstsein verstanden. Die Kritik der Kulturindustrie hingegen versteht den ideologischen Schein nicht als falsches Bewusstsein, sondern als Erhebung des unvernünftigen, falschen Seins zur unhinterfragbaren Tatsächlichkeit. Adorno schreibt das an anderer Stelle sehr deutlich: „[Es gibt] im eigentlichen Sinn von falschem Bewußtsein keine Ideologien mehr […], sondern bloß noch die Reklame für die Welt durch deren Verdopplung, und die provokatorische Lüge, die nicht mehr geglaubt werden will, sondern Schweigen gebietet“ (AGS 10.1, 29). Und: „Ideologie heißt heute: die Gesellschaft als Erscheinung“ (AGS 10.1, 25). Im falschen Schein der Kulturindustrie reflektiert sich indessen der Schein des Ästhetischen. Horkheimer und Adorno behandeln ihn nicht ausdrücklich, aber es ist deutlich, dass der Scheincharakter der Kulturindustrie auf ihn anspielt. Adornos Philosophie der neuen Musik, die als „Exkurs zur ‚Dialektik der Aufklärung’ genommen werden [will]“ (AGS 12, 11), spricht diese Verwicklung des ästhetischen Scheins in den ideologischen Schein dann auch eigens aus: Der schöne Schein der Musik, den Schönbergs Werke aufgelöst haben, besteht darin, dass der Einzelfall so auftritt, als wäre er mit der vorgegebenen Formensprache identisch (AGS 12, 45). Hiernach hat bereits der ästhetische Schein eine Tendenz zu jener Identität von Allgemeinem und Besonderen, deren Rationalität die kulturindustrielle Verdoppelung des Bestehenden anleitet. Solange sie nur als schöner Schein auftrat, konnte diese Tendenz vor ihren realen Konsequenzen bewahrt werden. Mit der kulturindustriellen Absage an den Eigensinn der Kunst aber wird der schöne Schein durch die erscheinende Faktizität ersetzt. Mit ihr ist das Reich des Scheins in das Reich der Ideologie umgeschlagen.
4.5 Tragik Den ästhetischen Grundbegriff der Tragik behandeln Horkheimer und Adorno anders als die bisherigen Grundbegriffe. In seinem Fall sprechen sie von „Ab-
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schaffung“ und „Liquidation“ (162 – 163). Dennoch spiegelt auch die ästhetische Problematik der Tragik sich in den kulturindustriellen Produkten wider. Tragik ermöglicht der Kulturindustrie die Integration menschlichen Leids. Auf den ersten Blick scheint dem Einbezug der Konsumenten in das kulturindustrielle Amüsiersystem deren Leiderfahrung zu widersprechen. Der junge Marx hatte seine revolutionären Hoffnung nicht zuletzt auf die „Existenz der leidenden Menschheit, die denkt“ (Marx 1968a, 343) gesetzt. Der kulturindustrielle Einbezug von Tragik erlaubt es, die leidende Menschheit in den ideologischen Schein des Faktischen einzufügen. Horkheimer und Adorno stellen fest, dass die Kulturindustrie das Leiden nicht verleugnet. Im Gegenteil: die Darstellung von Leid wird einkalkuliert und bejaht, macht das Glück interessant und dient als Surrogat der Tiefe und Bildungsabhub. „Das lückenlos geschlossene Dasein, in dessen Verdoppelung die Ideologie heute aufgeht, wirkt um so großartiger, herrlicher und mächtiger, je gründlicher es mit notwendigem Leiden versetzt wird. Es nimmt den Aspekt von Schicksal an“ (160). Auf diese Weise Leid als Schicksal zu verstehen ermöglicht dreierlei. Einerseits kann man es als Schicksal mannhaft auf sich nehmen. Anderseits lassen sich in seinem Rahmen das gütige Eingreifen von Mensch zu Mensch, die Kameradschaftspflege und das goldene Herz als Fürsorge für die leidende Menschheit gestalten (159). Vor allem aber erfüllt das Leid als Schicksal eine Initiationsaufgabe. Wie Schläge, die man zu ertragen hat, führt es zur Identifikation mit der Macht, der man ausgesetzt ist. Es ruft die Widerspenstigen zur Ordnung. Als Leidende erkennen sie die eigene Nichtigkeit an, um dazu zu gehören. Wenn das Leid als Schicksal erscheint, vermag seine Darstellung somit zu einer „moralischen Besserungsanstalt“ (161) zu werden. „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“: so lautet der Titel eines entscheidenden Textes von Schiller, der das „Verdienst der bessern Bühne um sittliche Bildung“ durch den Nachvollzug von Leid behandelt (Schiller 1993b, 827– 828). Dieses Bildungsgeschehen verwandelt sich in der Kulturindustrie in Eingemeindung. Denn sie verdoppelt ja die unhinterfragbare Faktizität. Ihre Darstellung des Leidens, das eigentlich die Unwahrheit der bestehenden Gesellschaft anzeigt, wird dadurch zum ebenfalls unhinterfragbaren Element dieser Faktizität: eben zum Schicksal, gegen das man nichts machen kann. Schillers Vision der sittlichen Bildung gerät zur Anpassung der Leidenden. Sie bessern sich gemäß einer Moral des Sich-Einfügens. Gerade durch die offen dargestellte Tragik wird die Macht der schieren Faktizität eingehämmert. Das unterscheidet die Kulturindustrie von der Kunst. Dort bringt Tragik den „hoffnungslosen Widerstand gegen die mythische Drohung“ zum Ausdruck (160). Auf den Hintergrund dieser Deutung des Tragischen geben Horkheimer und Adorno keine Hinweise. Systematisch lässt sie sich im Horizont von Hölderlin und Benjamin lesen. Hölderlin versteht das Tragische als die äußerste Grenze des Leidens, an der sich der Anfang und das Ende der göttlichen Zeit
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nicht mehr reimen und an der auch der Mensch, der sich und den Gott vergisst und sich wie ein Verräter umkehrt, dem Anfänglichen nicht mehr gleicht (Hölderlin 1992, 316). Hier wird Leiden nicht in das Ganze integriert, sondern zeigt dessen „gränzenloses Scheiden“ (Hölderlin 1992, 315) an, an dem es sich umwendet. Für Walter Benjamin wiederum ist die Tragödie das Zeugnis sprachlosen Leidens, in dem der „Mensch noch stumm, noch unmündig – als solcher heißt er der Held – im Erbeben jener qualvollen Welt sich aufrichten“ will (BGS I/1, 289). Bei Horkheimer und Adorno schließen sich Hölderlins Ungereimtheit des Ganzen und Benjamins unmündiges Aufrichten des Menschen in der qualvollen Welt zum hoffnungslosen Widerstand gegen die mythische Drohung zusammen. Dieser Horizont verdeutlicht, was in der kulturindustriellen Tragik wegfällt. Weil die Kulturindustrie den Widerstand nur als einkalkulierte Funktion des Faktischen kennt, lässt sie der Tragik die Aufgabe, die Leidenden in die Herrschaft der nackten Tatsachen zu integrieren. Deshalb bringt sie das Tragische auf die Formel „getting into trouble and out again“ (161), auf das „Durch- und Unterschlupfen“ (163). Marx’ Hoffnung auf die leidende Menschheit, die denkt, ist hiermit neutralisiert.
4.6 Autonomie Der Kernbegriff der bürgerlichen Kunstkonzeption ist der Begriff der Autonomie. Insofern Kunst sich ihre eigenen Gesetze gibt, bietet sie eine Welt dar, die einen eigenen Sinn aufweist. Ästhetische Versöhnung, Stil, das Reich des schönen Scheins: sie alle werden durch die Eigenregelung der Kunst errichtet. Solche Autonomie beinhaltet Zwecklosigkeit. Weil Kunst nicht unter den Gesetzen der Nicht-Kunst steht, erfüllt sie in deren Regelsystemen keinen Zweck. Kant hat diese Zwecklosigkeit des Ästhetischen in der Formel „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ ausgesagt (Kant 1913, 226). Zweckmäßig ist die Kunst, insofern ihre Form eine Organisation besitzt, die ihre ästhetische Erfahrung ermöglicht. Ohne Zweck aber ist sie, weil der Zweck der Kunst entweder in der Welt der Natur oder in der Welt des Handelns aufzufinden sein müsste, die ästhetische Erfahrung die Kunst aber weder in die eine noch in die andere einzufügen vermag, da ihre Urteile sich weder auf Beschreibungen von Sachverhalten (Naturerkenntnis) noch auf praktische Forderungen (Handlungsmoral) reduzieren lassen. Daher ist die Kunst zweckmäßig ohne Zweck. In diesen Horizont autonomer Kunst bringen Horkheimer und Adorno die Marxsche Analyse der Ware ein. Lukács hatte sie als Schlüssel zur kapitalistischen Rationalität geltend gemacht (Lukács 1923); die Autoren wenden sie auf die Autonomie der Kunst an. Waren zeichnen sich durch ihren Gebrauchswert und ihren
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Tauschwert aus (Marx 1968c, 49 – 55). Ihr Gebrauchswert besteht darin, dass sie ein bestimmtes Bedürfnis befriedigen; ihr Tauschwert darin, dass sie sich mit anderen Dingen austauschen lassen. Da verschiedene Gebrauchswerte kein gemeinsames Maß aufweisen, kann der Tauschwert nicht aus den Gebrauchswerten der Waren abgeleitet werden. Tauschwerte entspringen stattdessen der abstrakten Arbeit, die zur Herstellung der Waren jeweils angesetzt wird und die sich einander gleichsetzen lässt. Arbeit wiederum ist eine menschliche Tätigkeit, die als gleichzusetzende abstrakte Arbeit ein gesellschaftliches Verhältnis zwischen Menschen darstellt. Aber der Tauschwert scheint eine Eigenschaft der jeweiligen Ware zu sein, die ein Verhältnis zwischen Dingen ermöglicht. In der Ware erfolgt daher eine Verdinglichung menschlicher Beziehungen: Das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Menschen erscheint als Verhältnis zwischen Sachen. Marx nennt das den „Fetischismus der Ware“ (Marx 1968c, 85 – 98). Mit dieser Begrifflichkeit bestimmen Horkheimer und Adorno die gesellschaftliche Lage der autonomen Kunst. Gesellschaftlich ist die autonome Kunst an die Warenwirtschaft gebunden. Ihre Zwecklosigkeit lebt von der Anonymität des Marktes (166). Anders als Fürstenhöfe und Kirchen unterwirft er die Kunst nicht bestimmten Zwecken, sondern lässt ihr ihre eigenen Regeln, die sich freilich in einem zweiten Schritt auf diesem Markt zu bewähren haben. Die autonome Kunst besitzt folglich Warencharakter. Entsprechend besitzt sie einen Gebrauchswert und einen Tauschwert. Ihr Gebrauchswert besteht in ihrer ästhetischen Erfahrung, die unter gesellschaftlichem Gesichtspunkt als Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses verstanden werden kann. Ihr Tauschwert wiederum macht sie käuflich und fungibel. Er hat nichts mit ihrer ästhetischen Erfahrung zu tun, sondern damit, dass sie dem Eintausch anderer Waren dient. Wenn sie aber dem Eintausch anderer Waren dient, dann besitzt sie hierin einen Zweck. Die Zweckmäßigkeit ohne Zweck, die die Autonomie der Kunst auf den Begriff bringt, erweist sich als Zwecklosigkeit für Marktzwecke (167). Die autonome Kunst enthält somit die Antinomie einer zweckhaften Zwecklosigkeit. Diesen Warencharakter der Kunst führt die Kulturindustrie zu seiner Konsequenz. Er ist nicht mehr der Schatten der ästhetischen Autonomie, sondern Drehund Angelpunkt der Kultur. Kulturindustrielle Produkte sind um ihres Konsums willen verfasst. Sie richten sich also von Anfang an auf den Kauf und haben gar keinen anderen Gebrauch im Sinn. Damit wird das zwiespältige Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert der Kunst eindimensional aufgelöst. Der Gebrauchswert der autonomen Kunst besteht in der Zweckmäßigkeit ohne Zweck; derart das Werk von allen Zwecken freizusprechen räumt ihm sein Sein um seiner selbst willen ein. Aus der Sicht der Kulturindustrie bedeutet das die Fetischisierung des Kunstwerks. Hiergegen stellt sie ihre Produkte, die um ihres Konsums willen sind.Weil Konsum wiederum mit Erwerb einhergeht, kettet sie dadurch das
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Sein ihrer Produkte an deren Tauschwerte. Sie zu konsumieren heißt, Tauschwerte zu konsumieren. Das aber bedeutet, dass der Gebrauchswert der kulturindustriellen Waren gar nichts anderes ist als ihr Tauschwert. Und weil nach Marx die Tauschwerte der Waren den Grund des Warenfetischismus darstellen, erscheinen hier die Verhältnisse zwischen Menschen als Eigenschaften der Dinge. Folglich macht der Warenfetischismus die gesamte Bestimmung der Kulturwaren aus. „Der Fetisch, ihre gesellschaftliche Schätzung […], wird zu ihrem einzigen Gebrauchwert“ (167). Entsprechend genießen ihre Konsumenten vor allem den sozialen Wert, den diese Erzeugnisse vermitteln. Auf diese Weise sehen Horkheimer und Adorno die Antinomie der autonomen Kunst aufgelöst, dass die Zweckmäßigkeit ohne Zweck zugleich eine Zwecklosigkeit für Marktzwecke beinhaltet. Indem die Kulturindustrie den Gebrauchswert ihrer Waren in deren Tauschwert verlagert, streicht sie die Zwecklosigkeit aus der Formel. Denn dort, wo einzig der Tauschwert überlebt, erfüllt alles seinen Zweck im Warentausch. Diese allumfassende Zweckmäßigkeit für Marktzwecke umgreift selbst diejenigen kulturindustriellen Produkte, die nicht eigens erworben werden müssen, wie etwa den staatlichen Rundfunk oder Propagandafilme. Weil sie derselben Machart folgen wie alle kulturindustriellen Produkte, sind auch sie einzig als Waren strukturiert. Ihre scheinbare Freiheit von Marktzwecken kann daran nichts ändern. Deshalb sind sie als Zugaben, Ausverkauf oder Reklame zu begreifen, die den „trainierten Gabenempfänger[n]“ (170) als Prämien übermittelt werden. Für den Eigensinn der Kunst hingegen besteht hier kein Ort. „So zerfällt der Warencharakter der Kunst, indem er sich vollends realisiert“ (167).
4.7 L’art pour l’art Wenn der Gebrauchswert kulturindustrieller Produkte in deren Tauschwert besteht, dann lassen sie sich eigentlich gar nicht genießen. Auch aus diesem Grunde erfüllen sie die Bedürfnisse, die sie anstacheln, nicht. Sie reduzieren den Genuss auf seine Verheißung. Horkheimer und Adorno sehen die Kulturindustrie darum mit der Reklame zusammenfallen (171). Reklame wirbt für Produkte, indem sie deren Gebrauchswert verheißt. Ist aber der Gebrauchswert vom Tauschwert aufgesogen worden, dann bleibt er selber bloße Verheißung. Die Produkte und ihre Reklame verschmelzen. Mit diesem Argument schließen Horkheimer und Adorno ihre Kritik der Kulturindustrie ab. Es spitzt sie zu ihrem Extrem zu. Reklame, die nicht mehr für Produkte gemacht wird, sondern mit den Produkten verschmolzen ist, dient deren Absatz nur indirekt. Direkt bestimmt sie nun die Verfassung der Produkte. Und das bedeutet: Sie bestimmt den einheitlichen Stil der Kulturindustrie. Diesen Rekla-
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mestil sehen die Autoren in einer Reihe von Phänomenen verwirklicht. In den Magazinen lassen sich Texte und Bilder von denen der Reklame kaum unterscheiden; Monumentalbauten bilden steingewordene Reklame; Landschaft gerät zum bloßen Hintergrund für Bilder und Zeichen; die Effekte, die Tricks, die isolierten und wiederholbaren Einzelleistungen oder die Großaufnahmen, die kulturindustrielle Produkte kennzeichnen, überwältigen reklameartig die Kunden. Vor allem aber die Sprache, die die Konsumenten der Kulturindustrie sprechen, erweist sich als Reklamesprache. Ihre Wörter gründen nicht mehr in der Erfahrung der Sprechenden, sondern werden als Stereotype und Stellenwerte benutzt, oft durch rasche Sprachmodelle von oben in Umlauf gebracht. So verwandelt sich die Sprache in eine Kette von Signalen: Ihre Wörter werden zu Bezeichnungen mit Schlagkraft (174). Man kann diese Überlegung mit der alten Bestimmung des Menschen als „sprachbegabtes Tier“ (zôon lógon échon) verbinden. Wenn der kulturindustrielle Stil die Konsumenten so überwältigt, dass sie sich ihm bis in ihre Sprache hinein einfügen, dann ist das sprachbegabte Tier in der Tat zu einem kulturindustriellen Tier geworden. Bei Horkheimer und Adorno heißt es entsprechend: Menschen unternehmen den „Versuch, sich selbst zum erfolgsadäquaten Apparat zu machen“ (176). Dieser Triumph der Reklame bedeutet die „zwangshafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren“ (176). „Mimesis“, das heißt: die Konsumenten machen sich den kulturindustriellen Produkten ähnlich. „Zwangshaft“, das bedeutet: diese Selbstangleichung ist keine Selbstbestimmung, sondern das Sich-Einfügen in die schicksalhafte Faktizität des Bestehenden. Und „zugleich durchschaut“ sind die Kulturwaren deshalb, weil sie, deren Gebrauchswerte in Tauschwerte aufgelöst sind, nicht um ihrer besonderen Inhalte willen konsumiert werden, sondern allein um mitzumachen. Der Reklamestil der Kulturindustrie bestimmt somit die menschliche Verfassung selber. Aus dem Sachverhalt, dass Reklame nicht so sehr dem Absatz von Produkten dient, sondern deren Stil ausmacht, schließen Horkheimer und Adorno auf ihren Selbstzweck. Reklame hat immer einen Zweck: etwas an den Mann zu bringen. Wenn sie nun mit dem Produkt verschmilzt, dann bringt sie sich selbst an den Mann. Sie wird sich selbst zum Zweck. Das verbindet sie mit dem letzten Begriff der bürgerlichen Ästhetik: dem L’art pour l’art. Er führt die autonome Kunst zu ihrer reinsten Form. Unter seiner Leitung folgt Kunst nicht nur ihren eigenen Regeln und bietet eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck dar; vielmehr weiß sie sich selber als ihren Zweck. Eine solche Kunst scheint daher am weitesten entfernt von den Marktzwecken der Kulturindustrie. Horkheimer und Adorno aber schreiben: „Reklame wird zur Kunst schlechthin, mit der Goebbels sie ahnungsvoll in eins setzte, l’art pour l’art, Reklame für sich selber, reine Darstellung der gesellschaftlichen Macht“ (172). In der Tat erschafft die Kulturindustrie dann, wenn die
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geübte Kritik an ihr zutrifft, mit ihrem Reklamestil eine Kunst um ihrer selbst willen. Sie hat ja nichts anderes zum Zweck als die gesellschaftliche Faktizität, deren Erscheinung sie darstellt. Um die Reichweite dieser Gleichsetzung zu sehen, ist zu berücksichtigen, dass unter dem Begriff des L’art pour l’art die Künstlermoderne von Baudelaire bis George steht. Sie wiederum bildet insbesondere für Adorno einen dauernden Bezugspunkt seines Denkens (etwa AGS 10.1, 195 – 237, AGS 11, 523 – 535). Jene Gleichsetzung schiebt somit die eigenen ästhetischen Voraussetzungen in den Skopus der Kritik. Unter dem Begriff des L’art pour l’art stehen aber auch Gottfried Benns bemerkenswerte Worte über George: Es ist vielmehr die unerbittliche Härte des Formalen, die über seinem Werk liegt, durch die er sein Werk schuf, ihm Einheit und Norm erkämpfte, und der er sein Leben zum Opfer brachte; es ist das, was Alfred Rosenberg den ‚ästhetischen Willen’ nennt, diesen deutschen Willen, der im Kunstwerk eine Welt aufrichtet und eine überwindet, formend überwindet. […] George also, auch wo er scheinbar politisch, scheinbar prophetisch, scheinbar aktuell und legislativ auftritt, verläßt niemals den formalen Standpunkt, er bleibt immer und allein und in uneingeschränktem Umfang der absolute Gestalter, bleibt der Artist, betreibt l’art pour l’art. (Benn 1989, 474)
Der Vergleich von l’art pour l’art mit der Kulturindustrie bringt somit die reine Form, deren Rücksichtslosigkeit von Benn gefeiert wird, mit den unfreiesten und dienendsten Erzeugnissen auf einen Nenner. Wenn Horkheimer und Adorno die kulturindustrielle Reklame für sich selbst als Spiegelbild der Kunst um ihrer selbst willen kennzeichnen, dann verbinden sie einerseits die Künder der ästhetischen Form mit den Kulturwaren und legen anderseits eine Tendenz in der ihnen selber teuren Kunst frei. Diese Tendenz lautet: Kunst, die sich selber Zweck ist, gleicht der schieren Faktizität. Als Reklame für sich selber zeigt die Kulturindustrie diese Tendenz unverhüllt. Während aber die Reinheit der Kunst, die um ihrer selbst willen geschieht, trotz alledem die Negation des Daseins beinhaltet, wird das kulturindustriell verdoppelte Dasein zur reinen Darstellung der Macht. Auf diese Weise errichtet die Kulturindustrie eine Form totaler Herrschaft. Total ist sie, weil sie alles in ihre Funktionalität integriert und die Frage nach ihrem Recht verschwinden lässt. Zugleich unterscheidet sie sich von der offenen Gewalt, die in der totalen Herrschaft der faschistischen oder stalinistischen Staatsformen ausübt. Sie ertränkt die freie Gesellschaft im Amusement. Es wäre falsch, Horkheimer und Adorno hier Ignoranz gegenüber den Unterschieden vorzuwerfen, die die kulturindustrielle Welt von Faschismus und Stalinismus trennen. In ihrer Kritik an der Kulturindustrie geht es vor allem darum, eine Selbstkritik der bürgerlichen Ästhetik durchzuführen, ohne die der Begriff der gesellschaftlichen Freiheit nicht entwickelt worden wäre. Umso bitterer ist die Schlussfolgerung, die
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die Autoren ziehen. Adorno bringt sie in seinem Rückblick auf den Punkt: Kulturindustrie „verhindert die Bildung autonomer, selbständiger, bewußt urteilender und sich entscheidender Individuen. Die aber wären die Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft, die nur in Mündigen sich erhalten und entfalten kann“ (AGS 10.1, 345). Kulturindustrie erweist sich hiernach als Einübung des Menschen in seine eigene Unmündigkeit.
Literatur Aristoteles. 1982 [bibl. erg. Ausg. 1994]. Die Poetik, Griechisch/Deutsch, übers. und hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart Benn, Gottfried. 1989. Rede auf Stefan George, in: Gesammelte Werke I, Stuttgart, 464 – 477 Bernays, Jacob. 1857. Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, Breslau Freud, Sigmund. 1949. Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke XIV, London, 419 – 506 Gadamer, Hans Georg. 1990. Wahrheit und Methode. Grundzüge der philosophischen Hermeneutik, Tübingen Hegel, G.W.F. 1965. Ästhetik I, Berlin und Weimar Hegel, G.W.F. 1932. Wissenschaft der Logik II, Hamburg Hölderlin, Friedrich. 1992. Anmerkungen zum Oedipus, in: Werke I, München, 309 – 316 Lessing, Gotthold Ephraim. 1972. Hamburgische Dramaturgie, in: Werke IV, München, 229 – 707 Lukács, Georg. 1923. Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über materialistische Dialektik, Berlin Marx, Karl. 1968a. Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, in: Marx-Engels-Werke 1, Berlin, 337 – 346 Marx, Karl. 1968b. Kritik des Gothaer Programms, in: Marx-Engels-Werke 19, Berlin, 13 – 32 Marx, Karl. 1968c. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx-Engels-Werke 23, Berlin Nietzsche, Friedrich. 1960a. Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Werke I, München, 135 – 434 Nietzsche, Friedrich. 1960b. Menschliches, Allzumenschliches, in: Werke I, München, 435 – 1008 Nietzsche, Friedrich. 1960c. Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, in: Werke III, München, 309 – 322 Schadewaldt, Wolfgang. 1955. Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödensatzes, in: Hermes 83, 129 – 171 Schiller, Friedrich. 1993a. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Werke V, München, 570 – 669 Schiller, Friedrich. 1993b. Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich bewirken? in: Werke V, München, 818 – 830 Schönberg, Arnold. 1992. Stil und Gedanke, Frankfurt a.M. Wölfflin, Heinrich. 1915. Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München
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5 Elemente des Antisemitismus Die „Elemente des Antisemitismus“ sind keine Abhandlung in sich. Vieles lässt sich nur aus dem Gesamttext und den anderen Teilen der Dialektik der Aufklärung verstehen, die es dem Leser nicht nur durch die fragmentierte Form nicht leicht machen. Schon 1941 dachte Adorno darüber nach, das Buch um den Antisemitismus zu „kristallisieren“: „Das würde die Konkretisierung und Einschränkung bedeuten, nach der wir gesucht haben! […] der Antisemitismus [bezeichnet] heute wirklich den Schwerpunkt des Unrechts, und unsere Art Physiognomik muß sich der Welt dort zukehren, wo sie ihr grauenvollstes Gesicht zeigt.“ (Adorno [1941] 2004, 255) Er versprach sich davon für die Rezeption des gesamten Buches eine durchschlagende Wirkung. Das Gegenteil war der Fall. Die Dialektik der Aufklärung wurde zu einem Klassiker des 20. Jahrhunderts, dessen Rezeption lange völlig ohne die „Elemente des Antisemitismus“ auskam. Umgekehrt kam die Rezeption der „Elemente“ in der Antisemitismusforschung ohne die Dialektik der Aufklärung aus. Dadurch geriet die konkrete Bedeutung der zentralen These des Buches, aber auch der „Elemente des Antisemitismus“, aus dem Blick: „Die Aporie, der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich somit als der erste Gegenstand, den wir zu untersuchen hatten: die Selbstzerstörung der Aufklärung.“ (3)
5.1 Zur „Vorrede“ Die „Elemente des Antisemitismus“ gehen in medias res. Es ist die „Vorrede“, datiert vom Mai 1944, in der Horkheimer und Adorno ihre Absicht einer „thesenhafte[n] Erörterung“ der „Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei in der Wirklichkeit“ erklärten. (6 – 7) Barbarei in der Wirklichkeit war keine metaphorische Formulierung. „Mitte März 1942 lebten noch etwa 75 bis 80 Prozent aller Holocaust-Opfer; bis dahin hatten erst 20 bis 25 Prozent ihr Leben verloren. Nur elf Monate später, Mitte Februar 1943, hatten sich die Prozentzahlen genau umgekehrt. In der zentralen Phase des Holocaust kam es zu einer kurzen, intensiven Welle von Massenmorden.“ (Browning 1993, 11) Noch im Frühjahr 1944 begann vor den Augen der Welt mit der Deportation der ungarischen Juden die letzte Phase des Völkermords. Horkheimer und Adorno schrieben als deutschjüdische Emigranten in den USA. Von Hitler verjagt, arbeiteten sie in Antisemitismusprojekten mit jüdischen US-Organisationen zusammen, die die Partisanen in Osteuropa unterstützten und Berichte über die Vernichtung der Juden an die Öffentlichkeit schmuggelten. Sie waren auf dem aktuellen Stand. DOI 10.1515/9783110448764-006
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Angesichts der praktischen Tendenz zur Selbstvernichtung, der Rationalität „seit Anfang“ zueigen, wollten Horkheimer und Adorno „eine philosophische Urgeschichte des Antisemitismus“ entwerfen. (7) In der „Vorrede“ stellten sie die „Elemente“ in direkten Zusammenhang zu den empirischen Forschungen ihres Exilinstituts, die wesentlich von 1943 bis 1947 entstanden. (Ziege 2009, 156 – 160) Anders als andere Kapitel des Buches, wurde es von Horkheimer konzipiert und von Adorno intensiv redigiert.¹ (Schmid Noerr 1987, 430) Anders als alle anderen gliederten sie es in durchnummerierte Abschnitte, sogenannte „Thesen“ – wobei nicht jede „These“ nur eine einzige These enthielt. Ziel war eine Theorie des Antisemitismus im Rahmen einer Epochendiagnose. Ein „Pluralismus einzelner ‚Gründe für den Judenhaß’“ konnte nach der Überzeugung der Autoren keine zureichende Theorie des Antisemitismus ergeben. (Adorno [1940] 2004, 100) Sie entfalteten die Grundkonstellation der Judenfrage der bürgerlichen Gesellschaft in Abschnitt I, den Kontext von Kapitalismus, Liberalismus und Christentum in II–IV, bevor sie in V und VI zu einer Theorie des Antisemitismus kamen. Die Dialektik der Aufklärung erschien 1947 unverändert in der Fassung von 1944, wenn man von Eingriffen zur Entschärfung des marxistischen Vokabulars absieht. (Schmid Noerr 1987, 444– 452) Die „Elemente“ waren der einzige Teil, dem für die Drucklegung ein zusätzlicher Abschnitt von acht Seiten hinzugefügt wurde. Dies ist „These“ VII – sie reflektiert die historische Zäsur der Befreiung vom Nationalsozialismus in einer Theorie des Neo-Antisemitismus. 1947 musste die prominente Stellung der „Elemente des Antisemitismus“ in der Dialektik der Aufklärung überraschen: Verschiedene Spezialdiskurse – politische Ökonomie, Psychoanalyse und das entstehende Feld der Antisemitismusforschung – wurden in einen philosophischen Diskurs versetzt, ganz so, als könnte ein Spezialproblem, das der Juden, letztlich die Marxsche Geschichtsphilosophie aushebeln.
5.2 Aporie der Judenfrage der bürgerlichen Gesellschaft (I) Horkheimer und Adorno beginnen mit der Aporie der Judenfrage der bürgerlichen Gesellschaft. Für die Faschisten sind die Juden die „Gegenrasse“; „von ihrer Ausrottung soll das Glück der Welt abhängen.“ (177) Dem entgegengesetzt ist die liberale These, die Juden seien eine „Gruppe“ durch Tradition und Religion. Die Außerdem hoben die Autoren die Mitarbeit Löwenthals hervor: „Die ersten drei Thesen schrieben wir zusammen mit Leo Löwenthal“ (7).
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Aporie der Judenfrage liegt aber darin, dass beide die Juden zum Verschwinden bringen: „Die Juden sind heute die Gruppe, die praktisch wie theoretisch den Vernichtungswillen auf sich zieht, den die falsche gesellschaftliche Ordnung aus sich heraus produziert.“ (177) Durch den Massenmord werden sie vernichtet. Die Emanzipation der Juden bringt sie als Gruppe zum Verschwinden, denn emanzipiert werden könnten sie nur dann, in den 1833 formulierten Worten des berühmten Liberalen und Staatswissenschaftlers Karl von Rotteck, „wenn sie aufhören, Juden zu sein“ (Rürup 1987, 77). Die spätere Forschung hat die unlösbare Problematik der Judenfrage systematisch genau so formuliert, wie sie Horkheimer und Adorno skizzieren: Dem Zeitalter einer Ausformung einer liberal-kapitalistischen Gesellschaft im späten 18. Jahrhundert korrespondierte ein Zeitalter der Judenemanzipation in Gestalt der rechtlichen Gleichstellung und sozialen Inklusion der Juden. Die antisemitische Bewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert wird dann als Beginn der ersten großen Gegenbewegung gegen die Ideen von 1789 interpretiert. Die Argumentation Horkheimers und Adornos ist paradox – beide Thesen, die der Rasse wie die der Gruppe, seien wahr und falsch zugleich. Die der Rasse sei wahr, weil sie in der Rassenpolitik wahr gemacht wird, die der Gruppe wahr als Idee. Das Wort „wahr“ ist doppeldeutig. Im ersten Sinn meint es wahr im Sinn einer empirischen Tatsache, des Massenmords. Im zweiten meint es wahr im Sinn einer normativ richtigen Idee: „Die […] liberale These ist wahr als Idee. Sie enthält das Bild jener Gesellschaft, in der nicht länger Wut sich reproduziert […] *Das wäre die klassenlose Gesellschaft.*“² (177; 1944, 198) Mit dem Klassenbegriff legen Horkheimer und Adorno eine marxistische Kategorie zugrunde. Mit Distanz verwenden sie dagegen drei andere soziologische Begriffe: Gruppe, Kollektiv und Rasse. Der letzte Begriff ist kompliziert. Er ist keineswegs ein akzeptierter Fachbegriff und sollte das auch nie werden, doch wäre es unhistorisch zu verkennen, dass es in der Soziologie durchaus ernsthaft gemeinte Auseinandersetzungen mit der Idee von Menschenrassen gibt, etwa von Gumplowicz. In der englischen Sprache ist „race“ zudem bis heute gebräuchlich. Rasse, sagen Horkheimer und Adorno, ist heute die Form der Selbstbehauptung des bürgerlichen Individuums im barbarischen Kollektiv – dem Kollektiv der Faschisten. Zum ersten Mal im gesamten Buch taucht hier die Formulierung des „absolut Bösen“ auf. Die Juden werden „vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt. So sind sie in der Tat das auserwählte Volk.“ (177) Es gibt verschiedene Begriffe des Bösen – in der christlich-kirchlichen Dogmatik vom
In * * gesetzte Zitate entstammen der Fassung der Dialektik der Aufklärung von 1944, zitiert nach HGS 5, 11– 290, im Text ausgewiesen durch die Jahreszahl 1944.
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Sündenfall wie der spätjüdisch-rabbinischen Lehre vom bösen Trieb oder in der Philosophie in Kants „Hang zum Bösen“. Horkheimer und Adorno übernehmen den Begriff eher von Freud, der von einer angeborenen Neigung des Menschen zum Bösen, zu Aggression, Destruktivität und Grausamkeit ausgeht. Diese betrachtete Freud seit seiner zweiten Triebtheorie als ursprüngliche, selbständige Triebanlage des Menschen, die sich gegen das Innen und das Außen richten kann. Wenn sich der Trieb gegen Objekte der Außenwelt richtet, nannte Freud ihn „Destruktionstrieb, Bemächtigungstrieb, Wille zur Macht“. (Freud 1924, 376) Auch diese Theorie setzen die an Freud noch mehr als an Marx geschulten Autoren voraus. Antisemitismus, so eine erste These, ist ein Element der faschistischen Gewaltherrschaft – doch Herrschaftselement schlechthin jeder Herrschaft: „Die Verfolgung der Juden, wie Verfolgung überhaupt, ist von solcher Ordnung *der Klassengesellschaft* nicht zu trennen. Deren Wesen, wie sehr es sich zu Zeiten verstecke, ist die Gewalt, die sich heute offenbart.“ (178, 1944, 199) Gewalt ist Marx zufolge, als Unterwerfung fremden Willens, immer ebenso Voraussetzung von Herrschaftsverhältnissen wie ihre Folge. Diese Gewalt drückt sich nun gezielt in der Vernichtung der Juden aus. In Anspielung auf Marx’ Zur Judenfrage sagen Horkheimer und Adorno, erst die Aufhebung der Klassengesellschaft könnte „die Idee verwirklichen, die *im Liberalismus* unwahr blieb, daß der Jude ein Mensch sei.“ (209; 1944, 230; vgl. Marx 1843/44, 370 – 377)
5.3 Pluralismus der Gründe ( II–IV) 5.3.1 Erweiterung der in (I) exponierten These des Zusammenhangs von Antisemitismus und Klassenherrschaft „Der Antisemitismus als Volksbewegung war stets, was seine Anstifter den Sozialdemokraten vorzuwerfen liebten: Gleichmacherei“ (179). Antisemitismus war in der Tat eine Volksbewegung. Diese These hat ihr fundamentum in re in den Klassenkämpfen seit 1848. Schon in den Revolutionsmonaten existierte ein spontaner Volksantisemitismus, lange bevor das Wort „Antisemitismus“ Ende der 1870er erfunden wurde. In dieser Volksbewegung kanalisierten sich die politische Unzufriedenheit angesichts von Gründerkrise 1873, sozialem Elend und politischen Enttäuschungen. Sie hatte ihre erste Hochphase in den antisemitischen Splitterparteien bis in die Mitte der 1890er. Prominente Antisemiten waren Konservative, ehemalige Liberale, alte ’48er – Angehörige des Mittelstandes, die eine neue politische Heimat suchten. Den Antisemitenparteien gelang es partiell, eine
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politische Lücke zu füllen und Anspruch auf das ureigenste Thema der Sozialdemokratie, die soziale Frage, in der berühmt-berüchtigten Formel Glagaus anzumelden: „Die soziale Frage ist die Judenfrage“ (vgl. Volkov 1990, 63). Deshalb interpretieren Horkheimer und Adorno den Faschismus als „Zerrbild der sozialen Revolution“. (Horkheimer [1944] 2004, 351) Dass das die soziale Frage nicht löst, dass die ökonomische Vergeblichkeit des Antisemitismus den Antisemiten sogar letztlich bewusst sei, verweise erst recht auf seine wahre Natur: „es hilft nicht den Menschen, sondern ihrem Drang nach Vernichtung.“ (179) Horkheimer und Adorno unterscheiden den Antisemitismus von Herrschenden und Beherrschten. „Die hohen Auftraggeber […] hassen die Juden nicht und lieben nicht die Gefolgschaft.“ (180) Zwischen den Bedürfnissen der Herrschenden und der Beherrschten besteht eine prästabilisierte Harmonie. Für die Herrschenden ist Antisemitismus Mittel zum Zweck, terroristisches Exempel oder Ablenkung; die Gefolgschaft aber hasst die Juden – sie hasst sogar „ohne Ende“. Das Ende wird von den Herrschenden allein bestimmt. „Es war der Sinn der Menschenrechte, Glück auch dort zu versprechen, wo keine Macht ist.“ (181) Horkheimer und Adorno können mit diesem Satz ebenso auf den Grundsatz „Life, Liberty, and the Pursuit of Happiness“ in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wie das Manifest der Kommunistischen Partei anspielen, wenn man Glück als die freie Entwicklung des Einzelnen definiert. „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für freie Entwicklung aller ist.“ (Marx/Engels [1848] 1972, 482) Das scheint unter den Bedingungen der Klassengesellschaft nicht möglich. Die „betrogenen Massen“ ahnen die Leere des Glücksversprechens in der Klassengesellschaft. Die Lüge erregt Wut: „Noch als Möglichkeit, als Idee müssen sie den Gedanken an jenes Glück immer wieder aufs neue verdrängen, sie verleugnen ihn um so wilder, je mehr er an der Zeit ist.“ (181) Psychoanalytisch formuliert, werden die Juden stellvertretend für die durch die Zivilisation auferlegte Triebunterdrückung gehasst. Marxistisch formuliert, werden sie stellvertretend für die durch die Klassenherrschaft auferlegten Deprivationen gehasst. Antisemitismus ist eine Form von fehlgeleiteter Revolution, eine Rebellion. Er ist der „Sozialismus der dummen Kerle“, wie es in der ersten Hochphase der Antisemitenparteien schon hieß.
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5.3.2 Begründung der in (I) und (II) exponierten These des Zusammenhangs von Antisemitismus und bürgerlicher Produktionsweise „Der bürgerliche Antisemitismus hat einen spezifischen ökonomischen Grund: die Verkleidung der Herrschaft in Produktion.“ (182) In der bürgerlichen Produktionsweise sind Produktions- und Zirkulationssphäre zu unterscheiden. Der Kreislaufprozess des Kapitals, so Marx, schließt beide ein, die Einheit von Zirkulation (Markt) und Produktion, „als funktionell bestimmte Abschnitte“. (Marx 1893, 64) Waren in früheren Epochen die Herrschenden unmittelbar repressiv, indem die Unteren nicht nur die Arbeit machen mussten, sondern von der Aristokratie dafür auch noch verachtet wurden, ändert sich das schon mit dem Merkantilismus. Produktion wird hoffähig. Dadurch wird Herrschaft unsichtbar. Sichtbar werden das Finanzkapital, der Bankier, der Händler: „Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Schein.“ (183) Sie erklärt die propagandistische Schlagkräftigkeit der Unterscheidung zwischen schaffendem und raffendem Kapital der Nazis, die die Raffgier des Wirtschaftssystems auf die Juden projiziert. Dafür spielt die empirische Tatsache keine Rolle, dass Juden selbst in der Zirkulationssphäre eine deutliche Minderheit waren, obschon sie historisch durch die Einschränkungen der christlichen Mehrheitsgesellschaft auf diese reduziert wurden. Die Juden wurden künstlich sichtbare „Kolonisatoren des Fortschritts“: „Sie trugen kapitalistische Existenzformen in die Lande und zogen den Haß derer auf sich, die unter jenen zu leiden hatten.“ (184) Aus diesem Grund sind die Juden zum Sündenbock geeignet, dem „das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet wird.“ (183) Gesellschaftlich notwendiger Schein ist eine schöne, Hegel entlehnte Marxsche Formulierung. Das allgemeine, vom Staat geschützte Recht garantierte zwar die Sicherheit der Juden, aber selbst nach der Emanzipation blieben sie Objekt der Gnade. Mit dem Bündnis „faschistischer Sachverwalter“ mit den „ökonomischen Machthaber[n]“, mit dem Bündnis von Nazis und Kapital, erlischt dieser Schutz. (194) In der Konsequenz konnte der Nationalsozialismus die Juden dann als Rechtssubjekte eliminieren, indem er sie mittels Gesetz aus der Volksgemeinschaft verdrängte. Damit war der Schein von Gleichheit als Schein verschwunden. Gleichheit wurde zur Artgleichheit, die Juden wurden zur Gegenrasse.
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5.3.3 Verhältnis des Antisemitismus zum Christentum Der völkische Antisemitismus, so eine weitere These, hat einen religiösen Ursprung, auch wenn er seine religiöse Erbschaft verleugnet. Adorno und Horkheimer gehen in zwei Schritten vor. 1. Die christliche Religion hat für den Antisemitismus eine wesentliche Bedeutung – allerdings nicht als Inhalt, sondern als Form: „Religion ward als Kulturgut eingegliedert, nicht aufgehoben.“ (185) Das Bündnis von Aufklärung und Herrschaft konserviert die „verdinglichten“ Formen der Religion. Die Sehnsucht, die der Religion zugrunde liegt, wird als völkische Rebellion kanalisiert, „die Religion als Institution teils unmittelbar mit dem System verfilzt, teils ins Gepränge von Massenkultur und Aufmärschen transponiert.“ (185) Aufmärsche, Massenveranstaltungen, Rituale bedienen sich religiöser Symbolik, wie die Sprache der Faschisten sich religiöser Muster bedient, um Regressionen, Ängste und Wünsche nicht nur zu artikulieren, sondern auch zu aktivieren. Der fanatische Glaube von Führer und Gefolgschaft „ist kein anderer als der verbissene, der früher die Verzweifelten bei der Stange hielt, nur sein Inhalt ist abhanden gekommen.“ (185). Übriggeblieben ist der Hass gegen die, die den Glauben nicht teilen. 2. Die signifikante Opposition Judentum–Christentum ist Ausgangspunkt für eine weitere These. Das Christentum hebt mit der Menschwerdung Gottes in Christus das Moment der Gnade hervor. „Es hat den Schrecken des Absoluten gemildert“. (186) Was tröstlich, ja ermutigend klingt, das „Fürchtet Euch nicht“ des Neuen Testaments, erzeugt Regression. Es bringt die Idolatrie wieder hervor: „Die menschliche Selbstreflexion im Absoluten, die Vermenschlichung Gottes durch Christus ist das proton pseudos“ (186). Diese „erste Lüge“, dieser Grundirrtum, erkauft gewissermaßen den Fortschritt über das Judentum. Das Christentum wird magisches Ritual, Supranaturalismus, die Annahme einer göttlichen Offenbarung, die natürlicher Vernunft nicht einsichtig sein kann. Das ist „das trübe Opfer der Vernunft“ (188). Im Anschluss an Freuds Religionskritik ist ein weiterer Punkt versteckt. Schrecken und Zivilisation sind untrennbar. Mit Freud müsste man statt des „Fürchtet Euch nicht“ des Neuen Testaments ganz alttestamentarisch sagen, „Fürchtet Euch“, wie Horkheimer an anderer Stelle ergänzt: „Im Zeichen des Henkers vollzog sich die Entwicklung der Kultur; die Genesis, die von der Vertreibung aus dem Paradies erzählt, und die Soirées de Petersbourg [Joseph de Maistre, 1828] stimmen darin überein. […] Man kann nicht den Schrecken abschaffen und Zivilisation übrigbehalten.“ (227)
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5.4 Theorie des Antisemitismus (V–VI) 5.4.1 Schema der antisemitischen Reaktionsweise und faschistische Kollektivbildung Ausgangspunkt ist Wagners Siegfried aus dem Ring der Nibelungen, erste Szene, erster Aufzug: „‚Ich kann dich ja nicht leiden – Vergiß das nicht so leicht’, sagt Siegfried zu Mime, der um seine Liebe wirbt“ (188). Das Zitat illustriert, worauf sich Antisemiten berufen. Der lachende Ausruf soll instinktiven Ekel, Abscheu, ja Hass, als natürliche, unkontrollierbare Reaktion zum Ausdruck bringen. Antisemiten berufen sich auf Idiosynkrasie, spontane Abneigung. Siegfried verhöhnt Mime, indem er ihn im „nicht-leiden-können“ imitiert, ja mimt, lustvoll-höhnisch in einer fast greifbar-physischen Beschreibung, die schon die Gewalttat ankündigt: „seh ich dich steh’n, gangeln und geh’n, knicken und nicken, mit den Augen zwicken: beim Genick’ möcht’ ich den Nicker packen, den Garaus geben dem garst’gen Zwicker!“ (Adorno 1939/40, 11) Das Zitat beschreibt das Schema der antisemitischen Reaktionsweise. Es enthält Hass, aber auch Lustgewinn im Hass. Um es zu erklären, folgen Horkheimer und Adorno einem weitgespannten Ansatz in vier Schritten, der sich gedanklich nicht auf den ersten Blick erschließt. 1. „Die alte Antwort aller Antisemiten ist die Berufung auf Idiosynkrasie.“ (188) Idiosynkrasie ist nicht das Motiv des Antisemitismus, sondern das, was er als Motiv vorgibt. Er beruft sich auf Natur. Natur, sagen Horkheimer und Adorno, die sich nicht durch die Zweckzusammenhänge der Zivilisation geläutert hat, wirkt penetrant, fordert zwanghaften Abscheu heraus. Sie erinnert an die Herkunft, Augenblicke der „biologischen Urgeschichte“. Bei Zeichen der Gefahr sträuben sich die Haare, das Herz steht still. Organe entziehen sich „wieder der Herrschaft des Subjekts; selbständig gehorchen sie biologisch fundamentalen Reizen.“ (189) Haut, Muskel, Glieder erstarren, das Ich ist des eigenen Körpers in der Schreckstarre als der leiblichen Angleichung ans Ding, der Mimikry, nicht mehr mächtig. Das sind „archaische Schemata der Selbsterhaltung“. (189) Diesen Gedanken wenden Horkheimer und Adorno auf den Prozess der Zivilisation an. Unbeherrschte Mimesis wird im Lauf der Jahrtausende verdrängt. In der magischen Phase wird das eigentlich mimetische Verhalten durch die organisierte Handhabung der Mimesis im Ritual ersetzt, in der historischen Phase durch die rationale Praxis, die Arbeit. Diese Verdrängung ist Vorbedingung von Zivilisation. Gegen den Rückfall in mimetische Verhaltensweisen wird das „Ich“ konstruiert, das in Termini der Psychoanalyse in der Abwehr der Es-Triebe besteht, die das archaische Erbe des Menschen repräsentieren, das „sozusagen Natur-
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notwendige in unserem Wesen“. (Freud 1923, 251) Diese Annahme wird mit der der Klassenherrschaft verbunden. Es sind die Herrschenden, die den Beherrschten den Rückfall in solche archaischen Verhaltensweisen abschneiden. Und es sind die Beherrschten, die die Zwänge der Herrschenden durch Introjektion als Gewissenspflicht im eigenen Ich und Über-Ich aufrichten. (213) Der Schrecken der Natur, auf den der archaische Mensch mit Mimesis reagierte, ist indes nicht bezwungen und auch nicht bezwingbar. Die Gesellschaft setzt ihn vielmehr mit anderen Mitteln fort, als dauernden organisierten Zwang. 2. Die Idiosynkrasie, die der politische Antisemitismus als Motiv vorgibt, ist „rationalisierte“, „konformierende“ Idiosynkrasie. (192, 194) Es handelt sich um ein Gruppenphänomen, ein Kollektiv, eine Mehrheit. Die Verhöhnung des Verachteten durch Nachahmung erlaubt den Zivilisierten die mimetische Lust, denn sie ist ein Weg, dem Tabu der Regression entgegenzuhandeln, das durch Rationalisierung aufgehoben wird. Rationalisierung heißt, einem Gefühl oder einer Handlung eine logisch kohärente oder moralisch akzeptable Lösung zu geben, deren wirkliche Motive nicht erkannt werden. Rationalisierung ist eine Abwehrreaktion. Im Spaß, der „Parodie der Erfüllung“, wird die mimetische Funktion hämisch genossen. „Indem der Zivilisierte die versagte Regung durch seine unbedingte Identifikation mit der versagenden Instanz desinfiziert, wird sie durchgelassen.Wenn sie die Schwelle passiert, stellt Lachen sich ein. Das ist das Schema der antisemitischen Reaktionsweise.“ (193) Das Lachen begleitet „den Augenblick, da eine Furcht vergeht. Es zeigt Befreiung an“. (149) Der gemeinsame Augenblick der autoritären Freigabe des Verbotenen macht die Antisemiten zum Kollektiv. „Die ausgeklügelten Symbole, die jeder konterrevolutionären Bewegung eigen sind, die Totenköpfe und Vermummungen, der barbarische Trommelschlag […] sind ebensoviel organisierte Nachahmung magischer Praktiken, die Mimesis der Mimesis.“ (194) 3. Ein Kollektiv bedarf des „Anderen“. Die Juden sind in einer langen christlich-antijudaistischen Tradition das Andere der christlichen Mehrheitsgemeinschaft. Heute kann man treffend mit dem Begriff des „Normalismus“ das beschreiben, was die Juden dazu prädestinierte, dass die tabuierten Regungen gerade an ihnen in kollektivierende Idiosynkrasien umgesetzt wurden. (Link 1996, 341) Die Antisemitismusforschung, so Volkov, hat immer wieder nach Begriffen gesucht, um die Neuartigkeit dieses modernen Antisemitismus zu erfassen; sie nennt ihn kulturellen Code. (Volkov 1990, 17, 23) Das IfS bezeichnet das Phänomen kulturanthropologisch als „cultural pattern“. (Pollock 1945, 1160) Judenfeindschaft ist normal. Im Bündnis von Kapitalisten und Faschisten werden die Juden von der Herrschaft zur Liquidierung freigegeben. Ihre Verfolgung wird als Verteidigung inszeniert, etwa im Ritualmordvorwurf oder dem der Weltverschwörung. „Verkleidet als Anklage erst feiert das unterschwellige Gelüste der Einheimischen,
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zur mimetischen Opferpraxis zurückzukehren, in deren eigenem Bewußtsein fröhliche Urständ. Ist alles Grauen der zivilisatorisch erledigten Vorzeit durch Projektion auf die Juden als rationales Interesse rehabilitiert, so gibt es kein Halten mehr. Es kann real vollstreckt werden, und die Vollstreckung des Bösen übertrifft noch den bösen Inhalt der Projektion.“ (195) 4. Es bleiben Motive, die dieses Schema der antisemitischen Reaktionsweise und Kollektivbildung nicht erfasst. Deshalb greifen Horkheimer und Adorno am Ende auf die Sündenfallgeschichte in Genesis 3,1– 24 zurück, auf die sie immer wieder rekurrieren: „Die Antisemiten machen sich zu Vollstreckern des alten Testaments: sie sorgen dafür, daß die Juden, da sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, zu Erde werden.“ (196) Adam und Eva werden aus dem Garten Eden vertrieben, nachdem Eva von der Schlange mit dem Versprechen „Ihr werdet sein wie Gott“ (Gen 3,5) dazu verführt worden ist, vom Baum der Erkenntnis zu essen, und ihrerseits Adam dazu verführt. Anders als von Gott verkündet, werden sie daran nicht unmittelbar sterben. Ihnen werden die Augen für die Erkenntnis, aber auch die Zeit und die eigene Endlichkeit geöffnet (Gen 3,19 der Lutherversion, „Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden“). In der frühchristlich-kirchlichen Dogmatik des weströmischen Christentums wird daraus der Sündenfall, die Erbsünde, die Lehre vom Bösen. In einer abweichenden Leseweise beginnt mit der Vertreibung aus dem Paradies die menschliche Freiheit; der Akt des Ungehorsams ist der Beginn der menschlichen Geschichte, aber auch das Ende des Paradieses, das als Naturzustand, als klassenlose Gesellschaft, als Reich der Freiheit verstanden werden kann. (Nietzsche [1874] 8 – 9; Fromm 1966, 97) Die Antisemiten machen sich zu höhnischen Vollstreckern des Alten Testaments, das sie offen verachten, indem sie in den Vernichtungslagern die Drohung Gottes wahr und die Juden zu Erde machen.
5.4.2 Projektion und Paranoia In zwei Schritten erweitern und präzisieren Horkheimer und Adorno die in (V) entwickelten Hauptthesen. „Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion.“ (196) Psychoanalytisch bezeichnet der Begriff Projektion die Operation im Individuum, durch die ein Tatbestand nach außen verschoben und lokalisiert – „rationalisiert“ – wird. Damit gelingt es dem Subjekt, Gefühle oder Wünsche, die es in sich ablehnt, in einem Anderen, dem Objekt, zu verorten. Freud zufolge handelt es sich hier um eine Abwehr sehr archaischen Ursprungs. Die Projektion wird von ihm erstmals im Zusammenhang mit der Paranoia entdeckt. (Freud 1911) Im Faschismus, so Horkheimer und Adorno, wird das paranoische Verhalten politisch,
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„das Wahnsystem zur vernünftigen Norm in der Welt […] Der Mechanismus, den die totalitäre Ordnung in Dienst nimmt, ist so alt wie die Zivilisation.“ (196) Auf einer exoterischen Ebene entspricht diese These einer schon etablierten Annahme der US-Wissenschaft, die Projektion von Aggression oder Destruktivität als die offensichtlichste psychologische Tatsache des Antisemitismus einzustufen. Horkheimer und Adorno erweitern sie durch eine philosophische Diskussion mit dem Leitgedanken, dass Denken sich als bewusste Projektion vollzieht. Wahrnehmen heißt immer Projizieren. Die konstituierende Projektion unterscheiden sie von der pathischen Projektion. (196 – 198) Durch diese Erweiterung benennen sie das Problem, wie schwierig es ist, pathische Projektion von ihrer anthropologisch notwendigen Daseinsweise abzutrennen, ohne letztere zu beschädigen. „Das Pathische am Antisemitismus ist nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der Reflexion darin.“ (199) „Paranoia ist der „Schatten der Erkenntnis. […] Falsche Projektion ist der Usurpator des Reiches der Freiheit wie der Bildung; Paranoia ist das Symptom des Halbgebildeten.“ (205) Horkheimer und Adorno beschreiben den Antisemitismus im Rahmen eines allgemeinen psychologischen Modells für Vorurteilsstrukturen. Erst durch den esoterischen Verweis auf Marx’ Klassenanalyse gewinnt es seinen spezifischen Sinn für die Antisemitismusanalyse. Die Paranoia, der Schatten der Erkenntnis in Anspielung auf die Genesis, steht im Gegensatz zum „Reich der Freiheit“ in Anspielung auf Marx, demzufolge das Reich der Freiheit da beginnt, „wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“. (Marx [1894] 1974, 828) Antisemitismus, so also in Präzisierung der These zum Schema der antisemitischen Reaktionsweise, ist Paranoia, Verfolgungswahn. „Die Geschlossenheit des Immergleichen wird zum Surrogat von Allmacht. Es ist, als hätte die Schlange, die den ersten Menschen sagte: ihr werdet sein wie Gott, im Paranoiker ihr Versprechen eingelöst.“ (200) Sie ist eine kollektive Paranoia, die „zur Bildung von Bünden, Fronden und Rackets“ strebt (206). Damit erweitern Horkheimer und Adorno ihre These zur Bildung faschistischer Kollektive und betonen wie Brecht im Arturo Ui (1941) das Kriminelle. Noch in den 60er-Jahren wird Horkheimer an dem Gedanken der Verbrecherbande festhalten. An der Verfolgung der Juden stärkt sich der kollektive Zusammenhalt, dem das Verbrecherische, der Lachen auslösende Tabubruch „fast unwiderstehliche Gewalt“ verleiht. (207) Antisemitismus ist kollektiver Wahn, als Wahnsinn eine gesellschaftliche Krankheit im eigentlichen Wortsinn. Die Präzisierung zur „social disease“ werden Horkheimer und Adorno der empirischen Forschung zugrunde legen (Vgl. Horkheimer/Flowerman 1950, v). Am Ende dieser „These“ zeigt sich der Sinn der an ihrem Anfang zur Wahrnehmung vorgenommenen Erweiterungen. (196 – 198) Der Grundgedanke, dass
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das Denken sich als bewusste Projektion vollzieht, enthält die überraschende Hoffnung auf ein Ende des Antisemitismus. „In der Befreiung des Gedankens von der Herrschaft, in der Abschaffung der Gewalt, könnte sich erst die Idee verwirklichen, die *im Liberalismus* unwahr blieb, daß der Jude ein Mensch sei. Es wäre der Schritt aus der antisemitischen Gesellschaft, die den Juden wie die andern in die Krankheit treibt, zur menschlichen.“ (209) Mit dem erneuten esoterischen Bezug auf Marx’ Judenfrage greifen Horkheimer und Adorno ihren Ausgangspunkt in (I) wieder auf. Die Emanzipation von Herrschaft und die Befreiung des Gedankens kann eine Gegenbewegung zur falschen Projektion ermöglichen, die einer Hoffnung auf die Möglichkeit von Aufklärung entspricht. Das ist letztlich die Intention der empirischen Projekte. Adorno arbeitete nach der Fertigstellung der Dialektik der Aufklärung im Frühjahr bereits an ersten Fragebögen für The Authoritarian Personality. Im November 1944 schrieb er: „Eine Anzahl der Fragen habe ich durch eine Art Übersetzungsarbeit aus den ‚Elementen des Antisemitismus’ ausdestilliert.“ (Adorno [1944] 2004, 347)
5.5 Theorie des Neo-Antisemitismus (VII): Ticketmentalität. Progressives Ticket In Konsequenz des Sieges der Alliierten wurde der Antisemitismus völkerrechtlich geächtet und die Exklusion der Juden oder einer anderen Gruppe aus dem allgemeinen, vom Staat geschützten Recht im westlichen Staatsverständnis unmöglich. Diese Zäsur erforderte eine neue Reflexion. Aber auch die empirische Arbeit des IfS hatte ein neues Stadium erreicht, ja fand im Wesentlichen von 1943 bis 1947 statt. Wenn man vermutet, dass die aufwendigen Projekte mit dem Ziel durchgeführt wurden, neue Erkenntnisse zu gewinnen, dann muss diese Neureflexion auch darin begründet gewesen sein. Deutlicher als zuvor beziehen Horkheimer und Adorno sich nun auf die USA, sichtbar auch an dem neu eingeführten Begriff „Ticketdenken“. Im Amerikanischen ist ein Ticket eine Wahlliste, in der man die ganze Liste, nicht einzelne Kandidaten mit möglicherweise im Vergleich zur Liste nuancierten Positionen wählt. Was ändert sich in diesem siebten Abschnitt? „Anstelle der antisemitischen Psychologie ist weithin das bloße Ja zum faschistischen Ticket getreten.“ (210) Die „Elemente des Antisemitismus“ von 1944 werden historisiert und zugleich konsequent weitergedacht. Diese Historisierung hat vier Aspekte; der letzte reflektiert mit dem „progressiven Ticket“ eine neue Konstellation. 1. Schon 1946/47 kann man nach der Niederlage des Faschismus annehmen, dass es einen Völkermord an den Juden nicht wieder geben wird. Diese Reflexion
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zeichnet sich in den schnell entstehenden Demokratietheorien ab, die zu einem wesentlichen Teil von den in den USA lebenden Exilanten stammen. Das heißt nicht, dass Antisemitismus verschwunden ist und eben das ist nicht die Bedeutung des „These“ VII eröffnenden Satzes: „Aber es gibt keine Antisemiten mehr.“ (209) Antisemitismus als staatliche kollektive Todesdrohung, als mörderischen Massenwahn, gibt es unter den neuen Bedingungen nicht mehr. Antisemitismusforschung wird Teil von Vorurteilsforschung. 2. War Antisemitismus bis zum Zweiten Weltkrieg „konkurrierendes Motiv in subjektiver Wahl“, wenn auch in pathischer Projektion reflexionslos und insofern mechanisch, ersetzt das Ticket nach dem Krieg ganz das Schema der antisemitischen Reaktionsweise. (210) Antisemitismus geht nun weitgehend in konformierenden Reflexen auf. Erfahrungen Einzelner mit Juden werden unwichtig, aber: „Die erfahrungsmäßigen ‚Elemente des Antisemitismus’, außer Kraft gesetzt durch den Erfahrungsverlust, der im Ticketdenken sich anzeigt, werden vom Ticket nochmals mobilisiert. Als bereits zersetzte schaffen sie dem Neo-Antisemiten das schlechte Gewissen und damit die Unersättlichkeit des Bösen.“ (215) Diesen Neo-Antisemitismus charakterisiert Adorno als psychologischen Totalitarismus. Das Über-Ich wird zum Sprecher des Es. Durch die Enteignung des Über-Ichs bleiben keine Hemmungen mehr, die das assoziative Crescendo destruktiver Phantasien zügeln könnten. (Adorno 1950, 633) 3. Das ist eine gleichzeitige Entschärfung und Verschärfung im Rahmen einer Historisierung von Freud und Marx. Im Zeitalter der großen Konzerne und Weltkriege werden die „Subjekte der Triebökonomie […] psychologisch expropriiert.“ (213) Der Ausgebeutete wird Konsument. Seinen Triebkonflikt kann er angesichts fabrikmäßig produzierter, schnell verfügbarer Befriedigung aushalten. Es verschwindet die Dynamik von Ich, Es und Über-Ich: „Was der Einzelne jeweils tun soll, braucht er sich nicht erst mehr in einer schmerzhaften inneren Dialektik von Gewissen, Selbsterhaltung und Trieben abzuringen.“ (213) Das Ich wird geschwächt und gerät – ohne das Gegenarbeiten des Über-Ichs – unter die Dominanz des Es. Regression wird in der spätindustriellen Gesellschaft zum „gesellschaftlichen Existential“ (216): „Die Dialektik der Aufklärung schlägt objektiv in Wahnsinn um.“ (214) Dieser Wahnsinn drückt sich in der politischen Realität zweier Machtblöcke aus, in die sich die Welt nach 1945 in Ost und West spaltet. „Ob ein Bürger das kommunistische oder das faschistische Ticket zieht, richtet sich bereits danach, ob er mehr von der roten Armee oder den Laboratorien des Westens sich imponieren läßt.“ (214) Seltsamerweise sprechen Horkheimer und Adorno 1947 vom Westen als faschistisch, nachdem es doch die Alliierten, also die Rote Armee, aber auch der Westen waren, die den Faschismus besiegt haben. Wenn man davon ausgeht, dass ihnen dabei kein Fehler unterlaufen ist, muss diese Kategorisierung gemeint sein. Die von Marx für das 19. Jahrhundert kon-
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statierte Sprengkraft der Konstellation erlischt, ohne den Klassenantagonismus durch Revolution überwunden zu haben. Er wird pazifiziert, es bedarf nicht einmal mehr des psychischen Ersatzaustrags als antisemitische Rebellion. „Das auf die Spitze getriebene Mißverhältnis zwischen dem Kollektiv und den Einzelnen vernichtet die Spannung, aber der ungetrübte Einklang zwischen Allmacht und Ohnmacht ist selber der unvermittelte Widerspruch, der absolute Gegensatz von Versöhnung.“ (215) 4. „Daß, der Tendenz nach, Antisemitismus nur noch als Posten im auswechselbaren Ticket vorkommt, begründet unwiderleglich die Hoffnung auf sein Ende.“ (216) Am Ende von „These“ VII steht die Hoffnung auf ein Ende des Antisemitismus – aber ohne die am Ende von (VI) angedeutete Hoffnung auf wahre Aufklärung. Das Ende des Antisemitismus bedeutet keineswegs den Übergang zu einem „menschlicheren Zustand“, weil dem Guten dasselbe wie dem Bösen widerfährt. „Die Freiheit auf dem progressiven Ticket ist den machtpolitischen Strukturen, auf welche die progressiven Entscheidungen notwendig hinauslaufen, so äußerlich wie die Judenfeindschaft dem chemischen Trust.“ (217) Mit dem progressiven Ticket führen die Autoren ganz zum Ende ein neues Element ein. Es bezeichnet dieselbe starre Denkstruktur, aber bei „Progressiven“. Diesen Gedanken hat das IfS seit der ersten empirischen Studie vor der Emigration erprobt und in The Authoritarian Personality empirisch gestützt. Das Phänomen existiert ungeachtet politischer Affiliationen der Rechten oder Linken. (Fromm [1929/30], 250 – 253; Adorno 1950, 772– 773) „Zwar werden die psychologisch Humaneren von jenem angezogen, doch verwandelt der sich ausbreitende Verlust der Erfahrung auch die Anhänger des progressiven Tickets am Ende in Feinde der Differenz. Nicht erst das antisemitische Ticket ist antisemitisch, sondern die Ticketmentalität überhaupt.“ (217) Auch Philosemitismus ist stereotypes Denken (Adorno 1950, 774).
Literatur Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max. 2004. Briefwechsel 1927 – 1969, Band II: 1938 – 1944, hg. v. Christoph Gödde/Henri Lonitz, Frankfurt a.M. Adorno, Theodor W. 1939/40. Fragmente über Wagner, in: Zeitschrift für Sozialforschung 8 1 – 49 Adorno, Theodor W./Frenkel-Brunswik, Else/Levinson, Daniel J./Sanford, R. Nevitt. 1950. The Authoritarian Personality, New York Browning, Christopher. 1993. Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek b. Hamburg Freud, Sigmund. 1911. Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides), in: FGW 8, 239 – 320
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Freud, Sigmund. 1923. Das Ich und das Es, in: FGW XIII, 235 – 289 Freud, Sigmund. 1924. Das ökonomische Problem des Masochismus, in: FGW XIII, 369 – 383 Fromm, Erich. 1980. Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung [1929 – 30], München Fromm, Erich. 1989. Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpretation des Alten Testaments und seiner Tradition [1966], in: Gesamtausgabe 6, Stuttgart, 83 – 226 Horkheimer, Max/Flowerman, Samuel H. 1950. Foreword to Studies in Prejudice, in: Adorno, Theodor W./Frenkel-Brunswik, Else/Levinson, Daniel J./Sanford, R. Nevitt, The Authoritarian Personality, v–viii, New York Link, Jürgen. 1996. Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen Marx, Karl. 1969. Zur Judenfrage [1843/44], in: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin, 347 – 377 Marx, Karl/Engels, Friedrich. 1972. Manifest der Kommunistischen Partei [1848], in: Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin Marx, Karl. 1973. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie [1893], in: Marx-Engels-Werke, Bd. 24, Buch II: Der Zirkulationsprozeß des Kapitals, 2. Auflage, Berlin Marx, Karl. 1974. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie [1894], in: Marx-Engels-Werke, Bd. 25, Buch III: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion, Berlin Nietzsche, Friedrich. 2009. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben [1874], Stuttgart Pollock, Friedrich. 1941. State Capitalism: Its Possibilities and Limitations, in: SPSS 9, 200 – 225 Pollock, Friedrich. 1945. Opinions and Reactions of Union Officers, in: Antisemitism among American Labor. Report on a Research Project conducted by the Institute of Social Research (Columbia University) in 1944 – 1945, May 1945, Horkheimer-Pollock-Archiv der Stadt Frankfurt/M., IX 146. 1 – 23, 1068 – 1250. Rürup, Reinhard. 1987. Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. Schmid Noerr, Gunzelin, Nachwort des Herausgebers. Die Stellung der ‚Dialektik der Aufklärung’ in der Entwicklung der Kritischen Theorie. Bemerkungen zu Autorschaft, Entstehung, einigen theoretischen Implikationen und späterer Einschätzung durch die Autoren, in: HGS 5, 423 – 452 Volkov, Shulamit. 1990. Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München Ziege, Eva-Maria. 2009. Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil, Frankfurt a.M.
Abkürzungen FGW
Freud, Sigmund, Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud, London , Frankfurt/M. .
Gérard Raulet
6 Aufzeichnungen und Entwürfe Gerade in der Nuance des Verzweifelten und Zynischen liegt das Entscheidende (HGS 12, 506)
Die Texte, mit denen wir uns im Folgenden befassen, wurden nicht erst nachträglich im Editionsverfahren so bezeichnet, sondern – und das muss deshalb an den Anfang der Beschäftigung mit ihnen gesetzt werden – sie wurden von vornherein von Horkheimer und Adorno als solche verantwortet. Sie legen Zeugnis ab von der Entstehung der Dialektik der Aufklärung und vor allem von der Art ihrer Entstehung: vom historischen Hintergrund, der Horkheimers und Adornos Reflexion auf gleichsam obsessive Weise beherrscht, und von ihrer Bemühung, sich ihm entgegenzusetzen. Sie zeugen von der Kunst, wenn man sie so nennen darf, die Adorno seiner ganzen Philosophie zugrunde gelegt hat: wie man aus der Ratlosigkeit eine Diskursstrategie macht, indem man – nach einem Bild, das er nicht nur später verwenden wird (AGS 6, 9), sondern das hier schon in einem Zusatz zum allersten Stück auftaucht (218 – 219)¹ – die Karten auf den Tisch legt, ohne das Endspiel bestimmen zu können. Indem sie bewusst den mehr oder minder abgerundeten Essays, aus welchen die sogenannte Dialektik der Aufklärung besteht, hinzugefügt werden, bestätigen und verstärken die „Aufzeichnungen und Entwürfe“ den originellen Titel, der als Untertitel fortgelebt hat: Philosophische Fragmente. Sie machen auf das Unabgeschlossene in den abgeschlossenen Essays aufmerksam und erklären es offen als Denkstil. Dass ein Teil der „Aufzeichnungen und Entwürfe“ nicht aufgenommen wurde, darf fast als anekdotisch angesehen werden. Die Dialektik der Aufklärung, die über viele Jahre hinweg – zwischen 1939 und 1944 – eine durch Protokolle und verschiedene Parerga dokumentierte Gärungsphase durchmachte, wurde 1944 in einem noch werdenden Zustand, und zwar als hektographiertes Heft in begrenzter Auflage, veröffentlicht. Anlässlich seines fünfzigsten Geburtstags wurden Friedrich Pollock, wie in der Vorrede steht, „erste Proben“ (1), also eine erste Auswahl, überreicht. Vergleicht man mit den erhaltenen Typoskripten, ergibt sich, dass ungefähr die Hälfte der Entwürfe „als allzu vorläufig ausgeschieden“² wurden.Wie der Maßstab der Vorläufigkeit angelegt wurde, bleibt allerdings unbekannt.
Mit dem Herausgeber des 5. Bandes der Gesammelten Schriften von Horkheimer gehen wir davon aus, dass die Zusätze von Adorno stammen (HGS 5, 429). „Konzepte als Zugabe zur Festschrift für Friedrich Pollock“, MHA [Max-Horkheimer-Archiv]: XI 6.43 – 62. DOI 10.1515/9783110448764-007
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6.1 Zur Entstehung. Versuch einer gattungstheoretischen Einordnung 6.1.1 Der Zusammenhang mit Horkheimers Dialektik-Projekt Die Keimzelle der Dialektik der Aufklärung ist, neben den Aufzeichnungen und Entwürfen, Horkheimers Plan, einen „Vernunft“-Aufsatz zu schreiben, der zusammen mit der Marcuse zugewiesenen parallelen Bearbeitung des TechnikThemas einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit der Fortschrittsideologie bilden sollte. Die Aufgabe rückte rasch in den Mittelpunkt von Horkheimers Reflexionen und ersetzte sein groß angelegtes Dialektik-Projekt (beziehungsweise verschränkte sich mit ihm). Anfang 1942 sah sich Horkheimer mit der Herausforderung konfrontiert, aus einem hundertseitigen, chaotischen und unentzifferbaren Entwurf (HGS 17, 266) ein 30-Seiten-Manuskript herzustellen. Daraus entstanden die englische Version The End of Reason für die SPSS und der Aufsatz „Vernunft und Selbsterhaltung“, der für das Sonderheft der Zeitschrift für Sozialforschung zum Gedächtnis an Walter Benjamin angefertigt wurde. In beiden entwarf Horkheimer die These einer Selbstzerstörung der Vernunft – eine These, die mit dem bisherigen Ansatz der Institutsstudien (dem Marcuse noch anhing) deutlich brach (Wiggershaus 1988, 334– 335). Die Unmöglichkeit, die Dialektik der Aufklärung zu vollenden, ergibt sich aus dem Grundwiderspruch, den sie an den Tag legt: Die konsequente Durchführung des Aufklärungsprogramms führt zwar zur Verwissenschaftlichung der Welt, aber sie pervertiert zugleich das ursprünglich emanzipatorische Ziel. Dieser Widerspruch wiederholt sich im Spannungsverhältnis zum herrschenden empirischen Trend der amerikanischen Sozialforschung. Es sieht in den Aufzeichnungen und Entwürfen – und in der gesamten Dialektik der Aufklärung – so aus, als ob Horkheimer und Adorno ganz bewusst, ja provokatorisch von der „wissenschaftlichen Forschung“ abrückten zugunsten einer zugleich lockeren und hoch spekulativen philosophischen Reflexion. In vielerlei Hinsicht liegen den Reflexionen Horkheimers zahlreiche Lektüren von Psychologie, Psychoanalyse, Soziologie zugrunde. Diese Lektüren werden aber nicht in den Vordergrund gestellt, sie werden vielmehr – hier wie in den Hauptessais (Raulet 1998) – äußerst diskret, wenn überhaupt, in Fußnoten erwähnt. So stützt sich Horkheimer, wenn er die Dummheit zu einem der zentralen Motive seiner Reflexionen macht, gelegentlich auf einen sehr technischen Beitrag von Karl Landauer über „Intelligenz und Dummheit“ (Landauer 1939, 160 – 174), der sich mit der ontogenetischen Entwicklung des Kindes auseinandersetzt und die verschiedenen Formen von Dummheit und Intelligenz im Spannungsfeld von Erziehung und Gesellschaft
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analysiert. Und selbstverständlich fußt die Theorie der Herrschaft auch hier auf den sozialpsychologischen Grundlagen, die Horkheimer in den 30er-Jahren erarbeitet hat. Als Beispiel kann die psychoanalytische Interpretation der Führerideologie erwähnt werden, die für Horkheimer eine Projektion des schwachen Ichs bedeutet – eine These, die später in der Bundesrepublik von Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem Essay über Die Unfähigkeit zu trauern weiterentwickelt wurde. Sie wird hier – in einem Zusatz – zu den Grunderscheinungen der „Massengesellschaft“ gemacht (251). In demselben Maße wie das ursprüngliche Vorhaben eines großen Buchs über Dialektik zurücktrat, scheint Horkheimer sich mit dem unabgeschlossenen Charakter abgefunden zu haben. Zwei Gründe werden in der Vorrede angegeben: Einmal, und zwar gleich in den ersten Paragraphen, ein Gefühl der Ohnmacht und der Entmutigung angesichts der Sackgasse, in welche der Kulturprozess geraten ist. Zum anderen den Widerspruch zwischen der Annäherung an die Wissenschaften (insbesondere die Anthropologie) und dem tiefen Misstrauen gegenüber ihnen – eine Herausforderung, die nur durch strenge dialektische Disziplin bewältigt werden könnte. Wenn dies nicht gelingt, dann scheint der essayistische oder aphoristische Ausweg – eine nietzscheanische Versuchung sozusagen – eine billige Lösung darzustellen. Aber gerade durch dieses „Scheitern“ vollzieht Horkheimer die entscheidende Wendung, die die zweite Phase der Kritischen Theorie und einen völlig neuen philosophischen Stil begründet. Dieser besteht darin, den Widerspruch zu akzeptieren und in den Gang der Reflexion einzubeziehen – „auch das Wort, das tastend, experimentierend, mit der Möglichkeit des Irrtums spielend, sich bewegt“ („Der Gedanke“, 261). Von der Philosophie gibt das Fragment über „Philosophie und Arbeitsteilung“ folgende Definition: „Philosophie ist nicht Synthese, Grundwissenschaft oder Dachwissenschaft, sondern die Anstrengung, der Suggestion zu widerstehen, die Entschlossenheit zur intellektuellen und wirklichen Freiheit.“ (260) Daraus resultiert das grundlegende diskursive Gesetz des Unabgeschlossenen im Abgeschlossenen: „unfertig zu sein und es zu wissen“ (261). Sobald eine vermeintlich allgemeingültige Wahrheit für erreicht gilt, hört sie auf allgemein zu sein: sie wird zu einer realisierten Besonderheit. Die „Aufzeichnungen und Entwürfe“ sind, um den Titel einer Reflexion zu zitieren, die von Schopenhauer ausgeht und von Sprache und Vorstellung handelt, „kein Weg zur Wahrheit“ (HGS 12, 261). Somit treten die Aufzeichnungen und Entwürfe in die Fußstapfen von Nietzsches Aphoristik.
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6.1.2 Bloßes Fragment oder Kurzform? Es gibt wenig Literatur über die Aufzeichnungen und Fragmente. Die Kargheit der Kommentare ist wohl auf die oft verschlüsselte, wenn nicht gar rätselhafte Beschaffenheit dieser Texte zurückzuführen. Diese liegt nicht nur an ihrem unabgeschlossenen Charakter. Sie reihen sich vielmehr in eine Tradition der Kurzform ein, die Bloch mit den Spuren oder Benjamin mit seinen „Denkbildern“ praktiziert haben. Obwohl Benjamin selber seine Einbahnstraße oftmals als eine Sammlung von Aphorismen bezeichnet hat, unterscheidet Adorno mit Nachdruck zwischen Aphorismus und Denkbild: „Walter Benjamins ‚Einbahnstraße‘ […] ist nicht, wie man bei flüchtiger Übersicht meinen könnte, ein Aphorismenbuch, sondern eine Sammlung von Denkbildern.“ (AGS, 680) Wenn hiernach die Bezeichnung „Aphorismus“ in Bezug auf Benjamin nicht recht zutrifft, so scheint sie hingegen diejenige zu sein, die zum Denkstil und zur philosophischen Intention der Dialektik der Aufklärung am besten passt. Zusammen mit der „Konzision, Pointiertheit, Antithetik, Kürze“ (Adorno in: Krüger 1957, 7) gehört zum aphoristischen Genre der Hang zur Paradoxie, der in den Dienst der Bloßlegung der Selbstwidersprüche gestellt wird, auf welchen der Sieg der „Aufklärung“ beruht. Alles steht hier im Zeichen des „Quand même“ – nach dem Titel eines besonders wichtigen Entwurfs, der vom Fortschritt und von der Hoffnung handelt. Hierher gehört auch unter dem Titel „Der Gedanke“ Horkheimers Aphorismus: „Unfertiges Denken ist gerade jenes Denken, mit dem es sich zu sterben lohnt.“ (261). Adornos Minima Moralia werden es bestätigen: Zwischen der aphoristischen Form und dem Moratorium des Messianismus, mit dem sie enden, besteht ein unauflöslicher Zusammenhang. Trotz oder gerade dank seiner Paradoxie gibt freilich der Aphorismus in der Regel vor, seiner Sache sicher zu sein und drückt dieses Selbstgefühl durch höhnische Überlegenheit aus. Damit geht ein gewisser Sinn fürs Komische einher, den Adorno in seiner Einführung zu Heinz Krügers Dissertation betont. Spricht Krüger von „Buffonerie“ (Krüger 1957, 7), so ließe sich allenfalls angemessener sagen, dass es sich hier mit dem Scherz verhält wie mit der modernen Tragikomödie: er ist nur die Kehrseite der Tragik. Infolge der Selbstzerstörung aller Kriterien, deren Ausmaß die Dialektik der Aufklärung auskundschaftet, indem sie die Paradoxie zum Äußersten treibt, sind in den Aufzeichnungen und Entwürfen der Vernunft alle Maßstäbe abhandengekommen. In der Gestalt des Nationalsozialismus sind Horkheimer und Adorno mit dem unerhört Neuen des tatsächlichen Rückfalls in die Barbarei direkt konfrontiert. Am Maßstab von Benjamins Einbahnstraße gemessen sind die Aufzeichnungen und Entwürfe sozusagen ein zum Äußersten getriebenes „Kaiserpanorama“, dessen konkreter Hintergrund die na-
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tionalsozialistische Herrschaft ist. Denn, wie Adorno in seinen „Reflexionen zur Klassentheorie“ schreibt, „von der jüngsten Gestalt des Unrechts fällt Licht stets aufs Ganze“ (AGS 8, 374) – ein Lichtstrahl, der das Pendant bildet zur Perspektive der Erlösung im letzten Stück der Minima Moralia und insofern das Endspiel in der Schwebe hält. Dieser Lichtstrahl ist mit „der“ Wahrheit nicht zu verwechseln. Ebenso wenig mit Resignation. Aber so wie die zentrale Debatte im Institut um die Frage der Kontinuität zwischen der kapitalistischen Ordnung und dem Nationalsozialismus kreiste, erkunden die Aufzeichnungen und Notizen die Affinitäten zwischen der Barbarei, in die der alte Kontinent verfallen ist, und der Barbarei der „neuen Kultur“, die der schon vorauszusehende Sieg der westlichen Welt über die NS-Diktatur zum Muss der späteren sogenannten „Westorientierung“ befördern wird. Wie die Schriften Adornos, die sie weitgehend präfigurieren (wiewohl sie zahlen- und umfangmäßig eher Horkheimer zuzuschreiben sind), setzen sich die „Aufzeichnungen und Entwürfe“ mit den Formen und Strukturen des bürgerlichen Denkens und Handelns auseinander, bis in die alltäglichsten Formen seines Selbstverrats und historischen Scheiterns hinein.
6.2 Anthropologie – „Vertieren“ und Zynismus Intendiert ist eine „dialektische Anthropologie“ (7) bürgerlicher und spätbürgerlicher Denk- und Handlungsformen bis zu deren Umkippen in das nur scheinbar Verpönte. Wer nach der Lektüre der Hauptessays der Dialektik der Aufklärung schon beeindruckt ist, ahnt nicht, was ihn in den „Aufzeichnungen und Entwürfen“ erwartet. Zwar haben die Notizen diagnostischen Charakter – sie bestätigen, wenn auch auf eigenartige Weise, die geschichtsphilosophische Bilanz der „abgeschlossenen“ Essays. In mehr als einer Hinsicht strecken sich aber die Fangarme der Bilanz in Richtungen aus, die den Rahmen dessen sprengen, was eine nüchterne Bilanz sein sollte. Die Reflexion setzt zugleich höchst philosophisch und öfters schrecklich trivial an. So wenn in „Altmodisches Problem“ das Verhältnis zwischen Mann und Frau als eine Erscheinungsform des Zivilisationsprozesses dargestellt wird, demzufolge der Mann „sich mit der sozialen Apparatur [identifiziert], die ihn selbst und die Frau verstümmelt“: Anweisung für den Mann: gegen die unerfüllbaren Träume der Frau sich nicht mit der niederträchtigen Realität zu verbinden, die Realität, welche die Frau gegen seine geschäftlichen Niederlagen unverständig zu vertreten pflegt, mit besserem Haß zu hassen als der, zu dem sie fähig ist, die unerfüllbaren Erwartungen ihrer Jugend, um die er sie liebte, auch dann nicht zu verraten, wenn sie bei ihr in Verzweiflung umgeschlagen sind. (HGS 12, 292– 293)
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Das sind die kleinen Formen der Dialektik von Hass und Liebe, die bis ins Innerste die Zivilisation beherrschen und deren sadomasochistische Logik, nämlich die einer Selbstverstümmelung, durch die Dialektik der Aufklärung zum phylogenetischen Grundzug der Kultur gemacht wird. Diese Lehre vom Menschen setzt radikal an, sie nimmt implizit Bezug auf Max Scheler, der 1925 in „Die Formen des Wissens und die Bildung“ schrieb: „Es ist schwer, ein Mensch zu sein. Es ist selten – sehr selten –, dass ein Mensch als biologisches Artwesen ein ‚Mensch‘ ist im Sinne der Idee der ‚humanitas‘. ‚Lernet die Tiere kennen, auf dass ihr merket, wie schwer es ist, ein Mensch zu sein‘ – pflege ich meinen Studenten zu sagen.“ (Scheler 1925, 28) Ganz im Sinne Schelers besteht in den Aufzeichnungen und Entwürfen die Wahrheit der philosophischen Anthropologie darin, dass „die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte […] sich in der Unterscheidung vom Tier aus[drückt]“ (262). Die außerordentliche Länge des Abschnitts „Mensch und Tier“, die aus ihm fast einen mit den Hauptessays des Buchs vergleichbaren Aufsatz macht, bezeugt die grundlegende Bedeutung der philosophisch-anthropologischen Reflexion für das von der Dialektik der Aufklärung verfolgte Ziel. Zu den Begriffen, deren merkwürdige Häufigkeit im Text im umgekehrten Verhältnis zu ihrer umgangssprachlichen Seltenheit steht, gehört derjenige des „Vertierens“. In anderen Worten nimmt diese Anthropologie tierische Züge an – sie tritt das Erbe des Kynismus an: Ein großer Hund steht am Highway. Er gerät unter ein Auto, wenn er, vertrauend, weitergeht. Sein friedlicher Ausdruck zeugt davon, daß er sonst besser behütet ist, ein Haustier, dem man nichts Böses zufügt. Aber haben die Söhne der oberen Bourgeoisie, denen man nichts Böses zufügt, einen friedlichen Ausdruck im Gesicht? Sie waren nicht schlechter behütet, als sonst der Hund, der jetzt überfahren wird. (228)
An anderer Stelle, und zwar im letzten der aufgenommenen Texte, der zudem gleichsam das Pendant darstellt zu dem eröffnenden („Gegen Bescheidwissen“), da beide von der Dummheit handeln, taucht ein anderer Hund auf, der fröhlichere Züge zeigt: es ist ein spielender Hund, der vergeblich versucht, die Türklinke zu drücken, indem er an der Tür hochspringt. Dies aber ist schließlich nur die fröhliche, eben tierische Variante des vergeblichen Wiederholungszwangs, dem der Neurotiker unterliegt. Kein Grund zu sagen, dass das Tier seinerseits „glücklich“ ist. Damit rechnet „Mensch und Tier“ ab, an einer Stelle, die sich wiederum explizit auf Schopenhauer bezieht: Damit Glück substantiell werde, dem Dasein den Tod verleihe, bedarf es identifizierender Erinnerung, beschwichtigender Erkenntnis, der religiösen oder philosophischen Idee, kurz des Begriffs. Es gibt glückliche Tiere, aber welch kurzen Atem hat dieses Glück! Die Dauer des Tiers, vom befreienden Gedanken nicht unterbrochen, ist trübe und depressiv. Um dem
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bohrend leeren Dasein zu entgehen, ist ein Widerstand notwendig, dessen Rückgrat die Sprache ist. Noch das stärkste Tier ist unendlich debil. (263)
Also offenbart hier das Tier in seiner primären Form den Prozess der Genese der Dummheit, d. h. jenen Prozess, der durch wiederholte Hemmungen den Menschen zur Blindheit und Ohnmacht (bis hin zur Neurose und/oder zum Fanatismus) erzieht und in ihm die Hoffnung absterben lässt (275). Indem die Philosophie das Erbe des Kynismus antritt, verweist sie auf den Gestus, der Nietzsches zweite „Unzeitgemäße Betrachtung“ eröffnet (Nietzsche 1874, 249 – 250).Durch den Bezug auf das Tier untergräbt Nietzsche den Stolz des Menschen auf die Kultur. Als „noch nicht festgestelltes Tier“ (Nietzsche 1886, 81) hat der Mensch es noch nicht dazu gebracht, den Instinkt durch ebenso sichere Vermögen zu ersetzen. Also hat er kein Recht, sich vor dem Tiere „seines Menschentums zu brüsten“, da er ja zugleich nach dem Glück des Tieres „eifersüchtig hinblickt“ (Nietzsche 1874, 248). Vielmehr gehört der Stolz zu jenen Verhaltensweisen, die den Verlust der Unschuld zum Ausdruck bringen. Adorno hat im Zusammenhang seiner Überlegungen zum „regressiven Hören in der Musik“, die man als seine erste Beschäftigung mit der Kulturindustrie bewerten kann, darauf hingewiesen, dass der Zerfall des Sakralen in Komik mündet. Die entlarvende Qualität der Clownerie hat er keineswegs verkannt (so Steinert 1992, 167, 176 – 183), vielmehr wird er später in der Einleitung der Negativen Dialektik daraus einen quasi-theoretischen Grundsatz machen (AGS 6, 25 – 26). Allerdings muss die Komik umfunktioniert werden, damit sie nicht in den Dienst der Herrschaft und der Verhöhnung der Opfer gesetzt werde. Angesichts der Kulturindustrie und der Katastrophe der Zivilisation kann sich der Zynismus nicht mehr auf ästhetische, romantische Ironie beschränken. Den Aufzeichnungen und Entwürfen fehlt es nicht an einem ausgeprägten Sinn fürs Groteske: Man lese insbesondere „Le prix du progrès“, wo von dem französischen Physiologen Flourens die Rede ist, der die Anwendung des Chloroforms ablehnte, aus dem Grund, dass sie „einen dauernden seelischen Schaden in den Kranken herbeiführen oder gar in der Narkose selbst zu einem unbeschreiblich qualvollen Tod führen [könnte], dessen Eigentümlichkeiten den Angehörigen und der Welt auf ewig verborgen bleiben.“ Zum Schluss fragt Flourens: „Wäre das nicht ein allzu hoher Preis, den wir für den Fortschritt bezahlten?“ Auch hier beruht die Lehre auf dem Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Horkheimer beziehungsweise Adorno kommentiert zunächst sarkastisch: „Hätte Flourens in diesem Briefe recht, so wären die dunklen Wege des göttlichen Weltregimes wenigstens einmal gerechtfertigt. Das Tier wäre durch die Leiden seiner Henker gerächt.“ (243) Erst in einem zweiten Schritt wird diese grundsätzlich absurde Theodizee als Kritik an der Vernunftherrschaft wieder ernst: „Die perennierende
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Herrschaft über die Natur aber, die medizinische und außermedizinische Technik schöpft ihre Kraft aus solcher Verblendung, sie wäre durch Vergessen erst möglich gemacht.Verlust der Erinnerung als transzendentale Bedingung der Wissenschaft. Alle Verdinglichung ist ein Vergessen.“ (243) Bei aller Unabgeschlossenheit weisen die „Aufzeichnungen und Entwürfe“ eine merkwürdig geschlossene Struktur auf: Anfang und Ende bildet die Theorie der Dummheit. Die Katastrophe der abendländischen Zivilisation wird als Katastrophe der Dummheit dargestellt. Von dieser Katastrophe der herrschenden Dummheit sind die Juden nicht ausgenommen. Vielmehr wird – und sogar im eröffnenden Stück („Gegen Bescheidwissen“) – ganz im Sinn des Antisemitismusaufsatzes, der unmittelbar vorangeht – ihnen die Schuld der Mitverantwortung an ihrem Schicksal zugeschrieben: nicht weil sie sich etwa nicht gewehrt hätten, sondern weil sie „besser wussten“, weil sie aus einem (intellektuell und erfahrungsgenährten) Gefühl der Überlegenheit sich selbst überzeugt haben, dass es nie so weit gehen würde. Solche „Gescheitheit“ hat Nietzsche zynisch als „ungeheuerliche Abgeschmacktheit“ bezeichnet. Man darf sicher die Dummheit für eine etwas flaue, epistemologisch nicht abgesicherte Kategorie halten. Mit ihr wird offensichtlich versucht, ein historischanthropologisches Phänomen zu umreißen, das von der Verblendung über die Lüge bis zum „Vertieren“ reicht. Mit der Fokussierung auf die Dummheit, die bürgerlicherseits als eine „verbissene Verengerung [des] eigenen Horizontes“ definiert werden kann, wird jedenfalls ein tiefgreifender Wandel reflektiert, den Horkheimer unter dem Stichwort „Solidarität“ erfasst. Festgestellt wird das Verschwinden der Solidarität von oben nach unten und bis zu den Randerscheinungen in der Bohème. Die Wahl besteht nur noch zwischen dem Rückzug auf die zum Scheitern geweihte private „Gescheitheit“ und dem Übergang zum Racket. Allerseits – für die dummen deutschen Bürger, für die eingebildeten „Gescheiten“ darunter, für die Juden unter ihnen, und nicht zuletzt für die Arbeiterschaft, der in Amerika die Führer die Entscheidung abgenommen haben (HGS 12, 260) – ist die Entscheidung schon längst gefallen. Wiederum wird hier keine Prophetie ausgesprochen, sondern völlig zynisch eine Überlebensbedingung beschrieben, mit der sich mittlerweile unsere neoliberalen Gesellschaften abgefunden, wenn nicht gar angefreundet haben. Zu den Autoren, die über die Dummheit geschrieben haben, zählt Montaigne, dem Horkheimer einen Essay gewidmet hat: „Montaigne und die Funktion der Skepsis“. Die Rückkehr zu Montaigne bedeutet grundsätzlich einen Schritt hinter Descartes zurück, der im berühmten „Incipit“ des Discours de la méthode auf die Essais sich bezogen hatte, um seinen Grundsatz geltend zu machen, dass eine strenge Methode uns vor dem Irrtum schützen kann. Da aber diese gute Methode erfordert, dass wir die Leistung unserer Vermögen mit der Natur der Dinge ver-
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gleichen, hält Montaigne dieses Ideal für unerreichbar. Bei Montaigne wird, wie in den Aufzeichnungen und Entwürfen, die Dummheit unter dem anthropologischen Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier gesehen. Dasselbe gilt für Horkheimer, der allerdings die der Sprache entbehrende Tierheit keineswegs verherrlicht. Mag das Versagen der Vernunft eine Rückkehr der Natur darstellen, wenn der Mensch „vertiert“, so wird aber keine Rückkehr zur Natur empfohlen. Hier wird die Tierheit nicht gegen die Menschheit ausgespielt, sondern es geht um die kulturelle Funktion des Verhältnisses (beziehungsweise des Gegensatzes) von Mensch und Tier. Auch in dieser Linie lässt sich der überpräsente Bezug auf Schopenhauer interpretieren. Schopenhauer vertrat ja gerade die Ansicht, dass die Geschichte des Menschen die Fortsetzung der Zoologie sei. Wie in anderen Schriften von Horkheimer steht Schopenhauer stellvertretend für ein philosophisches Moment: den Hintergrund des Geschichtspessimismus, der in Horkheimers Denken dazu dient, die durch das Ausbleiben oder die katastrophale Umkehrung ihrer praktischen Erwartungen verunsicherte Theorie vor der spekulativen Überhebung zu schützen, der sie verfallen könnte (Raulet 1986, 31– 51). Schopenhauer ist zweifelsohne derjenige, der in kritisch philosophischer Hinsicht das Verhältnis zwischen Tier und Mensch in den Vordergrund gestellt hat: Die Rechtlosigkeit der Tiere beruht in der Philosophie auf der angenommenen gänzlichen Verschiedenheit zwischen Mensch und Tier. Um die von der Kartesisch-Leibnitz-Wolffischen Philosophie konstruierte unsterbliche anima rationalis (den vernünftigen Seelenteil) zu retten, eröffnete man eine ungeheure Kluft zwischen beiden. (Schopenhauer 1919, 238)
Dabei geht es um einen Prozess der Anerkennung, der der falschen Alternative ein Ende setzen könnte, auf welcher die sogenannte Zivilisation beruht: entweder das idealisierte Phantasiebild einer tierischen Inhumanität oder seine inhumane technisch-wissenschaftliche Instrumentalisierung. Es „gilt aufs Tier zu achten nicht mehr bloß als sentimental, sondern als Verrat am Fortschritt“ (270). Das unterjochte und gegebenenfalls sezierte Tier ist das Zeugnis beziehungsweise der Zeuge des Unrechts, das der vermeintliche Fortschritt am Menschen selbst begangen hat. An dem Verhältnis von Mensch und Tier soll die Dialektik der Selbstverblendung und Selbstunterwerfung der menschlichen Animalität durch das menschliche Tier aufgezeigt werden. Es geht also um das „Eingedenken der Natur im Subjekt“ als „die verkannte Wahrheit aller Kultur“ (47). Ein zentraler Aspekt der Anthropologie Horkheimers und Adornos ist dabei die Entfremdung vom Leib. Im Zuge der Disziplinierung der Natur wird der Leib zum bloßen Körper, eine „Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird“ („Interesse am Körper“, 248). Ein Spiegel des Zivilisationsprozesses als „Natur, die in ihrer Entfremdung
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vernehmbar wird“. Man denkt an Bodybuilding etc.: „Selbsterniedrigung des Menschen zum corpus“. Das hat wiederum zu tun mit dem Sadomasochismus als Grundgesetz der Zivilisation: „Die Haßliebe gegen den Körper färbt alle neuere Kultur“ (247). Dieses Verhängnis umzukehren bildet das zentrale Motiv der Dialektik der Aufklärung: „Naturverfallenheit besteht in der Naturbeherrschung, ohne die Geist nicht existiert. Durch die Bescheidung, in der dieser als Herrschaft sich bekennt und in Natur zurücknimmt, zergeht ihm der herrschaftliche Anspruch, der ihn gerade der Natur versklavt“ (46). Somit wird wenigstens eine Ecke des Schleiers gelüftet, der über der Zivilisation hängt: Die verborgene Geschichte der Zivilisation ist die einer Verdrängung der Triebe und der Unterdrückung der Natur im Menschen (246). An einzelnen Stellen wird sogar von einem Todestrieb der Zivilisation gesprochen (241). Wenn dem so ist, dann erklärt sich das geschichtspessimistische Lamento, das sogar auf Klages Bezug nimmt: „die Spaltung des Lebens in den Geist und seinen Gegenstand“ (249). Es belegt die unterschwellige Lebensphilosophie, welche die Philosophische Anthropologie der Dialektik der Aufklärung begleitet beziehungsweise untermauert: Auch im epochalen Phänomen des Rackets manifestiere sich „die dem Lebendigen tief einwohnende Tendenz, […] sich an die Umgebung zu verlieren anstatt sich tätig in ihr durchzusetzen, den Hang, sich gehen zu lassen, zurückzusinken in Natur. Freud hat sie den Todestrieb genannt, Caillois le mimétisme“ (240 – 241). Von ihrem Vitalismus macht die Dialektik der Aufklärung umso weniger einen Hehl, als nicht der Gegensatz, sondern das Verhältnis der Vernunft zur Natur (wie beim Tier-Mensch-Vergleich) gerade den Kern ihrer philosophischen Reflexion bildet. Denn „die“ Natur ist nicht als solche gut. Eine Rückkehr zur Natur hat umso weniger Sinn, als die Sehnsucht danach sich erst aus der Selbstbehauptung der Vernunft ergibt. Also kann nur erkannte Natur der Versöhnung der Menschen mit der Natur – der äußeren wie der inneren – zugrunde liegen: Natur an sich ist weder gut, wie die alte, noch edel, wie die neue Romantik es will. Als Vorbild und Ziel bedeutet sie den Widergeist, die Lüge und Bestialität, erst als erkannte wird sie zum Drang des Daseins nach seinem Frieden, zu jenem Bewußtsein, das von Beginn an den unbeirrbaren Widerstand gegen Führer und Kollektiv begeistet hat. Der herrschenden Praxis und ihren unentrinnbaren Alternativen ist nicht die Natur gefährlich, mit der sie vielmehr zusammenfällt, sondern daß Natur erinnert wird. (271)
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6.3 Herrschaft. Theorie/Praxis 6.3.1 Racket Die von Horkheimer entworfene Theorie des Rackets ist nur ein Aspekt der tiefgreifenden Veränderung der Auffassung der Herrschaft, um welche innerhalb des Instituts für Sozialforschung eine breitere Debatte über die eigentliche Natur des Faschismus und über seinen Zusammenhang mit der monopolkapitalistischen Entwicklung stattgefunden hat. Diese Debatte fällt zusammen mit der Übersiedlung von Horkheimer, Pollock, Adorno und zuletzt Marcuse nach Los Angeles und mit den Bemühungen Horkheimers, die Beziehung von Franz Neumann zum Institut zu klären. Als 1942 der Entschluss gefasst wurde, die Studies in Philosophy and Social Science einzustellen, drängte Horkheimer Kirchheimer und Neumann ihre Beiträge zur Reflexion über eine Rackettheorie der Gesellschaft, die er initiiert hatte, abzuliefern. Sowohl ihre Vorbehalte als auch der Umstand, dass die geplante Nummer nicht mehr zustande kam, führten wahrscheinlich dazu, dass Horkheimer, der bis Ende 1943 an seinem Skriptum weiter arbeitete, schließlich auf dessen Publikation verzichtete. Zusammengefasst sind die Grundgedanken des Essays im Entwurf „Die Rackets und der Geist“ (HGS 12, 287– 291). Auch Adornos „Reflexionen zur Klassentheorie“, die er schon 1942 fertigstellte und in denen er sich Horkheimers begrifflichen Vorschlag zum Teil aneignet (AGS 8, 381), blieben damals unveröffentlicht. Das Racket überdeckt und verfälscht den Klassenantagonismus. Es setzt sich nicht nur deshalb durch, weil der Klassenbegriff, wie Marx ihn seiner ökonomischen Sozialkritik zugrunde gelegt hat, an das Stadium des Konkurrenzkapitalismus gebunden ist, sondern Horkheimer neigt in seinem Entwurf dazu, aus dem Racket die „Grundform der Herrschaft“ überhaupt zu machen, so wie die Dialektik der Aufklärung nicht mehr eigentlich von einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation, sondern von den Herrschaftsverhältnissen überhaupt spricht. Horkheimer rechtfertigt diese retrospektive Verallgemeinerung durch das MarxZitat, das sein Manuskript beschließt und das nicht von ungefähr der Kritik der politischen Ökonomie entlehnt ist: „Die Anatomie des Menschen ist der Schlüssel zur Anatomie des Affen.“ Das heißt: Die moderne Herrschaft des Rackets macht es möglich, gesellschaftliche Verhältnisse der Vergangenheit zu durchschauen. „Unter den Bedingungen des Monopolkapitalismus und der totalen Herrschaft wird die Beständigkeit der Unterdrückung, ihr parasitäres Wesen, offenkundig.“ (HGS 12, 101) In der ganzen geschichtsphilosophischen Breite seiner wissenschaftlichen Anwendung dehnt sich der Racketbegriff auf die Initiationsriten der Magier aus, auf die patriarchalischen Verhältnisse in primitiven Stämmen, auf das
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fortwährende „Brechen“ junger Männer bei jedem Eintreten in eine Gemeinschaft, oder einfach in die Welt der Erwachsenen, und nicht zuletzt auf „das Organisationsmuster der Männer gegenüber den Frauen“ (HGS 12, 104). Kirchheimers Reaktion auf Horkheimers Manuskript gab diesem zunächst Recht darin, dass „der Monopolismus […] die potestas directa wieder sehr nachdrücklich ins Blickfeld [bringt]“, widersprach aber dem verallgemeinernden Gebrauch des Begriffs und machte mit Recht geltend, dass er den Zusammenhang zwischen den wirtschaftlichen Herrschaftsformen und dem sie begleitenden ideologischen Rechtfertigungssystem völlig vernachlässige (HGS 17, 474– 475). Horkheimer wird am 5. November antworten, dass „heute das Rechtfertigungssystem, die Ideologie, nicht mehr dieselbe Rolle spielt wie früher. Sie ist durchsichtiger und flüchtiger geworden. Keine hält mehr lange vor“ (HGS 17, 495). Das Argument verweist offensichtlich auf die Industrialisierung und Verflüssigung der Rechtfertigungssysteme, die nicht mehr eigentlich einen Halt bieten, sondern nur pragmatisch einsetzbar sind. In dem Austausch mit Neumann geht es zunächst um die Horkheimersche Provokation, dass die Racketverhältnisse auch in die Arbeiterorganisationen eingedrungen seien. Vor allem aber lässt uns folgender Satz aufhorchen: „You are pointing there to the positive function of the actual cynicism as it is gaining a hold over the masses.“ (HGS 17, 480) Neumann hatte nämlich bemerkt: „The disappearance of ideologies (die Entzauberung) is very well described. […] Cynicism may lead to Fascism + the acceptance of power wherever it resides. But it is also a precondition for a renaissance ‚an Haupt und Gliedern‘“. (HGS 17, 483) Das war eine unerwartete Verstärkung. Bei aller Uneinigkeit mit dem Grundkonzept gab Neumann zu, dass die Strategie des Zynismus gerechtfertigt ist. Alles in allem hätten sich die beiden Strömungen darüber einigen können, dass der Durchbruch der racketartigen Herrschaftsformen den Eintritt in ein neues Stadium des Kapitalismus markiert. Sie signalisiert den Übergang zum Postliberalismus und demnach auch zur Notwendigkeit einer postmarxistischen Theorie. Diese sei aber der Preis für das „Festhalten der radikalen Impulse des Marxismus“ (HGS 12, 597– 598).
6.3.2 Verbrechen Die „Theorie des Verbrechers“, die, wenn auch unter dem bescheideneren Titel „Aus einer Theorie des Verbrechers“, im Gegensatz zur Soziologie des Rackets in den veröffentlichten Band teilweise Eingang fand, beruht grundsätzlich auf derselben Prämisse: dem Faschismus als Aufhebung der bisherigen kapitalistischen Ordnung – und zugleich als deren äußerster Realisierung im „Regime der Verbrecher“ (242). Auch das Wesen des Verbrechens hängt ursprünglich mit dem
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Tausch zusammen. Die bürgerliche Ordnung ist nämlich „konsequente, organisierte Selbsterhaltung“ (HGS 12, 269), sie „ist an die Verfestigung privaten Eigentums geknüpft“, erfordert als solche „die Formulierung von Prinzipien und Gesetzen“ (HGS 12, 267) und beruht auf der Äquivalenz von Tat und Rache. Der Verbrecher setzt sich über diesen ganzen Zusammenhang des bürgerlichen Rechts und der bürgerlichen Gesellschaft hinweg: „Das Verbrechen ist die Tat schlechthin, Aneignung ohne Tausch.“ (HGS 269) Warum Horkheimer auf den Gedanken kam, der Theorie des Verbrechers einen solchen Platz einzuräumen (schon der unveröffentlichte Entwurf nimmt elf gedruckte Seiten in Anspruch), erhellt aus den verschiedenen Fragestellungen, die sie zu verknüpfen erlaubt. Ökonomisch und psychologisch lassen sich an ihr grundlegende Strukturen und archetypische Figuren der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaftsform darstellen, bis zu dem Punkt, an dem sich ihr aktueller diagnostischer Wert erweist: die Ersetzung des Tauschs durch die Tat, der ausgleichenden Rechtsverhältnisse durch die nackte Gewalt erscheint als eine Parallelerscheinung beziehungsweise als ein Symptom des Umkippens der kapitalistischen Produktionsweise in die faschistische: „Die Konzentration des Kommandos bringt die Gesellschaft wieder auf die Stufe unmittelbarer Herrschaft zurück.“ (241) Freilich war diese Entwicklung in der Wesensverwandtschaft des Verbrechens mit dem Durchbruch der kapitalistischen Wirtschaft vorgezeichnet. Solange der Begriff des Verbrechers „hält“, d. h. solange der Ausgleich von Verbrechen und Gesetz gelingt, wird der Gesellschaftsvertrag aufrechterhalten, in dessen Dienst der Staat das Amt der legitimen Gewalt ausübt. Dieser Ausgleich war die Garantie der Selbsterhaltung als dem obersten Zweck der bürgerlichen Kultur. Nur um derentwillen hatte sich der Bourgeois mit der rechtmäßigen Staatsgewalt angefreundet. Denn grundsätzlich, d. h. im Wesen des bürgerlichen Selbst, ist Selbsterhaltung von Egoismus nicht zu trennen. „Vor dem bürgerlichen Denken gibt es keine andre Sünde als die gegen das Prinzip des Selbst. Die konsequente, organisierte Selbsterhaltung wird vom Verbrecher zu Gunsten der beschränkten, anarchischen verletzt.“ (HGS 12, 269) Der Verbrecher ist alles in allem nur eine Figur, die den bürgerlichen Fortschritt an frühere Formen seines Durchbruchs erinnert (HGS 12, 272). Fragt man nun, warum hier nicht (oder nicht nur) eine Soziologie des Verbrechens, sondern viel eher eine Sozialpsychologie entwickelt wird, so liegt die Antwort auf der Hand: Der Verbrecher ist, wie bei Benjamin „der Allegoriker“, „der Flaneur“, „der Lumpensammler“ etc., die archetypische Figur, die das Heraufkommen eines neuen Gesellschaftstyps signalisiert beziehungsweise verkörpert. „Wo, wie in der Gegenwart, die Grenzen zwischen respektablen und illegalen Rackets objektiv fließend sind, gehen auch psychologisch die Gestalten ineinander über.“ (240) Parallel zu dieser Entwicklung entfaltet sich die „Anbetung der blinden Gewalt“ (HGS 12, 273), in der Täter und Opfer eine Rettung aus der Reproduktion der herrschenden Verhältnisse,
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wenn nicht gar die neue Form des Fortschritts sehen, da dieser ja immer mit der Transgression verbunden gewesen ist.
6.3.3 Absage an den „Fortschritt“ Diese Auffassung der Herrschaft hat verheerende Folgen für das Verhältnis der kritischen – geschweige denn revolutionären – Theorie zur Praxis. „Propaganda für die Änderung der Welt, welch ein Unsinn!“ (272). Auf den ersten Blick erinnert das sehr stark an Thomas Manns „Kriegsschrift“, die Betrachtungen eines Unpolitischen. Horkheimer (beziehungsweise Horkheimer und Adorno) drückt sein Misstrauen (ein Schlüsselwort der hier beginnenden Phase seines Denkens) gegenüber jedem Engagement aus, das er als eine Form der „Fusion von Geschäft und Politik“ (272), verstehe: als eine Ansteckung durch die um sich greifende Herrschaft des Rackets deutet. Was das politisch konkret, in Bezug auf den Glauben an einen politischen Fortschritt, und das heißt an Fortschrittlichkeit und an Politik zugleich, bedeutet, ist jenem „Denkmal der Humanität“ abzulesen, das die Front Populaire zugrunde gerichtet hat: dem gusseisernen Pissoir. Dem Pissoir wird hier gleichsam dieselbe epochale Bedeutung zuerkannt wie der Passage in Benjamins Projekt über das Second Empire (238). Alles in allem solle sich die kritische Philosophie darauf beschränken, die Wirklichkeit als Hölle darzustellen, um nicht der „routinierten Aufforderung, aus ihr auszubrechen“ (273), zu verfallen. Teil dieser dialektischen Strategie ist der provokative Bezug auf die „dunklen Schriftsteller der bürgerlichen Frühzeit“ und auf ihre Fortsetzer, wodurch wieder an den Zynismus angeknüpft wird. Es sind die Denker gewesen, die „dem Egoismus des Selbst das Wort redeten“ (97). Zu dieser Tradition gehören Nietzsche und auch Klages. Zu der Liste der „dunklen Schriftsteller“ ist nun auch noch ein wichtiger und auf den ersten Blick unerwarteter Name hinzuzufügen: Joseph de Maistre. Er erscheint im Stück „Quand même“, das mit einem großen geschichtsphilosophischen Bogen „von Demokrit bis Freud“ anhebt und bei genauem Hinsehen als ein Dialog mit Benjamin und eine Auseinandersetzung mit der politischen Theologie sich erweist. „Der Schluß“, schreibt Horkheimer, „daß Schrecken und Zivilisation untrennbar sind, den die Konservativen gezogen haben, ist wohl begründet.“ (227) Daran anschließend erwähnt er die Soirées de Saint-Petersbourg von De Maistre. Das erinnert an einen langen Brief, den Benjamin ihm am 6. Dezember 1937 schickte und in dem er ihn auf De Maistre aufmerksam machte, dessen Soirées zu seinem „livre de chevet“ geworden seien (Benjamin 1995, VI, 662).
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Joseph de Maistre vertritt in seinen „Soirées“ den in katholischen Kreisen gar nicht so selbstverständlichen Standpunkt, dass es für einen echten Christen in der Welt keine Wunder und keinen Zufall geben kann, wenn man überhaupt an die Möglichkeit des Wunders glauben soll (De Maistre 1895, 79). Gleichlautend heißt es in den Considérations sur la France: „Il n’y a point de hasard dans le monde, et même, dans un sens secondaire, il n’y a point de désordre, en ce que le désordre est ordonné par une main souveraine qui le plie à la règle, et le force de concourir au but.“ (De Maistre 2007, 271) Das führt ihn dazu, mit einer unerbittlichen Logik zu folgern, dass das Übel keine Ausnahme beziehungsweise Gelegenheit sein kann. Von hier ist nur noch ein Schritt bis zur Anerkennung des Radikal-Bösen. Die „Soirées“ sind insgesamt eine Reflexion über die Theodizee. Sie entzünden sich an dem „größten Skandal der menschlichen Vernunft“: „Le sujet que nous traiterons ne saurait être plus intéressant: ‚Le bonheur des méchants, le malheur des justes!‘ C’est le grand scandale de la raison humaine.“ (De Maistre 1895, 63) Um nichts anderes geht es bei Sade in Justine et les malheurs de la vertu, oder umgekehrt in Juliette ou les prospérités du vice, und das verbindet den Hinweis auf De Maistre mit dem Exkurs über Sade, der Max Horkheimer zu verdanken ist, beziehungsweise darüber hinaus mit der Funktion, die der späte Horkheimer dem „theoretischen Pessimismus“ zuweist. Dieser wird gegen den Glauben an einen Sinn der Geschichte ausgespielt – gegen die Auffassung, nach welcher es eine Garantie der Entwicklung gäbe, und das heißt sowohl gegen Hegel als auch gegen Kants Teleologie. Denn Horkheimer selbst zögert nicht, wie der 1955 abgefasste Aufsatz „Schopenhauer und die Gesellschaft“ es dokumentiert, es mit der These vom radikal Bösen aufzunehmen. In der Kritischen Theorie der 1930er-Jahre war das Übel hingegen nur ein historischer Zustand, dem die praktisch orientierte Geschichtsphilosophie ein Ende setzen sollte. An dieser Stelle erfasst De Maistre im Wesentlichen die Dialektik der menschlichen Vernunft beziehungsweise der Aufklärung: Der Mensch strebt nach Licht, aber das führt ihn, im Gegensatz zu den Tieren, die nicht mehr wissen wollen als ihre Vorgänger in der Gattung, nur immer mehr zur Einsicht in den Verfall und die Verderblichkeit (De Maistre 1895, 94– 95). Was in den späten Schriften Horkheimers, den Schriften der 1970er-Jahre, wieder als „Erbsünde“ angesprochen wird (Horkheimer 1971, 140), heißt in Eclipse of Reason „Geburtsfehler der Vernunft“, ein Fehler, der „untrennbar vom Wesen der Vernunft in der Zivilisation, wie wir sie bis jetzt gekannt haben“, ist (Horkheimer 1946, 164). Nichtsdestoweniger haben wir es hier mit etwas ganz anderem zu tun als mit „Kulturkritik“, denn „[d]ie Krankheit der Vernunft gründet in ihrem Ursprung, dem Verlangen des Menschen, die Natur zu beherrschen, und die ‚Genesung‘ hängt von der Einsicht in das Wesen der ursprünglichen Krankheit ab, nicht von einer Kur der spätesten Symptome“ (Horkheimer 1946, 164).
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Der Schluss, den das Stück „Quand même“ aus der „dunklen“ politischen Theologie der konservativen, oder gar reaktionären Denker zieht, stimmt im Kern mit dem berühmten Satz, nach dem die Hoffnung uns im Namen der Hoffnungslosen gegeben ist – und von daher „quand même“: [D]ie Genesis, die von der Vertreibung aus dem Paradies erzählt, und die Soirées de SaintPétersbourg stimmen darin überein. Im Zeichen des Henkers stehen Arbeit und Genuß. Dem widersprechen heißt aller Wissenschaft, aller Logik ins Gesicht schlagen. Man kann nicht den Schrecken abschaffen und Zivilisation übrigbehalten. Schon jenen zu lockern bedeutet den Beginn der Auflösung. Verschiedenste Konsequenzen können daraus gezogen werden: von der Anbetung faschistischer Barbarei bis zur Zuflucht zu den Höllenkreisen. Es gibt noch eine weitere: der Logik spotten, wenn sie gegen die Menschheit ist. (227)
Literatur Baars, Jan. 1989. Kritik als Anamnese. Die Komposition der Dialektik der Aufklärung, in: Kunnemann, Harry/de Vries, Hent (Hrsg.): Die Aktualität der Dialektik der Aufklärung. Zwischen Moderne und Postmoderne, Frankfurt a. M., 210 – 235 Benjamin, Walter. 1995 ff. Gesammelte Briefe, hg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz, 6 Bde, Frankfurt a. M. Bloch, Ernst. 1968. Erinnerungen, in: [ohne Hrsg.]: Über Walter Benjamin, Frankfurt a. M., 16 – 23 Desrosiers, Martin. 2014. Adornos Zoo. Animalität und Aufklärung, in: Plas, Guillaume/Raulet, Gérard (Hrsg.): Philosophische Anthropologie nach 1945. Rezeption und Fortwirkung, Nordhausen Gangl, Manfred/Raulet, Gérard (Hrsg.). 1998. Jenseits instrumenteller Vernunft. Kritische Studien zur „Dialektik der Aufklärung“, Berlin Heil, Susanne. 1996. Gefährliche Beziehungen. Walter Benjamin und Carl Schmitt, Stuttgart Hetzel, Andreas. 2011. Dialektik der Aufklärung, in: Adorno-Handbuch, hg. v. Richard Klein/Johann Kreuzer/Stefan Müller-Dohm, Stuttgart, 389 – 397 Horkheimer, Max. 1937. Traditionelle und kritische Theorie, in: Ders.: Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, Frankfurt a. M., 1970, 12 – 56 Horkheimer, Marx. 1967. Eclipse of Reason, dt.: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a. M. Horkheimer, Max. 1971. Pessimismus heute, in: Ders.: Sozialphilosophische Studien, Frankfurt a. M. 1972, 137 – 144 Kracauer, Siegfried. 1971. Zu den Schriften Walter Benjamins (1928), in: Ders.: Schriften Bd. 5.2, Frankfurt a. M., 119 – 124 Krüger, Heinz. 1957. Über den Aphorismus als philosophische Form. Mit einer Einführung von Theodor W. Adorno, München Kunnemann, Harry/de Vries, Hent (Hrsg.). 1989. Die Aktualität der Dialektik der Aufklärung. Zwischen Moderne und Postmoderne, Frankfurt a. M. Landauer, Karl. 1939. Intelligenz und Dummheit, in: Federn, Paul/Meng, Heinrich (Hrsg.): Das psychoanalytische Volksbuch, IV. Auflage, Bern, 160 – 174
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7 Kant in the Dialectics of Enlightenment In Dialektik der Aufklärung discussions of Kant’s ideas feature more than those of any other philosopher. Those discussions, however, rarely attempt to understand the argumentative structure of Kant’s philosophy. Kant’s ideas are invoked largely as an aide to gaining greater insight into the broader phenomenon of the evolution of modern reason. The text’s treatment of Kant’s work is, as a consequence, fragmentary and partial. Neither scholarly accuracy nor systematic reconstruction plays a role in Horkheimer and Adorno’s methodology. Sometimes Kant is presented as an important though typical enough enlightenment thinker, as blind as any other to the destructive power of totalizing reason. Yet Kant’s concepts of “synthesis” and “schematism” are also highlighted as amongst the most radical efforts to ground the Enlightenment interest in the mastery of nature. The text returns frequently to these concepts. Only occasionally are there acknowledgements that Kant’s conception of the limits of knowledge might actually separate him from a single-tracked scientistic rationalism. Perhaps the most critical assessment of Kant found in Dialektik der Aufklärung comes in the shape of associations made between Kant’s moral rigorism and the amoralism promoted in Sade’s Juliette. In order to gain an overview of the various uses to which Kant is put in Dialektik der Aufklärung this chapter will focus on the two most substantial topics. First is the relationship between transcendental idealism and enlightenment rationality. This topic will bring us to Horkheimer and Adorno’s interpretation of synthesis, schematism and the transcendental unity of apperception. The second section considers the identification of Kant’s moral theory with Enlightenment amoralism. Before concluding, Horkheimer and Adorno’s qualified moderation of their portrait of Kant as an arch Enlightenment thinker will be noted.
7.1 Transcendental Idealism and Enlightenment Rationality Horkheimer and Adorno were immersed in Kant’s philosophy long before they came to collaborate on Dialektik der Aufklärung. Both had written dissertations on various aspects of Kant’s critical philosophy. Little of that expertise is utilized in Dialektik der Aufklärung. Rather, a number of Kant’s concepts are treated in abstraction from the justifications provided in the first and second Kritik. DOI 10.1515/9783110448764-008
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Kant’s efforts to establish transcendental idealism as a solution to problems generated by empiricism and rationalism are not considered. Instead, the question Horkheimer and Adorno bring to their engagement with Kant is that of the degree to which transcendental philosophy assumes a fractured relationship between mind and nature.
7.1.1 Synthesis In the Kritik der reinen Vernunft Kant argues that perceived objects and events are not independently whole or combined. It is through a distinctive act of consciousness, to which he gives the general name “synthesis”, that objects gain the form in which they appear to us in experience. Consciousness therefore has a constituting capacity. In this respect, Kant’s theory directly contradicts the view of ordinary realism that our experience of objects is a passive process, one in which we simply record the inherent properties of objects. Synthesis is a form giving activity and, according to Kant, it operates under rules that lie within human consciousness. These rules, from which consciousness cannot deviate, explain why we experience the regularity of appearance of persistent objects, and also why it is that there is shared experience of objects and events. Synthesis might be considered one of the most central theses of the Kritik in that its justification requires Kant to develop a complex range of supporting elements. Among those elements are: the categories, which are, in effect, the rules of combination; judgment, which is the application of those categories; and the transcendental unity of apperception, in which an “identical” “Ich denke” is said to accompany all representations or ideas, and therefore permits the experience of the continuity of objects and events. Although the point is not emphasized by Kant the synthesis thesis implies that the world, considered in independence from the synthetic judgments of consciousness, is formless. What Kant maintains departs, in key respects, from some of the scientistic commitments that are associated by Horkheimer and Adorno with the modern Enlightenment. Most obviously, what Kant proposes is not a materialist reductionism, since for him objects cannot be explained solely in terms of their material constituents. Consciousness is also (not necessarily exclusively so) a constituting element. And further, although synthesis occurs according to rules, these rules are not themselves explicable as features of the spatio-temporal world. For this reason, some features of the judging consciousness can be said to be free of the laws of sufficient reason (i. e. space, time, causality) and therefore not subject to the conditions in which empirical processes operate. However, what is of interest to Horkheimer and Adorno, in their critique of the modern Enlightenment,
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is not exclusively the growing predominance of scientific rationality. They also attempt to understand the development of the distinctly modern notion of the human individual – of modern subjectivity – as an entity independent of nature. In the Kantian version of this notion the sovereignty of human beings consists, allegedly, in their power over nature. Order or form is brought to nature through the system of reason. Kant is taken by Horkheimer and Adorno as the most significant proponent of the view that meaning is produced through the subject’s constitutive actions upon the supposedly meaningless object (17). This account of meaning contributes to a “Verselbstständigung” of human thought (17). It is, though, they argue, gained at the expense of the integrity of independent objects and the relations that exist between them. In so far, then, as Kant promotes the autonomy and executive capacities of the subject – of consciousness – he is innocent of the scientism of which Dialektik der Aufklärung is famously critical. However, his advocacy of the constitutive subject aligns him with a key feature of the Enlightenment, the feature that Horkheimer and Adorno describe as the “Entzauberung der Welt” (11). Much of the discussion of the “Entzauberung der Welt” is concentrated in the first chapter of Dialektik der Aufklärung. In that chapter the dynamic of synthesis over the alleged chaos of nature is also examined (11), though Kant’s version of this idea is not referred to explicitly. It is in the later chapter on Anti-Semitism that the idea of synthesis as a specifically Kantian concept comes into view. Much of the force of the criticism developed by Horkheimer and Adorno against Kant’s synthesis thesis is based on the alternative claim that nature contains meaning prior to synthesis. Although this claim is a critical fulcrum, no theory of the independent meaningfulness of nature is set out. The approach Horkheimer and Adorno take is to identify the possibilities of experience that can be available only if nature is meaningful. What they argue, in essence, is that the Kantian picture of experience is a unidirectional process in which the subject acts without reciprocation upon an object. But what that process forgets is that experience arises because of the ways in which human beings respond to the objects they encounter. In real human experience individuals are, according to Horkheimer and Adorno, immersed “im Auf und Nieder der umgebenden Natur” (190). A central claim of Dialektik der Aufklärung is that the human tendency to respond to nature has been compromised by the advance of Enlightenment. Response is increasingly reduced to the business of applying the “correct” pre-existing category to objects. This observation has implications for the criticism of Kant’s notion of synthesis. Kant’s notion is not, in fact, identified as a case of bad epistemology. Rather, that epistemology captures the limited ways in which response is now possible. Response occurs according to rules. Horkheimer
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and Adorno foreground Kant’s contribution to this new disposition towards nature by citing his idea that knowledge is always “Rekognition im Begriff” (190). This Kantian phrase is taken from the section of the first Kritik (A, 103) in which the synthesis thesis is discussed. Recognition, in this theory, is not a responsive act. It is, rather, what Kant thinks of as a spontaneous act of the subject. Spontaneity here means acting without causality, but also acting within rules. In “Rekognition im Begriff” objects of nature become knowable by being subsumed under concepts/categories that belong to consciousness. It is a curiosity of the text that Horkheimer and Adorno, in the same chapter in which Kant’s notion of synthesis is criticized, appear also to consider synthesis more positively as, potentially, a non-distorting mode of experiencing objects. This discussion does not reference Kant, though it might be interpreted as an effort to rescue the activity of synthesis from Kant and the Enlightenment generally. In this context synthesis is contrasted with “blinder Subsumtion” (211). Real synthesis, it is claimed, is involved in any effort to understand how concepts or properties or experiences might fit together. Synthesis of this kind means the placing together of items that really are mutually related. The rejection of the Kantian variety of synthesis does not mean, then, that we must also reject the idea that experience involves an effort to form integral wholes through judgment. But that idea needs to be reframed so that it can accommodate the claim that genuinely responsive experience learns from objects. An example of a productive and responsive synthesis is found in our experience of artworks. In sustained experience of artworks we do not allow our “synthetic” judgments about what they are and mean to become final. Their objectivity defies a settled reaction, yet, as Adorno would later explain in Ästhetische Theorie, that reaction itself requires a dynamic subject. The experience of a work of art “ist Durchbruch von Objektivität im subjektiven Bewußtsein. Durch jene wird sie eben dort vermittelt, wo die subjektive Reaktion am intensivsten ist” (AGS 7, 363). There is an effort to bring unity to our experience of the work – a unity which is sensitive to what the work seems to want to do or say – but not a unity which closes off new ways of considering or engaging with the work.
7.1.2 Schematism Some of Horkheimer and Adorno’s discussions of Kant’s synthesis thesis focus specifically on the related thesis of schematism. Schematism forms part of Kant’s explanation of transcendental judgment. Transcendental judgment is distinguished from empirical judgment in that it is a condition of experience, and its action is therefore a priori. Through transcendental judgment, in which the
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so-called manifold of intuition is placed under a category, ordinary empirical experience is given objects about which it can then make empirical judgments. Kant, however, holds that transcendental judgment cannot be explained solely by reference to the pure categories of the understanding and the manifold of intuition which form its content. The categories are a priori, whereas what we gain through intuition is subject to time. Conceived in these terms the categories and intuition are opposed. Transcendental judgment must therefore contain a third dimension if we are to understand how it brings those two elements together in an experience. This element, schematism, must be “in Gleichartigkeit” (A138/B177) with the two other elements of judgment. Schematism, Kant says (and Horkheimer and Adorno cite, 197), is a “verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele” (A 141/B 181), in which intuition and category are mediated. Horkheimer and Adorno appear to acknowledge that a key feature of schematism contrasts with the “Erfahrungsverlust” (215) of the fully enlightened world. They claim that the epistemological experience of the culture industry is passivity. Individuals receive packaged narratives. All of the elements of works of the culture industry are intentionally designed so that there is no scope for a unique response to those works. According to Horkheimer and Adorno, experience of this type is determined by a kind of pre-schematism. The works are produced in ways that deprive the consumer of the kind of agency which, in fact, is at the centre of Kant’s notion of schematism: “Die Leistung, die der kantische Schematismus noch von den Subjekten erwartet hatte, nämlich die sinnliche Mannigfaltigkeit vorweg auf die fundamentalen Begriffe zu beziehen, wird dem Subjekt von der Industrie abgenommen” (152). This apparently favourable response to Kant’s idea of schematism is, however, at odds with the essentially critical appraisal of that idea found in Dialektik der Aufklärung. Horkheimer and Adorno’s generally critical discussion links schematism – an exceptionally technical part of Kant’s critical philosophy – with the key thought of Kant’s less formal essay on Enlightenment – a work which is certainly not based on transcendental analysis – “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?” In that essay Kant puts forward the view that emancipation from the restrictions of irrational tradition is possible for human beings who have reached a condition of “Mündigkeit”. Mündigkeit is closely related to the idea of autonomy. Both ideas refer to the capacity of human agents to determine for themselves what they will believe and how they will act. By contrast, “Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen” (quoted in 88). These claims, relating to the practical life, seem to have little to do with the a priori conditions of experience, the domain of schematism. The connection is made by Horkheimer and Adorno through the
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shared commitment of Mündigkeit and schematism to action constrained by rules. Kant may find external instruction to be an unworthy form of life for rational beings, but he does not licence anarchy as a higher alternative. Rather, nature – human nature, that is – must be brought into harmony with reason. Both external instruction and irrational human nature (desires) are opposed to the realization of true freedom, that is, of the freedom that is supposedly evident when one acts according to rules. In action of that kind the claims of our nature will be refashioned in two possible ways. They are either suppressed or they will be rechallenged through an endorsing principle, a principle which would be recognized as valid by all rational beings. What Kant does not appreciate, Horkheimer and Adorno maintain, is that Mündigkeit involves a hidden kind of subordination to reasons that do not originate with the agent. Kant’s description of true freedom, as action according to reasons that are shared by other rational beings, is really an abstraction which forgets that what is to count as a good idea or principle is always historically determined. In social reality valid normative principles are enmeshed with considerations of how the agent is to survive as an individual in his or her given context. The historical determination that is the focus of Horkheimer and Adorno’s study is that in which reason, supposedly geared towards emancipation, is, in fact, directed towards the control of nature: “Zugleich jedoch bildet Vernunft die Instanz des kalkulierenden Denkens, das die Welt für die Zwecke der Selbsterhaltung zurichtet und keine anderen Funktionen kennt als die der Präparierung des Gegenstandes aus bloßem Sinnenmaterial zum Material der Unterjochung” (90). It is this character of reason which connects Mündigkeit with schematism. Schematism, Horkheimer and Adorno claim, is not a genuinely transcendental action of consciousness but is – like Mündigkeit – an abstraction from a historical form of reason. The effort to bring about harmony between the categories of the understanding and the manifold of intuition is, again, nothing other than an effort to master nature. Kant’s description of schematism – which we have already seen – as a “verborgene Kunst” is, to Horkheimer and Adorno, evidence that Kant is insisting on the possibility of harmony, even as he also concedes that the mechanisms in which that harmony is produced remain unknown to us. What is invisible to Kant, though, is not the mechanism but the fact that reason in the age of Enlightenment insists on the subsumption of nature under usable categories. It contrives a unity between categories and alien nature through categorical compulsion (Hindrichs 2008, 305). In this respect schematism, like practical reason (as we shall see), is not a transcendental dimension of the human understanding, but one of historical praxis: “Die wahre Natur des Schematismus, der Allgemeines und Besonderes, Begriff und Einzelfall von außen aufeinander abstimmt, erweist sich schließlich in der aktuellen Wissenschaft
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als das Interesse der Industriegesellschaft” (90 – 1). The processes of the a priori understanding are now the processes of an historically specific interest. Kant is not portrayed as an apologist for industrial productivity. However, his notion of schematism is identified as a misrepresentation of essentially practical needs that obscure the real origin of those needs. It is on the basis of this criticism that Kantian schematism is interpreted as a theory of experience in its distorted form. According to Kant’s theory, schematism presents empirical consciousness with objects: without schematism experience of objects is therefore precluded. Likewise, Horkheimer and Adorno argue, what we can experience in everyday reality is determined by a schematism-like “Begriffsapparat” (91) which provides us with only limited forms of experience. Schematism in both its Kantian and everyday contexts, in short, expresses the historical state of experience: that only what is already subsumed under a concept over which, it seems, we have no control, is available in experience.
7.1.3 Synthetic Unity of Apperception A further dimension of Kant’s synthesis thesis discussed in Dialektik der Aufklärung is the theory of the synthetic unity of apperception. This theory concerns the conditions of consciousness that support the fundamental claim that the regularity of experience is attributable to the activities of consciousness. Objects are present in experience and knowable to us because of their a priori synthesis. The agency of that synthesis must be, Kant holds, a subject which itself endures throughout experience in some unchanging form. It cannot be changeable, as ordinary consciousness is, since it is actually the ground for the regularity and continuity of experience. An ever changing ground could not give us continuous objects. Kant sets out the idea in this way: “Nun können keine Erkenntnisse in uns stattfinden, keine Verknüpfung und Einheit derselben untereinander, ohne diejenige Einheit des Bewußtseins, welche vor allen Datis der Anschauungen vorhergeht, und, worauf in Beziehung, alle Vorstellung von Gegenständen allein möglich ist. Dieses reine ursprüngliche, unwandelbare Bewußtsein will ich nun die transzendentale Apperzeption nennen” (A 107). This unity of apperception is transcendental – it is also referred to as transcendental self-consciousness – in that it is the a priori condition of the possibility of objects for us. Kant also refers to this condition as the “Ich denke”, which is present identically throughout all experiences. Even this very brief sketch of Kant’s theory of the transcendental unity of apperception shows us that the theory does not concern empirical consciousness, i. e. the flux of thoughts and feelings of which we are aware in varying degrees. It
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is therefore not an attempt to capture the ways in which individuals experience their own inner lives or the ever changing shapes of the world around them. Horkheimer and Adorno, however, perceive Kant’s emphasis on the pure and invariant qualities of transcendental apperception as evidence of a quite new relationship between ordinary (i. e. non-transcendental) human subjects and nature. This critical theoretical interpretation of transcendental philosophy, which is found throughout Adorno’s work, might be criticized on one level as a mistaken reduction (e. g. Braun 1983, 191– 225), though that criticism loses sight of the broader question of how Kant situates consciousness vis-à-vis nature. Human beings bring unity to nature, but at the cost of a genuine interaction with it. This interaction is precluded, Horkheimer and Adorno claim, precisely because the subject is fixed. It – the “ewig gleiche Ich denke” (32) – cannot adjust to nature, but can only form it through its synthesizing activities. This synthesis, as we have seen, supposes that the material the subject forms is initially formless or chaotic. Synthetic activities are limited to what lie within the supposed capacities of the subject. Horkheimer and Adorno write: “Die disqualifizierte Natur wird zum chaotischen Stoff bloßer Einteilung und das allgewaltige Selbst zum bloßen Haben, zur abstrakten Identität” (16). As a direct consequence, nature will appear to this subject only in limited forms. A further implication of the prioritization of the “Ich denke” over nature, according to Horkheimer and Adorno, is that it offers a paradoxical explanation of what is to count as knowledge. On the one hand, they claim, knowledge of objects is possible in the Kantian theory only because of the synthetic function of the transcendental self, but, on the other, this very thesis means that what we know can be nothing more than what we have constituted. Knowledge can never, within that theory, be a gain in anything radically new since knowledge is conceived as nothing more than a process of discovering what consciousness has already constituted. And given that the constituting activities of consciousness are already limited, the conclusion drawn by Horkheimer and Adorno is that Kant’s theory allows experience to operate only within a circle. This reduces objects’ possibility, and that reduction gives philosophical ground to our interest in controlling them: “Naturbeherrschung zieht den Kreis, in den Kritik der reinen Vernunft das Denken bannte” (32). Control is facilitated by reducing objects to the limited forms of our productivity, whilst the subject, positioned as the transcendental “Ich denke” – the supposed determining element of experience – is correlatively elevated. This reference to the control of nature situates one of Kant’s transcendental claims, once again, within the historical realm. The “Ich denke” is interpreted as a particular variety of socially evolved human agency. Horkheimer and Adorno turn to psychoanalytic concepts to support this claim. They contend that the
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process of adaptation to the kind of civilization that is characteristic of industrial society requires the repression of the human capacity for mimetic behaviour (64). Mimesis means more than imitation. It involves transformative adjustment of the person to the thing that is being imitated. The person, not constrained by a fixed identity, is motivated to become more like that thing. Identity is the product of this meeting of the self with what it imitates mimetically: “In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts” (198). However, in societies that have developed through the force of Enlightenment rationality, according to Horkheimer and Adorno, there is a kind of behavioural discipline which prevents radical new experiences: “die rationale Praxis, die Arbeit” (189). This discipline is effective, it seems, because individuals come to perceive self-preservation within the terms of the behaviour that is socially demanded of them, a demand that is persuasive because it appeals to the identities they have gained though socialization: an economic actor, a citizen of a systematic state. Self-preservation, for this reason, refers to “psychological survival, that is the preservation of a ‘sense of self’ or ‘identity’, rather than merely biological survival” (Sherratt 2002, 90). Within this environment, mimetic behaviour appears to be disruptive and uneconomical since it takes the individual away from the prescribed form of life. This process of self-control, of “Verhärtung” (190), is what produces the “I”. Horkheimer and Adorno maintain that the “I” of transcendental philosophy is a philosophical expression of the ego or “I”. But the development of the “I” is more aptly captured, they maintain, by psychoanalysis as a theory of the organism’s adjustment to reality. If, then, the “I” of the Kantian “Ich denke” can be appropriately captured by psychoanalytic theory it is now to be re-read as the self produced in response to the conditions of contemporary reality. It is not, again, an a priori condition. As Horkheimer and Adorno put it: “Selbst das Ich, die synthetische Einheit der Apperzeption, die Instanz, die Kant den höchsten Punkt nennt, an dem man die ganze Logik aufhängen müsse, ist in Wahrheit das Produkt sowohl wie die Bedingung der materiellen Existenz” (94). Kant’s notion of the “Ich denke” captures abstractly the “I” already given in social reality. Horkheimer and Adorno’s engagements with Kant’s notion of the synthetic unity of apperception are not purely critical. Arguably, their own theory of knowledge emerges in response to Kant’s claims for the constitutive agent explained by transcendental self-consciousness. As an explicit revision of those claims Horkheimer and Adorno’s theory of knowledge is partially committed to some of the territory marked out by Kant. According to Horkheimer and Adorno, Kant’s theory acknowledges only the subject in the production of experience. They claim, by contrast, that experience is a process of “Vermittlung” – mediation – in which the subject reacts to the particularity of the outer world (198). At
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one level this is a direct contrast with Kant’s position, at least if Kant is to be understood as conceiving of experience as the product of general rules. Nevertheless, one aspect of Kant’s position is revised rather than completely rejected in the mediation theory of experience. According to this theory the subject is the creative dimension of experience, even as it seems simply to mirror the object. Objects are experienced by subjects as they endeavour to form concepts of those objects. Knowledge is not passive registration of an independently conceptual object. In this respect Horkheimer and Adorno agree with Kant. Where they differ, though, is in granting the object some kind of authority in what is to count as knowledge. The claim that “[u]m das Ding zu spiegeln, wie es ist, muß das Subjekt ihm mehr zurückgeben, als es von ihm erhält” (198) can make sense only if Horkheimer and Adorno hold that the object places some kind of demand on our epistemic activities. That demand cannot be met with the certainty, that, for example, naïve realism maintains. For naïve realism there is a kind of identity between what we claim the object is and what it independently is. In idealism the object is understood exclusively as the product of the subject’s judgments. In this respect the object is made identical to the subject: the idealist subject makes “die Umwelt sich ähnlich” (196). Horkheimer and Adorno, though, maintain that identity is excluded as a possibility. We respond fallibly to the demands of the object since an “Abgrund” (198) exists between the object and the subject. If the subject addresses itself to the object without prejudice, however, it will allow its judgments to be revised in the face of the object, “so daß dem wahrgenommenen Gegenstand sein Recht wird” (211). In this way genuine experience arises through the efforts of the subject, through its revisable conceptualizations, to close the distance to the object, though it can never finally succeed.
7.2 Kant and Enlightenment Amoralism Horkheimer and Adorno set out to show that the distinctive features of Kant’s moral philosophy, like his theory of knowledge, are based on the assumption of a disenchanted nature. In the preface to Dialektik der Aufklärung Horkheimer and Adorno claim that they will demonstrate “wie die Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt zuletzt gerade in der Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen gipfelt” (6). Kant’s moral system, together with Sade’s and Nietzsche’s, they claim, are the “unerbittlichen Vollender der Aufklärung” (6) in which nature is denigrated as the human spirit or intellect is granted authority over everything that is unlike whatever it takes itself to be. It is not only external nature that is relegated in this process. Equally, human sensuous nature becomes subject to rational control (42). Horkheimer and Adorno understand
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this subjection to be some kind of distortion of morality. By adopting this critical perspective they appear to posit an effective – though not necessarily harmonious – connection between nature and morality prior to the Enlightenment. No justification for that connection is offered, yet by assuming it Horkheimer and Adorno generate a series of radical accusations against Kant’s enterprise. Horkheimer and Adorno hold that what is damaged by, what they call, “[d]ie Herrschaft des Menschen über sich selbst” (62) are, in fact, the possibilities of the self itself. When human beings identify primarily with the capacity for calculation and planning – activities that supposedly define the species’ separateness from nature – much of what motivates them is obscured. By separating themselves from nature, and at the same time conceiving of themselves as subordinate to reason, human being lose an understanding of “alle die Zwecke, für die [sie] sich am Leben [erhalten]” (62). Horkheimer and Adorno’s thought is that the human form of self-preservation manifests itself in an interest in “gesellschaftliche[n] Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber” (62). Those purposes, it seems, can be considered to be motivated by what Horkheimer and Adorno think of as nature. Without nature, however, self-preservation becomes, they claim, an end in itself and not a means to an end. This shift is exemplified, Horkheimer and Adorno argue, in Kant’s effort to defend, through the categorical imperative, “die Pflicht der gegenseitigen Achtung” (92). Kant is interpreted as understanding this functional concept solely in terms of reason. This narrow focus, however, allegedly leaves him blind to the material interests and forces of violence that, Horkheimer and Adorno suggest, are the real reason mutual respect must be maintained. It seems, then, that real human interest in the maintenance – if not progression – of civilization, along with the threat of aggression, underpins mutual respect. Once human beings forget what this imperative is designed to achieve solutions to the problems of coordination are assessed purely on the basis of logical reasoning (95). This, however, leads to a form of morality which no longer refers to life, but to its own internal rules: “Die Nichtberücksichtigung der Kontexte erscheint dann als Unterdrückung der inneren und aüßeren Natur durch die Macht der in sich selbst ruhenden Vernunft” (Günther 1985, 232). Hence, for Horkheimer and Adorno, the architectonic structure of Kant’s moral system is evidence of its essential moral emptiness. It is nothing other than an exercise in organization in which every aspect of life gains a meaning exclusively through its incorporation into this system. That incorporation is decided on the basis of whether it can be defended on a principle which is acceptable to the abstract assessment of pure practical reason. What is lost sight of, however, is the need to base our principles on what we understand will serve our self-preservation. Kantian rationalism in
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forgetting the underlying demands of self-preservation is a reification of rational principles. Horkheimer and Adorno liken Kant’s architectonic to the imaginary games of Sade’s Juliette in which sensuousness conforms to the strict rules of sexual sport. These rules place an external and independent structure on the exercise of sensuality. Morality in Kant, like sensuality in Sade, is voided of substance once it is reified in this way. The moral life becomes a process of ratiocination without a moral end: “Sie ist zur zwecklosen Zweckmäßigkeit geworden” (96). It nevertheless bears the semblance of purpose because it is pursued with planning. This planning involves the subjugation of spontaneous inclinations. Human beings, understood as essentially rational actors, cannot permit themselves to surrender their autonomy to those inclinations. Those inclinations are wrongly understood as external to the agent. Kant’s Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre is quoted: “ohne daß die Vernunft die Zügel der Regierung in die Hände nimmt, jene [Gefühle und Neigungen – BO’C] über den Menschen den Meister spielen” (102). Morality, understood in this way, involves the application of rules which are produced by the intellect, and have no basis in feeling or inclination. And, returning to the claims of Kant’s essay on Enlightenment, morality of this kind really involves “das von Bevormundung befreite bürgerliche Subjekt” (93). The subject is free, in accordance with whatever set of purely rational precepts it chooses, to act as it wishes. This is a disastrous consequence of the new “Mündigkeit”. The Kantian process is mirrored, according to Horkheimer and Adorno, in Sade’s Juliette. They cite one passage in which Juliette gives instruction on how to assume the qualities of a ruthless murderer. The process involves mastery over certain inconvenient inclinations, from facial expressions to conscience. And perfect planning, rather than spontaneous action, is essential. Horkheimer and Adorno consider conscience to be a kind of feeling, a feeling that the purely rational actor is forced to abandon: “Die Freiheit von Gewissensbissen ist vor der formalistischen Vernunft so essentiell wie die von Liebe oder Haß” (102). This abandonment of feeling is evident too in the case of pity (Mitleid). Clairwil – another of the amoral protagonists of Sade’s Juliette – rejects the idea that pity is a virtue. Rather, Horkheimer and Adorno report, pity is for Clairwil a weakness which stands as an obstacle to the kind of self-possession she variously recommends. That self-possession is a state of being in which what convention perceives as the cruellest actions can be conducted in perfect coldness: without “Erschütterung” (109). Horkheimer and Adorno, once again, find the same tendency in Kant. They cite a passage from his Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen in which pity is described as lacking “die Würde der Tugend” (109). Horkheimer and Adorno do not, though, as Freyenhagen points out, simply replace reason with feeling, sharing with Kant the worry about its preca-
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riousness of sentiment based law (Freyenhagen 2013, 130). Nevertheless, the text hints at something more promising in morality shorn of all calculation. Kant’s moral philosophy is not conflated by Horkheimer and Adorno with the amoral precepts of Sade’s characters. Their thesis is that those two positions converge, in spite of the profoundly different intentions behind their respective projects. This is because in both cases nature is placed under the control of a form of reason that has become a value in itself. Sade’s violent protagonists seek to destroy our ties to moral convention by replacing empathy with calculation and disciplined coldness. Kant does not, of course, reject conventional morality. But Horkheimer and Adorno argue that his rational reconstruction of moral motivation separates morality from the actual interests of moral experience. Morality is validated by the structure of a particular form of judgment. Once our moral inclinations are excluded from a rational moral system we are left only with the rules of reason to guide us. Those rules, however, have no moral substance and they may just as easily be employed, as they are in Sade, to defend cruelty (a critical point Hegel too had made in his Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 139).
7.3 Transcendental Idealism versus Scientism Kant’s philosophy, as we have seen, is broadly characterized in Dialektik der Aufklärung as promoting autonomous reason at the expense of nature. The case is made by emphasizing the range of theses that surround Kant’s ideas of synthesis and, in the context of the moral philosophy, his rationalist account of moral motivation. Kant, however, is not aligned by Horkheimer and Adorno with the scientistic ideology of the Enlightenment. This is the ideology which holds both that the only real things in the world are those which can be confirmed by scientific method and that scientific method is the exclusively valid exercise of reason. The problem with that method, Horkheimer and Adorno repeatedly argue, is that its criterion of evidence is narrowed to what is empirically “positive”: it engages only with what lies ready for empirical investigation. No exploration of the unseen conditions (in the case of its social science versions) that give us the world that confronts us falls within its range of activities. Horkheimer and Adorno write: “Dem Positivismus, der das Richteramt der aufgeklärten Vernunft antrat, gilt in intelligible Welten auszuschweifen nicht mehr bloß als verboten, sondern als sinnloses Geplapper” (32). Significantly, the word “intelligibel” refers to Kant’s notion of a conceptual space which is irreducible to the laws within which the sciences of the physical world operate effectively. It is on the basis of this separation of what we now call the space of rea-
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sons from the space of causes that Kant believes he is justified in making, respectively, a distinction between what we may think and what we can know. The limits of strict knowledge are marked by what transcendental idealism can explain. But Kant continued to believe that there are enduring concerns of human experience that cannot be resolved within transcendentally grounded understanding (namely, the concern for freedom, immortality, the soul and God). Furthermore, philosophical enquiry demonstrates that no theoretical resolution – for or against – these concepts is possible. In spite of their forceful critique of Kant’s commitment to formal reason Horkheimer and Adorno acknowledge that Kant’s interest in preserving practical freedom is an endeavour “die Möglichkeit der Vernunft zu retten” (101). It would, in other words, be irrational to rescind our interest in those existentially profound questions simply because they are not discussable within the space of causes. Horkheimer and Adorno occasionally remind us of this feature of Kant’s philosophy, thereby separating him from one of the Enlightenment’s central objectives. Even where Kant grants authority to science in the space of causes Horkheimer and Adorno distinguish his position from scientism. The basis of that distinction is found in Kant’s effort to provide scientific knowledge with philosophical foundations, an effort which led “zu Begriffen, die wissenschaftlich keinen Sinn ergeben” (92). The very process of reflecting on those foundations rather than asserting the authority of science produces a self-understanding which, Horkheimer and Adorno contend, “widerstreitet dem Begriff der Wissenschaft selbst” (92). Kant’s theory of synthetic a priori propositions, for example, might well be designed to capture the kinds of epistemic claims that make up valid and reliable scientific knowledge, but the very idea of a synthetic a priori proposition is not itself a thesis that is immanent to scientific practice. It belongs to transcendental philosophy. The standpoint of transcendental philosophy is necessarily outside the space of empirical determination: it is the space of reason. Later Adorno would write that Kant’s reflective engagement with science, together with his maintenance of the intelligible sphere, is an effort to intervene “in die Dialektik der Aufklärung… wo sie in der Abschaffung von Vernunft selbst terminiert” (AGS 6, 377– 378). Kant’s philosophy is positioned on one side of the tension between idealism and materialism, the latter being the dominant assumption of the Enlightenment. In this regard Kant can be understood as providing a kind of opposition to that assumption. Nevertheless, his alternative, that of granting constitutive capacities to the transcendental subject, ultimately supports the very idea of the mastery of nature and the elimination of meaningful interaction with objects.
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Bibliography Braun, Carl. 1983. Kritische Theorie versus Kritizismus: Zur Kant-Kritik Theodor W. Adornos, Berlin/New York Freyenhagen, Fabian. 2013. Adorno’s Practical Philosophy: Living Less Wrongly, Cambridge Günther, Klaus. 1985. Dialektik der Aufklärung in der Idee der Freiheit. Zur Kritik des Freiheitsbegriffs bei Adorno, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 39. Jg./H. 2, 229 – 260 Hindrichs, Gunnar. 2008. Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt a.M. Sherratt, Yvonne. 2002. Adorno’s Positive Dialectic, Cambridge
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8 Die Dialektik in der Dialektik der Aufklärung. Die Spur Hegels 8.1 Hegel bei Adorno und Horkheimer An zentralen Punkten ihrer Argumentation zitieren Adorno und Horkheimer Hegel. An der Stelle in der Dialektik der Aufklärung, an der die Tendenz der Aufklärung diskutiert wird, jede beliebige geistige Äußerung und Haltung ohne Ausnahme der Kritik zu unterziehen (12), wird auf diejenige Passage aus Hegels Phänomenologie verwiesen, in der dieser die Aufklärung mit einer „Krankheit“ und ihre Wirkung mit einer „durchdringenden Ansteckung“ vergleicht (PhG, 402– 404). Das fassen Adorno und Horkheimer in der zentralen These zusammen: „Aufklärung ist totalitär“ (12). Dort, wo mit der „repressiven Egalität“ die konkreten politischen Folgen dieses Totalitarismus benannt und mit der „Organisation der Hitlerjugend“ verglichen werden (19), wird Hegels These aus der Phänomenologie zitiert, daß es zu den zentralen Zielen der Aufklärungsbewegung gehöre, daß der Mensch „sich zum gemeinnützlichen und allgemein brauchbaren Mitgliede des Trupps zu machen“ habe (PhG, 416). Und dafür, dass es sich dabei nicht etwa lediglich um eine kontingente Begleiterscheinung des historischen Phänomens der Aufklärung handelt, sondern um eine innere totalitäre Konsequenz der „Bewegung des Gedankens selbst“ (26), wird wiederum Hegel als Gewährsmann zitiert, der „wie kein anderer es besser wußte“ (ebd.). Aus einer kurzen Bemerkung am Anfang des Odysseus-Exkurses, die eigentlich auf Nietzsche gemünzt ist, geht zudem hervor, dass Adorno und Horkheimer klarerweise der Auffassung waren, dass bereits Hegel selbst die These von der Dialektik der Aufklärung formuliert und ausgeführt hat: „Nietzsche hat wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt.“ (50). Auch andere Theoreme der Hegelschen Phänomenologie werden in der Dialektik der Aufklärung direkt angewendet. So wird die Einbettung menschlicher Arbeit und Produktion, die Adorno und Horkheimer bereits am Beispiel von Odysseus erörtern (41 f.), anhand einer zentralen Passage aus der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie erläutert (41; vgl. PhG, 151). Adorno und Horkheimer übernehmen von Hegel aber nicht nur einzelne Motive der Aufklärungskritik, sondern auch und vor allem die Einschätzung einer bewußten Fortführung der konstruktiven Kräfte der Aufklärung; das erläutern sie DOI 10.1515/9783110448764-009
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an einem Strukturelement von Hegels Dialektik: „Mit dem Begriff der bestimmten Negation hat Hegel ein Element hervorgehoben, das Aufklärung von dem positivistischen Zerfall unterscheidet, dem er sie zurechnet.“ (30) Diese Bezugnahme auf Hegels Dialektik macht deutlich, dass es Adorno und Horkheimer auf einer grundsätzlichen Ebene um die Methode – und zwar insbesondere auch um die Methode der Dialektik der Aufklärung selbst – geht. Anders gesagt: Der Skopus der Dialektik erstreckt sich nicht lediglich auf die Aufklärung, sondern insbesondere auch auf die Dialektik der Aufklärung. Der Titel des Buches ist also doppeldeutig. Einerseits besagt er, dass der Gegenstand der Untersuchung, die Aufklärung, einer ihm eigentümlichen Dialektik unterliegt; andererseits ist es das besondere dialektische Vorgehen der Untersuchung selbst, das diese Dialektik explizit ins Bewusstsein treten lässt. Adorno und Horkheimer praktizieren selbst dialektisches Denken. Allerdings finden sich in der Dialektik der Aufklärung kaum metatheoretische Reflexionen über Dialektik. Es bedarf deshalb eines Umwegs, um die systematische Tragweite des Hegel-Bezuges besser einschätzen zu können, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen lassen sich die spezifischen Züge des dialektischen Denkens von Adorno und Horkheimer in Auseinandersetzung mit Hegels Phänomenologie des Geistes, die überall im Hintergrund steht, hinreichend klar rekonstruieren. Zum anderen lassen sich die systematischen Spuren dieser Auseinandersetzung anhand der metatheoretischen Reflexionen in anderen Schriften vor allem von Adorno klar verfolgen und belegen. Wir sind also gezwungen, den Wortlaut der Dialektik der Aufklärung im folgenden zunächst in den Hintergrund treten zu lassen. Allerdings führt die Erschließung der tragenden Thesen zur Dialektik anhand der beiden genannten alternativen Textstränge überall ins systematische Zentrum der Dialektik der Aufklärung selbst.
8.2 Dialektik als immanente Kritik Der primäre Sinn von Dialektik in der Dialektik der Aufklärung ist derjenige der immanenten Kritik. 1957 erläutert Adorno diesen Sinn, indem er sagt, daß mir das dialektische Verfahren eigentlich nichts anderes heißt, als die konsequente Anwendung der Methode immanenter Kritik, also der Methode innerhalb der Sache selbst, ohne Beziehung auf ein ihr Fremdes, Vorgegebenes, ihrer eigenen Wahrheit und Falschheit nachzugehen […]. Dialektik ist nicht ein Verfahren, […] das von außen her irgendwelche fertigen Begriffe heranbringt […], sondern im Gegenteil, Dialektik ist, wie es Hegel wörtlich formuliert hat, das ‚reine Zusehen‘, also das der Sache selber Sich-Überlassen im Vertrauen darauf, daß die Sache […] ihre Kriterien in sich selber hat (ANS IV.17, 242).
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Adorno zitiert hier die Einleitung aus Hegels Phänomenologie (PhG, 77). Mit Bezug auf diesen Schlüsseltext haben Adorno und Horkheimer ihr Verständnis von immanenter Kritik ausgearbeitet. Dialektik ist zunächst Kritik. Sie muss sich daher auf etwas beziehen, das kritikfähig ist, und das heißt, dass sie mit Gegenständen zu tun haben muss, die einen Wahrheitsanspruch erheben. Beispiele dafür sind nach Adorno Theorien und Kunstwerke. Letztere werden in der Dialektik der Aufklärung dort behandelt, wo Adorno den ideologischen Charakter der Kulturindustrie mit dem Wahrheitsanspruch der avantgardistischen Kunst konfrontiert (138 – 139). Im Folgenden wird es aber nur um die Kritik von Theorien gehen. Hegel erwägt in der Phänomenologie zwei Grundtypen der Kritik. Zum einen könnte man eine Theorie „als eine gemeine Ansicht der Dinge nur verwerfen, und versichern, daß [man selbst] eine ganz andere Erkenntnis“ hat (PhG, 71). Wer so verfährt, erklärt die eigene Theorie für wahr und verurteilt die konkurrierende Theorie als falsch – und zwar nach dem Maßstab der eigenen Theorie, den die kritisierte Theorie gar nicht vertritt. Es handelt sich also um eine externe Kritik. Sie ist nach Hegels Einsicht fruchtlos und mündet in eine Pattsituation: „ein trockenes Versichern gilt aber gerade so viel als ein anderes“ (PhG, 71). Der zweite Typ der Kritik ist demgegenüber die immanente Kritik. Sie verwendet zur Prüfung ausschließlich Thesen und Kriterien, auf die sich die kritisierte Theorie selbst festlegt. Kritik in diesem Sinne besteht im Nachweis von Selbstwidersprüchen der kritisierten Theorie. Der Nachweis eines Selbstwiderspruchs bedeutet die Falsifizierung der Theorie in ihrer bisherigen Gestalt. Dabei ist die immanente Kritik eine Explizierung dessen, was in der fraglichen Theorie zwar enthalten, ihr selbst aber verborgen geblieben ist. In diesem Sinne sagt Hegel, dass die immanente Kritik sich auf „das reine Zusehen“ beschränken kann (PhG, 77). Die Idee der immanenten Kritik lässt sich bis in Adornos frühe Arbeit Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre von 1927 verfolgen (AGS 1, 113 f., 116, 118). In der 1955/56 geschriebenen Einleitung zu den HusserlStudien Zur Metakritik der Erkenntnistheorie charakterisiert Adorno immanente Kritik folgendermaßen: Sie opponiert nicht sowohl der [Husserlschen] Phänomenologie durch einen dieser äußerlichen und fremden Ansatz oder ‚Entwurf‘, als daß sie den phänomenologischen mit seiner eigenen Kraft dorthin treibt, wohin er um keinen Preis möchte, und ihm mit dem Geständnis der eigenen Unwahrheit Wahrheit abnötigt. (AGS 5, 14)
Noch in den sechziger Jahren, als Adorno im Positivismusstreit die Kritische Theorie insgesamt als „Dialektik“ der positivistischen Sozialwissenschaft entgegensetzt (z. B. AGS 8, 280), charakterisiert er sie als immanente Kritik (AGS 8, 281,
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304– 305). In der Dialektik der Aufklärung selbst finden sich wörtliche Spuren der immanenten Kritik zwar nur an der Stelle, an der die Autoren dem Glauben einen „immanenten Widerspruch“ vorwerfen (26); doch steht sie im Hintergrund des gesamten Buches. Die immanente Kritik ist nicht darauf beschränkt, Widersprüche zwischen Aussagen nachzuweisen. Adorno hat sich von Kritikmodellen distanziert, die nur die „Einstimmigkeit der Erkenntnis“ untersuchen wollen und dabei „formalistisch“ werden (AGS 8, 304 – 305). Bereits Hegel hatte in der Phänomenologie drei verschiedene Grundformen von Selbstwidersprüchen aufgezeigt. Theoretische Selbstwidersprüche im engeren Sinne, also Widersprüche zwischen Aussagen, sind das Thema der ersten drei Kapitel. Mit der Einführung des Selbstbewusstseins im vierten Kapitel diskutiert Hegel aber auch das Verhältnis von Theorie und Praxis. Wenn eine Theorie eine Konzeption von selbstbewussten und handelnden Subjekten enthält, dann ist es möglich, dass ihr theoretischer Gehalt zu ihren praktischen Konsequenzen in Widerspruch tritt. Der Stoizismus etwa behauptet, dass der Mensch trotz aller natürlichen und sozialen Abhängigkeiten absolut frei sei. Die praktizierte stoische Haltung läuft aber nach Hegel darauf hinaus, die konkreten Abhängigkeiten lediglich abstrakt durch die Flucht in die Gedanken zu negieren. So bleibt er praktisch unfrei, was im Selbstwiderspruch zu seiner Theorie steht (PhG, 155 – 159). Im „Geist“-Kapitel der Phänomenologie diskutiert Hegel schließlich auch das Verhältnis zwischen Theorie, Praxis und Ausgestaltung der sozialen Lebenswelt. In den Gestaltungen des „Geistes“ (etwa Rechtsordnungen, Arbeits- und Wirtschaftsformen, Praktiken und Institutionen) werden die geistigen Leistungen selbstbewusster Subjekte auf dauerhafte Weise manifest. Für die immanente Kritik ist dabei entscheidend, dass Theorien auch in die Gestaltung der sozialen Lebenswirklichkeit eingreifen. Dabei können praktische und performative Widersprüche vielfältiger Art auftreten. So ist für Hegel die französische Revolution von 1789 das Beispiel einer theoriegeleiteten Umgestaltung der sozialen Lebenswelt, die zur konkreten institutionellen Realität in Widerspruch tritt: Sie terminiert in der Schreckensherrschaft der jakobinischen Diktatur und damit in absoluter Unfreiheit (PhG, 431– 441). Der immanente Widerspruch besteht hier zwischen der Theorie, der nach ihr eingerichteten sozialen Wirklichkeit und den konkreten Handlungen, die sie (un‐)möglich macht. Nicht immer lassen sich die Selbstwidersprüche, die Hegel in der Phänomenologie untersucht, einer der drei genannten Formen eindeutig zuordnen. Für Hegel sind die Positionen, die er einer immanenten Kritik unterwirft, nicht einfach nur Theorien, sondern umfassende Bewusstseins- oder Geistesgestalten, nämlich Gesamtformationen von Theorie, Praxis und gestalteter sozialer Wirklichkeit. Das gilt insbesondere für die Aufklärung.
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8.3 Dialektik als bestimmte Negation Die Phänomenologie des Geistes ist auch deswegen das Vorbild der Dialektik der Aufklärung, weil Hegel zu zeigen versucht hat, dass aus dem Nachweis von Selbstwidersprüchen konstruktive Konsequenzen gezogen werden können. Aus der destruktiven immanenten Kritik kann ein konsequent durchgeführtes dialektisches Denken werden. Adorno hat dessen Notwendigkeit in seinen HusserlStudien Zur Metakritik der Erkenntnistheorie betont: „Diesen Widerspruch läßt aber der dialektische Gedanke nicht abstrakt stehen, sondern nutzt ihn als Motor der begrifflichen Bewegung bis zur bündigen Entscheidung über das […] Behauptete.“ (AGS 5, 14) Alle dialektischen Positionen in der Geschichte der Philosophie sehen in der immanenten Kritik eine notwendige Bedingung für Dialektik. In den Platonischen Frühdialogen werden die Auffassungen der sokratischen Dialogpartner als inkonsistent erwiesen. Daraus hat Aristoteles Dialektik als Technik der Topik entwickelt, die mit Hilfe eines umfangreichen Überprüfungskataloges Trugschlüsse aller Art entlarven will. In beiden Fällen stellt die immanente Kritik keinen Erkenntnisfortschritt dar. Das ändert sich mit Kant. In der Kritik der reinen Vernunft analysiert Kant metaphysisch-kosmologische Theorien über das Universum. Aus deren Grundannahmen lässt sich der Widerspruch herleiten, dass die Welt sowohl unendlich als auch nicht unendlich sein muss. Den Grund für diesen Widerspruch sieht Kant in der metaphysischen Annahme, dass Aussagen über absolut unendlich große Gegenstände objektiv gültig sind, obwohl wir sie prinzipiell nie erkennen können. Diese Überzeugung definiert eine Position, die Kant transzendentaler Realismus nennt.Weil sie in den Selbstwiderspruch der Kosmologie führt, muss sie aufgegeben und durch die ihr (aussagenlogisch) entgegen gesetzte Überzeugung ersetzt werden, dass Aussagen über absolut unendlich große Gegenstände nicht objektiv gültig sind. Das definiert eine neue Position, die Kant transzendentaler Idealismus nennt. Die durch immanente Kritik aufgewiesenen Selbstwidersprüche transzendentalen Realismus sind nach Kant ein „indirekter Beweis“ für die universale Wahrheit des transzendentalen Idealismus (KrV, A 506 – 507/B 534– 535). Hegel führt für diese begründungstheoretische Struktur den Terminus „bestimmte Negation“ ein (PhG, 74). Sie enthält drei Schritte. Zunächst weist die immanente Kritik einen Selbstwiderspruch innerhalb einer Theorie (oder einer Gesamtformation von Theorie, Praxis und Gestaltung) nach. Das zieht die Aufgabe wenigstens einer der inkonsistenten Überzeugungen nach sich. Da es dafür mehrere Kandidaten geben kann, scheint unklar zu sein, auf welchen die Wahl fallen sollte. Aber Hegel denkt an Situationen, in denen jeweils die wesentliche
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Überzeugung im Mittelpunkt steht, die die fragliche Theorie definiert. Sie ist es, die in diesen Fällen aufgegeben werden muss. Dann ist aber der dritte Schritt möglich, die rationale Begründung einer positiven Gegenposition: „Das Nichts ist aber nur, genommen als das Nichts dessen, woraus es herkommt, in der Tat das wahrhafte Resultat; es ist hiermit selbst ein bestimmtes und hat einen Inhalt.“ (PhG, 74) Durch die Aufgabe der fraglichen Theorie legen wir uns nicht nur darauf fest, dass die definierende Überzeugung dieser Theorie falsch ist, sondern auch, dass ihre Negation wahr ist: Kants Widerlegung der traditionellen Kosmologie ist ein indirekter Beweis für die Wahrheit der Überzeugung des transzendentalen Idealismus, und Hegels Widerlegung der sinnlichen Gewissheit (im ersten Kapitel der Phänomenologie) ist ein indirekter Beweis für die Überzeugung, dass die adäquate Erkenntnis keine nicht-begriffliche, sondern eine begriffliche Erfahrung ist. Dadurch wird aber jeweils eine neue Theorie definiert: „Indem dagegen das Resultat, wie es in Wahrheit ist, aufgefasst wird, als bestimmte Negation, so ist damit unmittelbar eine neue Form entsprungen, und in der Negation der Übergang gemacht“ (PhG, 74). Der Kritiker steht vor der Aufgabe, die neue Theorie positiv aus ihrer definierenden Überzeugung zu entwickeln. Zum Beispiel interpretiert Hegel die Struktur einer begrifflichen Erfahrung, die sich als bestimmte Negation der sinnlichen Gewissheit ergeben hat, als Praxis des empirischen Urteilens, bei dem die Wahrnehmung der Wirklichkeit eine zentrale Rolle spielt. Hegel wird dann diese Nachfolgeposition ihrerseits zum Gegenstand einer immanenten Kritik machen. Der konstruktive Schritt hat dabei allerdings nicht immer die einfache Gestalt einer aussagenlogischen Negation. Auch komplexe Gesamtformationen von Theorie, Praxis und Gestaltung können sich auf dem Wege der bestimmten Negation auseinander ergeben. So ist zum Beispiel die Überzeugung der unbedingten Geltung der Subjektivität als Grundprinzip der modernen Kulturen nach Hegel dadurch gerechtfertigt, dass die klassischen antiken Kulturen in Ermangelung dieses Prinzips die „Tragödie im Sittlichen“ hervorbringen und auf diese Weise scheitern; diese Rechtfertigungsstruktur wird in der Phänomenologie im Übergang von der „Sittlichkeit“ zum spätantiken „Rechtszustand“ nachvollzogen (PhG, 354– 355). In ihrer Analyse des Begriffs der Aufklärung wenden Adorno und Horkheimer die Struktur der bestimmten Negation, unter Rückgriff auf die zitierten Passagen aus Hegels Phänomenologie, explizit an (30 – 31). In Adornos Drei Studien zu Hegel wird die konstruktive Kraft der bestimmten Negation betont: „Fruchtbar ist nur der kritische Gedanke, der die in seinem Gegenstand aufgespeicherte Kraft entbindet“ (AGS 5, 318). Noch in der Negativen Dialektik hat Adorno den konkreten „Erfahrungsgehalt“ der bestimmten Negation hervorgehoben: „Weiß der Erkennende genau genug, was einer Einsicht fehlt oder worin sie falsch ist, so pflegt er kraft solcher Bestimmtheit das Vermißte bereits zu haben.“ (AGS 6, 161 Anm.)
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8.4 Dialektik als Bewegung des Gegenstandes Wir waren von Adornos eigener Charakterisierung der Dialektik ausgegangen: „Dialektik ist, wie es Hegel wörtlich formuliert hat, das ‚reine Zusehen‘, also das der Sache selber Sich-Überlassen im Vertrauen darauf, daß die Sache […] ihre Kriterien in sich selber hat“ (ANS IV.17, 242). Hier sagt Adorno, dass Dialektik auch ein „der Sache selber Sich-Überlassen“ und damit eine Entwicklung des Gegenstandes sei. Das hatte bereits Hegel betont: „in der Veränderung des Wissens ändert sich [dem Bewußtsein] in der Tat auch der Gegenstand selbst“ (PhG, 78). Die Revisionsdynamik zwischen Positionen lässt auch die in diesen Positionen thematisierten Sachen nicht unverändert. Der paradigmatische Gegenstand der neuen Position ist die bestimmte Negation des paradigmatischen Gegenstandes der widerlegten Position. So beziehen sich in der Phänomenologie die sinnliche Gewissheit und die Wahrnehmung nicht etwa auf denselben Gegenstand. Die sinnliche Gewissheit konzipiert den Gegenstand der Erfahrung als unmittelbares Sein. Für den Wahrnehmungstheoretiker besteht die Wirklichkeit dagegen aus beobachtbaren Einzeldingen mit vielen Eigenschaften. Das setzt sich in den folgenden Kapiteln fort: Wer das naturwissenschaftliche Weltbild der klassischen Mechanik vertritt, baut die Wirklichkeit aus bewegten Massepunkten auf, die in einem Wechselspiel von Kräften stehen. Für den Biologen besteht die Wirklichkeit aus lebendigen Organismen. Für den Soziologen sind dagegen alle Gegenstände letztlich gesellschaftliche Gegenstände. Unterschiedliche Weltbilder haben auch unterschiedliche Gegenstände. Der Punkt ist nicht etwa, dass die Gegenstände der Wirklichkeit ihre Existenz den jeweiligen Theorien oder Weltbildern verdankten. (Das ist zwar bei Artefakten und sozialen Institutionen tatsächlich der Fall, aber selbst hier ist die Gestaltung jeweils an Material gebunden, das unabhängig von ihr existiert.) Der Punkt ist vielmehr, dass alles, was wir von der Beschaffenheit der Gegenstände verstehen und aussagen können, von den Grundüberzeugungen des jeweiligen Erklärungsansatzes abhängig ist. Was Hegel ablehnt, ist die Vorstellung einer unabhängig von allen Theorien absolut festgelegten qualitativen Struktur der Wirklichkeit und ihrer Gegenstände. Gäbe es sie, dann wären die verschiedenen Theorien nur verschiedene Versuche, sie angemessen abzubilden. Aber die Annahme einer derartigen Struktur ist eine ungerechtfertigte Annahme, denn wir verfügen nicht über einen Standpunkt außerhalb aller unserer Beschreibungen, von dem aus uns diese absolute Struktur zugänglich wäre. Deshalb ist alles, was wir gerechtfertigterweise über die Wirklichkeit sagen können, dass wir ihre Struktur und die Beschaffenheit ihrer Gegenstände stets nur ontologisch relativ zu unseren Beschreibungen von ihr verstehen und aussagen können. Aber dann
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verändert sich tatsächlich im Übergang von einem Weltbild zum anderen alles, was wir in inhaltlich bestimmter Weise von der Struktur und der Beschaffenheit der Gegenstände verstehen und aussagen können. Das hat zwei wichtige Konsequenzen. Zum einen sagt Hegel, dass jeder Übergang zwischen Positionen eine Erfahrung über den Gegenstand ist: „Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird“ (PhG, 78). Einerseits gilt: Nachdem in den Grundüberzeugungen der ersten Position ein Widerspruch nachgewiesen worden ist, sind die Grundüberzeugungen der neuen Theorie relativ zur ersten gerechtfertigt. Wir haben eine bessere Theorie entwickelt. Andererseits gilt aber auch, dass dadurch ein Fortschritt in der Auffassung der Wirklichkeit und der Struktur ihrer Gegenstände erreicht worden ist. Durch die Erfahrung des Selbstwiderspruchs und dessen Korrektur haben wir auch die Gegenstände, auf die wir uns beziehen, besser verstanden.¹ Zum anderen überträgt sich die Widerspruchsstruktur nach Hegel auch auf die Gegenstände unserer Erfahrung. Auch sie entfalten ihre Bestimmungen erst aufgrund der ihnen inhärenten Widersprüche und deren Auflösung. Durch diese Ontologisierung des Widerspruchs wird die These von den objektiven Widersprüchen der Natur und der Gesellschaft, die für Hegel, Marx und die Kritische Theorie einschlägig ist, überhaupt erst formulierbar (Wolff 2010, Kap. 1). In der Wissenschaft der Logik behauptet Hegel: „Alle Dinge sind an sich selbst widersprechend“ (W VI, 74). In einer starken, ontologischen Lesart der Logik haben Gegenstände genau dann eine eigene Bestimmtheit, wenn sie zu anderen Gegenständen in Differenz- und Gegensatzrelationen stehen; die Struktur dieser Relationen bringt es nach Hegel aber mit sich, dass die Gegenstände dabei zu sich selbst in Widerspruch treten und daher der Widerspruch eine ontologische Grundstruktur aller Gegenstände ist (Wolff 2010, Kap. 9). In einer abgeschwächten phänomenologischen Lesart, die Adorno und Horkheimer aufnehmen, lässt sich Hegels Satz aber auch so verstehen, dass die Gegenstände der Wirklichkeit in derart vielfältigen Relationen stehen, dass wir sie aufgrund der Begrenztheit unserer Theorien und Weltbilder immer nur im Prozess der Korrektur unserer Widersprüche in ihrer Reichhaltigkeit sukzessive entfalten können. Diese dialektische Auffassung des Gegenstandes übernehmen Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung. Das wird vor allem deutlich an ihrer Kritik des positivistischen Wissenschaftsideals (31– 34). Hier spielt die Theorie der
Eine semantische Rekonstruktion dieser These findet sich bei Brandom 2015, Kap. 5 – 6.
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Beobachtungs- und Protokollsätze im Wiener Kreis eine zentrale Rolle, nach der eine wissenschaftliche Theorie ihre Rechtfertigungsbasis in den möglichst unmittelbaren und unverfälschten Konstatierungen von experimentell beobachtbaren Tatsachen hat. Die Theorie soll die basalen Beobachtungen nach mathematischen Modellen quantifizieren und die Konstatierungen in vollständige Zusammenhänge von Gesetzesaussagen integrieren. Adorno und Horkheimer kritisieren daran, dass die Wirklichkeit hier vollständig auf naturwissenschaftlich konstatierbare Tatsachen reduziert wird. Aber das dogmatisch-statische Festhalten an diesen Tatsachen verhindere gerade die Entfaltung des Beziehungsreichtums der betreffenden Gegenstände: „Das Vorfindliche als solches zu begreifen, den Gegebenheiten nicht bloß ihre abstrakten raumzeitlichen Beziehungen abzumerken, bei denen man sie dann packen kann, sondern sie im Gegenteil als die Oberfläche, als vermittelte Begriffsmomente zu denken, die sich erst in der Entfaltung ihres gesellschaftlichen, historischen, menschlichen Sinnes erfüllen“ – das wäre „der ganze Anspruch der Erkenntnis“ (33). Dass Adorno und Horkheimer mit der Dialektik der Aufklärung selbst dialektisches Denken realisieren, lässt im Lichte dieser Überlegungen dreierlei erwarten: Sie werden ihren Gegenstand, die geistige Gestalt der Aufklärung, einer immanenten Kritik unterziehen; und dabei wird der Nachweis interner Widersprüche zu einer Bewegung nicht nur auf der Denkseite, sondern auch auf der Gegenstandsseite führen. Eine erfolgreiche immanente Kritik der Aufklärung wird darüber hinaus auch ein konstruktives Ergebnis haben müssen. Nun haben Adorno und Horkheimer von Hegel aber nicht einfach nur die Idee des dialektischen Denkens übernommen und an einem zufälligen Gegenstand, der Aufklärung, zu realisieren versucht. Der Zusammenhang ist komplexer. Zum einen hat Hegel in der Phänomenologie selbst die historische geistige Gestalt der Aufklärung in allen drei der genannten Schritte thematisiert; es gibt eine Rekonstruktion der Dialektik der Aufklärung schon bei Hegel selbst. Und die immanente Kritik der Aufklärung ist darüber hinaus nicht einfach nur eine beliebige Realisierung der Idee der immanenten Kritik an einem beliebigen Gegenstand, sondern eine Selbstkritik dieser Kritik.
8.5 Die Dialektik der Aufklärung nach Hegel Die Dialektik der Aufklärung wird im „Geist“-Kapitel der Phänomenologie rekonstruiert, in dem Hegel verschiedene Formen sozialer und politischer Wirklichkeit und geistiger Lebensraumgestaltung von der europäischen Antike bis zur französischen Revolution modellartig voneinander abgrenzt und auseinander entwickelt: den griechischen Stadtstaat, den römischen Rechtszustand, die mit-
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telalterliche und frühneuzeitliche Ständegesellschaft und schließlich die Sozialformen der modernen Welt. Der Glaube, gegen den die moderne Aufklärung sich wendet, ist eine Erscheinungsform der christlichen Offenbarungsreligion, die nach Hegel durch die Struktur der Entfremdung gekennzeichnet ist (PhG, 361– 362, 394– 396). Entfremdung ist nach Hegels Analyse die Grundstruktur aller modernen Gesellschaften. Das Modell des Geistes, das Hegel in der Phänomenologie entwickelt hat, behandelt paradigmatische Fälle objektiv geistigen Gestaltens. Wer einen Gebrauchsgegenstand herstellt, formt ein natürliches Material derart um, dass sich mit Hilfe des Produkts ein bestimmter Zweck erfolgreich realisieren lässt. Im Artefakt kann der Produzent seine eigene geistige Leistung in objektivierter Form wiedererkennen. Arbeit ist nach Hegel Bildung im doppelten Sinne: Gestaltung und Selbsterfahrung (PhG, 153 – 155). Marx hat diese Analyse fortgeführt und die bei Hegel implizite intersubjektive Dimension verdeutlicht. Da Produktion immer mit Austausch und Verwendung der Produkte einhergeht, enthalten die Artefakte nicht nur das Potential individueller Selbsterkenntnis, sondern auch die intersubjektive Anerkennung von Produzenten und Benutzern und das Potential der Selbsterkenntnis der Beteiligten als sozialer Wesen: „Unsere Produktionen wären ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete“ (MEW, Erg.Bd. 1, 463). Als wichtiges Medium eines solchen „allgemeinen Selbstbewusstseins“ hat Hegel die Sprache untersucht (PhG, 376; 478 – 481). In gelingenden sozialen Verhältnissen enthalten die Produkte, Gestalten und Institutionen des wechselseitigen Austausches das Potential des individuellen, intersubjektiven und sozialen Selbstbewusstseins. Als Entfremdung ist dagegen nach Hegel jede Struktur von Gesellschaft und Staat charakterisiert, die dazu führt, dass sich der Einzelne, der Andere und die Gemeinschaft nicht mehr in ihren eigenen Verhältnissen wiederzuerkennen vermögen, obwohl sie diese Verhältnisse selbst realisiert und gestaltet haben. Die gesamten nachantiken Gesellschafts- und Staatsformen sind nach Hegel durch Entfremdung gekennzeichnet (PhG, 359 – 362). Das gilt auch für die neuzeitliche Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Glauben. Beide sind Erscheinungsformen der Entfremdung. Bei dem Glauben, gegen den die Aufklärung kämpft, handelt es sich um einen „Glauben an den Himmel“ (PhG, 496) und damit um eine Religionsform, die auf ein Jenseits ausgerichtet ist. Das Problem besteht nach Hegel darin, dass der Gläubige im jenseitigen Himmel seine wahre Heimat sieht. Das zwingt ihn, seine eigene soziale Wirklichkeit als falsche Welt pauschal abzuwerten. Das ist der Schritt in die Entfremdung von seiner eigenen Umwelt. Von außen betrachtet, ist der Gläubige Mitglied einer jeweiligen Gemeinschaft und insofern auch prinzipiell in der Lage, seine Umgebung als das Produkt der gemeinschaftlichen Gestaltung zu reflektieren. Da aber das Wesentliche für den Gläubigen im Jenseits liegt, und dieses
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Jenseits im Diesseits nicht angemessen realisiert sein kann, erfährt er in seiner eigenen Perspektive seine Umwelt als fremd. Der Glaube ist für Hegel „die Flucht aus der wirklichen Welt“ (PhG, 363; ebenso 392): eine Vertröstung auf das Jenseits, die dadurch schuldig und falsch wird, dass sie die Unfreiheit der realen Welt nicht nur nicht aufhebt, sondern noch verstärkt. Der Glaube wird von Hegel als falsches Bewusstsein einer unfreien sozialen Wirklichkeit demaskiert, als Ideologie (wobei der Terminus selbst nicht auftaucht). Es ist nach Hegel sogar so, dass sich die Weltferne der Jenseitskonstruktion und die Unfreiheit der sozialen Lebenswirklichkeit wechselseitig bedingen und hervorbringen. Sie bilden ein reziprokes Konstitutionsverhältnis, in dem „das Entgegengesetzte das Andere begeistet, jedes durch seine Entfremdung dem Andern Bestehen gibt, und es ebenso von ihm erhält“ (PhG, 366). Diese Reziprozität ist allerdings in der Binnenperspektive für die betroffenen Subjekte als solche nicht durchschaubar. Damit ist ihre Entfremdung von ihrer sozialen Lebenswirklichkeit als Grundzustand etabliert. Hegel sagt: „der Geist“, also die Gesamtformation menschlich-subjektiver Theorie, Praxis und Gestaltung, ist „sich selbst entfremdet“ (PhG, 359; 362). Die moderne Welt der Entfremdung bringt nach Hegel noch eine zweite intellektuelle Grundeinstellung hervor. Sie heißt zunächst „reine Einsicht“, wird aber in ihrer Wendung gegen den Glauben zur Aufklärung. Ihr leitendes Prinzip ist die Selbstreflexion. Nur das, was einer prüfenden Selbstreflexion des reinen Denkens standhält, hat für die Aufklärung auch eine gesicherte Existenz, alles andere wird als irrational verworfen. Dieses Prinzip gilt universal für alle Gegenstände des Denkens, und die Pflicht zur Selbstprüfung erstreckt sich auf alle Subjekte (PhG, 397– 398). Einen Hauptgegner findet die Aufklärung im Glauben. Insbesondere die Gottesvorstellung der christlichen Offenbarungsreligion lässt sich nach Ansicht der Aufklärung nicht rational rechtfertigen und wird aggressiv zurückgewiesen (PhG, 397). Im Hintergrund der Aufklärung steht ein allgemeines instrumentelles Nützlichkeitsdenken (PhG, 415 – 416). Es erstreckt sich auch auf die Menschen selbst, die „sich zum gemeinnützlichen und allgemein brauchbaren Mitgliede des Trupps zu machen“ haben (PhG, 416) – eine Passage, die Adorno und Horkheimer an zentraler Stelle zitieren (19). Hegel betont, dass auch die Aufklärung Teil der modernen Entfremdung (und nicht etwa deren Auflösung) ist. Ihr Ziel ist in der Wirklichkeit nie hinreichend realisiert, denn diese ist eine Welt des Aberglaubens. Für den Aufklärer ist die Aufklärung eine eschatologische Größe wie das Himmelreich für den Gläubigen; sie wird immer ein unvollendetes Projekt bleiben. Das entfremdet den Aufklärer von der Welt, in der er lebt. Hier setzt nun „der Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben“ ein (PhG, 400 – 424; vgl. Stolzenberg 2008; Stekeler 2014, 411– 477). Hegel lässt den Kampf in zwei Durchgängen ausfechten: beide Male mit denselben Vorwürfen, aber beide Male mit einem anderen Ergebnis. Nach dem ersten Durchgang (PhG, 404– 413)
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steht die Aufklärung als Verliererin und Lügnerin da, nach dem zweiten (PhG, 419 – 422) dagegen als Siegerin, denn die Wahrheit ist am Ende auf ihrer Seite. Der erste Durchgang exponiert die Dialektik der Aufklärung, der zweite ihre Wahrheit. Die Aufklärung behauptet, dass der Glaube auf Irrtümern beruht und daher Aberglauben ist. Sie wirft ihm vor, dass dessen Gott bewusst konstruiert und daher „Erdichtung“ sei (PhG, 406). Bei näherer Analyse zeigt sich aber, dass der Gläubige seinen Eigenanteil an der Präsenz Gottes in der Befolgung von Gehorsam und Dienst durchaus durchschaut und insofern ein Selbstbewusstsein von der Funktionsweise seines Glaubens hat (PhG, 406 – 407); er ist also nach den Maßstäben der Aufklärung selbst rational. Zudem müsste auch die Aufklärung bei näherer Reflexion zugeben, dass sie selbst einen Anteil an der Konstruktion ihrer Gegenstände hat, denn sie akzeptiert nur dasjenige, was einer rationalen Überprüfung standhält, und verwirft alles andere; sie wäre also nach den Maßstäben, die sie an den Glauben anlegt, selbst Erdichtung (PhG, 406). Für Hegel entscheidend ist aber, dass die Aufklärung dem Gläubigen zwar einerseits zugesteht, in seiner Beziehung zu Gott die Gewissheit vom Wesen seiner selbst zu haben, andererseits aber behauptet, dass dieser Gott das Produkt einer betrügerischen Täuschung von Seiten der Priester sei. Hier wird der Angriff inkonsistent: Weil subjektive Gewissheit objektive Täuschung ausschließt, kann die Aufklärung dem Glauben nicht zugleich Gewissheit zuschreiben und Täuschung vorwerfen (PhG, 407– 408). Damit ist die Aufklärung einen entscheidenden Schritt zu weit gegangen. Sie wird nach Hegel selbst „Lüge“ und „Unvernunft“ (PhG, 405), schlägt also im Namen der Rationalität selbst in Irrationalität um. Dieser erste Durchgang hat das Ergebnis, das die Aufklärung ihren Angriff in zwei wesentlichen Punkten nicht halten kann. Zum einen zeigt sich, dass der Glaube nach den eigenen Maßstäben der Aufklärung rational ist: Er „ist also Denken; – das Hauptmoment in der Natur des Glaubens, das gewöhnlich übersehen wird“ (PhG, 394). Zum anderen zeigt sich, dass die Aufklärung in ihrem Angriff auf den Glauben nach ihren eigenen Maßstäben irrationale Momente enthält: Sie „wird Unwahrheit und Unvernunft“ (PhG, 404). Das entspricht den beiden Hauptthesen der Dialektik der Aufklärung, die allerdings auf die allgemeine Form des Mythos bezogen sind: „schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ (6). Adorno und Horkheimer teilen mit Hegel auch die Diagnose für den Grund dieser beiden Hauptfehler: Sie kommen dadurch zustande, dass die Aufklärung nicht ausreichend über sich selbst aufgeklärt ist. Hegel sagt das wörtlich: „Die Aufklärung selbst […] ist eben so wenig über sich selbst aufgeklärt“, denn „sie [erkennt] nicht […], daß dasjenige, was sie am Glauben verdammt, unmittelbar ihr eigener Gedanke ist“ (PhG, 418). Die Hauptthesen der Dialektik der Aufklärung stehen also in der Phänomenologie. Adorno
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und Horkheimer haben sie unter den Bedingungen des zwanzigsten Jahrhunderts reformuliert. Im Kampf zwischen Aufklärung und Glauben liegt die Wahrheit dennoch auf der Seite der Aufklärung. So wie in Hegels Phänomenologie die Flucht ins Jenseits des Glaubens nicht das Erfolgsrezept für die moderne Welt sein kann, so ist in der Dialektik der Aufklärung der Rückfall in den Mythos kein Ausweg. Dieser Rückfall ist vielmehr seinerseits rückgängig zu machen, und das kann nur mit den reflexiven Mitteln der Aufklärung geschehen. Hegel spricht der Aufklärung die „Macht des Begriffes“ und das „absolute Recht der Gewalt“ über den Glauben zu (PhG, 419), weil sie die intellektuellen und praktischen Operationen, die der Glaube auf die beiden getrennten Welten des Diesseits und des Jenseits verteilt, in ihrer logisch-begrifflichen Einheit korrekt zu erfassen vermag. Sie durchschaut die Jenseitsideologie als Konstruktion eines Jenseits, das in allen relevanten Zügen auf die konkreten Missstände der wirklichen Welt reagiert und diese zu kompensieren sucht (PhG, 419 – 423). Der Glaube verfügt zwar über das Prinzip einer nicht-entfremdeten sozialen Wirklichkeit; er muss es allerdings von Himmel auf die Erde zurückholen. Der Motor dieser Bewegung kann nur die selbstreflexive begriffliche Arbeit der Aufklärung sein. Daß auch die Aufklärung noch über sich selbst aufgeklärt werden muss, zeigt sich nach Hegel insbesondere bei ihrem Versuch, ihre Ideale praktisch zu realisieren: in der französischen Revolution (PhG, 431– 441; vgl. Bubner 1995). Das gewalttätige Scheitern der Aufklärungsideen ist für Hegel der Anlass, die Aufklärung erneut zu reflektieren, diese also über sich selbst aufzuklären. Für Adorno und Horkheimer liegt ein paralleles Scheitern der Aufklärung in den Formen des Totalitarismus des zwanzigsten Jahrhunderts vor. Sie sind der Anlass, die Aufklärung unter geänderten Bedingungen erneut zu reflektieren: „Die Aporie, der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich somit als der erste Gegenstand, den wir zu untersuchen hatten: die Selbstzerstörung der Aufklärung“ (3). Entscheidend ist freilich, dass die Wahrheit auch für Adorno und Horkheimer auf der Seite der Aufklärung bleibt und ihr Prinzip daher unverzichtbar ist: „Wir hegen keinen Zweifel– und darin liegt unsere petitio principii–, daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist“ (3).
8.6 Die über sich selbst aufgeklärte Aufklärung Hegel und Adorno/Horkheimer sind sich darin einig, dass die Aufklärung auch nach dem Nachweis ihrer Dialektik unverzichtbar bleibt. Die Nachfolgeposition der inkonsistenten Aufklärung kann selbst wiederum nur Aufklärung sein: eine höhere Aufklärung, die sich über sich selbst aufgeklärt hat. Die entscheidende
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Frage ist dann die nach der konkreten Gestalt dieser über sich selbst aufgeklärten Aufklärung. (a) Die Aufklärung, die Hegel analysiert hatte, war ihrem Selbstverständnis nach Ideologiekritik: Sie hatte den Anspruch, den Jenseitsglauben als falsch zu erweisen. Die Kritik der Aufklärung und der Nachweis ihrer Dialektik zeigen aber, dass die Ideologiekritik nicht das letzte Wort sein kann. Keine Philosophie, auch die Kritische Theorie nicht, kann Ideologiekritik als eine über alle Kritik erhabene Methode voraussetzen, denn die Analyse der Aufklärung zeigt, dass Ideologiekritik selbst ideologisch werden kann. Nun ist aber diejenige Kritik, die die Dialektik der Aufklärung nachzuweisen vermag, selbst Ideologiekritik, und zwar sowohl Hegels Phänomenologie als auch Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung. In beiden Fällen handelt es sich um höherstufige Ideologiekritik der Ideologiekritik: die Kritik am Ideologisch-Werden der Ideologiekritik. Damit steht aber auch die höherstufige Kritik selbst in der Gefahr, ideologisch zu werden. Das wäre dann der Fall, wenn sie sich zur Aufklärung in derselben Weise verhielte wie diese zum Glauben. Die höherstufige Kritik muss aus den Fehlern der Aufklärung also etwas Konstruktives lernen, um der Gefahr ihres eigenen Ideologisch-Werdens zu entgehen. Die Frage nach der über sich selbst aufgeklärten Aufklärung ist damit die Frage nach der Möglichkeit einer konsistenten, nicht ideologischen Kritischen Theorie. (b) Die Aufklärung, die Hegel im „Geist“-Kapitel der Phänomenologie analysiert, ist eine Instanz desjenigen dialektischen Denkens, das Hegel selbst in der Gestalt der immanenten Kritik praktiziert. Das geht bereits daraus hervor, dass das leitende Prinzip der „reinen Einsicht“ nach Hegels Rekonstruktion die Selbstreflexion ist: Reflektierte der Glaube unvoreingenommen sich selbst und seine Voraussetzungen, dann könnte er seinen ideologischen Charakter auch selbst rational durchschauen. Der Aufklärer übernimmt die Aufgabe der Selbstreflexion stellvertretend für den Gläubigen. In derselben Weise übernimmt der Phänomenologe bei Hegel die Selbstreflexion stellvertretend für die jeweils untersuchten Positionen. Beide, der Aufklärer wie der Phänomenologe, unterstellen dabei, dass die untersuchten Positionen selbst nicht (oder wenigstens nicht hinreichend) zur Selbstreflexion in der Lage sind. Die Kritik der Aufklärung am Glauben ist strukturell immanente Kritik des Glaubens und damit dialektisches Denken im Sinne der Phänomenologie. Umgekehrt ist jede Instanz von immanenter Kritik ein Fall von Aufklärung. Auf diese Weise reflektiert Hegel aber im Aufklärungskapitel der Phänomenologie seine eigene dialektische, immanent kritische Vorgehensweise. Deshalb ist die Diskussion der Aufklärung für Hegel nicht eine beliebige Anwendung dialektischen Denkens auf einen zufälligen Gegenstand, sondern eine Selbstreflexion der Dialektik. In der Thematisierung der Aufklärung macht sich die Dialektik selbst hinsichtlich ihrer eigenen Konsistenz, ihrer Konsequen-
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zen, ihrer Reichweite und ihrer Legitimation, und zwar unter den historischen, lebensweltlichen und politischen Bedingungen der modernen Welt, zum Gegenstand. Die Analyse der Wissens-, Handlungs- und Gestaltungsweise der Aufklärung ist die immanente Kritik der immanenten Kritik. Sie zeigt insbesondere auf, dass es historische und kulturelle Kontexte geben kann, in denen das dialektische Denken selbst in eine Gestalt dessen übergeht, was es kritisiert: in ein Denken, das zwar stellvertretend für andere Position deren eigene Selbstreflexion übernimmt, dem es aber selbst noch an Selbstreflexion mangelt und das daher eine undialektische Form von Dialektik darstellt. Hegel versucht sich damit dem Problem zu stellen, wie das Undialektisch-Werden der Dialektik von der Dialektik selbst verhindert werden kann. (c) Hegel entwickelt in der Phänomenologie eine Antwort auf die genannten Fragen in zwei Stufen: „absoluter Geist“ und „absolutes Wissen“. Sie ergibt sich aus Hegels Analyse von moralischen Diskursen, in denen sich Handlungen individuell durch Gewissensentscheidungen begründen lassen (PhG, 464 – 481). Da letztere sich in modernen pluralistischen Gesellschaften auf verschiedene Moralprinzipien berufen können, die miteinander auch im Konflikt stehen können, kann es vorkommen, dass die Vertreter der einen Moral den Vertretern einer konkurrierenden Moral Heuchelei und Bösartigkeit vorwerfen (PhG, 484– 491). Kann aber dieses Konfliktpotential durch den Geist der „Verzeihung“ entschärft werden (PhG, 492– 494), dann erkennen die Mitglieder einer derartigen Gesellschaft die Geltung verschiedener normativer Ordnungen explizit an und erfahren das Handeln der anderen selbst dann als Realisierung des allgemeinen Selbstbewusstseins, wenn es ihren eigenen Normen zuwiderläuft. Damit ist nach Hegel die Entfremdung strukturell aufgehoben. Zugleich ermöglichen derartige Gesellschaften die kritische Diskussion ihrer Normensysteme und damit der begrifflichen Grundlagen ihrer eigenen Lebenswirklichkeit. Diese soziale und intellektuelle Gesamtstruktur nennt Hegel „absoluten Geist“ (PhG, 493). Auf ihrer Basis ist nun nach Hegel ein „absolutes Wissen“ möglich, in dem die Grundlagenreflexion entpartikularisiert wird. Sie beschränkt sich nicht auf die Normensysteme einer bestimmten Gesellschaft, sondern reflektiert auf die kategorialen Grundstrukturen des Denkens überhaupt und entwickelt sie als die Grundstrukturen der gesamten (sozialen und natürlichen) Wirklichkeit. Diese Wissensform wird von Hegel absolut genannt, weil sie sich selbst nicht mehr in eine unüberbrückbare Differenz zu dem setzt, was die Wirklichkeit an sich sein mag, sondern umgekehrt beansprucht, mit den Strukturen des Denkens direkt die Strukturen der Wirklichkeit zu treffen. Die Rechtfertigung dieses Anspruchs fällt mit dem Abschlussgedanken der Phänomenologie zusammen. Hegel sagt, dass der Weg über die immanente Widerlegung von Bewusstseinsgestalten und ihre bestimmte Negation im absoluten Wissen ein Ziel hat, weil es keinen weiteren Widerspruch
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enthält. Damit ist es durch die immanente Widerlegung aller anderen möglichen Typen von Wissen nach Hegel gerechtfertigt. Auch das absolute Wissen ist nach Hegel dialektisch organisiert. Dabei handelt sich dabei um eine positive Dialektik, insofern Hegel beansprucht, ihren Fortgang erfolgreich abschließen und zu einem System der Kategorien zusammenschließen zu können; auch das absolute Wissen hat eine Abschlussform. In Hegels Phänomenologie steht vor dem Schritt ins absolute Wissen die Religion. Dieser Übergang wiederholt den Kampf zwischen Aufklärung und Glauben, aber nun in einer über sich selbst aufgeklärten Weise. Die Offenbarungsreligion denkt den Zusammenhang zwischen der erscheinenden Wirklichkeit und den zugrunde liegenden geistigen Grundstrukturen im Bild der göttlichen Trinität (PhG, 558 – 561). Das ist nach Hegel ein zutreffendes Bild. Das Wesentliche wird dabei freilich noch einem transzendenten Gott zugeschrieben, so dass es dem Denken „von einem Fremden geoffenbart“ ist, „und in diesem Gedanken des Geistes erkennt es nicht sich selbst, nicht die Natur des reinen Selbstbewußtseins“ (PhG, 560). Das absolute Wissen kann nun sowohl die Wahrheit der Trinitätsstruktur anerkennen als auch deren Defizit kompensieren, und zwar durch bestimmte Negation der Transzendenzfigur. Die Idee der immanenten Kritik führt damit am Ende zu einer rein immanenten Denkform, in der die Grundstrukturen der Wirklichkeit die Grundstrukturen unseres eigenen Denkens sind: eine subjektivitätstheoretische Kategorientheorie, in dem das aufklärerische Prinzip der Selbstreflexion des Denkens zu sich selbst und zur Wirklichkeit gekommen ist. Das absolute Wissen ist damit die über sich selbst aufgeklärte Aufklärung. (d) Adorno und Horkheimer wenden gegen Hegel ein, dass er die Dialektik der Aufklärung nicht auflösen kann, sondern seinerseits reproduziert, weil er selbst eine Form des Totalitätsdenkens entwickelt: Mit dem Begriff der bestimmten Negation hat Hegel ein Element hervorgehoben, das Aufklärung von dem positivistischen Zerfall unterscheidet, dem er sie zurechnet. Indem er freilich das gewußte Resultat des gesamten Prozesses der Negation: die Totalität in System und Geschichte, schließlich doch zum Absoluten machte, verstieß er gegen das Verbot und verfiel selbst der Mythologie. (30)
Daraus lassen sich zwei Hauptlinien der Hegel-Kritik entnehmen. Die Identifizierung der Grundstrukturen der Wirklichkeit mit den Kategorien des Denkens unterschlägt nach Adorno und Horkheimer dasjenige an der Wirklichkeit, was im Denken nicht aufgeht, und führt als praktische Konsequenz Herrschaft und Gewalt über die Einzeldinge und Individuen mit sich. Darüber hinaus teilen Adorno und Horkheimer Motive der Hegel-Kritik von Schelling und Kierkegaard: Gerade weil Hegel dasjenige an der Wirklichkeit unterschlägt, was im Denken nicht aufgeht, verliere das System durch die Identifizierung von Wirklichkeits- mit Denkstruk-
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turen das Wesentliche der Wirklichkeit und werde, gegen seine Intention, leer. Diese Kritikstrategien sind selbst nicht ohne Schwierigkeiten und müssten an und gegen Hegels Philosophie (insbesondere im Lichte der in den letzten Jahrzehnten deutlich differenzierter entwickelten Hegel-Interpretation) ausführlich formuliert, begründet und durchgeführt werden. Adorno und Horkheimer gewinnen durch die Abwehr der positiven Dialektik ihre eigene negative Dialektik. Sie bricht zunächst und vor allem mit der Totalitätsform des immanenten Denkens. Sie bestreitet die Möglichkeit eines vollständig immanenten absoluten Wissens und damit den Abschluss der Kritik von defizitären Wissensformen. Das selbstreflexive Anliegen der Aufklärung muss daher unabschließbar verlängert werden. Einerseits hat das Denken das kritische Potential, von sich selbst wissen zu können, dass es in seinen Abschlussformen irrational und tendenziell gewaltsam wird: „Denken, in dessen Zwangsmechanismus Natur sich reflektiert und fortsetzt, reflektiert eben vermöge seiner unaufhaltsamen Konsequenz auch sich selber als ihrer selbst vergessene Natur, als Zwangsmechanismus“ (45 – 46). Andererseits muss dieses kritische Potential aber auch bei jedem einzelnen Abschluss, zu dem sich das Denken aufgrund seiner eigenen rationalen Dynamik geführt sieht, reaktiviert werden. Die Reflexion der Aufklärung, ihre Kritik und deren Kritik setzen sich damit unabschließbar fort. Als negative Dialektik verliert die Dialektik ihren immanenten Charakter. Denn wenn eine konsequente immanente Kritik (wie Hegels Phänomenologie zeigen soll) zu einer rein immanenten Denkform führt, diese aber totalitäre Züge annimmt und in Irrationalität umschlägt, dann muss nach Adorno die immanente Kritik nicht-immanent gebrochen werden. So heißt es in der Einleitung von Zur Metakritik der Erkenntnistheorie: „Während die Immanenzphilosophie […] nur immanent, also durch Konfrontation mit ihrer eigenen Unwahrheit zu sprengen wäre, ist ihre Immanenz selber die Unwahrheit. Von dieser Unwahrheit muß immanente Kritik transzendent wissen, um nur anzuheben.“ (AGS 5, 32– 33) Wenn das Denken aber die Unwahrheit seiner eigenen Immanenz- und Totalitätsformen selbst reflektiert hat, dann muss es auch radikal mit ihnen brechen, um dem gerecht werden zu können, was an der Wirklichkeit wesentlich nicht in kategorialen Strukturen aufgeht: „Das Nichtdenken denken: das ist keine bruchlose Konsequenz, sondern suspendiert den denkerischen Totalitätsanspruch.“ (AGS 5, 33) Dieser Gedanke bereitet den Reflexionsbegriff der Nichtidentität der Negativen Dialektik und die – nach dem Maßstab der immanenten Kritik – transzendente Setzung des „Vorrangs des Objekts“ vor (AGS 6, 184– 193). Es wäre seinerseits Ideologie zu glauben, dass die Überwindung der Dialektik der Aufklärung ein für alle Male realisiert werden könnte. Horkheimer und Adorno verweigern sich damit nicht nur Hegel, sondern ausdrücklich auch der Utopie. Marx hatte behauptet, aus den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft
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ableiten zu können, dass sich die befreite Menschheit in der sozialistischen Gesellschaft notwendig realisieren muss: „Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab“ (MEW 13, 9). Dem widersprechen Adorno und Horkheimer. Sie betonen, dass auch das dialektische und kritische Denken „in der Vorgeschichte befangen bleibt“, „[o]hne sich der Verstrickung […] entwinden zu können“ (45; vgl. Hindrichs 1998). Sie heben ausdrücklich hervor, dass „Aufklärung gegen jede Hypostasierung der Utopie recht behält“ (46). Damit installiert sich Aufklärung nach Adorno und Horkheimer aber als eine Art permanenter Zwischenzustand. Nur so sind sie auch in der Lage, ihr eigenes Vorgehen methodisch kohärent einzufangen. Sie kritisieren die Abschlussform der Hegelschen Dialektik, aber sie verwenden selbst dialektische Argumentationen; sie versuchen die Immanenz der Dialektik im Interesse der Nichtidentität zu brechen, aber sie operieren selbst durchgängig auf der Basis immanenter Kritik; sie kritisieren die Dialektik der Aufklärung, aber sie sehen sich selbst als Moment der Aufklärung und schreiben ihr auch, ohne je auf Antiaufklärung zu setzen, alle intellektuelle und emanzipatorische Kraft zu, eine Überwindung der Dialektik der Aufklärung durch kognitive Einsicht in deren Mechanismus wenigstens anzuvisieren. Sie kritisieren die tendenziell gewaltsame bestimmende Macht des Begriffs, aber dennoch „ist die Erfüllung der Perspektive [der Abschaffung des realen Leidens] auf den Begriff angewiesen“ (47), denn nur das begriffliche Denken selbst hat das kognitive Potential, die Falschheit der entfremdeten Welt zu Bewusstsein zu bringen: Das Denken „reicht […] jedoch hin“, die Entfremdung als solche zu durchschauen (45). Es stimmt also nicht, dass sich Adorno und Horkheimer „einer hemmungslosen Vernunftskepsis überlassen“ haben (so Habermas 1985, 156). Die Aufklärung selbst, und nur sie, enthält das Potential der Überwindung ihrer eigenen Dialektik, in die sie sich stets von neuem und immer auf andere Weise verstricken wird.
Literatur Brandom, Robert B.. 2015. Wiedererinnerter Idealismus, Berlin Bubner, Rüdiger. 1995. Rousseau, Hegel und die Dialektik der Aufklärung, in: Ders., Innovationen des Idealismus, Göttingen, 97 – 109 Habermas, Jürgen. 1985. Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. Hegel, G.W.F. 1970 ff. Phänomenologie des Geistes, in: Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. III (= PhG), Frankfurt a.M. Hegel, G.W.F. 1970 ff. (=W). Wissenschaft der Logik II, in: Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. VI., Frankfurt a.M. Hindrichs, Gunnar. 1998. Unendliche Vorgeschichte. Zur Modernitätsdiagnose der „Dialektik der Aufklärung“, in: Zeitschrift für kritische Theorie 4, Heft 7, 41 – 62
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9 Verkehrte Aufklärung. Die Spur Nietzsches Der Name Friedrich Nietzsches ist einer der meistgenannten Eigennamen in der Dialektik der Aufklärung, Anspielungen auf seine Werke und Begriffe durchziehen alle Kapitel des Buches. Es ist offensichtlich, dass Nietzsche neben Marx und Freud die dritte große Theorie-Referenz für das Gemeinschaftsprojekt von Horkheimer und Adorno ist und dass kein anderer Vertreter der klassischen Philosophie, noch nicht einmal Kant oder Hegel, in diesem Buch eine vergleichbare Stellung für die theoretische Konstruktion besitzt. Dies gilt auch für die argumentativen Details, in denen ja materialistische, psychoanalytische und moralkritische bzw. genealogische Argumente und Topoi auf eine eigenwillige Weise kombiniert und ineinander geschoben werden (Whitebook 1995, 2– 3; Jaeggi 2006). Entsprechend schwierig ist die Isolierung nur einer dieser Spuren, denn die Bezugnahme auf Nietzsche ist nie „rein“, sondern immer schon bezogen auf die komplexe und mehrdimensionale Bearbeitung der Vorgeschichte, Gegenwart und Zukunft der Aufklärung, welche die beiden Autoren ihrem Publikum vorschlagen möchten. Nietzsche tritt in der Dialektik der Aufklärung in mindestens drei, ganz unterschiedlichen Rollen auf. Er ist erstens direkter Stichwortgeber für die Grundidee des Buches, nämlich daß Aufklärung (oder Kritik) selbst der Kritik (oder Aufklärung) bedarf. Wenn ihm Horkheimer und Adorno im Odysseus-Exkurs attestieren, er habe „wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt“ (50), erkennen sie ihn als Vorläufer an, der, höchstens noch von de Sade begleitet, den Zusammenhang zwischen Kultur und Gewalt bisher am eindringlichsten thematisiert hat. Nietzsche steht aber zweitens auch für genau diejenige Form spätbürgerlich-individualistischen Denkens, in der dieser Zusammenhang affirmiert und nicht überwunden wird. Damit wird er, besonders im Sade-Exkurs, zum exemplarischen Objekt der Kritik, denn er steht für einen Willen zur Selbstbehauptung und Stärke, welche die Grausamkeit oder den Herrschaftsaspekt in der Kultur noch verstärkt und verklärt. In einem gewissen Sinne stehen diese beiden Bezugnahmen auf Nietzsche in einem gegensätzlichen, vielleicht selbst dialektischen Verhältnis; nicht zuletzt gehen sie auch im ersten Fall eher auf Adorno, im zweiten eher auf Horkheimer als jeweiligen Hauptautoren zurück (vgl. HGS 5, 430). Aber noch eine dritte, eher implizite Bedeutung hat die Nietzsche-Spur. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass nicht nur These, sondern auch Stilistik und Darstellungsform der Dialektik DOI 10.1515/9783110448764-010
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der Aufklärung Nietzsche in zentralen Punkten folgen, nicht zuletzt in der Zuspitzung und Hyperbolik der Kritik. Nietzsche ist also auch ein Autor, dem Adorno und Horkheimer der Form nach folgen und mit dem sie konkurrieren, dem sie ein ähnliches, aber eigenes Projekt entgegenstellen, nämlich eine in ihrer Wirkung vergleichbare, aber Versöhnung nicht ganz desavouierende radikale Kritik der Kultur. Diese drei Rollen Nietzsches im Text der Dialektik der Aufklärung als Vorläufer, Objekt der Kritik und stilistischer Maßstab sollen im Folgenden genauer expliziert werden, zusammen mit den drei Modi der Nachfolge, Zurückweisung und Überbietung, mit denen Adorno und Horkheimer auf sie reagieren.
9.1 Die Kosten der Kultur Die explizite Anfangsfrage der Dialektik der Aufklärung, wie sich erklären lasse, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“ (1), enthält schon die Tendenz ihrer Antwort. Erklärungsbedürftig ist die „neue“ Barbarei, d. h. ein Rückschritt oder eine Regression, die sich nach einem eindeutigen Kulturfortschritt, nach einem schon erreichten Niveau von Zivilisiertheit ereignet. Diese Ausgangsbestimmung bezieht sich einerseits deutlich auf den erfahrungsmäßigen Hintergrund der Schrift, nämlich die geschichtliche Situation der 1940er Jahre: Faschismus, entfesselter Weltkrieg und systematische Judenverfolgung markieren einen Grad an Brutalität, der alle bis dahin einvernehmlichen, friedlichen Formen des innergesellschaftlichen und internationalen Zusammenlebens zurücknimmt. Dass sie ihren eindeutigen Ausgangspunkt in der deutschen Gesellschaft haben, die sich doch immer als Kulturnation par excellence beschrieben oder imaginiert hatte, verschärft diesen Widerspruch zwischen Kultur und Barbarei noch. Die Frage nach dem „Versinken“ oder Zurückfallen in Barbarei ist also in erster Linie ein Versuch, sich einen Reim auf reale historische Ereignisse zu machen. Andererseits hat diese Frage selbst eine geistesgeschichtliche Vorprägung. Schon seit der Zeit der Aufklärung wurden Narrative des Fortschritts der Kultur von Beschreibungen des fortschreitenden Verfalls, der Korrumpierung und Pervertierung des Menschen durch Kultur begleitet. Seit Rousseau ist ein Schema etabliert, nach dem Fortschritte in der Kultur erkauft sind um den Preis der (Selbst‐) Entfremdung des Individuums und der Etablierung von Sozialformen, die wesentlichen menschlichen Bedürfnissen und Eigenschaften zuwiderlaufen. Dieses kulturkritische Schema, paradigmatisch entwickelt in Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit, artikuliert sich oft in historischen Narrativen über Aufstieg und Verfall der Kultur und Zivilisation, und man hat solche Kostenrechnungen der Zivilisation überzeugend als eine Konstante des spezifisch modernen Diskurses
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der Sozialphilosophie beschrieben, in denen Wert und Pathologie des gesellschaftlichen Lebens zugleich thematisiert werden und in dem seit Rousseau besonders Hegel, Marx, Nietzsche,Weber und Freud wesentliche Stationen sind (vgl. Honneth 1994, 18 – 19). Die These der Dialektik der Aufklärung stammt aus diesen beiden Quellen, sie reagiert auf das zeitdiagnostische Rätsel und das Skandalon einer „neuen“ Barbarei, und sie aktualisiert und verschärft die sozialphilosophische Einsicht, dass Fortschritt – unter den spezifischen Bedingungen moderner, d. h. „bürgerlicher“ Gesellschaften – intrinsisch, wesentlich mit Rückschritt zu tun hat, Fortschritte in Kultur und Zivilisationen einen notwendigen Preis für das moderne Individuum und das moderne Zusammenleben haben. Versteht man „Aufklärung“ als diejenige geistige Orientierung, die die Verbesserbarkeit des Menschen behauptet und die freie und vernünftige Verbesserung des Zusammenlebens fordert, ist Aufklärung die Theorie und die Moral des Fortschritts. Die Prämisse, „daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken untrennbar“ sei, Theorie und Praxis der Aufklärung aber „schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten“, der in den 1940er Jahren unübersehbar ist, ist damit eine Variante der These vom wesentlichen Zusammenhang zwischen Fortschritt und Regression, denn damit liegt die „Ursache des Rückfalls“ (3) in der Aufklärung selbst. Dass „die praktische Tendenz zur Selbstvernichtung […] der Rationalität seit Beginn“ zukommt (7), ist eine radikale Konsequenz aus diesen Überlegungen, denn damit sind die eigentlichen Medien der Befreiung – Vernünftigkeit, Emanzipation, Kultur – zugleich die Wege in die „neue“ Barbarei und neue Unfreiheit. Wieso können Horkheimer und Adorno nun, wie schon zitiert, Nietzsche zubilligen, dass er „wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt“ habe (50)? Diese Zuschreibung wird kaum qualifiziert, aber die expliziten Argumente über die Zwiespältigkeit der Aufklärung, auch an Stellen, an denen sie Nietzsche nicht mehr nennen, und die impliziten Anspielungen auf Topoi aus Nietzsches Werk sind ausreichend, um den Zusammenhang der beiden Projekte – zumindest in der bisher skizzierten, ganz allgemeinen Form – zu bestätigen. Wie steht Nietzsche zur Aufklärung, zur Rationalität und zum Fortschritt? Ganz allgemein kann man sagen, dass Nietzsche schon seit seinen allerersten, noch philologischen Schriften eine Doppelbewegung vollzieht, die sein gesamtes philosophisches Werk prägen wird. Auf der einen Seite ist für ihn entmythologisierende, faktenerhebende und Illusionen durchstoßende Entzauberung das Kerngeschäft des kritischen Geistes; andererseits tendiert das kritische Denken (oder die richtig verstandene Philosophie) zur Selbstmystifikation und zum Selbstmissverständnis, sie ist Nietzsche zufolge von den Kontingenzen, Bedingtheiten und Fehleranfälligkeiten selbst nicht frei, die sie dem unaufgeklärten, mythischen, religiösen oder dogmatischen Denken vorrechnet. Rationale Aufklärung
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oder radikale Aufklärung, um eine biblische Lieblingsformel Nietzsches zu zitieren, „tun“ also „vor Allem noth“ (Nietzsche 1886, 256); aber ebenso nötig ist eine Kritik der (maßlosen Ansprüche der) Kritik oder eine Aufklärung über (die Grenzen der) Aufklärung (Röttges 1972; Reschke 2004). Mit diesen Gesten schreibt sich Nietzsche selbst in die Geschichte der Aufklärung ein und setzt sich ihr zugleich entgegen, er fordert, könnte man sagen, eine andere, selbstkritische und von ihm selbst in den nachgelassenen Schriften der mittleren 1880er Jahre angekündigte „neue Aufklärung“ (Campioni 2000, 202), aber dies erfordert in seinen Augen nichts weniger als eine Transformation der zentralen Begriffe der Philosophie. Es kann hier offenbleiben, ob Nietzsche selbst in allen Phasen seines Werks wirklich ein solches noch innerphilosophisches Projekt einer Revolutionierung der Aufklärung hin zu einer anderen Aufklärung oder einer Transformation der herkömmlichen Philosophie hin zu einer Philosophie der Zukunft unternommen hat und nicht vielmehr ein völliges Aufgeben der philosophischen Kommunikationsform; dies wäre für die Werke der „mittleren“ Phase wie Menschliches, Allzumenschliches und Die Fröhliche Wissenschaft leichter zu zeigen als für den Zarathustra oder die allerletzten Schriften (vgl. Zittel 1995). Fest steht aber, dass Nietzsches Beiträge zur Selbstaufklärung oder Selbstkritik der Aufklärung, auf die sich Horkheimer und Adorno direkt und indirekt beziehen, philosophische Revisionen von Grundbegriffen und Grundpositionen der abendländischen Geistesgeschichte sind. Die Haupthemen aus dem Werk Nietzsches hierbei sind erstens die Zurückweisung des absoluten Allgemeinheitsanspruchs der Philosophie, die Nietzsche als unhaltbare Selbstüberschätzung der Philosophen entlarvt. Mit großem begrifflichem Aufwand und vielen einzelnen Vorschlägen, die größtenteils in seinen erkenntnistheoretischen Gegenentwurf des Perspektivismus eingehen, versucht Nietzsche zu zeigen, dass die vermeintliche Allgemeinheit von Begriffen und der Objektivitätsanspruch theoretischer Erkenntnis nicht schlüssig behauptet werden kann: „Wir können nicht um unsre Ecke sehn.“ (Nietzsche 1882/1887, 626,vgl. 1887, 365) Erkenntnis steht für Nietzsche nicht über den immer partikularen, leib- und individuumsgebundenen Vollzügen des Wissens; Begriffe sind nicht völlig von den sinnlichen Erfahrungen zu trennen, von denen sie abstrahierend gewonnen sind; der Akt der theoretischen Bezugnahme ist kein neutraler, gleichsam folgenloser Vorgang, der nicht auch immer mit Interessen und Zurichtungen verbunden wäre (vgl. Clark 1990). Zweitens denunziert Nietzsche den Allgemeinheitsanspruch der Philosophen als strategische Selbstlegitimierung einer Kaste von Wissenden, die ihre eigenen spezifischen Kompetenzen und ihre eigene Lebensform und damit „nur [ihr] Dasein“ (Nietzsche 1887, 351, vgl. 357, 400) zur absoluten Norm machen. Jedes Wissen steht im Kontext von Praxis und Selbstbehauptung, und auch das phi-
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losophische Wissen ist positioniert und sozial situiert. Damit wird aber auch dieses Wissen, wie jedes andere, zu einer Frage der Macht und der Durchsetzung; und die Selbststilisierung der Philosophie als eines „friedlichen“ Bereichs der reinen und von allen sozialen Bezügen befreiten Erkenntnisse ist eine Verschleierung der Tatsache, dass Wissen und Erkennen, wie alle menschlichen Vollzüge, Ausdruck eines Willens zur Macht sind (vgl. Nietzsche 1887, 400; Saar 2007, 119 – 122). Drittens bekämpft Nietzsche mit großer Verve die in der westlichen philosophischen Tradition vorherrschende Vorstellung, daß Vernunft und Gefühl bzw. Geist und Körper absolute Oppositionen seien. In immer neuen Anläufen versucht er diesem leibfeindlichen und damit lebensfeindlichen Bild, das auf eine „Entselbstung und Entpersönlichung des Geistes“ (Nietzsche 1886, 135) hinausläuft, eine Vorstellung der verkörperten, gelebten und in sich affektiv strukturierten pluralen Vernunft entgegenzusetzen und jede Rationalisierung im engeren Sinn des Berechenbar-Machens als zweischneidigen Akt der Selbstbeschneidung der eigentlichen, integralen Vernunft zu entlarven. Die Formel von der „großen Vernunft“ des Leibes (Nietzsche 1883, I, 39) fasst diese Ambition treffend zusammen: Eine menschen- und lebensfreundliche Philosophie würde Rationalität und Körperlichkeit nicht gegeneinander ausspielen, sondern aufeinander beziehen, ja vielleicht sogar den Körper als den eigentlichen Ort der Vernunft anerkennen (vgl. Kalb 2000). Viertens schließlich attackiert Nietzsche mit großer Härte alle rationalistischen Moralkonzeptionen, die in seinen Augen die Einbettung der Moral im individuellen und kollektiven Leben verkennen. Zu glauben, Moral bestünde in vernünftiger Einsicht etwa in die absolute Gebotenheit bestimmter Handlungen (oder ein allgemeines „Sittengesetz“ wie bei Kant), unterschlägt für Nietzsche die Prozesse, in denen moralisches Bewusstsein, Schuldfähigkeit und Gewissen überhaupt erst entstehen. Der Ursprung oder die „Entstehungsgeschichte“ (Nietzsche 1882/1887, 578) der Moral ist für Nietzsche praktisch und sozial ein „langer Zwang“ (Nietzsche 1886, 108). Moral entsteht aus dem Koordinationsbedarf von Gemeinschaften und zur Zähmung auch aggressiver Impulse der Einzelnen. Die Transformation solcher Erfordernisse in einen unbedingt geltenden Regelkanon oder gar eine Moralphilosophie ist ein nachträglicher und die sozialen Funktionen, gesellschaftlichen Bedingtheiten und Machtverhältnisse verschleiernder Akt. Die vorgebliche Allgemeinheit moralischer Grundsätze und die unterstellte Gleichheit der moralischen Subjekte in den Moralkonzeptionen der Aufklärung sind Rationalisierungen von immer auch gewalttätigen und radikal heteronomen Prozessen, in denen Moralität (und das moralische Individuum) erst hergestellt wird (vgl. Menke 2004). Autonomie, Willensfreiheit und Reflexionsfähigkeit sind gerade keine Naturtatsachen, sondern „späte“, hochgradig kultur-
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und praxisabhängige Ergebnisse von Prozessen, in denen ihr jeweiliges Gegenteil, Unfreiheit, Impulsivität und Triebsteuerung, eine Rolle spielen, die zu leugnen sie zu Fetischen oder ideologischen Konstruktionen macht.
9.2 Nach Nietzsche Es ist nach dieser Skizze leicht zu sehen, dass Horkheimer und Adorno in der Tat viele dieser Motive in der Dialektik der Aufklärung variieren, ja sie sich sogar wohlwollend zu eigen machen. Auch Horkheimer und Adorno sind erstens an einer Revision des Anspruchs theoretischer Vernunft interessiert. Die Behauptung absoluter Allgemeinheit und Neutralität erscheint ihnen als suspekte Stilisierung des viel komplexeren Verhältnisses der Vernunft zu ihrem Anderen und zur Welt. Ihr Versuch, die Verschlungenheit oder wechselseitige Verstrickung von Mythos und Aufklärung zu erweisen (vgl. bes. 14, 17– 18), ist auch ein Versuch, die Illusion der Selbstständigkeit und Autonomie der Vernunft zu unterlaufen. Wie Nietzsche setzen Horkheimer und Adorno der idealistischen Selbstbeschreibung von Vernunft und Philosophie eine komplexere und profanere Erzählung entgegen: Denken und Rationalität entstammen zunächst alltäglichen Lebensvollzügen, bevor sie zu eigenständigen und dann ihrerseits verdinglichten Metakompetenzen geworden sind und zu reinen Tätigkeiten des Geistes hypostasiert wurden (vgl. 31). Zweitens ist auch für Horkheimer und Adorno der in dieser idealistischen Selbstbeschreibung verleugnete Zusammenhang zwischen Vernunft und Herrschaft oder Wissen und Macht unbedingt zu bedenken. Für sie ist klar, dass Rationalität und Wissenschaft insofern immer schon pragmatisch waren, als sie auf Naturbeherrschung und Machbarkeit zielten. Der rationale, kalkulierende und abstrahierende Zugriff auf die Natur besitzt damit etwas unauslöschlich Zwanghaftes, Gewalttätiges, in dem „Herrschaft selbst“ (49) im Verhältnis zur Natur offen zutage tritt. Während in der ersten Hälfte der Dialektik der Aufklärung dieses Thema meistens auf das Thema der Naturbeherrschung begrenzt bleibt, sind die Ausführungen zur Kulturindustrie und zum Antisemitismus hier noch deutlicher: Der Herrschaftszusammenhang ist unter Bedingungen moderner, kapitalistischer Gesellschaften ein wesentlich sozialer; die rationale Einrichtung des Sozialen ist hier durch und durch zwangsförmig (vgl. AGS 6, 302– 303, 310 – 311; Navigante 2011, 349). Faschismus und Kulturindustrie sind beide darin „rational“, dass sie abstrahierend-berechenbar machende Ordnungen sind, in denen der Einzelne als „ein Exemplar“ (154) auftritt, in bestehende Hierarchien integriert wird und „rückhaltlose Identität mit dem Allgemeinen“ (163) erzeugt wird. Aber damit ist, so Horkheimers und Adornos Konsequenz, die an Radikalität der Diagnose Nietzsches in nichts nachsteht, die rationale eingerichtete Gesellschaft vernünftig und
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radikal herrschaftsförmig zugleich, denn die in ihr geltende gesellschaftliche Vernunft ist nichts anderes als ihr systematischer Herrschaftscharakter. Drittens ist die Ablehnung der Körperlichkeit und Leibgebundenheit des Geistes auch für Horkheimer und Adorno ein tragisches und schmerzhaftes Symptom für die Selbstverleugnung der Vernunft, die ihre eigenen „unreinen“ Ursprünge vergessen machen will. Mit Freud verstehen sie Kulturentstehung und Zivilisierung als Geschichte von Triebaufschub und Triebverzicht, ja diese Geschichte besteht in nichts anderem als dem „Schicksal der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften“ (246, vgl. 46, 149, 195). Unter den Stichworten Mimesis, Einfühlung und Mitleid deuten sie zumindest an, wie eine weniger dualistische, humanere Praxis des Geistes aussehen könnte, und mit der Formulierung vom „Eingedenken der Natur, im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt“ (47), liegt zumindest eine Formel für ein nicht-entfremdendes, nicht zwanghaftes Verhältnis eines vernünftigen lebenden Wesen zu sich vor, die mit Nietzsches radikalerem Programm einer affekttheoretischen Revision des Vernunftbegriffs wohl nicht bis ins Letzte kompatibel sein dürfte, die aber wie dieses auf eine Überwindung eines unhaltbaren Dualismus und das Begreifen verkörperten, leibgebundenen und gefühlten Daseins zielt. Viertens schließlich teilen Horkheimer und Adorno Nietzsches Skepsis bezüglich der Fähigkeit der Vernunft zur Etablierung und Begründung sicherer moralischer Richtlinien. Nietzsche und de Sade rühmen sie dafür, die „Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrieen zu haben“ (127). Damit sei es diesen gelungen, den naiven, anthropologisch grundierten Optimismus der „Morallehren der Aufklärung“ in ihrem „hoffnungslosen Streben, an Stelle der geschwächten Religion einen intellektuellen Grund dafür zu finden, in der Gesellschaft auszuhalten, wenn das Interesse versagt“, überwunden zu haben (92). Trotz vieler Unterschiede in der Perspektive auf die Moral teilen Horkheimer und Adorno mit Nietzsche die (technisch gesprochen: non-kognitivistische) Überzeugung von der „Unableitbarkeit […] der Moral“ (92; vgl. Theunissen 1983), woraus sich genau die unheimliche Kompatibilität von Rationalität und absolutem Immoralismus bestimmter historischer Akteure erläutern lässt. Auch wenn dies hier nicht wie bei Nietzsche zu Träumen von einer völligen Aufhebung der Moral oder des Beziehens von Standpunkten jenseits von Gut und Böse führt, die beiden Perspektiven treffen sich in einer tiefen Skepsis, ob die rational eingerichtete Gesellschaft auch notwendig die humanere und menschenfreundlichere sei. Die hier verfolgten Spuren nietzscheanischer Motive im Text der Dialektik der Aufklärung zeigen also eine erstaunliche Kongruenz in einzelnen Punkten an, die
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die Rolle Nietzsches für den Argumentationsgang von Horkheimer und Adorno in diesem Text scharf konturieren: In der Zurückweisung „totaler“ Vernunft, im Hinweis auf die Verschränkung von Wissen und Macht, in der Einforderung der leiblichen, körpervermittelten und affektiven Dimension des Geistes und in der Bezweiflung der Vernünftigkeit der Moral treffen sich hier zwei Denkwege aus unterschiedlichen Richtungen und mit unterschiedlichen Zielpunkten, aber sie teilen eine erstaunlich lange Strecke. Dass Fortschritt zugleich Rückschritt sein kann, ja, sein muss, und die Errungenschaften der Kultur und Zivilisation einen Preis haben, ist die bittere Lektion, die auf dieser Route gelernt werden muss.
9.3 Lob der Grausamkeit Die bisher verfolgten Spuren konnten eine Tiefenkontinuität der beiden Aufklärungskritikprojekte Nietzsches und Horkheimers und Adornos sichtbar machen. In beiden geht es um eine Revision von Absolutheitsansprüchen, eine Rücknahme von Verschleierungen und eine illusionsfreie, realistische Perspektive auf den Zusammenhang von Kultur und Gewalt, Autonomie und Zwang. In diesem Sinn kann Nietzsche als zentraler Stichwortgeber auch des Programms der Dialektik der Aufklärung gelten. Darüber hinaus ist nun aber zu bedenken, dass Nietzsche im Juliette-Exkurs auch eine weitere Rolle spielt, durch die sich die geteilten Wege wieder voneinander entfernen. Denn auch hier wird zwar Nietzsche, gleichzeitig mit de Sade, als jemand gewürdigt, der die dialektische Verschränkung von Fortschritt und Regression (hier vor allem: Moral und Gewalt) gesehen und artikuliert habe, zugleich wird ihm attestiert, aus dieser Einsicht – wie de Sade – die falschen Schlüsse gezogen und ihr letztlich nichts Rettendes entgegengesetzt zu haben. Damit ist seine Kritik der Aufklärung zwar richtig, bleibt aber blind und unreflektiert und wird gerade darin zum Komplizen genau des Verhängnisses, das sie eigentlich anprangert. Es ist nicht ganz leicht, diese argumentative Konstruktion nachzuvollziehen, denn der Juliette-Exkurs ist hochgradig umwegig gebaut und seine Effektivität besteht im Wesentlichen auf einer Art Collage von Zitaten von Kant, de Sade und Nietzsche, von denen der Eindruck entsteht, dass sie sich wechselseitig erläutern. Nachdem behauptet ist, dass Kants Vernunftbegriff so leer und abstrakt sei, dass er „gegen Ziele […] neutral“ sei und sich die Vernunft deshalb „in alle Zwecke einspannen läßt“ (95 – 96), wird de Sades antihumane Dystopie der organisierten Grausamkeit als wahrhaft vernünftig behauptet. Den bei Kant angelegten AntiAutoritarismus der Vernunft sieht Horkheimer, der hier wohl maßgeblich schreibt, umschlagen in die maßlose Autorität der „Vernunft selber“, in „Perversion ihrer selbst“ (100), die vernünftig beginnende Kritik de Sades und Nietzsches „steigert
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das szientifische Prinzip ins Vernichtende“ (101). Deshalb sei in beiden Werken allein das „Gesetz […] des Stärkeren“ (106) als letzter Bezugspunkt übrig, nachdem nämlich alle vorgeblichen Hierarchien abgeräumt sind. Nietzsches Argumentation aus seiner genealogischen Kritik der Moral, dass die Schwachen selber Anteil an der Etablierung und Aufrechterhaltung lebensfeindlicher Strukturen und Einrichtungen haben (vgl. Nietzsche 1882/1887, 588 – 589; 1887, 366 – 368), wird als Beleg dafür angeführt, dass hier das „geheime Credo aller Herrscherklassen“ (107), eine „Herrenmoral“ (108) formuliert wird, in der Humanität, Mitleid und Gerechtigkeit keinen Platz mehr haben. An einer späteren Stelle überblendet Horkheimer de Sades Lob der Grausamkeit und Ablehnung der Liebe, der Familie und der Tradition mit Nietzsches Konzeption des Übermenschen und einer wahrhaften, von allen religiösen Spuren befreiten Autonomie (vgl. 124– 125). Das Fazit aus dieser Konstruktion ist die Würdigung, dass die „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ zumindest ehrlich waren, „rücksichtslos die schockierende Wahrheit“ (126) ausgesprochen haben, dass in der real existierenden bürgerlichen Welt Herrschaft, Willkür und damit soziale Irrationalität an der Tagesordnung sind und die wütende Attacke auf diese Ordnung mithin ein Gebot der Vernunft selbst ist. De Sade und Nietzsche haben also gegen Kant und die bürgerliche Vernunftmoral, die Freiheit, Gleichheit und Humanität predigt, zugleich recht und unrecht: Sie verwerfen zu Recht die Ausgangsprämisse, dass die sozialen Voraussetzungen für eine solche Moral bestünden, und ihre „mitleidlosen Lehren [, die] die Identität von Herrschaft und Vernunft verkünden, sind […] barmherziger als jene der moralischen Lakaien des Bürgertums“ (127), ihre „Übertreibung ist wahr“ (126). Ihr Fehler ist, dass sie ihre Solidarität mit der noch geknechteten Menschheit in einer kalten, a-humanen Sprache der Grausamkeit verstecken, die letztlich die Rede von wirklichen oder imaginierten Herrschenden bleibt. Nietzsches Rolle in diesen Passagen hat sich im Vergleich zu den bisherigen Referenzen tatsächlich gewandelt, denn nun kann er als „dunkler“ Denker zwar die richtige Problembeschreibung, aber nicht mehr die Lösung bereitstellen. Es scheint, als ob es zwei Möglichkeiten gebe, auf die Diagnose einer Dialektik der Aufklärung zu reagieren, und als ob Nietzsche für eine Befangenheit in dieser Dialektik stehe, die zu überwinden doch gerade erst eine Lösung wäre.Wie er hier beschrieben wird, agiert er in seinem Werk mit seinen zahlreichen Pathosformeln den Zusammenhang von Kultur und Gewalt oder das Ineinander von Einsicht und Kapitulation eher aus, als dass er es durcharbeitet; auf die Verleugnung des Körpers und der Affekte antwortet er wie de Sade mit Vergötzung des Somatischen und mit Verzeichnung der Vernunft, auf die Ohnmacht der Moral mit einer Affirmation grenzenloser Macht. Die „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ sind also Diagnostiker der Übel der schlechten Gesellschaft und falschen Ideologie,
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aber keine Therapeuten. Darin, dass sie das Übel unbeirrt aussprechen, stehen sie schon fast auf der richtigen Seite, aber es fehlt ihnen der Mut, auch noch die Komplizenschaft mit dem falschen Bestehenden abzustreifen. Der Vorwurf an Nietzsche hier lautet, einfach gesagt, dass er nur halb recht hat, in einer Antithese zum Bestehenden befangen bleibt, die erst noch zu überwinden wäre. Er wird also selbst in die gedankliche Konstruktion des Buches eingebaut und dort wegen seines, wie Horkheimer klar kritisiert, „Mangel[s] an Dialektik“ (HGS 13, 115) auf eine klar begrenzte Position verwiesen. Das Raffinierte dieser Lesart besteht darin, dass sie Nietzsche erstens vor seinen faschistischen Interpreten rettet, gegen die Horkheimer und Adorno hier auch anschreiben, und sie trotzdem die faschistische Interpretation als möglich, ja historisch folgerichtig erweist: Das faschistische Ins-Werk-Setzen der Grausamkeit und Unmenschlichkeit nimmt Nietzsches Diagnose vom Zusammenhang von Gesellschaft und Gewalt beim Wort und verkennt, dass diese implizit ein Einspruch war. Zweitens ist diese Deutung denkbar weit von Georg Lukács’ Totalverwerfung des bürgerlichen Irrationalisten Nietzsche entfernt, die lange Zeit die Diskussionslage im linken Lager bestimmt hat (vgl. Lukács 1955). Drittens ist sie überraschend nahe an der mehrdeutigen Bezugnahme auf Nietzsche von Georges Bataille, der Nietzsche noch während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft der faschistischen Deutung entreißen wollte und zugleich die transgressiven, vernunftkritischen Aspekte noch radikalisiert hat (Baeumler 1931; Bataille 1999). Nietzsches Moral- und Gesellschaftskritik kann plausibel radikal-aristokratisch wie emanzipatorisch gelesen werden, und es wird von hermeneutischen Vorannahmen abhängen, ob man die Ebene der eher naturalistischen, machtontologischen Aussagen auch als präskriptive Vorgaben begreifen will oder auf der stilistischen Mehrdeutigkeit bestehen will, deren Hauptziel eher die Destabilisierung alter Gewissheiten als die Errichtung neuer eherner Gesetze ist. Die Originalität der Bezugnahme von Horkheimer und Adorno in dieser zweiten Rolle liegt darin, Nietzsche symptomatisch zu lesen: als Anzeichen für einen Schmerz und ein Unbehagen an der Kultur, dem man sich nicht nicht stellen kann.
9.4 Eine Kunst der Übertreibung Die Dialektik der Aufklärung kann also als Text gelten, der Nietzsche in zentralen Begriffen und Beschreibungen folgt und Nietzsches kultur- und metaphysikkritisches Programm auf eine originelle Weise weiterschreibt. Zugleich wird er als „dunkler Schriftsteller des Bürgertums“ für Horkheimer und Adorno selbst zum Objekt der Kritik, der den von ihm selbst diagnostizierten Sackgassen nicht zu entkommen weiß, ja sogar in eine unfreiwillige Komplizenschaft mit den Mächten
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gerät, gegen die er doch anschreibt. Das naturalistische Lob von Stärke und Härte, das sie Nietzsche (nicht ganz zu unrecht) zuschreiben, verklärt den Gewaltzusammenhang noch, den es doch aufzulösen gilt. Nietzsches Aufbegehren gegen die Mythologie in der Aufklärung bleibt ohnmächtig, eher Teil des Problems als der Lösung. Es ist für die Leserinnen und Leser der Dialektik der Aufklärung offensichtlich, dass auch sie keine eindeutige Lösung bietet. Denn auch sie häuft Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten aufeinander und weist keinen Ausweg aus der Zurichtung durch die politischen, sozialen und kulturellen Institutionen der Moderne. Im Gegenteil scheint der Eindruck von Ausweglosigkeit, Fatalismus oder Pessimismus bewusst intendierter Effekt des Textes zu sein, und Horkheimer und Adorno wurden vielfach für ihre „totalisierende“ Kritik kritisiert (Habermas 1985; dagegen Wellmer 1985; van den Brink 1997). Aber auch an dieser Stelle kann der Bezug zu Nietzsche etwas Wesentliches erhellen, allerdings weniger an den Thesen und Vorschlägen der Dialektik der Aufklärung als an ihrer Textform, und es ist auch weniger der Philosoph Nietzsche mit seinen Thesen als der Schriftsteller mit seiner Schreibweise, der hier eine Rolle spielt (vgl. Saar 2007, 293 – 294; Endres/Pichler/ Zittel i. E.). Blickt man auf das Arsenal stilistischer und rhetorischer Mittel in der Dialektik der Aufklärung, fällt eine starke Parallele zwischen diesen beiden Projekten einer radikalen Kritik der Moderne auf: Ein monumentales Geschehnis wird in Szene gesetzt, ein schier unausweichliches Umschlagen von einem ins andere Prinzip dramatisch erzählt, die Zurichtung und Manipulation moderner Subjekte als selbst fast subjektloser, systemischer Prozess drastisch beschrieben; Schleier werden gelüftet, Illusionen zerbrochen. All dies wird von Horkheimer und Adorno ebenso drastisch in Szene gesetzt wie in Nietzsches später Kulturkritik, am deutlichsten in einigen Passagen von Jenseits von Gut und Böse und in der Genealogie der Moral (vgl. Honneth 2007). Hier wie dort werden anonyme Geschichtsmächte wie Subjekte präsentiert, werden mögliche historische Verläufe wie eherne Gesetzmäßigkeiten dargestellt, wird Hohes (Moral, Tugend, Rationalität, Freiheit) durch Niedriges (Gewalt, Rache, Betrug, Zwang) ersetzt. In beiden Fällen werden klassische Erzählmuster aufklärerischer, legitimatorischer Narrative verwendet und durch geschickte Umbesetzung in ihr Gegenteil verkehrt, so dass der drastische Hinweis auf die Ursprünge, die Herkunft und sozialen Funktionen der heutigen Ordnung, Werte und Lebensformen deren Autorität und Würde in Zweifel zieht. Dies ist natürlich Ergebnis philosophischer Argumente, aber eben auch ein wesentlicher Effekt einer Schreibweise, die solche Demaskierungen sprachlich besonders inszeniert (Owen 2007, 45 – 59; Janaway 2007, 95 – 98; Saar 2013). Die Narrative vom „Sklavenaufstand in der Moral“ (Nietzsche 1886, 208 – 212; 1887, 270 – 274), von der Geburt der Nächstenliebe aus dem Ressentiment
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(Nietzsche 1887, 372– 375) und die Szenarien einer total verwalteten Welt, in der das Individuum ausgelöscht, sozialer Konformismus und „Pseudoindividualität“ (164) die einzigen geduldeten Optionen sind, sind alle hyperbolisch konstruiert. Es scheint für beide Projekte zu gelten: „Aber nur die Übertreibung ist wahr“ (126). Übertrieben werden muss, weil die soziale Wirklichkeit der Gegenwart selbst schon drastisch und grell geworden ist und die philosophische Kritik diesem Gegenstand mit zarteren Mitteln nicht beikommt (Düttmann 2004). Adorno und Horkheimer scheinen nun ihre eigene, hyperbolische Erzählung vom Werden und Scheitern der modernen, nachaufklärerischen, d. h. für sie: bürgerlichen Welt zu geben; und sie stellen sie neben die von Nietzsche. Sie teilen die düsteren Szenarien von Herrschaft und Unterwerfung, und doch tut sich auf der rhetorischen Ebene ein kleiner Spalt zwischen den beiden Kritiken auf, der sie gegeneinander stellt. Während bei Nietzsche – je nach Lesart – der Bezugspunkt der Kritik oder Adressierung im Wesentlichen individuell oder existenziell konzipiert scheint, nämlich als wirklich „souveränes Individuum“ oder „freier Geist“, der die tragischen Wahrheiten über die Gesellschaft zu ertragen verstünde (vgl. Lemm 2008), scheinen bei Adorno und Horkheimer ein kollektives Gegenüber und damit Momente eines versöhnten Zusammen-Lebens oder glückender Sozialität auf: Das „unbeirrbare Vertrauen auf den Menschen“ (127) kann nur sozial eingelöst werden, im gemeinsamen Widerstand gegen die „verhärtete Gesellschaft“ (257). Deshalb ist in ihrem Text auch öfter von „wir“ und „uns“ die Rede, als es die Konvention des gemeinsamen Schreibens ohnehin erfordern würde. Bei aller Düsterheit im Ton ist die Dialektik der Aufklärung auch ein Text, der diese neuen, erst zukünftigen kollektiven Subjekte einer reflexiven, skeptischen und vorsichtigen Aufklärung anspricht, ohne zu wissen, ob es diese in diesem Moment schon gibt. Auch dieser Vorgriff ist eine hoffnungsvolle Übertreibung,von keinen Fakten gedeckt und von keiner Philosophie garantiert. Die Tragödie des Umschlags von Aufklärung in ihr Gegenteil, Anfang der 1940er Jahre wohl so evident wie in wenigen anderen historischen Monumenten der deutschen Geschichte, ist im Text zugleich ein Ende wie ein möglicher Anfang (vgl. Allen 2014). Ob am Ende nur einige wenige große Individuen unbeschadet überleben oder die Gesellschaft als ganze zu einem freieren, offeneren Neuanfang fähig ist, bezeichnet eine Alternative, die sich auch im Verhältnis zu Nietzsche spiegelt. Beide Projekte sind Radikalisierungen der Aufklärung, die sich auch gegen sich selbst wenden muss, die das Impliziertsein in den Herrschaftsgefügen der Moderne anerkennen und dagegen opponieren muss. Sie unterscheiden sich in der Antwort auf die Frage, wem dies möglich sein könnte. Bei aller Nähe ist der Unterschied so bedeutend wie die Antwort auf die Frage, ob, wie in einer späten Erzählung von Albert Camus, das letzte Wort eines Künstlers auf einer weißen Leinwand das Wort solitaire (einsam) oder solidaire (gemeinsam) gewesen ist (Camus 1950).
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10 Kritische Theorie und Psychoanalyse. Die Spur Freuds 10.1 Präsenz und verdeckte Spur der Psychoanalyse Die Präsenz der Psychoanalyse in der Dialektik der Aufklärung ist nicht einfach zu verorten. Sie ist kein zentrales, explizites Thema, und doch durchdringt sie die Schrift als ganze. Dies entspricht der Auseinandersetzung mit ihr im Gesamtwerk von Horkheimer und Adorno. Beide Autoren befassen sich schon früh und in unterschiedlichen Phasen ihres Schaffens mit Freud, ohne dass dieser – wie etwa andere Theoretiker oder Komponisten bei Adorno – Gegenstand einer systematischen Abhandlung geworden wäre. Ähnlich bildet die Psychoanalyse für die Kritische Theorie insgesamt eine durchgehende Referenzposition, deren Stellung sich im Laufe der Jahrzehnte allerdings stark verändert und nach Autoren variiert (vgl. Bonß 1982; Dahmer 2012; Lohmann 2006). Für Horkheimer und Adorno steht sie seit den zwanziger und dreißiger Jahren im Blick. Adorno hat sich bereits in der (zurückgezogenen) Habilitationsschrift von 1927 mit Freuds Theorie des Unbewussten im Kontext der Transzendentalphilosophie und philosophischen Ideengeschichte beschäftigt (AGS 1, 79 – 322); Horkheimer hat der Psychologie eine wichtige Stellung im Konzept eines interdisziplinären Materialismus eingeräumt und die Psychoanalyse zu einem Pfeiler der Kritischen Theorie gemacht (HGS 3, 48 – 69). Zugleich setzen sich beide Autoren kritisch von bestimmten („revisionistischen“) Strömungen der psychoanalytischen Tradition (Karen Horney, Erich Fromm) ab, gegen welche sie zentrale Konzepte der originären Freudschen Theorie (u. a. der Triebpsychologie) stark machen; teils opponieren sie gegen herrschende Praxisformen der analytischen Therapie, teils gegen Zweideutigkeiten der Freudschen Terminologie selbst. Die im Laufe der Zeit changierende Doppelseitigkeit von Aneignung und Kritik prägt auch das psychoanalytische Grundgerüst der Dialektik der Aufklärung. Es soll im Folgenden anhand leitender Fragestellungen und thematischer Schwerpunkte konkreter entfaltet und in seinem Stellenwert verdeutlicht werden.
DOI 10.1515/9783110448764-011
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10.2 Kritische Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse Auszugehen ist von der Frage, welches Anlass und Grund für die Berücksichtigung der Freudschen Theorie in einer marxistisch inspirierten kritischen Gesellschaftstheorie sind. Dass sich eine konzeptuelle Verschränkung beider Forschungsperspektiven nicht von selbst versteht, gilt nicht nur im Blick auf den Gegensatz von revolutionärer Hoffnung und anthropologisch-kulturtheoretischem Pessimismus (Jay 1976, 113 – 142), sondern auch auf das divergierende Theorieinteresse soziologischer und psychologischer Analyse. Motiviert ist die Verbindung durch eine Irritation in der Durchführung des gesellschaftskritischen Programms, das auf die Widerstandskraft des unterdrückten Lebens und die Überzeugungskraft rationaler Kritik setzte; provoziert wird sie durch die Irrationalität eines gegen sein Eigeninteresse gerichteten Verhaltens, die Selbstwidersprüchlichkeit eines in sich rückläufigen, selbstdestruktiven Fortschritts. Der Titel einer Dialektik der Aufklärung steht exemplarisch für die Figur einer sich selbst zerstörenden Vernunft, welche das Projekt menschlicher Emanzipation in ihr Gegenteil verkehrt. Psychoanalyse wendet sich jener Tiefenschicht im Seelenleben der Subjekte zu, welche die Schwierigkeit, ja, Selbstbehinderung freier Selbstwerdung bedingt. Ihr Gegenstand sind Pathologien, die nicht nur irgendwelche Dysfunktionen des Verhaltens, sondern Probleme des Selbstseins betreffen. Die beiden Figuren der kulturgeschichtlichen Rückläufigkeit und der persönlichen Selbstbehinderung stehen in offenkundiger Korrespondenz. Zugleich besitzen sie – und darin liegt die Pointe ihrer Verschränkung – wechselseitig explikative Funktion. Auf der einen Seite ist es unmöglich, die geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse, im Besonderen das Funktionieren der sozialen Repression und die Selbstverkehrung aufklärerischer Emanzipation, unabhängig von den psychischen Mechanismen, über welche sie vermittelt sind, aufzuhellen: Darin wendet sich eine interdisziplinäre Kritische Theorie gegen Ansätze eines orthodoxen Marxismus oder eine platte Soziologisierung; weder ökonomische Gesetze noch politische Herrschaft oder die Logik der Klassenkampfes bieten hier zulängliche Explikationsmuster. Zu begreifen ist, wie die Gesellschaft in die Seele hineinwirkt und über diese ihre eigene Herrschaft durchsetzt. Diese Interaktion, die sich einer kritischen Gesellschaftsanalyse generell aufdrängt, verschärft sich im Zeitalter der Totalitarismen. Auf der anderen Seite sind die Formen des Seelenlebens und das Handeln der Individuen nicht aus sich heraus, losgelöst von sozialen und realhistorischen Bedingungen, erklärbar. Die wechselseitige Verweisung zwischen den heterogenen Fragerichtungen der Psychoanalyse und der Kritik der politischen Ökonomie gehört zur These und zum epistemologischen
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Anspruch des auch für die Dialektik der Aufklärung verbindlichen Grundkonzepts kritischer Theorie. Wenn der erste Leitbegriff der psychoanalytischen Deutung der Begriff des Unbewussten ist, so findet in der umrissenen Verschränkung eine doppelte Radikalisierung des mit diesem Begriff Anvisierten statt: eine Radikalisierung vom Unbewußten zum Irrationalen und eine Vertiefung von der individuell-bewusstseinsphilosophischen zur sozialen und historischen Genese. Als solches steht das Unbewusste für eine strukturelle und genetische Tiefenschicht, die in der klassischen Bewusstseinsphilosophie wie der Geschichtsund Kulturphilosophie nicht thematisch wird; es repräsentiert das dem subjektiven Tun Vorausliegende und seinem Zugriff sich Entziehende.Verwicklungen der Menschheitsgeschichte wie Inkonsistenzen menschlichen Handelns können ohne Aufhellung dieser Schicht nicht verstanden oder gar vernünftig korrigiert werden. Das Unbewusste markiert eine Grenze des subjektiven Sicherkennens und freien Über-sich-Verfügens, ähnlich wie solche Grenzen auch durch die soziale und historische Verwurzelung oder die leibliche Verfassung des Subjekts gesetzt sind. Indessen geht es der Psychoanalyse um mehr als eine defizitäre Selbsttransparenz, eine nicht-abgelegte Naturverhaftung und verbleibende Selbstfremdheit. Das Unbewusste ist nicht nur die Zone des Unaufgehellten, der nicht einholbare blinde Fleck im Selbstsein, wie er auch von einer transzendentalphilosophischen Subjektphilosophie reflektiert werden kann. Es steht nach psychoanalytischer Lesart für ein unbewusst Gemachtes, ein Verdrängtes, das aufgrund seiner Konfliktualität oder Negativität nicht bewusst werden kann und darf. Uneinholbar ist dem Bewusstsein nicht nur das Fremde und Verdeckte, sondern in anderer Hinsicht das Unerträgliche, das abgewehrte Negative und dasjenige, was sich von sich aus dem Begreifen widersetzt, das Widersinnige und Irrationale. Es ist eine Dimension des Erlebens, die in der Urgeschichte des Subjekts, im Schicksal seines Trieblebens und in der sozialen Konstellation seiner Selbstwerdung verankert ist und deren Kräfte und Konflikte sich nach Horkheimer und Adorno in der Selbstverkehrung der geschichtlichen Entwicklung auswirken. Die Gegenläufigkeit fortschreitender Aufklärung ist keine immanente Wendung der kulturellen Evolution. Allerdings, so die komplementäre Grundthese, ist dieser dem Bewusstsein entzogene Bereich nicht allein im Seelenleben und in der Konstitution des Individuums festzumachen. Kritische Theorie distanziert sich vom „monadologischen“ Charakter des Freudschen Unbewussten (HGS 12, 441), nicht um stattdessen auf ein kollektives Unbewusstes zu setzen, sondern um die soziale und historische Vermitteltheit des Bewusstseins herauszustellen. Dabei geht es um eine genetische Betrachtung, die hinter die Archäologie des Bewusstseins auf die Urgeschichte des Menschen zurückgreift. Gerade mit Bezug auf die Pathologien
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der Gegenwart, die Deformationen des angepassten Subjekts der Massenkultur, sind die Ursachen jenseits der innerpsychischen Konflikte und psychoanalytisch diagnostizierten Neurosen nach Adorno in „noch früheren Phasen der Kindheitsentwicklung“, in einem „gleichsam prähistorischen Eingriff“ zu suchen (Adorno 1951, 69 – 70). Die herrschende Psychoanalyse, so der kritische Einwand, ist kaum in der Lage, die Normalität und verordnete Fröhlichkeit der beschädigten Gesellschaft in ihrem abgründigen Zwang zu erfassen (Adorno 1951, 69 – 70).Wenn das Schicksal des Menschen, auch in seinem affirmativen Wollen und seiner Sehnsucht, auf eine „Urgeschichte“ des Subjekts zurückweist (70 – 71, 78, 189), so gilt Analoges für die Destruktivität des Handelns und die Selbstauflösung der Ratio, wie sie exemplarisch in einer „Urgeschichte des Antisemitismus“ (7) zum Tragen kommt, welche nicht wie bei Freud als psychologische Genese, sondern in archaischen, aber gesellschaftlich realen Bewegungen nachzuzeichnen ist (HGS 16, 764.). Diese Geschichte in ihren Wurzeln und ihren Manifestationen zu entfalten, ist das Projekt der Dialektik der Aufklärung. Damit ist die allgemeine Verschränkung zwischen den Fragehorizonten der Psychoanalyse einerseits, der Gesellschafts- und Kulturkritik andererseits umrissen. Inhaltlich korrespondiert ihr die Verschränkung zwischen der Genese und Seinsweise des Subjekts einerseits, der Menschheits- und Kulturgeschichte andererseits. Im Folgenden sollen einzelne Knotenpunkte dieser Konstellation näher vergegenwärtigt und als Interpretament der Dialektik der Aufklärung expliziert werden.
10.3 Trieb, Triebunterdrückung, Entsagung Der Mensch versteht sich nicht aus sich heraus: aus der bewussten Selbstbeziehung des Subjekts, dem rationalen Denken, der geistigen Natur des Selbst. Menschliches Sein hat seinen Grund in einem Anderen, das dem bewussten Tun und Überlegen voraus und zugrunde liegt. Zu den zentralen Thesen und kulturgeschichtlichen Revolutionen der Psychoanalyse gehört die Rehabilitierung der Triebnatur des Menschen gegen ihre Marginalisierung im leitenden Menschenbild wie ihre Unterdrückung in der herrschenden Kultur. Was seit der platonisch-aristotelischen Gliederung der Seelenteile als Herrschaft der Vernunft über die begehrenden Leidenschaften postuliert wurde, wird hier als Makel, jedenfalls als kritischer Punkt in der historischen Konstitution des Selbst herausgestellt. Es ist eine Unterdrückung, die mit Verlusten einhergeht, welche sich in Beschädigungen des individuellen wie des sozialen Lebens äußern. Erfordert ist eine Einsicht in die anthropologisch fundierende Rolle der Triebnatur ebenso wie die realhistorischen Konstellationen ihrer Disziplinierung.
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Gegen die revisionistische Tendenz zur Entsexualisierung beharren Horkheimer und Adorno auf einer gewissen orthodoxen Lektüre der Psychoanalyse, welche die frühe Libidotheorie wie die spätere Todestriebhypothese ernst nimmt und in der Zeitdiagnose und Kulturkritik zum Tragen bringt. Explizit wendet sich Adorno gegen die in der „revidierten Psychoanalyse“ von Erich Fromm und Karen Horney praktizierte „Polemik gegen Freuds Triebpsychologie“ und die Abwehr der schreckhaften Phänomene wie der Kastrationsdrohung, durch welche der kritische „Stachel der psychologischen Erkenntnis“ verloren geht (AGS 8, 20, 23, 25 – 26). Die Einseitigkeit der philosophischen Begriffsgeschichte des Unbewussten (AGS 1, 79 – 322) liegt eben in Vernachlässigung des materialistischen Moments der Organlust zugunsten der rein erkenntnistheoretischen Fragestellung (vgl. Rantis 2001, 79). Dabei gilt der Akzent nicht primär dem materialistisch-naturalistischen Beschreibungsansatz als solchem als vielmehr dem Rückgang in die Tiefe des Seelenlebens als Grund der destruktiven wie der affirmativen Lebenstendenzen. Nicht zuletzt die Befreiung der reinen körperlichen Lust, die stellvertretend für die Utopie des zweckfreien Glücks steht, kommt erst jenseits der „bürgerlichen Verachtung des Triebs“ in den Blick (AGS 4, 65 – 72). In der Kirke-Episode der Odyssee wird in der magischen Verwandlung in die naturale Seinsweise zugleich mit dem ältesten Sinn des Geruchs die darin verborgene „Spur der Lust“ evoziert (78). Der Trieb ist Grund und emanzipatorisches Potential. Umso dramatischer nimmt sich seine kategorische Unterdrückung aus. Wenn Freud die Repression des Triebhaften als Bedingung der normalen Selbstwerdung und Moment der kulturellen Sublimation zeichnet, so nimmt diese Zurückdrängung in der menschheitsgeschichtlichen Optik der Dialektik der Aufklärung Züge der Gewalt und Zerstörung an. „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war“ (40). Der Triebverzicht, das Verschmähen der Lust wird zur Selbstverstümmelung als Bedingung der Selbst- und Naturbeherrschung (80). Das den Gottheiten zur Zähmung der Natur dargebrachte Opfer richtet sich gegen das Selbst; die Verinnerlichung der gehemmten Aggression und die Introversion des Opfers werden zu Scharnieren der Zivilisation, die durch externe Mächte erzwungene Versagung vertieft sich zur Entsagung (62). Die reflexiv gewendete Unterdrückung des Selbst verschmilzt mit der sozialen Herrschaft der Mächtigen, wird als deren Effekt zu ihrem Medium. Die Beherrschung des Triebs, die für das klassische Menschenbild die Basis innerer Souveränität und Selbstaffirmation darstellt, wird zum Hebel der Selbstverleugnung und Vernichtung des Selbst. Die Beherrschung verstärkt sich zur Lustfeindschaft und destruktiven Abwehr. So liegt es nahe, dass in einer bestimmten Verbindung von Freud und Marx die befreite Sinnlichkeit umgekehrt zur eigentlichen revolutionären Kraft mutieren kann (Marcuse 1969).
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10.4 Naturbeherrschung, Mimesis, Eingedenken der Natur Was die Psychoanalyse mit Bezug auf den Triebgrund des Lebens reflektiert, wird in der Urgeschichte der Subjektivität als Naturverhältnis zum Thema. Auch hier steht ein Selbstverhältnis in Frage, und auch hier findet nach der Dialektik der Aufklärung eine analoge Entfremdung statt, die zwischen Naturunterwerfung, Naturvergessenheit und Naturzerstörung oszilliert. Wenn im klassischen Entwicklungsschema bei Hegel das Zusichkommen des Geistes ein Herausgehen aus dem Naturzustand und Überwinden des naturalen Außersichseins beinhaltet, so ist diese aneignende Überwindung im zivilisatorischen Prozess zu einer dissoziierenden Repression geworden. Sie manifestiert sich nicht nur im äußeren Naturverhältnis, sondern ebenso in der Tabuisierung der eigenen Natur, der „Haßliebe gegen den Körper“, die den Leib zum Ding degradiert; „in der Selbsterniedrigung des Menschen zum corpus rächt sich die Natur dafür, daß der Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial erniedrigt hat“ (247). Die in der Frühgeschichte einsetzende „Entzauberung“ (11) der Welt und ihrer animistischen Belebung, die mit der Überwindung des Mythos die Übermacht der nichtdomestizierten Natur bricht und schließlich „die Beherrschung der Natur drinnen und draußen zum absoluten Lebenszweck“ erhebt (38), mündet in die Elimination des Lebendigen in der Natur. Zu einem Leitbegriff der kritischen Beschreibung wird der – auch in späteren Schriften Adornos grundlegende – Begriff der Mimesis. Er steht für eine Nähe zur Natur, die über die aristotelische Nachahmung der Physis durch die Techne hinausgeht und das Subjekt in seiner ursprünglichen Lebendigkeit involviert und am Natürlichen partizipieren lässt – eine Partizipation, die im instrumentellen Naturverhältnis verfemt und durch die Tendenz zum schlechten Naturalismus abgelöst wird. Aus der Mimesis ans Lebendige wird die „Mimesis ans Tote“ (64), der dem Todestriebs verschwisterte „mimétisme“ von Caillois (241) bzw. die „Mimikry mit dem Anorganischen“, die noch die gestählten Körper wie „präparierte Leichen“ erscheinen lässt (AGS 4, 64). Es entspricht einer psychoanalytischen Perspektive, dass das gewaltsam Unterdrückte sich nicht zur Gänze austreiben lässt.Wie das Verdrängte nach Freud „nachdrängt“, so bleibt das evolutionär Unterdrückte als Tendenz und Versuchung virulent, muss der mimetische Impuls gewaltsam niedergehalten werden. Zentral ist diese Figur nicht zuletzt für die Diagnose des Antisemitismus, die in der Dialektik der Aufklärung nicht religionstheoretisch oder politisch, sondern anthropologisch ansetzt und die Nähe zur Natur als Gegenstand einer Sehnsucht erkennt, die auf den Anderen projiziert und in ihm bekämpft wird, wobei der „mimetischen Verlockung“ (193) noch in der verhöhnenden Aggression nachge-
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geben, die unterdrückte Regung auf dem Umweg der Projektion zugelassen wird (196). Die zweifache, nach innen und außen gewendete Repression demonstriert zugleich mit der tiefliegenden Ambivalenz des Naturverhältnisses die Macht der Zugehörigkeit wie der gegen sie gekehrten Abwehr. Sie mündet in einer Naturzerstörung, die in Kulturindustrie, technischer Weltbeherrschung und verdinglichendem Umgang mit sich unterschiedliche Facetten einer abgründigen Entfremdung entfaltet. Gegen sie bringt die Dialektik der Aufklärung Spuren eines versöhnten Naturbezugs in den Blick, teils in Formen und Residuen einer nicht zerstörten Mimesis, teils in jenem „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (47), das geradezu zur Chiffre des Zugangs zum Verschütteten und Anderen, zum Kern einer Überwindung der Logik der Macht wird. Die Figur des Eingedenkens findet im Horizont der Fragen nach dem Ursprung und der Erinnerung ihre weitere Explikation.
10.5 Ambivalenz des Ursprungs – Sehnsucht, Emanzipation, Regression In Auseinandersetzung mit Trieb und Natur vollzieht sich der Prozess menschlicher Selbstwerdung. Sie realisiert sich wesentlich als ein Prozess der Ablösung, der sich gegen den Ursprung wendet. Diese Gegenwendung zeigt sich als eine grundlegend ambivalente, in welcher der eigene Grund sowohl verbleibende Basis und Objekt des Strebens wie Gegenstand der Verfemung und destruktiven Unterdrückung wird. Generell ist die Suche nach dem Ursprung in der Ideengeschichte im spannungsvollen Spektrum zwischen Ursprungssehnsucht, Ursprungsverhaftung, Ursprungsverlust und Ursprungskritik zum Thema geworden (vgl. Angehrn 2007). Gilt die Suche nach dem Grund und Ersten den einen als Gewähr der Wahrheit und sicheren Orientierung, so den anderen als Indiz unfreier Verhaftung und Regression. Einem Grund entspringen kann das emanzipative Freiwerden wie das Fundiertsein in der Herkunft meinen. Diesen zwiespältigen Ursprungsbezug macht die Dialektik der Aufklärung im Werden des Individuums wie in der Urgeschichte des Subjekts zum Thema. Es sei Aufgabe der Philosophie, meint Horkheimer 1945 in einer Vorlesung an der Columbia University, „die Erinnerung an die Mimesis der Kindheit wachzurufen, die durch die spätere Sozialisation verdunkelt worden“ ist (Jay 1976, 316). Ähnlich wendet sich Adorno 1946 gegen die revisionistische Relativierung der „zentralen Rolle der Kindheitserinnerungen“ als Kern der psychoanalytischen Theorie (AGS 8, 23). Dabei ist die Bedeutung der Kindheit nicht nur eine genealogische, sie liegt nicht allein in der Relevanz der ersten Entwicklungsphase und
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in den lebensgeschichtlichen Auswirkungen früher Entbehrung, Verletzung oder Disziplinierung. Sie liegt ebenso in der Nähe zur ursprünglichen Einheit und Geborgenheit, darin, dass Kindheit zum Ort der Sehnsucht nach Heimat und Versöhnung, der Erinnerung an das ursprüngliche Glück wird. Als Gegeninstanz zum abstrakten Gehäuse der fungiblen Gesellschaft dient das Ahnen und Wünschen des Kindes, das Adorno anschaulich mit dem Nachhall von Namen im kindlichen Erleben – in signifikant entgegengesetzter Prägung – verbindet: als Erinnerung an die Faszination, die vom Niedrigen, durch die Zivilisation Verdrängten ausging und die das Kind „aus den Worten Luderbach und Schweinstiege ansprang“ (AGS 6, 358 – 359), wie als Erinnerung an das Glück, „das Namen von Dörfern verheißen wie Otterbach, Watterbach, Reuenthal, Monbrunn“ (AGS 6, 366). Die Odyssee, die das Schicksal der Genese des Selbst vor Augen führt, ist wesentlich um Motive der Sehnsucht nach Rückkehr, nach dem verlorenen Urzustand, nach Heimat angelegt (85). Dabei verkörpert die Episode der Lotophagen den abgründigen Zwiespalt des Einsseins, den Segen und Fluch des Vergessens, welches das Schlaraffenland, das Aufgehen im Unmittelbaren, aber auch die Absage an die Rückkehr bedeutet (70 – 71). Die Einheit und das Aufgehen im Ganzen ist sowohl utopische Erfüllung wie drohende Verschlingung. Die beschädigte Existenz bleibt in ungelöster Spannung zwischen den Fluchtpunkten der wiedererlangten Integrität und der regressiven Auflösung, die Selbstwerdung der Gattung wie des Individuums verbleibt in der Antinomie von Emanzipation und Regression. Gewaltsam wird die Lockung der Natur, die Sehnsucht nach dem Ursprung von denen bekämpft, die ihr zu verfallen drohen.
10.6 Vergessen, Wiederholen, Erinnern In genuiner Verschränkung mit psychoanalytischen Konstellationen entfaltet die Dialektik der Aufklärung den zwiespältigen Ursprungsbezug in der Dialektik von Erinnern und Vergessen. Den hohen Wert des Erinnerns, der der Analyse vor Augen steht und der sich im individuellen Lebenslauf bekräftigt, gilt gleichermaßen für den geschichtlichen Vergangenheitsbezug. In Frage steht eine Erinnerung jenseits des positivistischen Berichts oder der Mnemotechnik des Gedächtnisses, eine Erinnerung, der es „nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung“ zu tun ist (5). Erinnerung geht nicht auf in der Reproduktion der Fakten, sondern meint ebenso ein Festhalten am Potential, an der Forderung und am Versprechen des Lebens, das in die Kindheit scheint und den Gang des Lebens trägt. Gerade wenn reale Geschichte sich als „Grauen“ erweist, ist jenes „erste Aufleuchten von Vernunft“ bedeutsam, das im Ausdruckstrieb der Kreatur sich meldet „und im erinnernden
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Denken des Menschen widerscheint“ (236 – 237). Erinnerung, die in abgründiger Einheit Leidenserinnerung und Erinnerung eines ursprünglichen Glücksversprechens ist, wird der Kritischen Gesellschaftstheorie zur subversiven Kraft. Deshalb ist Erinnerung in der etablierten Ordnung verpönt, wird sie von ihr bekämpft. Die Besinnung auf den Ursprung, die Erinnerung der Natur ist der herrschenden Praxis „gefährlich“ (271), das Vergangene gilt den gleichgeschalteten Individuen als irrational und suspekt, bringt sie „in Wut“ (226). Die Verdrängung der Geschichte findet ihr Echo in der Abneigung gegen die Pflege des Gedächtnisses in der revisionistischen Psychoanalyse: „La recherche du temps perdu est du temps perdu“ wird gewissermaßen zum Schlagwort einer Marginalisierung der Erinnerung, die „dem herrschenden Geist verschworen“ ist und mit der Abschaffung der Individualität paktiert (AGS 8, 34). Einen zentralen Stellenwert in der entfremdeten Existenz wie der sozialen Realität besitzen Formen der entäußerten, nicht-gelingenden Erinnerung. Für die Psychoanalyse sind sie unter den Titeln der Verdrängung und der Wiederholung thematisch geworden: einerseits im Modus jenes zwanghaften Verbannens aus dem Bewusstsein, das doch kein befriedetes Vergessen, kein erlösendes Freiwerden – einschließlich der Trauer und des Abschieds – ermöglicht, sondern Vergangenheit als unerkannte, unverarbeitete mit sich schleppt und in Symptomen und Ersatzhandlungen sich manifestieren lässt, anderseits in der obstinaten Wiederkehr des Gleichen, die sowohl die neurotischen Zwangshandlung wie den Kreislauf der gesellschaftlichen Mechanismen strukturiert. Das urgeschichtliche Muster dieser in der Immergleichheit sich zuwiderlaufenden Entwicklung sieht die Dialektik der Aufklärung im mythischen Bann, der Unentrinnbarkeit der zyklischen Zeit, die sich ebenso in der Permanenz der Versagung im Kulturbetrieb auswirkt (17– 23, 142– 158). Solche Wiederholung ist selbst eine Form, eine Abart des nicht als solchen erkannten Erinnerns, die zugleich die schlechte Herrschaft des Vergangenen perpetuiert und die Offenheit der Gegenwart und Zukunft unterbindet. Eine wahre, befreiende und versöhnende Erinnerungskultur, wie sie Freud (1914) in der Schrift „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ zur Sprache bringt, verlangt die Überführung der unbewusst-zwanghaften Wiederkehr des Vergangenen in dessen reflektierte Aneignung in einem bewussten Leben.
10.7 Leiden und Glückserinnerung Entscheidend ist in alledem, dass die Frage von Erinnern und Vergessen nicht als kognitive Fähigkeit und Technik der Memoria, sondern als lebensweltlicher Vergangenheitsbezug interessiert, der wesentlich durch dessen affektiv-normative Prägung bestimmt wird. Er kommt ebenso wohl als ursprüngliche Glückserin-
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nerung wie als Leidenserinnerung zum Tragen. Beide Ausrichtungen sind für die individuelle Biographie wie die kritische Geschichtsphilosophie von Belang. Gerade die negativistische Färbung der Erinnerung ist Adorno zufolge für Freud selbst ein Motiv für deren konzeptuelle Zentralität: „Was Freud eigentlich dazu veranlaßt, einzelnen Vorgängen in der Kindheit besonderes Gewicht beizumessen, ist, obzwar unausdrücklich, der Begriff der Beschädigung“ (AGS 8, 24). Gleichwohl ist es wichtig, an beiden Ausrichtungen als Angelpunkten des Selbstseins wie der Geschichte festzuhalten. Die Rettung einer utopischen Glücksidee gegen das „verordnete Glück“ im sozialen Amusement des Kulturbetriebs (AGS 4, 67) ist Vorbedingung für die Befreiung des Individuums aus der Fessel sozialer Uniformität. Es geht zum einen um eine Rehabilitierung der von der Zivilisation verschmähten, von der psychoanalytischen Lehre aufgewerteten basalen Lust, die gewissermaßen als Statthalterin einer nicht disziplinierten sinnlichen Präsenz dient, zum anderen um das Festhalten an Bildern einer emphatischen Erfüllung, wie sie der tiefsten Sehnsucht entspringen und „in der Erinnerung des fernsten und ältesten Glücks“ aufblitzen (71). Ausführlich beschreibt die Dialektik der Aufklärung die Eindämmung und Pervertierung dieses ursprünglichen Begehrens in der gesellschaftlich akzeptierten, ja, verordneten Genuss- und Spaßkultur, in welcher ein authentisches Glücksverlangen nicht nur beschnitten, sondern in sein Gegenteil verkehrt wird. Hatte Freud die Etablierung der Kultur noch über die verwandelnde Sublimierung der Libido erklärt, so weicht die erhöhende Sublimierung im heutigen Kulturbetrieb der nackten Repression, die im Zeichen der Versagung um eben jenes betrügt, das sie fortwährend verspricht (148 – 149). Indem sie „als Paradies denselben Alltag“ wieder anbietet, ersetzt sie den transzendierenden Überstieg durch die Verkettung des Immergleichen. Vergnügen wird zum „Betrug am Glück“ (149). Subversiv ist in einem solchen System die Kritik am falschen Glück ebenso wie die Erinnerung an das wahre, die beide verfemt, untersagt und unterdrückt werden. Ineins damit aber trifft das Verbot die Erinnerung des Leidens. Die ideologische Befangenheit durchbrechen hieße die Gewalt, das Unrecht und das Leiden erkennen, welche die Signatur der Welt ausmachen. In den der Psychoanalyse gewidmeten Aphorismen der Minima Moralia spitzt Adorno diesen Gedanken zum Äußersten zu: „Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten, und ein gerader Weg führt vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit hinten in Polen, daß jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die Schmerzensschreie nicht“ (AGS 4, 68). Dagegen müsste eine kritische, „kathartische“ Betrachtung darauf zielen, „die Menschen zum Bewußtsein des Unglücks, des allgemeinen und des davon unablösbaren eigenen zu bringen“ (AGS 4, 68) und die im Funktionsgefüge von Arbeit und Vergnügen sich durchsetzende
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Stummheit und Unsichtbarkeit des Leidens zu durchbrechen. Verlangt ist eine Macht der Kritik, die zuletzt von der Kraft der Negation, des Neinsagens nicht ablösbar ist. Abwehr und Widerstand sind nicht nur psychische Funktionen im Dienste des realitätsgerechten Ich, sondern desgleichen Kräfte des Individuums gegen die herrschende Realität, zutiefst gegen Leiden und Unrecht. Der Kritikansatz der Dialektik der Aufklärung, der in der Analyse der Kulturindustrie wie in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus zum Tragen kommt, ist der fundamental negativistischen Anlage der Negativen Dialektik verwandt: das Wahre nur aus der Negation des Falschen, im unversöhnlichen Widerstand und der „unbeirrten Negation“ (AGS 6, 162) des Nichtseinsollenden zu gewinnen. Dieser Gedanke, den die Negative Dialektik in den berühmten Satz fasst: „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit“ (AGS 6, 29), steht auch über den Ausführungen der Dialektik der Aufklärung.Wenn die reale Geschichte nicht Fortschritt zur Humanität, sondern im Gegenteil „das Grauen ist, so ist Denken in Wahrheit ein negatives Element“ (236). Gegen das Verbleiben im Negativen wehren sich der Ausdrucksdrang des Lebens, der den Schrei der Empörung artikuliert, wie das Ethos der Kritik und das Ideal wahren Erkennens. Freud hat die praktische Abwehr als Fundament allen Negierens – die Verneinung als „intellektuellen Ersatz der Verdrängung“ (Freud 1925, 12) – und damit allen Sprechens behandelt. Die Fundamentalität der Negativitätserfahrung und -kritik durchzieht analog das Theoriegerüst der Dialektik der Aufklärung. Die Verhinderung des Negierens und Widerstehens gehört selbst zur Herrschaftstechnik der Repression (150). Die Elimination der Negation aus der Sprache bildet einen Kern jener von Marcuse gegeißelten Eindimensionalität, in welcher das Denken seinen kritischen Stachel verliert und zum Instrument der Anpassung wird (Marcuse 1967, 139 – 158). Erneut im Einspruch gegen die harmonisierende Lehre von Horney und Fromm und die Tendenz zur nivellierend-angleichenden Therapie insistiert Adorno auf dem von Freud bedachten Leidensfaktor im Leben des Einzelnen und in der Dynamik der Psychoanalyse. Es gilt wohl das Individuum „als ein Absolutes zu nehmen“, dessen einheitlicher Charakter jedoch eher einem „System von Narben“ gleicht, „die nur unter Leiden, und nie ganz integriert werden“, und das „nur durch Leiden, Lebensnot“ an die gesellschaftliche Totalität gebunden ist (AGS 8, 24, 35). Wenn Psychoanalyse nicht nur eine Theorie über den Aufbau des Selbst, sondern auch ein verstehender Umgang mit Negativität und Leiden ist, so ist auch dies eine Spur, die in gleicher Weise die Nachzeichnung der Urgeschichte des Menschen in der Dialektik der Aufklärung durchzieht.
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10.8 Der Zwiespalt der Psychoanalyse Die Spur Freuds in der Dialektik der Aufklärung ist weder einheitlich noch eindeutig. Uneinheitlich, teils zwiespältig erscheinen sowohl die Lehre Freuds wie die psychoanalytische Strömung und die Stellungnahme der Kritischen Theorie zur Psychoanalyse. Teils geht es dabei um konzeptuelle Veränderungen im Laufe der freudschen Theoriebildung, teils um strukturelle Antinomien in seinem Konzept, teils um Divergenzen zwischen ihm und anderen theoretischen und therapeutischen Richtungen, teils um Verschiebungen innerhalb der Positionierung Horkheimers und Adornos, aber auch anderer Angehöriger der Frankfurter Schule in ihrem Verhältnis zur Psychoanalyse. Im Folgenden seien unter diesen vielfältigen Aspekten abschließend nur zwei festgehalten: die Kritik an bestimmten Richtungen und Anwendungen der Psychoanalyse und die Auseinandersetzung mit internen Spannungen in Freuds eigenem Konzept. Schon genannt wurde die Distanzierung gegenüber revisionistischen Aufweichungen, welche die Stringenz der Sexual- und Triebtheorie der Freudschen Theorie suspendieren. Nach anderer Richtung gilt die Kritik der auch in psychoanalytischen Strömungen auszumachenden objektivierenden Tendenz einer Psychologie, welche den Menschen als Material untersucht, in seine Fähigkeiten und Triebe zerlegt und die Analyse in den Dienst einer Technik der Seelenbeherrschung stellt (AGS 4, 69). Die kulturkritisch pointierteste Kritik zielt auf die der Psychoanalyse innewohnende Tendenz zur Normalisierung und Anpassung, die zum Teil mit der Dominanz der therapeutischen Ausrichtung der Psychoanalyse einhergeht. Als ideologieverdächtig gilt die therapeutische Orientierung, welche die sozial induzierten Pathologien als behebbar unterstellt und in der Fokussierung auf das Seelenleben des Einzelnen die „absolute Vorherrschaft der Ökonomie“ ignoriert, welche die Fassade der Normalität über die Verstümmelung der Individuen durchsetzt und eine Gesundheit dekretiert, der selbst „die Flucht in die Krankheit abgeschnitten“ ist; ungeschmälerter Polemik begegnet eine Psychoanalyse, die den herrschenden Verhältnissen „längst den Treueid geleistet“ und sich selbst „zu einem Stück Hygiene“ gemacht hat (AGS 4, 63 – 64). Die Tiefenpsychologie, die „mit Hilfe des Films, der Seifenopern und der Horney […] in die letzten Löcher dringt“, macht sich zum Hilfsmittel der organisierten Kultur, indem sie die Triebkonflikte nicht heilt, doch in domestizierbare Mechanismen integriert und als Bestandstück in das genormte Leben „hineinmontiert“ (AGS 4, 71). Sie hat teil am Illusionären einer individuumszentrierten Triebökonomie, die „in der Ära der großen Konzerne und Weltkriege“ längst „psychologisch expropriiert“ und „rationeller von der Gesellschaft selbst betrieben“ wird (213). Die Abschaffung des
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Individuums ist sowohl indirekte Folge der Bemühung um die Psyche des Einzelnen wie sie ihr vorausgeht und ihre Falschheit bedingt. Wenn solche Vorbehalte weniger Freud selbst als andere Repräsentanten, bestimmte Praktiken und populärwissenschaftliche Adaptationen der Psychoanalyse treffen, so distanziert sich die Dialektik der Aufklärung doch auch von Freuds eigener Sichtweise. Sie tut dies im zentralen Punkt der Absage an den Fortschrittsglauben der Aufklärung, der etwa in Freuds kulturkritischen Schriften die Illusionszerstörung der Religionskritik mit der Emanzipation des Menschen verknüpft (Freud 1927; vgl. Lohmann 2006, 378). Gerade in der Kernaussage einer in sich rückläufigen Aufklärung stellt sich die Kritische Theorie in ein gespanntes Verhältnis zur leitenden Intention der Psychoanalyse. Allerdings nimmt sie dabei auch ein internes Spannungsverhältnis, einen Zwiespalt innerhalb der Freudschen Lehre wahr, die auf der Fundamentalität des „unbewußten Triebgrunds“ im Handeln und Erleben der Subjekte beharrt und gleichzeitig an der „bürgerlichen Verachtung des Triebs“ teilhat und darin der gesellschaftlichen Rationalisierung zuarbeitet: „Freuds unaufgeklärte Aufklärung spielt der bürgerlichen Desillusion in die Hände. Als später Feind der Heuchelei steht er zweideutig zwischen dem Willen zur hüllenlosen Emanzipation des Unterdrückten und der Apologie hüllenloser Unterdrückung“ (AGS 4, 65 – 66). Der Zwiespalt ist einer der in sich gegenläufigen, von Regression bedrohten Aufklärung, an welcher „die Psychoanalyse als ein Stück Aufklärung teilhat“ (AGS 8, 30). Inhaltlich geht es um den strukturellen Zwiespalt in der Auffassung des Subjekts, zwischen Lust- und Realitätsprinzip, aber auch zwischen individuellem Selbst und sozialer Prägung, psychologischer und soziologischer Analyse, worin einerseits die Psychoanalyse sich in den Dienst einer Befreiung des Selbst aus innerem wie äußerem Zwang stellt, andererseits das Subjekt als bloßer „Schauplatz“ des Sozialen gilt und die Psychoanalyse als hilfloser Versuch erscheint, „das bereits nicht mehr vorhandene Individuum zu retten“ (HGS 12, 440), ja, in ihrer desillusionierten Version die Persönlichkeit geradezu als „Lebenslüge“ einzieht und die Inkommensurabilität des Einzelnen sabotiert (AGS 4, 70 – 72). Indes entspricht dieser zweifache Blick auf das Individuum zuletzt einem inneren Zwiespalt der Subjektwerdung, wie er auch der existenzphilosophischen Reflexion gegenwärtig ist und in Freuds Schriften teils einseitig von der einen, teils der anderen Seite angegangen wird. Der Selbstbezug des Einzelnen ist darin ebenso irreduzibel wie seine Situierung im Historisch-Sozialen unhintergehbar ist. Gerade die Intransigenz des Festhaltens an beiden Polen des Menschseins wird für die Theorie zum Index der Wahrheit. Es ist ein Beipflichten zu dieser Unnachgiebigkeit, wenn Adorno das bekannte Diktum formuliert, an der Psychoanalyse sei „nichts wahr als ihre Übertreibungen“ (AGS 4, 54), oder schreibt, „Freud hatte recht, wo er unrecht hatte“ (AGS 8, 35) – wie die Dialektik der Aufklärung auch mit
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Bezug auf den provozierenden Amoralismus der „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ feststellt: „Aber nur die Übertreibung ist wahr“ (126). In der Stellungnahme zur Psychoanalyse dominiert zumal bei Adorno jene Unversöhntheit der Gegensätze, welche die Negative Dialektik gegen den spekulativen Vermittlungsanspruch der Hegelschen Dialektik zum Programm erhebt. Eben darin erkennt er die Wahrheit der psychoanalytischen Theorie: „Die Größe Freuds besteht wie die aller radikalen bürgerlichen Denker darin, daß er solche Widersprüche unaufgelöst stehen läßt und es verschmäht, systematische Harmonie zu prätendieren, wo die Sache selber in sich zerrissen ist.“ (AGS 8, 40) Für Kritische Gesellschaftstheorie geht es darin nicht nur um das Schicksal des Psychischen oder die antinomische Verfassung der Existenz, sondern um die objektive Unvernunft und Unversöhntheit geschichtlicher Realität.
Literatur Angehrn, Emil. 2007. Die Frage nach dem Ursprung. Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik, München Bonß, Wolfgang. 1982. Psychoanalyse als Wissenschaft und Kritik. Zur Freudrezeption der Kritischen Theorie, in: Bonß, Wolfgang/Honneth, Axel (Hrsg.), Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie, Frankfurt a.M., 367 – 425 Dahmer, Helmut. 2012. Die unnatürliche Wissenschaft. Soziologische Freud-Lektüren, Münster Freud, Sigmund. 1914. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1946, 126 – 136 Freud, Sigmund. 1925. Die Verneinung, in: Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt a.M. 1948, 11 – 15 Freud, Sigmund. 1927. Die Zukunft einer Illusion, in: Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt a.M. 1948, 325 – 380 Jay, Martin. 1976. Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923 – 1950, Frankfurt a.M. Lohmann, Hans-Martin. 2006. Kritische Theorie, in: Freud-Handbuch, hg. v. Hans-Martin Lohmann/Joachim Pfeiffer, Stuttgart, 377 – 382 Marcuse, Herbert. 1967. Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied / Berlin Marcuse, Herbert. 1969. Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a.M. Rantis, Konstantinos. 2001. Psychoanalyse und „Dialektik der Aufklärung“, Lüneburg
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11 Die Dialektik der Aufklärung nach siebzig Jahren Jede Wirkungsgeschichte beginnt mit der Vorgeschichte. Denn was die Vorgeschichte ist, wissen wir nur aus ihrer Wirkung auf Verleger und Leser, Apologeten und Kritiker, Lehrer und Übersetzer, Lehrpläne und Archive, Sozialisationsprozesse und Selbstbeschreibungen.Was diese Wirkung ausmacht, erscheint deshalb nach Lektüre eines bedeutenden Werks anders als vor seiner Publikation. Im Falle der Dialektik der Aufklärung beginnt die Wirkungsgeschichte mit dem modernen Begriff der Kritik (11.1). Ihr zeitgenössischer Ausgangspunkt ist die Verbindung von Marx und Weber, mit der Georg Lukács dem Marxismus das 20. Jahrhundert erschlossen hat (11.2). Die Darstellung des Teils der Wirkungsgeschichte, die dem Erscheinen des Buches gefolgt ist, orientiert sich an dessen einzelnen Kapiteln weil diese jeweils verschiedene Wirkungen ausgelöst haben (11.3 – 11.8). Die Dialektik der Aufklärung ist im Ganzen eine Diskussion und Kritik von Kants kritischer Philosophie. In der Vorrede (11.3) und im ersten Kapitel über die Aufklärung (11.4) steht mit diesem Begriff die Möglichkeit von Wissenschaft und damit die Kritik der reinen Vernunft zur Disposition, im ersten Exkurs die Geschichtsphilosophie und im zweiten die Kritik der praktischen Vernunft (11.5). Im Kapitel über die Kulturindustrie (11.6) geht es um die Kritik der Urteilskraft in der ästhetischen Theorie. Auch im Antisemitismuskapitel fragen sich Horkheimer und Adorno, ob es nicht doch einen inneren Zusammenhang zwischen Kants bloß formalem Gesichtspunkt, alles Handeln einem verallgemeinernden Imperativ zu subsumieren und der tödlichen Konsequenz faschistischer Vernichtungspolitik, die von allen konkreten Merkmalen ihrer Opfer abstrahiert, gibt, um dann aber das Mittel zur Korrektur solcher Konsequenz, das praktische Unterscheidungsvermögen, der kantischen Moralphilosophie selbst zu entlehnen (11.7). In den aphoristischen Aufzeichnungen, mit denen das Buch endet, rechnen dessen Autoren nochmals mit der Tendenz aufgeklärter Vernunft zur Unterdrückung der Natur ab, die jene gerade dadurch verstärkt, dass sie sich selbst Grenzen im Verständnis der Natur zieht (11.8).
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11.1 Kant und die junghegelianische Konstellation Kant hatte die Aufklärung als radikale Selbstkritik der Vernunft verstanden. Von ihm stammt der Begriff der Kritik, der im Junghegelianismus zusammen mit den schnell wechselnden Bedingungen seiner Möglichkeit prominent wurde, den Zeitungsleser ergriff – „Endlich musste die Philosophie ihr Schweigen brechen, sie wurde Zeitungskorrespondent“ (Marx 1972a, 99) – und seitdem nicht mehr aus unserer feuilletonistischen, politischen und philosophischen Sprache verschwunden ist. Freilich ging die Kantische Vernunftkritik schon Zeitgenossen wie Schiller oder Herder nicht weit genug; denn sie spaltete den Begriff von der Wirklichkeit ab und mit ihm die Spontaneität des aktiven Erkennens von der Rezeptivität passiven Wahrnehmens, die Form vom sinnlich erfahrbaren Inhalt des Denkens, das allgemeine Moralprinzip, das den guten vom bösen Willen scheidet, von den Besonderheiten seiner Verwirklichung. (am Ende einer langen Kette: Brandom 1994, 614– 616) Dagegen haben nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch die nachfolgende Generation der Romantiker und idealistischen Philosophen protestiert, und Kants dritte Kritik, die Kritik der Urteilskraft haben viele von ihnen bereits als reflexive Kritik nicht nur der Vernunft, sondern auch noch der Kritik der Vernunft, die für Kant Aufklärung war, gelesen. (Brumlik 1977) Die Polemik gegen Kant kulminierte schließlich in Hegels Dialektik, deren logisches Zentrum die reflexive Kritik der Kritik der Vernunft ist. Im Jahr von Hegels Tod, 1831, begann die philosophische und wissenschaftliche Gegenwart. Die Differenz von Transzendenz und Immanenz, die das Weltbild der eurasischen Theologien und metaphysischen Entwürfe seit der Achsenzeit bestimmt hatte, wurde vollständig internalisiert, wenn sie nicht, wie im Positivismus, ganz im Bestehenden verschwand. Die nachhegelsche Konstellation macht es bis heute schwer, unumwunden zur Metaphysik zurückzukehren und die menschliche und gesellschaftliche Existenz auf eine außerhalb der Gesellschaft liegende Vernunft zu gründen. Vernunft und Subjekt, Theorie und Kritik wurden fortan als durch und durch gesellschaftliche Phänomene verstanden, in denen die Gesellschaft sich selbst erkennt, darstellt und beschreibt. Die Kritik der Erkenntnis wurde, wie in der Kritik der politischen Ökonomie von Marx, zur Kritik der reflexiven Selbstbeschreibung der Gesellschaft und war als solche Kritik der Gesellschaft. Die Gesellschaft, und das ist immer noch unsere historische Konstellation, trat mit einer Wucht, die der Wirkung der Kritik der reinen Vernunft in nichts nachstand, an die Stelle des Geistes, und die hegelsche Rechtsphilosophie wur-
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de – von Karl Marx ebenso wie von Lorenz von Stein, von Emile Durkheim ebenso wie von Max Weber – vom Kopf auf die Füße gestellt. Mit dieser begrifflichen Grundentscheidung, den Geist aus der Gesellschaft und nicht mehr die Gesellschaft aus dem Geist entspringen zu lassen, machen die Junghegelianer den entscheidenden Schritt über Hegel hinaus, der die Hegelsche Philosophie nicht mehr verjüngt, sondern etwas Neues entstehen lässt. Stein, Rosenkranz, Marx, Spencer, Weber, Durkheim und die amerikanischen Pragmatisten heben die Differenz von absolutem (Religion, Kunst, Wissenschaft) und objektivem Geist (Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat) in den objektiven Geist und diesen in die Gesellschaft auf. Die von Hegel noch einmal erneuerte Stufung des Geistes (absoluter, objektiver, subjektiver Geist mitsamt ihren Feinabstufungen) fällt in sich zusammen. Damit streift der zur Totalität erweiterte Begriff der Gesellschaft auch seine Bindung an eine besondere Klasse der Gesellschaft, das Bürgertum, ab und wird jetzt erst – wie Marx in seinem ausführlichen Trierer Kommentar zur Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843 sofort gesehen hat, demokratiefähig. (Marx 1972b) Die Klassengesellschaft wird entweder als semantische Vergangenheit ideologisch entsorgt und in ihrer neuen Realität erwerbsabhängiger Klassen von der Polizei geschützt (Rechtshegelianismus) oder als revolutionäres Projekt ihrer Aufhebung verstanden (Linkshegelianismus). Die entscheidende Weichenstellung zwischen Rechts- und Linkshegelianern hängt am Begriff der Wahrheit und seinem Verhältnis zur Gesellschaft. Der unbedingte Geltungsanspruch des absoluten Geistes verschwindet bei den Rechtshegelianern im Besuch des trostspendenden Gottesdienst, in der kontemplativen Anschauung des auratischen Kunstwerks oder in der reinigenden Handlung des Theaters. Im Linkshegelianismus werden die wissenschaftlichen, ästhetischen und religiösen Wahrheitsansprüche des vormals absoluten Geistes zum Widerspruch gegen den objektiven Geist im objektiven Geist. Als Material vergegenständlichter Arbeit des Subjekts wird sie dem objektiven Geist, der jetzt der Geist der Gesellschaft ist, einverleibt, beim Linkshegelianer Adorno nicht anders als beim Rechtshegelianer Gehlen. Während jedoch der Rechtshegelianer die kognitiven Irritationen, die die Werke beim Betrachter auslösen, auf den funktionalen, gegebenenfalls therapeutischen Nutzen verbesserter Umweltanpassung reduziert, versucht der Linkshegelianer zu zeigen, dass sich der Fortschritt im Material, der den Wahrheitsanspruch verkörpert, zu den Imperativen funktionaler Bestandssicherung subversiv verhält. (Hindrichs 2011, 55) Im 19. und 20. Jahrhundert wird aus Geschichtsphilosophie Zug um Zug Evolutionstheorie (Marx, Spencer, Durkheim), der alteuropäische Vernunftbegriff wird an den soziologischen Begriff der Rationalisierung angeschlossen (Weber), an die Stelle der hierarchisch gegliederten Sphären der Vernunft (theoretisch, praktisch, ästhetisch) treten die vorranglosen Rationalitäten gesellschaftlicher
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Teilsysteme (Parsons) oder Wertsphären (Weber), und am Ende musste auch noch der aristotelische Begriff des Handelns dem der Kommunikation (Habermas, Luhmann) weichen. Die Gefahr der Dialektik derart fortschreitender Aufklärung, die im Rückschlag von Befreiung in Verdinglichung liegt, hat Georg Lukács frühzeitig erkannt und nach Alternativen im Begriff des revolutionären Klassenbewusstseins Ausschau gehalten. Die Frankfurter Schule ist ihm darin gefolgt, hat dann aber keinen Halt mehr im Klassenbewusstsein gefunden.
11.2 Rationalisierung mit Klassenbewusstsein (Georg Lukács) Am Beginn der 1920er Jahre hatte der junge Georg Lukács, die intellektuell herausragende Figur im Heidelberger Kreis um Max Weber, dessen Begriffe der Rationalisierung und Entzauberung aufgenommen und mit Marx‘ Begriffen des Warenfetischismus und der Warenform in einer Weise verbunden, die für den Kreis um den jungen Max Horkheimer schulbildend geworden ist.¹ Am Ende des welthistorischen Rationalisierungsprozesses steht nicht die Emanzipation des Bewusstseins von allen Vorgegebenheiten, die noch den linkshegelianischen Glauben an den Fortschritt beflügelt hatte, sondern seine Wiederverzauberung durch den Fetischismus der Warenform, die vollständige Verdinglichung des Bewusstseins. (Lukács 1923) Von hier war es nur noch ein Schritt bis zur zentralen These der Dialektik der Aufklärung, Aufklärung schlage in Mythos zurück, die sich schon bei Weber im polytheistischen Kampf der Wertsphären und im Gehäuse der Hörigkeit der Zukunft andeutet. Sie schließt sich mit der anderen These, schon der Mythos sei Aufklärung, zu einem Zirkel ewiger Wiederkehr zusammen. (, 6) Auch dieser These ist derjenigen Webers, schon der archaische Zauberer sei der erste Berufsmensch, weil er die Götter und Geister mit methodischen Mitteln zu manipulieren suche, nicht unähnlich. Der Hang zur Perfektionierung und Erweiterung instrumenteller Vernunft ist nicht so das, was Mythos, Monotheismus und Aufklärung trennt, sondern was sie über alle Differenzen hinweg verbindet.
Das heißt natürlich nicht, daß nicht nur Lukács, sondern auch Freud, Nietzsche und – zumindest bei Horkheimer – Schopenhauer zentrale Bezugsautoren der Dialektik der Aufklärung sind. Zudem hat vor allem der zweite, 1924 erschienene Band von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen Horkheimer und Adorno angeregt und zu einer kritischen Weiterentwicklung motiviert. Indem sie die klar geschnittene „Dualität“ und „Gegenüberstellung des Mythos und der Vernunft dialektisieren“, gehen Horkheimer und Adorno jedoch „mit Cassirer über Cassirer hinaus“ (Raulet 2013, 73 und 80).
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Dieser Zirkel war jedoch weder für Lukács noch für die frühe kritische Theorie der Frankfurter Schule unentrinnbar. Für Lukács war der dialektische Umschlag von totaler Verdinglichung in „menschliche Emanzipation“ (Marx) im Jahr 1920 noch durch den Klassengegensatz von Lohnarbeit und Kapital, die erfolgreiche Russische Revolution und Lenins Partei neuen Typs gewährleistet. (Lukács 1923) Daran hatten Horkheimer, Adorno und ihre Freunde von vornherein Zweifel, war die sozialistische Revolution in Deutschland doch gescheitert und in Frankreich und England nicht einmal versucht worden. Um das Ausbleiben der Revolution zu erklären und die geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen doch noch möglichen Wandels zu untersuchen, bot sich die interdisziplinäre Integration der soziologischen, sozialpsychologischen, ökonomischen und historischen Forschung in eine Theorie an, die sich schon zu Zeiten von Hegel, Schelling und Marx den Stand der Forschung angeeignet und sich auf diesem Weg empirisch kontrolliert und weiterentwickelt hatte. (Dubiel 1978) Den gesamten Stand der wissenschaftlichen Forschung zu überblicken, war 1820 noch einem halbwegs umfassend gebildeten Philosophen möglich, stieß 1860 selbst bei einem so arbeitswütigen und aufnahmebereiten Geist wie Marx bereits auf unübersteigbare Grenzen und war 1920 niemandem mehr möglich. Um sich für halbwegs repräsentative Ausschnitte wenigstens der sozialwissenschaftlichen Forschung zu öffnen, musste der Marxismus sich selbst,wie Horkheimer als erster erkannt hatte, zu einem formal organisierten, interdisziplinären Forschungsprogramm entfremden. Genau das sollte ein Institut für Sozialforschung leisten, das unter der Regie Horkheimers in Frankfurt aufgebaut wurde, 1933 über Genf und Paris nach New York emigrierte und seine Arbeit bis Anfang der 1940er dort fortsetzte. Die in einer Serie von empirischen Untersuchungen und der Zeitschrift für Sozialforschung dokumentierten Ergebnisse waren so beachtlich, dass ihr organisatorisches, methodisches und sachliches Anregungspotential bis heute nicht erschöpft ist. So schließt noch der Versuch von Habermas, in den 1970er Jahren im Starnberger Max Planck Institut eine interdisziplinäre Forschergruppe zu etablieren, die eine philosophisch anspruchsvolle und normativ gehaltvolle Gesellschaftstheorie entwickeln und empirisch umsetzen sollte, mehr oder minder direkt an die Frankfurter Schule im Exil an. (Brunkhorst 2014)
11.3 Stunde der Philosophie (Vorrede) Aber Horkheimer und Adorno gingen Anfang der 1940er, als sich der geschichtliche Horizont verdüsterte, zum eigen Programm auf Distanz. Zu dieser Zeit schien der faschistische Griff nach der Weltherrschaft fast schon sein Ziel erreicht zu
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haben. In der Kontroverse um den kapitalistischen Charakter des Faschismus, die Ende der 30er und Anfang der 40er Jahre ausgetragen wurde, verdichtete sich die Zeitdiagnose Horkheimers und Pollocks, die im Unterschied zu Neumann, Gurland und Kirchheimer den geschlossen totalitären Charakter des faschistischen Staatskapitalismus betonten, der sich in Form einer Herrschaft der rackets ubiquitär durchzusetzen schien. (Dubiel/Söllner 1981) Neumann, Gurland und Kirchheimer konnten jedoch die Staatskapitalismusthese empirisch entkräften. (Neumann 1981 und 1993) Aber auch die vermittelnde Stellung zwischen den Fronten, die Herbert Marcuse in seiner Vorlesung über Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie einnahm (Marcuse 1981), konnten weder Horkheimer noch Pollock zu einer Preisgabe oder Relativierung ihrer Thesen bewegen, denen zufolge die moderne Gesellschaft sich dem Zustand eines vollendeten, undurchdringlich und oppositionslos gewordenen Verblendungszusammenhangs annäherte. Die Analysen sind bis heute aktuell geblieben. Neumanns bahnbrechende Studien haben die historische Forschung von Hannah Arendt bis Hans Mommsen vorweggenommen und angeregt. In den 1970er Jahren erwiesen Beiträge der Frankfurter Schule im New Yorker Exil ihre Aktualität in den damals heftig geführten Debatten um die Theorie des Faschismus. (Dubiel/Söllner 1981a) In jüngster Zeit hingegen werden die Diskussionsbeiträge der frühen 1940er Jahre als historisch-gesellschaftlich orientierte politische Ökonomie wiederentdeckt, die immer noch ein Potential der Kritik unhistorischer und gesellschaftsfreier Neoklassik in der Wirtschaftstheorie darstellen. (ten Brink 2013) In dieser Zeit verglichen Horkheimer und Adorno die kritische Theorie der Gesellschaft – darunter verstanden sie den nicht stalinistischen Marxismus – einer Flaschenpost, die im Pazifischen Ozean treibt, in der nur mehr schwachen Hoffnung, eines fernen Tages gefunden und geöffnet zu werden. So verwundert es nicht, wenn Horkheimer und Adorno in der Vorrede zur Dialektik der Aufklärung zum Reformismus und Revolution ebenso auf Distanz gehen wie zur Sozialforschung und zur Wissenschaft im Ganzen, deren „Betrieb“ und „Sinn“ ihnen „im gegenwärtigen Zusammenbruch der bürgerlichen Zivilisation“ „fraglich geworden“ war (1 und 4), ohne sich indes von ihr vollständig zu verabschieden; haben sie doch zur selben Zeit die bedeutendsten und bis heute aktuell gebliebenen Forschungsprojekte der Frankfurter Schule initiiert, betreut und durchgeführt. (Ziege 2009) Aber die Studien zur autoritären Persönlichkeit und zum Antisemitismus hatten für die Dialektik der Aufklärung vor allem den Sinn, zu illustrieren, dass das Ganze das Unwahre sei, kaum noch den, diese These für widerstreitende Erfahrung zu öffnen. Trotzdem waren die Wirkungen, die diese, im unmittelbaren Kontext der Dialektik der Aufklärung entstandenen Studien auf die empirische Sozialforschung
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hatten, immens.² Diese stieß dann doch auf widerstreitende Erfahrung und entdeckte signifikante Persönlichkeitsmerkmale, die dem autoritären Charakter inkommensurabel sind und dem gesellschaftlichen Druck zur ubiquitären Konformität widerstehen könnten. Leder und Schmidt 1995; Heitmeyer 2002 – 2011) Zeitgleich ist auch der bemerkenswerte und teilweise verwirklichte Versuch, Sozialforschungsprojekte zum Antisemitismus mit Hollywood-Produktionen wie Crossfire zu verbinden. (Koch 1992, 54– 56) Das hat die jüngere Filmtheorie dann zu deutlichen Umwertungen des Kulturindustriekapitels der Dialektik der Aufklärung motiviert. (Koch 1992 und 1989; Hansen 1999 und 2012) Letztlich aber glaubten Horkheimer und Adorno 1944, dass sich nur noch in Nischen, in den spontanen Impulsen des Nichtidentischen, im esoterisch kritischen Denken, in der avantgardistischen Kunst und in wenigen, abweichenden Momenten der exoterischen Kulturindustrie dialektischer Widerspruch zum falschen Ganzen in diesem selbst regen würde. Diese Position fand immer wieder Verteidiger, etwa beim frühen Enzensberger (1962), oder unter ontologischen (Theunissen 1983) und musiktheoretischen (Dahlhaus 1978; Hindrichs 2014) Gesichtspunkten. Sie bot aber weit mehr Angriffsflächen für eine negative Wirkungsgeschichte als Grand Hotel Abgrund, in dem sich die gegensätzlichsten Verächter der Frankfurter Schule einfanden (Lukács 1962, 16; Bubner 1983, 38; Albert 1969), um ihnen die schmutzigen Finger des praktisch zupackenden Denkens entgegenzustrecken und sie als intellektuelle Puristen des Feldes zu verweisen.
11.4 Rationalisierung ohne Klassenbewusstsein (Begriff der Aufklärung) Damit steht der innere Zusammenhang von Kritik und Vernunft, also der Begriff der Aufklärung erneut zur Debatte. Die Philosophie, die Horkheimer in den großen, programmatischen Texten, die er für die ersten Jahrgänge der Zeitschrift für Sozialforschung schrieb, schon fast abgeschrieben hatte (Brunkhorst 1984), erfährt eine erneute Aufwertung, die Heideggers Begriff des Denkens (und dem zeitgenössischen Existenzialismus) zumindest nahekommt und spätere Versuche des Vergleichs und der Synthese motiviert hat. (ohne Synthese: Habermas 1985; Wesche 2011; Synthese als riesiges Zitatengrab: Möhrchen 1981; differenziert: Mac-
Vgl. zur politischen Sozialisation: Hopf/Hopf 1997; zur autoritären Persönlichkeit: (Christie/ Jahoda 1954; Roghmann 1966; von Freyhold 1971; Altemeyer 1988 und 1996; zur Holocaust- und Antisemitismusforschung: Schönbach 1961; Newman/Erber 2002.
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Donald/Ziarek 2008; im Bezug auf die Heideggers Schülerin Hannah Arendt: Auer/Rensmann/Schulze Wessel 2003) Aber anders als Heidegger halten Adorno und Horkheimer an den Begriffen der Kritik, der Vernunft und des autonomen Subjekts ebenso fest wie am Begriff der Gesellschaft und ihrer Selbstreflexion und versuchen, mit diesen über deren, in Herrschaft verfangenen Horizont hinauszugelangen. Auch deshalb nimmt Kant in dem Buch, das Horkheimer und Adorno in einer winzigen Auflage, deren Exemplare nur an wenige, enge Freunde gingen, 1944 publizierten, einen prominenten, wenn nicht sogar den zentralen Platz ein. Im ersten Kapitel geht es – mit Hegel und Marx – um den gesellschaftlich existierenden Begriff der Aufklärung, der Kants gesamte Philosophie trägt. Der Wahrheitsbegriff, den die Autoren zugrunde legen, dass die „Wahrheit“ einen „Zeitkern“ habe, macht die Wahrheit selbst zum gesellschaftlich existierenden Begriff und bleibt schon deshalb ganz in den Bahnen der junghegelianischen Konstellation. Horkheimer und Adorno setzen, ganz so wie der amerikanische Linkshegelianer John Dewey, zu dessen vermeintlich positivistischem Pragmatismus sie damals schon auf Distanz gegangen waren, dem „Triumph subjektiver Rationalität“, der mit der „gehorsamen Unterordnung der Vernunft unters unmittelbar Vorfindliche erkauft“ sei, einen Begriff des „Vorfindlichen“ entgegen, der die „Gegebenheiten nicht bloß“ in ihren „abstrakten raumzeitlichen Beziehungen“ erfasst, „sondern sie im Gegenteil als die Oberfläche, als vermittelte Begriffsmomente“ denkt, „die sich erst in der Entfaltung ihres gesellschaftlichen, historischen, menschlichen Sinnes erfüllen.“ (33; vgl. Rorty 2000, 129) Diese Linie des Denkens, von der die kritische Theorie ausgegangen und der sie methodisch immer gefolgt ist, bricht in der Dialektik der Aufklärung ab. Ihr folgen aber spätere Versuche, die am Begriff verändernder Praxis orientierte Dualismuskritik der kritischen Theorie mit dem amerikanischen Pragmatismus so zu verbinden, dass die Einsicht der Dialektik der Aufklärung in den inneren Zusammenhang von Vernunft und Herrschaft ebenso wenig verloren geht wie die Bindung richtiger Praxis an Wahrheit. (Brunkhorst 1996) Das erste Kapitel der Dialektik der Aufklärung schlägt jedoch einen anderen Weg ein. Es stellt – und in diesem Punkt in Übereinstimmung mit Dewey und dem Pragmatismus – den gewaltigen Prozess der rasanten Verwissenschaftlichung und Disziplinierung der Aufklärung durch methodische Selbstkritik dar. Das Verfahren der Verwissenschaftlichung durch methodische Selbstkritik geht auf Kants Kritik der reinen Vernunft zurück. Aber so wie die rationale Ausdifferenzierung der Wissenschaften in hoch spezialisierte Disziplinen sich am Ende als Foucaultsche Disziplinierung des Körpers durch die Seele entpuppt, so erweist sich der Prozess des Fortschritts durch methodische Selbstkritik als Webersche Rationalisierung
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der Vernunft.³ Im Prozess dieser Rationalisierung verflüchtigt sich der innere Zusammenhang von Vernunft und Emanzipation in dem Maße, in dem die wissenschaftlich rationalisierte Vernunft die Gegenstände der ersten und zweiten, durch Arbeit und Praxis vergegenständlichten Natur, der Herrschaft des Begriffs unterwirft. (vgl. an Adorno anschließend und weiterführend Theunissen 1980) Wie bei Weber endet der Prozess der Rationalisierung im Gehäuse der Hörigkeit. Hier trennen sich Horkheimer und Adorno endgültig vom Pragmatismus. Vom emanzipatorischen Versprechen der Aufklärung bleibt, so scheint es, nur die endlose Steigerung des wissenschaftlich-technischen Manipulationspotentials übrig, das der Freiheit der Vernunft, die den Rationalisierungsprozess ermöglicht hat, die Luft zum Atmen nimmt. Von der dialektischen Spannung zwischen revolutionärem Klassenbewusstsein und verdinglichendem Rationalisierungsprozess bleibt, so scheint es zumindest, nur die Rationalisierung übrig. Das ist aber nicht die ganze Wahrheit, denn das Ganze ist nur soweit das Falsche, wie es sich dem Begriff unterwerfen lässt. Das ist bislang jedenfalls nicht ohne einen Rest dessen möglich gewesen, was sich dem Zugriff der begrifflichen Rationalisierung erfolgreich verweigert und sich damit als das noch unbegriffene Andere der Vernunft erwiesen hat. Unter den hegelschen und junghegelianischen Prämissen, die Adorno und Horkheimer teilen, kann das keine rein analytische Aussage sein, der zufolge die Subsumtion des Anderen der Vernunft unter diese zwangsläufig scheitern muss, weil der Begriff des Begriffs ein solches anderes immer schon voraussetzt. Das ist aber schon deshalb geschichtlicher Veränderung nicht entzogen, weil alle ‚Vorfindlichkeiten‘ und ‚Gegebenheiten‘ durch ‚Begriffsmomente‘ ‚vermittelt‘ sind, also auch umgekehrt alle Begriffe durch empirische und materielle Gegebenheiten, wie schwach auch immer, kontaminiert sind, die sich dem begrifflichen Zugriff entziehen und ihn eines Tages zur Revision jeder, auch der vermeintlich rein analytischen Wahrheit nötigen können. Schon deshalb schließen Methode und Begrifflichkeit der Dialektik der Aufklärung aus, dass am Ende das unbegreiflich Andere plötzlich in seiner reinen Urgestalt hervortritt, um der geschichtlichen Rationalität ein für alle den Garaus zu machen. In der Dialektik der Aufklärung und bei Adorno bleibt das diffuse Nichtidentische die diesseitige und fragile Quelle des Widerstands gegen die Einheit von Rationalisierung und herrschaftlicher Zwangsgewalt, die sich aus des Perspektive des noch nicht identifizierten und rationalisierten Subjekts als falsche Einheit darstellt. Das falsche Ganze ist für Adorno zumindest solange bloßer Die Wirkung auf Foucault blieb aus, weil dieser erst am Ende seines Lebens auf das Buch stieß und verblüfft die Nähe zum eigenen Denken erkennen musste. Daran schließt sich wiederum eine Wirkungsgeschichte an, die Poststrukturalismus und Frankfurter Schule vergleicht und zu integrieren versucht (vgl. Dews 1989; Honneth 1988; Habermas 1985).
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Schein, wie es noch etwas dagegen zu sagen gibt. Deshalb ist das Nichtidentische auch nicht das ganz Andere von Vernunft und Rationalisierung. Die gesellschaftlich handelnden Subjekte können die Distanz des unverdinglicht Nichtidentischen zur Herrschaft nutzen, um in verändernder Praxis die mit Herrschaft zwanghaft verschlungene Rationalität von der letzteren zu befreien und eine rationale Alternative zur Rationalität der Herrschaft hervorzubringen. (Hindrichs 2011, 56 – 58) Diese dialektische Beziehung der Rationalität auf das ihr fremde Andere hat Adorno nicht nur in der Dialektik der Aufklärung auf den methodischen Begriff der Mimesis gebracht.Versucht die Mimesis dem Nichtidentischen gerecht zu werden, so ist ihr Gegenteil Mimikry, die „Mimesis ans Tote“, die mit der Assimilation der lebendigen Arbeit an die tote ins Zentrum des modernen Kapitalismus und seiner marxistischen Kritik gerückt ist. (64) Der Rückschlag von Aufklärung in Mythos ist solche Mimesis ans Tote. Dabei ist Adorno die Nähe des eigenen Begriffs der Mimesis zu Heideggers Begriff des selbstzweckhaften Sprachgeschehens keineswegs entgangen. Für Heidegger ist die gewöhnliche Aussage das semantische Pendant zum Begriff der Rationalisierung, so wie Heideggers Gestell Webers Gehäuse der Hörigkeit nicht nur etymologisch und begriffsgeschichtlich ähnelt, sondern auch der Sache nach. Daran, dass „die Sprache nicht in ihrer Bedeutung sich erschöpft“ sieht Adorno zwar „ein Wahrheitsmoment“ der Heideggerschen Unterscheidung von Sprachgeschehen und Aussage, aber der Fehler Heideggers besteht, so Adorno, genau darin, dass jener dieses „mimetische Moment“ des Sprachgeschehens „nun gegenüber ihrem semantischen“, der alltäglich gebrauchten Aussage, „einseitig hervorhebt und dass er dadurch einseitig in der Sphäre die Dialektik stillstellt, die der Dialektik den Namen gegeben hat, nämlich eben der Sprache.“ (AGS 6, 4, 7, 65; vgl. Wesche 2011, 372) Die Pointe dieses Zitats liegt darin dass nicht nur die der herrschaftlichen Rationalisierungslogik verbandelte Aussage dem gewöhnlichen Sprachgebrauch eigentümlich ist, sondern auch der ihr widerstreitende, mimetische Ausdruck Moment desselben Sprachgebrauchs und derselben Rationalität ist. Das „mimetische Moment der Kunst“ bleibt sich selbst durchsichtige, „rationale Verfügung der Werke über alles ihnen Heterogene“. (AGS 7, 148) Zwar ist die Ratio, sofern sie die Mimesis verdrängen muss, um die naturbeherrschende Kraft des Mythos zu entfesseln und in Technik umzusetzen, selbst Mimesis ans Tote, aber das „Moment der Allgemeinheit der Ratio hebt sie über ihren subjektiven Träger“ und ermöglicht ihr, „durch Selbsterhaltung hindurch (…) diese [zu] transzendieren.“ (AGS 6, 530 – 531) An Adornos Verständnis des Rationalisierungsprozesses als sprachlich vermittelte Dialektik von kognitiver Aussage und mimetischen Ausdruck lässt sich die Dialektik der Rationalisierung, die Habermas in der Theorie des kommunikativen
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Handelns entwickelt hat, fast zwanglos anschließen. Habermas wählt in diesem Buch, das 1981 erschien, zwar einen ganz anderen, nicht mehr reflexionsphilosophischen Ausgangspunkt. Er versucht, den Begriff der Vernunft mit sprachpragmatischen Mitteln so zu explizieren, dass der Widerstand, den diese ihrer selbst verschuldeten Entmündigung entgegensetzt, nicht mehr dieser selbst entspringt, sondern einer zweiten, kommunikativen Stufe des Rationalisierungsprozesses, die von vornherein auf Gewaltlosigkeit programmiert ist (kommunikative Vernunft). Die Verwirklichung dieser Vernunft, deren mimetischer Ausdruck nur eine von mehreren Seiten der Rationalität der sozialen Lebenswelt ist (kommunikative Rationalisierung), ist jedoch auf technische und funktionale Stabilisierung angewiesen (funktionale Rationalisierung). Letztere droht aber jederzeit wie ein Kolonialherr von außen in die Lebenswelt einzudringen, um den Widerstand der indigenen Völker zu brechen und deren kommunikative Vernunft, die sich in der Lebenswelt als objektiver Geist materialisiert hat, mitsamt den Subjekten, deren solidarischen Zusammenschluss sie ermöglicht hat, zu vernichten, zu versklaven, in Dienst zu nehmen und für seine eigenen Herrschaftszwecke auszubeuten. (Habermas 1981) Die Habermassche Variation des Themas der Dialektik der Aufklärung hat weltweit endlose, längst unübersehbar gewordene Nachfolgedebatten ausgelöst. Auch den Streit um die verschiedenen Lesarten der Dialektik der Aufklärung ist seitdem intensiviert geworden. (vgl. Bolten/Türcke 1989) Habermas selbst hat das Thema in der Rechtstheorie unter dem Stichwort der Janusköpfigkeit des Rechts und danach in anthropologischen Überlegungen zur Gen-Technik und in der Genealogie religiöser Weltbilder weiterverfolgt. (Habermas 2001b) Wichtig für die Wirkungsgeschichte der Dialektik der Aufklärung ist auch der Begriff der „rettenden Kritik“, den Habermas schon früh der Ideologiekritik zur Seite gestellt hat, um deren Blindheit für die Sinnverluste durch ideologiekritische Rationalisierung zu korrigieren. (Habermas 1972) Mittlerweile wird erkennbar, dass es vor allem zwei oder drei hochproduktive und – im Jargon der Systemtheorie – anschlussfähige Versuche gibt, mit Horkheimer und Adorno über Horkheimer und Adorno hinauszugehen. Das ist neben (1) Habermas, der die sprachpragmatische Alternative im Anschluss an die linguistische Wende des 20. Jahrhunderts ausprobiert und der kritischen Theorie einverleibt hat, vor allem der Versuch, gegen Habermas und den sprachanalytischen und sprachpragmatischen Mainstream des 20. Jahrhunderts (2) einen reflexionsphilosophischen Neustart der Dialektik der Aufklärung zu wagen. Dieser Versuch kann entweder (2a) an den westdeutschen Neoidealismus (Dieter Henrich) materialistisch anschließen, so etwa Gunnar Hindrichs, oder (2b) mit Derrida und Adorno die kritische Theorie als subjektphilosophische Dekonstruktion von Sprache und Subjekt fortsetzen. Darauf zielen die Arbeiten Christoph Menkes, aber auch die am Poststrukturalismus ansetzenden Versuche Judith Butlers.
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Aussichtsreich erscheint auch (3) der Weg Theunissens, im Anschluss an die Dialogphilosophie des 20. Jahrhunderts Subjektivismus und Intersubjektivismus zu überwinden. Dieser immer noch viel zu wenig beachtete Versuch ist durch das negativ-theologische Interesse motiviert, im Gegenzug zu Heideggers Seinsgeschichte (Onto-Theologie) die Theologie von der Herrschaft der Ontologie und ihres subsumtionslogischen Begriffs zu befreien. (Theunissen 1980)
11.5 Urgeschichte der Subjektivität (Exkurse) In den beiden Exkursen, die dem ersten Kapitel der Dialektik der Aufklärung folgen, ist die Urgeschichte von Vernunft und Subjektivität das Thema. Horkheimer und Adorno lehnen es jedoch ab, mit Kant zwischen dem empirisch kontingenten, von Gewalt und Willkür beherrschten Uranfang und dem vernünftig konstruierten, Gewalt und Willkür neutralisierenden Ursprung von Vernunft und Subjektivität zu unterscheiden. In der Dialektik der Aufklärung ist der Ursprung der Vernunft immer schon von der willkürlichen Gewalt des Uranfangs kontaminiert. Im Exkurs I wird die These, schon der Mythos sei Aufklärung an der schon bürgerlichen Subjektivität der Odyssee erläutert. Odysseus, der „prototypische Bürger“, „lebt nach dem Urprinzip, das einmal die bürgerliche Gesellschaft konstituierte. Man hatte die Wahl, zu betrügen oder unterzugehen.“ (82, 69) Im düsteren Exkurs II geht es dann direkt um Kants praktische Philosophie und das 18. Jahrhundert. Durch die Lektüre de Sades versuchen Horkheimer und Adorno zu zeigen, dass die Aufklärung von der Gewalt ihres geschichtlichen Ursprungs nicht loskommt und deshalb ihr Ziel, die instrumentelle Vernunft zu überwinden, von vornherein verfehlen muss: „Das Werk des Marquis de Sade zeigt den ‚Verstand ohne Leitung eines anderen‘, das heißt, das von Bevormundung befreite bürgerliche Subjekt.“ (93) Horkheimer und Adorno lehnen aber den konservativen Umkehrschluss Gadamers oder Gehlens, den Schrecken der Autonomie im Schoß von Autorität und Tradition zu mildern, immer entschieden ab. Dadurch blieb das Buch weitgehend immun gegen Versuche feindlicher Übernahme (gründlich misslungen: Albrecht/Behrmann/Bock/Tenbruck 1999). Die Exkurse stellen die Entwicklungsgeschichte der Vernunft in zwei Stufen dar. Auf der ersten, frühgeschichtlichen (Homer, Achsenzeit) scheitert der Versuch, die Vernunft vom Mythos abzulösen, auf der zweiten, am Beginn der modernen Gesellschaft (Aufklärungsepoche, 18. Jahrhundert) gelingt zwar die selbstkritische Ablösung der Vernunft vom Mythos, aber um den Preis ihrer instrumentellen Vereinseitigung. Letztere bleibt jedoch bei Horkheimer und Adorno der geschichtlichen Logik der universellen Warenform, also der Gesellschafts-und Sozialstruktur des modernen Kapitalismus geschuldet und ist keine zwingende
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Implikation des Vernunftbegriffs selbst. Unter der Herrschaft der Warenform ist der Rückschlag von Aufklärung in Mythos vorprogrammiert. Die Universalisierung der Warenform ist jedoch nicht durch den Begriff der Vernunft selbst, sondern durch änderbare Herrschaftsverhältnisse verursacht. Ohne die Universalisierung der Warenform durch das Handeln der herrschenden und der beherrschten Klassen hätte der Rationalisierungsprozess auch eine ganz andere Richtung einschlagen können. Diese marxistische Prämisse ist für das Verständnis des Buches grundlegend, gerade weil sie unter dem Einfluss der orthodox-marxistischen (Steigerwald 1969) ebenso wie der positivistischen Kritik oft übersehen und verdrängt wurde (nicht aber von Habermas 2001a).
11.6 Das universelle Maul des Führers (Kulturindustrie) Im zweiten Kapitel der Dialektik der Aufklärung, das den beiden Exkursen folgt, wird der Begriff des Schönen aus Kants Kritik der Urteilskraft dem Prinzip der Warenästhetik, der die Kulturindustrie bestimmt, konfrontiert: „Das Prinzip der idealistischen Ästhetik, Zweckmäßigkeit ohne Zweck, ist die Umkehrung des Schemas, dem gesellschaftlich die bürgerliche Kunst gehorcht: der Zwecklosigkeit für Zwecke, die der Markt deklariert.“ (167) Wohlgemerkt, nicht nur die Kulturindustrie, sondern, ausnahmslos die gesamte bürgerliche Kunst ist Zwecklosigkeit für Zwecke, die der Markt deklariert. Die exoterische und sozialintegrativ mächtige Kulturindustrie ist lediglich Höhe- und Endpunkt der Evolution bürgerlicher Kunst, den sie mit der ihr unmittelbar verschwisterten, aber esoterischen und sozialintegrativ ohnmächtigen Avantgarde teilt. (vgl. Koch 2012) Beide zusammen stellen den fortgeschrittenen Stand der ästhetischen Produktivkräfte dar. Aber statt die repressiven Produktionsverhältnisse des modernen Kapitalismus zu sprengen und das emanzipatorische Potential der Kunst frei zu setzen, die Avantgarde durch technische Reproduzierbarkeit in revolutionäres Massenbewusstsein zu transformieren (Benjamin, Brecht, Eisenstein), verkümmert dieses Potential auf der höchsten Entwicklungsstufe der ästhetischen Produktivkräfte. Stattdessen wird ein weiteres Mal deren manipulatives Potential entfesselt, um die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu stabilisieren. Die öffentliche Verallgemeinerung der Interessen der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen durch die Disseminationsmedien der Kulturindustrie, die Benjamin (mit Sergej Eisenstein) als „Politisierung der Kunst“ der faschistischen „Ästhetisierung des Politischen“ entreißen wollte (BGS I.2, 506 – 508), musste erst scheitern, damit das Radio zum „universellen Maul des Führers“ werden konnte. (168) Auch das hätte
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angesichts der „Fortschritte im Material“ nicht so kommen müssen, und die kritische Theorie zeigt, dass die Welt veränderbar bleibt, auch wenn die gegenwärtige Lage aussichtslos erscheint. Das Kapitel über die Kulturindustrie, das in vielen späteren Arbeiten von Adorno (Prismen, Musiksoziologie, Eingriffe, Stichworte), Marcuse (Eindimensionaler Mensch), Habermas (Strukturwandel der Öffentlichkeit) und dem jungen Enzensberger (Einzelheiten) weiterentwickelt worden ist, hat seit Mitte der 1960er Jahre zahllose Nachfolgedebatten bis in die jüngste Medientheorie angeregt. (Steinert 1992; Klein 2004) Vor allem die Arbeiten von Diedrich Diederichsen zur Popkultur greifen das kritische Motiv auf, arbeiten aber die Ambivalenz und vor allem das selbstreflexive, in der Kulturindustrie gegen die die Kulturindustrie gerichtete Moment scharf heraus. (Diederichsen 2012 und 2014; vgl. bereits Wellmer 1983) Die Kontroverse zwischen Adorno und Benjamin über dessen Kunstwerkaufsatz, in der es – freilich noch unter revolutionstheoretischen Prämissen – genau darum ging, wächst kontinuierlich statt zu versiegen. Das Kulturindustriekapitel hat wütende Reaktionen, aber auch endlose Apologien provoziert. Es hat einen ähnlich großen Einfluss auf die Sozialforschung gehabt wie die Studien zum Antisemitismus und zur autoritären Persönlichkeit, die zusammen mit dem letzten Kapitel der Dialektik der Aufklärung entstanden sind. (zur Urgeschichte: ANS I.3; zur Aktualität: Lash/Urry 2000) Wie deren Begriff so gehört auch derjenige der Kulturindustrie längst zum Standardrepertoire des Feuilletons, spätestens seit der großen Wirkung des Kapitels in der Konsumismuskritik der späten 1960er Jahre. Trotz der erklärten Skepsis gegen Betrieb und Sinn empirischer Forschung sind auch dem Kulturindustriekapitel Forschungen vorhergegangen, an denen Adorno selbst beteiligt war und deren Ergebnisse in die wichtigste Vorstudie zum Kulturindustriekapitel, Adornos Aufsatz über den Fetischcharakter der Musik und die Regression des Hörens, der schon im Titel Marx und Freud integriert, eingegangen sind. (AGS 14, 14– 51; Adorno 1941) Adornos ästhetische Theorie ebenso wie die der Kulturindustrie haben die Kunst selbst beeinflusst, von der Neuen Musik bis zum Kino. (ANS IV.17; Kluge 2009)
11.7 Das Unterscheidungsvermögen des autonomen Subjekts (Antisemitismus) Im letzten Kapitel über die Grenzen der Aufklärung, die der Antisemitismus darstellt, erscheint – ganz auf der Linie des zweiten Exkurses – einerseits (1) der moralische Rigorismus Kants, die seit Schiller kritisierte Trennung der „Pflicht“ von der „Neigung“ polemisch als Vollzugsform des antisemitischen Hasses. Die
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antisemitische „Tat wird wirklich autonomer Selbstzweck“. (181) Schon deshalb kann der selbstzweckhafte Hass auf die Juden ihre Vernichtung überleben und bedarf keines wirklichen Juden, um wirksam zu sein. (177, 185, 196 – 209) Dieser Hass ist für Horkheimer und Adorno letztlich der Selbsthass der repressiven Zivilisation, der Hass des autonomen Subjekts auf die eigene, heterogene Natur, der Hass des bürgerschaftlich wohl organisierten Volks auf die unorganisierte Masse, aus der es sich selbst gewaltsam geformt hat. Er hat das politische Denken des Westens von Aristoteles bis Lenin bestimmt und ist seit frühchristlicher Zeit auf „Den Juden“ projiziert worden. (185, 196 – 209) Deshalb ist der Antisemit durch Aufklärung, die sich immer nur an Sachverhalten orientieren kann, auch nicht mehr erreichbar. Die Nähe dieses Gedankens zu Sartres fast gleichzeitiger Schrift über den Antisemitismus ohne Juden ist vielen aufgefallen und hat verschiedentlich Synthesen, Vergleiche und Abgrenzungen motiviert (Nierenberg 2014). Horkheimer und Adorno haben ihn – in Überbietung der hegelschen Kantkritik auf den polemischen Begriff des wirklich autonomen Selbstzwecks gebracht. Andererseits jedoch wird, im dialektischen Gegenstoß, (2) die faschistische Liquidation des Kantischen „Gewissens“, das Pflicht und Neigung zu unterscheiden ermöglicht, als Durchbrechung der letzten Schranke beschrieben, die den Täter vom Vollzug seiner Tat zurückhalten könnte. (181, 207– 208) Der Verlust des moralischen Unterscheidungsvermögens ist auch Hannah Arendt aufgefallen, und ausgehend von der These über die gesellschaftlich produzierte Banalität des Bösen, die auch den Autoren der Dialektik der Aufklärung das in Wahrheit radikal Böse ist, liegt der Vergleich zwischen Arendt und Adorno, der inzwischen zu einer Industrie mittlerer Größe geworden ist, noch am ehesten nahe. (vgl. Auer/Rensmann/Schulze Wessel 2003; Fritz Bauer Institut/Weißberg 2011)
11.8 Mensch und Tier (Aufzeichnungen und Entwürfe) Die abschließenden Aufzeichnungen und Entwürfe, die eine Art aphoristischen Anhang bilden, stellen den Herrschaftsanspruch der kritischen Vernunft gegen die Natur, der die Vernunft selbst entstammt, insgesamt infrage. Spätestens an dieser Stelle wird die kritische Theorie als Kritik des Anthropozentrismus hochaktuell. (Donaldson/Kymlicka 2013) Gerade das kurze Stück Mensch und Tier aus dem fragmentarischen Schlusskapitel der „philosophischen Fragmente“ wird in dieser Diskussion immer wieder zitiert (Witt-Stahl 2007). Während die evolutionäre Herkunft der Vernunft aus der Naturgeschichte schon für Kant selbstverständlich war, verweist die Dialektik der Aufklärung auf
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den Preis der gewaltsamen Unterdrückung innerer und äußerer Natur, der für den aufrechten Gang, der Kant zufolge dem vernünftigen Denken so sehr zugutekommt, entrichtet werden musste. (Kant 1977b: 766 – 769) Die Verleugnung dieser Gewalt hinterlässt „Narben“, die den Preis des Fortschritts praktischer Vernunft kenntlich machen. (275) Nur die Erinnerung, das anamnetische oder psychoanalytische Eingedenken könnte die in der erzwungenen Verleugnung des naturgeschichtlichen Ursprungs der vernünftigen und aufgeklärten Subjektivität immer noch wirksame Naturgewalt mildern und den Bann lösen. Eine wichtige philosophische Fortentwicklung der umfassenden Kritik der Dialektik der Aufklärung an der Herrschaft des Begriffs über Mensch und Natur, die tiefer ansetzt als die Tierrechtsdebatte, stellt das Werk Michael Theunissens dar. In Theunissens Lesart läuft Hegels Logik auf eine radikale Kritik des Anthropozentrismus zu und koinzidiert genau in diesem Punkt mit der Dialektik der Aufklärung. Eine im Sinne Hegels wahrhaft „universale Kommunikationstheorie“ darf nicht, wie bei Habermas, auf soziale Intersubjektivität eingeschränkt werden. Sie traut (mit Buber und Adorno) „jedem Seienden und nicht nur dem Menschen zu […], ein Du sein zu können“. Hegel deckt „in der Logik“, so versucht Theunissen zu zeigen, „Strukturen auf, die das Ganze der Wirklichkeit, nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen unter die Forderung absoluter Relationalität stellen.“ Seine implizite und latente Kommunikationstheorie ist deshalb sogar noch umfassender als die Bubers und trifft sich mit Adornos Utopie einer Natur, die die Augen aufschlägt: „Sie begreift als eine in den Verhältnissen der Dinge zueinander liegende Möglichkeit, was Buber bloß von der Beziehung des Menschen zu den Dingen erwartet.“ (Theunissen 1980, 46 – 47)
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Hindrichs, Gunnar. 2011. Der Fortschritt des Materials, in: Klein, Richard/ Kreuzer, Johann/ Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.): Adorno Handbuch. Stuttgart, 47 – 58 Hindrichs, Gunnar. 2014. Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Berlin Honneth, Axel. 1988. Kritik der Macht: Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. Hopf, Christel/Hopf, Wulf 1997. Familie, Persönlichkeit, Politik – eine Einführung in die politische Sozialisation, Weinheim Jay, Martin. 1979. Frankfurter Schule und Judentum, in: Geschichte und Gesellschaft 5 Kant, Immanuel. 1977b. Zu Peter Moscati, in: Werkausgabe XII. Frankfurt a.M., 766 – 769 Klein, Gabriele. 2004. Electronic Vibration – Pop Kultur Theorie, Wiesbaden Kluge, Alexander. 2009. Die Aktualität Adornos. (verfügbar unter: http://www.google.de/url? sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&ved=0CCAQFjAA&url=http%3 A%2F%2Fwww. kluge-alexander.de%2Fzur-person%2Freden%2F2009-adorno-preis.html&ei=aVWdU4ioNI6w7Ab46IHIDw&usg=AFQjCNFtiwIxeEvbsAumhHfgLlQTybH3Jg&bvm=bv.68911936,d.ZGU (15. 6. 2014)) Koch, Gertrud. 1989. „Was ich erbeute, sind Bilder“ – Zum Diskurs der Geschlechter im Film, Frankfurt a.M. Koch, Gertrud. 1992. Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Judentums, Frankfurt a.M. Koch, Gertrud. 2012. Film als Experiment und Animation, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1, 11 – 24 Lash, Scott/Urry, John. 2000. Die globale Kulturindustrie, Frankfurt a.M. Lederer, Gerda/Schmidt, Peter (Hrsg.). 1995. Autoritarismus und Gesellschaft. Trendanalysen und vergleichende Jugenduntersuchungen von 1945 – 1993, Opladen Lukács, Georg. 1923. Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin Lukács, Georg. 1962. Die Theorie des Romans, Neuwied Marcuse, Herbert. 1981. Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie, in: Dubiel, Helmut/Söllner, Alfons (Hrsg.): Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M., 337 – 366 MacDonald, Iain/Ziarek, Krzysztof (Hrsg.). 2008. Adorno and Heidegger, Stanford Marx, Karl. 1972a. Der leitende Artikel in Nr. 179 der ‚Kölnischen Zeitung’, in: Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Werke 1, Berlin, 86 – 104 Marx, Karl. 1972b. Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Werke 1, Berlin, 203 – 333 Möhrchen, Herrmann/Adorno und Heidegger. 1981. Untersuchung einer philosophischen Kommunikationsverweigerung, Stuttgart Neumann, Franz. 1981. Die Wirtschaftsstruktur des Nationalsozialismus, in: Dubiel, Helmut/ Söllner, Alfons (Hrsg.): Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M., 129 – 234 Neumann, Franz. 1993. Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 – 1944, Frankfurt a.M. Newman, Leonard S./Erber, Ralph (Hrsg.). 2002. Understanding Genocide. The Social Psychology of the Holocaust, Oxford Nierenberg, David. 2014. Anti-Judaism. The Western Tradition, New York
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12 Auswahlbibliographie Forschungsliteratur zur Dialektik der Aufklärung: Die Forschungsliteratur zur DA bis 1987 wurde umfassend dokumentiert von: Görzen, René. 1987. Dialektik der Aufklärung. Eine Literaturübersicht, in: van Reijen, Willem/Schmid Noerr, Gunzelin (Hrsg.): Vierzig Jahre Flaschenpost. ‚Dialektik der Aufklärung’ 1947 – 1987, Frankfurt a.M., 242 – 252
Im Folgenden wird aus der Literatur vor lediglich eine Selektion wichtiger Titel angeführt. Abgesehen von den Abschnitten . und . konzentriert sich die Bibliographie auf Forschungsbeiträge, in denen es zentral um die DA geht. Für weitere Literatur zu Adorno und der kritischen Theorie sei ausserdem auf die umfangreiche Bibliographie der Adorno-Forschungsstelle der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg verwiesen (zum Zeitpunkt der Drucklegung auf dem Stand April ): http://www.philosophie.uni-oldenburg.de/download/Forschung/Internationale_Adorno-Biblio graphie_Stand_April_.pdf
12.1 Rezensionen (nach Görzen 1987) [Anonymus]: Zum Antisemitismus, in: Rheinischer Merkur, 7. 5. 1949 [Anonymus]: Im Zeichen triumphalen Unheils, in: Links 12 (1953), 28 – 29 [Anonymus] in: Stromata (San Miguel, Argentinien) 25 (1969), 256 – 257 [Anonymus] in: Times Literary Supplement, 12. 5. 1970 Arénilla, L., in: Revue du XVIIIe siècle 7 (1975) Bradley, J. A., in: Radical Philosophy 13 (1976), 39 – 40 Carbaña, J., in: Teorema 1.2 (1971), 167 – 169 Coletti, Lucio, in: Problemi del socialismo. Nuova serie 9.15 (1969) Cunningham, A., in: Tablet 228 (4. 5. 1974), 425 Farrell, Th. B./Aune, J. A., in: The Quarterly Journal of Speech 65 (1979), 93 – 107 Frenzel, Ivo: Wendemarken der Philosophie, in: Süddeutsche Zeitung, 8. 10. 1969 Fromment-Meurice, M., in: La nouvelle revue française 374 (1984), 125 – 128 G., in: Vaterland, 29. 4. 1949 Gallardo, H., in: Revista de filosofia de la Universidad de Costa Rica (San José) 14.38 (1976), 130 – 132 Hartmann, Horst: Liquidation durch Aufklärung, in: Deutsche Volkszeitung, 28. 11. 1969 Höhn, G.: Contre l’industrie culturelle, in: La quinzaine literaire, 195 (1974), 15 Kavanaugh, John F., in: The Modern Schoolman 52.4 (1975), 427 – 432 Kraus, W., in: Deutsche Literaturzeitung 91 (1970), 869 – 871 Lieber, Hans-Joachim: Dialektik der Aufklärung, in: Neue Zeitung, 17. 2. 1952
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12 Auswahlbibliographie
Mairet, G.: Raison et/ou barbarie. L’Ecole de Francfort, in: Les nouvelles littéraires 2437 (1974), 9 Marko, K., in: Philosophy and History 3 (1970), 148 – 150 Matzat, Heinz L., in: Philosophischer Literaturanzeiger 1 (1949), 27 – 30 Meyer, Rudolf W.: Philosophische Fragmente, in: Neue Zürcher Zeitung 262 (10./11. 11. 1979), 67 Oberer, H., in: Wissenschaftlicher Literaturanzeiger, 18. 11. 1969 Pasero, Nico/Bauer, Rudolph: Aufklärung auf Italienisch, in: Diskus 17.4 (1967), 4 Poupin, B., in: Esprit 42.7 – 8 (1974), 156 – 158 R., L.: Eine Deutung der Gegenwartskrise, in: Tages-Anzeiger für Stadt und Kanton Zürich 232.9 (2. 10. 1949) Raudzus, Bruno: Das Gesetz der Serie. Beiträge zur Kritik der Zeit, in: Frankfurter Rundschau 4.156 (9. 10. 1948), 4 Reix, A., in: Les études philosophiques 2 (1977), 233 – 234 Saltini, V.: L’illuminazione come realtà e come dominio, in: L’espresso, 4. 9. 1966 Salzinger, Helmut: Dialektik der Aufklärung. Kritik in Kürze, in: Die Zeit, 6. 6. 1969 Schreiber, Mathias: Horkheimer/Adorno: Der Fortschritt kann tyrannisch sein. Niemand übersteht die Lektüre der „Dialektik der Aufklärung“ ungeschoren, in: Frankfurter Neue Presse, 10. 10. 1969 Zehm, Günter, Aufklärung für Aufklärer, in: Die Welt der Literatur, 8. 10. 1969, 3 – 4
12.2 Biographisches und Historisches Claussen, Detlev. 1999. Die amerikanische Erfahrung der Kritischen Theorie, in: Ders.: Negt, Oskar/Werz, Michael (Hrsg.): Keine Kritische Theorie ohne Amerika, Frankfurt a. M. 27 – 45 Claussen, Detlev. 2003. Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt a. M. Demirović, Alex. 1999. Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. Hertel, Thomas. 1993. Gemeinschaftskultur der Masse. American way of life oder nivellierende Kulturindustrie? Untersuchungen zu Theodor W. Adornos Massenkulturkonzept unter Berücksichtigung des Spannungsfeldes zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika. Diss. phil. Humboldt-Universität, Berlin Jäger, Lorenz. 2003. Adorno. Eine politische Biographie, München Kapferer, Norbert. 2008. Philosophie in Deutschland 1945 – 1995. Grundzüge und Tendenzen unter den Bedingungen von politischer Teilung und Wiedervereinigung, Hamburg (bes. Bd. 1, 342 ff.) Mensching, Günther. 1984. Zu den historischen Voraussetzungen der Dialektik der Aufklärung, in: Löbig, Michael/Schweppenhäuser, Gerhard (Hrsg.): Hamburger Adorno-Symposion, Lüneburg, 25 – 45 Müller-Doohm, Stefan. 2003. Adorno. Eine Biographie, Frankfurt a. M. Schmidt, James. 1998. Language, Mythology, and Enlightenment. Historical Notes on Horkheimer and Adorno’s Dialectic of Enlightment, in: Social Research 65, 807 – 838 Wiggershaus, Rolf/ Max Horkheimer. 2014. Begründer der „Frankfurter Schule“, Frankfurt a. M.
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12.3 Überblickswerke und Gesamtdarstellungen Brunkhorst, Hauke. 1990. Theodor W. Adorno. Dialektik der Moderne, München/Zürich Demirovic´, Alex (Hrsg.). 2003. Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Traditionen und Perspektiven der Kritischen Theorie, Stuttgart Geyer, Carl-Friedrich 1982. Kritische Theorie. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Freiburg/München Klein, Richard/Kreuzer, Johann/Müller-Doohm, Stefan (Hrsg.). 2011. Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, darin bes.: Hetzel, Andreas: Dialektik der Aufklärung, 389 – 397 Jarvis, Simon. 1998. Adorno. A Critical Introduction, Cambridge (zur DA bes. Kap. 1) Reese-Schäfer, Walter. 22012. Politische Theorie der Gegenwart in achtzehn Modellen, München (zur DA bes. 70 ff.) Rosen, Zvi. 1995. Max Horkheimer, München Schweppenhäuser, Gerhard. 62013. Theodor W. Adorno zur Einführung. Hamburg Wiggershaus, Rolf. 1998. Max Horkheimer zur Einführung, Hamburg Wiggershaus, Rolf 32006. Theodor W. Adorno, München Wiggershaus, Rolf. 72008. Die Frankfurter Schule. Geschichte – theoretische Entwicklung – politische Bedeutung, München (zur DA bes. 338 – 383) Wiggershaus, Rolf. 2013 Max Horkheimer. Unternehmer in Sachen „Kritische Theorie“, Frankfurt a. M. (zur DA bes. Kap. XII.)
12.4 Sammelbände Gangl, Manfred/Raulet, Gérard (Hrsg.). 1998. Jenseits instrumenteller Vernunft. Kritische Studien zur Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. Kunneman, Harry/de Vries, Hent (Hrsg.). 1989. Die Aktualität der „Dialektik der Aufklärung“. Zwischen Moderne und Postmoderne, Frankfurt a. M./New York Kulke, Christine/Scheich, Elvira (Hrsg.) 1992. Zwielicht der Vernunft. Die Dialektik der Aufklärung aus der Sicht von Frauen, Pfaffenweiler New German Critique 81. 2000. Dialectic of Enlightenment Paul, Jean-Marie (Hrsg.). 1996. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno et la „Dialektik der Aufklärung“, Nancy Raulet, Gérard/Gangl, Manfred (Hrsg.) 1998. Jenseits instrumenteller Vernunft. Kritische Studien zur Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. van Reijen, Willem /Schmid Noerr, Gunzelin (Hrsg.) 1987. Vierzig Jahre Flaschenpost. ‚Dialektik der Aufklärung’ 1947 – 1987. Frankfurt a. M.
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12 Auswahlbibliographie
12.5 Allgemeines zur DA Arnason, Johann P. 1986. Die Dialektik der Aufklärung und die postfunktionalistische Gesellschaftstheorie, in: Honneth, Axel/Wellmer, Albrecht (Hrsg.): Die Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin/New York, 207 – 222 Baars, Jan. 1998. Kritik als Anamnese. Die Komposition der Dialektik der Aufklärung, in: Kunneman, Harry/de Vries, Hent (Hrsg.), 210 – 225 Benhabib, Sheyla. 1986. Critique, Norm, and Utopia. A Study of the Foundations of Critical Theory, New York, bes. 163 – 171 Brunkhorst, Hauke. 1987. Die Welt als Beute. Rationalisierung und Vernunft in der Geschichte, in: Reijen, Willem van/Schmidt Noerr, Gunzelin (Hrsg.), 154 – 191 Brunkhorst, Hauke. 2000. The Enlightenment of Rationality. Remarks on Horkheimer and Adorno’s Dialectic of Enlightenment, in: Constellations 7.1, 133 – 140 Bubner, Rüdiger. 1979. Kann Theorie ästhetisch werden? Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos, in: Lindner, Burkhard/Lüdke, W. Martin (Hrsg.): Materialien zur ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos. Konstruktion der Moderne, Frankfurt a. M., 108 – 137 (zur DA bes. 115 – 118) Dahlhaus, Carl. 1991. Aufklärung in der Musik, in: Früchtl, Josef/Calloni, Marina (Hrsg.): Geist gegen den Zeitgeist. Erinnern an Adorno, Frankfurt a. M., 123 – 135 Dejung, Christoph. 1992. Für Voltaire. Bemerkungen zum gleichnamigen Fragment im Anhang der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno, in: Studia Philosophica 51, 183 – 202 De Vries, Hent. 1989. Die Dialektik der Aufklärung und die Tugenden der „Vernunftskepsis“. Versuch einer dekonstruktiven Lektüre ihrer subjektphilosophischen Züge, in: Kunneman, Harry/de Vries, Hent (Hrsg.), 183 – 209 Foster, Roger. 2004. Dialectic of Enlightenment as Genealogy Critique, in: Delanty, Gerard (Hrsg.): Theodor W. Adorno, Bd. 3, London, 5 – 24 Früchtl, Josef. 2003. Aufklärung und Massenbetrug oder Adorno demonstriert etwas uncool für den Film, in: Seubold, Günter/Baum, Patrick (Hrsg.): Wieviel Spaß verträgt die Kultur. Adornos Begriff der Kulturindustrie und die gegenwärtige Spaßkultur, Bonn, 145 – 165 Gangl, Manfred. 1998. Staatskapitalismus und Dialektik der Aufklärung. In: Ders./Raulet, Gérard (Hrsg.), 158 – 186 García Düttmann, Alexander. 2000. Thinking as Gesture: A Note on „Dialectic of Enlightenment“, in: New German Critique 81, 143 – 152 (dt.: „Denken als Geste. Zur Dialektik der Aufklärung, in: Zeitschrift für kritische Theorie 7.13 (2002), 57 – 66) Habermas, Jürgen. 41987. Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a.M. (zur DA bes. Bd. 1, 503 – 513) Habermas, Jürgen. 1983. Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung. Bemerkungen zur Dialektik der Aufklärung, in: Bohrer, Karl-Heinz (Hrsg.): Mythos und Moderne. Frankfurt a. M., 405 – 431 Habermas, Jürgen. 1985. Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. (zur DA bes. 130 – 158) Habermas, Jürgen. 1986. Nachwort, in: Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M., 277 – 294 Härle, Clemens-Carl. 1996. Versuch, die Dialektik der Aufklärung abermals zu lesen, in: Paul, Jean-Marie (Hrsg.), 75 – 96
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12 Auswahlbibliographie
12.7 Odyssee-Exkurs und Mythos Birzele, Karl-Heinrich. 1977. Mythos und Aufklärung. Adornos Philosophie, gelesen als Mythos. Versuch einer kritischen Rekonstruktion, Würzburg Cochetti, Stefano. 1985. Mythos und „Dialektik der Aufklärung“, Königstein/Ts. Comay, Rebecca. 2000. Adorno’s Siren Song, in: New German Critique 81, 21 – 48 Figal, Günter. 2008. Odysseus als Bürger. Horkheimer und Adorno lesen die Odyssee als Dialektik der Aufklärung, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2, 50 – 61 (wieder abgedruckt in: Ders.: Kunst. Philosophische Abhandlungen, Tübingen 2012, Kap. 7) Geyer-Ryan, Helga. 1989. Von der Dialektik der Aufklärung zur Dialektik der Odyssee. Gegen eine Moderne bei Adorno, in: Kunneman, Harry/de Vries, Hent (Hrsg.), 114 – 127 Geyer-Ryan, Helga/Lethen, Helmut. 1987. Von der Dialektik der Gewalt zur Dialektik der Aufklärung. Eine Re-Vision der Odyssee, in: Reijen, Willem van/Schmid Noerr, Gunzelin (Hrsg.), 41 – 73 Guzzoni, Ute. 2004. Grauen und Verlockung. Zur Natur im Odysseus-Exkurs der Dialektik der Aufklärung, in: Ette, Wolfram/Figal, Günter/Klein, Richard/Peters, Günter (Hrsg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens, Freiburg/München, 57 – 71 Hullot-Kentor, Robert. 1992. Notes on Dialectic of Enlightenment. Translating the Odysseus Essay, in: New German Critique 56, 101 – 108 Martella, Vincenzo. 2011. Heimkehr in die Zivilisation. Adornos Lektüre der Odyssee in der „Dialektik der Aufklärung“, in: Juterczenka, Sünne/Sicks, Kai Marcel (Hrsg.): Figurationen der Heimkehr. Die Passage vom Fremden zum Eigenen in Geschichte und Literatur der Neuzeit, Göttingen, 289 – 308 Muller, Sibylle. 1996. „Que chantent les sirènes? Ou: la critique de l’art dans la Dialektik der Aufklärung, in: Paul, Jean-Marie (Hrsg.), 99 – 107 Tiedemann, Rolf. 1998. „Gegenwärtige Vorwelt“. Zu Adornos Begriff des Mythischen, in: Ders. (Hrsg.): Frankfurter Adorno Blätter 5, München, 9 – 36 Wellmer, Albrecht. 2000. The Death of the Sirens and the Origin of the Work of Art, in: New German Critique 81, 5 – 19 Wohlfarth, Irving. 1998. Das Unerhörte hören. Zum Gesang der Sirenen, in: Gangl, Manfred/Raulet, Gérard (Hrsg.), 225 – 274
12.8 Aufklärung Bialas, Wolfgang. 1998. Zum Subjekt emanzipatorischer Projekte. Die Aufklärung als geschichtsphilosophisches Konzept, in: Gangl, Manfred/Raulet, Gérard (Hrsg.), 91 – 108 Boboc, Alexandru. 2004. Aufklärung als Aufgabe und Aufklärung als „Mythos“. Über die Bedeutung der Dialektik der Aufklärung in der Aufklärungsdebatte, in: Schmid Noerr, Gunzelin/Schmidts, Kurt (Hrsg.): Die Zukunft der Vernunft. Zur Aktualität von Th. W. Adorno, Cluj/Napoca, 71 – 79 Ferrone, Vincenzo. 2010. Die Aufklärung – philosophischer Anspruch und kulturgeschichtliche Wirkung, übers. Katja Montino, Göttingen 2013 (zur DA bes. 55 ff.), ital. Orig.: Lezioni illiministiche, Roma/Bari
12 Auswahlbibliographie
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Möll, Marc-Pierre. 2003. Ist Aufklärung totalitär? Zur Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno, in: Aufklärung und Kritik 2, 12 – 22 Nho, Soung-Suk. 2000. Die Selbstkritik und Rettung der Aufklärung. Untersuchungen zum Begriff der Aufklärung in der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer, Frankfurt a. M. Stadler, Ulrich. 2008. Klüger als Condorcet? Über den Fortbestand des Projekts Aufklärung bei Adorno und Alexander Kluge, in: Kohler, Georg/Müller-Doohm, Stefan: Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist, 83 – 102 Sherratt, Yvonne. 2000. Adorno and Horkheimer’s Concept of „Enlightenment“, in: British Journal for the History of Philosophy 8.3, 521 – 544
12.9 Bezüge zu Künstlern und Philosophen Ackermann, Peter. 1981. Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ und die Dialektik der Aufklärung (= Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft 9), Tutzing Becker-Cantarino, Barbara. 1993. Patriarchy and German Enlightenment Discourse. From Goethe’s Wilhelm Meister to Horkheimer and Adorno’s „Dialectic of Enlightenment“, in: Wilson, Daniel W. (Hrsg.): Impure Reason. Dialectic of Enlightenment in Germany. Detroit, 48 – 64 Dörr, Georg. 2007. Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule, Würzburg Dews, Peter. 1989. Foucault und die Dialektik der Aufklärung, in: Kunneman, Harry/de Vries, Hent (Hrsg.), 88 – 99 Faber, Richard. 2008. Autoritärer Liberalismus oder: Dialektik der Aufklärung. Von Thomas Hobbes zu Carl Schmitt, in: Ders./Ziege, Eva-Maria (Hrsg.): Das Feld der Frankfurter Kultur und Sozialwissenshaften nach 1945, Würzburg, 47 – 72 Fischer, Karsten. 2000. „Schritt für Schritt weiter in der décadence“. Zur Dialektik der Aufklärung bei Nietzsche und Adorno, in: Reschke, Renate/Gerhardt, Volker (Hrsg.): Nietzsche Forschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 5/6, Berlin, 293 – 304 Gentili, Carlo. 2003. Nietzsche nella Dialettica dell’Illuminismo, in: Gentili, Carlo/Gerhardt, Volker/Venturelli, Aldo (Hrsg.): Nietzsche, Illuminismo, Modernita`, Firenze, 65 – 76 Kimmerle, Heinz 1988. Die Dialektik der Aufklärung als Ausgangspunkt einer Bifurkation der philosophischen Denkwege? Zu Habermas’ Deutungsschema der Philosophie der Moderne, in: Schmid Noerr, Gunzelin (Hrsg.): Metamorphosen der Aufklärung, Tübingen, 99 – 112 Kunneman, Harry. 1989. Dialektik der Aufklärung, Mikrophysik der Macht und die Theorie des kommunikativen Handelns, in: Kunneman, Harry/de Vries, Hent (Hrsg.), 150 – 167 Magiros, Angelika. 2004. Kritik der Identität. „Bio-Macht“ und „Dialektik der Aufklärung“. Zur Analyse (post‐)moderner Fremdenfeindlichkeit, Münster Lövenich, Friedhelm. 1990. Paradigmenwechsel. Über die Dialektik der Aufklärung in der revidierten Kritischen Theorie, Würzburg
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12 Auswahlbibliographie
O’Connor, Brian. 1999. Nietzsche and Enlightenment Science. Adorno’s Response, in: Babich, Babette E. (Hrsg.): Nietzsche, Theory of Knowledge and Critical Theory (=Nietzsche and the Sciences, Bd. 1), Cornwall, 225 – 242 Paetzold, Heinz 1994. Ernst Cassirers „The Myth of the State“ und die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, in: Ders.: Die Realität der symbolischen Formen, Darmstadt, 101 – 145 Rantis, Konstantinos. 1987. Psychoanalyse und Dialektik der Aufklärung, Lüneburg 1999 Rath, Norbert: Zu Nietzsche-Rezeption Horkheimers und Adornos, in: Reijen, Willem van/ Schmid Noerr, Gunzelin (Hrsg.), 73 – 110 Rudolph, Werner. 1992. Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn. Die „Dialektik der Aufklärung“ im System der Kritischen Theorie und ihr Verhältnis zur philosophischen Tradition, Berlin Vidal Mayor, Vanessa. 2004. Zweideutigkeit der Aufklärung. Nietzsche und Adorno, in: Reschke, Renate (Hrsg.): Nietzsche – radikaler Aufklärer oder radikaler Gegenaufklärer?, Berlin, 305 – 334 Wagner, Benn. 1998. Odysseus in Amerika. List und Opfer bei Horkheimer/Adorno und Kafka, in: Gangl, Manfred/Raulet, Gérard (Hrsg.), 207 – 224 Weininger, Holger. 1998. Vernunftkritik bei Nietzsche und Horkheimer/Adorno. Die Problemstellung in „Zur Genealogie der Moral“ und in der „Dialektik der Aufklärung“, Dettelbach
Biographische Angaben Emil Angehrn, em. Professor für Philosophie an der Universität Basel. Veröffentlichungen u. a.: Die Frage nach dem Ursprung. Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik, München 2007; Sinn und Nichtsinn. Das Verstehen des Menschen, Tübingen 2010; Die Herausforderung des Negativen. Zwischen Sinnverlangen und Sinnentzug, Basel 2015. Hauke Brunkhorst, Professor für Soziologie an der Universität Flensburg. Veröffentlichungen u. a.: Legitimationskrisen. Verfassungsprobleme der Weltgesellschaft, Baden-Baden 2012; Critical Theory of Legal Revolutions – Evolutionary Perspectives, London 2014; Das doppelte Gesicht Europas – Zwischen Kapitalismus und Demokratie, Berlin 2014. Julia Christ, Chargé de recherche am CNRS/Paris. Veröffentlichungen u. a.: Spiel und Kritik. Zur Sozialphilosophie Adornos, Baden-Baden 2017; „Symptôme et totalité. Peut-il y avoir une lecture symptômale de la réalité sociale?“ in: Guillaume Fondu et Antony Burlaud (Hrsg.), Althusser 1965, Paris 2017; (Hrsg. mit Titus Stahl) Momente der Freiheit. Zur Aktualität von Hegels Freiheitslehre, Frankfurt am Main 2015. Gunnar Hindrichs, Professor für Philosophie an der Universität Basel. Veröffentlichungen u. a.: Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt a. M. ²2011; Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Berlin 2014; (Hrsg.) Konzepte. Hefte für Philosophie, Frankfurt a. M. 2015 ff. Guido Kreis, Associate Professor für Philosophie an der Universität Aarhus. Veröffentlichungen u. a.: Cassirer und die Formen des Geistes, Berlin 2010; Negative Dialektik des Unendlichen. Kant, Hegel, Cantor, Berlin 2015; (Hrsg. mit Joachim Bromand) Gottesbeweise von Anselm bis Gödel, Berlin 2011. Brian O’Connor, Professor für Philosophie am University College Dublin. Veröffentlichungen u. a.: Adorno’s Negative Dialectic, Cambridge, Mass. 2004; Adorno, Oxford 2013; (Hrsg. mit Georg Mohr) German Idealism. An Anthology and Guide, Edinburgh 2006. Gérard Raulet, Professor für deutsche Ideengeschichte an der Universität Paris-Sorbonne. Veröffentlichungen u. a.: Positive Barbarei. Kulturphilosophie und Politik bei Walter Benjamin, Münster 2004; Histoire de la philosophie allemande depuis 1945, Paris 2006; Republikanische Legitimität und politische Philosophie heute, Münster 2012. Martin Saar, Professor für Politische Theorie an der Universität Leipzig. Veröffentlichungen u. a.: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a. M. 2007; Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza, Berlin 2013; (Hrsg. mit Rainer Forst, Martin Hartmann und Rahel Jaeggi) Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt a. M. 2009. Birgit Sandkaulen, Professorin für Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der klassischen deutschen Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Veröffentlichungen u. a.: Aus-
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Biographische Angaben
gang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings, Göttingen 1992; Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000; (Hrsg.) System und Systemkritik. Beiträge zu einem Grundproblem der klassischen deutschen Philosophie, Würzburg 2006. Marc Nicolas Sommer, Oberassistent für Philosophie an der Universität Basel. Veröffentlichungen u. a.: Das Konzept einer negativen Dialektik. Adorno und Hegel, Tübingen 2016; Was ist kritische Theorie? Prolegomena zu einer negativen Dialektik, in: Zeitschrift für kritische Theorie 40/41 (2015), S. 164 – 185; Utopie und Negativität. Adornos negative Dialektik als Paradigma utopischen Denkens, in: Philosophisches Jahrbuch 121 (2014), S. 271 – 288. Eva-Maria Ziege, Professorin für Politische Soziologie an der Universität Bayreuth. Veröffentlichungen u. a.: Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus, Diss. Konstanz 2002; Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil, Frankfurt a. M. 2009; (Hrsg. mit Richard Faber) Das Feld der Frankfurter Kultur- und Sozialwissenschaften nach 1945, Würzburg 2008.
Namensregister Albert, Hans 185 Albrecht, Clemens 190 Allen, Amy 162 Altemeyer, Robert 185 André, Serge 53 Angehrn, Emil 171 Arendt, Hannah 184, 186, 193 Aristoteles 17, 67, 135, 168, 170, 193 Auer, Dirk 186, 193 Bacon, Francis 8, 16 Baeumler, Alfred 27, 160 Bataille, Georges 52, 55, 160 Baudelaire, Charles-Pierre 78 Behrmann, Günter C. 190 Benjamin, Walter 1, 73, 74, 98, 100, 109, 110, 191, 192 Benn, Gottfried 78 Bernays, Jacob 67 Bloch, Ernst 1, 37, 100 Bock, Michael 190 Bolten, Gerhard 188 Bolz, Norbert 23, 24 Bonß, Wolfgang 165 Borchardt, Rudolf 24, 27, 30 Brandom, Robert 138, 180 Brecht, Bertolt 91, 191 Browning, Christopher 81 Brumlik, Micha 180 Brunkhorst, Hauke 183, 185, 186 Buber, Martin 194 Bubner, Rüdiger 143, 185 Butler, Judith 189 Caillois, Roger 106, 170 Campioni, Giuliano 154 Camus, Albert 163 Cassirer, Ernst 182 Castel, Pierre-Henri 53 Christie, Richard 185 Clark, Maudemarie 154 Comte, Auguste 26 Dahlhaus, Carl 185 Dahmer, Helmut 165 Demokrit 110 Derrida, Jaques 189
Descartes, René 8, 105 Dewey, John 186 Dews, Peter 187 Diederichsen, Diedrich 192 Dörr, Georg 30 Donaldson, Sue 193 Dubiel, Helmut 183, 184 Düttmann, Alexander García 162 Durkheim, Émile 45, 47, 50, 181 Eisenstein, Sergej 191 Endres, Martin 161 Enzensberger, Hans Magnus 185, 192 Erber, Ralph 185 Figal, Günter 23 Flourens, Marie-Jean-Pierre 103 Flowerman, Samuel H. 91 Foucault, Michel 186, 187 Frank, Manfred 27 Freud, Sigmund 32, 33, 36, 47, 50, 51, 57, 67, 69, 84, 87, 89, 90, 93, 106, 110, 151, 153, 157, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 182, 192 Freyenhagen, Fabian 127 Freyhold, Michaela von 185 Fromm, Erich 90, 94, 165, 169, 175 Gadamer, Hans Georg 63, 190 Gehlen, Arnold Karl Franz 181, 190 George, Stefan Anton 78 Geyer-Ryan, Helga 23 Glagau, Otto 85 Günther, Klaus 125 Gumplowicz, Ludwig 83 Gurland, Arcadius Rudolf Lang 184 Habermas, Jürgen 6, 17, 23, 59, 148, 161, 182, 183, 185, 187, 188, 189, 191, 192, 194 Hansen, Miriam 185 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 7, 9, 13, 18, 19, 27, 41, 46, 50, 70, 71, 86, 110, 111, 127, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 151, 153, 170, 178, 180, 181, 182, 183, 186, 187, 193, 194 Heidegger, Martin 7, 185, 186, 188, 190
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Namensregister
Heitmeyer, Wilhelm 185 Henrich, Dieter 189 Herder, Johann Gottfried von 7, 180 Hesse, Heidrun 9, 17 Hetzel, Andreas 10 Hindrichs, Gunnar 18, 120, 148, 181, 185, 188, 189 Hobbes, Thomas 50 Hölderlin, Friedrich 27, 73, 74 Homer 13, 23, 24, 27, 28, 35, 190 Honneth, Axel 153, 161, 187 Hopf, Christel u. Wulf 185 Horney, Karen 165, 169, 175 Husserl, Edmund Gustav Albrecht 133, 135 Jaeggi, Rahel 151 Jay, Martin 166, 171 Kalb, Christof 155 Kant, Immanuel 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 58, 59, 74, 84, 111, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 135, 136, 151, 155, 158, 159, 179, 180, 186, 190, 191, 192, 193, 194 Karsenti, Bruno 45 Kierkegaard, Søren Aabye 146 Kirchheimer, Otto 107, 108, 184 Klages, Ludwig 27, 29, 30, 35, 37, 106, 110 Klein, Gabriele 192 Kluge, Alexander 192 Koch, Gertrud 185, 191 Krüger, Heinz 100 Kymlicka, Will 193 Jacobi, Friedrich Heinrich 7 Jahoda, Marie 185 Janaway, Christopher 161 Lacan, Jaques 48, 53 Landauer, Karl 98 Lash, Scott 192 Lederer, Gerda 185 Leibniz, Gottfried Wilhelm 105 Lemm, Vanessa 162 Lenin, Wladimir Iljitsch Uljanow 183, 193 Lessing, Gotthold Ephraim 67 Lethen, Helmut 23 Link, Jürgen 89 Löwenthal, Leo 82 Lohmann, Hans-Martin 165, 177
Luhmann, Niklas 182 Lukács, Georg 2, 19, 74, 160, 179, 182, 183, 185 Luther, Martin 16 MacDonald, Iain 186 Machiavelli, Niccolò di Bernardo dei 50 Maistre, Comte Joseph de 87, 110, 111 Mandeville, Bernard 50 Mann, Thomas 110 Marcuse, Herbert 98, 107, 169, 175, 184, 192 Martella, Vincenzo 23, 38 Marx, Karl 2, 11, 19, 46, 50, 70, 73, 74, 75, 76, 82, 83, 84, 85, 86, 91, 92, 93, 107, 108, 138, 140, 147, 148, 151, 153, 166, 169, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 186, 188, 191, 192 Menke, Christoph 155, 189 Mitscherlich, Alexander u. Margarete 99 Möhrchen, Hermann 186 Mommsen, Hans 184 Montaigne, Michel de 104 Murray, Gilbert 26 Navigante, Adrián 156 Neumann, Franz 107, 108, 184 Newman, Leonard S. 185 Nierenberg, David 193 Nietzsche, Friedrich 7, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 41, 42, 48, 53, 55, 56, 58, 66, 67, 70, 90, 99, 103, 104, 110, 124, 131, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 182 Owen, David 161 Parmenides 9 Parsons, Talcott 182 Pichler, Axel 161 Pindar 27, 30 Platon 5, 17, 135, 168 Pollok, Friedrich 89, 97, 107, 184 Rantis, Konstantinos 169 Raulet, Gérard 98, 105, 182 Reinhardt, Karl 25 Rensmann, Lars 186, 193 Reschke, Renate 154 Röttges, Heinz 154 Roghmann, Klaus 185 Rorty, Richard 186
Namensregister
Rosenberg, Alfred 27 Rosenkranz, Karl 181 Rotteck, Karl von 83 Rousseau, Jean-Jacques 7, 10, 152, 153 Rürup, Reinhard 83 Russell, Bertrand 9 Saar, Martin 155, 161, 162 Sade, Donatien-Alphonse-François 41, 42, 48, 49, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 111; (Marquis de Sade) 115, 124, 126, 127, 151, 157, 158, 159, 190 Sandkaulen, Birgit 19 Sartre, Jean-Paul 193 Schadewaldt, Wolfgang 67, 68 Scheler, Max 102 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 27, 146, 183 Schiller, Johann Christoph Friedrich von 70, 73, 180, 192 Schmid Noerr, Gunzelin 82 Schmidt, E. A. 25, 27 Schmidt, Peter 185 Schmidt, Thomas E. 23 Schnädelbach, Herbert 13, 23, 24 Schönbach, Peter 185 Schönberg, Arnold 66, 72 Schopenhauer, Arthur 99, 102, 105, 111, 182 Schulze Wessel, Julia 186, 193 Sherrat, Yvonne 123 Söllner, Alfons 184 Sommer, Marc Nicolas 37 Spencer, Herbert 181
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Spengler, Oswald 27 Spinoza, Baruch de 12 Steigerwald, Robert 191 Stein, Lorenz von 181 Steinert, Heinz 103, 192 Stekeler-Weithofer, Pirmin 141 Stolzenberg, Jürgen 141 Ten Brink, Tobias 184 Tenbruck, Friedrich F. 190 Theunissen, Michael 157, 185, 187, 190, 194 Türcke, Christoph 188 Urry, John 192 van den Brink, Bert 161 Vico, Giambattista 7 Volkov, Shulamit 85, 89 Wagner, Richard 88 Weber, Max 8, 153, 179, 181, 182, 186, 187, 188 Wellmer, Albrecht 14, 161, 192 Wesche, Tilo 186, 188 Whitebook, Joel 151 Wiggershaus, Rolf 9, 98 Wilamowitz-Möllendorf, Ulrich von 25, 26, 31, 35 Witt-Stahl, Susann 193 Wölfflin, Heinrich 66 Wolff, Christian 105 Wolff, Michael 138 Ziarek, Krzysztof 186 Ziege, Eva-Maria 82, 184 Zittel, Claus 154, 161