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German Pages 275 [276] Year 1995
Armin Adam/Martin Stingelin (Hg.)
Übertragung und Gesetz
Übertragung und Gesetz Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechniken von Institutionen
Herausgegeben von Armin Adam und Martin Stingelin
Akademie Verlag
Abbildung auf dem Einband: Rembrandt: Moses zerschmettert die Gesetzestafel © Bildarchiv Preussischer Kulturbesitz Berlin 1995 Staatliche Museen zu Berlin - Preussischer Kulturbesitz. Gemäldegalerie. Kat./Inv.-Nr. 811 DerBand wurde mit Mitteln derGeschwister-Boehringer-Ingelheim-StiftungfürGeisteswissenschaften und der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften gefördert.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsauftiahme Übertragung und Gesetz: Gründungsmythen, Kriegstheater und Unterwerfungstechniken von Institutionen / hrsg. von Armin Adam und Martin Stingelin. - Berlin : Akad. Verl., 1995 ISBN 3-05-002525-5 NE: Adam, Armin (Hrsg.)
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z. 39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Satz: Siggi Rasenberger, Kassel Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Dieter Mikolai, Berlin Gestaltung: Günter Schorcht, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Vorwort
7
I. Das Theater der Institutionen Petra Gehring "Eine politische Metaphisik ohne barbarisch zu reden ..." Staatswissenschaftliche Situierungsgesten bei Justi, Haller, Bluntschli
15
Joseph Vogl Gründungstheater. Gesetz und Geschichte
31
Silvia Henke "Merdre": Von großen Dingen klein sprechen
41
Rüdiger Campe Der Befehl und die Rede des Souveräns im Schauspiel des 17. Jahrhunderts Nero bei Busenello, Racine und Lohenstein
55
II. Der Krieg der Institutionen Wolfgang Pircher Sprache und Körper des Krieges Befehl, Oberbefehl, Führerbefehl
75
Armin Adam Institution, Kommunikation, Autorität Die Legaten der römisch-katholischen Kirche
93
Georg Pfleiderer "Wer Christo wil anhangen, dem ist die gantze weit feind" Feindschaft im Denken Martin Luthers
113
Clemens Pornschlegel Gespensterfeindschaft Frankreichs "question allemande"
133
Walter Seiner Vom heimlichen Pazifismus im Nibelungenlied
149
Cornelia Vismann Terra nullius Zum Feindbegriff im Völkerrecht
159
III. Der Grund der Institutionen Wolf gang Ernst Karthago (Against Romacentrism)
177
Ulrike Dünkelsbühler Institution und Differenz. Die Politik mit dem "Jüdischen"
191
Anton Schütz Macht - Die Zukunft einer Illusion
203
Peter Berz Der deutsche Normenausschuß Zur Theorie und Geschichte einer technischen Institution
221
Hubert Thüring Der souveräne Mensch und die infamen Leute im Abendland Erhebungen und Erwägungen bei Vergil, Dante und Wölfli
237
Georg Christoph Tholen Vom Gesetz des Symbolischen
249
Claus-Volker Klenke Bedingte Referenz Mythos und Ethik des Gesetzes im Freudschen Denken
255
Personenverzeichnis
267
Biobibliographische Notizen
273
Vorwort
Institutionen versprechen - indem sie das Leben einrichten - Entlastung. Entlastung von Entscheidungen, die der Mensch, dem die biologische Sicherheit im Umgang mit seiner Umwelt fehlt, dauernd zu treffen hätte. Damit allerdings diese Einrichtung des Lebens, damit das vitam instituere gelingen kann, scheinen Institutionen darauf verwiesen zu sein, die Art und Weise ihres Funktionierens vergessen zu machen. Institutionen treten so auf, daß sich die Frage nach ihnen nicht stellt: der Glanz, der sie umgibt, überstrahlt ihre Fragwürdigkeit. Fragwürdig sind Institutionen allemal. Fragwürdig ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie dem Einzelnen begegnen, fragwürdig ist ihr Funktionieren, fragwürdig ist ihre Funktion. Wie fragwürdig Institutionen aber auch sein mögen: noch fragwürdiger ist der rechte wissenschaftliche Zugang zu ihnen (dies zeigt sich beispielhaft an den gescheiterten Versuchen des 18. und 19. Jahrhunderts, den Staat als Objekt einer Staatslehre in den Griff zu bekommen, Petra Gehring). Er scheint von einer Vorentscheidung abzuhängen: Soll die Analyse sich dem diskursiv-symbolischen Aufwand widmen, den Institutionen zu ihrer Begründung, zu ihrer Selbstdarstellung und zu ihrer Selbstbehauptung aufs augenfälligste betreiben, oder soll sie sich den verborgenen und stummen Techniken und Praktiken zuwenden, der sich Institutionen bedienen? Mit dieser Vorentscheidung wird aber gleichzeitig eine Entscheidung darüber getroffen, was Institutionen sind und welcher Aspekt der Institution ihr 'Wesen' bestimmt. Die hier versammelten Beiträge1 versuchen, diese Vorentscheidung durch die Vervielfältigung der Zugangsweisen aufzuschieben. Ihr methodischer Vorbehalt entspringt der Vermutung, daß der Dualismus von Symbolischem und Technischem nur ein scheinbarer ist; daß tatsächlich das Symbolische selber technisch funktioniert, und daß das Technische, um zu funktionieren, des Symbolischen bedarf.
1
Die Studien entstammen dem internationalen Arbeitskreis "Übertragung und Gesetz. Interdisziplinäre Analysen zu Theorie und Praxis von Institutionen", der von Armin Adam, Clemens Pornschlegel, Bernhard Siegert, Martin Stingelin und Hubert Thüring konzipiert wurde. Die Beiträge wurden auf drei - durch die Max Geldner-Stiftung (Basel) und den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Essen) geförderten - Workshops des Arbeitskreises diskutiert, die folgenden Teilaspekten gewidmet waren: "Institution und Wahrheit. Legitimation - Repräsentation - Exekution" (Deutsches Seminar der Universität Basel, 27. bis 28. November 1992), "Menschenfassungen: Übertragung und Übergriff" und "Zur Institutionalisierung der Freund/Feind-Unterscheidung" (Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München, 18. bis 19. Juni 1993 und 7. bis 9. April 1994).
8
Vorwort
Als Ausgangspunkt für die Analyse von Institutionen dienten den Beiträgen die Begriffe "Übertragung" und "Gesetz". Die Frage nach der Beziehung des symbolischen Aspektes der Institutionen zu ihrer technischen Seite kehrt also wieder in der Frage nach dem Verhältnis von Gesetz und Übertragung. Eine Betrachtung der Institutionen, die dem Symbolischen verpflichtet ist, wird das Gesetz zum Ausgangspunkt nehmen. Das Gesetz erscheint als großes, unterwerfendes Wort. Wie kann diese Unterwerfung vorgestellt werden? Die symbolische Deutung betont die Freiwilligkeit der Unterwerfung: weil die Unterworfenen das Gesetz anerkennen, erlangt es zwingende Kraft, Autorität. (Noch die paradoxe Wendung, mit der sich in den Ubu-Dramen von Alfred Jarry alle theatralischen Momente von Repräsentation auf der Bühne selbst aufreiben, macht dies schlagend deutlich: In Ubu enchaîné begibt sich Ubu seiner königlichen Macht, um Sklave zu werden, indem er sich auf das souveräne Prinzip der Differenz beruft: Weil Freiheit das Prinzip der Legalität von Egalität bedeute, und ihm die Egalität egal sei, will Ubu Sklave werden, Silvia Henke.) Welchen Grund diese Anerkennung hat, muß von Fall zu Fall entschieden werden, bewußt aber braucht er nie zu sein. Neuzeitlich wird man diese Anerkennung als Effekt legitimer Herrschaft deuten, über die Epochen hinweg jedoch als einen Effekt politischer Liebe.2 In diesem Sinne verdankt ein Gesetz seinen statuarischen Charakter der Instanz, die das Gesetz ausspricht. Denn dieser Instanz wird das Recht des letzten Wortes zugebilligt. Die Notwendigkeit eines solchen letzten Wortes wird apokalyptisch begründet.3 Was aber, wenn auf dieses Argument verzichtet wird? Eine post-moderne, an der Systemtheorie Luhmanns geschulte Deutung wird den Begriff der Souveränität als einer letzt-instanzlichen Ansammlung von Macht in Frage stellen (Anton Schütz). Der Begriff des Gesetzes richtet den Blick auf die Fundamentalität von Institutionen. Die für die abendländische Rechtsgeschichte so wichtige lex regia zeigt, daß das Gesetz seine Legitimität einer merkwürdigen Ursprungsphantasie verdankt: das Gesetz, das dem Willen des Fürsten entspringt, ist Gesetz nicht bloß, weil es Ausdruck des höchsten Willens ist, sondern dieser höchste Wille selbst ist auf einen anderen Ursprung bezogen. Die Gesetzgebungsbefugnis ist in eine potentiell unendliche Reihe von Übertragungen, von translationes eingeschrieben.4 Die Fundamentalität von Institutionen, ihr auf den ersten Blick ganz selbst-referentieller Charakter, löst sich unterm analytischen Blick nicht auf: aber diese Fundamentalität wird jetzt funktional interpretierbar. Es genügt jedoch nicht, Institutionen als Verkörperung des Gesetzes und die Verfaßtheit abendländischer Gesellschaften als Effekt von Texten mit Gesetzescharakter zu beschreiben. Deshalb muß nach der Übertragung im doppelten Sinne gefragt werden: 2
Vgl. Pierre Legendre, Leçons VII: Le désir politique de Dieu. Étude sur les montages de l'État et du Droit, Paris 1988.
3
Vgl. Armin Adam, "Die Zeit der Entscheidung. Carl Schmitt und die Politische Apokalyptik", in: Georg Christoph Tholen u. Michael O. Scholl (Hrsg.), Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim 1990, S. 97-107.
4
"Aber auch, was der Kaiser bestimmt (quod principi placuit), hat Gesetzeskraft, weil das Volk durch das 'königliche Gesetz', das über die kaiserliche Herrschaft (imperium eius) ergangen ist, diesem und auf diesen seine gesamte Herrschaftsgewalt übertragen hat (omne suum imperium et potestatem concessit)." (Inst. 1,2,6)
Vorwort
9
nach dem Ort, von dem her Gesetze ihre Autorität beziehen und nach den Mechanismen, mittels derer Gesetze und Befehle ihre Adressaten erreichen. Die Bewegung der Übertragung kennzeichnet insofern die doppelte Bewegung von Legitimation und Relegitimation (im symbolischen Komplex) einerseits, die Frage nach den Möglichkeiten, den Ort der Wahrheit mit dem Einzelnen zu verbinden andererseits. Thomas Hobbes nennt die bürgerlichen Gesetze Ketten: "Durch gegenseitiges Abkommen befestigten die Menschen diese Ketten auf der einen Seite an den Lippen des Souveräns oder der souveränen Versammlung, auf der anderen Seite an ihren eigenen Ohren." 5 Hobbes' Versuch einer ganz und gar symbolisch-diskursiven Lösung des Problems der Souveränität unterschlägt aber dessen praktische Aspekte. Wie kommt es, daß ein Gesetz als Kette tatsächlich funktionieren kann? Wie hat man sich die Verbindung von Souverän und Untertan, wie hat man sich die Übertragung des Gesetzes vorzustellen? Diese Fragen einer anderen als symbolischen Beantwortung zuzuführen, ist die Aufgabe dessen, der die technische Seite der Institutionen in den Blick nehmen will. Eine nominalistische Auffassung der Institutionen kehrt also die Blickrichtung um und sucht den Zugang zur - historisch jeweils datierbaren - Wirklichkeit der diskursiven und nicht-diskursiven Techniken und Praktiken der Macht, wie sie Michel Foucault etwa in der Institution des Gefängnisses untersucht hat.6 Diese 'aufsteigende Analyse' wäre nach seinen Worten "das genaue Gegenteil dessen, was Hobbes imLeviathan versucht hat".7 In dieser aufsteigenden Analyse treten die technologischen Voraussetzungen von Institutionen zutage und die von Ernst H. Kantorowicz politisch-theologisch gemeinte Frage: "How, by what Channels and by what techniques, were the spiritual arcana ecclesiae transfered to the State so as to produce the new secular arcana imperii of absolutism?",8 gewinnt in diesem Zusammenhang eine medientechnische Bedeutung: das Wort von den Kanälen muß buchstäblich genommen werden, wenn die institutionelle Bemächtigung des Individuums analysiert werden soll. Weil Institutionen an jeweilige Raumordnungen gebunden sind, können sie nicht beschrieben werden, ohne daß die Techniken der Raumdurchmachtung, die ihnen zu Gebote stehen, bestimmt werden. Sie 5
Thomas Hobbes, Leviathan, aus dem Englischen übersetzt von Dorothee Tidow, hrsg. und kommentiert von Peter Cornelius Mayer-Tasch, Reinbek bei Hamburg 1965, S. 166.
6
Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975), aus dem Französischen von Walter Seitter, Frankfurt/Main 1976.
7
Michel Foucault, "Recht der Souveränität/Mechanismus der Disziplin", Vorlesung vom 14. Januar 1976, aus dem Italienischen von Elke Wehr, in: ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 81: "Mit anderen Worten: anstatt sich zu fragen, wie der Souverän an der Spitze erscheint, sollte man herauszufinden versuchen, wie sich allmählich, schrittweise, tatsächlich, materiell, ausgehend von der Vielfältigkeit der Körper, Kräfte, Energien, Materien, Wünsche, Gedanken usw. die Subjekte konstituiert haben. Man muß die materielle Instanz der Unterwerfung in ihrer subjektkonstituierenden Funktion erfassen. Es wäre das genaue Gegenteil dessen, was Hobbes im Leviathan versucht hat, und im Grunde, glaube ich, auch dessen, was sämtliche Rechtsgelehrte tun, für die das Problem darin liegt, herauszufinden, wie sich ausgehend von der Vielfalt der Individuen und der Willen ein einheitlicher Wille oder besser ein einheitlicher Körper konstituieren kann, belebt von einer Seele, der Souveränität."
8
Ernst H. Kantorowicz, "Mysteries of State. An Absolutist Concept And Its Late Mediaeval Origins", in: Harvard Theological Review Vol. XLVIII (1955), S. 65.
10
Vorwort
ermöglichen und regeln mit der Übertragung des Gesetzes als Befehl jeweils auch die konkreten Übergriffe der Sozialdisziplinierung. Jede Institution reicht nur soweit wie ihre Befehlsgewalt.9 Dieser Befehlsraum aber ist nach abendländischer Tradition allererst Rechtsraum, in dem Feindschaftsverhältnisse suspendiert sind. Das europäische Völkerrecht hat dieser Räumlichkeit der Institutionen und des Rechts insofern Rechnung getragen, als es die geographischen Grenzen des Rechts thematisiert hat (Cornelia Vismann). Gesetz und Übertragung, symbolische Ordnung und Technik stehen also in einem gegenseitigen BedingungsVerhältnis; das Gesetz wird durch die Möglichkeit seiner Übertragung ebenso geprägt wie die Übertragungskanäle durch die Gesetze, die sie passieren. Aber mehr noch. Das Gesetz steht ja für den ganzen Komplex der großen, glänzenden Macht. Es ist also anzunehmen, daß die Möglichkeiten der Übertragung auch die Sammlung und Repräsentation von Macht bestimmen. Ein Beispiel für dieses intrikate Verhältnis liefert die Institution des päpstlichen Gesandten, an der die Unentscheidbarkeit des Vorrangs von Gesetz oder Übertragung augenfällig wird (Armin Adam). Institutionen sind das Ineinander von Gesetz und Übertragung. Deshalb kann eine Analyse von Institutionen die oben genannte Vorentscheidung nicht treffen, ohne ihr Objekt zu verfehlen. Das gegenseitige Bedingungsverhältnis von symbolischer Ordnung und Technik erweist sich als jene bindende Kraft, welche die drei Momente der Selbstbegründung, Selbstdarstellung und Selbstbehauptung von Institutionen wie drei Ringe eines Borromäischen Knotens zusammenhält: Man kann keinen der drei Ringe lösen, ohne daß die beiden anderen auseinanderfallen. So implizieren sich die Gründungsmythen, das Kriegstheater und die Unterwerfungsstrategien von Institutionen gegenseitig: Ihr verborgener Grund ist kriegerisch, während ihre kriegerische Selbstbehauptung zur glanzvollen Selbstinszenierung neigt, die den Einzelnen blenden und an sie binden soll; ihre theatralische Selbstbegründung bedient sich nicht zuletzt des Mythos von der kriegerischen Selbstbehauptung, während sie sich noch immer mit Gewalt durchsetzen; dabei dienen ihr gerade die Selbstdarstellung und die Selbstbegründung gleichzeitig zur Selbstbehauptung. Institutionen sind also zugleich ursprungsversessen und ursprungsvergessen. Jede Institution transportiert den Mythos ihres Ursprungs: sei es als versperrte Vergangenheit oder als erinnerte Zukunft. Da dieser Mythos theatralischen Charakter hat, wird schließlich das Theater selbst seine Funktion übernehmen können (Joseph Vogl). Theatralisch ist der Ursprung der Institution, weil er als Verdoppelung gedacht werden muß, in dem sich eine faktische in eine rechtliche Befehlsgewalt verwandelt (Rüdiger Campe). Deshalb produzieren abendländische Institutionen so gerne Literatur: in ihr ist das Gedächtnis der Institution aufgehoben. Institutionen, die diese Form des Gedächtnis-
9
Bernhard Siegert hat die Gründe für den Untergang des römischen Reiches deshalb schon im Doppelsinn von imperium beispielhaft entziffern können; vgl. Bernhard Siegert, "Der Untergang des römischen Reiches", in: Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt/Main 1991, S. 495-514.
Vorwort
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ses nicht kennen, sind dem Vergessen ausgeliefert. Das ist das Schicksal Karthagos (Wolfgang Ernst). Institutionen aber entstehen im Streit. Denn erst im Polemos kann jene Differenz ernst genommen werden, durch die sich eins vom anderen absetzt. Sie ist die raison d'être von Institutionen, ihre Selbstbehauptung gründet in der Berufung auf das Andere, das sie von den anderen unterscheidet, in römisch-christlich geprägten Institutionen zum Beispiel das Prinzip der Vernunft (Ulrike Dünkelsbühler)-, von ihr beseelt, konnte Justinian im Corpus Iuris die Novelle 146 erlassen, welche die Juden von der Textauslegung ausschließt, denn: "Die Juden interpretieren verrückt." 10 Die Gewaltsamkeit, mit der damit das Prinzip der Vernunft als das Andere geschützt wird, entblößt es als Frage des Glaubens: "Sobald es um den Kern des Glaubens, des Glaubens an den Text geht, hat der dogmatische Diskurs nur ein Register: das der Selbstverteidigung mit kriegerischen Mitteln."11 Der Krieg ist der Grund der Institution, aber eben als Kriegstheater. Nicht alles, was sich in kriegsfreien Verfahren abspielt, verdient den Namen "Frieden" (Walter Seitter). Deshalb kann ein Krieg der Worte effektiver sein als einer, der mit Hauen und Stechen geführt wird. Französische Reaktionen auf die deutsche Wiedervereinigung belegen, wie sehr die Konstruktion der eigenen Identität vom Phantasma des Feindes abhängt - so sehr, daß die eigene Identität ohne den Anderen nicht gedacht werden kann (Clemens Pornschlegel). Auch Institutionen werden von Phantasmen heimgesucht. Daß diese Phantasmen aber nicht immer Fragen auf Leben und Tod stellen, daß die Feindschaftsverhältnisse diskursiv bewältigt werden sollen, ist die diskurstheoretische Pointe, die sich hinter Luthers berüchtigter Rhetorik verbirgt (Georg Pfleiderer). Institutionen verdanken sich nicht nur Wortkriegen: auch wenn der Befehl des Souveräns seine Herkunft kaum verleugnen kann. Kriege formen Körper, indem sie unter der Drohung des Todes dem Wort eine neue Bedeutung verleihen: es informiert die Körper der Einzelnen; es versammelt die vielen Einzelnen zu Formationen (Wolfgang Pircher). Daß der Krieg diese Formation, also die Gleichschaltung von Individuellem erfordert, zeigt sich nicht nur am Menschen, sondern auch an den Dingen (Peter Berz). Keine Institution ohne Übergriff. Individuen sind weder unteilbar noch ungeteilt, im Gegenteil: Durch ihre Institutionalisierung 12 werden sie zu Selbstverhältnissen angehalten, hinter denen Politiken, Handgreiflichkeiten, Übergriffe und ihre Geschichten sichtbar werden; als souveräne Menschen oder als infame Leute sind sie zwei verschiedenen Momenten von Identität verpflichtet, die sich historisch seit Dante gegenseitig bedingen (Hubert Thüring). Walter Seitter hat für diese Verhaltensverhältnisse, die die Seinsweisen und Daseinstechniken von Individuen in einer Art und Weise
10 Vgl. Pierre Legendre, "'Die Juden interpretieren verrückt.' Gutachten zu einem klassischen Text" (1981), aus dem Französischen übersetzt von Anton Schütz, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 43. Jg., Heft 1 (Januar 1989), S. 20-39. 11 Ebd., S. 28. 12 Vgl. Pierre Legendre, "Classification et connaisance. Remarques sur l'art de diviser et l'institution du sujet", in: Confrontations psychiatriques Nr. 24 (1984), S. 41-53.
Vorwort
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bestimmen, daß ihnen diese zweite Natur zur ersten wird, den treffenden Begriff der "Menschenfassungen" geprägt.13 So erweist sich letztlich auch die Anthropologie selbst nur als eine weitere Institution (Claus-Volker Klenke). Als solche hat Robert Castel zum Beispiel die Psychoanalyse untersucht; in der Nachfrage nach ihr erkennt er den Ausdruck "einer Krise der Institutionen, die auf die gegenwärtigen Gleichgewichte verweist, die zwischen den Produktionsapparaten und den Kontroll- und Normalisierungsapparaten bestehen".14 Daß sich der psychoanalytische Begriff des Gesetzes aber nicht in dieser administrativen Funktion erschöpft, sondern in seiner Unvordenklichkeit überhaupt erst ermöglicht, die je historischen Zäsuren und Bedingungen von Gesetzen auszumachen (Georg Christoph Tholen), verweist noch einmal auf die unauflösliche Verschränktheit von Technik und symbolischer Ordnung, von Übertragung und Gesetz. Armin Adam
13 Vgl. Walter Seitter, Menschenfassungen. S. 10, S. 46-47 u. S. 192-204.
Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft,
14 Robert Castel, Psychoanalyse und gesellschaftliche Birk, Kronberg 1976, S. 31.
Martin Stingelin
München 1985,
Macht (1973), aus dem Französischen von Linde
I. Das Theater der Institutionen
Petra Gehring
"Eine politische Metaphisik ohne barbarisch zu reden ..." Staatswissenschaftliche Situierungsgesten bei Justi, Haller, Bluntschli Es zeige der Verfasser des vorgelegten Buches "die Möglichkeit, wie man die weit ausgebreiteten Felder der Staatswissenschaft aus einem festen Standpunkt übersehen kann", er liefere der gelehrten Welt - und zwar "ohne barbarisch zu reden" - eine "politische Metaphisik".1 Die einprägsame Empfehlung stammt von 1771, sie findet sich in der Einleitung zur kommentierten Neuausgabe eines elf Jahre zuvor erschienen Textes, und Heinrich Godfried Scheidemantel spricht sie aus, der preußische Herausgeber des Hauptwerkes des österreichischen Kameralwissenschaftlers Johann Heinrich Gottlob von Justi. Von Friedrich II. berufen, war Justi zuletzt in Ungnade gefallen, und sein Buch, dessen Titel zunächst vollständig lautete: Die Natur und das Wesen der Staaten als die Grundwissenschaft der Staatskunst, der Policey und aller Regierungswissenschaft, mag die Empfehlung nötig gehabt haben. Den zitierten Ausdruck "politische Metaphysik" verwendet Justis Text selbst; sein preußischer Kommentator gibt das Stichwort, auf das es im folgenden ankommen soll: Staatswissenschaft. Der Ausdruck "Staatswissenschaft" wird gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum programmatischen Begriff und kehrt von da ab über mehr als ein Jahrhundert programmatisch wieder. Weniger ein einziges definitives Konzept ist mit ihm verbunden, als vielmehr ein ebenso unbestimmter wie theoretisch weitgreifender Anspruch: der Anspruch auf eine metaphysisch umfassende, zugleich aber induktiv gegründete Erfahrungswissenschaft über den Staat. Das Ideal hat in Wellen Konjunkturen erlebt, und der Begriff wurde dabei sehr unterschiedlich gefüllt. Jedes Mal ging es jedoch um eine theoretische Durchdringung des gesamten Raumes von Politik, um eine Wissenschaft von der Natur "des" Staates, um eine Aussöhnung von induktiven Methoden und politischer Metaphysik und nicht zuletzt um eine Führungsrolle des Faches an der Universität. Die neue Disziplin will eine erfahrungswissenschaftliche sein. In ihr verbindet sich das naturwissenschaftliche Vorbild mit einer neuen Form von "Empirie" des Staates als anonym handelnder Einheit, die der administrativen Erfahrung einer in der verwaltenden Praxis nicht mehr ohne weiteres auf die Person des Souveräns zurückführbaren Regierung entstammt. Der staatswissenschaftliche Horizont zeigt damit
1 Johann Heinrich Gottlob von Justi, Die Natur und das Wesen der Staaten als die Quelle aller Regierungswissenscha/ien und Gesezze (1760), (Nachdruck der von Heinrich Godfried Scheidemantel herausgegebenen und mit Anmerkungen versehenen Ausgabe Mietau 1771), Aalen 1969, S. X (Vorerinnerung des Herausgebers).
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Petra Gehring
eine im 18. Jahrhundert entstehende, durchdringend wirksame Verbindung zwischen der Sphäre der Wissenschaft und der Sphäre der staatlichen Exekutive an. Eine Staatsmacht ist entstanden, die sich auf Wissenschaft zu stützen weiß und dabei ihrerseits "Erfahrungen", neues Wissen generiert. Anders gesagt: Der frühe Verwaltungsstaat stellt derjenigen Disziplin, zu deren Objekt er wird, gleichsam selbst die Sinnesorgane zur Verfügung, mit deren Hilfe er als physische Einheit erkennbar zu werden beginnt. Eine bestimmte Konstellation von Staat und Wissenschaft geht mit dem Begriff einher, der beide ausdrücklich verbindet. Was aber kennzeichnet diese, wie ich zeigen möchte: mehrfach behauptete "Staatswissenschaft" im 18. und 19. Jahrhundert? Was ist ihr Objekt? In welchem Sinne will sie eine Wissenschaft sein? Mit jener "politische Metaphysik" der Staaten, die Justi einläutet, wird für den deutschen Sprachraum 1760/71 ein Feld eröffnet, das sich von der älteren Staatenkunde unterscheidet, sofern diese vor allem vermischte Nachrichten aus dem Ausland sammelte, Berichte und Reiseerfahrungen zusammentrug und - als sinnfällige Verbindung von Geographie, Literatur und Historie - Land und Leute beschrieb. Der geänderte Blickwinkel Justis gehört aber auch nicht einfach zur "wissenschaftlichen" oder auch zur pragmatisch "staatsklugen" Politik, also in die Traditionen der politischen Philosophie oder der politischen Handlungslehre. Schon aus Sicht Scheidemantels, seines frühen Herausgebers, formuliert Justis Natur und Wesen der Staaten etwas anderes, nämlich die Metaphysik einer im Entstehen begriffenen Wissenschaft, die als einheitliche nicht nur den neuen Feldern der Polizei und der Ökonomik/Chrematistik, also der guten Ordnung des staatlichen Wirtschaftens gewidmet ist, sondern durch eben diese Felder hindurch auch der sich reflexiv über ihre eigenen Möglichkeiten ins Bild setzenden Einheit: "Staat". Dieser erscheint auf bisher unbekannte Weise als physische Einheit und soll als solcher Grundlagen für eine ganze Wissensordnung bergen. "Grundwissenschaft" der Staatskunst, Policey und aller Regierungswissenschaft heißt die neue Wissensebene bei Justi, und Scheidemantel zieht dies zusammen zu "Staatswissenschaft". Um den Anspruch auszuloten, den der Begriff in sich trägt, stelle ich Justi, Haller und Bluntschli vor, drei durchaus verschiedene Programmatiker einer Staatswissenschaft. Eine Wissenschaft des Staates - man könnte meinen, das Ideal passe sich der Landschaft des 18. und 19. Jahrhunderts bruchlos ein. Dem Wort korrespondiert das sich in den Ländern Europas abzeichnende Ganze einer wissenschaftlich bewehrten Politik, das Fach ist an der Hochschule präsent, Nationalstaaten beherrschen die Bühne der Realpolitik, das Staatsrecht und die politischer Philosophie scheinen sich in einem neuen, empirisch gesättigten Verständnis von Staat und Staatskörper zu gründen. Dennoch ist, denke ich, es so nicht allein gewesen. Die Identität der Disziplin wurde angestrebt, aber sie bleibt inkonsistent, und die Begriffsgeschichte jener Grundwissenschaft des Staates deutet darauf hin. Als leitwissenschaftlich umfassende hat sich die "Staatswissenschaft" nie durchsetzen können, und auf gewisse Weise sind die Ansprüche des Faches gescheitert oder blieben Programm.
Staatswissenschaftliche
Situierungsgesten
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1. Johann Heinrich Gottlob von Justi: Polizeiwissen und Staatsnatur Johann Heinrich Gottlob von Justi (1702 - 1771) ist Regierungsbeamter und Hochschullehrer gewesen. Er stand als Kameralfachmann zuerst in habsburgischen, später in preußischen Diensten und kam, wie die meisten Ökonomen seiner Zeit, aus der Praxis an die Universität. Der Ausdruck Staatswissenschaft wird in seinen Texten noch ohne terminologischen Nachdruck verwandt. Er zielt jedoch auf Bestimmtes, diejenigen Funktionszusammenhänge nämlich, die ein Staatsleben jenseits des bloßen Rechtsgefüges, des bloßen Normenkörpers prägen - Justi selbst spricht zumeist von "Policey". Gemeint ist politie im aristotelischen Wortsinn: ein Gemeinwesen oder eine Gemeinschaft, wie sie unmittelbar vorgefunden werden kann und wie sie mehr auf das Vorhandensein innerer Naturgesetzmäßigkeiten deutet, als bloß auf die Befolgung gesatzten Rechts. Zugleich steht das neuzeitliche Wissen um die Polizei unter einem sehr konkreten Anwendungsimperativ: "Policey" ist das, worauf der entstehende Verwaltungsstaat Zugriffsmöglichkeiten sucht. An den Hochschulen wie in der Administration sind es die Verwaltungsleute, allen voran diejenigen, die mit ökonomischen Fragen befaßt sind, die den neuen Blick auf den Staatskörper üben; und sie entwickeln ihre Perspektive vergleichsweise unabhängig von Staatsrechtslehre, politikwissenschaftlicher Regentenberatung und klassischer Diplomatie. Auch Justis Kameralwissenschaft geht es bald schon um mehr als nur um die "Cameralien", also die "kammerzuständige" Staatsfinanz. Seine umfassendere Konzeption von Policey meint "nicht allein das Commercienwesen, sondern auch alle anderen Maßregeln zur Aufnahme des Nahrungsstandes".2 Der dazugehörige Maßnahmenkatalog - Steuern, Zölle, Bildungs-, Familien- und Bevölkerungspolitik, Hygiene, Stadtplanung, Verwaltung betreffend umfaßt das Gemeinwesen als Körper, und zwar nicht als juridischen oder symbolischen Körper, einen "Körper des Königs", sondern als Körper im Sinne einer materialiter in der Verwaltung greif- und kontrollierbar werdenden Physis: derjenigen, die mit der polizeilichen Versorgung und Regulierung des Nahrungsstandes alltägliche Realität gewinnt. Angesichts gegebener neuer Machbarkeiten formuliert Die Natur und das Wesen der Staaten praxis- und anwendungsnah das, was Justi eine "Art von einer politischen Metaphysik ... vor alle Regierungswissenschaften" nennt3: den ambitionierten Versuch einer Grundlegung des Staatswesens im allgemeinen. Ausdrücklich beansprucht Justi dabei eine Parallelwahrnehmung zu Montesquieus Esprit des lois von 1748: "Man kann mein gegenwärtiges Werk gleichfalls als einen Geist der Gesetze ansehen", sofern er, Justi, "das Wesen und die Natur der Staaten vorausgesetzt", "begangene Irrthümer" in Montesquieus Vorschlägen "gezeiget habe". 4 Wie sieht das konkret aus? Gemessen an Montesquieu kann man Justis Akzentsetzungen in souveränitäts- und staatstheoretischer Hinsicht durchaus für nicht sehr originell
2
Justi, Natur und Wesen, S. 115.
3
Ebd., S. XIV (Vorbericht des Verfassers).
4
Ebd., S. XXVII.
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Petra Gehring
halten. Gravierend ist aber eine Umwendung des Blicks: Die Wissenschaft von der Policey entdeckt den Staat von der politie her neu - als Objekt von Induktion. Konkrete Bedingungen für öffentliche Wohlfahrt sollen den Ausschlag geben. Gegen die juridischen Staatsformenkonzeptionen der Tradition kommt das Konkrete dabei zunächst, in Gestalt einer ganz anderen Normativität, als am Staatszweck - Glückseligkeit orientierte materialistische Einrede daher. Die Kenntnis der materiellen Bedingungen der Staatswohlfahrt und infolgedessen die induktive Methode fuhrt, nach Justi, zur wahren Bestimmung der Staatsnatur. Die Natur und das Wesen der Staaten verzichtet deshalb auf eine konsistente Theorie von Vernunftnatur und Sozialkontrakt. Stattdessen wird eine differenzierende Perspektive auf die "Entstehung" von Republiken gewählt, eine Theorie der sukzessiven Übergänge von vorstaatlichen Gesellschaftsformen zu staatlichen Gemeinschaftsstrukturen entworfen. Den Staatsformen von Montesquieu werden weitere, jeweils an Beispielen erörterte "Mischformen" hinzugefügt. Justis Geste bei all dem ist die des Praktikers, der sich allenfalls angelegentlich auf juridische Formmerkmale stützt. In der polizeiwissenschaftlichen Gesamtperspektive dienen naturrechtliche Annahmen nurmehr der Entfaltung der politischen Theorie und nicht umgekehrt, während zugleich die politische Theorie weniger Staats- oder Regierungsformen deduziert, als vielmehr den Zugriff auf die komplexe Physis eines Staatsganzen von unten her zu entwickeln sucht. Detailgenau und dabei konsequent unterhalb der Schwelle zur naturrechtlichabstrakten Staatsdeduktion zeichnet sich auf diese Weise eine diesseits des Juridischen angesiedelte Gegenständlichkeit des Staates ab. Justi handelt sehr konkret über den vermutlichen Ursprung (vielleicht aus Trieben, wahrscheinlich aber auch aus Vernunft) und den Grund (die Familie) der Republik, die er nicht als mechanischen, sondern "einfach moralischen" Körper betrachtet.5 Aus der physischen Natur der obersten Gewalt (entstehend aus der Grundgewalt des Volkes) wird eine gleichwohl relationale Perspektive auf diejenige Dynamik abgeleitet, die das Staatsinnere politisch bestimmt. Der Staatskörper ist aus "Leidenschaften" zusammengesetzt,6 wie bei Montesquieu sind deshalb für die Regierungsformen deren "Triebfedern" entscheidend, und erst aus der Frage des Verhältnisses der nichtjuridischen Gewalten untereinander ergeben sich die juridischen Gesetze, in denen sich der vereinigte Wille des Staates erklärt. Justi verbindet die phänomenologische Genauigkeit mit dem Pathos des Grundlegungsversuchs, seine Geste ist die der Emphase eines neuen Wissens über die Staatsnatur. Genau in dieser Hinsicht soll Montesquieu der Vorwurf treffen, zu oberflächlich geblieben zu sein: "Ich habe allemal dabey bedauret, daß dieser berühmte Mann bey der Verfertigung seines Werkes das wahre Wesen und die Natur der Staaten nicht dergestalt zum Grunde gelegt hat, als ein Werk von dieser Art nothwendig erforderte." 7 Eleganz des Ausdrucks, gepaart mit Oberflächlichkeit: dieses antifranzösische Klischee wird bereits ein paar Jahre später auf den der Frankophilie verdächtigen Justi selbst angewendet, wenn Scheidemantel, der preußische Herausgeber, bemerkt:
5
V g l . Justi, Natur und Wesen, S. 108 f.
6
Ebd., S. 225.
7
Ebd., S. X X V . V g l . auch S. 231: "Es ist wahrhaft zu bedauren und ein wahrer Schade vor die gelehrte Republik, daß der Herr von Montesquieu bey seinem großen Geiste nicht systematisch genug dachte".
Staatswissenschaftliche Situierungsgesten
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"Herr von Justi ... führt den Staatsmann mit einer zierlichen Schreibart bis auf die abstrakten Sätze der Natur zurück, die trocknen Absonderungen, welche mit den allgemeinen Ideen meistenteils verknüpft sind, weis er angenehm und leicht vorzutragen", kurz: er vermeide es in seiner politischen Metaphysik, barbarisch zu reden. "Barbarisch" - man darf vermuten, daß das Wort auch auf Inhalte zielt. Für das epistemologische Profil der Staatswisenschaft ist es symptomatisch, denn was Justi tatsächlich vermeidet, und auch die Staatswissenschaft nach ihm, sind allzu materialistische Züge und antiinstitutionelle Elemente im Sinne einer radikalen Sozialphilosophie: Barbarisch will sie nicht sein, die Staatswissenschaft, nimmt sie sich auch die säkulare Naturerkenntnis zum Vorbild. Schon Scheidemantel scheint hier neben Justis Affinitäten zu Montesquieu einen anderen Franzosen und auch ein anderes aufgeklärtes Bild des Sozialen zu furchten, nämlich das von Rousseau. Integraler Bestandteil von Justis Theorie der Staatsnatur ist eine vergleichsweise ausführliche anthropologische bzw. psychologische Erörterung der Menschennatur. Der "Unterthan" erhält ein empirisch reichhaltiges und im offenen Rahmen einer Theorie der Herrschaftsbeziehungen durchaus staatsbürgerliches Profil, das gleichwohl nicht auf das Rechtssubjekt und den Vernunftwillen setzt. Das spätneuzeitliche Kraftfeld von Disziplin und Kontrolle, das Justi vor Augen hat, interessiert sich physisch für den Staat und "seinen" Untertan. Es läßt an den beiden Polen seiner Wirksamkeit neue Einheiten entstehen, deren Zusammenhalt sich mehr physiologisch als naturrechtlich reguliert: den Staat und das Untertanenindividuum. Justis letztinstanzliche Definition des Staates als eines 'moralischen Körper' versetzt das staatliche Phänomen in eine Schwebe. Der Staat ist ein Etwas zwischen einer empirischen und einer Geltungsangelegenheit. Er hat mindestens so sehr eine physico-mathematische, eine physio-logische "Natur" wie eine juridische Qualität. Was als bloße vorrevolutionäre Melange von Verwaltungsfragen, aristotelischer Gemeinschafts- und Montesquieuscher Staatsformenlehre erscheinen könnte, zeigt eine wichtige Verschiebung an. Im Zeichen des "Policey"-wissens erhält Verfassung, "Staat", einen neuen, einen nicht nur physischen, sondern physikalischen oder mindestens: induktiv-naturwissenschaftlichen Sinn. Die Natur und das Wesen der Staaten steht staatsphilosophisch gesehen auf einer Art Schwelle, im Niemandsland zwischen traditioneller Formenlehre und more-geometrico-Systematik sowie einer emprisch offenen sozialphilosophischen bzw. politischen Beschreibung, die sich dennoch im vollen Wortsinn als "Metaphysik" versteht. Der Liberalismus einer "Gesellschaft" kündigt sich an, die dann allerdings sich diesseits der Staatsverfassung hält und in Opposition zum juridischen "Staat" geraten wird. Die Arbeiten Justis verkörpern in diesem Feld, zu einem Zeitpunkt, als es begrifflich noch ganz eines des "Staates" ist, eine neue wissenschaftliche Intensität. Auch als Person, die ein bestimmtes Erfahrungswissen an der Hochschule einbringt, das sich zum Diskurs verfestigt, steht er für einen Typus. Der erfahrene Staatstechniker, der aber nicht Jurist ist, betritt die Bühne der Universität - und trägt im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gleich zwei gelehrte Diskurse in den Raum der Politik hinein: die metaphysische Begründung und die naturwissenschaftliche Methodik. Der Begriff "Staatswissenschaft" übernimmt einen Teil des epistemologischen Versprechens, das
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damit verbunden ist. Diese Wissenschaft setzt den Staat über den Staat als Natur und über die Natur seines Zugriffs systematisch ins Bild. Die Begriffsgeschichte stützt diesen Befund: Zwischen Physiologie/Physik und Metaphysik zeichnet sich ein Niveau der Neuerungen ab. Die "Staatswissenschaft" überbietet in programmatischer Hinsicht die ältere Staats- oder Staatenkunde, die ihrerseits länger schon die Eigenständigkeit als empirische Disziplin beansprucht hatte. Schon Bose (1656) und Conring (1660) hatten die Forderung nach akademischer Eigenständigkeit der Staatsbeschreibung, "notitia rerum publicarum", erhoben und Juristen und Historiker des 18. Jahrhunderts haben diese Forderung wiederholt. Der Göttinger Staatskundler Achenwall nannte das Fach 1752 "Statistik" und vermied damit bewußt noch den anspruchsvollen Titel der "Wissenschaft". 8 Sofern sie sich in der AchenwalIschen Tradition begriff, blieb diese Statistik charakterisierend und verbal. Erst im 19. Jahrhundert fanden induktive Methoden und naturwissenschaftliches Gegenstandsideal dort, und unter großem Zögern, Eingang. "Zahlenstatistik", also Datenerhebungsund Rechentechniken, blieben unterdessen einer weniger erkennenden als vielmehr verwaltenden und für prognostische Zwecke an Archiven interessierten Praxis vorbehalten. - Es ist nun die sogenannte politische Arithmetik oder auch "Tabellenstatistik", zu der Justis Polizeiwissenschaft sich viel unmittelbarer verhielt, als die von den Traditionsfächern Staatsrecht und Historie herkommenden "Staatenkunde" selbst. Die "Staatswissenschaft" der Kameralisten drängt sich folglich von der pragmatischen Seite her dem klassischen Fächerkanon auf. Joseph von Sonnenfels, ein Kollege Justis, spricht die Kameralwissenschaft in diesem Sinne ausdrücklich als "Staatswissenschaft" an: als "die Wissenschaft nemlich, die Wohlfahrt eines Staates handzuhaben." 9 Diese Bestimmung klingt vergleichsweise pragmatisch. Der staatswissenschaftliche Anspruch konzentriert sich jedoch auch bei Sonnenfels weniger auf die Handlungsperspektive der klassischen "Politik" als auf dasjenige komplexe Geflecht von Zugriffen und objektiven Gesetzmäßigkeiten, das sich systematisch unter dem Stichwort "Wohlfahrt" aufzutun beginnt. Die neue Perspektive fügt sich in die handlungswissenschaftliche Tradition der "Staatsklugheit" ebensowenig bruchlos ein wie in Statistik und Verfassungsrecht. Auch die klassische Politikwissenschaft muß "staatswissenschaftlich" umgedeutet werden. Denn dies ist eine zweite Pointe des neuen Staats Verständnisses, das sich mit Justis Grundlegung anbahnt: Es geht nicht mehr um die ethisch "kluge" oder diplomatisch kunstvolle Regierung, sondern um die Wissenschaft einer Institutionennatur und um das technisch Sachangemessene im Blick auf jenen neuen Gegenstand Staat.
8
Vgl. Johann Gottfried Achenwall, Staatsverfassung der heutigen vornehmsten europäischen Reiche und Völker im Grundrisse, (2. Aufl. der unter dem Titel Abriss der neuesten Staatswissenschaft der vornehmsten Europäischen Reiche und Republicken erschienenen Ausgabe Göttingen 1749), Göttingen 1752, S. VIII f. (Vorrede zur zweiten Ausgabe).
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Joseph von Sonnenfels, Grundsätze der Policey, Handlung und Finanzwissenschaft. Zum seiner akademischen Vorlesungen eingerichtet von Moshammer, München 1787, S. 18.
Gebrauch
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2. Carl Ludwig von Haller: Naturalisierung der Souveränität Der Begriffsgebrauch des Wortes "Staatswissenschaft" spiegelt das Dilemma der neuen Disziplin wider: Der Anspruch ist gewaltig, der mit ihr verbunden ist. In systematischer Einheit und in empirisch gefüllter Wissenschaftlichkeit antizipiert das Fach als "politische Metaphysik" die Rolle einer Grundwissenschaft aller politischen Disziplinen (Recht, Wirtschaft, Bevölkerung, Gesundheit, Bildung etc.). In dem Feld, das Justis "Grundwissenschaft" umfassen soll, blühen in der Folgezeit heterogene empirische Disziplinen auf, während ihnen zugleich - und das war staatswissenschaftlich nicht vorgesehen - ein neuer Diskurs des Historischen entgegentritt. Mit der Jahrhundertwende ist die Revolution geschehen, der empirische "Status" der Staaten offener denn je. Fragen nach dem historischen Werden, der Rechtssetzung, der Gesellschaft haben sich unter dem vorrevolutionären Konzept des Staates machtvoll aufgetan; und das Projekt einer politischen Metaphysik scheitert, zumindest was seine einheitliche Repräsentation im Feld der Wissenschaften angeht. Die erschütterten "Zustände" der Staaten gefährden zwar nicht unbedingt die seiner "Natur" nach zu erforschende metaphysische Identität des Gegenstandes "Staat", zumindest ist aber die Gewißheit in der Wahrnehmung seiner Gestalt irritiert. Um die Jahrhundertwende ist in der überwiegenden Zahl der Fälle denn auch nur noch von "Staatswissenschaften" im Plural die Rede. Jenseits der Empirien wandert die "politische Metaphysik" ab - in die Philosophie. Der Erfahrungsschub wirkt dezentral auf die in Staatsangelegenheiten relevanten Fächer, und die Wissensordnungen mischen sich, in nationalen Kodifizierungsdebatten und im internationalen Kontrast nicht zuletzt gegen und nach Napoleon. Der Singular des Staates wandert ab aus dem Feld der Anwendung, zu Beginn des 19. Jahrhunderts scheint er nurmehr zu überwintern - auf der Ebene der kritischen oder der geschichtsphilosophischen Reflexion. Als Carl Ludwig von Haller (1768 - 1854) von 1816 an in Gestalt eines sechsbändigen Werkes gleichen Titels die "Restauration der Staatswissenschaft" fordert, haben sich also nicht nur die europäischen Landkarten gewandelt. Haller ist Professor für Staatskunde und allgemeines Staatsrecht in Bern. Er spricht in ausdrücklich rückwärts gewendeter Absicht in den politisch polarisierten und disziplinar heterogenen Raum von vielen, mit dem Staat befaßten Wissenschaft« hinein. Vom staatstheoretischen mainstream grenzt Haller sich ab, er will sich gerade nicht auf das rein juridisch gewendete Thema der "Verfassung" und die Kodifizierungsfrage konzentrieren - in einer Zeit, in der die neue und abenteuerliche Perpektive der Rechtssetzung mit Wucht in Rechtswissenschaft und -philosophie hineingebrochen ist10 und in der man sich auf der anderen Seite zunehmend auf die begrifflich selbständige Fragestellung nach der "Gesellschaft" einläßt. Hallers Restauration der Staatswissenschaft reagiert auf dieses
10 Sten Gagner, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Uppsala 1960, arbeitet die gemeinsame Genese der Gesetzgebungs-, Rechtsquellen- und Rechtsgeltungsproblematik auf. Die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts hat mit Historisierung und/oder Anthropologisierung eine Entwicklung vorangetrieben, die man als Positivierung des Rechts zu bezeichnen pflegt.
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Problem: Zwischen zwei heterogenen Ebenen, dem nurmehr als Normengebäude konzipierten Staat und der empirisch gegebenen Gesellschaft herrscht ein Spannungsverhältnis, das einer einheitlichen Erörterung - der politischen Metaphysik ohne barbarisch zu reden - entgegensteht. Unter dem Titel einer "Staatswissenschaft" sucht Haller erneut nach einer inhaltlichen Verklammerung der disparaten Aspekte von staatsbezogener Theorie - und er tut dies im Rahmen eines epistemologisch zugespitzten FundierungsVorhabens. Es geht um eine Renaissance der Staatswissenschaft in einem ähnlich umfassenden Sinne wie bei Justi: als erfahrungswissenschaftliche politische Metaphysik. Der "Hyder der Revolution"11 und ihren Auswirkungen auf die Vorstellungen vom Staat begegnet Hallers Werk durch eine Theorie des natürlich-geselligen Zustandes, der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt. Der Kontext hat sich gewandelt, wieder aber geht es um die Erkenntnis einer mehr oder weniger physischen Staatsnatur und um den Anspruch einer repräsentativ-umfassenden, "wissenschaftlichen" Superdisziplin. Haller zufolge ist die politische Gegenwart Resultat eines historischen Irrwegs. Im Feld der Politik laufen demzufolge Empirie und theoretische Bemühungen leer: "In allen anderen Wissenschaften stimmten doch Theorie und Praxis, Vernunft und Erfahrung ziemlich miteinander überein; in diesen politischen allein bestand zwischen den herrschenden Doktrinen und der Gestalt der Welt ein ewiger Widerspruch."12 Nicht nur fehle der richtige, es dominiere der falsche, einer gottgegebenen Natur zuwiderlaufende Begriff von Staat. Die Evidenz, auf die Haller setzt, ist religiös vermittelt. "Mißtrauisch gegen die herrschenden Doctrinen, von ihren Gegnern selbst unbefriedigt, warf ich demnach alle Bücher und Autoritäten weg, um fürohin nicht mehr die Menschen, sondern nur allein Gott, in seiner Schöpfung der Natur zu fragen." 13 Haller kippt den Diskurs über den Staat im Namen dieser neuen "Natur" um; und zwar nicht einfach durch eine Kritik der Künstlichkeit der von Menschen geschaffenen Institutionen oder durch Rückgriff auf ein Naturrecht aus Offenbarung. Er setzt vielmehr den Sachverhalt der fürstlichen Souveränität als solcher als eine der Ebene des Rechts vorausliegende und empirisch erfahrbare Naturtatsache an: Zuerst war da der Fürst in Person, dann erst folgt der Staat bzw. eine naturrechtlich gegebene soziale Ordnung "eigenen Rechts", die ihrerseits in positive Gesetze gekleidet werden kann, aber nicht muß. Die restaurative "Wissenschaft vom Ursprung der Staaten" malt - als "Spiegel des wahren Staatsrechts"14 - ein Szenario von quasi-anthropologischer Art. Die natürliche Anhänglichkeit an den Souverän schafft eine fundamentale Ordnung, die sich bereits diesseits der Rechtsform selbst genügt. Hallers Staatswissenschaft untergräbt, wenn auch ganz anders als die Staatswissenschaft Justis, durch einen eigentümlichen Naturalismus die Priorität des juridischen Modells. Die Restauration der Staatswissenschaft argumentiert zwar theologisch, ihr "Staat" fußt jedoch auf einem anthropologischen Souveränitätskonzept,
11 Carl Ludwig von Haller, Die Restauration Aalen 1964), S. III (Vorrede). 12 Ebd., S. VI. 13 Ebd., S. IX. 14 Ebd., S. XVII.
der Staatswissenschaft,
Bd. I, Winterthur 1820 (Nachdruck
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und dies ist ebenfalls eher am naturwissenschaftlichen als am vertragstheoretischen Paradigma orientiert. Haller wendet sich heftig gegen alle Vertragstheorien der Gesellschaft, gegen den "künstlichen Social-Contract", eine "falsche, unmögliche, sich selbst widersprechende Größe", 15 sowie gegen jede Vorstellung der Repräsentation oder Delegation von Volkssouveränität. Konkret soll der neue (und zugleich alte) Titel der "Staatswissenschaft" nicht nur die Wiederherstellung der Grundsätze einer früheren Epoche anzeigen, sondern einen Umbau der Episteme, eine "echte Gegenrevolution der Wissenschaft". 1 6 In restaurierter, der nichtjuridischen Natur der Souveränität entsprechender Form hätte eine das Leben des Staates erforschende Staatswissenschaft nur noch drei Unterabteilungen: Staaten-Kunde, Staatsrecht und Staatsklugheit - wobei letztere, die Staatsklugheit, auch "Makrobiotik" hieße, eine "LebensVerlängerungskunst" für den Staat. In Begriffen wie diesen wird tatsächlich also auch der Bereich des politischen Handelns im Sinne eines Staatsorganizismus naturalisiert. 17 Die emphatische Konzeption Hallers steht im 19. Jahrhundert nicht allein. Vitalistische Staatstheorien oder Staatspersönlichkeitslehren hat es viele gegeben (bei Schmithenner, Vollgraff, Warnkönig u.a.) und sie gewinnen auch nach dem Ende der Romantik einen spezifischen Sinn: Man kann sie als Versuche interpretieren, dem schwachen, weil bloß noch auf gesatztes Recht gegründeten klassischen Staatskonzept zu einer "Natur" zu verhelfen, die die Evidenz des Naturrechts adäquat ersetzt. "Der Staat" leidet zu dieser Zeit bereits, gemessen an "der Gesellschaft", an einem Erfahrbarkeitsdefizit, das nur eine induktive Staatswissenschaft nach naturwissenschaftlichem Vorbild hätte wettmachen können. So ist die restaurative Geste, die eigenartige Mischung aus Metaphysik und positivistisch-konkreter Beschreibung mehr als bloße Reminiszenz: Im Wege von nationalstaatlicher Pathetik und organizistischen und theologischen Metaphern versucht man unter dem Titel der Staatswissenschaft für die Moderne einen Gegenstand zu behaupten, dem die neue Gegenständlichkeit der Gesellschaft in den historisierenden Disziplinen - Politik und Geschichte - ebensosehr den Rang abzulaufen droht, wie in den Sozialwissenschaften selbst. Auch bei den Juristen wird der Rückzug in die positivrechtliche Dogmatik von Naturalisierungsversuchen begleitet, die sich aber - in dieser Hinsicht nicht hegelianisch - um Fragen des Privatrechts drehen und weniger um den Staat. Auch hier gibt es ein begriffsgeschichtliches Indiz: Dem "Rechtssystem" wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die quasi naturgeschichtlich sich entwickelnde "Rechtsordnung" entgegengesetzt. 18 Wo die Rechtswissenschaft nicht naturalisiert, arbeitet sie zur selben Zeit historisch und löst die Evidenz des Staates auf - in die Philologie seiner Normengebilde aus vergangener Zeit. Rechtspositivisten wie Vertreter der historischen Rechtsschule wollen nicht Erfahrungswissenschaftler des Staates sein; dennoch sind es zunehmend die Juristen, die an den Hochschulen das Bild beherrschen, wenn vom
15 Haller, Restauration der Staatswissenschaft,
S. XLV.
16 Ebd., S. XLIX. 17 Ebd., S. 9 ff. 18 Zum Gegensatz der Begriffe Rechtssystem und Rechtsordnung vgl. meinen Artikel "Rechtsordnung", in: J. Ritter u.a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. VIII, hier: Sp. 302-304.
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"Staat" die Rede ist. Die politische Metaphysik verliert ihr Objekt - während die Erfahrungswissenschaften den Menschen und die Gesellschaft zum Thema machen. Der Gedanke, den Haller bis 1834 umfangreich entfaltet, das Programm der einheitlich zu restaurierenden, empirisch fundierten Wissenschaft des Gegenstandes "Staat", bleibt zumal auf institutioneller Ebene - uneingelöst.
3. Johann Caspar Bluntschli: Das Prinzip Staat und seine Metaphysik Fast ein halbes Jahrhundert nach Haller haben sich die Kontexte wiederum gewandelt. Johann Caspar Bluntschli (1808 - 1881) verwendet das Wort "Staatswissenschaft" erneut, um politisch-metaphysische Grundlagen zu schaffen. Er spricht jedoch in integrativer Absicht, sein Ansatz hat nichts von der aggressiven Programmatik der Restauration. Bluntschli ist ein Liberaler, Staatsrechtslehrer und Parlamentarier in Zürich, von wo aus er über Jahrzehnte politisch wirkte und - selbst Befürworter der konstitutionellen Monarchie - zu den Gründerfiguren der Schweizer Bundesverfassung gehört. Bluntschlis Hauptwerk, Die Lehre vom modernen Staat, hat mit der fünften Auflage 1875 einen endgültigen Umfang von drei Bänden erreicht; es konzipiert eine "Staatswissenschaft", die umgreifend sowohl die statische "Staatslehre" als auch die dynamische "Politik" unter sich fassen soll und so den sowohl empirisch als auch transzendental - als "Prinzip" - begriffenen "Staat" in den Mittelpunkt einzelwissenschaftlich unterschiedener Perspektiven rückt. Daß sich tatsächlich eine gemeinsame Entität hinter den Disziplinen findet, sichert Die Lehre vom modernen Staat im Wege des methodischen Sowohl-als-auch: "Der Staat muß sowohl philosophisch begriffen, als auch historisch erkannt werden." 19 Über welcher Art von Objekt konstituiert sich hier, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts neuerlich der Diskurs einer Wissenschaft vom Staat? Bluntschlis Text faßt die Identität seines Gegenstandes metaphysisch abstrakt, insofern er "nicht etwa die bestehende Staatsordnung oder Staatsverfassung (politeia)" meint, "sondern den Staat, welcher auch eine völlige Umgestaltung der Regierungsform überleben kann." 20 Gleichwohl soll es nicht um eine ideale, sondern um eine reale Ganzheit gehen: Der "Staatsidee" entspricht eine "organische Natur des Staates". 21 Es soll sich um ein sittliches Ganzes handeln, eine Gegenständlichkeit, die freilich nur sehr entfernt noch an Justis "moralischen Körper" erinnert. Bluntschli geht es um den Staat als quasipersonales Prinzip sowie zugleich als tatsächlich lebendige und leibhaftige "Person": "Der Staat ist die politisch organisierte Volksperson eines ganzen Landes". 22 Der
19 Johann Caspar Bluntschli, Die Lehre vom modernen einbändig erschienen Titels), Bd. I, S. 11. 20 Ebd. I, S. 24. 21 Ebd. I, S. 22 (Hervorhebung P. G.). 22 Ebd. I, S. 24.
Staat,
1886 ff. (6. Aufl. des erstmals 1852
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Staatskörper soll nun auch physisch mehr oder weniger direkt dem menschlichen Körper nachgebildet sein. Als grundlegende will Bluntschli seine Staatswissenschaft vor diesem Hintergrund letztlich in Form einer Psychologie des Staates realisieren, genauer gesagt: als Psychologie der "Staatspersönlichkeit".23 Typisierung und Entwicklungsgeschichte konkreter Staaten rücken auf der Basis dieses Staatspersönlichkeitsgedankens in den Prozeß einer weltgeschichtlichen Evolution ein. Durchaus naturhaft und weniger als moralische oder geistige Wesenheit realisiert sich der "Staat" bereits diesseits der normativen Setzung, wenn auch das Recht dem Staat maßgeblich dann seine volle Gestalt verleiht. Verwirklicht ist das organische Phänomen Staat erst auf globalem Niveau - seine Physis konvergiert mit dem biologischen Körper der Gattung: "Wenn die Menschheit innerlich ein Wesen ist, so muß sie sich auch in ihrer vollen Entwickelung als eine Person offenbaren. Die Organisation der Menschheit aber ist der Weltstaat."24 Der fundamentale Anspruch der geforderten Staatswissenschaft, eine das Recht, die Empirie und die Geschichte transzendierende Superwissenschaft zu sein, kehrt auf diese Weise auch bei Bluntschli wieder. Deutlicher als Haller setzt Bluntschli auf einen aufgeklärten Parallelismus zwischen Staats- und Naturerkenntnis. Nicht die Beziehung zum Souverän als sozialanthropologisches Faktum wird vor die Klammer gezogen und naturalisiert, sondern das Prinzip "Staat", das als genetisches Prinzip Gemeinschaftsbildung und Geschichte ebensosehr durchherrscht ("organisiert") wie institutionelle Strukturen und konkrete Politik. Bluntschlis Amalgam aus Vernunftphilosophie und Vitalismus spannt im Namen der "Staatswissenschaft" einen disziplinübergreifenden Bogen, dessen Kraft sich vagen organizistischen Metaphern verdankt - bis hin zur Applikation der Differenz männlich/weiblich: Der Staat bei Bluntschli hat bzw. "ist" ein Geschlecht.25 Nach dem Techniker Justi, der gleichsam phänomenologisch auf ein gewordenes Erfahrungsganzes zielte, nach dem Restaurationsdenker Haller, der im Staat die Souveränität heilsgeschichtlich deutet, sieht Bluntschli den Staat im Zentrum einer Evolution der Menschheitsnatur, wobei die Metaphorik der "Person" weniger juridische als psychologische, weniger soziale als biologische Akzente setzt. Das Pathos von Bluntschlis auf abstrakten Naturanalogien aufbauender "moderner" Staatswissenschaft ist das der ebenso faktengetreuen wie zugleich philosophisch "tiefen" Fundierung. Auch hier eine Art von politischer Metaphysik, ohne barbarisch zu reden? Fast gleichlautend reproduziert Bluntschli in der Tat das antifranzösische Klischee, mit dessen Hilfe schon Justi und Scheidemantel ihren empirisch umfassenderen Anspruch von ihren französischen Vorläufern abzuheben suchten. "Montesquieu gräbt nicht so tief... Er bewegt sich lieber an der Oberfläche" - und: "das Gebäude, das er errichtet hat, hat keine massiven Fundamente. Es ist weder wie ein Dom, noch wie ein Königspalast angelegt." Allein: "[I]n dem leichten und durchsichtigen Bau ist wie in unseren Glaspalästen viel
23 Vgl. Bluntschli, Moderner
Staat I, S. 22.
24 Ebd. I, S. 36 (Hervorhebung im Original). 25 "Der höchste zur Zeit noch nicht realisierte Staatsbegriff ist also: Der Staat ist die organisierte Menschheit, aber die Menschheit in ihrer männlichen Erscheinung, nicht in der weiblichen Gestaltung. Der Staat ist der Mann." (Ebd. I, S. 34)
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Merkwürdiges zu sehen, das ganze ist geschmackvoll geordnet, das Einzelne sorgfältig placiert." 26 Der Diskurs der deutschsprachigen Staatswissenschaft setzt sich nun aber auch ausdrücklich von jener Konzeption ab, von der sie sich möglicherweise von ihrem Anbeginn an untergründig herausgefordert weiß: dem Diskurs Rousseaus, dem barbarischen Diskurs. Bei Bluntschli findet er sich resümiert: "Die französische Gesellschaftslehre ist besonders seit Rousseau geneigt, den Staat als Gesellschaft zu betrachten und die Begriffe Volk (nation) und Gesellschaft (peuple) für gleichbedeutend zu halten. Die Wissenschaft vom Staate ist durch diese Verwechslung verschiedener Begriffe verwirrt worden und für die Staatspraxis ist dieselbe ebenso verderblich geworden. Die deutsche Staatslehre unterscheidet schärfer und sorgfältiger die verschiedenen Begriffe. ... Sie gibt auf der einen Seite dem Staate ein festeres Fundament und eine gesicherte Wirksamkeit und schützt die Freiheit besser gegen die Tyrannei der Staatsgewalt." 27 Die staatswissenschaftlichen Situierungsgesten schöpfen aus vertrautem Arsenal: die geschmackvolle Oberflächlichkeit Montesquieus supplementiert ein dahinter ungenannt Bleibendes, die Barbarei Rousseaus. Neben dem nationalistischen Muster, neben dem politischen Konflikt zweier Ordnungen oder Systeme, die jeweils behaupten, in ihnen sei - staatsbürgerlich - Freiheit verwirklicht, zeichnet sich hier wieder ab, wie für die nichtjuridische Theorie des "Staates" die Perspektive auf "Gesellschaft" zum gegenspielenden Schicksal wird. Staat und Gesellschaft erheben Ansprüche auf empirische Wahrnehmbarkeit und auf eine Episteme des sozialen und politischen Ganzen, die dem Rechnung trägt. Die Einheit des "Staates", in deren Namen die deutschsprachige "Staatswissenschaft" ihre Priorität setzt, kann ihren begrifflichen Rahmen nicht oder nur schwer vermitteln mit jenem zweiten Register von Begriffen, die zum empirischen Paradigma der "Gesellschaft" und den dort einsetzenden Wissenschaften gehören. Wie wir wissen, wird dieser epistemologische Konflikt an der Schwelle zum 20. Jahrhundert entschieden sein. Die Staatswissenschaft verschwindet - zugunsten einer wissenschaftlichen Empirie, die sich auf die Gesellschaft bezieht. 28
4. Die Wissenschaft "des" Staates als uneingelöstes Programm Gemeinsam ist den skizzierten drei Ansätzen ihr philosophisch umfassender Anspruch: eine Metaphysik des Staates als politische Seinswissenschaft diesseits des Rechts und mit empirischen Fundamenten zu sein. Der Staat selbst - und nicht sein Recht - wird zur neuen Natur. Der Universalisierung und Ontologisierung der Thematik soll in der Ordnung der Wissenschaften einer epistemischen Umgruppierung Rechnung tragen. Die 26 Vgl. Johann Caspar Bluntschli, Geschichte Aufl., München 1867, S. 259.
des allgemeinen
Staatsrechts
und der Politik (1864), 2.
27 Bluntschli, Moderner Staat, S. 118. 28 Die Tatsache, daß im Faschismus der Anspruch des Begriffs erneuert wird, wäre eine eigene Untersuchung wert.
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"Staatswissenschaft" bündelt und überwölbt in all ihren progammatischen Varianten die historischen Fächer, das Recht und alle relevanten Disziplinen der politischen Empirie. Es scheint, als wäre bei Justi, Hallerund Bluntschli das Objekt "Staat" dazu ausersehen, dem großen Raum des politisch-institutionellen und methodisch aufzuarbeitenden Wissens über die Felder des Sozialen und der Menschennatur letzten Grund zu geben. Die methodische Klammer ist denkbar weit, denn es geht um beides: Empirie der Staatsphysis und politische Metaphysik. Der diesem Programm entsprechende "Staat" wäre ein erfahrungswissenschaftlich neues und universales Objekt. In einer ähnlichen Weise, wie nach Michel Foucault in derselben Epoche "der Mensch" es wurde, 29 wäre "der Staat" der erfahrungswissenschaftlichen Staatswissenschaft ein empirisch-transzendentales Dopppelgeschöpf gewesen. Er wäre es gewesen. Aller staatswissenschaftlichen Programmatik zum Trotz war "der Staat" jedoch nie in vergleichbarer Weise und mit vergleichbarer Wirkung in der Lage, einen ganzen Raum des Wissens und der Vernunft so weitgehend zu integrieren, wie "der Mensch" der Humanwissenschaften es war (oder auch "die" Gesellschaft der Sozialwissenschaften). Der Staat hatte, zwischen Recht, Geschichte, Ökonomie und Gesellschaft nie wirklich seine eigene Ordnung, seinen eigenen Diskurs. Gerade den auf die akademische Führungsrolle der Disziplin gerichteten Visionen eines Justi, Haller oder Bluntschli entsprach keine Realität, und die Episteme des Staates blieb unter Juristen, Historikern, Ökonomen, Anthropologen, Politik-, Sozial- und Moralwissenschaftlern aufgeteilt. In diesem Sinne wären die drei vorgestellten Anläufe, den Diskurs einer universalen Staatswissenschaft zu eröffnen, gleichermaßen gescheitert. Das machte sie mir interessant. Meine abschließenden Überlegungen betreffen so erstens den Gegenstand der Staatswissenschaft, zweitens deren Wissenschaftlichkeit und drittens deren systematische Aporie. Schon zu Justis Zeiten fehlte es der Erfahrungswissenschaft des Staates an der empirischen Einheit ihres Objekts. Der Staat konnte die heterogenen Wissensarten nicht integrieren, die sich als differente um ihn gruppieren, gerade auch dort, wo er sich als dynamisches Phänomen auswirkt bzw. politisch aktiv in Erscheinung tritt. Die Erfahrungsfelder der "Epochenschwelle" um 1750 haben zwar, entlang an neuen und bald flächendeckenden Erfassungs-, Dokumentations- und Verwaltungstechniken eine im wahrsten Sinne des Wortes "staatliche" Erfahrung möglich gemacht, eine aus der Exekutive kommende und unmittelbar exekutiv wirksame Gewinnung von Wissen; und die neue Staatserfahrung findet auch prompt und gleichsam "von unten" an den Hochschulen Platz. Statt einer von einer politischen Metaphysik getragenen epistemischen Einheit gibt es aber nur viele Staatswissenschaften im Plural - und weit weg davon die idealistische, an Legitimitätsfragen ausgerichtete politische Philosophie. Der Gegenstand Staat ist ein Gegenstand ohne einheitliche Physis geblieben - dies gilt
29 Dessen Formel vom Menschen als "empirisch-transzendentaler Doublette" (vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge [1966], aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Koppen, Frankfurt/Main 1974, S. 385 u. S. 388) kennzeichnet primär eine paradoxe Wissenslage, nicht etwa ein reales Wesen, dem dieses Wissen anzumessen ist. Foucault zufolge greift die Moderne von hier aus zu neuerlicher Verdunklung. Gestalten eines "Ungedachten" helfen, das Doppelobjekt Mensch in der Welt als existent, als wirklichen "Ort einer empirisch transzendentalen Reduplizierung" (S. 389) zu begreifen.
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doppelt, nachdem mit der Revolution ein vor allem juridischer Körper als zur Diskussion gestellter und zu kodifizierender erscheint. Vielleicht ist ein Teil der "physischen" Evidenz des Staates mit der Revolution und den ihr folgenden Veränderungen verloren - auf jeden Fall tritt mit neuer empirischer Dichte die Gesellschaft auf den Plan. Die Restauration kann die Einheit des staatswissenschaftlichen Gegenstandes nurmehr rückwärtsgewendet behaupten. Das Beispiel Hallers zeigt, wie sie dennoch versucht, eine Art von Staatsnatur unter Beweis zu stellen. Hallers Entwurf ist eine Projektion ohne große wissenschaftliche Folgen. Der soziale Körper selbst ist zur selben Zeit - nicht zuletzt in Verlängerung der polizeiwissenschaftlichen Empirie längst auf dem Wege dazu, statistischer Datenkörper und Gefüge objektivierbarer Faktoren und manipulierbarer Ressource zu werden. Gemessen an der Evidenz jener neuen Größe, der Gesellschaft, bleibt der Staat hoffnungslos abstrakt und verschwimmt - z.B. mit Menschheit oder Nation. Was von der staatlichen Physis bleibt, wirkt metaphorisch, wie bei Bluntschli: man zitiert das Naturparadigma und bedient sich doch anderer Methoden als der Induktion. Der Gegenstand der Staatswissenschaft ist, mit anderen Worten, mangels Erfahrbarkeit ein unmögliches Objekt. Das Beispiel Bluntschlis stammt aus einer Zeit, in der das Paradigma der Gesellschaft auch an den Universitäten längst Schule macht. Es zeigt ebenso deutlich wie das Beispiel Justis, daß das Anliegen, den "Staat" zu naturalisieren und ihm jenseits normativer Konzepte oder verfassungrechtlicher Dogmatik eine Metaphysik zu geben, zum Kampf des Faches um das Attribut der Wissenschaftlichkeit gehört. Im Namen des - bei Bluntschli dann: "modernen" - Staates orientiert sich die staatswissenschaftliche Programmatik dabei mehr oder weniger deutlich an der Naturwissenschaft. Wie schon Justi und Haller hat jedoch auch Bluntschli nie eine empirisch entsprechend umfassende Disziplin begründet, der Diskurs des Staates hat sich, im Gegenteil, im Laufe des 19. Jahrhunderts seiner Substanz nach weitgehend juridifiziert, darüber täuscht auch die organische Metaphorik nicht hinweg. 30 So sind es im deutschen Sprachraum die Juristen, die, namentlich in der Verfassungslehre, eine diziplinäre Vormachtstellung erhalten und dies im übrigen auch im Feld der wissenschaftlichen Politik. Hinsichtlich der "Wissenschaftlichkeit" der Staatswissenschaft blieb die Situation methodisch uneindeutig. Das induktive Paradigma tendiert - mit Hilfe der Evolutionstheorie - zu einer Art Naturgeschichte der Norm. Juristen wie Ihering betätigen sich zeitweilig in einem ähnlichen Feld. Zugleich stiftet die "metaphysische" Seite des Projekts keine epistemische Einheit. Für Hallers theologisch getränktes Souveränitätspathos findet sich bei Bluntschli, in der politischen Metaphysik eines "Prinzips", trotz der Fülle vitalistischer Metaphern keine Entsprechung mehr. Das Methodendilemma der
30 Es ist bezeichnend, daß ein enzyklopädisches Großprojekt wie das elfbändige Deutsche StaatsWörterbuch, an dem Bluntschli als Herausgeber beteiligt war, schwerpunktmäßig den Feldern der Rechtsgeschichte und der Politikwissenschaft zugute kam. Ähnliches gilt für das Staats-Lexikon von Rotteck u. Welcker (ab 1843) - im Untertitel: Encyklopädie der Staatswissenschaften (im Plural!) sowie das von Conrad, Elster u.a. herausgegebene Handwörterbuch der Staatswissenschaflen. Die Empirien des Körpers, der Physis, auf die Staatswissenschaft dem Anspruch nach hätte viel mehr zielen müssen, bleiben, den gigantischen Editionen zum Trotz, Gastbeiträge aus den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften.
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Staatswissenschaft muß, sofern sie auf Induktion setzt, unlösbar bleiben. Die Art und Weise ihrer Wissenschaftlichkeit reichte deshalb weder im 18. noch im 19. Jahrhundert für die angestrebte Rolle der politischen Leitwissenschaft hin. Das entscheidende Stichwort für die Frage des Scheiterns der drei staatswissenschaftlichen Projekte, die ich hier vorgestellt habe, lautet: "Gesellschaft". Dreimal hat die Programmatik des "Staates" ihre mehr oder weniger unausgesprochene Konkurrentin in der wissenschaftlichen Bezugnahme auf Gesellschaft gehabt. Gemeinsame Sache kann die Empirie der Gesellschaft über weite Strecken mit der Empirie des "Menschen" machen - und mit einem politischen Diskurs, in dem man "barbarisch" redet und den Staat gleichsam von außen sieht. Wie das Beispiel Justis zeigte, stand schon vor der Revolution das säkulare Objekt "Staat" im Zentrum des Versuches einer nicht länger naturrechtlich, sondern naturwissenschaftlich gegründeten Metaphysik. Sie wollte jedoch nicht "barbarisch" sein, sie trat zugleich als Gegenkonzeption zur Sozialmetaphysik an. Daß diese heikle Vereinbarung normativer und deskriptiver Elemente scheitert, sobald der politische Status quo sich nicht mehr von selbst versteht, dies können auch die späteren Versuche der Naturalisierung des Staates nicht verhindern. Die realhistorisch fragwürdige Konzeption eines diesseits seiner Normen objekthaft faßbaren Phänomens "Staat" scheint dem Druck jener heterogenen Empirien nicht gewachsen, den die "Gesellschaft" ohne weiteres befriedigen kann. Derselbe Sachverhalt läßt sich freilich auch umgekehrt ausdrücken: Der Staat läßt sich weniger leicht als die Gesellschaft zum Objekt empirischer Forschung machen. Die Gesellschaft und ihre Menschen sind dagegen mögliche Objekte der Forschung, denn sie sind Objekte (und nicht etwa das "Subjekt") der im Staat und seinem institutionellen Wissen zusammenschießenden Macht. Aber auch der "philosophische" Druck auf die Staatswissenschaft, eine hinreichend konsistente Metaphysik des Staates und in einem modernen Sinn des Wortes "positive" Grundlagenwissenschaft zu sein, muß die Disziplin überfordern. Staatsorganismuslehren und Staatspersönlichkeitstheorien, letztere typische Produkte der Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts, sind nicht nur einfach Ausprägungen nationalstaatlicher, romantisierender Ideologie. Man kann sie auch als Versuch lesen, das epistemologisch nahezu uneinlösbare Profil zu erfüllen, das die Staatswissenschaft sich zu eigen gemacht hat: zugleich am Paradigma Natur und am Objekt Staat orientiert zu sein, zugleich empirisch gesättigt und normativ gegenwärtig "objektiv" zu werden, zugleich unmittelbar mit der Exekutive des Politischen verknüpft zu bleiben und dieses Politische an den Hochschulen zu vertreten - als "wissenschaftliche", gleichsam "echte" Metaphysik. Ein ganzes Bündel von Aporien steht, so muß das Fazit wohl lauten, dem Programm einer staatswissenschaftlich umfassenden Superdisziplin entgegen. Trotz sich wandelnder Konzepte ging deshalb die Konstruktion einer erfahrungswissenschaftlichen Einheit fehl. Das intendierte Objekt "Staat" ist instabil geblieben, und zwar weit instabiler als jener "Mensch" der Humanwissenschaften, dessen Diskurs Foucault als historisch scheiternden präsentiert. Gemessen am Staat ist es die epistemologische Konstellation Mensch/Gesellschaft, die sich historisch behauptet; und vielleicht bis heute, will man den strukturalistischen Paradigmenwechsel - man scheint dies zu tun - als eine vorübergehende Episode ansehen. Betrachtet man die Geschichte der gescheiterten staatswissenschaftlichen
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Petra Gehring
Situierung, muß man jedenfalls zugeben: Das Projekt der Naturalisierung der Gesellschaft, der Naturalisierung eines Sozialkörpers aus Menschen, gelang, wenn auch auf eine Weise, die ihrerseits paradoxe Züge trägt und im Ergebnis vage bleibt. Der Diskurs des Staatskörpers kam demgegenüber nicht in vergleichbarer Weise zustande. Was den metaphysischen Anspruch anbelangt, haben Staatsrecht und Verfassungslehre ihn - in Gestalt einer trotz Positivismus verbleibenden Glaubwürdigkeit - beerbt. Die Induktion des Staates, eine "Staatsempirie", scheint dagegen gänzlich undurchführbar zu sein. Möglicherweise ist das, was der Staat jenseits normativer Ansprüche und gesellschaftlicher Wirklichkeiten "ist", nicht wissenschaftlich wahrzumachen und nicht exoterisch zu haben. Möglicherweise schließt die auf Naturerfahrung zugeschnittene Form der Wahrheit wissenschaftlicher Repräsentationen die Wahrnehmung der Exekutive, die Wahrnehmung der in politischer Ausübung zu begreifenden Herrschaft aus. Das Sein der Polizei holte noch niemand an die Universität.
Joseph Vogl
Gründungstheater. Gesetz und Geschichte
Das Theatralische an der Person wiederzuentdecken, war nicht von ungefähr Sache eines Rechts, das mit jedem seiner Sätze den Augenblick seiner Setzung erinnern will. Die natürliche, die künstliche Person - diese Hobbessche Differenzierung greift über die substanzialistischen Wendungen des Mittelalters hinweg auf das Maskenspiel der römischen "persona" zurück: Person im juristischen wie im theatralischen Sinn. Denn das Gesetz ist gesetzmäßig nur als Gedächtnis seiner eigenen Urszene und erfährt seine Legitimität auf einer Bühne, auf der es seine Gründung immer von Neuem durchspielt. Wenn Person derjenige ist, dem Worte und Handlungen von Menschen beigelegt werden, so ist deren Gesetz die Inszenierung und die Gesetzmäßigkeit der Bühnenraum selbst. Und wenn das Naturrecht einen ersten Grundsatz beschwört und zugleich die Transparenz aller Rechtssätze für dieses Prinzip reklamiert, so liegt sein Ursprung in der Idee einer Performanz, die sich im theatralischen Charakter der Vertragskonstruktion ausspricht. Nicht anders jedenfalls verfährt das komplizierte System von Stellvertretungen, Masken und Rollen, das die Identität des einzelnen als Person und das Gesetz als Spiegel seines eigenen Ursprungs bestimmt, wie Hobbes es im Kernstück seiner Lehre beschreibt: "Ich übergebe mein Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen oder dieser Gesellschaft unter der Bedingung, daß du ebenfalls dein Recht über dich ihm oder ihr abtrittst." Wie jedes Individuum notwendig durch ein anderes vertreten wird, so wird der Dritte, der Staat, "eines jeden einzelnen Stellvertreter", dessen Handlungen nun jeder so betrachten muß, "als habe er sie selbst getan".1 Immer also ist in diesem "als ob" des Gesetzes der einzelne drei. Er wird zum Bürger und zum Gesetzessubjekt nur als Stellvertreter der beiden anderen, oder umgekehrt: in jenen anderen erkennt er zuschauend und stellvertretend seinen Willen. Im Akt einer ersten Übereinkunft reflektiert sich der eine im anderen; und mit der wechselseitigen Substitution und Unterstellung gleicher Interessen verfestigt sich eine Gemeinsamkeit, die nun als tertium und Grundriß für eine dauerhafte Verfassung und eine allgemeine Gesetzgebung gelten kann - wie immer der opake Naturzustand auf der einen, der starke Dritte auf der anderen Seite aussehen mag. In dieser Transparenz, entlang dieser aufsteigenden Linie bestimmt sich Politik als Resultat und Bewältigung eines Spiegelstadiums. In endloser Reflexion - ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß ... ersetzen sich ego und alter ego und destillieren aus ihren Spiegelungen ein vertragliches
1 Thomas Hobbes, Leviathan (1651), übers, v. Jacob Peter Mayer, Stuttgart 1970, S. 155.
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Joseph Vogl
Substrat, das die Ausfallung eines stabilisierenden Ur- oder Übervertrags, des Staates, ergibt und aus der bloßen Menge jene eine und einzige persona ficta herausschneidet. Der einzelne also: "Urheber" eines Theaters, auf dem er sich selbst als Streitsache in den Masken der drei repräsentiert, als Ego, Gegenspieler und Richter, als Aggressor, Opfer und Schuldiger in einem. Staat und Souverän sind ein Theatercoup, und die Hobbessche Vertragslehre installiert das Schauspiel als mythischen Grund im Innern des Gesetzes, im Innern des Leviathan. Jeder Vertrag rekurriert auf einen ersten Vertrag, dieser aber auf ein theatralisches Arrangement, das den historischen Anfang der Dinge in die Identität des Ursprungs übersetzt und schließlich mit jedem Geschäft, zu jedem Datum des Rechts wiederkehrt bzw. wiederkehren soll. Dies sind die Figuren eines Spiegeldispositivs, mit dem sich die Urszene der Repräsentation bis hin zu John Rawls Theorie der Gerechtigkeit fortgeschrieben hat und in die Mythologie moderner Politik eingegangen ist: abgesonderte einzelne, die sich als gleiche Personen begegnen, sich jeweils im anderen erkennen, einander substituieren, ihre Gemeinsamkeit im transparenten Band der Verträge aufsuchen und sichern. Jeder handelt so, als ob er der andere seiner selbst wäre; was der eine denkt, hat der andere schon gedacht, und die Voraussetzung für die gemeinsame urvertragliche Ubereinkunft ist daher eine Art Nicht-Kommunikation. Von dieser Spiegelung, von dieser Nicht-Kommunikation zehrt das Gemeinsame, das sich in den Institutionen speichert und nun nichts anderes vertritt als den Solipsismus, den der vertragliche Urzustand in logischer Hinsicht verlangt. Das Gemeinsame ist Separation, die Separation aber nichts als Spiegelung und Auslöschung der Differenz - in diesem Zirkel betreibt die repräsentationslogische Ableitung der Herrschaft eine zentrifugale Ausstoßung sozialer Erfahrung und illustriert das Dilemma, daß gerade die Gleichheit jede Gemeinschaft ausschließen muß; es gibt kein Prinzip einer Gemeinschaft von Gleichen, das zugleich ein Prinzip gesellschaftlicher Organisation darstellen kann. Aber ich will dieses Argument hier nicht weiter verfolgen, vielmehr Folgendes festhalten: Die naturrechtliche Vertragslehre, so lautet die These, leistet also die Erfindung der Urszene - d.i. die Erfindung ihres Begriffs, im strengen Sinn - als Entwurf einer Bühne, die die stabilen Stellvertretungen und Repräsentanzen verteilt und zugleich in fortwährender Involution die Zeit des Rechts mit der Zeit seiner Gründung kontaminiert.2 Wird nun die Institution des Gesetzes unmittelbar theatralisch und - umgekehrt dieses Theater zum Ursprung des Politischen, so kann das Schauspiel, die Schaubühne selber nur schwach, mangelhaft und riskant erscheinen. Aus dieser Perspektive jedenfalls mag sich Rousseaus Radikalisierung des Sozialvertrags mit seiner Kritik am Institut des Theaters vertragen. Wenn sich nämlich die Repräsentation nur dadurch
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Natürlich erinnert dieser Begriff der Urszene mittelbar an den psychoanalytischen Terminus. Das Faktum fremden Genießens, die Aggression des Dritten, die Triangulierung und die Vorstellung des Ausschlusses wirken auch hier strukturierend - aber mehr noch: die kontraktuelle Urszene bezieht ihre regulierende Kraft gerade aus der Repräsentation einer ersten Beteiligung und ist somit die Vorstellung einer Vorstellung im strengen Sinn. Diese Repräsentation liefert die Gründe für ein Nicht-Genießen, dem die Vorstellung eines unmöglichen ersten Genusses vorangeht. In ihr und das ist ihre optimistische Seite - artikuliert sich nichts Verdrängtes, sie diskursiviert vielmehr die Verdrängung selbst und bezieht ihren Anspruch aus der Positivierung jenes 'Nicht-'.
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Gründungstheater
rechtfertigt, daß sie mit ihrem Akt zugleich ihr eigenes Gesetz wiederholt, so ist das Theater eine bloße, eine defizitäre und zerstörerische Verdoppelung, in der das Repräsentierte immer abwesend ist und damit den Zweck ruiniert, der die Menschen zur Versammlung treibt. "Man glaubt", schreibt Rousseau in seinem Brief an d'Alembert "sich zum Schauspiel zu versammeln, dort aber trennt sich jeder von jedem, man vergißt seine Freunde, Nachbarn und Verwandten, um sich mit Märchen aufzuhalten, um traurige Schicksale längst Verstorbener zu beweinen oder auf Kosten der Lebenden zu lachen."3 Das Widerspiel von Fremdem und Eigenem, An- und Abwesenheit ist das Gesetz der Repräsentation, und während wir darum, wie Rousseau schreibt, auf dem Theater immer nur andere Wesen sehen, "als wir selber sind", kann die Repräsentation als Gesetz nur durch ihre permanente Revision bestehen: Das Gesetz der Repräsentation muß durch die Repräsentation als Gesetz korrigiert werden. Hier ist das wahre und einzige Theater, das im Innern des politischen Körpers den ersten Zusammenschluß und den Urvertrag stets neu inszeniert. So wenig eine Gemeinschaft ihren Willen, d.h. ihre Souveränität, übertragen kann, ohne sich selbst aufzugeben, so sehr muß sich jede Repräsentation zugunsten ihres Ursprungs zurücknehmen und angesichts der nachbarlich versammelten Individuen annullieren. Das versammelte Volk vertritt sich selbst, indem es jede Vertretung auflöst, und "wo sich der Vertretene befindet" - so heißt es im Contrat social - "gibt es keinen Vertretenden mehr". 4 Die Gesetzmäßigkeit des Gesetzes bemißt sich an seiner Fähigkeit, dessen eigene Urszene zu vergegenwärtigen; hier fließen Inauguralzeit und Zeit der Vermittlung zusammen, und hier ist der Grund des Gesetzes - paradox genug - Theaterboden. "Wie? Soll es in einer Republik denn gar kein öffentliches Schauspiel geben? Im Gegenteil, man braucht sogar viele. In den Republiken wurde das Schauspiel geboren, in ihrem Schoß sieht man es wahrhaft festlich blühen."5 Die Republik und ihr Gesetz verwerfen jedes Theater, weil sie selbst nichts als Theater sind, das sich zur Versammlung, zum "öffentlichen Fest" "in frischer Luft und unter freiem Himmel" weitet, zum Theater jener ersten Zusammenkunft also, in der keiner den anderen und die Gesamtheit jeden vertritt. Ein Theater jedenfalls, das jeder Institution vorausgeht, das nichts darstellt und in diesem Nichts nur die eigene Theatralität, die eigene Repräsentation inszeniert: "Was werden schließlich die Gegenstände dieses Schauspiels sein? Was wird es zeigen? Nichts, wenn man will. Mit der Freiheit herrscht überall, wo viele Menschen zusammenkommen, auch die Freude. Pflanzt in der Mitte eines Platzes einen mit Blumen bekränzten Baum auf, versammelt das Volk, und ihr werdet ein Fest haben. Oder noch besser: Stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafür, daß ein jeder sich im anderen erkennt und liebt, daß alle besser miteinander verbunden sind."6 Bei Hobbes wie bei Rousseau überspringt also das in den Gesellschaftsvertrag inkorporierte Schauspiel - das
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Jean-Jacques Rousseau, Brief an d'Alembert Uber das Schauspiel (1758), in: ders., Schriften, hrsg. v. Henning Ritter, Frankfurt/Main 1988, S. 348.
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Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts (1762), in: ders., Politische Schriften, übersetzt v. Ludwig Schmidts, Bd. 1, Paderborn 1977, S. 156.
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Rousseau, Brief an d'Alembert,
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Ebd.
S. 462.
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Theater der Repräsentanzen, das dieser Vertrag, dieser Protovertrag selbst ist überspringt also dieses Theater die Aporie des Gesetzes, eine Aporie, die darin besteht, sich selbst und seinen Ursprung auszusagen, die schließlich darin besteht, im Namen von ... zu gebieten und zugleich nichts als die reine Performanz dieses Namens zu sein. Wie kaum ein anderer aber hat gerade Rousseau damit die Unentscheidbarkeit einer Politik sichtbar gemacht, die sich der Repräsentation des Gemeinsamen verpflichtet und die Zeit des Gesetzes als Zeit der Geschichte installiert. Die Anwesenheit und die expressive Kraft der Menschenmenge, des auf dem Markt oder dem Forum versammelten Volkes gründet und unterbricht zugleich die verfaßte Gesellschaft. Sie verdichtet sich zu einer bestimmten Entität des Politischen und zeichnet damit eine Konstellation vor, in der die Urszene der Gemeinschaft schließlich nach beiden Seiten hin ausschlagen kann: zur Figur einer permanenten Revolution und idealtypischen Form einer direkten Demokratie; und zum Modell einer plebiszitären Ermächtigung, die sich im Begriff der "Bewegung" zusammenzieht, aus dem eigenen Gesetz das Gesetz der Geschichte hervortreibt und noch etwa Carl Schmitts Option für einen autoritären Staat motiviert. Gesetz und Geschichte koinzidieren also im theatralischen Augenblick, der die Bewegungen von Repräsentant und Repräsentiertem, von Zuschauer und Akteur jeweils im anderen verdoppelt. Gerade darum aber wird die Geschichte nie aus ihrem eigenen Beginnen heraustreten oder umgekehrt nie ihren Anfang im Gesetz erfahren. So wenig die Wirklichkeit eines ersten Kontrakts in der Geschichte nachweisbar ist, so wenig allerdings steht seine Inauguration noch bevor: Mit dieser Überlegung jedenfalls hat Kant Zuschauer und Akteur, Gesetz und Geschichte auseinandergezerrt und eine scharfe Umordnung des Theaters der Repräsentation initiiert. Auch hier ist es ein erster Kontrakt, "auf den allein eine bürgerliche, mithin durchgängig rechtliche Verfassung unter Menschen gegründet und ein gemeines Wesen errichtet werden kann", 7 auch hier ist es die Stellvertretung, die jeden einzelnen zum anderen macht und in fortlaufender Spiegelung die Form des Gesetzes garantiert; und schließlich ist es auch hier die Maske und die pure Theatralität, das "als ob", das das Gesetz zur Katharsis für alle und den Handelnden zum Zuschauer seiner selbst steigert. Kants Auflösung der naturrechtlichen Vertragslehre aber ist bekannt. Wie jeder Gesetzgeber gehalten ist, seine Gesetze so zu geben, "als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können", so wird jeder einzelne, "so fern er Bürger sein will", so angesehen, "als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe". 8 Dieser ursprüngliche Vertrag ist demnach kein Faktum, sondern nur eine "bloße Idee der Vernunft" mit rein praktischer Realität. An keiner Stelle und zu keinem Augenblick koinzidieren Gesetz und Geschichte; gerade dieses Gesetz aber ist es, das nun - in kühner Vertauschung von genetischer und paradigmatischer Zeit - als uneinholbare Vorzeitigkeit der empirischen Welt vorausläuft und so die Frage nach dem Rechtsgrund und die Frage nach der
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Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), in: ders., Werke, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 6, Frankfurt/Main 1964, S. 153.
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Ebd.
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Entstehung des Staats auseinanderreißt. Als "Probierstein" der Rechtmäßigkeit vollzieht dieses "als ob" des Gesetzes eine asymmetrische Verschiebung im Innern der Repräsentation. Es löst sich vom Boden seiner historisch-pathologischen Verwicklung, und während in noumenaler Hinsicht jeder einzelne immer schon gehandelt hat, wird er es in phänomenaler Hinsicht niemals wirklich tun. Das "repräsentative System" ist demnach das einzige Mittel zur Herstellung einer idealen Republik, seine Urszene aber eine bloße Fiktion. Der passierte Akt wird um einen passiven ergänzt, und wo Geschichte und Gesetz tatsächlich zusammenzufallen scheinen, wird die Tat nur ein Zeichen, die Beteiligung aber vor allem ein Zuschauen sein. Wie im Gründungsakt der französischen Revolution: ihre Bedeutung liegt - nach Kant - nicht darin, daß, "gleich als durch Zauberei, alte glänzende Staatsgebäude verschwinden, und andere an deren Statt, wie aus den Tiefen der Erde, hervorkommen"; 9 und wahrscheinlich erliegt die revolutionäre Politik insgesamt einer ruinösen Verwechslung und einer transzendentalen Illusion, die den Referenten eines praktisch-spekulativen Satzes - die Idee des republikanischen Vertrags - für einen Gegenstand der Anschauung in der historischen Welt hält. Gesetz und Geschichte treten vielmehr nur in der "Denkungsart der Zuschauer" zusammen, die allein den Optimismus der Gründung dessen zu rechtfertigen vermag, was nicht gegründet werden kann. Während auf der Bühne, bei den Akteuren, das Interesse der reinen moralischen Vernunft und der Appell an die Idee des bürgerlichen Kontrakts unauflösbar mit empirischen Kausalitäten, Leidenschaften und Interessen vermischt sind, wird eben jene Idee zum reinen Beweggrund nur in der Bewegung der Zuschauer, deren "Enthusiasmus" sich als ästhetisches Analogon des wahren republikanischen Eifers und mithin als "Geschichtszeichen", als hindeutendes Indiz für die moralische Durchdringung des historischen Augenblicks darstellt. Die verlangte "Teilnehmung" ist keine tatsächliche, sie geschieht in den "Gemütern der Zuschauer" und "dem Wunsche nach". Dieser Wunsch aber wünscht nur als blockierter rechtmäßig die Realisierung jenes Gesetzes. Nur auf diese Weise wird das historische Faktum zu einem Ereignis des Gesetzes; nur auf diese Weise wird die Gründung und das öffentliche Gesetz als Akt öffentlichen Willens sichtbar; und nur auf diese Weise erhält das bürgerliche Gesetzessubjekt seine empirische Sanktionierung, als Zuschauer eben und nicht als Akteur. Wer also jenes Gesetz im Material der Geschichte realisiert finden möchte, dem potenziert sich ein endloses Trauerspiel schließlich zur Posse, und wenn - so folgert Kant - "die Akteure es gleich nicht müde werden, weil sie Narren sind, so wird es doch der Zuschauer, der an einem oder dem andern Akt genug hat, wenn er daraus mit Grunde annehmen kann, daß das nie zu Ende kommende Stück ein ewiges Einerlei sei". 10 Und während noch der echte Danton, wie Kant moniert, auf der Bühne der Revolution danebengriff und eine existierende bürgerliche Verfassung auf einen wirklich existierenden Zusammenschluß zurückführen wollte, 11 hat später der Bühnen-Danton am Ort des Gesetzes nur endlose Wiederholungen, verfehlte Anfänge und nichts als 9
Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten (1798), in: ders., Werke, Bd. 6, S. 357.
10 Kant, Über den Gemeinspruch, 11 Ebd., S. 159.
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bloße Masken und Marionetten gesehen: denen, die nun gründen und gesetzgeben wollen, ist die Zeit immer schon davongelaufen - "die Zeit verliert uns", sagt Büchners Protagonist.12 Der Verfall des Naturrechts und der Vertragstheorien im 19. Jahrhundert jedenfalls hat nicht nur deren aporetische Struktur auf ruinöse Weise hervorgetrieben infiniter Regreß, Zirkel oder Stillstand im Anthropologischen - , er hat zugleich den Zusammenhang zwischen Recht und Gründung neu kodiert; historische Schule, Organismus des Rechts und Funktionalismus mögen dafür als Beispiele stehen. Das bedeutet zugleich: der theatralische Kern wird aus dem Korpus des Gesetzes herausgelöst, der Ursprungsort der Rede auf eigentümliche Weise vakant, und die Zeit der Gründung und die Zeit der Geschichte treten nun auseinander. Dabei wird die grundlegende Inkonsistenz und ein unlösbarer Widerstreit freigesetzt, der eine Ästhetik des Gesetzes und der Gründung in zwei divergierende Linien auseinandertreibt. Die eine davon kulminiert in Nietzsches genealogischer Frage. Es gibt keinen Anfang und keinen Ursprung des Gesetzes, und was die Gründung als Kardinalpunkt installiert, ist nichts als das endgültige Vergessen einer langen Geschichte, die mit einer Vorgeschichte an Grausamkeit beginnt und endlich bei einem berechenbaren Menschen und einem Tier ankommt, das versprechen und den Vertrag schließen darf. Kein Theater der Identifikation und der Stellvertretung, sondern eines der Grausamkeit, ein Theater, das weder Ausgleich noch Gleichheit bewirkt. Denn so wenig das Gesetz aus dem Gründungsakt aufsteigt und so wenig die Zeit der Geschichte in dessen Ursprung eingewickelt liegt, so wenig ist der Zuschauer seinesgleichen, das heißt: so wenig ist er der andere dessen, der da handelt und leidet. Weder Mimesis noch Stellvertretung, weder Enthusiasmus noch Teilnehmung: eine grenzenlose Apathie, so legt Nietzsches Genealogie der Moral es nahe, trennt vielmehr Geschehen und Zeugenschaft, die zuletzt nur im amüsierten Auge eines amüsierten Gottes vorstellbar wird. 13 - Die andere Linie betrifft nicht die Inkonsistenz des Gründungsakts, sondern den Ort, an dem nun deren Behebung phantasiert und zur Glaubenstatsache gesteigert wird. Wenn nämlich das Problem der Gesetzmäßigkeit immer noch darin besteht, jene beiden Zeiten der Gründung und der Geschichte zu verwalten und ihren Zusammenhang als eine Frage nach der Topographie des Gesetzes zu formulieren, 14 so erklärt sich vielleicht, daß das Theater nun selbst zur Gründungsanstalt wird und mit aller poetologischen Anstrengung - in den Instituten des Nationaltheaters und von Kleist bis Wagner - den mythischen Horizont, die Gründungsakte, das Trauma und die Urszene der Gesetzgebung einholen will. Das einstige, barocke Theater der Souveränität und der Exekution 15 ist zum Gründungstheater geworden: Ursprung der Geschichte, Ursprung des Gesetzes, Ursprung des Sozialen. In gewisser Weise geht es auch hier darum, die "Entstehung
12 Georg Büchner, Dantons Tod (1835), in: ders., Werke und Briefe, hrsg. v. Karl Pörnbacher, München 1980, S. 28. 13 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887), in: ders., Werke, hrsg v. Karl Schlechta, Bd. 2, 6. Aufl., München 1969, S. 810. 14 Pierre Legendre, Le désir politique de Dieu. Étude sur les montages de l'État et du Droit (Leçons 8), Paris 1988, S. 119 ff. 15 Vgl. den Beitrag von Rüdiger Campe in diesem Band.
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eines Staates, de[n] Kampf und de[n] Untergang einzelner Leidenschaft gegen die Ordnung und das Gesetz des Ganzen" 16 einzurichten, wie Clemens Brentano schreibt, mithin den Zufall und die Unstimmigkeit des anderen in die Einheit des Ursprungs zurückzubringen und damit eine Politik des einen Gesetzes zu begründen. Je mehr Gesetz und Geschichte auseinandertreiben und das Recht selbst sich in das Dunkel seiner historischen Spuren verliert, desto eindringlicher wird gerade das Theater des 19. Jahrhunderts heimgesucht von dieser doppelten Frage der Repräsentation: wie die Geschichte zu einem Medium und der einzelne zu einem Subjekt des Gesetzes aufsteigen kann. Und es ist zu erwarten, daß sich mit dieser Verlagerung und aus diesem Blickwinkel die Struktur der Urszene verändert; der Konflikt, den die Gründung des Rechts aufschiebt, verschiebt sich zum Kampf ums Recht selber. Friedrich Hebbels Dramenfragment Moloch mag als Beispiel für den Anspruch und das Konzept dieses Gründungstheaters im 19. Jahrhundert dienen: Hebbel hatte es als sein "Hauptwerk" konzipiert; es ist megalomanisch angelegt und sollte einen Zyklus eröffnen, der die Geschichte der Menschheit mit der Gesamtheit der historischen Zeiten (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) durchläuft; es präsentiert ein Dickicht mythologischer Verweise - Ödipus, Prometheus, Eucharistie in dem sich historische und symbolische Daten ineinanderschieben; und es dramatisiert eine Gründung, die über sich selbst hinauswachsen will und einen Oberpriester aus dem brennenden Karthago zu den "Teutonen" geraten läßt, der dort die monströse Eisenstatue des schon verworfenen Gottes Moloch installiert und schließlich mit zynischer List Religion, Monotheismus, Staat und zuletzt die Feindschaft gegen die Römer einpflanzt. Diese Gründung yollzieht sich in folgenden Koordinaten 17 : 1. Herkunft und Ursprung. Die Herkunft des Moloch, des überflüssigen "Eisenklumpens" aus dem brennenden Karthago, wird vom priesterlichen Mystagogen in Ursprünglichkeit umgemünzt; das Transportschiff zerstört, die Mannschaft ermordet, und im Zwielicht eines nächtlichen Gewitters steht das Monument plötzlich da. Die inszenierte Ewigkeit des Symbols verknüpft sich dabei mit der Erfindung eines ersten Mals: Was von nun an geschieht, geschieht anfänglich und einmalig, um dann immer wiederzukehren, errichtet gerade dadurch seinen Bann und steigert die plumpe Statue zum schrecklichen Erinnerungszeichen, im traumatischen Doppelsinn von Monument und Monstrum. 2. Kraft und Repräsentation. Während sich die Teutonen durch unmittelbare Manifestation der Kraft auszeichnen und die politische Souveränität nur auf Selbstaffirmation, auf die instabile und ephemere Wertsetzung der Stärke und des Siegs gründen, verfolgt der Priester der neuen Religion eine Politik der Substitution, Stellvertretung und Vermittlung, die sich vom Bannkreis des Heiligtums über die priesterliche Instanz zum souveränen Prinzip spannt und damit zweifaches leistet: die Repräsentation eines Schweigenden, eines Ausgeschlossenen und absoluten Anderen, des
16 Clemens Brentano, "Die Entstehung Prags und der Schluß des romantischen Schauspiels Die Gründung Prags" (1813), in: ders., Werke, hrsg. v. Friedhelm Kemp, Bd. 4., München 1966, S. 534. 17 Vgl. zum Folgenden den grundlegenden Artikel von Andrea Stumpf, "Die Priesterherrschaft. Zur Frage ihrer Legitimation in Hebbels Moloch", in: Hebbel-Jahrbuch 1992, S. 53-75.
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Gottes; und die Inszenierung einer leeren Referenz, die die Wahrheitsgarantie der Rede abgibt. Und diese Genese des Symbolischen, des Gesetzes, wird durch eine gleichsam justinianische Verdoppelung von Schwert und Buch vollzogen. Das Schwert als Insignie der Kraft wird dem Arm des Teutonenkönigs entwunden, als Symbol der Macht dem Sohn zurückgegeben und in seinem Effekt nun durch "das Buch" ersetzt, das die Zukunft als Zeit der Exegese einleitet: ein Text ohne Subjekt, der nun zu allen Subjekten spricht, um sie sprechen zu machen. 3. Politik der Namen. Die Teutonen besitzen keine Eigennamen im strengen Sinn; diese sind vielmehr Verdiensttitel, die als gleichsam ergonometrische Marken von Naturkörper zu Naturkörper wandern. Wenn dagegen der Priester behauptet: "Namen will ich Euch verleihn", so meint er damit vor allem die Konstruktion einer Abstammung. Der Eigenname ist nicht erworben, sondern verliehen und garantiert so die Fortpflanzung der Macht in einer dynastischen Bahn. Und dieser verliehene Name bleibt immer geschuldet und verweist damit auf Szenen, in denen aus Vätern und Söhnen wirkliche Väter und Söhne, oder besser: aus allen Vätern die Söhne von Söhnen werden, in unendlich aufsteigender Linie. Bei Hebbel kristallisiert sich dies dort, wo der Selbstaffirmation die Abstammungsreihe gegenübertritt und sich im Numinosen verliert; es kristallisiert sich schließlich in einem Akt, in einer Urszene, in der der Sohn - im Namen des Moloch - dem Vater das Schwert entwindet, ihn dennoch verschont und somit das Verhältnis von Sieg und Niederlage in ein Verhältnis wechselseitiger Schuldigkeit und Verschuldung umwandelt - eine Negation, ein Aufschub und eine Entmächtigung, ein Schmerz ohne Wunde, der aus Körpern Subjekte macht, eine symbolische Wunde, die Ödipalisierung, mit der sich der Kampf ums Recht schließlich entscheidet: "Das ist wie Schmerz ... / Giebt's Schmerzen ohne Wunden? Könnte ich / Doch bitten: macht mir eine mit der Axt, / Ich brauche eine Wunde!" Ich breche die Aufzählung ab. Urszene, Stellvertretung, der absolute Andere, leere Referenz, der Name und die Genealogie, die Verschuldung und die symbolische Wunde: Es ist vorauszusehen, wie sich diese Geschichte fortsetzt, wie sie zur Vorgeschichte gerinnt, mit der ganzen Sperrigkeit, die Vorgeschichten eben an sich haben. Die Urszenen der Gründung, die von der Vertragslehre erfunden, von den Bühnenmonumenten und Nationaltheatern des 19. Jahrhunderts gehegt und vergrößert werden, kehren nun in jener "Art von Gesellschaftsvertrag" wieder, wie Freud dies nannte, in jenem "Vertrag mit dem Vater", jenem Quasi-Vertrag,18 der mit dem toten Vater und im Schuldgefühl geschlossen wird und nun erst die Gemeinschaft der Brüder stiftet - der Gründungsakt und die Urszene aller Urszenen, die Freud mit einigen Umständen in Totem und Tabu beschreibt und schließlich mit dem Kürzel Kastration belegt. In gewisser Weise hat Freud damit die naturrechtliche Vertragslehre vollendet und ihren theatralischen Kern konserviert. Denn der tote, der anwesend-abwesende Dritte erhält nun im (unbewußten) Schuldgefühl seine eigentliche Repräsentanz und seine Stellvertretung. Er führt zur Dissoziation der
18 Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 16, London 1940 ff., S. 188; ders., Totem und Tabu (1912), in: Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 17.
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Instanzen der Persönlichkeit und schließlich zu einer "Neuinszenierung (des ursprünglichen Konflikts) auf neuem Niveau". 19 Dadurch entsteht ein effektives und repräsentatives forum internum, ein innerer Gerichtshof, der nicht mehr bloß - wie von Hobbes bis Kant - Spiegelung und Abbild, d.h. psychologische Metapher gegebener Rechtsverhältnisse ist, sondern in glatter Lösung der Frage nach der Gründung und nach dem Imperativ des Gewissens tatsächlich den moralischen Haushalt der 'Person' organisiert: durch Introjektion des toten Vaters und der ihn ersetzenden Vertragsverhältnisse und durch die Ausbildung der Instanzen des Über-lchs bzw. Ich-Ideals. Jene erste Übertragung begründet also all die Ambivalenzen, aus denen sich die Ökonomie der späteren Übertragungen herleitet, und vielleicht könnte man sagen: Zu einer Zeit, in der die theatralische Souveränität mit der Idiotie eines Ubu Roi zu sprechen anfängt, 20 beginnt das Gesetz selbst leiser, heimlicher und deutlicher zugleich zu reden, und es zieht sich in den Binnenraum jener Miniaturstaaten, der Ich-Psychologie zurück. Eine letzte topographische Verschiebung. Das Lokal der Psychoanalyse bezieht seine Rechtfertigung noch aus den Urszenen des Gesetzes und wird damit zur Institution schlechthin. Dorthin gehen die gekränkten Individuen zurück, wenn sie als Personen fortgehen wollen. Das Licht der Analyse ist damit die Kehrseite eines Dunkels, in dem die Macht nicht theatralisch ist, nicht mehr das Begehren der einzelnen repräsentiert und darum nur begehrt werden kann - eine äußerste, eine fatale List des Gesetzes: Nie kann ich das Gesetz begründen, wenn ich im Recht und das Recht spreche; immer aber erliege ich ihm von Neuem, wenn ich sage: Ich liebe Dich.
19 Sigmund Freud, Massenpsychologie S. 152.
und Ich-Analyse
20 Vgl. den Beitrag von Silvia Henke in diesem Band.
(1921), in: ders., Gesammelte
Werke, Bd. 13,
Silvia Henke
"Merdre": Von großen Dingen klein sprechen
Als am 10. Dezember 1896 in Lugné-Poes Théâtre de l'Œuvre der Vorhang aufgeht und ein mit grotesker, vogelähnlicher Maske ausgestatteter Darsteller als Ubu Roi das erste Wort sagt, ereignet sich zunächst ein Tumult, der das Stück in der Chronik der französischen Theaterskandale gleich auf die legendäre 'Bataille d'Hernani' von 1830 folgen läßt. Warum dieser Skandal zu einer Zeit, deren szenische Konstruktionen sich durch die radikale Vertreibung aller Könige und Prinzen von der Bühne auszeichnet? Die skatologische Ansage aus dem Mund eines Königs kann noch keine Majestätsbeleidigung sein: einmal, weil es 1896 in Frankreich keinen König mehr zu repräsentieren gibt, vor allem aber, weil sich die Souveränität des Königs seit Shakespeare, Lohenstein und Racine in allen Königsdramen immer sowohl durch Haltung wie durch Haltlosigkeit auszeichnet. Wohl gelten für den König immer strengere Tabus als für die übrigen Menschen, doch gehört zum souveränen Prinzip genauso die Überschreitung der Tabus: Verbot und Überschreitung machen als komplementäres Paar die Souveränität aus.1 Und, so Benjamin, bereits im barocken Tyrannendrama wird die Norm des Herrschertums "sogar durch die erschreckendste Entartung der fürstlichen Person nicht eigentlich entstellt". Blutschande, Brudermord, Ehebruch, Gattenmord oder Massenkindsmord gehören zu dieser Darstellung königlicher Vermessenheit auf dem Theater.2 Der Skandal von Ubu Roi liegt demnach anderswo, er ereignet sich eigentlich im kleinen, allerdings mit großer Wirkung. Denn Jarrys gezielter und mit Umsicht vorbereiteter Theatercoup richtet sich nicht gegen das Repräsentierte, sondern gegen die Bühne als Ort der Repräsentation: das ubusche "merdre" verschiebt gewissermaßen das Verhältnis von Repräsentiertem und Repräsentation. Daß das Symbolismus verwöhnte und im eigenen Selbstverständnis durchaus aufgeschlossene Theaterpublikum des Théâtre de l'Œuvre sich dem höheren Blödsinn 1
"Es handelt sich letztlich darum, aus dem Verbot und der Überschreitung, die einander widersprechen, ein komplementäres Paar zu machen. Der Souverän, der das eine wie das andere verkörpert, dessen Souveränität sich jedoch allein mit seiner Macht zur Überschreitung verknüpft, hört nicht auf, in die Gesellschaft integriert zu sein, für die er gleichermaßen tödliche Gefahr und höchstes Gut bedeutet." (Georges Bataille, "Die Souveränität", in: ders., Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, hrsg. und übersetzt von Rita Bischof, Elisabeth Lenk u. Xenia Rajewski, München 1978, S. 53)
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Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1/1, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1991, S. 249 f.
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eines Ubu Roi nicht unterwerfen mochte und die Vorstellung als "excès d'ineptie et de grossièrté" in einem Tumult untergehen ließ,3 ist nur von der Souveränität des Theaters her zu begreifen, die sich, lange über das Verschwinden des souveränen Typus hinaus, in den 'Brettern, die die Welt bedeuten', eingelagert hat. Jarrys 'coup de théâtre' traf die gesamte französische Theatertradition in einem empfindlichen Kern, einem Kern, der durch alle Gattungspoetiken hindurch unter dem Namen mimesis dem Drama den obersten Rang innerhalb der Gattungen gesichert hat. Mimesis, die besagt, daß das Theaterzeichen für ein Abwesendes steht, eine ihm äußere Wirklichkeit besitzt - damit ist das Theater immer vorzüglicher Ort von Repräsentation einer nie ganz gegenwärtigen Wirklichkeit geblieben. Nicht zuletzt durch das Moment des abwesenden Schöpfers, ist ihm eine verborgene Präsenz eingelagert, die es in den Bund mit dem Geheimen bringt - ein Bund, der gerade auch durch das Theater der Symbolisten erneut bestärkt wurde. Mit der Inszenierung der Stücke Maeterlincks und Ibsens, die das Profil des Theaters Lugné-Poes geprägt haben, hat das Theater der 'Belle Epoque' den metaphysischen Untergrund, die leise Tragik des täglichen Schreckens in wundervoll-poetischer Gestalt zurückerhalten. Wenn nun Ubu Roi diesem Publikum, das eben die Sakralität des Theaters über den Naturalismus hinaus gerettet glaubt, sein "merdre" entgegenschreit, zertrümmert er gewissermaßen den geheimen Kern der Repräsentation. Repräsentation, die sich auf dem Theater primär darüber herstellt, daß ein anwesender menschlicher Schauspielerkörper einen abwesenden sozialen Körper darstellt. Denn seit der Erfindung der Guckkastenbühne als beherrschbarem Mikrokosmos - ein übrigens unglaublich resistenter Typus der Theaterarchitektur - ist der Theaterraum ein geschlossener Raum, der für eine abwesende Welt steht, und in seinem Zentrum steht wie in der Welt der Mensch. Der Mensch, nicht halb Tier, halb Mensch. Wie der König hat der Schauspieler als persona zwei Körper, von welchen der eine sichtbar ist, um den abwesenden zu repräsentieren und personifizieren, immer ist er hypocrit, ein Heuchler, der nur spielt, jemand zu sein. Und dabei weder mit seinem Körper noch mit der kreierten imaginären Person übereinkommt. Um diesen Modus der schauspielerischen Repräsentation zu erfüllen, ist er - wie der Souverän - zuerst darauf angewiesen, Zuschauer zu haben. Darüber hinaus aber und entscheidender braucht er Zuschauer, die in ihm etwas anderes erkennen als er zu sehen gibt. Und zwar nicht irgendetwas anderes: ein König ist kein König, wenn er als Typus nicht in allen Köpfen der Untertanen ungefähr gleich vorgestellt wird. Wenn Repräsentation in allgemeinem Sinn ein Mechanismus ist, der kollektive Substanz akkumulieren kann, dann muß das Theater in der aufgespaltenen Funktion des Schauspielers eine soziale Komponente inkarnieren, in der alle dasselbe wiedererkennen. Mit dieser Verdoppelung ist das Theater zur Institution geworden, in der über das Spiel des 'als ob' - des hypocrit - im Inneren der Gesetze menschlicher Angelegenheiten ein mythischer Grund installiert wurde. 4 Dieser Mechanismus wird durch die Vogelmaske Ubus und sein erstes Wort beschädigt: in einem Verschnitt von
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Zur Aufführungsgeschichte von Ubu Roi vgl. Henri Behar, Jarry Dramaturge,
4
Zum Funktionieren des Theaters als Gründungsanstalt und zur Theatralität jedes Gesetzes, wenn es installiert werden soll - etwa in der Vertragslehre von Hobbes - vgl. den Beitrag von Joseph Vogl zum Gründungstheater in diesem Band.
Paris 1980, S. 67-77.
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Mensch und Tier erkennt man etwas und nichts, in einem Verschnitt von Mutter und Scheiße versteht man etwas und nichts. Das ist Jarrys Attacke auf die Repräsentation der Macht wie auf die Macht der Repräsentation. Im ersten Wort des Ubu Roi entzieht Jarry das, wovon der Bühnenmensch des klassischen, des naturalistischen oder symbolistischen Theaters lebt: eine Haltung im existentiellen Sinn, eine Psychologie im bürgerlichen Sinn, eine Sprache im poetischen Sinn.
'Déchirer', dit-il: Wider die Macht der Repräsentation Ubu Roi ist zu Beginn des Stücks nur Père Ubu, ein abgesetzter König, der Thron ist besetzt durch König Vencelas. Um "le plus noble des souverains" (o.e. 368) zu werden,5 beansprucht er weder mythische noch symbolische oder politische Begründungen. Sein Herrschaftsanspruch legitimiert sich einzig durch seinen unbefriedeten Freßtrieb, und es ist schließlich die Aussicht auf einen neuen Regenmantel, der über die Schuhe fallt, mit der Mère Ubu ihn zur Thronusurpation anstacheln kann (o.e. 354). Ubu erliegt der Versuchung und setzt sein Amt zuerst über einen Königsmord, dann über ein Massaker an der königlichen Garde, der Hochfinanz und sämtlichen Magistraten des Landes durch. Daß es ihm dabei nie um die symbolische Funktion des Amtes geht, verdeutlicht Mère Ubu: Königsein allein nützt nichts, diktiert sie ihm, "il faut être économes" (o.e. 368). Mit jedem Akt Ubus wird konsequent negiert, daß Königsein ein Zweck in sich sein könnte: es ist nur Mittel zur Anhäufung von Besitztum, das ausschließlich in Geld besteht, und dieses wiederum wird direkt in Nahrung umgesetzt. Ubu kann, im Unterschied zur Mère Ubu - die übrigens nie Königin genannt wird - mit der repräsentativen Funktion seines Amtes nichts anfangen. Seine Herrschaft versteht sich als unmittelbare Bedürfnisbefriedigung, Blutwürste sind ihm das höchste, er mordet ohne Gewissen, er amtet ohne symbolische Ausstattung, ohne Intelligenz, ohne Idee von Gesellschaft, das heißt ohne Politik. Er ist im Gegensatz zu jeder traditionellen Souveränität, in der sich Würde nicht an die Welt der Dinge bindet, genau der Typus des kapitalistisch-bürgerlichen Souveräns, der nicht einfach nur Besitzer königlicher Güter sein will, sondern unmittelbarer Eintreiber und Verzehrer seines Besitzes6: dieser direkte Bezug äußert sich auch darin, daß er die Steuern, die er maß- und grundlos erhebt, selbst eintreiben geht. Ubu verkörpert mithin das Prinzip der ungerechtfertigten Kapitalvermehrung selbst, es gibt kein symbolisches System, das seine Herrschaft sichert, es gibt nur seine direkte Gewalt. Außerdem, was ihn auch gegen die klassisch traditionelle Form der Souveränität auszeichnet: er genießt seinen Besitz in keinem Moment, es geht ihm nur um die Blutwurst, nie um den Genuß oder das Zeremoniell, das sich mit Besitz verbindet. Darin
5
o.e. = Alfred Jarry, Œuvres complètes,
6
"In der Ordnung der traditionellen Souveränität, deren Prinzip es ist, nicht zu der Welt der Dinge (der Arbeit) zu gehören, entspringt die Würde nicht unmittelbar aus den Dingen, sondern aus dem Subjekt. " (Bataille, "Die Souveränität", S. 56)
T. I, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1972.
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ist er zwar animalisch, aber auch bürgerlich, denn in der bürgerlichen Souveränität zählt nur der Eigentum der Dinge, weder ihr sakraler noch ihr souveräner Wert. 7 Zwar kennt Ubu die magischen und militärischen Rituale, auf welchen traditionelle Souveränität sich gründet, nur - und darin ist er nicht bürgerlich - er kann sie sich nicht zu eigen machen. Das beginnt damit, daß er seine Gefolgsleute den Treueeid - "une cérémonie indispensable" - erbringen läßt, doch verzichtet er dazu auf die Geistlichkeit und läßt Mère Ubu den Eid abnehmen (o.e. 361). Wenn er dann seine Armee gegen die Russen anführt und seine militärische Souveränität demonstrieren müßte, fällt zuerst das "sabre de merdre" (das Scheißschwert) zu Boden und der "croc à finances" (der Finanzhaken) hält nicht; dann verliert er seine sogenannten Waffen, "les ciseau à oneilles" (die Ohrenschere) und schließlich bricht sein Pferd unter ihm zusammen (o.e. 377 f.). Und wenn er endlich im Kampf mit dem Bären in Todesangst beschließt, doch den Himmel um Gnade anzuflehen und dazu auf einen Felsen klettert, um näher beim Ohr des Allermächtigen zu sein (o.e. 387), so sind dies Überbleibsel und Travestien souveräner Formen und: Ubus höchste Lächerlichkeit. Sämtliche Begründungszusammenhänge von Ubus Herrschaft sind idiotisch oder vulgär, nie aber geheimnisvoll. Dazu gehört auch das Lieblingsverb seines Sadismus: 'déchirer'. Eine Zerreißwut, die darin gipfelt, daß er seine Nächststehenden, den ersten Hauptmann Bordüre und Mère Ubu zerreißt: "Bordure" ist wie der Name aller Gefolgsleute Ubus, der sogenannten "Palotins", der Heraldik entnommen und bezeichnet die Umrahmung des Wappens. So zerreißt Ubu mit Bordüre gleichermaßen die symbolische Funktion des Zweitkörpers, der Stellvertretung. 8 Und mit Mère Ubu zerreißt er diejenige, die ihn auf die Idee des Königsmordes gebracht hat und die gewissermaßen die Intelligenz und das Bewußtsein von Ubus bewußtloser Herrschaft darstellt. Als solche wird sie das ganze Stück hindurch von ihm gebissen, getreten, gewürgt, sie bekommt am Schluß die Ohren gestopft, die Augen herausgerissen, die Wirbelsäule zerbrochen, das Gehirn herausgepreßt und dann: "il la déchire." Und auch hierzu bedient er sich nochmals einer letzten Karikatur von ritueller Souveränität, indem er seinen blutig-infantilen Zerstörungsakt theologisch fundiert: alles sei der 'sehr Heiligen Schrift' des Alten wie des Neuen Testamentes entnommen, geordnet, korrigiert und vervollkommnet durch die hier anwesenden Finanzmeister (o.e. 394 f.). Mit dem Mord an Mère Ubu ist hier auch nicht die Urszene aufgefunden, die Freud zur selben Zeit brauchte, um das ödipale Gesetz für den Mikrostaat Familie zu begründen. 9 Nicht nur weil Mère Ubu eben kein Vater ist, sondern vor allem deshalb, weil sie in der nächstfolgenden Szene weiterlebt, als sei nichts gewesen: reines Theaterwesen, Kasperlefigur, aber nicht Mensch: damit läßt sich weder ein kleiner noch ein großer Staat machen.
7
Bataille, "Die Souveränität", S. 60.
8
Zur Funktion des Wappens als Zweitkörper vgl. Walter Seitter im Kapitel zur "Heraldik als Erkenntnissystem" in: ders., Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft, München 1985, S. 15 f.
9
Vgl. Joseph Vogls Darstellung zum Theater des 19. Jahrhunderts als Gründungsanstalt, in der durch den Rückzug des Dramas aus der öffentlichen Sphäre das Gesetz in der familialen Urszene gegründet wird. Vogl, "Gründungstheater", S. 38 f. in diesem Band.
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Jarry vernichtet mit seinem Ubu Roi gleichermaßen jeden Ursprungsgedanken - und zwar bis in die Textkonstitution des Dramas hinein. Denn bereits für den Ursprung oder die Autorschaft von Ubu Roi sind zwei Komplikationen signifikant. Erstens: Ubu gab es schon, bevor Jarry ihn für die Bühne schuf, er ist Teil eines Schülerscherzes, eines Schwanks auf einen Physiklehrer namens Hébert am Gymnasium, in dem Jarry unterrichtet wurde. So originell er daherkommt, ist er doch Produkt einer kollektiven Autorschaft, die ihn allerdings gerne zur Adoption freigegeben hat. 10 Auch das unvergleichliche Wort "merdre" kursierte bereits vor Jarry. Zweitens, und das gehört zur textuellen Anordnung, wird im ersten Drama von Jarry, in César-Antéchrist, Ubu als Autor von César-Antéchrist ausgegeben - also von dem Drama, das ihn eigentlich erst generiert - ; ein Akt dort heißt bereits Ubu Roi und führt die Figur ein. Die Komplikation, die daraus entsteht, ist die, daß Ubu der Autor von Ubu ist und beide Entstehungsanordnungen besagen: Ubu hat keine Ursache, er ist ein durch und durch heterogenes Gebilde, das analog zu seiner Ursprungslosigkeit auch zu keinem schlichten Ende kommt. Zu unrecht wird das Stück Ubu Roi immer isoliert genannt, denn Jarry hat diesem ersten Ubu-Drama noch vier weitere folgen lassen und diese konstante Variation derselben Figur muß auch als Konsequenz ihres heterogenen Anfangs gesehen werden. Ubu ist keine persona, er ist ein Prinzip, das in den Folgedramen auch konstant variiert wird. In Ubu enchaîné, dem Gegenstück zu Ubu Roi, beschließt er, seinen Königstitel abzugeben und Sklave zu werden - und zwar am Hof der Freiheit. Er tut dies, indem er sich auf das souveräne Prinzip der Differenz bezieht: weil Freiheit das Prinzip der Legalität von Egalität bedeute, und ihm die Egalität egal sei, wolle er nun Sklave werden mit derselben Unerbittlichkeit, mit der er König wurde (o.e. 430). Seine Theorie zur Inversion der Herrschaftsverhältnisse steckt nach und nach die "hommes libres" an: "nous sommes libres de faire ce que nous voulons, même d'obéir, d'aller partout où il nous plaît, même en prison! La liberté, c'est l'esclavage!" (o.e. 457) Doch in allen Versuchen Ubus, die symbolische Funktion König zum Zerreißen zu bringen, bleibt er, einmal etabliert als König, bis zum Schluß der gestaffelten Textur der Ubudramen König: in Ubu enchaîné errichtet er sich im Gefängnis, in das er sich von Gerichts wegen einschließen läßt, ein tyrannisches Reich und setzt damit sein oberstes Ziel, Fressen und Massakrieren, durch - als radikale Einstampfung jeder Opposition von Sklave-Herr-Tyrann. Wenn Ubu am Schluß des Ubu-Zyklus im Gefängnis von der Polizei mit der Enthirnungsmaschine, die er selbst erfunden hat, enthirnt wird (o.e. 652), ist das die letzte Perversion der Funktion König, die möglich ist, nachdem alle äußerlichen Register repräsentativer und symbolischer Souveränität mit Ubu konsequent vernichtet sind: die Entleerung der königlichen Hirnsubstanz in die Arme und Waffen der Polizei - "la seule chose que tu n'as pas tuée, car elle est impérissable: la gendarmerie nationale!" (o.e. 652) In der textuellen Konstruktion heißt das, daß der Typus oder das zerreißende Prinzip Ubu die Dramen, die es hervorgebracht hat, und sich selbst vernichtet. Denn Père und Mère Ubu treten immer wieder als Autoren oder gute Kenner aller ihrer Dramen auf, indem sie auf den Inhalt früherer Stücke Bezug nehmen - etwa zu Beginn von Ubu enchaîné, zu dem Ubu das Wort nicht sagt und Mère
10 "A proprement parler, Ubu Roi n'a pas d'auteur ..." ("Notice" zu Ubu Roi, o.c. 1141).
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Ubu ihn an seine ersten Rollentext erinnert: "As-tu donc oublié le mot?" (o.e. 429) An diesem Punkt sind sie auf ihrem Terrain, wenn sie auftreten, repräsentieren nichts mehr als ihre eigenen Rollen unter Abkoppelung jeder äußeren (abwesenden) Wirklichkeit. Umgekehrt identifiziert sich Jarry als Reaktion auf die öffentliche Vernichtung seines Ubu durch die Kritik mit der von ihm geschaffenen Figur, spricht und gebärdet sich nach 1896 nur noch wie er, nur daß er sich nicht zu Tode frißt, sondern säuft. Auch diese Vertauschung von Autor und Figur zeigt einen Prozeß auf, der den Mythos des abwesenden Schöpfers als konstitutives Moment von Repräsentation außer Kraft setzt und dafür ein Moment von Selbstrepräsentation entfaltet. Selbstrepräsentation allerdings, die keinesfalls in Richtung einer Ich-Psychologie oder einer Selbstidentität weist. "Nous n'aurons point tout démoli si nous ne démolissons même les ruines!" läßt Jarry seinen Père Ubu sagen (o.e. 296) und macht damit ahnen, daß der destruktive Umgang mit Stoff und Tradition eine Krise des Subjekts darstellt, die nicht als harmloses Ich-Theater aufgefaßt werden kann.
Ein König weniger In seiner Schrift "De l'inutilité du théâtre au théâtre" stellt Jarry eingangs fest, daß die zentrale Frage jene sei, ob sich das Theater dem Publikum oder das Publikum dem Theater anzupassen habe. Und beantwortet sie gleich, indem er darüber klagt, auf dem Theater nicht die Freiheit zu haben, jene hinauszuwerfen, die nichts davon verstehen. Später präzisiert er: jene, die nicht von sich aus etwas verstehen, sondern von Autorität wegen. Und Autorität meint hier die Macht der Konvention und Kontinuität: Das Publikum mag Molière, weil er in kontinuierlicher Weise gespielt werde (o.e. 405). In der Abwendung von jeder gesellschaftsbildenden Konvention bezeichnet Jarry wieder einen zentralen Mechanismus für das Funktionieren von Repräsentation: das Moment kollektiver Aufmerksamkeit und Verständigung. Wenn im Theater, das sich vor großer Zahl abspielt, nicht sofort und bis in die hinteren Reihen von allen etwas Genaues gesehen und verstanden wird, verkleinert sich der Raum der Repräsentation zugunsten eines subjektiven Raums. Im subjektiven Raum geht es aber nicht zuerst um ein singuläres Imaginäres. 11 Denn wo Jarry in seinem dramatischen Werk die Krise der Darstellbarkeit auf dem Theater selbst theatralisiert und dabei die Metapher der Welt als Bühne zerbricht, gilt es auch zu sehen, was sich in den drei Jahrzehnten von Jarrys Lebzeit in der 'Welt' ereignet. Zunächst: Jarry ist kein Autodidakt, sondern das Produkt eines französischen Bildungssystems, in dem er sechzehn Jahre lang mit klassischem Gymnasialwissen ausgestattet wird. Ein enzyklopädisches Wissen, das sich in
11 Vgl. Helga Finters Untersuchung Der subjektive Raum. Die Theaterutopien Stéphane MaUarmés, Alfred Jarrys und Raymond Roussels; Sprachräume des Imaginären, Tübingen 1990; eine ausgezeichnete Arbeit zum modernen Dramentext als polylogem Raum, in dem die Dekonstruktion der Repräsentation als Vor- und Darstellung möglich wird. Was den methodischen Einsatz des Imaginären angeht, das von Finter als subjektives und singuläres gegen das Symbolische starkgemacht wird, ließe sich einwenden, daß die Autorin den Einsatz des Realen als dem Nicht-Repräsentierbaren gerade bei Jarry vernachläßigt.
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Rudimenten überall in seinem Werk abgelagert hat; Enzyklopädien, Nachschlagewerke und Wörterbücher gehören zum Hauptbestand seiner aus dreißig Büchern bestehenden Privatbibliothek - sein ganzes heraldisches Vokabular etwa stammt aus Le Littré, einem gängigen Nachschlagewerk des französischen Bildungsbürgertums. 1 2 Zu seiner klassisch-humanistischen Bildung kommt ein ausgeprägtes Interesse für Physik und Mathematik hinzu, das sich an der Explosion technologischer Entwicklungen, die seine Biographie begleiten, zu entzünden scheint: die Quantentheorie Max Plancks, Einsteins Relativitätstheorie, die Erfindung der Radioaktivität, des Benzinmotors, des Flugzeugs, des elektrischen Lichts, des Kinos und des Telephons - alle diese technischen Innovationen sind in bestimmter Form in Jarrys Werk versammelt, wo sich die Bestandteile der einzelnen Wissenschaften zu einer neuen imaginären Wissenschaftsfiktion, der "Pataphysik" amalgamieren. Der 'neo-wissenschaftliche Roman' des Pataphysikers Docteur Faustroll ist gewissermaßen das Emblem für eine Entwicklung, in der sich die Wissenschaft vom klassischen Wissen gelöst hat und das Wissen selbst heterogen wird bis in seine Darstellbarkeit hinein. Nicht zufällig heißt eine der ersten Publikationen von Jarry überhaupt L'Art et la science, in der Jarry durch die Konfrontation der 'wissenschaftlichen Methode' eines Ubu Roi mit dem Artisanat eines Jauchegrubenleerers dieses Verhältnis bereits theatralisiert. Die Beschädigungen an der symbolischen Ordnung des Wissens, die er mit seinem ganzen Œuvre betreibt, lassen also nicht nur Raum für ein singuläres Imaginäres entstehen: Jarrys Interesse für die Physik, die Mikrobiologie, die Maschine, das Innere des Skelettes, die Hirnsubstanz, das Fäkalische - seine ganze "Pataphysik" legt materielle Substrate des Realen bloß, eine Materialität, die nichts repräsentiert, sondern das ganze technische Repertoire der Moderne aufnimmt, um es zu theatralisieren. Auf dem Theater jedoch ist das vorrangige Machtwissen, das vermindert werden muß, um den Modus der Repräsentation auszuhöhlen, nicht das naturwissenschaftliche, sondern das historische Wissen, die Geschichte. Geschichte, so Deleuze, ist der Zeitindex von Macht, gerade dort, wo sie repräsentiert werden kann. 13 Jarrys Zeit ist politisch bewegt, in Frankreich wird Geschichte 'gemacht': das Bürgertum hat sich durch das häßliche Niederkämpfen der proletarischen Aufstände von Fourmis 1891 installiert und in den schönen Namen 'Belle Epoque' gehüllt, um mit Gelassenheit die Finanzskandale und die anarchistischen Anschläge des Fin de siècle zu überstehen, während sich die Streitkräfte der Republik in Afrika und Asien ihre Kolonialreiche sichern: nichts davon ist Jarry entgangen - Anarchismus, Kolonialismus, Finanzskandale und Ausbeutung sind ja gewissermaßen die Themen seiner Ubu-Dramen. Jedoch repräsentieren sie die Geschichte nicht, sie entziehen oder in den Worten von Deleuze: sie amputieren Geschichte. 14 Ubu ist nicht einfach eine Farce und zwar gerade insofern nicht, als die Farce seit Marxens lakonischer Zitierung von Hegel zum geläufigen
12 Eine detaillierte Rekonstruktion der von Jarry zitierten und inszenierten Kulturen liefert Henri Behar, Les cultures de Jarry, Paris 1988. 13 Gilles Deleuze, "Ein Manifest weniger" in: Aisthesis. anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 389. 14 Deleuze, "Ein Manifest weniger", S. 389.
Wahrnehmung heute oder Perspektiven
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Modus der Repräsentation von Geschichte erklärt worden ist. Demnach wird Geschichte nicht einfach dadurch wirklich, daß sie sich wiederholt, sondern dadurch, daß sie sich einmal tragisch, dann grotesk gestaltet. 15 Subtraktion also statt Parodie der Geschichte über die Destruktion von Repräsentation: in sechs Merkmalen soll dies für Ubu Roi nachvollzogen werden.
1. Die Geschichte Jarry verwahrt sich nicht nur ausdrücklich dagegen, daß sein Stück ein historisches sei: "Toute 'histoire' est si ennuyeuse, c'est-à-dire inutile" (o.e. 414) - er führt das auch vor, indem er das Drama in einem Bereich zwischen Historizität und Ahistorizität spielen läßt. So heißt das Land Ubus zwar Polen, doch wird von Jarry vor der Premiere gesagt: "Quant à l'action qui va commencer, elle se passe en Pologne c'est-à-dire, Nulle part." (o.e. 401) Polen ist Nirgendwo. Und ebenso sind die anderen genannten Orte zwar fast alle geographisch verbürgt, doch ist es unmöglich, die Handlung auf der Karte über diese Topographie zu rekonstruieren: die Orte liegen immer so weit auseinander, daß jede reale Raum-Zeit-Relation, die das Stück suggeriert, widersinnig wird. Ebensowenig lassen sich die Figurennamen zusammenreimen: ein Teil deckt sich mit historischen polnischen Persönlichkeiten, ein Teil entstammt der Heraldik, Bougre ist ein Typus, Ubu schließlich ein Vogel, ein Spitzname, ein Klanglaut oder Palindrom: reine Polysemie, allerdings mit historisch verbürgtem Ursprung. Alle Figuren haben Geschichte und sind abgeschnitten davon, sind historisch und ahistorisch zugleich. Ubu Roi heißt mit vollständigem Titel: Ubu roi ou les Polonais. Der letzte Satz darin lautet: "S'il n'y avait pas de Pologne, il n'y aurait pas de Polonais" (398) - aber Polen ist Nirgendwo, damit gibt es die Polen nur in äußerst prekärem Ausmaß, nämlich im Nirgendwo, das heißt nur im Stück selbst, wenn nur von diesem gewiß ist, daß seine Figuren "les polonais" sind.
2. Die Verminderung von Literatur Im selben Maß, in dem das Stück dem Theater Geschichte subtrahiert, vermindert es die Literatur, die in ihm anklingt, die große Literatur, die Weltliteratur, vorab präsent durch Racine und Shakespeare. Besonders auf der Handlungsebene von Ubu Roi sind Parallelen zu den Shakespearedramen King Lear und Macbeth eingearbeitet. Das wesentliche Moment an dieser Einarbeitung ist aber, daß er damit nicht der Literatur ein neues Stück Literatur hinzufügt, sondern Literatur wegnimmt: Wenn King Lear mit Caliban und einem dickwanstigen Hanswurst amalgamiert wird, entsteht kein neuer König, sondern zunächst: ein König weniger. Daß die Ubu-Dramen auch die literarischen Situationen und Personen, mit welchen sie spielen, nicht repräsentieren, sondern subtrahieren, hat mit einem semiotischen Prozeß zu tun, den man als Verkleinerung beschreiben könnte. Wenn etwa Mère Ubu dem künftigen "Roi" zur
15 "Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce." (Karl Marx, "Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte", Teilabdruck aus Iring Fetscher [Hrsg.], Marx-Engels IV, Studienausgabe Bd. II, Frankfurt/Main 1966).
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Ausführung des Königsmordes ein Holzflötchen zusteckt, "un mirliton", ist das keine Parallele zum Dolch, den Macbeth von Lady Macbeth zur selben Tat zusteckt bekommt, sondern zuallererst eine Verkleinerung Shakespeares, zu der die Formel nicht lautet: Jarry plus Shakespeare, sondern Jarry weniger Shakespeare. 3. Die Verkleinerung des Menschen Die Figur der Verkleinerung, die sich im Holzflötchen konkretisiert, gibt Jarrys Theater auch den Namen 'théâtre mirlitonesque'. Wie der polichinnelle - Hampelmann - , der pantin und guignol - Holzpuppe und Kasperl - , wie die Marionette gehört es zu den Formen eines kleinen Theaters, die Jarrys Gebrauch der theatralischen Zeichen in eine bestimmte Tradition stellen. Es sind einerseits Formen eines alten Theaters, eines Theaters, das nicht mit dem Menschen beginnt.16 Handlungsträger sind bei Jarry auch Zeichen, Engel, Tote, Tiere und Gegenstände wie der "bâton-à-physique", "le balai inommable" oder die "machine à décerveler" - Gegenstände, die im Personenverzeichnis zum Stück notiert sind. Es sind dies aber auch Formen eines neuen Theaters, entstanden am Rand des Kinos am Anfang des Jahrhunderts, Formen eines neuen, mechanischen Theaters. Beide Formen, die alte wie die neue, verfolgen die Strategie der Entpersönlichung, wie sie etwa Gordon Craig in seinem Programm für Schauspieler und Übermarionnette 1908 entwirft, oder wie Meyerholds Biomechanik sie formuliert, als Programm, in dem der Körper des Schauspielers zur Arbeitsmaschine umgewandelt wird. Wichtig ist, daß es bei allen, gerade auch bei Jarry, ausdrücklich nicht darum geht, den Menschen, den Körper des Schauspielers durch Puppen zu ersetzen, sondern: Menschen wie Marionnetten spielen zu lassen, wie er in seiner Ansage bei der Premiere von Ubu Roi erklärt (o.e. 400).17 Dem Theater den Menschen austreiben, kann demnach nicht heißen, ihn zu ersetzen, sondern nur: ihn zwischen Mensch und Puppe anzusiedeln, Figuren zu entwerfen, die weder ganz ohne Bewußtsein noch aber mit Selbstbewußtsein agieren, so daß sich das Mechanische als verdrängter Teil des Subjekts zeigt, ohne sich ganz zu materialisieren. In diesem Zwischenbereich des Bewußtseins nistet sich ein Imaginäres, Unsichtbares im Symbolischen ein und läßt dieses kleinwerden. Gleichzeitig findet statt, was Walter Benjamin zur Micky Mouse, einer zumindest zeitlich verwandten Figur zu Ubu Roi, bemerkt: die Erschütterung beim Anblick der Micky Mouse, die aus der Erfahrung kommt, daß einem der eigene Körper gestohlen und ohne Menschenähnlichkeit weitergelebt werden kann, korrespondiert mit der Erschütterung des Publikums von Ubu Roi, das mitanhört, wie eine Figur zerstückelt und zerrissen wird, um in der nächsten Szene wieder munter weiterzuspielen. Ubu, und darin ist er neu, desavouiert wie Micky Mouse alle Erfahrung von der "auf den
16 "Nous n'aimons guère le constater, mais il existe des sociétés qui n'ont jamais choisi l'homme comme matière première de leurs rêves ou de leur expression en général." (Jean Duvignaud, Spectacle et société, Paris 1970, S. 83) 17 Für den Mercure de France präzisiert Jarry diese Ansage am Tag nach der Aufführung: "Ubu Roi est une pièce qui n'a jamais été écrite pour marionnettes, mais pour des acteurs jouant en marionnettes, ce qui n'est pas la même chose." (Mercure de France, Januar 1897, S. 218, zit. nach Béhar, Jarry Dramaturge, S. 138)
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Menschen hin konzipierten Hierarchie der Kreaturen".18 Das ist sein eigentliches Skandalon: daß er keine Identität vorführt, sondern eine unentschiedene Identität, die in viele Richtungen weist: in Richtung Tier, in Richtung König, in Richtung Mensch, in Richtung Maschine, in Richtung Puppe, in Richtung Ding. In aller Deutlichkeit hat sich dieses Skandalon nicht in der Aufführung, sondern in der Generalprobe von Ubu Roi entfaltet, als einer der Schauspieler einem andern, der die Zellentür im 3. Akt darstellte, den Arm umdrehte, als sei er ein Türschloß und dazu die entsprechenden Laute von sich gab. Diese Überschreitung der Grenze zwischen menschlichem Körper und Ding war sogar dem experimentierfreudigen theaterinternen Publikum zuviel: tobend unterbrach es die Probe.19 4. Die universelle Geste Jarry hat wie Brecht erkannt, daß im Theater alles an einer Geste hängen kann. Jede noch so spontane Geste wird soziokulturell, indem sie sich theatralisiert, das heißt sie wird groß, sie wird kodifiziert, sie wird repräsentativ: das ist ein Theatermechanismus, den Brecht mit seiner Idee der "sozialen Geste" auf seine Weise definiert hat als Geste, aus der sich eine soziale Situation herauslesen lassen soll.20 Die einzige Möglichkeit, diese Kodifizierbarkeit zu unterlaufen, ist die Verzerrung einer Geste ins Unmögliche. Mit einem Beispiel aus Ubu Roi spricht Jarry von der "geste universel": Um Erstaunen zu markieren, hebt der Schauspieler nicht die Schultern - er torkelt gegen die Bühnenwand und schlägt mit voller Wucht den Schädel gegen die Kulisse (o.e. 409). Man könnte dieses Verfahren auch als Zerstörung einer Zeichenpraxis bezeichnen, die sich gegen das wendet, was sie selbst vorführt. Ein Zeichen, das sich gewissermaßen durch Subtraktion generiert. Die Formel dafür hat Jarry im 'bâton-à-physique' gefunden, der zugleich Plus- und Minuszeichen ist: signe 'plus-en-moins' und 'moins-en-plus', Phallus und Nicht-Phallus, "phallus déraciné" (o.e. 289): entwurzelter Signifikant. 5. Das Zeichen 'mehr oder weniger' Das 'signe moins-en-plus' macht endlich deutlich, daß die Aushöhlung der Repräsentation, die Jarry in seinem Theater verfolgt, dort ansetzt, wo Repräsentation beginnt: auf der Ebene des Zeichens, das als representamen immer auf einer Außen-Innen-Relation beruht. Versehrt wird diese Relation einerseits durch die Reversibilität im gestischen Zeichen - zwischen dem inneren Erstaunen und dem Krachen des Schädels herrscht keinerlei Kausalnexus; es ist unmöglich zu bestimmen, ob das Gefühl die Geste repräsentiert oder umgekehrt die Geste das Gefühl. Andrerseits erfolgt die Versehrung in Ubu Roi über die semiotische Subtraktion. Wo alle symbolischen Werte erschlagen, verloren oder ignoriert werden, passiert hierzu etwas Auffälliges: als das Holzpfeifchen als Waffe überreicht wird, weiß der König damit nichts mehr anzufangen (o.e. 359) - er leistet also gewissermaßen Entzifferungsarbeit 18 Benjamin, Gesammelte
Schriften, Bd. VI, S. 144.
19 Behar, Jarry Dramaturge,
S. 70.
20 Bertolt Brecht, "Neue Technik der Schauspielkunst" (1940), in: ders., Schriften zum Theater. eine nicht-aristotelische Dramatik, Frankfurt/Main 1987, S. 113.
Über
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am Zeichen, das seine symbolische Bedeutung verloren hat, nur noch verlorener Signifikant ist. Dieselbe Aushöhlung erfolgt bereits in Jarrys erstem Drama César-Antéchrist, allerdings nicht durch Subtraktion sondern durch Überdeterminierung des Zeichens. Programmatisch verkündet der Tempeldiener dort die Alleinherrschaft des Zeichens - "car le signe seul existe provisoire" (o.e. 292), und vorgeführt wird dies durch einen völlig heterogenen Zeichengebrauch: Bilder, mathematische Formeln, heraldische Zeichen, Holzschnitte, ein Gewimmel von Signifikanten, die kein Signifikat nach sich ziehen und die Frage nach dem Nicht-Repräsentierbaren als Grenze von Theater überhaupt aufwerfen. Sie tun dies sozusagen unermüdlich, indem nämlich alle im Ubu-Zyklus auftauchenden Zeichen unendlich strukturiert und variiert werden: Textfragmente, Nachschriften, Widmungen, Almanache mit Illustrationen, Embleme, Buchstabenanordnungen, heraldische, mathematische und phyiskalische Formeln veranstalten in einer ständigen Textwanderung entlang der 'eigentlichen' Texte einen Zeichenkarneval, der nur noch zu totalen Entgleisungen auf der Ebene einer Semantik führt. Entziffern lassen sich nurmehr Redundanzen, Isotopien, Ähnlichkeiten. Gerade Ubu taucht in den Zeichnungen Jarrys in einer wie es scheint unbegrenzten Vielgestaltigkeit auf, die sich in keine Rollenbiographie übersetzen läßt. Die Anhäufung der Zeichen tendiert dazu, die Grenze der repräsentativen Sprache, nämlich ihre Leserlichkeit, anzustreben oder auch zu überschreiten. Der besondere Effort einer antirepräsentativen Sprache liegt vielleicht darin, die Unleserlichkeit, die in jedem leserlichen Text liegt, hervorzuzerren: die "Nicht-Mitteilbarkeit", die jedes sprachlichen Gebilde symbolisiert - wie Benjamin dies als 'seltsamen' Charakter der Sprache herausstellt.21 6. Klein Sprechen Wenn in Ubu Roi der hypercodierte Zeichenraum - die provisorische Zeichenherrschaft - des fiiheren Dramas César-Antéchrist in einen Raum des Zeichenlosen transformiert wird, wechselt entsprechend die Stillage von pathetischer Feierlichkeit zu vulgärer Materialität. Mit "merdre" wird gewissermaßen eine neue Sprache aus dem Morast gehoben, und zwar eine kleine Sprache: Neologismen, Wortdeformationen, Vulgarismen und Archaismen bilden zusammen keine große Sprache, sie bilden eine Mischung aus Kindergeheimsprache und Sprache des Primitiven, sie weist, um mit Deleuze zu sprechen, einen starken "Deterritorialisierungskoeffizienten" auf. Diese kleine Sprache - oder Sprache eines Minoritären - wird verstärkt durch eine konstante Variabilität des Stils zwischen literarisch und antiliterarisch, zwischen groß und klein. Gerade durch die Inkongruenz der klassisch-heroischen Theatersprache Racines, derer sich Mère Ubu immer wieder gerne bedient - etwa: "Ma présence en ces lieux me cause une étrange frayeur" (o.e. 379) - mit mittel- und altfranzösischen Archaismen und der radikalvulgären oder skatologischen Kindersprache Ubus unterläuft diese Sprache jedes Prinzip von Einheitssprache - sie zieht der großen Sprache gewissermaßen die Haut ab und bezeichnet in ihr eine Mauer, die sich nicht überqueren läßt, die aber als Skelett oder Grenze bloßgelegt werden kann. "Schreiben wie ein Hund sein Loch buddelt", notieren Deleuze/Guattari als eines der Merkmale für eine kleine Literatur, "wie eine Maus ihren
21 Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. VI, S. 15.
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Bau gräbt. Dazu ist erst einmal der Ort der eigenen Unterentwicklung zu finden, das eigene Kauderwelsch, die eigene Dritte Welt, die eigene Wüste." 22 Wenn Jarry sich entschließt, "phynance" statt "finances" zu schreiben, "oneilles" statt "oreilles", dann will er mit der phonischen und graphischen Verzerrung diese Unterentwicklung aus der Sprache hervortreiben. Das ist einerseits die radikalste antiliterarische Haltung auf einer französischen Bühne, wo sich doch der Mensch seit dem 16./17. Jahrhundert, seit der Einkistung des Theaters in der 'scène à l'italienne', ganz in seiner Sprache zusammengezogen hat, und legt andrerseits ein der Sprache inhärentes schöpferisches Prinzip bloß dar, eine Sprache ohne Jenseits. Das Jenseits, sofern es göttlich gedacht wird, arbeitet umgekehrt an der Vernichtung der Sprache bzw. an der Vernichtung der Lust an der Sprache. Als in César-Antéchrist im letzten Akt Gottvater selbst erscheint, wird die Sprache immer reiner, bis sie im letzten Satz des Dramas nur noch reines Gesetz ist, Urteil - jüngstes Gericht. Umso vehementer dagegen der Fall in die fakalische Sprache, das Wort "merdre" schließt von der Textgenese der Dramen her gedacht an diesen letzten Urteilssatz an - er fuhrt das Kleinwerden der Sprache im Untergraben der reinen und großen Sprache vor: die große Sprache fallt in die Grube, hier in Ubus Jauchegrube. Und erhält dort ihre ganze, fragliche Souveränität.
Fragliche Souveränität Fraglich ist, ob das Kunstwerk, das Repräsentation zum Verschwinden bringt, einen Bereich subjektiver Souveränität markiert, der sich der Objektivität der Macht und der Sphäre des Politischen entzieht - eine Möglichkeit, die Batailles Theorie der Souveränität entwirft. Die Beobachtung Kristevas, daß sich in der Leerstelle, die die Literatur seit Mallarmé bezeichnet, Religion angesiedelt hat, 23 teilt gerade auch Jarry in seinem Nekrolog auf Mallarmé (o.e. 565). Sowohl im Werk Jarrys wie im Denken Batailles ist die Dimension der Religion von zentraler Bedeutung, une "petite église ... sobre et absolue" (ebd.). Es ist allerdings eine Religiosität, die genau aus der Gottverlassenheit entsteht, die Foucault in seiner Bataillelektüre von Eponine thematisch macht24 - eine Religiosität, die keine außergesellschaftliche Sphäre zu bezeichnen vermag. Als heruntergekommene Form des Sakralen fügt die profane oder derbe Literatur der sakralen etwas bei, das sie aushöhlt: Bataille nennt es einen bestimmten Ausdruck menschlicher Subjektivität, die von herrschenden Formen unabhängig bleibt25 und die also das ketzerische Gegenstück zu jeder Staatsreligion wäre. Die souveräne Kunst meint den Verzicht auf Subordination auf beiden Seiten, sie subordiniert keine anderen Literaturen und läßt sich nicht subordinieren. Durch die 22 Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, 23 Julia Kristeva, La revolution du langage poétique,
Frankfurt/Main 1976, S. 27.
Paris 1974, S. 572.
24 Michel Foucault, "Zum Begriff der Übertretung", in: ders., Schriften zur Literatur, - Berlin - Wien 1979, S. 69 f. 25 Bataille, "Die Souveränität", S. 76.
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Überschreitung in der Sprache befreit sie sich vom Respekt vor dem Andern, von dem üblicherweise die souveräne Rede ergeht, sie befreit sich von den Gesetzen der Gattung und der Institutionen. Im besten Wissen von Gesetz und Überschreitung wird ihre Lächerlichkeit souverän. Ihre singuläre Subjektivität allerdings bleibt unbegreifbar, in den Worten Batailles: sie entzieht sich immer dann, wenn man sie den Dingen gleichmachen will.26 Den Dingen, aber auch allen Diskursen, die eine autoritäre oder universalistische Haltung beanspruchen. Wenn Politik in der Erwartung einer totalen Existenz, in der Mobilisierung aller Kräfte besteht - dann kann die Antwort dieser Literatur nur sein: unvollständige Kommunikation als Demobilisierung des Politischen. Batailles Akt der Übertretung als souveräner Akt hat keine Verwandtschaft mit dem Ethischen - er meint die Souveränität einer Erfahrung, die sich in Extremformen der Sprache ansiedelt - im Bereich des literarischen Sprechens als einem Raum, der neben sich Sprachen entdeckt, die sich nicht realisieren lassen.27 Pataphysische Sprachen, Kindersprachen, gestische Sprachen, Bildersprachen, Geheimsprachen, Tiersprachen. Als Jarry Ende des letzten Jahrhunderts auf diesen Extremformen des literarischen Ausdrucks bestanden hat, machte er die revolutionären Bedingungen von Literatur deutlich. Und zwar, weil er sie innerhalb seiner Zeit ansiedelt, ohne sich mit dieser Zeit zu identifizieren, weil er sie innerhalb aktueller Wissenschafts- und Technikmodelle entwickelt, ohne sich mit diesen zu identifizieren. In diesem Sinne ist seine Pataphysik als Wissenschaft der imaginären Lösungen nicht einfach als Krise der Literatur angesichts der neuen technischen Medien der Moderne zu taxieren, sondern als Potential einer ausschweifenden literarischen Intelligenz, die über die Grenzen der andern Diskurse und Gesetze hinwegzuspekulieren vermag - um "die launenhafte Geistesverwirrung" der Gesetzbücher selbst aufzustöbern. Und es dabei plötzlich für möglich zu halten, daß das Gesetz die Unzucht mit Toten deshalb nicht ahndet, weil es in ihr die posthume Huldigung sieht, die den Toten mehr ehrt als folgenlose Blumenspenden, es für möglich zu halten, daß die übliche Abneigung gegen Tote nur aus dem alimentären Übergang vom Rohen zum Gekochten herkommt, es aber in tausend Jahren möglich sein könnte, daß das Kochen des andern auch in die Liebe eindringt und sich so über eine Gesetzeslücke eine neue Treue zu den Toten praktizieren ließe.28 Solch ausschweifende Spekulation ist weder durch Theorie noch durch Erfahrung einholbar. Wenn die minimalste Bestimmung von Souveränität die Möglichkeit ist, entscheiden zu können, skizziert Jarry eine souveräne Möglichkeit der Literatur: die
26 Bataille, "Die Souveränität", S. 84 f. 27 Ebd., S. 80. 28 Jarry in seinem Kommentar zum Prozeß um Honoré Ardisson, einem Totengräber, der von der Justiz wegen Unzucht mit weiblichen Leichen für wahnsinnig erklärt und eingesperrt wurde - obschon der "weise Gesetzgeber" sich davor gehütet habe, "die Leichenschändung zu mißbilligen. Er hat ihr keinen Paragraphen gewidmet, was bekanntlich gemäß dem Geist dieses Buches ihrer Förderung gleichkommt." "Posthume Huldigung", so der Titel seines ungewöhnliches Plädoyer für Ardisson im Geiste des Gesetzes und gegen den amtierenden Richter, ist eine der 227 "Spéculations", die Jarry als Chronist der Jahre 1901-1903 in verschiedenen Pariser Zeitschriften publiziert hat. Jarry, Spekulationen. Einsichten in die Ereignisse unserer Epoche, aus dem Französischen übersetzt von Pierre Gallissaires u. Hanna Mittelstädt, Hamburg - Zürich 1988, S. 40-44.
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entschiedene Möglichkeit, zwischen Wissenschaft, technischen Modellen, juridischem Diskurs, literarischer Tradition und literarischer Fiktion in eine eigene Richtung zu denken. Es ist gewiß eine nicht verallgemeinerbare Möglichkeit von Souveränität, und sie verlangt einen individuellen Einsatz. Aber es könnte wichtig sein, an diese Möglichkeit zu erinnern, vielleicht gerade dort, wo dem Denken die Behauptung, daß jedes 'subjektive Innenleben in bezug auf das Funktionieren von Institutionen steril sei'29 nützlich geworden ist.
29 "Die Gründung von Institutionen, ihre Besiegelung ist immer Sache des Rechts, wie sehr auch die Rechtsquellen sich wandeln mögen; das subjektive Innenleben ist in Bezug auf Institutionen steril." (Arnold Gehlen)
Rüdiger Campe
Der Befehl und die Rede des Souveräns im Schauspiel des 17. Jahrhunderts Nero bei Busenello, Racine und Lohenstein
Es blendet uns heute die Sichtbarkeit der Macht im 17. Jahrhundert. Sei es, daß der Körper des Königs die sakrale Beziehung zwischen einem physischen und einem politischen Körper darstellt, wie es Theoretiker besonders in England und Frankreich dachten. Sei es auch, daß der Körper, der das Amt trägt, die politische Körperschaft vertritt, die ihn ins Amt stellte. So lehrte es z.B. die Politica des Johannes Althusius, der für die ständischen Verfassungen im Reich große Bedeutung zukommt.1 Man hat geglaubt, Repräsentation, außer in Architektur und Kunst, gerade auch auf der Bühne wiederzusehen. Das gilt, wo noch die Sprache der trionfi wirkt oder die Imagination des Fests Regie führt - im Ballett oder in den Opern Lullys und Quinaults beispielsweise. In der dramatischen Literatur und besonders im Trauerspiel, dem die Poetiken der Zeit das hohe Personal doch als eigentümlich zusprachen, findet man das Theater der Repräsentation dagegen nur selten oder am Rande.2 Von der rechtshistorischen Formel der zwei Körper des Königs aus haben Louis Marin und Jean-Marie Apostolides die Zeit Ludwigs XIV. behandelt. Für sie war aber nun nicht die theatralische Ausstellung der Stellvertretung formbestimmend, sondern das Verwandlungsgeschehen, das die zwei Körper der Repräsentation in die Imago des Souveräns umwandelt.3 Das deutsche Trauerspiel hatte Walter Benjamin juristisch1
Vgl. Hasso Hofmann, Repräsentation. 19. Jahrhundert, Berlin 1974.
Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte
von der Antike bis ins
2
Zu nennen ist Ernst Kantorowicz' Deutung von Shakespeares Richard II (The Kings Two Bodies. A Study in Médiéval Political Theology, Princeton 1957) und zur Tragödie der französischen Klassik Jean-Marie Apostolidès, Le prince sacrifié. Théâtre et politique au temps de Louis XIV, Paris 1985. Im weiteren Zusammenhang steht Albrecht Schönes Interpretation von Gryphius' Carolus Stuardus, die die imitatio Christi des zum Tode verurteilten Königs in den Mittelpunkt rückt ("Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britannien", [wieder] in: Gerhard Kaiser [Hrsg.], Die Dramen des Andreas Gryphius, Stuttgart 1968, S. 117-169).
3
So Louis Marin in Le portrait du roi und Jean-Marie Apostolidès in Le roi-machine. Spectacle et politique au temps de Louis XIV (beide Paris 1981). Während Kantorowicz die Repräsentation vor allem als begründete Beziehung und in Hinsicht auf das Amt behandelt hatte, betonen Marin und Apostolidès Repräsentation im Absolutismus als Geschehen und als Gemachtes. Marins semiotischrhetorische (von Pascal ausgehende) Analyse nimmt die nachtridentinische Feier der Transsubstantion als Modell des Repräsentationsgeic/ieAe/u: 'L'état c'est moi' zitiert danach 'Dies ist mein Leib', Repräsentation ist 'politisches Sakrament' (S. 147-150 u. S. 254-256). Apostolidès' soziokulturelle Untersuchung sieht die Einheit des einen Körpers - des Sonnenkönigs, seines Hofes, seines Staates -
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politisch gelesen. Geschichtsphilosophisch formbestimmend war für ihn die Dezision des Fürsten. Den Ausweis der Souveränität nahm Benjamin als Zeichen der Naturverfallenheit des Historischen, das die Allegorese ermöglicht und besiegelt. 4 Es gibt eine Gemeinsamkeit in diesen verschiedenartigen Deutungen: auf der Schaubühne der zum Proszeniumsrahmen verblassenden Repräsentation 5 zeigt die Souveränität sich performativ.6 Dementsprechend geht es hier nicht so sehr um das Theater der Repräsentation, sondern um Schauspiele der Souveränität. Diese Schauspiele spielen vor oder hinter der großen Sichtbarkeit, können sie aber wohl erzeugen. Es sind Schauspiele des Augenblicks, in dem der Platz des Souveräns noch und gerade leer ist. Als Beispiel ist hier die Szene des Befehls und seiner Gewalt gewählt. Der Befehlende markiert mit der Gewalt, die von ihm ausgeht, den Raum der Souveränität; zugleich ist ihm Befehlsgewalt nur im Innern ihrer Geltung gewährt.
durch und als Maschinen hergestellt. Der 'roi machiniste' der Feste in Versailles wird in der späteren Regierungszeit zum 'roi-machine' des Zeremoniells und des bürokratisierten Staatsapparats. 4
"Der Souverän repräsentiert die Geschichte." Im Trauerspiel tritt nach Benjamin nicht der Fürst auf, der in der Geschichte Christus repräsentiert, sondern der Souverän, dessen diktatorische Entscheidung das "Weltlich-Despotische[]", Geschichte ohne Eschatologie und repraesentatio repräsentiert. Daß die solchermaßen geschichtslose Naturauffassung "alles andere als ein Privileg der Theatraliker" ist, ihr "[s]taatsrechtliche Gedanken ... zugrunde [liegen]", ja das Juristische noch vor der Melancholie die allegorischen Formen bestimmt, blieb in der Germanistik weitgehend überlesen (Ursprung des deutschen Trauerspiels [1928], in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1/1, Frankfurt/Main 1991, S. 254 f.; siehe aber Klaus Garber, "Konfession, Politik und Geschichtsphilosophie im 'Ursprung des deutschen Trauerspiels'" in: ders., Rezeption und Rettung. 3 Studien zu Walter Benjamin, Tübingen 1987).
5
Am Beginn des 18. Jahrhunderts kann die Zeremonie Gegenstand systematischer und historischer Darstellung werden: C. de Vert, Explication simple, littérale et historique des cérémonies de l'Eglise, 4 Bde., 1706-1713; Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der grossen Herren (1733), Weinheim 1990 (Nachdruck). - Zum Verblassen der, gleichwohl unbefragten, personalen Repräsentation im 17. Jahrhundert: Peter Burke spricht hinsichtlich der Medienkampagne für Ludwig XIV. von einer "Krise der Repräsentation" (The Fabrication of Louis XIV, New Häven London 1992 [dt. 1992], IX. Kap.). Wolfgang Braungarts Buch zur höfischen Rhetorik in den Territorialherrschaften des Reichs belegt die zunehmende Funktionalisierung des zeremoniellen Sprechens (Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis der höfisch-politischen Rede im deutschen Territorialabsolutismus, Tübingen 1988).
6
Der Übergang von der Amts- und Übertragungsgeschichte zur eucharistischen und maschinellen Pointerung müßte aus der Analyse der Repräsentation selbst hergeleitet werden. Repräsentation läßt sich nämlich nach zwei gegenläufigen figuralen Verfahren verstehen: als Evidenz der Sichtbarkeit, die ihre Setzung überstrahlt, und als sichtbar gemachte Stellvertretung, die auf den unsichtbaren Grund ihrer Setzung hinweist. Nach Marin ist das Bild des Königs im Zeitalter Ludwigs XIV. beides auf einmal: unmittelbare Gegenwart der symbolischen Essenz des Königskörpers und Verweis auf das ausschließlich Symbolische dieses Körpers (Le portrait du roi, z.B. S. 20 f.). - Für eine 'Kulturgeschichte des Sozialen' im Ausgang vom 17. Jahrhundert will Roger Chartier genau diese widersprüchlichen Bedeutungen von Repräsentation - als semiotische Bezeichnung und als theatralische Präsentierung nutzen: "Le monde comme représentation", in: Annales. ECS 44. Jg. (1989), S. 1505-1520.
Der Befehl und die Rede des Souveräns
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I Im Kapitel 1.8 der Six livres de la république führt Jean Bodin Sache und Begriff der souveraineté ein. An ihm läßt sich die Rolle des Befehls für eine neuzeitliche Souveränitätslehre modellhaft aufweisen. Es ist eine verspätete und eine vorweggenommene Einführung. Weil es ohne Souveränität keine Einheit des Staates gibt, der sonst nur als Regierung über eine Anzahl von Haushalten definiert ist, braucht Bodin das Attribut schon im ersten Satz; 7 und erst das letzte Kapitel spricht "über die wahren Merkmale", d.h. die rechtlichen Qualitäten, des Souveräns. 8 Das achte Kapitel dagegen führt Souveränität als Prinzip ein, das Gewalt staatsförmig macht. In diesem Sinne unterbricht es die Erörterung der Herrschaftsformen von der Familie bis zum König, die Gegenstand des ersten Buches sind. In diesem Kapitel scheint sich der Befehl aber der begrifflichen Bestimmung zu entziehen. Die berühmte Eröffnungsdefinition lautet: "Unter der Souveränität ist die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt zu verstehen." 9 Die definitorischen Anstrengungen gelten im folgenden den Wörtern dieser Definition: Souveränität, absolute Befugnis und zeitlose Übertragung des Amtes. Der Befehl ist in 1.8 kein definierender und kein definierter Begriff. Dabei ist der Befehl ständig gegenwärtig. Direkt und indirekt greifen die Erklärungen zurück auf die Befehlsverhältnisse im vorher abgehandelten Familienverband. Man kann zwei Formen unterscheiden: Die eine zeigt sich im Befehl, der dem Vater über die Familie, den Magistraten über die Haushalte und dem Fürsten über die Magistrate zusteht. Die Leiter der Analogie ist diesem Befehl wesentlich. Denn er ist in einer ersten Analogie begründet, der aristotelischen Regierung der Vernunft über die Triebe. Darum ist er auch mit dem Thema der Selbstbeherrschung verbunden. Wer regiert, muß sich selbst regieren. Vernunft ist Subjekt und Resultat dieses analogischen Befehls. 10 Die zweite Befehlsform hat dagegen nur genau ein Subjekt und einen Inhalt. Es ist der
7
"Republique est un droit gouvernement de plusieurs mesnages, & de ce qui leur est commun, avec puissance souveraine." (Jean Bodin, Les six livres de la république. Avec l'apologie de René Herpin [Paris 1576, 2. Nachdruck der Ausgabe Paris 1583], Aalen 1977, S. 1; dt.: Sechs Bücher über den Staat, übers, u. m. Anmerkungen vers, von Bernd Wimmer, eingel. u. hrsg. v. Peter Cornelius Mayer-Tasch, 2 Bde., München 1981/1986)
8
Bodin, Les six livres, S. 211; Sechs Bücher, S. 284.
9
Bodin, Sechs Bücher, S. 205. "La souveraineté est la puissance absolue & perpetuelle d'une Republique." (Les six livres, S. 122)
10 Diese Form des Befehls wird insbesondere im Kapitel 1.3 "De la puissance maritale" besprochen: "Toute Republique, tout corps & College, & tout mesnage se gouverne par commandement, & obeissance". Vom Souverän bis zur Familie werden die Befehls-/Gehorsamsbeziehungen genannt; innerhalb der Familie dann die verschiedenen Herren-Rollen des Mannes gegen Frau, Kinder oder Knechte. Aber die so eingeschränkte natürliche Freiheit ist schon in Analogie demselben Verhältnis verpflichtet: "Nous appelions liberté naturelle de n'estre subiect, après Dieu, à homme vivant, & ne souffrir autre commandement que de soy-mesme: c'est à dire, de la raison, qui est tousiours conforme à la volonté de Dieu. Voila le premier & le plus ancien commandement qui soit, c'est à scavoir, de la raison sur l'appétit bestial: & au paravant qu'on puisse bien commander aux autres, il faut apprendre à commander à soy-mesme, rendant à la raison la puissance de commander, & aux appétits l'obeissance." (Bodin, Les six livres, 17 f.; Sechs Bücher, S. 115)
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Befehl des Vaters, der über Leben und Tod der Kinder gebietet (dieses Verhältnis ist Bodin zufolge z.B. nicht auf Herren und Sklaven übertragbar). In seiner Bestimmtheit ist er im Dekalog und in der Natur begründet und im römischen Recht aufgestellt.11 Die maßlose Gewalt der patria potestas hat ihren Ort von Gott und Natur, aber auch nur diesen von Gott und Natur bestimmten Ort. Es ist nun leicht zu sehen, daß die Souveränität an beiden Befehlen partizipiert, aber weder in die Analogie der rekursiven Vernunft eingeht noch in die Maßlosigkeit der Gewalt, die Gott und Natur an einen genauen Ort gebunden haben. Im abschließenden Kapitel des ersten Buchs über die wahren Merkmale des souveränen Fürsten ist das Problem gelöst. Befehl und Gesetz sind nun verbunden, ja einander gleichgestellt.12 Erstes Merkmal des Souveräns nennt Bodin es, daß sein Befehl den Allgemeinheitscharakter des Gesetzes hat und er Gesetze vorschreiben, d.h. in der Art des Befehls erlassen kann.13 Damit ist nicht irgendeine nachträgliche Vermengung von allgemeinem Gesetzestext und exekutivem Einzelakt gemeint: es bezeichnet als Augenblick der Souveränität eine unauflösliche Überkreuzung zwischen der Singularität, die im Akt der Aussage liegt, und der Allgemeinheit der Regel, die als ihr Inhalt ausgesagt wird.14 Freilich liegt der Formel vom Gesetzesbefehl Souveränität schon zugrunde. Darum ist es kein Zufall, daß das zehnte Kapitel mit der Anrufung der Repräsentation einsetzt: der Fürst schreibt allen und jedem besonders das Gesetz vor, insofern er als Stellvertreter Gottes auf Erden ausgezeichnet und erkannt ist. Der Gesetzesbefehl ist darum repräsentationslogischer, theologischer Art.15
11 Es handelt sich hier um das Kapitel 1.4 "De la puissance paternelle": "Le droit gouvernement du pere & des enfans gist à bien user de la puissance, que Dieu a donné au pere sur les enfans propres, ou la loy sur les enfans adoptés, & en l'obeissance, amour, & reverence des enfans envers les peres." Nur die Väter, betont Bodin, haben unter allen Befehlsinhabern ihre Macht von Natur. Darum resümiert Bodin, er habe zeigen wollen, "qu'il est besoing en la Republique bien ordonnée, rendre aux peres la puissance de la vie & de la mort, que la loy de Dieu & de nature leur donne: loy qui a esté la plus ancienne qui fust oncques." (Bodin, Les six livres, S. 29 u. 32; Die sechs Bücher, S. 124-127) 12 Ich folge hier der rechtsgeschichtlichen Darstellung von Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität I: Die Grundlagen, Frankfurt/Main 1970. Dort zum 'Gesetzesbefehl' als Grundvorstellung der Souveränität bei Bodin: S. 333-337, allgemein S. 117-131 und zu den mittelalterlichen Voraussetzungen ("Que veut le Roi, si veut la loi") S. 171 f. 13 Dieses erste Merkmal des Souveräns wird in 1.12 in vielen Varianten formuliert; z.B.: "Et pour esclaircir ce poinct, il faut présupposer que le mot de loy sans dire autre chose, signifie le droit commandement de celuy ou de ceux qui ont toute puissance par dessus les autres sans exception de personne: soit que le commandement touche tous les subiects en général, ou en particulier, hormis celuy ou ceux qui donnent la loy: combien qu'à parler plus proprement, loy est commandement du souverain touchant tous les subiects en général, ou de choses generales. " (Bodin, Les six livres, S. 216; Sechs Bücher, S. 288) 14 Daß "allgemeine Regel" und "Anordnung für den Einzelfall" gleichgesetzt würden, bedeutet nach Quaritsch nicht, daß damit "die heutige Unterscheidung und Rangordnung zwischen Gesetz und Verwaltungsakt" berührt sei. Bodin spreche ja nur von "Handlungen des Souveräns", nicht von Maßnahmen gouvernementaler Instanzen (Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 334). 15 Mayer-Tasch sieht darin den Kompromiß zwischen dem Vorsatz Bodins, "eine rein weltliche Legitimation politischer Herrschaft" zu geben, und einer angefügten 'synkretistischen' theologischen Überhöhung. Jedenfalls bezeichnet die Rede vom Stellvertreter Gottes auf Erden zu Anfang von 1.10
Der Befehl und die Rede des Souveräns
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Der Befehl als rekursive Vernunft oder als fest geortete Naturgewalt erreicht die Souveränität nicht, der Gesetzesbefehl setzt die Erscheinung des Souveräns in der Repräsentation voraus. So ist es wenig verwunderlich, wenn im achten, die Souveränität als Prinzip einführenden, Kapitel der Befehl in der begrifflichen Konstruktion nicht vorkommt. Aber der Befehl spielt auch hier eine Rolle. Hier kommt im Text des Juristen das Schauspiel in Betracht. Der Befehl macht, kann man sagen, die Rollen spielen und macht, daß es im Reden Rollen zu spielen gibt. Nachdem Bodin den Begriff der Souveränität ausschließlich ex negativo bestimmt hat (nicht souverän ist, wer ...), wendet er sich der absoluten Macht zu. Das zu Definierende - die Souveränität - hatte Bodin am historischen Beispiel von Ämtern besprochen, von denen man, fälschlich, annehmen konnte, daß sie ihren Träger zum Souverän machen. Die absolute Macht, das Definierende, erläutert Bodin nun am Beispiel von Zeremonien der Einsetzung. Obwohl jede Verleihung der Souveränität deren Unbedingtheit bedroht, illustrieren gerade die zeremoniellen Spiele ihren Begriff, die puissance absolue, positiv. Das erste Zeremoniell, das Bodin nennt, betrifft - in der Ferne des Barbarischen - die Wahl des Tartarenkönigs. "Fürst und Volk, denen das Wahlrecht zusteht, [wählen] nun unter seinen [des verstorbenen Großkönigs] Angehörigen - wobei nur Söhne und Neffen in Frage kommen - denjenigen zum Nachfolger ..., der ihnen geeignet erscheint. Nach der Wahl setzen sie ihn auf einen goldenen Thron und richten folgende Worte an ihn: 'Es ist unsere Bitte und unser Wunsch und wir gebieten dir, daß du uns regierst.' Hierauf erwidert der König: 'Wenn ihr dies von mir wollt, müßt ihr bereit sein, zu tun, was ich verlange [à faire ce que ie commanderay]: daß jeder, dessen Tod ich befehle, auf der Stelle hinzurichten ist [celuy que i'ordonneray estre tué, soit tué incontinent, & sans delay]. Und es sind die Geschicke des ganzen Königsreichs in meine Hände zu legen. ' Das Volk antwortet darauf: 'So soll es sein.' Hierauf fahrt der König fort: 'Das Wort aus meinem Munde sei mein Schwert.' Und das Volk jubelt ihm zu." 16
So schwer es war, bei der Definition des souveränen Amtes über die Negation des legibus absolutus hinauszugelangen, so einfach scheint die absolute Macht dadurch zu erläutern, daß man die Zeremonie ihrer Einräumung beschreibt.17 Das Paradox der Einsetzung in die absolute Macht wird im Beispiel der Zeremonie durch Sequenzierung gelöst: durch den Zeitfaktor des kommunikativen Verlaufs wird es möglich, daß die Aufforderung der Wählenden erst dann als angenommen gilt, wenn sie zuvor die Aufforderung des Gewählten angenommen haben. Der Tötungsbefehl ist die Gegenaufforderung, die alle anderen sei's vorangehenden oder folgenden kommunikativen und vertraglichen Bindungen unterläuft. Die Gewalt dieses Befehls ist von nun an in jeder, auch jeder konstativen Äußerung des Souverän mitgesprochen: "la parole de ma bouche
den Status des Kapitels, nicht eine ideologische Beigabe (Peter Cornelius Mayer-Tasch, "Einführung in Jean Bodins Leben und Werk", Vorwort zu: Bodin, Sechs Bücher, S. 32 f.). 16 Bodin, Sechs Bücher, S. 210 f.; Les six livres, S. 128. 17 Obwohl die Wahl bei der Einsetzung der französischen Könige bereits seit Ludwig VIII. nicht mehr ausgeübt wird, bleibt sie, zur Akklamation abgeschwächt, bis in die Neuzeit Teil der Zeremonie und Modell der Theorie: Vgl. Anton Haueter, Die Krönungen der französischen Könige im Zeitalter des Absolutismus und der Restauration, Zürich 1975.
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sera mon glaive." Sie gibt, durch sie verschafft sich der Gewählte die Befehlsgewalt. Dabei ist daran zu erinnern, daß das Bild der Zunge als Schwert im 16. Jahrhundert von der Christus- auf die Rhetorikemblematik überging. Gewiß: Bodin interpretiert nicht vom Tötungsbefehl, sondern von der Konzession der Wählenden her. Diese wie weitere angeführte Wahlzeremonien sollen die Verleihung der absoluten Gewalt nach dem Modell der 'echten Schenkung' zeigen: diese "duldet nachträglich keine Bedingungen mehr, denn Schenkungen unter Bedingungen sind im Grunde gar keine echten Schenkungen".18 Bei echter Schenkung ist nicht oder nur das göttlich-natürliche Gesetz Bedingung. Mit Bezug auf die Natur des Befehls kann man sagen: der Befehl über Leben und Tod, den Gott und die Natur an einen bestimmten Ort - den des Vaters - binden, wird durch die Schenkung übertragbar. Kinder adoptieren einen Vater. Insofern Bodin auf eine von der Zeremonie symbolisierte bedingungslose Schenkung blickt, bleibt der alle Bindungen überbietende, Bedingungslosigkeit herstellende Befehl des Tartarenkönigs nichtvollzogen. Die Rede vom göttlichen und natürlichen Gesetz als einer Nullbedingung der wählend Schenkenden ist die begriffliche und repräsentative Hülle um den Befehl des Beschenkten. In der Aufforderung zur Einräumung des Tötungsbefehls spielt die reine Gewalt des Befehls. Sie setzt einen absoluten Anfang in der Sequenz und bestimmt so die Performanz der Zeremonie als Geschenk von (asymmetrischer) Kommunikation. Man kann noch weiter gehen und diesen Befund in der Struktur des Zeremoniebeispiels auf dessen Rolle im Kapitel 1.8 übertragen: Das Beispiel der Zeremonie, die diesen absolut performativen Befehl einschließt, ist die Performanz des Begriffs, für den die Zeremonie als Beispiel vorgebracht ist: des Begriffs der absoluten Macht, der wiederum den der Souveränität definiert. Nur in der Performanz des Zeremoniebeispiels wird der Begriff positiv. Das gilt auch für korporative Souveränitätslehren, in denen die personale Herrschaft institutionell beschränkt und moralisch kritisiert wird. Wie Althusius es an der Stelle sagt, wo er gegen Bodins personale Souveränität (ius majestatis) die körperschaftliche Souveränität (ius regni) setzt: "Die Macht eines Königsreichs oder vertraglich verbundener Körperschaften ist immer nur eine, nicht mehrere Machtinstanzen, wie nur eine Seele, nicht mehrere im physischen Körper befehlen."19 Hobbes hat die Linie des souveränen Befehls ins 17. Jahrhundert fortgeführt. Im Leviathan kann man von einer Theorie des Gesetzesbefehls sprechen. Aber Hobbes sagt auch, daß dem Befehl als bürgerlichem Gesetz sowohl die juristische Person, in deren Namen er ergeht, als auch der Gehorsam, an den er sich adressiert, vorausgehen: Das Gesetz "ist auch nicht der Befehl, den beliebige Menschen aneinander richten, sondern der Befehl an einen Menschen, der schon vorher zum Gehorsam gegen einen anderen verpflichtet war. Und was das
18 Bodin, Sechs Bücher, S. 210. 19 Johannes Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et prafanis illustrata, (2. Nachdruck der 3. Aufl. Herborn 1614), Aalen 1981. "Talis vero potestas regni, seu consociatorum corporum, una Semper est, non plures potestates, sicuti una anima, non plures in corpore physico imperant." (S. 126)
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bürgerliche Gesetz betrifft, so fügt es ihm nur den Namen der befehlenden Person hinzu, nämlich persona civitatis, die Person des Staates."20
Der erste Befehl - der Befehl, der die doppelte Referenz des Namens und Gehorsams erst einsetzt - ist in der Theorie des Staates also schon vorausgesetzt. Das eben macht seine namenlose und unerhörte Gewalt aus, deren Spur man im Theater der Souveränität findet. Wenn man von der Repräsentation her eine Verbindung zwischen Staatsrecht und Trauerspiel gesehen hat, dachte man meist an eine mehr oder minder bruchlose Umsetzung. Der Begriff der Verkörperung wird danach auf der Bühne dargestellt. Mit Zeremonie und Schauspiel der Souveränität ist dagegen eine Verschiebung gemeint. Im zeremoniellen Agieren ereignet sich die geschenkte Gewalt des souveränen Worts. Zeremoniös kann man dieses Sprachschauspiel erst in seinem Vollzug nennen, in dem ein theologisches Geheimnis oder ein theoretisches Paradox sich löst. Dieser Vollzug kann sich auf der Bühne, in einer erneuten Verschiebung, wiederholen.21 Es gibt einen Stoff im Theater des 17. Jahrhunderts, der die Schaustellung des ersten, alle Befehle ermöglichenden, Befehls nahelegte: die Historie Neros, mit Racines Wort aus der Vorrede zum Britannicus: die Geschichte des monstre naissant. Ein bestimmter Typus von Nero-Stücken im 17. Jahrhundert - zu dem, etwa achtzig Jahre nach den Six livres, Busenellos Libretto für Monteverdi, der Britannicus Racines und Lohensteins Agrippina gehören - bindet den Übergang vom guten Herrscher zum bösen, vom pater patriae zum Tyrannen, vom geleiteten zum selbstherrschenden Imperator/Souverän an die Loslösung Neros vom Philosophen-Vater Seneca bzw. von einer machtbesessenen Mutter Agrippina. Markierung des Übergangs ist jeweils ein erster Befehl der Tötung, der Nero zum Autokraten macht. Gewiß lag über Nero - dem Antichrist der Patristik - mehr als nur moralische Verurteilung. Wer Ludwig XIV. einen Nero statt einen Augustus nannte, wollte den allerchristlichsten Monarchen entlarven und verurteilen. Doch ist eine andere neuzeitliche Sicht auf Nero möglich gewesen. In Girolamo Cardanos Encomium Neronis (um 1560)22 dienen die Morde der Sicherung einer Macht, deren Legitimität dilemmatisch war - eine Lage, die seit Machiavelli das
20 Thomas Hobbes, Leviathan. Oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsg. u. eingel. v. Iring Fetcher, übers, v. Walter Euchner, 5. Aufl., Frankfurt/Main 1992, Kap. 26, S. 203. 21 Den Begriff der Zeremonie hat Jacques Scherer in Racine et/ou la cérémonie (Paris 1982) genutzt. Für Scherer geht es um die Beziehung zwischen der kultischen Feier und dem theologischen Geheimnis in der äußeren Handlung, die in einem rein spielmäßigen Sinn selbst geheimnisvoll werden kann. Die Ambivalenz in der Zeremonie des späteren 17. Jahrhunderts, die das Geheimnis zwischen Gehalt und Inszenierung changieren läßt, ergreift Scherer zufolge bei Racine alle tragischen Werte: das Schicksal, die Götter, die Freiheit des Helden. Die Zeremonie kann so ein Medium der tragischen Werte im Sinne McLuhans heißen. 22 Vgl. Adelin Charles Fiorato, "L'Eloge de Néron par Jérôme Cardan, ou la justification du pouvoir absolu", in: Jean Dufournet, Adelin Fiorato u. Augustin Redondo (Hrsg.), Le pouvoir monarchique et ses supports idéologiques aux XlVe-XVIIe siècles, Paris 1990, S. 127-144. Fiorato ordnet das Encomium historisch einmal dem gerade zuende gehenden Konzil von Trient und der Gegenreformation und andererseits dem Entstehen der 'italienischen Mikro-Absolutismen' zu (S. 128).
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politische Problem der Souveränität selbst umschreibt. Vor allem aber sah Cardano, anders als Machiavelli, in Neros Regierung eine die Macht der Aristokraten beschneidende, obwohl sie ständisch fördernde, und eine innerstaatlich auf Fürsorge für das 'Volk' gerichtete Politik.23 Dieses frühabsolutistische Nero-Lob hat am moralischen Urteil des 17. Jahrhunderts nichts geändert. Aber es legt die Nähe zwischen dem Antichrist der römischen Kaisergeschichte und dem personalen Souverän offen. Das Schauspiel verhält sich spiegelverkehrt zur Zeremonie. In der Zeremonie ist der erste Befehl virtuelle Bedingung; im Schauspiel ist Neros Mordbefehl historisch. These aber ist, daß die Souveränität der Rede im Schauspiel der Rede des Souveräns in der Zeremonie antwortet und daß der Raum des Theaterbefehls im zeremoniellen Geschenk der Rede eröffnet ist.
II 1. Das Textbuch zu Monteverdis letztem dramma in musica, dem Ende 1642, zu Beginn der Karnevalssaison, aufgeführten Incoronazione di Poppea, schrieb Giovanni Francesco Busenello. Der venezianische Rechtsanwalt gehörte einer Familie an, die höhere Positionen der Stadtregierung besetzte.24 Die Episoden der Oper25 hält die Klammer eines Versprechens zusammen. Im 1. Akt gibt Nero sein Wort, die Gattin Ottavia zu verstoßen und Poppea zur Kaiserin zu krönen; im dritten spricht er die Verstoßung formell aus (III/4), Poppeas Krönung bildet das Finale. Neros Versprechen in der zehnten Szene des ersten Akts - das seinerseits eine Vorgeschichte hat26 - ist keine einfache Äußerung. Nachdem er Poppea seine Absicht angekündigt hat, nennt vielmehr Poppea ihre Erwartung zunächst eine Hoffnung, die sie auf seinen Befehl hin hege ("A speranze sublimi il cor inalzò / perchè tu lo comandi"), dann nennt sie seine Absichtserklärung ein Versprechen ("promesse"). Incoronazione di Poppea heißt also ein Privatvertrag, dessen Einsatz und Gewinn die
23 Girolamo Cardano, Encomium Neronis, in: Hieronymus Cardanus, Opera omnia (Lyon 1663), Nachdruck eingel. von August Buck, Bd. 1, Stuttgart - Bad Canstatt 1966, Sp. 179-220. Die Politik gegen die potentiores oder proceres oder optimates wird immer wieder erörtert, z.B. Sp. 185b-186a und Sp. 190a-b; über die Notwendigkeit, ihnen Ehren zukommen zu lassen: z.B. Sp. 187b-188a. 24 Für Paolo Getrevi wird mit Busenello das Libretto zum eigenen literarischen Genre der italienischen Barockliteratur (Labbra barocche. II libretto d'opera da Busenello a Goldoni, Verona 1987, S. 42). Busenello vereinigte seine (überarbeiteten) Libretti mit poetischen Werken in dem Band Ore ociose (Venedig 1656). 25 Getrevi zeigt, daß das Libretto formal zunächst eher vom Roman als vom aristotelischen Drama ausgeht (Labbra barocche, S. 16 f. u.ö.). 26 In 1/3 nimmt Nero von Poppea nach einer Liebesnacht Abschied mit der Begründung, daß er Ottavia noch nicht verstoßen habe; die Szene endet mit Neros Versprechen zurückzukehren. Verstoßung und Versprechen, Anfang und Ende des Szene, sind noch verschieden. In 1/6 sagt Ottavia, daß sie mit der Verstoßung rechne, in 1/9 teilt Nero Seneca seinen Entschluß mit. Daran schließt die Fabrikation der 'königlichen Versprechen' in 1/10 an.
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Krone ist. 27 Poppea nennt die Absichtserklärung genauer ein königliches Versprechen, dessen oberstes - souveränes - Ziel versperrt bleibe, solange Seneca lebe ("Ma troppo s'attraversa et impedisce / delle regie promesse il fin sovrano. / Seneca il tuo Maestro"). Es gibt keine äußere Erklärung für Poppeas Bedingung; Seneca steht z . B . nicht eindeutig auf Seiten Ottavias. D i e Erklärung liegt offenbar im Attribut "dein Meister": Seneca, sagt Poppea, streite wider die unteilbare Souveränität des Souveräns ("che sempre tenta persuader altrui, / che il tuo scettro dipenda sol da lui"). 28 D a s oberste, souveräne, Ziel ist die Souveränität; sie ist Gegenstand und zugleich Bedingung eines vertraglichen Versprechens, das ein königliches g e w e s e n sein soll. N e r o antwortet darauf mit Todesbefehl und absoluter Selbstermächtigung. "Olà, vadi un di voi / a Seneca volando e imponga a lui, / che in questo sera [Libretto: giorno] ei mora." ("Es eile einer von euch / im Fluge zu Seneca und trage ihm auf, / diese Nacht noch habe er zu sterben. ") Nero bekräftigt und deklariert den einfachen Imperativ als souveräne Befehlshandlung: "Vuò che da me l'arbitrio mio dependa." ("Ich will, daß nur von mir mein freier Wille abhängt.")29 Das heißt: ich will Herr meines Willens sein, ich will, daß ich will. Der im Befehl sich vollstreckende Wille z u m Willen ist das im Vertrag implizierte souveräne Ziel der Souveränität, der fin sovrano. D i e gesamte Handlung des Dramas ist Spiel um diese Bedingung, d.h. um die Bedingtheit und Realisierung des souveränen Versprechens der Souveränität. 30 A n der juristischen Beziehung zwischen Obligation und Erfüllung hat
27 Auch Getrevi stellt in seiner Interpretation die 'private' Aneignung staatspolitischer Handlung und die 'absolutistische Ideologie' in Zusammenhang. Wenn er dafür die Mandevillesche Formel von privaten Lastern und öffentlichen Tugenden verwendet, scheint er zu unterstellen, dieser Zusammenhang sei im ökonomischen Stil des 18. Jahrhunderts zu lesen (Labbra barocche, S. 78-81). Die 'souveränitätstheoretische' Lektüre dagegen hält das Drama im staatsrechtlichen (und übrigens auch erotischen) Stil des 17. Jahrhundert. 28 L'incoronazione di Poppea. Tutte le opere die Monteverdi, hrsg. v. G. Francesco Malipiero, Bd. XIII, Wien 1931, S. 91-93. (Malipiero gibt das Venezianer Incoronazione-Mamiskript von 1642 und Varianten des Neapolitanischen Manuskripts [wohl zur Aufführung 1651]. Er führt zudem Textabweichungen im Druck des Librettos von 1642 an.) 29 L'incoronazione, S. 93 f. 30 Am Beginn des zweiten Akts erwartet Seneca den Befehl. Es brauchte eine eigene dramatische (und musikalische) Analyse für II/2, wo Neros Bote den Befehl zu verkünden beginnt, Seneca ihn aber an der forma del dir und am Absender - errät und sich selbst zuende sagt. (Dieses Sich-Selbst-Sagen des Befehls zum Selbst-Mord zeigt im übrigen, daß absolute Souveränität in der Incoronazione eine Hyperbolik ist, an der Personen auch jenseits staatspolitischer Bedeutung teilhaben; Ottavia erläutert z.B. in 1/5 ihre Sündhaftigkeit: "Se non ci fosse ne l'honor, ne Dio / sarei Nume al me stessa." [S. 60 f.]) Der übrige zweite und der Beginn des dritten Akts tragen eine Parodie des souveränen Befehls aus: Ottavia befiehlt hier Ottone - Poppeas früherem Liebhaber - , ihre Rivalin zu töten. Wenn in II/9 die Kaiserin den über ihren Befehl Erschrockenen daran erinnert, er habe ihr Gehorsam im voraus versprochen, Ottone aber protestiert, solches Versprechen sei bloße Formel der Höflichkeit, dann wiederholt sich hier offenbar in komischer Weise das Verhältnis zwischen Versprechen und Befehl, das bei Nero und Poppea auftrat.
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das epische Drama seine formale Einheit. Die staatsrechtliche Bedeutung dieser Worte in 1/10 legt der Kontext der vorangehenden Szene nahe. Nero und Seneca hatten über Macht, Recht und Vernunft disputiert;31 man denkt an Pascals berühmte Pensées über diese Begriffe. Aber auch die Szene 1/3, in der Nero nach der Liebesnacht von Poppea Abschied nahm, setzt sich in der zehnten fort. In dieser Anknüpfung geht es um die rhetorischen Rollen und Effekte der Reden. Am Anfang der Szene 1/10, die mit dem Todesbefehl endet, fragt Poppea die Topoi des kleinen Todes ab: wie waren diese Nacht die Küsse meiner Lippen, wie schienen dir meine Brüste, wie gefiel dir meine Umarmung. Auf die letzte Frage antwortet Nero zunächst mit dem Irrealis: 'hielte ich dich noch in meinen Armen'. Dann folgt32 ein concetto, der die Gegenwart der Antwort und die vergegenwärtigte Nacht, geschehende Rede und geschehene Liebe in einer Art absoluter hypotyposis zusammenfallen läßt: "Poppea, respiro appena, / miro le labbra tue, / e mirando n'cupero con glöcchi / quello spirto infiammato / che nel bacciarti, o cara, in te difusi [Hervorhebung von mir, R.C.]." ("Poppea, kaum atme ich [wieder], / Ich sehe deine Lippen, / und sehend gewinne ich durch meine Augen / jenen feurigen Atem zurück, / den ich bei meinen Umarmungen, Geliebte, in dich verströmte. ")
Die Hypotypose des Atmens ist der Akt der Sprache. Mit dem Atem, der Weiter- und Wiederatmen und zurückgeholter Atem ist, verspricht und befiehlt Nero. Der erste Befehl spricht sich mit dem wieder gewonnenen Atem, mit dem im Blick auf Poppeas Lippen zurückgekehrten Atem. Poppea antwortet im concetto. Während Nero vom Blick auf ihre Lippen singt, der seinen Atem wiederhole, sagt Poppea, daß sie sich selbst seine - diese - Worte wiederhole ("nell'anima mia / le [le tue parole] ndico a me stessa"). Während Nero ein Atem zurückkehrt, der unentscheidbar Atem der Liebe und zur Sprache ist, spricht Poppea von der Süße eines Sinnes ("Sensi"), der ihr semantisch: als gehörtes Wort, oder physisch: als genossener Kuß erscheinen kann, ohne daß sie über die Metaphorik ins Problem einer Ununterscheidbarkeit geriete ("Come parole le odo / come baci io le godo, / son de tuoi cari detti / i sensi sî soavi, e si vivaci").33 In Poppeas Wiederholung - so kann man die Rhetorik der concetti wörtlich genommen zusammenfassen - holt Nero den Atem zum souveränen Befehl wieder: der stilo espressivo Monteverdis zertrennt die Silben so, daß Poppea viermal im Sekundabstand singt: (de tuoi cari detti i sen) - si si - so a - vie si - e_si - (vivaci). Nero hat und wird seinen Atem wieder gewinnend, auf ihren Lippen sehen: si si.34 Die Paradoxie der grundlosen Wiedergewinnung spielt und spiegelt, zwischen Liebesnacht und Todesbefehl, die zeremonielle Paradoxie von Souveränität und Schenkung. 31 Nach Getrevi vertritt Seneca die ältere, machiavellistische Staatsräson (Labbra barocche,
S. 77).
32 Den Irrealis und die folgende Passage hat Monteverdi voneinander abgesetzt, indem er das "t'havessi" von "in braccio ancor t'havessi" kadenzierend wiederholt (L'incoronazione, S. 86, Takt 1297). 33 L'incoronazione,
S. 86.
34 Der Text des überlieferten Finalduetts (das allerdings im gedruckten Libretto fehlt und dessen Echtheit umstritten ist) endet: "mia vita si si." Das Spiel des 'si si' in auf- und absteigenden Sekunden dauert hier zwanzig Takte.
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2. Racines Tragödie Britannicus (die erste Aufführung fand 1669 statt) ist vom Incoronazione di Poppea, innerhalb des Typus der neronischen Souveränitätsschauspiele, so weit denkbar entfernt. Die Tötung, deren Anordnung das monstre der Souveränität gebiert, trifft hier den Rivalen Britannicus, den Kronprätendenten und Liebhaber der (von Racine konstruierten Figur)35 Junie, die auch Neros Leidenschaft erregen wird. Beim Rivalenmord liegt, anders als beim Selbstmordbefehl an den maestro Seneca, alles im Dunkel: Stirbt der Rivale um den Thron oder der Rivale um die Frau? Wird der Rivale nur stellvertretend getötet - für den väterlichen Erzieher Burrhus, der zur Versöhnung mit Britannicus rät, oder für die Mutter Agrippine, die den Rivalen wieder ins Spiel der Macht bringen will, um ihre Position darin zu wahren? Burrhus und Agrippine ihrerseits rufen in ihrer Politik gegeneinander, die sich jeweils nur im Namen des formalen Machtmittelpunkts Nero artikulieren kann, dessen Selbstermächtigung herbei. Agrippine sagt: "Néron n'est plus enfant: n'est-il pas temps qu'il règne?" ("Nero ist kein Kind mehr. Wird es nicht Zeit, daß er regiert?" (1/2, V. 159).36 Burrhus entgegnet, das grammatische Subjekt ins politische "ce" verschiebend: "Ce n'est plus votre fils, c'est le maître du monde." ("Es ist nicht mehr Euer Sohn, es ist der Herr der Welt." 1/2, V. 180). Bevor Nero auftritt, ist sein, noch ausstehender, souveräner Befehl schon im Spiel derer, die ein Mehr an Macht über einander zu gewinnen versuchen. Den Befehl, der die Selbstherrschaft öffnet, trifft also von vornherein der psychologische Verdacht, das Opfer sei Stellvertretung für Elternfiguren; und er ist schon in das allen Absichten des Autokraten vorausgehende Machtspiel der Subjekte verstrickt.37 Unmittelbar in der dramatischen Aktion trifft Nero nur unscheinbare Anordnungen gegen Ende des dritten Aktes. Er stellt Britannicus und Junie, gleich darauf Agrippine unter Bewachung (III/7 und III/8). Dem geht ein Befehl zum Spiel voraus, und es folgt ein gespielter Befehl: Im zweiten Akt hatte Nero Junie aufgefordert, wie aus eigenem Willen Britannicus den Verzicht aufzuerlegen.38 Im vierten Akt widerruft Nero dann zum Schein seine vorherigen Befehle (IV/2, Vv. 1299-1304). Das Theater der Geheiße öffnet und schließt die Tragödienmitte. Es ruht aber auf der Voraussetzung einer zeremoniellen Struktur des Befehls, die am Rande des Dramas zutage tritt. Schon die Anknüpfung an die unmittelbare Vorgeschichte zeigt sie: Zu Beginn wartet Agrippine vor Neros Tür, um ihn der Entführung Junies wegen zur Rede zu stellen. Heraus tritt Burrhus mit den Worten: "Madam, / Au nom de l'Empereur j'allois vous invormer / D'un ordre qui d'abord a pu vous alarmer, /Mais qui n'est que l'effet d'une sage conduite, / Dont César a voulu que vous soyez instruite." 35 Grundlegend für Quellenfragen: Jürgen von Stackelberg, "Tacitus und die Bühnendichtung der französischen Klassik", in: GRM 41. Bd. (1960), S. 386-400. 36 Text nach: Jean Racine, Œuvres de JfeanJ Racine, hrsg. v. Paul Mesnard, Bd. II, Paris 1865; die Übersetzung modifiziert nach: Britannicus, Französisch/Deutsch, übers, und komment. v. Barbara Mitterer, Stuttgart 1983. 37 Beides ist hier als unabweisbare Möglichkeit der Interpretation festzuhalten - zur resultierenden Psychoanalyse immer noch: Charles Mauron, L'inconscient dans l'œuvre et la vie de Racine, Aix-enProvence 1957. 38 "Qu'il [se. Britannicus] la [se. Junie] voit sans mon ordre." (V. 525)
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Der Befehl wird überbracht und erläutert.39 Beides zusammen bildet die Zeremonie oder Verwaltung des wiedergesagten Befehls.40 Dieses zweifache Wiedersagen prägt den Befehl und die Rede überhaupt auf einer Bühne, die das Vorzimmer Neros ist.41 In ihm artikuliert sich der Bezug des Befehls zu zwei Arten von Geheimnis42: staatsrechtlich geheim ist der Ort der Entscheidung und ersten Äußerung, das Kabinett des Fürsten;43 moralisch geheim die versteckte, gute oder tyrannische Absicht des Befehls. Die Zeremonie, die Verwaltung und das Drama spielen mit der Vertauschbarkeit beider Geheimnisse.44 Die beiden Befehle, die Nero im Verlauf der Tragödie zur Souveränität bringen, haben entsprechend unterschiedlichen Bezug zum Geheimnis: (1) Zu Beginn des 2. Akts tritt Nero zum ersten Mal auf die Bühne des antichambre. Er gibt und erläutert Burrhus den Befehl zur Verbannung des Pallas, der mit Britannicus und Agrippine konspiriere.
39 Die Unterredung zwischen Nero und dem Doppelagenten Narcisse in II/2 zeigt ein ironisches Echo auf das informer/instruire des Pressesprechers Burrhus: "Britannicus", versichert Narcisse, "s'abandonne à ma foi. / Par son ordre, Seigneur, il croit que je vous voi, / Que je m'informe ici dé tout ce qui le touche, / Et veut de vos secrets être instruit par ma bouche." (Vv. 513-516) Zuvor war das Wortpaar ins Erotische gewendet schon zwischen Nero und Narcisse aufgetaucht: New. "Seule dans son palais la modeste Junie / ... / ... ne daigne pas peut-être s'informer / Si César est aimable ...?" Narcisse (über den Rivalen Britannicus): "N'en doutez point, il l'aime. Instruits par tant de charmes, / Ses yeux sont déjà faits à l'usage des larmes." (Vv. 423-426 u. 431 f., Hervorhebung von mir, R.C.) 40 Dazu vgl. Michèle Fogel, Les cérémonies de l'information dans la France du XVIe au XVIIIe siècle, Paris 1989. Fogel unterscheidet eine ältere 'rituelle Publikation', die Ausrufung, von einer neueren 'Zeremonie der Information', deren Kern das öffentlich angekündigte und auf die Affekte der Teilnehmer berechnete Te Deum anläßlich von Siegen und dynastischen Ereignissen ist. 41 Auf die Bedeutung des Orts besonders im Britannicus hat die Racine-Kritik oft hingewiesen, besonders Roland Barthes, Sur Racine, Paris 1963. 42 Substantiv- und Adjektivbildungen von secret finden sich im Britannicus zwanzigmal (dreimal mystère, das stets Verstellung und Intrige konnotiert). Entscheidend für eine genauere semantische Studie sind die beiden ersten Akte: Agrippine spricht (nicht ohne Ironie) hinsichtlich Neros von den secrets de son âme (V. 127), aber auch von den staatspolitischen augustes secrets (V. 138), Albine von den dynastischen secrets zwischen Nero und Agrippine (V. 78). 43 So stellt es zum Beispiel Bossuet ad usum delphini dar: "Considérez le prince dans son cabinet. De là partent les ordres qui font aller de concert les magistrats et les capitaines, les citoyens et les soldats, les provinces et les armées par mer et terre. C'est l'image de Dieu, qui assis sur son trône fait aller toute la nature." (Bossuet, Politique tirée despopres paroles de l'Ecriture Sainte, hrsg. v. J. Le Brun, Genève 1978, S. 178-179) 44 Scherer (Racine et/ou la cérémonie) bezieht den Begriff der Zeremonie gerade der Ambivalenz von Geheimnisfülle und Mystifikation wegen auf Racine. Das ist komplementär zu Lucien Goldmann, für den Junie - die weiß, daß nur sie weiß - das alleinige Personal der 'jansenistischen' Tragödie ist (Der verborgene Gott. Studie über die tragische Weltanschauung in den 'Pensées' Pascals und im Theater Racines [1955], Frankfurt/Main 1985).
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"Pour la dernière foi, qu'il s'éloigne, qu'il parte: / Je le veux, je l'ordonne; et que la fin du jour / Ne le retrouve pas dans Rome ou dans ma cour. / Allez: cet ordre importe au salut de l'Empire." ("Zum letzten Mal: Er soll fort, er muß gehn; / Ich will es, ich befehl's. Und daß des Tages Ende / Ihn nicht mehr hier in Rom oder an meinem Hofe sieht! / Geht: dieser Befehl trägt bei zum Heile des Reichs. " [II/l, Vv. 368-371])
Nero selbst sagt hier seinen, mit drei Wiederholungen figurierten, Befehl wieder (qu'il s'eloigne, qu'il parte; je le veux, je l'ordonne; dans Rome ou dans ma cour). Der erste Befehl, d.h. hier: die erste Äußerung, der Entschluß, bleibt im Kabinett des Souveräns verborgen. (2) Der Befehl zum Mord an Britannicus kommt im vierten Akt zur Sprache. Narcisse meldet Nero, seinem Auftrag gemäß Gift beschafft zu haben (IV/4, Vv. 1392 f.). Nero hat diesen Auftrag auf der Bühne nicht gegeben, man muß ihn ans Ende des dritten oder zwischen den dritten und den vierten Akt setzen. Nero zieht den Mordbefehl zunächst zurück und beendet das Gespräch offen (IV/4, Vv. 1398 und 1480). Im fünften Akt wird die Exekution des abermals nicht auf der Bühne erteilten erneuerten Befehls berichtet; der Widerruf des Widerrufs fallt in die Zeit zwischen viertem und fünftem Akt. Der erste und zweimal gegebene Befehl bleibt ungesagt,45 geheim im Sinn des politischen arcanum46 und zugleich im Sinn des familialen Positionenspiels.47 Das unmittelbar sichtbare Theater des befohlenen Spiels und der gespielten Befehle entfaltet sich zeitlich zwischen dem ersten und zweiten zu rekonstruierenden Moment des ungesagten souveränen Befehls. Der souveräne Befehl gehört aber in den Bereich der mittelbaren, wiedergesagten Reden. Als erster Befehl ist er zuletzt selbst das, staatsrechtliche und zugleich familiale, Geheimnis, auf das die Zeremonie des Wiedersagens, die Administration des Befehlens, wie ein äußerer Kultus verweist. Monströs ist Neros Körper am Platz des administrativen Königs, weil dessen Platz vielleicht auch und gerade dann leer ist, wenn er ihn eingenommen hat. 3. Das barocke Opernlibretto Busenellos macht den souveränen Befehl selber hörbar in der Figur vom Wiedergewinnen des Atems. In Racines klassischem Drama verschwindet der souveräne Akt in der zeremoniellen Dramatik des Wiedersagens. Lohensteins Trauerspiel Agrippina - 'barocke Ästhetik im klassischen Rahmen' 48 -
45 Vgl. Ingrid Heyndels-Birman, "Le non-dit dans Britannicus", in: Revue des langues vivantes 43 (1977), S. 160-171. 46 Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, daß im revidierten Text des Britannicus zwei Stellen ausfallen, die jeweils eine ständige Präsenz des Informanten und Doppelagenten Narcisse bei Nero nachhaltig betonten. Das ist einmal die ursprüngliche Szene HI/1, dann die Variante in V/1 für V. 1535 (Racine, Œuvres, Bd. II, S. 328). 47 Unzweifelhaft psychologisch verwendet Nero das Wort secret im Hinblick auf sein Verhältnis zur Mutter, wo er seine Unfähigkeit zum Befehlen in Gegenwart der Mutter beklagt ("Soit qu'à tant de bienfaits ma mémoire fidèle / Lui [se. Agrippine] soumette en secret tout ce que je tiens d'elle" [II/2, Vv. 505 f.]). 48 So über Lohensteins theatralische Technik im allgemeinen: Pierre Béhar, Silesia Tragica. Epanouissement et fin de l'école dramatique silésienne dans l'œuvre tragique de Daniel Casper von Lohenstein (1635-1683), 2 Bde., Wiesbaden 1988; hier Bd. 1, S. 225. - S. hier auch zur Datierung und den Quellen und Vorbildern der Agrippina.
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realisiert keine dritte eigene Form; es zeigt, in einer Art Verbindung der Extreme, das Paradox des Souveränitätsschauspiels. Einerseits wird Neros Handeln in den beiden entscheidenden Strängen des Trauerspiels an die Frage der Souveränität geknüpft: Am Ende der 1. Szene kommentiert Nero seinen Entschluß, Octavia zugunsten Poppeas zu verstoßen: "Nun! Nero mag sich nicht mehr mit der Gramen kwälen / wil Weibern / die zeither geherrscht / itzt selbst befehlen." (I, 155 f.)49 Am Ende der zweiten Szene gibt er Befehl, die Mutter zu töten, nachdem man berichtet hat, daß Agrippina "Auf strenge Rache sinnt: Daß Nero selber Fürst / Und nicht ihr Knecht mehr ist" (I, 178 f.). Die beiden mit dem Motiv der Autokratie besetzten Entscheidungsaugenblicke sind allerdings kausal oder strategisch kaum verbunden (während bei Busenello Poppea den Tod Senecas zur Vertragsbedingung macht; und bei Racine der Mord an Britannicus ein Zug im Spiel Neros gegen die Mutter ist). Vor allem stellt diese frühe Krisis ihren fundamentalen Charakter eher in Frage. Gerade das prägt aber die Agrippina: Souveränität ist zwar der äußerste Einsatz im Spiel, aber trotzdem kann er in verschiedenen Zusammenhängen und immer wieder auf dem Spiel stehen. Das Monstrum der Souveränität ist sowohl von Anfang an da wie auch in dauerndem Entstehen. Dreimal gibt Nero den Befehl, die Mutter zu töten, bis er im 5. Akt ihre Leiche besichtigt. Der Befehl zum Muttermord ist - juristisch und administrativ genau, wie man es vom poeta et syndicus50 Lohenstein erwarten darf - jeweils Billigung eines Vorschlags oder Rats: drei große deliberative Szenen führen, nach Länge, Formulierung und Intensität, die Klimax der Beratungen und souveränen Befehle vor: In der Szene 1/2 muß Nero informiert und aufgefordert werden, bis er sich zum Handeln entschließt. (Nero fordert in beinahe burlesker Weise zu gemeinschaftlichem Morden auf, wovon ihn Burrhus aber zurückhält; zustimmend befiehlt Nero: "Ich lobe deinen Schluß", I, V. 279.) In der Szene III/3 ist Nero gerade, auf Veranlassung Senecas und Burrhus', vor Agrippinas inzestuöser Umarmung in Sicherheit gebracht worden;51 er läßt sich von der Notwendigkeit sie zu töten erneut und jetzt unwiderruflich überzeugen; man legt Mordpläne vor, und mit seiner Billigung formuliert Nero den zweiten Befehl ("So seys!" III, V. 382). In der Szene IV/3 ist es schließlich Nero, der seine Berater informiert und zu Stellungnahmen auffordert, bis er einen Plan billigt (unüberhörbar für Spieler und Zuschauer im Schultheater übersetzt Lohenstein das placet der senatusconsulta, das die souveränen Befehlsformeln bis in die frühe Neuzeit geprägt hat: "Dein Vorschlag ist belibt", IV, V. 218).
49 Zitiert wird nach: Daniel Casper von Lohenstein, Agrippina, in: ders., Römische Trauerspiele, hrsg. v. Klaus Günther Just, Stuttgart 1955. 50 Siehe das informationsreiche 1. Kapitel in: Adalbert Wiehert, Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert. Daniel Casper von Lohenstein und sein Werk. Eine exemplarische Studie, Tübingen 1991. 51 Der vorsichtig-genaue psychoanalytische Kommentar: Reinhard Meyer-Kalkus, Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von 'Agrippina', Göttingen 1986, S. 253-276. Behars genetische Interpretation sieht Agrippina als von Nero verfolgte Märtyrerin, die zugleich, besonders in der Inzestszene, selbst verfolgende Despotin ist (Silesia Tragica, S. 184 f.).
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In der Verknüpfung von Inzest und souveränem Befehl im dritten Akt (und nur hier) ist das Trauerspiel dramatisches Spiel im Sinne der französischen Klassik. Es geht erotisch und politisch um Neros Unterwerfung. So verbinden sich die beiden mit dem Autokratiemotiv besetzten Stränge von Neros Handeln Poppea/Octavia und Agrippina gegenüber. Und so verbindet sich hier auch in der Steigerungsreihe der affektiv zufällige Anstoß zum Befehl (wie in 1/2) mit dem überlegten und entschiedenen Vollzug des Befehlsaktes (wie in IV/3). In der Terminologie der zeitgenössischen Poetik läßt sich das am kaiserlichen Befehl im besonderen Beobachtete allgemeiner sagen: Die zitierten Billigungsformeln leiten immer, in der Art performativer Ausdrücke, einen (je drei Verse einnehmenden, von Bekräftigungsformeln begleiteten) imperativischen Komplex ein. "Ich lobe deinen Schluß / mehr aber dein Vollbringen. Nebst dir soll Seneca stracks in ihr Zimmer dringen / ... [I, V. 279-281] So seys! ... Geh / ich vertraue dir den gantzen Anschlag an / ... [III, V. 382-384] Dein Vorschlag ist belibt. ... ... Geh führ ihn stracks herein [IV, V. 218-220]."
Das nennt die, für Lohenstein maßgebende, Poetik des Emanuele Tesauro 'Figuren des Affekts'. Figure patetiche werden in 'Redeformen' ausgedrückt, die weitgehend im Sinne Austinscher 'Sprechakte' aufgefaßt sind.52 Wirklich nennt Tesauro auch die Affektfigur und Redeform: imperium.s3 Affektfigur und Sprechakt, d.h. momenthafte, singuläre Abweichung und ruhiger Vollzug eines administrativen Handlungsmusters, hängen aneinander. So knüpfen in der Agrippina Inzest und zweiter Mordbefehl Affekt und Amt zusammen. Die poetologische Kategorie der Affektfigur 'Befehl' benennt diesen dramatischen Befund. Das führt bis ans Ende des Trauerspiels: Wenn Nero in IV/2 die Notwendigkeit zum Handeln früher als seine Berater kennt, verdankt er das der Traumerscheinung des Britannicus, seines ersten Opfers, die ihn - bevor in IV/4 die 'Nachrichter' von Agrippina kommen - vom Scheitern des zweiten Mordplans und seinem späteren Untergang in Kenntnis setzt. Das placet des dritten Befehls steht von vornherein in der doppelten Allegorese des Geschichtlichen aus Gedächtnis (an die erste Mordtat) und Prophetie (über den Untergang des Antichrist Nero). Der 5. Akt wird auf vielfaltige Weise die Thematik und die Techniken der memoria nun bezüglich der Ermordung Agrippinas fortführen. 54 So findet einerseits der Befehl des Muttermordes auf der 52 Das ist näher diskutiert in: Rüdiger Campe, "Pathos cum Figura. Frage: Sprechakt", MLN105 S. 472-493.
(1990),
53 Emanuele Tesauro, II Cannochiale Aristotelico (1670), Nachdruck hrsg. u. eingel. v. August Buck, Bad Homburg - Berlin - Zürich 1968; hier: S. 222 f. 54 Auf der Handlungsebene beginnen Agrippina selbst vor ihrem Tod (V/2) und Nero (V/3) noch an ihrer Leiche mit der Pflege der memoria. Vor allem aber ist das Selbstopfer des Mnester (!) an Agrippinas Grab (V/5) auf ihr Gedächtnis ("Ja / Ihr Gedächtnüs ist ins Buch der Zeit geschrieben." V, V. 493)
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Rüdiger Campe
Bühne statt, wie der zum 'Vatermord' bei Busenello; zugleich aber wird in diesem zuletzt aufgespannten Gedächtnis/Geschichts-Raum ein strukturell erster Tötungsbefehl ebenso verrätselt wie in Racines Britannicus. In der Agrippina ist es derselbe Befehl, der zugleich einmalig und wiederholt, zentral und zufallig, souveränitätsbegründend und bloß administrativ vollzogen ist. Gerade die allegorische Bühne ist darum der adäquate Sprach- und Schauraum des Souveränitätstheaters. Der Gesetzesbefehl setzt nach Hobbes voraus, daß im Namen einer Person gesprochen und die Rede an den Gehorsam von Subjekten gerichtet werden kann. Die Zeremonie und das Theater der Souveränität öffnen, nach der hier vorgetragenen These, diese in der Theorie vorausgesetzte Macht- und Kommunikationsordnung. Von der Zeremonie der Schenkung des Befehls aus heißt das: Der erste Befehl - der den Namen angibt und den Gehorsam verlangt - kann administrativ oder juristisch noch nicht den Akt vollziehen, der er sprachlich, figurativ im Sinne Tesauros, ist. In der rituellen Sequenz werden die Stellungen des Sprach- und besonders des Befehlsakts noch einmal und überhaupt erst markiert. Die vorgestellten theatralischen Lösungen zeigen den ersten Befehl in besonderen Wiederholungsanordnungen: augenblickshaft und ostentativ in der musikdramatischen Lösung des aus erotischer Affektion wiedergewonnenen Atems; als Verschwinden in der Handlung in den Wiederholungsreden des klassischen Theaters; und als affektive Figur und administrativer Akt zugleich auf der allegorischen Trauerspielbühne. Wenn man verallgemeinern darf: Wie ist die Beziehung zu denken zwischen dem ersten Befehl und den anderen, weiteren, ihn voraussetzenden Akten des Anordnens zwischen dem virtuellen Tötungsbefehl aus der bei Bodin besprochenen Zeremonie und den Worten des Königs, die sein Schwert sein werden; zwischen der theatralischen Rhetorik und der Sprechakttheorie? Hobbes hat im Leviathan eine Skizze adressierter Redeformen entworfen, die sich an die poetologische Frage bei Tesauro und Lohenstein anschließen läßt55: Hobbes grenzt den Akt der Beratung des Souveräns als sprachliche Aufforderungshandlung nach zwei Seiten hin ab. Einmal gegenüber dem Ermahnen oder Warnen: dieses ist affektiv und geschieht nicht im Namen der Wahrheit, es ist deliberative Rhetorik. Dann gegenüber dem Befehlen: der Befehl führt eine unbedingte, machtgestützte Bindung der Befolgung, den Gehorsam, mit sich, der Rat nicht. Die weder affektrhetorische noch unmittelbar machtgestützte Beratung ist, kann man sagen, die Kommunikation der Verwaltung und die verwaltete Kommunikation. In dieser
und ihre geschichtlich-richterliche Funktion ("Es hege noch ihr Geist in dieser Welt Gericht." V, V. 493) bezogen. Zoroasters Zauber (V/6) in der letzten Szene ist als der Versuch zu lesen, die memoria (im rhetorischen Sinne) selber zu beschwören. 55 Kap. 25 ("Vom Rat") wäre genauerhin im Zusammenhang mit De Homine Kap. 10 zu lesen, wo die Sprachfunktionen: Zählen, Belehren/Beraten und Befehlen unterschieden werden; andererseits mit Kap. 6 des Leviathan ("Von den innem Anfangen der willentlichen Bewegungen, die man gewöhnlich Leidenschaften nennt und den Ausdrücken, womit sie bezeichnet werden"), wo, ganz ähnlich wie bei Tesauro, performative und nichtperformative Sprechhandlungen als Affektausdrücke diskutiert werden, unter ihnen auch der Befehl (Hobbes, Leviathan, S. 47).
Der Befehl und die Rede des Souveräns
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Sphäre wird die Spannung zwischen Affektfigur und Sprechakt scheinbar zergangen sein. Der Kommunikation/Verwaltung wird man die Gewaltvermeidung, der die Befehlsgewalt gilt, als Leistung zurechnen. Bei Lohenstein spricht Neros Befehl, der auf Agrippinas inzestuösen Angriff antwortet, in der eingeschobenen Bekräftigung diesen Einsatz des souveränen Aktes aus. "So seys! Wir wolln den Tod ihr nicht mehr länger borgen. Geh" (III, Vv. 382 f.; Hervorhebung von mir, R.C.)
Die reale Virtualität der Zeremonie und die virtuelle Realität des Schauspiels führen beide, in Spiegelverkehrung, die Paradoxie der Gewalt der gewaltvermeidenden Befehlsgewalt und ihrer Verwaltungsakte auf. Sie fallen in keiner Repräsentation (und keiner Kommunikation), als der Auflösung der Paradoxie, zusammen.
II. Der Krieg der Institutionen
Wolf gang Pircher
Sprache und Körper des Krieges Befehl, Oberbefehl, Führerbefehl
Wo immer der Mensch als soziales Wesen erscheint, wird er vom Krieg "angesprochen". Weit entfernt, nur ein Ereignis stummer Gewalt zu sein, ist Krieg auch Rede. Selbst der Kampf zweier Kontrahenten wird eingeleitet durch "Sprechakte" wie Drohungen und Prahlereien1 und beendet vielleicht durch den Ausdruck des siegreichen Triumphes. Wie diese Rede die Ökonomie der körperlichen Kräfte stimulieren mag und insofern ein Supplement des Kampfes ist, so organisieren Reden jenes komplexere soziale Ereignis, das wir Krieg nennen. Nicht nur wird er "erklärt", was ein entsprechendes Verständnis beim Gegner auslösen soll, eine motivierende Rede geht dieser "Erklärung" voraus und begleitet das ganze Ereignis bis zu seinem Abschluß die Rede zur Ehre der Gefallenen markiert das (vorläufige) Ende. Aber eine ganz dem Krieg eigene Rede organisiert seine technischen Mittel: der Befehl. Das ist die "direkte" Rede par excellence. Sie formiert einen technischen Körper und lenkt ihn: den taktischen Körper.
Hypothetische Kriegsgeschichte Die fiktionalen Geschichtsschreibungen der Naturrechtstheorien setzen den Krieg in die Position der Ursprünglichkeit, er ist sozusagen "natürlicher" als die befriedete Sozietät. Rousseau formuliert dagegen einen Einwand, der gleichzeitig dem Krieg ein Motiv unterlegt. Im Diskurs über die Ungleichheit finden sich die bemerkenswerten Worte, welche eine namenlose Geschichtszeit charakterisieren, die allerdings schon von einem soweit zivilisierten Menschen bevölkert wird, der Eigentumskriege kennt: "Zwischen dem Recht des Stärkeren und dem Recht des ersten Besitznehmers erhob sich ein fortwährender Konflikt, der nur mit Kämpfen und Mord und Totschlag endete. Die entstehende Gesellschaft machte dem entsetzlichsten Kriegszustande Platz."2 Rousseau, der ja die Wolfsformel von Hobbes für den Naturzustand bestreitet, reserviert sie gleichwohl für die erste Zivilisation: der Mensch ist erst hier des Menschen Wolf. Aber es gibt, wie wir gesehen haben, schon zwei Wölfe: den der Kraft und den des Rechts. 1
"Schon kommen sie vom Schimpfen, Schrein und Schmähen zum Schwerterziehn", heißt es bei Ariost, Der rasende Roland, München 1987, S. 655.
2
Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, übersetzt von Heinrich Meier, Paderborn 1984, S. 211 f.
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Ein Kräftemessen in diesem Kriege also, in dem der Stärkere zu seinem Recht weiter nichts braucht als seine Stärke, während der Besitzer ein Recht nur über die Anerkennung der anderen erfahren kann. Rousseau fährt fort in hypothetischer Weise Erwägungen über die mutmaßlichen Erwägungen der reichen Besitzenden dieser namenlosen Geschichtszeit anzustellen. Er meint, "die Reichen müssen bald gespürt haben, wie unvorteilhaft ihnen ein fortwährender Krieg war, bei dem sie allein die Kosten trugen und in dem das Risiko des Lebens allen gemeinsam war, während das Risiko der Güter einzig bei ihnen lag."3 Was die Reichen nun ausdenken oder was Rousseau ihnen hypothetisch unterstellt, ist die Politik als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Denn die ursprüngliche Gewalt der Besitznahme, Grund und Ursprung der Ungleichheit, wird von ihnen nicht aufgehoben, sondern sie "ersinnen den durchdachtesten Plan, der dem menschlichen Geist jemals eingefallen ist" . 4 Sie sagten zu den anderen: "Laßt uns Vorschriften der Gerechtigkeit und des Friedens aufstellen, ... laßt uns unsere Kräfte, statt sie gegen uns selbst zu richten, zu einer höchsten Gewalt zusammenfassen, die uns nach weisen Gesetzen regiert, alle Mitglieder der Assoziation beschützt und verteidigt, die gemeinsamen Feinde abwehrt und uns in einer ewigen Eintracht erhält."5 Was bei Hobbes aus Furcht vor dem Tode entstanden ist, der Gewaltmonopolist Leviathan, die Souveränität, der hinfort allein das Recht des Krieges zustehen soll, das ist im folgenden Jahrhundert ein Trick der Reichen, enstpringt also ökonomischen Motiven. Wobei das Motiv der Erhaltung des Besitzes gekoppelt ist an eine Strategie der Kräfte, ein Kalkül, eine Ökonomie der Kräfte, sie nämlich vom Destruktiven ins Produktive zu wenden, das macht den Kern des ideologisch gedachten Argumentes aus. Was die Menschen in dieser großen Gesellschaftsökonomie letztendlich nur tauschen, ist fortwährender Kriegszustand gegen fortwährende Verknechtung und Unterdrückung. Vom Bürgerkrieg zum Klassenkampf. Kant, ohne Zweifel ein aufmerksamer Leser Rousseaus, der ihn schließlich zurecht brachte, hat in einer kleinen Schrift sich den Spaß einer Antwort geleistet. Ein Spaß ist diese Schrift deswegen, weil sie nach einer vorsichtigen Erwägung über das Mutmaßliche einer Geschichtsschreibung just auf das Buch Mose der Bibel sich stützt, und Mutmaßungen über die tatsächlichen Beweggründe der Einrichtungen des Paradieses anstellt. Was Rousseau also benutzt, um eine andere als die biblische Schöpfungsgeschichte zu erzählen und zu konstruieren, das wendet Kant wieder auf die Bibel zurück. Ebenso hypothetisch, mutmaßlich eben, läßt sich die biblische Schöpfungsgeschichte selbst darstellen. So hätten im Paradies zunächst nur zwei Menschen, ein Paar, Platz gefunden, damit die Art fortgepflanzt würde, aber es durfte auch nur ein einziges Paar sein, "damit nicht sofort der Krieg entspringe, wenn die Menschen einander nahe und doch einander fremd wären, oder auch damit die Natur nicht beschuldigt werde, sie habe durch die Verschiedenheit der Abstammung es an der schicklichsten Veranstaltung zur Geselligkeit, als dem größten Zwecke der menschlichen
3
Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, S. 213.
4
Ebd., S. 215.
5
Ebd., S. 217.
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Bestimmung fehlen lassen".6 In diesen mutmaßlichen Garten, unter einem mutmaßlich jederzeit milden Himmelsstriche, setzt Kant nur ein Paar, das er aber schon mit einigen Fertigkeiten ausgestattet denkt, "denn es könnten der Mutmaßungen für den Leser leicht zu viel, der Wahrscheinlichkeiten aber zu wenig werden, wenn ich diese Lücke, die vermutlich einen großen Zeitraum begreift, auszufüllen unternehmen wollte".7 Was er sich so zu erklären oder zu mutmaßen erspart, ist, wie die Menschen stehen und gehen, "reden, d.i. nach zusammenhängenden Begriffen sprechen, mithin denken"8 gelernt haben. Die von Rousseau oft angesprochene lange Zeit, die es dauern würde bis sich der Mensch in seinen elementaren Fähigkeiten entwickelt, ist hier auf eine Lücke, die einfach übersprungen wird, reduziert. Der letzte Akt der Menschwerdung, d.i. die Verneinung des Animalischen ist eigenartiger Weise als Satz formuliert: "Das erstemal, daß er zum Schafe sagte: der Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben, ihm ihn abzog, und sich selbst anlegte".9 Kurz gesagt, ist es also eine textile Revolution, die den Menschen bedeckt und das Tier entblößt, indem es sich als Mittel seiner Zwecke entdeckt, ein "Anspruch" ist damit gesetzt, wohl ohne Verständnis. Damit ist aber der Mensch aus dem Paradies herausgetreten, der Ursprung der Ungleichheit liegt in dieser Herabminderung der Tiere zum Mittel, worin sich aber gleichzeitig die Menschen in unbeschränkter Gleichheit erkennen. Der Schritt aus dem Paradies ist der Schritt aus dem Zeitabschnitt der Gemächlichkeit und des Friedens in den der Arbeit und der Zwietracht. Mit der Gesellschaftsgeschichte, die Kant nun nach dem Beispiel der Bibel hypothetisch rekonstruiert, entsteht ein spezifisches Zusammenspiel von Ökonomie und Krieg, letzterer insbesondere zwischen den nomadischen Hirtenvölkern und den Städtebewohnern und Ackerleuten (Kain und Abel), und dieser Krieg ist kontinuierlich, wenigstens herrscht unaufhörliche Kriegsgefahr. Hier nun macht Kant eine erstaunliche Anmerkung: "beiderseitige Völker konnten daher im Inneren wenigstens des unschätzbaren Guts der Freiheit froh werden - (denn Kriegsgefahr ist auch noch jetzt das einzige, was den Despotismus mäßigt; weil Reichtum dazu erfordert wird, daß ein Staat jetzt eine Macht sei, ohne Freiheit aber keine Betriebsamkeit, die Reichtum hervorbringen könnte, statt findet.)"10 Zwar betrachtet Kant - der ja schließlich auch eine Schrift zum ewigen Frieden verfaßt hatte - den Krieg als das größte Übel, vor allem die dauernden Zurüstungen, weil sie so viele ökonomische Ressourcen verschlingen, aber die Kriegsfurcht ist ihm im Namen der Freiheit teuer, denn sie nötigt "selbst den Oberhäuptern der Staaten diese Achtung für die Menschheit" ab, die in China z.B. weil es durch seine Mauer von allen Angriffen geschützt sei, nicht bestehe, daher sei
6
Immanuel Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, 6, Darmstadt 1975, S. 86.
7
Ebd.
8
Ebd., S. 87.
9
Ebd., S. 91.
10 Ebd., S. 98.
in: ders., Werke (Weischedel), Bd.
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dort "alle Spur von Freiheit vertilgt".11 Und so lesen wir den doch irgendwie resignativen Satz: "Auf der Stufe der Kultur also, worauf das menschliche Geschlecht noch steht, ist der Krieg ein unentbehrliches Mittel, diese noch weiter zu bringen; und nur nach einer (Gott weiß wann) vollendeten Kultur würde ein immerwährender Friede für uns heilsam und auch durch jene allein möglich sein."12 Das 20. Jahrhundert scheint bestrebt gewesen zu sein, die Wahrheit dieses Gedankens in vielen Beispielen zu erweisen.
Der Befehl - Ein Zug im Sprachspiel Aller Krieg, d.h. die in irgendeiner Form organisierten Kampfhandlungen, basiert auf einer sprachlichen Elementarform, dem Befehl. Der Befehlssatz hat keine isolierte Existenz, immer schon setzt er ein System von Sätzen voraus, welches sich in einer Vertikale gleichwertiger Befehle und in einer Horizontale hierarchisch gefügter Befehle organisiert. Diese beiden Achsen verbinden etwa den engeren militärischen Befehl mit dem politischen System. Als Satz ist der Befehl ein sozialer Akt par excellence, denn er wendet sich immer an einen anderen. Zwar kann man daran denken, sich selbst einen Befehl zu geben, aber das hat eher den Charakter einer Absichtserklärung, was man zu tun gedenkt und woran man - aus Schwäche des Willens - zweifelt, daher sucht man die - in diesem Fall fiktive - Unterstützung in der Form des Befehls. Aber sowenig man sich selbst kaufen, schenken oder gar sich wegnehmen kann, sowenig kann man sich etwas befehlen. Das hat unmittelbar philosophische Konsequenzen, die Wittgenstein behandelt hat: man muß nach den Wirkungen fragen, die ein Befehl zu erreichen versucht, nämlich Handlungen des anderen. Diese Handlungen sollen keine Sprachhandlungen sein, z.B. eine Frage oder eine Widerrede, sondern eine nicht-diskursive Handlung. Das wirft die Frage auf, ob diese Handlung ein "Beweis" für das richtige Verstehen des Befehlssatzes sein kann. Wenn wir dies annehmen, so fordert das die Übereinstimmung in der Erwartung des Befehlenden mit der Handlung dessen, dem befohlen wurde. Die Handlung wird also antizipiert im Befehl. Damit wäre der Befehl eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Im Unterschied zur Handlung die wir selbst ausführen, wendet sich der Befehl an einen anderen, der in unserer Erwartung repräsentiert werden muß: als jemand, dem befohlen werden kann, der auch fähig ist, den Befehl auszuführen, was eben voraussetzt, daß er imstande ist, ihn zu verstehen. All dieses findet eine Korrespondenz in einer Selbstgewißheit des Befehlenden, dies nämlich sein zu können, was heißt mit einer großen Chance zur Durchsetzung des Befehles ausgestattet zu sein. Aufgerufen ist also eine soziale Positionierung von Sender und Empfanger des Satzes. Wittgenstein ist bestrebt zu zeigen, daß "hinter" der Sprache nichts ist, was unser Verständnis befördern könnte, trotzdem aber scheint es, als ob im Befehl ein Schatten der Ausführung läge und zwar für einen bestimmten Befehl. Überhaupt zeichnet den 11 Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, S. 99. 12 Ebd., S. 99 f.
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Befehl ein Mangel aus, er braucht ein notwendiges Supplement, denn der Wunsch des Befehls bleibt unausgedrückt. Und in diesem Nichtausdruck liegt die magische Wirkung,13 die die Kluft zwischen Befehl und Befolgung überbrückt, was heißt, dieser Abstand ist überhaupt die Bedingung der Verweigerung. Diese Überbrückung scheint immer schon geschehen, wiewohl sie produziert ist. Man kann dazu die Erinnerung an frühere Verkettungen von Befehl und Handlung heranziehen und in dieser Verschiebung die getane Arbeit des Gedächtnis-Machens der Disziplin sehen. Der Befehl referiert immer auf ein derartiges Gedächtnis, das ist seine Stütze im Register der korrespondierenden Handlungen. Der Schatten also, den er vorauswirft, kommt aus seinem Rücken. Um einer Tendenz des Befehlssystems Rechnung zu tragen, verweist Wittgenstein auf ein psychisches Maschinenmodell: "Man kann natürlich die Sprache als einen Teil eines psychologischen Mechanismus betrachten. Am einfachsten ist das, wenn man den Sprachbegriff so einschränkt, daß die Sprache aus Befehlen besteht. ... Man kann sich denken, daß ein Mensch die Sprache erfindet; daß er die Erfindung macht, andere menschliche Wesen statt seiner arbeiten zu lassen indem er sie durch Strafe und Belohnung abrichtet, auf Zurufe hin gewisse Tätigkeiten zu verrichten. Diese Erfindung wäre analog der Erfindung einer Maschine."14 Damit wäre besagte Überbrückung dadurch bewerkstelligt, daß der Befehl schon als Signal auftritt, welches einen Mechanismus in Bewegung setzt. Was die "Befehlsmaschine" tatsächlich mittels des Gedächtnisses der Disziplin herzustellen versucht, ist die Diskriminierung des Zeichencharakters zugunsten des Signalcharakters des Befehls. Sowohl die Syntax des Befehls wie die Sprachmodulation des Befehlenden suchen dies zu unterstützen. Die "Befehlsmaschine" als Ensemble disziplinierender Übungen negiert die Sprachlichkeit des Befehls, fuhrt sie auf ein Minimum zurück und damit ebenfalls alles "Verständnis". Dies dient der möglichst engen Verbindung von Befehl und ausführender Handlung, denn der Befehl kann sein Verständnis nicht befehlen. Darum auch ist er keine performative Aussage, eben weil die Aussage selbst keine Handlung ist.15 In gewisser Weise versucht der Gewalteinsatz,
13 Vgl. Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, übersetzt aus dem Französischen von Hella Beister, Wien 1990, S. 51 f.: "Und das Gewicht der jeweiligen Akteure hängt von ihrem symbolischen Kapital ab, das heißt von der - institutionalisierten oder nichtinstitutionalisierten - Anerkennung durch eine soziale Gruppe: die symbolische Machtausübung, diese gewissermaßen magische Wirkung, auf die es der Befehl oder die Parole, aber auch der rituelle Diskurs oder die schlichte Anordnung oder gar Drohung oder Beleidigung anlegen, kann nur unter sozialen Bedingungen erfolgen, die der eigentlichen sprachlichen Logik des Diskurses ganz äußerlich sind. ... Austins Untersuchung performativer Aussagen kann innerhalb der Grenzen der Sprachwissenschaft zu keinem Schluß kommen. Die magische Wirkung dieser Setzungsakte ist nicht von der Existenz einer Institution zu trennen, die die Bedingungen (für Akteure, Orte, Zeitpunkte usw.) bestimmt, die erfüllt sein müssen, damit die Magie der Worte wirken kann. Wie die von Austin untersuchten Beispiele zeigen, sind diese 'Bedingungen des Glückens' soziale Bedingungen, und wer mit Erfolg die Taufe eines Schiffs oder einer Person vollziehen will, muß dazu befugt sind, geradeso wie man zum Befehlen die anerkannte Autorität über die Befehlsempfänger braucht." 14 Ludwig Wittgenstein, Philosophische
Grammatik,
Frankfurt/Main 1973, S. 187.
15 "Der Unterschied ergibt sich aus folgendem: der Imperativ ruft ein Verhalten hervor, aber die performative Aussage ist die Handlung selbst, die sie benennt und die ihren Ausführenden benennt."
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welcher den militärischen (und auch den ökonomischen) Befehl abstützt und umrahmt, Aussage und Handlung möglichst kurzzuschließen. Die Überbrückung der zwei Register wird also durch die Intervention der sozialen Gewalt geleistet. Diese denkt man sich in extremer Zuspitzung als den Befehl des Tyrannen.
Der Befehl und sein Körper Der Befehl markiert die Geburt des diszipliniert kämpfenden Soldaten. Dieser ist in eine Ordnung gestellt, die aus den individuellen Körpern ein Ensemble, einen neuen Gesamtkörper formiert. Erst dieser Körper "hört" auf den Befehl, wie er immer wieder vom Befehl hergestellt wird. Hier konzentriert sich ein Wissen der produktiven Ordnung. Die Disziplin, als organisatorischer Ausdruck des Befehls, hat nicht nur diesen Körper herzustellen, sondern sie hat ihn auch leistungsfähig zu machen. John Keegan hat versucht, am Beispiel dreier Schlachten durch das Material der Beschreibungen hindurch den Körper des Soldaten erscheinen zu lassen. Immer wieder sieht er sich der Frage gegenüber, wie die Bedingungen erfüllt werden konnten, daß eine große Anzahl Männer sich dem Risiko des Todes aussetzt, indem sie versuchen, andere zu töten und zwar nach bestimmten Regeln. Wie man zeigen kann, verlangt das zentrale Ereignis des Krieges, die Schlacht, die Bereitschaft beider Seiten und das heißt, sich dem anderen als Opfer darbieten, um dadurch in die Gelegenheit zu kommen, ihn zu töten. Ohne dieses Anbot des eigenen Körpers gibt es keine Schlacht, es muß also ein Schauplatz gefunden werden, auf dem dieses wechselseitige Präsentieren stattfinden kann, das "Kriegstheater". Das ist für den Soldaten eine Bühne, die ihm nur einen Ausweg offenläßt: die Richtung des Feindes.16 Die Frage der Produktivität wird traditionell als Frage nach dem "Gefechtswert" oder der "Kampfkraft" gestellt. Man kann sie umrißhaft beantworten, indem man die Formierung des "taktischen Körpers" beschreibt, welcher der des tatsächlichen Gefechtes ist. Er stellt das materielle Substrat des Befehls dar, der Befehl bringt ihn in seine Figur, während die besondere Figur wiederum zum Garanten der Effektivität des Befehles wird. Auf die Frage, was die Körper in den Kampf zwingt, was sie ihre Selbsterhaltung aufs Spiel setzen läßt und was sie im Kampf über andere überlegen macht, läßt sich keine anthropologische Antwort geben, die solcherart versucht, einem "Wesen" des Krieges auf die Spur zu kommen. Eine hypothetische Geschichte des Befehls und seines Körpers wird den geschichtlichen Einschnitt privilegieren, der durch die Bildung des taktischen Körpers markiert wird. Wenn es auch militärische Formationen schon lange gegeben hat, so schaffen die Griechen in der Hoplitenphalanx doch eine besonders erfolgreiche Gestalt des taktischen Körpers. Eine sehr allgemeine Vorstellung davon gibt Demaratos dem persischen König
(Émile Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, S. 306 f.) 16 John Keegan, Das Antlitz des Krieges. Die Schlachten von Azincourt 1415, Waterloo 1815 und an der Somme 1916, Frankfurt/Main - New York 1991.
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Xerxes: "Und so sind auch die Lakedaimonier, wenn sie einzeln fechten, so tapfer wie andere, zusammen aber die Tapfersten von allen. Sie sind zwar frei, aber doch nicht in jeder Beziehung; denn sie haben auch einen Herrn über sich, das Gesetz, vor dem sie sich noch mehr furchten als deine Untertanen vor dir. Was das Gesetz befiehlt, tun sie unbedingt; es befiehlt aber stets das gleiche: in der Schlacht auch vor der größten Übermacht nicht zu fliehen, sondern standzuhalten und zu siegen oder zu sterben."17 Was hier von den Spartanern gesagt wird, gilt von allen Griechen: im Unterschied zu den Persern werden sie nicht von einem Despoten regiert, sondern sie unterwerfen sich dem von ihnen selbst geschaffenen Gesetz, und jene Institution die das Gesetz hervorbringt, die polis, verfügt auch über eine wirkungsvolle militärische Macht. Die Produktivität einer gefügten Ordnung ist auch Gegenstand der Überlegungen von Xenophon. In seinem Oikonomikos finden sie sich nicht zufällig am Schnittpunkt von Krieg und Ökonomie: Xenophon, selbst Soldat im Strategenrang, führt uns in diesem sokratischen Dialog über die Hauswirtschaft eine produktive Ordnung in strikter Analogie zur Organisation des taktischen Körpers vor. Produktivität meint in beiden Fällen die Ausrichtung der verfügbaren Kräfte und eine analytische Voraussicht, die nur dem Kalkül der Effektivität folgt. Auf die allereinfachste Formel gebracht: disziplinierte Einheiten "zivilisierter" Soldaten schlagen immer undisziplinierte Einheiten von Barbaren.18 Zivilisiert meint hier so etwas Elementares wie die Unterdrückung des Fluchtinstinktes, aber auch ein organisatorisches Produktivitätssurplus, das mit der Abhängigkeit vom Ensemble erkauft wird. Die kämpferischen Möglichkeiten des einzelnen Soldaten reduzieren sich in dem Maß wie die Kräfte des taktischen Körpers wachsen. Gleichzeitig erhöht sich die Abhängigkeit des individuellen Soldaten von den Aktionen der anderen. In der Hoplitenphalanx ist es nicht nur notwendig, daß der einzelne Soldat eine Beherrschung des Selbst erreicht, welche ihn gegen die Anfechtungen Pans wappnet, er muß auch im vollen Vertrauen auf seine Nebenleute kämpfen. Es ist Prinzip der Phalanx, daß der Soldat vom Schild seines linken Nebenmannes gedeckt wird. Alle wissen, daß die Panik eines einzelnen alle in den Untergang treiben kann und jeder einzelne weiß daher, wie er gegenüber allen, und das heißt auch gegenüber dem politischen Verband der polis, verantwortlich ist.19 17 Herodot, Das Geschichtswerk, übersetzt aus dem Griechischen von Theodor Braun, Bd. 2, Berlin Weimar 1985, S. 167 (7, 104). 18 Diese Behauptung stammt von Ardent du Picq, Battie Studies, New York 1921, und wird von Keegan, Das Antlitz des Krieges, S. 79 zitiert. Davon ausgehend kommt du Picq "zu einer erhellenderen Wahrheit über die Natur der Schlacht: daß die größten Gefallenenzahlen beim Davonlaufen entstehen, denn wenn der Soldat dem Feind den Rücken zukehrt, kann er sich am wenigsten verteidigen. Und weil sie die Gefahr der Flucht bewußt einkalkulieren, sind zivilisierte Soldaten so furchtbar, so behauptet er. Hinzu kommt die Disziplin. Und unter Disziplin versteht er nicht das Funktionieren eines abstrakten Prinzips, sondern das Vorbild und die Strafandrohung seitens der Offiziere einer organisierten Streitmacht. Kurz gesagt: Menschen kämpfen aus Angst, Angst vor den Folgen des Nichtkämpfens (Bestrafung) und dann des Nicht-gut-Kämpfens (Abgeschlachtetwerden)." (Ebd., S. 80) 19 Hinsichtlich der Bedeutung des Krieges für die griechische polis vgl. K. Kendrick Pritchett, Greek State at War, Berkeley - Los Angeles - London 1971-1985. Ihm verdanken wir auch eine gute Darstellung dessen, was bei Marathon wirklich geschah.
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Hans Delbrück, von dem ich den Begriff des "taktischen Körpers" übernommen habe, hat die Hoplitenphalanx so beschrieben: "Die Hauptmasse eines griechischen Heeres zur Zeit der Perserkriege bestand aus gepanzertem Fußvolk mit einer etwa zwei Meter langen Stoßlanze, den Hopliten. Die Schutzwaffen sind Helm, Harnisch, Beinschienen, Schild; ein kurzes Schwert ist Hilfswaffe. Die Hopliten bilden einen festgeschlossenen taktischen Körper, die Phalanx. Die Phalanx ist eine ununterbrochene, mehrgliedrige Linear-Aufstellung. ... Die Hopliten-Phalanx ist die natürliche taktische Form für ein kriegerisches Bürger-Aufgebot. Was von dem Einzelnen verlangt wird, ist sehr einfach und bedarf nur geringer Übung. Der Mann lernt sich in schweren Rüstungen zu bewegen, den Spieß zu führen, Vordermann und Richtung zu halten. Das Ganze bildet einen einzigen geschlossenen Körper, der geradeaus marschiert und kurz vor dem Feinde den Anlauf zur Attacke macht".20 Dieser taktische Körper wird von jenen gebildet, die als Bürger der polis sich für den Krieg entschieden haben und die für den Feldzug sich Strategen wählen. Dieser taktische Körper war Resultat einer tiefgreifenden politischen Veränderung zu Beginn des 7. vorchristlichen Jahrhunderts, wobei das Privileg der Bewaffnung von der Aristokratie auf den Hauptteil der freien Bevölkerung der Stadtgemeinde überging. "Die Ebene und ihre Kornfelder sind Schauplatz des Kampfes; seine Wahl erfolgt in Übereinkunft zwischen den beiden Parteien. In allen Fällen bis zu Epaminondas im Jahre 371 v. Chr. (Leuktra) sind die Elitetruppen auf dem rechten Flügel konzentriert. Die Schlacht ist der Zusammenprall der zwei Fronten, danach errichtet der Sieger, der nicht etwa die Verfolgung aufnimmt, eine Trophäe mit den vom Feind erbeuteten Waffen. Selbst der Kampf gegen die Perser verläuft zum Teil nach diesen Konventionen. Die Solidarität der Krieger in der Schlachtreihe, die Deckung eines jeden durch das Schild seines Nebenmannes, ist das Abbild der Solidarität in der polis."21 Der Feldherr, der Stratege, bestimmt die Breite der Front, wonach sich die Tiefe der Phalanx bestimmt, wie auch die Aufstellung des Heeres (Zentrum und die beiden Flügel), welche allerdings weitgehend festgelegten Regeln zu folgen hat. In den Ablauf der Schlacht kann er kaum mehr eingreifen, aus seiner Perspektive ähnelt die Phalanx einem abgeschossenen Projektil, das auf die gegnerische Phalanx trifft und entweder die Kraft hat, deren Frontlinie zu durchstoßen, oder selbst als zu schwach dafür Gefahr läuft durchstoßen zu werden. Alles ist auf diesen Zusammenprall ausgerichtet, alle weiteren Bewegungen folgen ihm nach: entweder gelingt der Durchbruch durch die gegnerische Frontlinie oder die Umfassung, beides ist für eine Phalanx, die an den Seiten und im Rücken ziemlich wehrlos ist, prekär. Wenn dieses nicht gelingt, so setzt nach dem Zusammenprall ein heftiges Geschiebe und Gedränge ein, wonach die vorderen zwei Reihen, die zunächst den Aufprall aushalten müssen, von den hinteren Reihen geradezu in den Gegner geschoben werden. Das heißt, sie werden den gegnerischen Lanzen entgegengeschoben. Und dann mag es sein, daß ihnen "die Lanzenspitzen vor den Augen flimmern" (Euripides). Im Theater wurde die Hilflosigkeit des Hopliten, dessen
20 Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Alterthum, Berlin 1900, S. 25 u. S. 91.
Geschichte.
Erster Theil: Das
21 Pierre Vidal-Naquet, Der schwarze Jäger, Frankfurt/Main - New York 1989, S. 25.
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Lanze zerbrach, geradezu sprichwörtlich, obwohl er noch über das Schwert als Hilfsund Nahkampfwaffe verfügte. Der Hoplit war Sklave seiner Waffen. 22 Die starke wechselseitige Abhängigkeit der Bürgersoldaten voneinander führte naturgemäß zu Steigerungsphantasien über die Kraft des taktischen Körpers. Piaton führt eine an: "Fände sich nur ein mögliches Mittel, einen Staat oder ein Heer aus lauter Liebhabern und Geliebten zu bilden, so könnte es gar kein besser gestaltetes Gemeinwesen geben als das ihrige, denn alles Schimpfliche wäre ausgeschlossen und all ihr Wetteifer wäre auf die Ehre gerichtet, und in solcher Gesinnung Seite an Seite in den Kampf ziehend, würden sie auch bei geringer Zahl doch sozusagen über die ganze Welt siegen."23 Nicht nur übernahm offensichtlich die Tugend substituierende Funktionen für die Disziplin und damit den Befehl, noch dazu wurde ihr eine enorme Steigerung der Kampfkraft aufgebürdet. In der hypothetischen Geschichte, die wir hier verfolgen, scheint allerdings die tatsächliche Entwicklung über die Ausbildung des Befehlssystems als Ausdruck der Verfeinerung militärischer Disziplin und nicht über die Ausprägung spezifischer Liebestugenden gelaufen zu sein. Die Römer bilden diesen taktischen Körper um, indem sie wichtige Veränderungen vornehmen. Die einfache Organisation der Phalanx wird umgeformt in einen komplexeren Körper, wobei die Kohorte den eigentlichen taktischen Körper bildet. Wohlexerzierte Berufssoldaten eines stehenden Heeres führen in der Abteilung einer Kohorte jede Bewegung aus und können jede Form annehmen, die befohlen wird. In Treffen gegliedert, wird aus der schwerfalligen Phalanx ein elastisches Ganzes. Delbrück faßt diese Umformung zusammen: "Die Römer haben die Phalanx erst mit Gelenken versehen, sie dann in Treffen getheilt, endlich in eine Vielheit kleiner taktischer Körper aufgelöst, die im Stande sind, bald zu einer kompakten undurchdringlichen Einheit zusammenzuschließen, bald mit vollendeter Schmiegsamkeit die Form zu wechseln, sich zu theilen, sich nach dieser oder jener Seite zu wenden." 24 Das römische Heer war sicher keine Armee der Liebenden, ganz im Gegenteil, sie war dem Imperium, dem allumfassenden Befehl unterworfen. Das Imperium bezeichnete eine im einzelnen nicht definierte Vollmacht der Magistrate und analog dazu die einer Feldgerichtsbarkeit. Die Befehlshaber konnten Strafen, auch Todesstrafen, auf der Stelle vollziehen lassen, was im Fall einer kollektiven Feigheit die decimatio einschloß, d.h. die Exekution jedes zehnten Soldaten einer Einheit. Nunmehr steht der Soldat sehr deutlich unter der doppelten Bedrohung durch den Feind und den Befehlshaber. Die Verflüssigung der griechischen Phalanx ermöglichte zugleich die Durchdringung mit Befehlsinstanzen. Der Befehlshaber verfügte nun über ein Offizierskorps, das nicht nur 22 J. K. Anderson, "Hoplite Weapons and Offensive Arms", in: Victor David Hanson (Hrsg.), Hoplites: The Classical Greek Battle Experience, London - New York 1991, S. 20. Der Herausgeber dieses Buches, welches übrigens John Keegan für The Face of Battle gewidmet ist, hat in einem eigenen Aufsatz ("Hoplite Technology in Phalanx Battie") die Abhängigkeit der Form der Waffen von der Kampfweise des taktischen Körpers der Phalanx zu zeigen versucht. Seine "Conclusion: A Technological, not a Tactical Reform" (S. 74), oder anders gesagt, "technology more often responds to, than creates, tactics" (S. 78). 23 Piaton, Gastmahl,
übersetzt von Otto Apelt, Leipzig 1926, S. 11 (178-179 St.).
24 Delbrück, Geschichte der Kriegskunst,
S. 380.
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die Disziplin aufrecht erhielt, sondern auch seine Befehle in der Schlacht selbst distribuieren konnte bzw. selbst zur eigenmächtigen Befehlsinstanz wurde. Eine zweite wichtige Reform der alten Phalanx wurde durch Marius um 109 v. Chr. durchgeführt, welche den Legionen selbst die Herstellung der Kommunikationswege aufbürdete, also den Ausbau der Infrastruktur in jenen Gebieten, die sie gerade erobert hatten. 25 Zum erstenmal kam damit die Infanterie einer ihrer wichtigsten Aufgaben nach: der dauernden Besetzung eines Territoriums. Nicht nur so weit der Befehl des Imperiums reichte, war das Reich ausgedehnt, der Befehl reichte eben so weit, wie die materielle Informationsstruktur ihn trug. Diese wiederum war Teil der "Legionärswirtschaft", welche die Herrschaft territorialisiert hat. 26 Der römische Staat, das war in erster Linie und hauptsächlich das Militär. Die staatlich gelenkte Wirtschaft war eine militärisch gelenkte Wirtschaft. 27 Die Herrschaftsausweitung und territoriale Sicherung des Imperiums wurde vom taktischen Körper selbst bzw. seiner administrativen Gestalt, der Legion, vorgenommen. Seit der Reform des Marius bauten die Soldaten ihre Befestigungen und Aufmarschwege selbst, die schwere Infanterie wurde von ihm in eine Einheit aus Kämpfern und Bauingenieuren umgewandelt. Eine solche Armee territorialisiert sich in jedem ihrer Schritte selbst. Damit aber verliert sie ihre Bindung an das politische Gemeinwesen, weil sie dessen Funktionen nun weitgehend selbst übernehmen kann. Das ist der Beginn einer von militärischen Möglichkeiten ausgehenden Politik, wie sie im Institut der Diktatur ihren typischen Ausdruck gefunden hat. Die "militärische Revolution" des 17. Jahrhunderts orientierte sich am römischen Beispiel: "Und ganz generell haben seit dem 17. Jahrhundert die römische militärische Praxis - Drill, Disziplin, Uniform - und die römischen militärischen Ideen - intellektuel-
25 Inwiefern die Kommunikationswege die Befehlsflüsse aufnahmen, die für das Imperium konstitutiv waren, zeigt Bernhard Siegert, "Der Untergang des römischen Reiches", in: Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt/Main 1991, S. 495-514. 26 Michael Mann, Geschichte der Macht, Zweiter Band: Vom Römischen Reich bis zum Vorabend der Industrialisierung, aus dem Englischen übersetzt von Hanne Herkommer, Frankfurt/Main - New York 1991, S. 39. Die römische Praktik der Macht nahm "die Form einer 'Legionärswirtschaft' an, deren logistische Infrastruktur eine militarisierte Ökonomie lieferte, die sich echter Territorialität anzunähern begann" (S. 42). Mann bezieht sich hier u.a. auf Edward N. Luttwak, The Grand Strategy of the Roman Empire. From the First Century A.D. to the Third, Baltimore - London 1976. Unter "The Tactical Organization of the Army" heißt es hier z.B.: "Each legion had engineering specialists in its headquarters, men who could survey a canal, design a circus, plan roads, and above all, build or demolish walls and fortifications. The troops must have been trained as skilled or semiskilled workers, and their personal kits included basic construction tools, notably a carefully designed multi-purpose pickaxe, the dolabra. ... The legions of the principate also included another 'heavy' element: organic artillery in the shape of stone-throwing ballistae and catapults that shot arrows or bolts. These weapon feature prominently in the recorded accounts of sieges, but were also used for fire-support in the field." (S. 40 f.) 27 Mann, Geschichte der Macht, S. 47.
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le Führung, automatische Tapferkeit, fragloser Gehorsam, Selbstverleugnung, Treue zur Einheit - eindeutig die europäische Soldatenwelt geprägt."28 Mit dem Einsatz von Handfeuerwaffen seit dem 16. Jahrhundert veränderte sich naturgemäß auch die Taktik des Kampfes. Im Gegensatz zur langwierigen Ausbildung von guten Bogenschützen, braucht es nur ein paar Tage und einen guten Ausbildungsoffizier, um aus einem beliebigen Soldaten einen guten Arkebusier zu machen. Die Einführung der Muskete ab 1550 warf durch die geringe Treffergenauigkeit und die niedrige Feuergeschwindigkeit Probleme für den taktischen Körper auf. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts konnte ein erfahrener Musketier alle zwei Minuten einen Schuß abgeben. "Bei einem Kavallerieangriff hieß das jedoch, daß er zwischen dem Zeitpunkt, an dem der Feind in Schußweite kam, und dem Beginn des Nahkampfes nur einmal schießen konnte."29 Die Erhöhung der Treffergenauigkeit durch gezogene Gewehrläufe war zwar möglich, verursachte aber noch längere Ladezeiten. Somit lag ein Ausweg in der Formierung eines auf diese Probleme abgestimmten taktischen Körpers, der aus mehreren Reihen von Musketieren bestand, und nachdem die erste Reihe ihr Salvenfeuer abgegeben hatte, trat sie zurück um zu laden, währenddessen gab die zweite Reihe ihre Salve ab, usw. Da man, wie Hegel bemerkte, ins "Allgemeine" schoß, war Salvenfeuer die geeignete Form, um eine Schockwirkung zu erzielen. Der Einfall des Salvenfeuers läßt sich genau datieren: am 8. Dezember 1594 beschreibt ihn Wilhelm Ludwig von Nassau in einem Brief an seinen Bruder Moritz und behauptet angelegentlich, ihn beim Studium der römischen Exerzierpraxis gehabt zu haben. Sechs Reihen Musketiere sollten ein Dauerfeuer unterhalten können. Der dazu nötige taktische Körper mußte in intensiver Exerzierarbeit erzeugt werden. Diese übte nicht nur bestimmte Bewegungsformen, wie den Contremarsch, ein, um den reibungslosen Wechsel der feuernden Linien sicherzustellen, sondern sie beinhaltete auch die analytische Zerlegung des Schießens selbst. Laden, Anlegen und Feuern wurden in einzelne Handgriffe zerlegt, die jeweils mit einem Befehlswort belegt wurden. Ein gut geübtes Regiment zur Zeit Gustav Adolfs wird so beschrieben: "Ein ganzes Regiment, diszipliniert wie dieses, ist wie ein Körper und eine Bewegung, die Ohren hören gleichmäßig auf das Kommando, die Augen wenden sich mit demselben Ruck, die Hände arbeiten wie eine Hand."30 Drei Funktionen - im Englischen mit drei C ausgedrückt - muß jeder Feldherr wahrnehmen, um tatsächlich Herr über das Schlachtfeld sein zu können: Command, Control, Communications. Mit dem Eindringen der Offiziere in den taktischen Körper werden die unmittelbar das Gefecht betreffenden Befehle von ihnen gegeben. Sie ordnen 28 Keegan, Das Antlitz des Krieges,
S. 71.
29 Geoffrey Parker, Die militärische Revolution. Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500-1800, aus dem Englischen übersetzt von Ute Mihr, Frankfurt/Main - New York 1990, S. 39. 30 Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Vierter Teil: Neuzeit, Berlin 1920, S. 201. Ebenso wichtig wie die Herstellung des maschinenartigen Schießens ist die enge Beziehung des taktischen Körpers zum Befehl. So bemerkt Delbrück zu den Neuerungen die Moritz von Oranien einführte: "Das Entscheidende ist in der neuen Aufstellung noch mehr als die Ordnung selbst die außerordentliche Beweglichkeit jedes einzelnen der neugebildeten kleinen taktischen Körper und die Sicherheit, mit der ihre Führer sie in der Hand hatten, selbst in allen Erregungen des Gefechts, und sie in Ordnung an den Fleck brachten, wo der Augenblick sie forderte." (S. 183)
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sich den strategischen Überlegungen des Feldherren unter, somit entsteht eine Hierarchie von Befehlen, die selbst wiederum in einem möglichst widerspruchsfrei gehaltenen System sich aufeinander beziehen sollen. Die wachsende Differenzierung des Heeres nach den verschiedenen Waffengattungen, die Reichweite und spezifische Einsatzmöglichkeit der Waffen, sowie die wachsende Operationsgeschwindigkeit und der sich ausdehnende Operationsraum stellen erhöhte Anforderungen an das Befehlssystem. Die Napoleonische Kriegführung ist wesentlich eine Revolution der Befehlsstruktur, ohne daß neuartige technische Mittel dafür eingesetzt worden wären. Die Heere der Französischen Revolution verstärkten eine Organisationsform, die schon den Römern Erfolg gebracht hatte, nämlich eine relative Selbständigkeit der taktischen Körper anzustreben. Der standardisierte römische Drill und ein effizientes System der taktischen Kommunikation auf der untersten Ebene haben es den unteren Offizieren nicht nur ermöglicht, einander zu unterstützen, sondern nutzten auch deren Initiative, was den taktischen Körper zweifellos produktiver machte. Die römische Disziplin und Organisation wurde in der militärischen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts wieder erreicht, wenn auch zunächst ohne die Selbständigkeit und relative Entscheidungsfreiheit des taktischen Körpers. So war die preußische Armee unter Friedrich dem Großen zwar maschinenartig konzipiert, ihr Wirkungsgrad wurde allerdings durch eine ständig wirkende Kraft der Dissoziation gemindert. Das Land bekam die Kontrolle über die Armee zugewiesen, so wie während des Feldzuges eigene Truppenteile die Desertionen verhindern sollten. Bezeichnenderweise beginnt die größte Lehrschrift Friedrichs, die General-Prinzipien vom Kriege (1748), mit Regeln wie die Desertionen zu verhüten seien. Diese notwendige Kontrolle über die Armee verhinderte allein schon die Aufteilung in kleine, selbständig operierende Einheiten. Allerdings wagte keine Armee eines absolutistischen Staates diesen Schritt, den die Revolutionsarmeen fast zu tun gezwungen waren. Bei ihnen stellte das Revolutionspathos ein wichtiges Element des Zusammenhaltes dar, so daß jene Friktionen, welche jede die Disziplin begleitende Kontrolle notwendig aufweist, wegfielen. Während die Friderizianische Armee einen einzigen, einheitlichen Körper bildet (mit den spezifischen Organen Infanterie, Artillerie und Kavallerie), zerfällt die Napoleonische in Korps und Divisionen. Bei Friedrich haben die Offiziere keine andere Funktion als die Befehle des Feldherrn weiterzuleiten und voranreitend den Truppen ein Beispiel der Todesverachtung zu geben. Bei Napoleon haben die mittleren Führer selbständige Aufgaben und damit Gelegenheit, ihre militärisch Erfahrung ins Spiel zu bringen. Ähnlich wie die griechische Phalanx wird die friderizianische Armee von ihrem Feldherren abgeschossen und soll mit ihrem Stoß die Entscheidung erzwingen. Die Strategie besteht darin, daß sie nach dem von ihm vorgegebenen Plan aufmarschiert und angreift, während Napoleon eher einen Immanenzplan verfolgt, der darin besteht, irgendwo die Schlacht zu beginnen und dann alle weiteren Schritte der Entwicklung der Schlacht gemäß zu setzen. Der taktische Körper der Infanterie hatte die Gestalt gewechselt, der Not der mangelnden Ausbildungmöglichkeiten der Revolutionsarmeen gehorchend. Der für die Lineartaktik notwendige Drill war nicht zu leisten, der Ausweg in der aufgelösteren Formation der Kolonnen gefunden. Das war aber nur möglich, weil - wie erwähnt - die
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Revolutionsarmeen ideologisch substituieren konnten, was die absolutistischen Armeen durch Disziplin und Kontrolle als Bestandleistungen für den Zusammenhalt des taktischen Körpers leisten mußten. So bemerkt Gneisenau über die Kriegsart der Franzosen: "Ihre Linien sind nirgends zusammenhängend, folglich den Unordnungen weniger ausgesetzt. Die Fähigkeit ihrer Generale erlaubt ihnen, in abgesonderten Haufen zu fechten, und ihre Übermacht, ihre Flanken beständig zu verlängern und alle konzentrisch zu umfassen."31 Schließlich ist die napoleonische Armee in kleine selbständige Einheiten der Waffengattungen aufgespalten, Korps oder Divisionen, die eine gewisse Zeit auf sich allein gestellt operieren können. Diese Zerstreuung der Armee bedeutet aber für die Sinne des Feldherren ihr Verschwinden, den notwendigen "Überblick" erlangt er nicht mehr von dem nach ihm benannten Hügel, sondern muß ihn intellektuell aus den einlangenden Meldungen und Informationen gewinnen. Es muß also ein Befehlssystem ausgebildet werden, welches den Fluß der Informationen und Befehle in beide Richtungen gewährleistet, welches aber vor allem den Befehlsfluß mit dem Strom an notwendigen Informationen verschalten kann.32 Das sind nunmehr strategische und logistische Funktionen, welche dem engeren Befehlssystem vorgeschaltet werden müssen. Statt der vereinheitlichenden Gestalt des Kaisers wird hier
31 August Wilhelm Anton Neidhardt von Gneisenau, Ausgewählte militärische Schriften, hrsg. v. Gerhard Förster u. Christa Gudzent, Berlin 1984, S. 60. Wie für alle großen deutschen Kriegstheoretiker dieser Zeit sind auch für Gneisenau die Erfahrungen mit der französischen Kriegskunst ungemein stimulierend. So denkt er z.B. an folgendes: "Man könnte sogar die Behauptung wagen, daß Bataillone, deren Taktik haarscharf gedacht und ausgeübt ist, im Getümmel der Gefechte, wenn Kartätschenhagel die Reihen verdünnt, eher das Zutrauen zu sich selbst verlieren, wenn sie die gewohnte Ordnung ihrer heimatlichen Exerzierplätze vermissen, als andere Bataillone, die nicht eine so geregelte Taktik haben. Man könnte fragen, ob es nicht wohlgetan sei, zuzeiten auf den Exerzierplätzen absichtliche Unordnungen zu veranlassen und den Bataillonen Gelegenheit zu geben, sich selbst zu helfen." (S. 64 f.) Und dementsprechend kann man die natürlichen Dispositionen der Soldaten selbst in das Produktivitätskalkül übernehmen: "Die leichte Infanterie fehlt aber noch weit leichter in der zerstreuten als in der geschlossenen Ordnung, und es ist also um so wichtiger, sich in der ersten einen hohen Grad von Geschicklichkeit zu erwerben, da sich oft kleine Abteilungen auf so große Strecken zerstreuen müssen, daß keine menschliche Stimme sie abrufen kann. Bei kleineren Versuchen dieser Art hat indessen die Erfahrung gelehrt, daß der gemeine Mann ungleich mehr Neigung und Geschicklichkeit zu dieser Art des Dienstes hat als zu der Linieninfanterietaktik. Der natürliche Erhaltungstrieb lehrt ihn bald, die Vorteile in Benutzung aller Gegenstände zu seiner Deckung begreifen, während ihm die Bewegungsgründe zu manchen Anordnungen und Vorbereitungen unserer Linientaktik unbekannt bleiben." (S. 67) 32 Für das von Napoleon geschaffene Befehls- und Informationssystem siehe Martin van Creveld, Command in War, Cambridge 1985, S. 65 f.: "The structure of Napoleon's Imperial Headquarters, ... was not permanent but changed from time to time as the occasion might demand. Nevertheless, from at least 1805 on, it always consisted of three principal parts: the emperor's Maison, the General Staff (Etat Major de l'Armée) under Marshal Berthier, and the Administrative Headquarters under Daru. The three parts were independent, the only formal link between them being the emperor himself. ... Although Napoleon's principal attendants were given official command duties, the most important command organ in the Grande Armée was, paradoxically, a private institution. Forming part of the Maison, the emperor's cabinet was the direct heir of royal secretariats in ages past. It was not, strictly speaking, a military organization, but simply the technical apparatus through which the emperor worked. It was divided into three parts: the Secretariat proper, the Statistical Bureau, and the Topographical Bureau."
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ein Generalstab erscheinen. Dieser wird seiner planerischen Fähigkeiten so gewiß sein, daß er, wie der preußische Generalstab unter Moltke, die taktische Kontrolle über die Armee tatsächlich aufgibt, was bedeutet, daß sich dieses Wissen vom Schlachtfeld zurückgezogen hat. Der Stratege ist nunmehr weder tatsächlicher Anführer in der Schlacht, wie bei den Griechen, noch Feldherr und als solcher am Kriegstheater, wenn auch zurückgezogen, anwesend. Der Stratege als Führer wird schließlich in einem Bunker verschwinden.
Der Befehl des Tyrannen Je mehr das Befehlssystem sich von der unmittelbaren taktischen Ebene entfernt und aufrückt in die Höhen der Strategie, desto enger wird sein Kontakt mit dem Bereich der Politik. Es ist ein Charakteristikum der Kriege des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts, daß sie mit dem Einsatz von "Weltanschauungen" ausgetragen werden. In den Diktatoren unseres Jahrhunderts ist die politische und militärische Führung zu einer Einheit verschmolzen. Das hat seine historische Referenz im römischen Ursprung der Einrichtung der Diktatur, welche eine militärische Befehlsgewalt zur Bereinigung außerordentlicher Notsituationen war.33 Diese Befehlsgewalt war außer das Recht gestellt, konnte also das anstehende Problem allein technisch lösen. Der Diktator ist somit ein Mittel der politischen Herrschaft, die in außerordentlicher Bedrohung zu diesem außerrechtlich handelnden Mittel greift, das entgegenstehenden Rechtsmitteln enthoben sein soll. Der Diktator handelt dementsprechend im Auftrag der politischen Herrschaft für eine im voraus befristete Zeit. Das ist der Unterschied zum Tyrannen, der sich allenfalls militärischer Mittel bedient, um zur politischen Alleinherrschaft zu gelangen. Allerdings steht ihm dafür in der Regel nicht die reguläre Kriegsmacht zur Verfügung, sondern er muß auf so geringe Mittel wie eine "Leibwache" zurückgreifen. Bei den sizilianischen Tyrannen erfüllen Söldner die Aufgabe des militärischen Schutzes dieser Herrschaft. Es gibt, so scheint es, zwei parallel laufende politische Diskurse der Herrschaft, den über die Tyrannis und jenen über die Diktatur. Der Diskurs der Tyrannis diskutiert die Rechtmäßigkeit dieser Herrschaftsform, die er schließlich in der zweifachen Bestimmung zu fassen versucht, wonach Tyrann ist, wer unrechtmäßig zur Herrschaft gekommen ist,
33 Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf (1922), 5. Aufl., Berlin 1989, S. 2 (Fn.): Die ersten Diktatoren in Rom waren nur Oberbefehlshaber für den Kriegsfall. "Er war der für kurze Zeit mit dem königlichen Imperium ausgestattete militärische Oberbeamte, der sonst keine Beamtenfunktion hatte. Daraus erklärt sich auch die Beschränkung der Amtsdauer auf 6 Monate, die Dauer des Sommerfeldzuges. ... Im Jahre 82 v. Chr. wird Sulla auf Grund eines besondern Gesetzes für unbestimmte Zeit zum Diktator reipublicae constituendae ernannt; 46 Caesar zunächst für ein Jahr zum Diktator, die Amtsdauer wird später verlängert, schließlich auf Lebenszeit ausgedehnt. Diese Diktaturen sind ebenso wie das Triumvirat einer Provokation nicht unterworfen und an die bestehenden Gesetze nicht gebunden. Sie haben von der alten Diktatur nur den Namen übernommen." Es kann hinzugefügt werden, daß die Neigung zur Überschreitung der beschränkten Amtszeit in der griechischen Antike üblicherweise als tyrannische Ambition begriffen wurde.
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wie auch, wer gegen das Gemeinwohl herrscht.34 Dagegen wird der Diktator lange Zeit, der römischen Tradition folgend, dem militärischen Bereich zugeordnet, etymologisch wird das Wort von dicere, dictare im Sinne von befehlen abgeleitet. Die Vorstellung eines technisch bestimmten Vollzugs ist leitend für die übertragene Bestimmung. Folgt man Carl Schmitt, dann ist der moderne neuzeitliche Staat sehr eng mit diesem Begriff der Diktatur verbunden, wobei die drei typischen Elemente Rationalismus, Technizität und Exekutive zusammen einen politisch-militärischen Komplex umschreiben, der keiner weiteren Grundlegung der Legitimität bedarf.35 Die Schwierig-
34 Vgl. Francesco Ercole in der Einleitung zu Coluccio Salutati: Tractatus de Tyranno, Berlin - Leipzig 1914, S. 24 f.: "Es gibt also zwei verschiedene Arten von Tyrannen: diejenigen, welche eine ungesetzlich und verfassungswidrig erworbene Gewalt ungesetzlich und verfassungswidrig ausüben (tyrannus ex defectu tituli); und diejenigen, welche eine gesetzlich und verfassungsmäßig erworbene Gewalt unrechtmäßig, gegen den Vorteil und die Interessen der Untertanen, ausüben (tyrannus ex parte exercitii)." Diese zwei Bestimmungen waren nach Ansicht der meisten politischen Theoretiker ausreichend für die Rechtmäßigkeit des Tyrannenmordes, wobei allerdings höchste Vorsicht bei der zweiten Bestimmung geübt wurde. Man durfte nicht jeden beliebigen Privatmann dazu berechtigen, den Herrscher unter Hinweis auf diesen Punkt umzubringen. Das war es wahrscheinlich, was Hobbes überhaupt zur Ablehnung des Begriffs Tyrannis brachte. So heißt es im Leviathan: "For they that are discontented under monarchy, call it tyranny; ... And because the name of tyranny, signifieth nothing more, nor less, than the name of sovereignty, be it in one, or many men, saving that they that use the former word, are understood to be angry with them they call tyrants." (Thomas Hobbes, Leviathan, The English Works, Vol. Ill, London 1839 [Nachdruck Scientia Aalen 1962], S. 171 und 706) Wenn er auch von Tyrannophobia als einer Krankheit spricht, die jene befällt, die sich vor einer starken Regierung fürchten, so kennt er doch einen Fall des Widerstandsrechtes. "But he whom men require to be put to death as being a tyrant, commands either by right or without right. If without right, he is an enemy, and by right to be put to death; but then this must not be called the killing a tyrant, but an enemy." (Thomas Hobbes, Philosophical Rudiments concerning Government and Society, The English Works, Vol. II, London 1839 [Nachdruck Scientia Aalen 1962], S. 153) Nach Schmitt wird der Diskurs über den Tyrannen nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten geführt, während bei Hobbes das Gesetz nicht Gerechtigkeitsnorm, sondern Befehl dessen, der die höchste Gewalt hat, ist. "Darum ist der Staat bei Hobbes seiner Konstitution nach in dem Sinne eine Diktatur, als er, aus dem bellum omnium contra omnes entstehend, den Zweck hat, diesen Krieg, der sofort wieder ausbrechen würde, wenn der Druck des Staates von den Menschen genommen wird, beständig zu verhindern. Dem Gesetz, das seinem Wesen nach ein Befehl ist, liegt eine Entscheidung über das staatliche Interesse zugrunde, aber das staatliche Interesse besteht erst dadurch, daß der Befehl ergeht. Die im Gesetz liegende Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren. Sie wird begriffsnotwendig 'diktiert'." (Schmitt, Die Diktatur, S. 23) 35 Schmitt, Die Diktatur, S. 12 f.: "Diese dreifache aus Rationalismus, Technizität und Exekutive sich zusammensetzende Richtung zur Diktatur (das Wort hier im Sinne einer Art Anordnung gebraucht, die sich prinzipiell nicht von dem Einverständnis oder der Einsicht des Adressaten abhängig macht und seine Zustimmung nicht abwartet) steht am Anfang des modernen Staates. Der moderne Staat ist historisch aus einer politischen Sachtechnik entstanden. ... Militär und bürokratisch geschultes Beamtentum, die 'Exekutive', sind der Kern dieses Staates, der seinem Wesen nach Exekutive ist." Dem entspricht die Bemerkung: "Der militärische Befehl wird in seiner Präzision einem technischen, nicht einem Rechtsideal gerecht." (Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität [1922], Berlin 1990 [Nachdruck der 2. Aufl. von 1934], S. 38) Es gibt eine bestimmte Technikbesessenheit im konservativen Diskurs, der oft militärische Züge annimmt. Da das Leben wesentlich Kampf ist, kommt man zu der Schlußfolgerung: "Die Technik ist die Taktik des ganzen Lebens." (Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1931, S. 7)
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keit, den Übergang von der "kommissarischen" zur "souveränen" Diktatur zu fassen, liegt möglicherweise auch darin, daß die beiden Diskurse über Tyrannis und Diktatur vielfältigen Kreuzungen unterworfen waren. Dies deshalb, weil keine reine Scheidung von Politik und Krieg möglich scheint, die auf der Fiktion einer reinen Abspaltung der Exekution beruht. Für unseren Argumentationszweck reicht zunächst der Hinweis auf das Verhältnis Gesetz - Befehl. Für die kommissarische Diktatur ist charakteristisch, daß sie das Gesetz nicht verändern kann, sie ist sozusagen vom Gesetz vorgesehen, wenn sie auch nicht auf seiner Grundlage exekutiert. Wenn aber der Diktator Souveränität sich anmaßt, dann verschmilzt der Begriff der Diktatur mit jenem der Tyrannis. 36 Der Befehl des Tyrannen wird zum Gesetz. Es war für die dem Zusammenbruch des Dritten Reiches folgenden Prozesse von Nürnberg von Belang festzustellen: "Hitlers persönliche Erlasse hatten Gesetzeskraft". 37 Er aber war bei den Prozessen abwesend, so daß man es nur mit "Untergebenen" zu tun hatte, solchen also, die "nur" seine Befehle exekutierten. Diese erklärten ihre Situation als "Notstand", welcher auf den "Ausnahmezustand" gefolgt ist. Das konnte sich, wie formal auch immer, auf eine Rechtstradition berufen, die der Ausbildung des taktischen Körpers parallel lief, zumindest seit dem römischen Recht. Hier herrscht der Grundsatz der weitgehenden Unverantwortlichkeit des Untergebenen für die Konsequenzen der von ihm ausgeführten Befehle. Das ist gleichsam ein Tausch, wonach die Souveränität jene Schuld übernimmt, die sie durch ihren Befehl einem anderen aufnötigt. Eine zweifache Übertragung demnach, die der Macht in die Richtung der Exekution, die der Schuldübernahme in der Gegenrichtung. Seit dem 12. Jahrhundert findet sich in den Kriegsartikeln eine starke Neigung zum Prinzip des unbedingten Gehorsams. Dieses Prinzip kann aber die Lücke nicht schießen, die zwischen dem (sprachlichen) Befehl und der (nicht-sprachlichen) Handlung besteht. In ihr wird der disziplinierte taktische Körper plaziert, welcher aber wiederum den symbolischen Zeichencharakter des Befehls nur um den Preis einer maschinenmäßigen Unbeweglichkeit überwinden kann. Die Interventionen von Ideologien verflüssigen das starre Verhältnis von Befehl und Handlung, machen damit den taktischen Körper selbständiger und produktiver. Was sie aber verengen, sind die Rückzugsmöglichkeiten eines Individuums, welches sich dem Befehl verweigert. Da sie vom gesellschaftlichen
36 Schmitt denkt offensichtlich eher an den Revolutionär: "Die souveräne Diktatur sieht nun in der gesamten bestehenden Ordnung den Zustand, den sie durch ihre Aktion beseitigen will." (Schmitt, Die Diktatur, S. 137) 37 Amerikanisches Urteil im Falle XII (OKW-Prozeß), zit. nach Karl Siegert, Repressalie, Requisition und Höherer Befehl. Ein Beitrag zur Rechtfertigung der Kriegsverurteilten, Göttingen 1953, S. 39. Dieser fährt fort: "In dem Werke von Huber das Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches ist dies folgendermaßen formuliert worden: Der Führer vereinigt in sich alle hoheitliche Gewalt des Reiches: alle öffentliche Gewalt im Staate wie in der Bewegung leitet sich von der Führungsgewalt ab. ... Er ist Träger aller Gemeinschaftsfunktionen ... Damit konnte er auch bindende Weisungen für den Einzelfall mit Gesetzeskraft erteilen. Das hat ihm der Reichstag durch seinen bekannten Beschluß vom 26. April 1942 besonders bestätigt. Hitler konnte also, in Abweichung vom Grundsatz der Gewaltenteilung, als Chef des Staates einen individuellen Befehl geben, der denselben Gehorsam verlangte, wie in einem demokratischen Staate ein Gesetz."
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Feld ausgehen und dieses beherrschen, schneiden sie dem Individuum diesen Ausweg ab. Der militärische Befehl wird hinfort von einem sozialen Befehl gestützt (Patriotismus). Die Verweigerung des einen ist die gleichzeitige Asozialisierung oder Deterritorialisierung vom vollen Körper der Gemeinschaft. Wird diese Gemeinschaft vom tyrannischen Diktator beherrscht, der nicht nur vom Willen, sondern von der Liebe seines Volkes getragen wird, dann läßt sich der Affektsturm erahnen, den eine Befehlsverweigerung auslöst. Der juridische Diskurs ist diesen Bindungen gegenüber ziemlich blind, da er den Befehl immer nur dem Gesetz unterworfen zu denken vermag. Die dem Untergebenen damit aufgegebene Prüfungspflicht ist solange hypothetische Konstruktion, solange die Macht auf der Effektivität des Vollzuges besteht. 38 Man wird aus der rechtlichen Beurteilung kaum eine Kraft schöpfen können, um im Ausnahmezustand den Befehl zu verweigern.
38 Die Einsicht in diese Ohnmacht führt bisweilen zu zynischen Affirmationen. So empfiehlt Pierre Boissier, Völkerrecht und Militärbefehl. Ein Beitrag zur Frage der Verhütung und Bestrafung von Kriegsverbrechen, Stuttgart 1953, im Falle notwendig erachteter Repressalien (Geiseltötungen) den Bombenangriff auf ein gewähltes Dorf eher als die standrechtliche Exekution einiger Bewohner, weil die erste Maßnahme in der Regel straffrei bleibt, während letztere oft verfolgt wird. Allen Ernstes empfiehlt er, für ganz üble Kriegsverbrecher den erfolgten Friedensschluß zu ignorieren und sie sozusagen in Kriegshandlungen zu töten und nicht in Kriegsverbrecherprozessen zu verurteilen. Das antwortet ganz analog dem technischen, d.h. außerrechtlichen Charakter der Diktatur.
Armin Adam
Institution, Kommunikation, Autorität Die Legaten der römisch-katholischen Kirche
1. Einleitung Die protestantische Kirchenrechtsgeschichte hat das gratianische Dekret (1140) als den Sündenfall der katholischen Kirche zu deuten versucht. Dessen Versuch, widersprüchliche Texte, denen im Gefüge der katholischen Kirche so etwas wie Gesetzeskraft zukam, zu harmonisieren, stellte, so Rudolph Sohm, unter der Hand eine Machtübernahme des juridischen Diskurses dar. Damit wäre das Ende der Kirche als Gemeinde Christi besiegelt. Ursprungsvergessen ist sie jetzt Institution, Institution in dieser Welt und von dieser Welt. Im Begriff der Institution selbst fließt alles zusammen, was die heilsgeschichtliche Funktion der Ecclesia auszulöschen droht. Denn die Institutionalisierung bedeutet das Ende der Herrschaft des pneumas, des unmittelbaren Geistes. Die juridische Fixierung der Institution läßt, so die Furcht, keinen Raum für diesen Geist, der doch weht, wo er will. Den Gipfel dieser Juridifizierung stellt das Institut des päpstlichen Primats dar, das die Verdrängung des persönlichen Charismas durch das Amt - die doch schon die frühe Geschichte des Christentums kennzeichnet1 - jetzt in der Sprache des römischen Rechts fixiert - und so sicherstellt, daß pneumatische Erfahrungen das Gebäude der Kirche nicht mehr affizieren.2 Die Juridifizierung der Kirche, systematisch in Gang gebracht durch das Reformpapsttum des 11. Jahrhunderts,3 schreibt nicht bloß die bestehende Verfassung der Kirche fest, sondern verändert die Grundfeste der Kirche: und zwar ist es die juristische Tendenz selbst, die diese Veränderung erzwingt. Mit Gregor VII. läßt sich diese Erschütterung, die unter seinem Namen in die Geschichte eingegangen ist, durch die 1
Vgl. Hans von Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, Tübingen 1953; Trutz Rendtorff (Hrsg.), Charisma und Institution, Gütersloh 1985.
2
Tatsächlich ist der Sachverhalt auch einer anderen Interpretation zugänglich: Das Reformpapsttum des 11. und 12. Jahrhunderts hat ja ganz ausdrücklich die gewohnheitsrechtliche Verfassungswirklichkeit der Kirche als störend bei der Erfüllung eines Auftrages empfunden, der selbst quasi-pneumatisch begründet wurde. Deshalb setzt Gregor immer wieder veritas gegen consuetudo. Am Beginn stünde also nicht die Verfestigung der Institution des päpstlichen Primats, sondern die Verflüssigung der traditionalen Ordnung, die die Kirche von der Heilswahrheit entfernt habe.
3
Vgl z.B. Paul Fournier, "Un tournant de l'histoire du droit. 1060-1140", in: Nouvelle Revue Historique de Droit Francais et Etranger Tome XL (1917) und Horst Fuhrmann, "Das Reformpapsttum und die Rechtswissenschaft", in: Josef Fleckenstein (Hrsg.), Investiturstreit und Reichsverfassung, Sigmaringen 1973.
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Gegenüberstellung von Wahrheit und Gewohnheit charakterisieren. Gregors Kampf um die Wiederherstellung der Reinheit der Kirche benutzt den Hinweis auf Jesu Wort 'Ich bin die Wahrheit' als Waffe gegen die Macht der Gewohnheiten, hinter dem die reformunwilligen Gegner Schutz vor dem Zugriff des Papsttums suchen. 'Die Wahrheit' ist der Kampfruf des Papsttums, das mit dem traditionellen Gewaltengefuge der Kirche bricht. In dieser polemischen Gegenüberstellung kündigt sich etwas ganz neues an: Souveränität. Mit dem Primatsdenken hält ein Rechtsdenken Einzug in die Kirche, das - um es scharf auszudrücken - das Gewohnheitsrecht nur unter Vorbehalt gelten läßt. 4 Die gregorianische Reform oder besser Revolution nimmt klassische Motive des christlichen Denkens auf: deren Übernahme in einen juridischen Diskurs aber gestaltet eine ganz neue Institution, deren Dreh- und Angelpunkt der päpstliche Primat bildet. Die Fixierung des Reformpapsttums - und namentlich Gregors VII. - auf den päpstlichen Primat legt eine funktional-strategische Deutung dieses Prinzips nahe: der päpstliche Primat ist ein Instrument, das der Beförderung der reinigenden Reform der Kirche dient. Mit seiner Hilfe legitimiert das Reformpapsttum seine Eingriffe in die 'gewachsene' kirchliche Hierarchie. Zugleich aber erzwingt das Primatsdenken ein neues Bild der Kirche überhaupt - und zwar sowohl in ihrer 'politischen' als auch in ihrer liturgischen Verfassung. Die Reform der Kirche steuert nicht bloß auf die Reinigung, sondern auf eine neue Verfassung der Kirche zu. Deren Kern ist ein neues Verhältnis der römischen Kirche zu den Ortskirchen, des Papstes zu den Bischöfen - und den Metropoliten. 5 Diese institutionelle Zentralisierung wird zugleich auf einer symbolischen und auf einer technischen Ebene vollzogen: auf der symbolischen Ebene geht es letztlich um das Problem der Stellvertretung des corpus Christi, um die Probleme der auctoritas und der Legitimation; als technisch mag die Bereitstellung der Instrumente bezeichnet werden, die die Rede vom päpstlichen Primat in die 'Wirklichkeit' zu übersetzen in der Lage sind, namentlich die Verwaltungsinstitute, die im Gefolge der gregorianischen Reform sich herausgebildet haben. Die Ansprüche des Papsttums nämlich, die als juridisches Programm formuliert worden sind, "could not be enforced without some development in the machinery of execution." 6 Die Über- und Durchsetzung des päpstlichen Primats ist ohne die Herausbildung des Legatenamtes nicht denkbar. Kaum übertreibend können die Geschichte des Legatenamtes und die des päpstlichen Primats identifiziert werden. 7 Das Legatenamt folgt nicht einfach dem päpstlichen Primat: es bildet zugleich dessen Voraussetzung. Ja, die 4
Vgl. Gratian Decretum, Dist. XI und XII (Friedberg, 22 ff.).
5
Den berühmtesten Versuch einer Schleifung der metropolitanen Festungen durch den neuen Primatsanspruch schildert Otto Meyer, "Reims und Rom unter Gregor VII.", in: Zeitschrifl der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, kan. Abt. XXVIII (1939).
6
J.T. Gilchrist, "Canon Law Aspects of the Eleventh Century Gregorian Reform Programme", in: The Journal of Ecclesiastical History 13 (1962), S. 29.
7
Knut Waif bezeichnet "die Geschichte der Legateninstitute im Mittelalter als die Entwicklung des Universalanspruchs des Papsttums im innerkirchlichen Bereich" (Die Entwicklung des päpstlichen Gesandtschqftswesens in dem Zeitabschnitt zwischen Dekretalenrecht und Wiener Kongreß - 1159-1815, München 1966, S. 10 f.).
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Legaten erscheinen als "die eigentlichen Wegbereiter des päpstlichen Primats". 8 Das komplizierte Argumentationsgefiige, das das Legatenamt kirchenrechtlich in den Griff zu bekommen versucht, macht deutlich, auf welche Weise die symbolischen und technischen Bedingungen des römischen Primats ineinander verwoben sind. Die kirchenrechtliche Argumentation schillert, weil sie sich immer zweier Register zu bedienen hat: des metaphorischen, das auf die symbolische Ordnung verweist und des sachlichen, das auf die Effizienz eines Verwaltungsinstitutes verweist. Damit reflektiert diese spezielle kirchenrechtliche Argumentation aber nur das Problem einer jeden Rechtsordnung, die mit hohem symbolischen Aufwand ihre Übersetzung, d.h. Effizienz garantiert. Jenseits der Kirchenrechtsgeschichte ist das Amt des päpstlichen Legaten interessant, weil es einen Blick auf die Vor- und Frühgeschichte der Souveränität gewährt. Das Papsttum versucht, der Kirche eine neue Verfassung zu geben, die mit der typisch mittelalterlichen Gemengelage der Gewalten bricht. Die Faszination, die der Investiturstreit im besonderen, die Auseinandersetzung zwischen regnum und sacerdotium im allgemeinen ausübt, verdeckt, daß die politische und 'theoretische' Entwicklung weniger auf die Frage nach dem Primat des einen oder anderen Hauptes antwortet: entscheidend ist, daß sich die Kirche seit dem 11. Jahrhundert in dem Maße als eigenständige, unabhängige, ja letztlich abgeschottete Institution entfaltet, in dem sich der päpstliche Primat durchsetzt. Angesichts der marktschreierischen Versuche, die Weltherrschaft des Papsttums zu verkaufen, bleibt die Tendenz zur institutionellen Abschottung der Kirche ungehört, die den Kern des Investiturstreits darstellt. Der Streit über die Frage, ob der Kaiser oder der Papst das Haupt der Christenheit sei, hat die politik-theoretisch viel wichtigere Frage nach der institutionellen Ausformung der Kirche in diesem Streit verstellt. Diese Ausformung bezieht sich nun aber gerade nicht auf die christianitas, auf das Volk aller Christen: wer die Verfassungsgeschichte der Kirche seit dem 11. Jahrhundert betrachtet, wird feststellen, daß sich ihre wichtigsten Institute auf einen viel engeren Begriff von Kirche beziehen, auf die Kirche als im wesentlichen klerikale Institution, als Institution also, die aus 'professionellen' Christen, den Klerikern, besteht. 9 Die politische Theorie hat nicht nur die hochmittelalterliche, sondern die Kirche insgesamt so lange vernachlässigt, weil sie sich ein völlig einseitiges Bild von der Kirche gemacht hat. In dem Moment, da das antike Erbe der politischen Philosophie wirksam wird, konzentriert sich die politische Philosophie nur noch auf eine Form der societas: die weltliche, die kurze Zeit später sich den Namen Staat gibt. Der Staat wird auf seine institutionelle Verfassung befragt; die Kirche mutiert in diesem Prozeß der Säkularisierung zu einem reinen Glaubensgebilde. Dabei wird gerade der institutionelle Reichtum der Kirche übersehen. Dieser Reichtum wiederum verdankt sich nicht einfach ihrem
8
Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte,
9
Vgl. Gerhart B. Ladner, "The concepts of 'ecclesia' and 'christianitas' and their relation to the idea of papal 'plenitudo potestatis' from Gregory VII to Boniface Vili", in: Sacerdozio e regno da Gregorio VII a Bonifacio VIII, Rom 1954, ( = Misc. Hist. Pontif. Vol. XVIII), S. 52 ff.
Bd. 1: Die katholische Kirche, Weimar 1950, S. 270.
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Glaubensreservoir, sondern der juridischen Verfassung, die dieses Glaubensreservoir institutionell übersetzt. Im folgenden sollen, unter Bezug auf das Motuproprio 'Über die Aufgaben der Legaten des römischen Papstes', das Papst Paul VI. 1969 verfaßt hat, 10 einige für die politische Theorie besonders interessante Züge des Legatenamtes präsentiert werden. Dabei soll einerseits - und das bezieht sich auf eine grundsätzliche institutionentheoretische Fragestellung - das Ineinander von symbolischem Aufwand und technischen Erwägungen deutlich werden und andererseits ein Licht auf die Vor- und Frügeschichte der Souveränität geworfen werden.
2. Papst und Bischöfe 'Pressius determinitur', 'genauer abgegrenzt' wünschten die Konzilsväter des 2. Vaticanum das Amt der päpstlichen Legaten "unter Berücksichtigung des den Bischöfen eigenen Hirtenamtes". 11 In einem apostolischen Sendschreiben ist Paul VI. auf den Wunsch der Bischöfe eingegangen. Schon die ersten Worte dieses Schreibens jedoch "sollicitudo omnium ecclesiarum" - rücken diesen Wunsch zurecht, indem sie mit einem Paulus-Terminus12 auf einen 1500 Jahre alten Brief anspielen, der bei der Herausbildung und Formulierung des päpstlichen Primats eine entscheidende Rolle gespielt hat. Dort hieß es: "Vices nostra ita tuae credidimus charitati, ut in partem sis vocatus sollicitudinis, non in plenitudinem potestatis." 13 Nur in einen Teil der Sorge ist der Adressat berufen, nicht aber in die Fülle der Gewalt. In den Formeln "plenitudo potestatis", Fülle der Gewalt, und "pars sollicitudinis", Teil der Sorge, hat das Papsttum seit Gregor VII., besonders aber seit den von Bernhard von Clairvaux für Eugen III. geschriebenen 'Erwägungen', 14 die Bedeutung der Ämter des Papstes und der Bischöfe interpretiert15: der Papst hat die Fülle der Gewalt inne, um seiner Berufung in die
10 Motupropio über die Aufgaben der Legaten des römischen Papstes, in: Akten Papst Paul VI, Trier 1970 (= Nachkonziliare Dokumentation Bd. 21), im folgenden zitiert als Sollicitudo. 11 Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche (Christus Dominus), Art. 9, abgedruckt in: Lexikon für Theologie und Kirche, Ergänzungsbände, Das Zweite Vatikanische Konzil, hrsg. v. Heinrich Suso Brechter u.a., Bd. II, Freiburg u.a. 1967, S. 162. 12 Vgl. 2. Kor 11, 28. 13 Leo I., Epist. 14, PL 54, 671. 14 "So sind denn, Deiner Bestimmung gemäß, die übrigen mit einem Teil der Hirtensorge begabt, während Du zur Fülle der Vollmacht berufen bist." (Bernhard von Clairvaux, Was ein Papst erwägen muß [De considerationej, dt. von H.U. v. Balthasar, Einsiedeln 1985, S. 56) 15 Vgl. Jacques Rivière, "In partem sollicitudinis. Evolution d'une formule pontificale", in: Revue des sciences Religieuses V (1925). Alfons M. Stickler weist darauf hin, daß die Formel ursprünglich das Verhältnis der päpstlichen Gewalt zu der eines von ihm als Quasi-Legaten bestellten Vikars beschreibt. Bei dem oben von Leo angesprochenen Anastasius handelt es sich nämlich nicht um einen 'normalen' Bischof, sondern um einen von Leo, nach dem Vorbild Innozenz I., eingesetzten 'Apostolischen Vikars'. Ungefähr 300 Jahre vor dem Beginn des kanonistischen Zeitalters habe sich der Sinn der Formel verändert: sie bezeichne von da an das Verhältnis von päpstlicher und (normaler) bischöflicher
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Sorge über alle Kirchen gerecht werden zu können - oder aber umgekehrt: aus der Ausstattung des Papsttums mit der Fülle der Gewalt entspringt die Pflicht zur Sorge über alle Kirchen.16 Die Bischöfe aber sind nur in einen Teil eben dieser Sorge berufen: deshalb erstreckt sich ihre Gewalt nur auf ihre Diözese, ja sie kann sogar in der papalistischen kanonistischen Theorie - unter Vernachlässigung der apostolischen Sukzession - als aus der primordialen Gewalt des Papstes abgeleitet erscheinen.17 Die vollendete Deutung dieses Komplexes, in dem der Gründungsmythos der Kirche und die juridische Ausgestaltung ihrer politischen Form verwoben sind, gibt die Predigt XXI, die Innozenz III. zum Fest von Peter und Paul hält. Die im eigentlichen Sinne juridische Macht der Kirche, die Macht zu binden und zu lösen, können auch die nicht-römischen Bischöfe nach Matthäus 18,18 für sich beanspruchen. In einer weitreichenden Interpretation von Matthäus 16 und Johannes 20 versucht Innozenz die hervorgehobene Stellung des römischen Bischofs dennoch zu wahren. Dazu greift Innozenz auf die 'cephas-Stelle' zurück: 'Du bist Petrus, und auf diesen Fels werde ich meine Kirche bauen'. Cephas steht im griechischen Text und mit einer ethymologischen Deutung rettet Innozenz die einzigartige Macht des Nachfolgers Petri: denn Cephas mag als Petrus - und damit als Fels oder Fundament - oder aber als caput, als Haupt interpretiert werden. Wie aber im Haupt die Fülle des Sinnes versammelt ist, in den anderen Gliedern nur ein Teil dieser Fülle, so sind einige, also die anderen Apostel 'in partem sollicitudinis', nur Petrus aber in die Fülle der Gewalt berufen. In einem kurzen Handstreich bezieht Innozenz diese Interpretation auf das Gewaltenverhältnis von Papst und Konzil: der Papst kann ohne die Bischöfe von seiner Gewaltenfülle Gebrauch
Gewalt. Vgl. Alphons M. Stickler, "La 'Sollicitudo Omnium Ecclesiarum' nella canonistica classica", in: Iosepho d'Ercole u. Alphonso M. Stickler (Hrsg.), Communione Interecclesiale - Collegialità Primato - Ecumenismo, Bd. 2, Rom 1972, S. 569.) 16 Vgl. J. T. Gilchrist, "Humbert of Silva Candida and the Politicai Concept of Ecclesia in the Eleventh Century Reform Movement", in: The Journal of Religious Ideas 2 (1962), S. 19. 17 Ausgangspunkt ist wiederum eine leoninische Argumentation: "Transivit quidem etiam in alios (apostolos) jus potestatis istius," heißt es im Sermo IV,3, "freilich ging auch auf die anderen Apostel das Recht über, von dieser Befugnis, von dieser Macht" - gemeint ist die potestas ligandi et solvendi, A. A. - "Gebrauch zu machen". Wenn dennoch das, "woran alle Anteil haben sollen, einem ... gesondert übertragen (wird)", dann nicht bloß, weil dieser über allen "Leitern der Kirche" steht, sondern weil deren Stärke und Standhaftigkeit selbst sich der des Petrus verdankt: "ut firmitas, quae per Christum Petro tribuitur, per Petrum apostolis conferatur. " Schon vorher macht Leo deutlich, in welcher Beziehung Petrus zu den anderen Aposteln - und das heißt dann auch: der römische Bischof zu den anderen Bischöfen - steht: "Bedeutenden und bewundernswerten Anteil an ihrer Macht gab also, Geliebteste, die göttliche Gnade diesem Manne. Und wenn auch nach ihrem Willen die übrigen Häupter der Kirche manches mit ihm teilen sollen, so hat sie doch alles, was sie anderen gewährte, stets nur durch ihn verliehen." (Leo der Große, Sämtliche Sermonen, dt. von Theodor Steeger, München 1927 [ = Bibliothek der Kirchenväter Bd. 54], S. 13 ff.) Belege zu dieser These, die sich im Umkreis der Auslegung von D.21, c.2 des gratianischen Dekretes finden - "Romana ecclesia a Christo primatum accepit" (Friedberg, 69 f.), bietet John A. Watt, The Theory of Papal Monarchy in the Thirteenth Century. The Contribution ofthe Canonists, New York 1965, S. 82. Stellvertetend Durantis: "et summus pontifex, quia caput est omnium pontificium a quo il 1 i tamquam a capite descendunt et de cuius plenitudine omnes accipiunt, quos ipse vocat in partem sollicitudinis, non in plenitudinem potestatis." (Rationale divinorum officiorum 2.1.17. Zit. nach Watt, The Theory of Papal Monarchy, S. 82.)
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machen, nicht aber die Bischöfe ohne den Papst. Und dann kann in einer schnellen Wendung noch die kanonische Formel 'papa a nemini iudicari debeat' angedeutet werden: denn der Papst kann die anderen binden, nicht aber von ihnen gebunden werden. 18 Jene höchste Gewalt, die das Papsttum beansprucht, bezieht sich wohlgemerkt nur auf den Bereich der potestas iurisdictionis, das römische Primat ist ein juridisches Primat. Wenn man nur die potestas ordinis, die Weihegewalt ins Auge faßt, wird man keine solche Hierarchie feststellen können: bezüglich der Weihegewalt, des explizit 'geistlichen Teils' ihres Amtes, sind alle Bischöfe, also auch der von Rom, gleich, nur in der potestas iurisdictionis hebt sich der Papst von seinen Bischofsbrüdern ab. 19 Wenn die plenitudo potestatis, wenn der Primat zum Kennzeichen des Papsttums wird, wenn das, was dem Amt des römischen Bischofs im Gegensatz zu den anderen Bischöfen hinzugefügt ist, dieses Amt erst definiert, dann liegt es nahe, den juridischen Charakter des Papsttums so stark zu betonen, daß es letztlich als "a nomen iurisdictionis, no more and no less" erscheinen kann. 20 Die Ausstattung des Papsttums mit der plenitudo potestatis bedeutet insofern keine mystische Aufladung, sondern im Gegenteil eine von Sachlichkeit getriebene Juridifizierung dieses Amtes - die die quasi-pneumatischen Komponenten des Bischofsamtes ganz und gar außer acht ließe. Als Erbschaft entpuppt sich die Übertragung der petrinischen Gewalt auf den Papst, 21 eine Erbschaft, die darauf verweist, daß schon die Verleihung der potestats ligandi et solvendi durch den Sohn des Herrn auf ein klar umgrenztes päpstliches Amt hindeutet: "racione papatus" wird Petrus Würde und Macht übertragen - und soviel Macht und Würde, wie Petrus
18 Die Stelle sei hier, weil sie zugleich so kunstvoll und so prägnant alle Motive der plenitudo-potestatisDiskussion ins Spiel bringt, ausführlich zitiert. "Inter quos beatissimus Petrus primus et praecipuus cui singulariter a Domino dicitur: 'Tu vocaberis Cephas. (Joan. 1)' Cephas enim licet secundum unam linguam interpretatur Petrus secundum aliam tarnen dicitur caput. Quia, sicut plenitudo sensuum consistit in capite, in caeteris autem membris pars est aliqua plenitudinis: ita caeteri vocati sunt in partem sollicitudinis, solus autem Petrus assumptus est in plenitudinem potestatis. Unde cum Dominus omnibus simul apostolis loqueretur, universaliter ait: 'Quorum remiseritis peccata, remittuntur eis (Joan. XX)' Cum autem soli Petro locutus eat, particulariter dixit: Quodcunque ligaveris super terram erit ligatum et in coelis quia Petrus potest ligare caeteros, sed non ligari potest a caeteris, utpote primus et summus magister at princeps Ecclesiae. Quod etsi omnibus apostolis simul dictum fuisse legatur, non tarnen aliis sine ipso, sed ipsi sine aliis legitur dictum esse: ut quod non alii sine ipso sed ipse sine aliis intelligatur hoc posse de plenitudine potestatis." (Innozenz III., Serm XXI, PL 217, 552) Ich danke Dr. Birgit Gansweidt vom Institut für Lateinische Philologie des Mittelalters der Universität München für die Hilfe bei der Erschließung diverser hier zitierter Texte. 19 "(Apostoli) pares fuerunt quo ad ordinem, quia quecumque ordines habuit Petrus habuit quilibet aliorum sed Petrus prefuit Ulis in dignitate prelationis, in administratione, in iurisdictione." (Huguccio, ad Dist. 21 ante c. 1, zit. nach: Brian Tierney, Origins of papal infallibility. 1150-1350. A study in the concepts of infallibility, sovereignity and tradition in the middle ages, Leiden 1972, S. 32) 20 Walter Ullmann, "Leo I and the Theme of Papal Primacy", in: Journal of Theological (1960), S. 49. 21 Ebd., S. 30 ff.
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aus diesem Grunde übertragen werden, steht auch seinen Nachfolgern zu. 22 Die Übertragbarkeit dieser Gewalten weist darauf hin, daß hier nicht pneumatische Gaben zur Disposition stehen, sondern schlichte Machtbefugnisse, die in den Termini des römischen Rechtes faßbar sind. Papa Petrus ipse: nicht aufgrund einer mystischen Identifizierung, sondern als ganz und gar dem juridischen Diskurs gehorchende Konstruktion - einer Konstruktion jedoch, die einer gewissen Mystik Raum läßt, insofern sie die "griechische Vorstellung von der Identität des Erblassers und des Erbens" transportiert. 23 Plenitudo potestatis bedeutet, daß das päpstliche Handeln in der Sorge um das Heil aller Kirchen, d.h. in der Sorge um die Einheit der Kirche, die Strukturen der kirchlichen Hierarchie vernachlässigen kann. 24 Eine Absicherung des Bezirkes bischöflicher Hoheit ist unter dieser Bedingung nicht möglich. Der Wunsch der Konzilsbischöfe, das Amt des päpstlichen Legaten abzugrenzen, bezieht sich auf diesen Problemkreis. In Artikel 8a des erwähnten Dekrets hatten sie versucht, das prekäre Verhältnis von bischöflicher und päpstlicher Gewalt zu formulieren: "Als Nachfolger der Apostel steht den Bischöfen in den ihnen anvertrauten Diözesen von selbst jede ordentliche, eigenständige und unmittelbare Gewalt zu, die zur Ausübung des Hirtenamtes erforderlich ist. Die Gewalt, die der Papst kraft seines Amtes hat, sich selbst oder einer anderen Obrigkeit Fälle vorzubehalten, bleibt dabei immer und in allem unangetastet. "25 Die Demokratisierungseffekte der Moderne lassen eine Revolte gegen die monarchische Theorie der päpstlichen plenitudo potestatis aussichtsreich erscheinen. Gewalten legitimieren sich nicht von oben, sondern von unten. Die Bischöfe aber sind gezwungen, einen dritten Weg zu begehen: die bischöfliche Gewalt verdankt sich weder dem Volk der Gläubigen ihrer Diözese noch einer großmütigen Übertragung durch den Papst; die bischöfliche Gewalt verdankt ihre Legitimation der apostolischen Sukzession. 26 Die bischöfliche Gewalt kann also auf das gleiche Legitimationsniveau 22 Papa "qui locum in dignitate Petri obtinet, et quantam dignitatem et potestatem habuit Petrus racione papatus tantam habet eius successor." (Huguccio, Summa, ad D.19, c.2, zit. nach Watt, The Theory of Papal Monarchy, S. 81) 23 Kurt Dietrich Schmidt, "Papa Petrus ipse", in: Zeitschrift für Kirchengeschichte S. 274.
Bd. LIV (1935),
24 Ein Beispiel der kanonistischen Argumentation mag hier vorgreifend angeführt werden. In einem Vergleich zwischen der ordentlichen Richtergewalt des Metropoliten und der des Papstes hält Huguccio fest, daß der Metropolit zwar das Recht der Rechtsprechung über die ihm untergebenen Bischöfe hat, nicht aber über jene, die diesen Bischöfen unterstehen; "in papa tarnen speciale est, qui est iudex Ordinarius omnium, scilicet maiorum et minorum prelatorum et subditorum ... ipse solus habet plenitudinem potestatis." (Summa, ad 6 q.3 c.2., zit. nach Brian Tierney, "Recent works on the political theories of the medieval canonists", in: Traditio X [1954], S. 604) 25 Dekret über die Hirtenaufgabe, S. 159. Vgl. Dekret über die dogmatische Konstitution (Lumen Gentium) 27, abgedruckt in: Das Zweite Vatikanische Konzil Bd. 1, S. 245 f.
der
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26 Erst das 17. und 18. Jahrhundert (besonders Benedikt XIV.) hat die Theorie vom Bischofsamt als päpstlichem Vikariat vollends entwickelt. Dagegen haben namentlich die Kanonisten und Erzbischöfe des deutschen Reiches Einspruch erhoben: "Sicut ergo Romanus Pontifex habet Primatum, quia est successor Petri, ita etiam reliqui Episcopi habent iurisdictionem a Deo, quia sunt successores
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verweisen wie der Bischof von Rom. Darüber hinaus aber wird von den Bischöfen anerkannt, daß dem Papst besondere Rechte zustehen, die, so könnte man sagen, auf ein anderes Legitimationsniveau verweisen. Zu diesen Rechten gehört es, daß der Papst sich 'Fälle vorbehält' - um was für Fälle es sich dabei handelt, wird hier nicht gesagt. 27 Es kann auch keine Definition dieser Fälle geben, weil das päpstliche Vorbehaltsrecht als Recht der Ausnahme keiner Normierung unterliegt. Dieser Vorbehalt aber greift in die ordentliche, unmittelbare und selbständige Gewalt der Bischöfe ein. Nicht zuletzt in diesem Vorbehalt verwirklicht sich der päpstliche Primat auf der Ebene des Verwaltungshandelns, der Gesetzgebung und der Rechtsprechung. Die Konzilsbischöfe haben also in ihren Sätzen zum Amt des Bischofs einen dilatorischen Formelkompromiß (Schmitt) zu schließen versucht, der nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß hier zwei konträre Positionen verbunden werden, die im Konfliktfall scharf und unversöhnlich sich gegenüberstehen. Bischöfliche Autonomie und eigenständige Legitimation einerseits, unbedingtes und unbegrenztes päpstliches Eingriffsrecht andererseits. Die Bischöfe sind tatsächlich in einem double-bind gefangen: wenn sie auf ihrer unbedingten Autonomie bestehen und das - unbedingte - päpstliche Eingriffsrecht ablehnen, so wird ihnen immer unterstellt werden, daß sie das Wesen der katholischen Kirche selbst in Frage stellen - die doch mehr ist als eine Versammlung verstreuter Einzelkirchen. Die Bedeutung des Argumentes der apostolischen Sukzession ist nicht hoch genug anzusetzen: gegen das unbedingte Eingriffsrecht des Papstes spricht die Kollegialität der Bischöfe, die alle - also auch der Bischof von Rom - ihre Autorität der apostolischen Sukzession verdanken. Die ewige Auseinandersetzung zwischen Papst und Bischöfen ist nicht bloß - wie es manchmal erscheinen mag - von einem vordergründigen Machtwillen der beiden Parteien gesteuert: in ihm wird vielmehr das problematische Wesen der katholischen Kirche selbst inszeniert, die ihren verschiedenen Gründungsmythen gerecht zu werden versucht.
3. Identität und Repräsentation Am Amt des Legaten entzündet sich durch die Jahrhunderte hindurch diese ewige Auseinandersetzung: denn der Legat verbürgt die Möglichkeit des Papstes, das Vorbehaltsrecht auch tatsächlich wahrzunehmen. Das moderne nachkonziliare Papsttum formuliert diesen Sachverhalt natürlich anders - und die Hoffnung der Konzilsbischöfe bestand eben darin, daß nicht bloß die Formulierung sich verändern würde: "Um die berechtigten Erwartungen unserer Brüder im Bischofsamt" zu erfüllen, erläßt Papst Paul VI. sein Sendschreiben. Er schreibt das Amt des Legaten in die Notwendigkeit eines "intensiven Beziehungsaustausches" mit seinen Brüdern im Bischofsamt, also in die
Apostolorum." (Johann Kaspar Barthel, Annotationes ad Universum Jus Can., Annot ad Lib. I, Tit. XXXIII; zit. nach Walf, Die Entwicklung des päpstlichen Gesandtschaftswesens, S. 250) 27 Erstmals wird ein solcher Vorbehalt von Innozenz I. gegenüber dem Bischof Vitricius von Rouen in Anspruch genommen. Causae maiores sind es selbstverständlich, deren Regelung der Papst sich allererst vorbehält.
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Kommunikationsstruktur, die das Gefüge der Gesamtkirche erhält: dieser Beziehungsaustausch wird nicht genügend sichergestellt durch Briefwechsel - er erfordert persönliche Anwesenheit. Für die Bischöfe hat sich dabei die Institution der visitatio ad limina eingebürgert,28 für den Papst "die Entsendung von Geistlichen, die uns vertreten".29 Denn selbst der Fortschritt, der "Uns in providentieller Hilfe ermöglicht, auch persönlich in fremde Kontinente zu kommen", ändert nichts daran, daß diese Besuche immer eine Ausnahme bleiben. Deshalb sieht sich der Papst auf die 'Mittel der Beziehung' verwiesen, "deren sich unsere Vorgänger schon bedient haben"30 - kurz auf das Amt des Legaten. Ein Blick in die Geschichte, deren Erbin die katholische Kirche immer ist, mag einige Aspekte dieses Amtes skizzieren. "Valde necessarium esse perspeximus ... ubi nos presentes esse non possumus, nostra per eum, cui precipimus, representur auctoritas."31 "Gewiß, wir erkennen es für notwendig, daß dort, wo wir nicht gegenwärtig sein können, unsere Autorität durch die, die wir schicken, repräsentiert sein möge." Die Autorität des Papstes ist zwischen Charisma und Kompetenz anzusiedeln: weil die Autorität des Papstes zugleich mystisch begründet - sie verdankt sich göttlicher Stiftung - und juridisch verfaßt ist, stellt schon deren bloße Stellvertretung die Institution vor große diskursive Anstrengungen. Es besteht die Notwendigkeit, die Autorität des Papstes auch dort geltend zu machen, wo er nicht körperlich anwesend ist. Die Lösung dieses Dilemmas bietet das Legatenamt: im Legaten reist der Papst - ohne Rom verlassen zu müssen. Als "Vollzugsorgane des Primats"32 stellen die Legaten sicher, daß der Papst die ihm von Christus übertragene plenitudo potestatis, die Fülle der Gewalt auch tatsächlich handhaben kann. Das gelingt aber nur, weil die Legaten mit dem Papst soweit identifiziert werden, daß in ihnen der Papst selbst anwesend erscheint. Nach dem Beispiel des Herrn, der seine Schüler in alle Welt ausschickte, um in ihnen persönlich (personaliter) für das Heil zu arbeiten, entsendet der Papst, dem die Pflicht der Sorge für alle Kirchen auferlegt ist, seine
28 Die Einrichtung der visitatio ad limina ist von Gregor VII. erstmals in den Bischofseid aufgenommen worden. Vgl. X 2 . 2 5 . 4 "Apostolorum limina singulis annis aut per me aut per certum nuncium meum visitabo, nisi eorum absolvar licentia." (Friedberg, 360) 29 "Opportet inter Nos et Fratres Nostros in Episcopatu atque Ecclesias iisdem concreditas crebrae intercedant necessitudinis rationes, quae non solum per epistolarum commercium haberi possunt, sed etiam per adventum Episcoporum ad limina Apostolorum atque per legationem illorum ecclesiasticorum virorum, qos, personam Nostram gerentes, mittimus." (Sollicitudo, Einleitung, 4) 30 Es ist bezeichnend für die Legitimationsstrategie des Papsttums, daß das Amt und die Befugnisse der Legaten immer auch mit der Hilfe der Gewohnheit begründet werden. Ein schönes Beispiel gibt Gregor VII. im Ernennungsschreiben für Amatus von Oloron: "Romana ecclesia hanc consuetudinem habuit ab ipsis sua fundationis primordiis, ut ad omnes partes, quae christianae religionis titulo praenotantur, suos legatos mitteret." (JL 5042, ep. coli 21; zit. nach Theodor Schieffer, Die päpstlichen Legaten in Frankreich vom Vertrage von Meersen [870] bis zum Schisma von 1130, Berlin 1935, S. 239) 31 Decretum c . l , D.XCIV (Friedberg, 330). 32 Schieffer, Die päpstlichen
Legaten,
S. 239.
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Brüder von seiner Seite,33 "ut in diversis mundi partibus per eorum praesentiam ipsius absentia suppleretur".34 Wer sind die Brüder, die der Bischof von Rom als das Haupt der abendländischen Kirchen von seiner Seite entsendet? Das Kirchenrecht unterscheidet im hohen und späteren Mittelalter drei Klassen von Legaten: legati missi, legati nati und legati a latere.35 Diese späte Klassifizierung des Legateninstitutes gilt nicht in aller Strenge, tatsächlich ist namentlich die Grenze zwischen den legati a latere und den legati missi oft fließend.36 Entscheidend ist, daß die Legaten als "propria facies" des Papstes gelten.37 Das gilt besonders für jene Klasse, die sich seit dem 12. Jahrhundert herausbildet: die legati a latere.38 Dabei handelt es sich um Kardinäle, die der Papst von seiner Seite (a latere) entsendet. Das Kardinalskollegium, die fratres des Papstes sind ein Teil des päpstlichen Körpers.39 Diese Deutung hatte Petrus Damian möglich gemacht, indem er - ein Muster invertierter Politischer Theologie - die Kardinäle als 'spirituales ecclesiae universalis senatores' interpretierte. Und wie das römische Recht die Senatoren als Teil des Körpers des Kaisers beschrieben hat,40 "ita similiter Papa et cardinales faciunt unum corpus, cuius Papa est caput, et cardinales sunt membra."41
33 "Quum instantia nostra quotidiana sit secundum debitum apostolicae servitutis omnium ecclesiarum sollicitudo continua, quoties ipsarum negotiis promovendis non possumus personaliter imminere, per fratres nostros ea expedire compellimur, quos a nostro latere destinamus, illius exemplum in hac parte secuti, qui, discipuli suis in universum tansmissis, ipse in medio terrae salutem fuit personaliter operatus." (Innozenz III., X 3.39.17 [Friedberg, 627]) 34 Innozenz III, Register II 123; zit. nach Klaus Schatz, "Papsttum und partikularkirchliche Gewalt bei Innozenz III. (1198-1216)", in: Archivum Historiae Pontificiae 8 (1970), S. 87. 35 VI 1.15.1 (Innozenz IV., [Friedberg, 984]). Ausführlich: Walf, Die Entwicklung des päpstlichen Gesandtschaftswesens, S. 12 ff., sowie Karl Rueß, Die rechtliche Stellung der päpstlichen Legaten bis Bonifaz VIH., Paderborn 1912, S. 103 ff. 36 Die legati nati haben insofern eine Sonderstellung, als diese ihren Anspruch auf die Legatenwürde traditional aus einer bestimmten Kirche ableiten (Salzburg, Jerusalem etc.) und nicht aus einem päpstlichen Auftrag. Tatsächlich hat diese Institution im Gefüge des primatial ausgerichteten Kirchenrechts keinen Bestand haben können. Die Formulierung von Innozenz IV. - legati "suarum praetextu ecclesiarum legationis vendicent dignitatem" (VI 1.15.1) weist auf die ambivalente Haltung des Papsttums gegenüber diesem Institut hin. Tatsächlich kann diese Legation, die kaum eine solche genannt werden kann, nur unter der Bedingung einer, wenngleich stummen Zustimmung des Papstes gedacht werden. (Vgl. Rueß, Die rechtliche Stellung, S. 228 ff.) Immer gilt das Diktum Gregors VII., daß Privilegien nur unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für die Heilige Kirche bestehen. 37 Gregor VII., JL. 5042, zit. nach Meyer, "Reims und Rom", S. 430. 38 Legati a latere entsendet der Papst heute nur noch als repräsentierende Doppelgänger zu Kulthandlungen. 39 Cardinales "sint pars corporis papae" (Johannes Andreae: Novellae ad c.4 X 2,24, zit. nach Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, S. 219). 40 Vgl. Codex 9,8,5. 41 Glosse zu VI 1.15.1, zit. nach Rueß, Die rechtliche Stellung, S. 110. Petrus Damian, PL 145, 540, zit. nach Brian Tierney, Foundations of the Conciliar Theory. The Contribution of the Medieval Canonists from Gratian to the great Schism, Cambridge 1955, S. 70.
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Die besondere Struktur des päpstlichen Amtes verbietet eine bloße Stellvertretung: deshalb besteht der Diskurs über das Amt des Legaten nicht bloß aus technischadministrativen Erwägungen, sondern zugleich aus einem komplexen System symbolischer Identifizierungen. Der Legat ist nicht bloß Stellvertreter des Papstes, sondern des Apostolischen Stuhls. Diese Verschiebung, so selbstverständlich sie scheinen mag, ist angesichts des personalistischen Charakters des päpstlichen Amtes von großer Bedeutung. Ein berühmtes Ereignis mag das belegen: Als Humbert von Silva Candida im Jahre 1054 dem Patriarchen von Konstantinopel, Michael Kerullarios die Exkommunikation ausspricht, ist Leo IX., als dessen Stellvertreter Humbert in Konstantinopel weilt, schon tot. Und doch wird weder an der Legitimation noch an der Wirksamkeit dieser Handlung gezweifelt, angesichts derer die späteren päpstlichen Reservate gegenüber seinen Legaten geradezu kleinlich erscheinen müssen. 42 Clemens IV. (1265-1268) hat später in einer Dekretale klargestellt, daß eine Legation nicht mit dem Tod des Papstes erlöscht, weil - so Johannes Andreae in seiner Überschrift - das Amt die iurisdictio ordinaria umfaßt. 43 Die Glosse zu dieser Dekretale erklärt kurz und bündig, warum die ordentliche Legation nicht mit dem Tod des Papstes erlöscht: der Legat ist Legat des Apostolischen Stuhles "et sedes ipsa non moritur." 44 Man wird mit gutem Recht sagen können, daß das ganze Geheimnis des Legatenamtes in einer unausgesprochen Theorie der zwei Körper des Papstes gründet. Die Identität von Papst und Legat wird gebrochen zugunsten einer Amtsmystik, die überhaupt erst eine rationale, effiziente Erledigung der Amtsgeschäfte erlaubt. Die Identifizierung der Legaten mit dem Papst wird nicht bloß diskursiv begründet, sondern auch dargestellt, indem sie in eine bildhafte Ordnung übersetzt wird. Seit dem frühen 11. Jahrhundert tragen die Legaten a latere das Purpurrot des Papstes, das erst seit Bonifaz VIII. auch den Kardinälen zustand, sie sind mit dessen Insignien ausgestattet,45 so daß es erscheinen kann, "quam si ipse papa procedat". 46 Die Legaten tragen das Purpur allerdings nur von dem Moment, da sie die Kurie verlassen,
42 Damit sind jene Handlungen benannt, die einem Legaten trotz seiner üblichen Vollmacht nicht erlaubt sind: "Restituit papa solus, deponit et ipse, / Artículos solvit synodumque facit generalem, / Transferí et mutat, appelat nullus ab ipso, / Dividit ac unit: eximit atque probat." (Glosse ad X 1 , 7 , 1, zit. nach Rueß, Die rechtliche Stellung, S. 124) 43 "Legatus habet ordinariam, unde per mortem Papae non exspirat eius officium." (VI 1.15.2 [Friedberg, 984]) 44 Zit. nach Rueß, Die rechtliche Stellung, S. 139. Das gilt wohlgemerkt nur für die ordentliche Legation. Mit dem Tod des Papstes erlöschen dagegen die persönliche Legation und die speziellen Fakultäten, die nicht zum normalen Amt des Legaten gehören. Die Fakultäten, die dem Legaten nicht automatisch zustehen, gehören zur iurisdictio delegata, die wiederum ganz und gar an die Person - und nicht an das Amt - des Delegierenden gebunden sind. 45 Vgl. X 5.33.23 (Friedberg, 866), wo Rom, die Anwesenheit des Papstes und die Legaten, die die Insignien der apostolischen Würde benutzen, gleichgesetzt werden: die Patriarchen der Ostkirche dürfen die Standarte des Kreuzes vor sich tragen lassen "nisi in urbe Romana, et ubicunque summus Pontifex praesens exstiterit, aut eius legatus, utens insigniis apostolicae dignitatis". Es gilt eben nicht nur 'ubi papa, ibi Roma', sondern auch 'ubi legatus, ibi papa'. 46 Thangmar, Vita Bernwardi,
M G H., SS IV, 769, zit. nach Rueß, Die rechtliche Stellung, S. 204.
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bis zum Moment ihrer Rückkehr. 47 Die Legaten, das 'alter ego' des Papstes, sind dieses alter ego nur dort, wo der Papst nicht ist - und nur in dem Raum, der Provinz, den ihnen ihr Legationsschreiben zuweist. Die Päpste begründen das Zugeständnis an die Legaten, die päpstlichen Insignien benutzen zu dürfen, mit einem Effizienzargument: die päpstlichen Insignien erleichtern die Aufgabe der Legation. 48 Die Repräsentation der päpstlichen Person muß sichtbar gemacht werden, um den Erfolg der Legation zu sichern: nur zur Erfüllung ihrer Mission werden die Legaten mit den päpstlichen Insignien ausgestattet. Ausdrücklich wird ein Legat daraufhingewiesen, daß ihm der Gebrauch der päpstlichen Insignien nur im Königreich Ungarn zusteht, nicht aber in anderen Provinzen, die gleichwohl zu seinem Wirkungskreis gehören mögen. Denn nur wegen "offensichlicher Notwendigkeiten und Nützlichkeiten" ist dem Legaten das Recht zugestanden worden, die genannten Insignien zu benutzen. An diesem Beispiel wird deutlich, daß auch dort, wo der symbolische Aufwand besonders deutlich hervorzutreten scheint, wo es ausdrücklich um Probleme der Repräsentation geht, das Papsttum nie die Effizienz, nie die technische Seite aus dem Auge verliert. Der Legat hat eine Aufgabe zu erfüllen: diese besteht nicht darin, den Papst zu repräsentieren; umgekehrt dient die Repräsentation des Römischen Bischofs der Erfüllung dieser Aufgabe.
4. Iurisdictio Im Motu Proprio Pauls VI. wird diese Sachlichkeit deutlich herausgestellt: "Die Rechte und Privilegien, die dem päpstlichen Legaten für seine Person und für seinen Sitz verliehen worden sind, sollen - bei maßvollem und klugem Gebrauch - die ihm eigene Sendung klarer herausstellen und ihm seinen Dienst erleichtern." 49 Es ist jedoch auffällig genug, daß ein Teil der Privilegien nicht mehr mit bloß technischen Erwägungen gerechtfertigt werden kann: das gilt beispielsweise für das in unserem Motu
47 Vgl. Walf, Die Entwicklung des päpstlichen
Gesandtschaftswesens,
S. 28 u. S. 54.
48 "Et ut circa legationis officium, quod in eodem regno Ungariae Tibi duximus committendum, eo possis prosperari felicius, quo solitis legatorum, qui missi de latere mare transeunt adornatus insigniis, personam nostram quodammodo presentabis, de speciali gratia apostolica Tibi auctoritate concedimus, ut eisdem insigniis infra predictum Ungarie regnum dumtaxat uti libere valeas, predicte legationis officium prosequendo. Ita tarnen, quod predictis insigniis in aliis commissis Tibi partibus, provinciis et locis aliquatenus non utaris, et quod id, quod in hoc parte Tibi pro evidentibus necessitatibus et utilitatibus regni predicti et terrarum earundem conceditur, ad aliquam consequentiam, pretextu concessionis huiusmodi in regno et terris eisdem, propter hoc imposterum non trahatur." (Clemens V. 1307 im Legationsschreiben für Kardinal Gentiiis, zit. nach Robert C. Figueira, "'Legatus apostolice sedis': the Pope's 'alter ego' According to Thirteenth-Century Canon Law", in: Studi Medievali Serie Terza, Jg. 27 [1986], S. 569 f.; vgl. die beinahe identische Formel bei Nicolaus III., 1278 [zit. nach Rueß, Die rechtliche Stellung, S. 205]) 49 Sollicitudo, XII,5. Zu diesen Privilegien gehört die Segnung des Volkes (XII,3), die den Ortsbischöfen immer schon ein Dorn im Auge war - hat sie doch nichts mit der Legation selbst zu tun. Vgl. Figueira, "Legatus", S. 571 f. Der besondere Hinweis auf das Privileg, pontifikale Funktionen auszuüben (Sollicitudo, XII,3), weist auf den Sprengstoff hin, der in diesen Privilegien verborgen ist.
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Proprio unerwähnt gebliebene Privileg aller "Legati Romani Pontificis" - also auch derjenigen ohne Bischofsweihe - die Pontifikalinsignien zu benutzen.50 Weil sie in die Rechte der Jurisdiktion eingetreten sind, können - so das Privileg - die Legaten wie Bischöfe behandelt werden.51 Der deutsche Kommentar lehnt dieses Privileg mit der Begründung ab, daß weder die Jurisdiktion, noch das besondere Amt der Legaten "eine Aufwertung durch Pontifikalinsignien" erfordern.52 Während die Bischöfe einen restriktiven Gebrauch der Pontifikalinsignien wünschen, um "die bischöfliche Würde und die ihr gebührende Ehrerbietung in der rechten Weise" zu sichern und zu befördern,53 besteht das nach-konziliare Papsttum darauf, daß seine Stellvertreter zumindest symbolisch ganz automatisch als Bischöfe erscheinen. Der bischöfliche Vorbehalt, den der Kommentar zum Ausdruck bringt - den Legaten ist kein Bistum anvertraut steht gegen die explizite und implizite Argumentation des Papsttums. Als Vertreter dessen, dem die sollicitudo omnium ecclesiarum anvertraut ist, wäre der Legat ganz ebenso selbstverständlich als einem Bischof gleichwertig zu betrachten, wie als Amtsträger, der traditionell, wie alle Ortsbischöfe, in eine pars sollicitudinis berufen ist.54 Die vom päpstlichen Legaten repräsentierte "höhere Autorität"55 machte sich in der früheren Geschichte dieses Amtes als juridische geltend. Die Handlungen des Legaten sind Rechtsakte, die im Namen des Papstes ergehen. Der Bischof ist in seiner Diözese iudex Ordinarius. Der römische Bischof aber ist, weil der apostolische Stuhl das Haupt aller Kirchen ist, ordentlicher Richter jedes Einzelnen.56 Als Stellvertreter des Papstes
50 Motu Proprio "Pontificalia Insignia" vom 21. Juni 1968, in: Acta Apostolica
Sedis 60 (1968), S. 375.
51 Hier bedient sich das Motu Proprio über den Gebrauch der Pontifikalinsignien der Argumentation mit der die Konzilsväter gerade versucht hatten, den Gebrauch der Pontifikalien radikal einzuschränken - "ut usus pontificalium reservetur illis ecclesiasticis personis, quae aut charactere episcopali aut peculiari aliqua iurisdictione gaudent" (Art. 130 der Konstitution über die heilige Liturgie, Sacrosanctum Concilium). Die Legitimation des Gebrauchs der Pontifikalinsignien wird fragwürdig in dem Maße, in dem die iurisdictio der 'Legaten' in Frage steht (siehe unten, S. 108 f.). 52 Heribert Schmitz, "Kommentar zum Motuproprio über die Aufgaben der päpstlichen Gesandten", in: Akten Papst Paul VI., Trier 1970, S. 20. 53 Ebd. 54 Ladner weist daraufhin, daß die Begriffe plenitudo potestatis und pars sollicitudinis aus der Diskussion über den Umfang der Kompetenz und die Legitimation des Legatenamtes entstammen; vgl. "The Concepts of 'Ecclesia'", S. 60 ff. Schatz systematisiert die Belege für die Gleichsetzung von Legaten und Bischöfen über die 'pars sollicitudinis'-Formel bei Innozenz III.; vgl. "Papsttum und partikularkirchliche Gewalt", S. 68 ff. u. S. 87 ff. 55 Sollicitudo,
Einl., X.
56 X 1.6.19: "Praeterea ... sedes apostolica caput omnium ecclesiarum existat, et Romanus Pontifex iudex sit Ordinarius singulorum." (Innozenz III. [Friedberg, 60]) Der o.a. Streit über die Pontifikalinsignien verweist unausgesprochen auch auf diesen Komplex. In der Dekretale "Ad honorem" (X 1.8.4 [Friedberg, 101]) betont Innozenz III., daß nur der Römische Bischof das Pallium, den Mantel, der die (eigentlich erz-)bischöfliche Amtsgewalt symbolisiert, immer und überall tragen dürfe, während die übrigen Bischöfe dieses Zeichen nur in der Diözese tragen dürfen, in der sie über die kirchliche Jurisdiktion verfügen, "quoniam vocati sunt in partem sollicitudinis, non in plenitudinem potestatis" (vgl. Friedrich Kempf, S.J., "Die Eingliederung der überdiözesanen Hierarchie in das Papalsystem des kanonischen Rechts von der gregorianischen Reform bis zu Innozenz III.", in: Archivum Historiae
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ist auch der Legat "iudex Ordinarius". Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß der Legat im Rahmen seiner Legation die iurisdictio ordinaria innehat,57 als Stellvertreter des Papstes kommt sie ihm automatisch zu.58 Es handelt sich also, so die Lehre, nicht um eine delegierte, einer besonderen Person durch eine besondere Übertragung zukommende iurisdictio: die Rechtsprechung der Legaten beruht ganz auf der iurisdictio ordinaria des Papstes. Der Legat ist in diesem Sinne keine Person, die, für sich stehend, mit einer Rechtsprechungskompetenz belehnt wäre: die Rechtsprechung des Legaten ist die Rechtsprechung des Papstes. Durch den Mund des Legaten spricht, so könnte man sagen, der abwesende Papst.S9 Auch hier aber verliert das päpstlich impregnierte Kirchenrecht die Sachlichkeit nicht aus dem Auge: die Identifizierung der päpstlichen Rechtsprechung mit der seiner Legaten wird in einem sehr wichtigen Punkt aufgehoben: während päpstliche Entscheidungen als letztinstanzliche Entscheidungen keine Berufung erlauben, ist dem Legaten der Gebrauch der Formel "appelatione remota" verboten.60 Aus der Tatsache, daß gegen Entscheidungen des Legaten Einspruch beim Papst eingelegt werden kann, wäre eigentlich zu folgern, daß die iurisdictio des Legaten iurisdictio delegata ist.61 Tatsächlich aber weisen die Quellen deutlich darauf hin, daß die iurisdictio des Legaten iurisdictio ordinaria, genauer: iurisdictio quasi-ordinaria ist.62
Pontiflciae 18 [1980] S. 89 f.). Die Lehre vom Papst als dem iudex Ordinarius omnium hat an der 'Rechtsprechungskompetenz' die päpstliche Berechtigung zur Vernachlässigung der kirchlichen Hierarchie festmachen können - und so einen geschlossenen Begriffskreis von sollicitudo omnium ecclesiarum, plenitudo potestatis, päpstlichem Primat und juridischer Verfassung bilden können (vgl. Anm. 24). Das ist insofern wichtig, als sie dem Papst und nur dem Papst den Zugriff durch alle hierarchischen Stufen hindurch gestattet; dagegen ist beispielsweise der Metropolit nur für die Bischöfe seiner Provinz iudex Ordinarius, nicht aber für die, die diesen Bischöfen Untertan sind. Die plenitudo potestatis ist nichts anderes als die Kompetenz, von allen hierarchischen Gliederungen abzusehen. 57 Das geht aus der Überschrift Johannes Andreae zu VI 1.15.2 hervor: "Legatus habet ordinariam, unde per mortem Papae non exspirat eius officium". "Iurisdictio ordinaria im römischen Recht ist demnach die durch das Gesetz mit einem Amt verbundene und darum unmittelbar aus der Amtsübertragung fließende Vollmacht. Iurisdictio ordinaria ist Amtsgewalt." (Ernst Rößer, Die gesetzliche Delegation [delegatioa iure]. Rechts geschichtliche und rechtsdogmatische Untersuchung, Paderborn 1937, S. 22) 58 Vgl. Walf, Die Entwicklung des päpstlichen Gesandtschaftswesens,
S. 40 ff.
59 Deshalb kann der Legat nach VI 1.15.2 in der Provinz, für die ihm das Amt der Legation verliehen worden ist, 'nach dem Beispiel des Proconsuls' jedem vorstehen. 60 Vgl. Rueß, Die rechtliche Stellung, S. 172. 61 Es gehört zum Wesen der des Delegierenden gesetzliche Delegation, delegata im römischen
der iurisdictio delegata, daß sie eine eigenständige Rechtsprechung gegenüber darstellt: deshalb kann an den Delegierenden appelliert werden; vgl. Rößer, Die S. 36. Zum gesamten Komplex vgl. Hermann Josef Conrad, Die iurisdictio und kanonischen Recht, Köln 1930.
62 Rößer behauptet, die iurisdictio quasi-ordinaria stelle nur eine Variante der iurisdictio delegata dar, die delegatio ad universitatem causarum. Geprägt worden sei der Begriff, um der Möglichkeit der Subdelegation und der Tatsache Rechnung zu tragen, daß der iudex quasi-ordinarius von jedem direkt angegangen werden kann (X 1.30.1); vgl. Rößer, Die gesetzliche Delegation, S. 37 ff. Diese These muß sich auf die Begriffe des römischen Rechts stützen; sie verkennt, daß die Frage nach der iurisdictio der päpstlichen Legaten nicht durch die Tatsache der Legation beantwortet wird. Unbescha-
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"Sicut ergo Papa per simplicem querelam potest adiri, quia Ordinarius est singulorum ... sie etiam legatus eius, qui ipsius vicem gerit." 63 Wie der Papst in Rechtsstreitigkeiten von jedem Einzelnen direkt angegangen werden kann, also unter Mißachtung des üblichen Instanzenweges, so kann auch sein Legat, der stellvertretend für ihn handelt, von jedem angegangen werden. Es handelt sich hier nicht um bloße Spitzfindigkeiten: wie schon die Diskussion über die Pontifikalinsignien deutlich gemacht hat, steht in allen diesen Auseinandersetzungen die Verfassung der (katholischen) Kirche selbst auf dem Spiel. Entscheidend ist, daß die iurisdictio des päpstlichen Legaten mit der des Ortsbischofes konkurriert, weil sie wie dessen iurisdictio ordentliche ist. Bei bloßer Konkurrenz aber ist es nicht geblieben 64 : tatsächlich machten die Legaten und später die Nuntien des Papstes in einem solchen Umfang Gebrauch von ihren Vollmachten, daß das Tridentinum sich genötigt sah, die iurisdiktionelle Stellung der Bischöfe wiederherzustellen. Den päpstlichen Gesandten stehen Eingriffe in die iurisdictio des Ortsbischofs nur noch zu, wenn dieser seine Pflichten vernachlässigt. 65 Die erstinstanzliche Rechtsprechung wird wieder bischöfliches Monopol. Im Verlauf der Gegenreformation aber sind die Versuche, die Kompetenzen der Gesandten zu beschränken, in ihr Gegenteil umgeschlagen: das Papsttum, das sich in den Wirren der Reformation als den Garanten der Einheit der Kirche sieht, macht mehr und mehr von seinen Kompetenzen Gebrauch, die im Tridentinum ausdrücklich als Ausnahmerechte deklariert worden sind. Die problematische tridentinische Bestimmung, die den gößten Teil der bischöflichen iurisdictio als delegierte ansieht, 66 wird jetzt so wörtlich interpretiert, daß die iurisdictio der Bischöfe, also die ihnen eigene Amtsgewalt, ihnen nur ex concessione Pontificis zustehe: "Ratio siquidem Monarchici regiminis, quod Christus in sua Ecclesia constituit, videtur exposcere, ut totius Ecclesiae jurisdictionis fons et origo resideat in
det dieser Legation nämlich ist die Identität des Legaten mit dem Papst entscheidend - wenn der Legat als alter ego des Papstes gilt, wird man schwerlich noch behaupten können, daß die iurisdictio des Legaten iure alieno ausgeübt wird. Auch hier erweist sich: das Amt des Legaten stellt den Grenzfall eines Amtes dar. 63 Duranti, Spéculum de Legato, § 4 n.3; zit. nach Walf, Entwicklung des päpstlichen wesens, S. 44. So hat schon Raimund de Penaforte X 1.30.1 überschrieben.
Gesandtschafts-
64 Wenn der Gedanke sich durchsetzt, daß der römische Bischof iudex Ordinarius omnium singulorum ist, weil er zur Erfüllung seines Sollicitudo-Auftrages mit der plenitudo potestatis ausgestattet ist, dann gilt, daß der Papst - und folglich auch sein Legat - "disponente Domino super omnes alias ordinariae (also alle anderen Bischöfe) potestatis obtinet prineipatum" (X 5.33.13, Innozenz III. [Friedberg, 866]). 65 "Legati ..., quarumque facultatum vigore, non solum episcopos in praedictis causis impedire, aut aliquo modo eorum iurisdictionem iis praeripere aut turbare non praesumant, sed nec etiam contra clericos aliasive personas ecclesiasticas, nisi episcopo prius requisto eoque négligente, procédant." (Tridentinum, Sess XXIV, c.20., abgedruckt bei Carl Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, 5. Aufl., Tübingen 1934, S. 332) 66 "Tamquam Sedis Apostolicae delegatus" lautet die Formel des Tridentinums für die neue Beschreibung der Stellung der Bischöfe; vgl. Hubert Jedin, "Delegatus Sedis Apostolicae und bischöfliche Gewalt auf dem Konzil von Trient. Die Kirche und ihre Ämter und Stände", in: ders., Kirche des Glaubens, Kirche der Geschichte. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge II, Freiburg/Br. u.a. 1966.
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ejusdem Ecclesiae visibili capite, qui est Romanus Pontifex, atque ab eo profluat in cetera membra."67 Das Motu Proprio Sollicitudo stellt diesen Sachverhalt nachkonziliar nun doch ganz anders dar: Ausdrücklich hat das Zweite Vatikanische Konzil darauf hingewiesen, daß die Bischöfe "nicht als Stellvertreter (vicarii) der Bischöfe von Rom zu verstehen" sind.68 Die Bischöfe sind jetzt nicht mehr Legaten des Apostolischen Stuhls, wie das Tridentinum formuliert hatte, sondern "vicarii et legati Christi". 69 Nach dem CIC dürfen die Legaten die freie Ausübung der Gewalt der Bischöfe nicht behindern.70 Papst Paul VI. erklärt die Wahrung der bischöflichen Jurisdiktion zur ewigen Norm des Apostolischen Stuhls,71 habe doch schon Gregor der Große eine Störung der Ordnung der Kirche dort gefürchtet, wo "die jedem einzelnen Bischof zustehende Jurisdiktion nicht gewahrt wird". 72 Das System der konkurrierenden ordentlichen Rechtsprechung des Mittelalters ist unter den Bedingungen der "collegialis unio" von Bischöfen und Papst73 ebensowenig denkbar wie das Festhalten an der Lehre von der delegierten Gewalt der Bischöfe. Die Legaten üben ihr Amt jetzt nur noch "unter voller Wahrung der Jurisdiktion der Bischöfe" aus.74
5. Institution, Kommunikation, Souveränität Nun ist das insofern nicht verwunderlich, als die Legaten sich ja zum ganz überwiegenden Teil als Nuntien präsentieren, also als diplomatische Vertreter des Papstes, der zugleich Kopf der katholischen Kirche und Oberhaupt des Kirchenstaates ist - und deshalb zwei völkerrechtliche Subjekte darstellt. Nuntien aber haben von Anbeginn keinen Anteil an der iurisdictio.75 Tatsächlich erfaßt das Motu Proprio Sollicitudo sowohl sogenannte Apostolische Delegaten - Vertreter des Papstes bei den Ortskirchen - als auch Nuntien, deren Amt den religiösen Auftrag des Delegaten um die diplomatische Stellvertretung bei Staaten ergänzt. Das Motu Proprio aber ist gleichzeitig in einem Maße ekklesiologisch und seelsorgerisch motiviert, daß die diplomatische Stellvertretung
67 Benedikt XIV. (Prosper Lambertini), De Synodo Diocesana, Lib.I, Cap.IV, n.2; zit. nach Walf, Die Entwicklung des päpstlichen Gesandtschaftswesens, S. 247. 68 Lumen Gentium, III, 27, S. 247. 69 Lumen Gentium, III, 27, S. 244. 70 "Legati ordinariis locorum liberum suae iurisdictionis exercitium relinquant." (CIC Can. 269, § 1, abgedruckt bei Mirbt, Quellen des Papsttums, S. 540) 71 Sollicitudo,
Einl., 10.
72 Der Bezug auf die Sessio XXIV des Tridentinums ist bis in die Wortwahl hinein offensichtlich. 73 Lumen Gentium, 23. 74 Sollicitudo,
VIII, 1.
75 Seit Innozenz III. wird das Amt des Nuntius, hervorgegangen aus dem des Kollektors, von dem des Legaten unterschieden; vgl. Rueß, Die rechtliche Stellung, S. 105 f.; Willibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, Bd. 2, 2. Aufl., Wien - München 1962, S. 111 f.
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auffällig im Schauen des 'kirchlichen' Amtes des Legaten steht. Insofern könnte dieses Motu Proprio auch in der Tendenz einer Rücknahme der Säkularisierung des Amtes des päpstlichen Gesandten gedeutet werden. Ob man diese Rücknahme aus der Perspektive der Ortskirchen - die um ihre Autonomie besorgt sind - als Rückschritt deuten möchte, oder aber als einen Versuch, die geistliche Dimension der Institution Kirche wieder in den Vordergrund zu rücken, mag dahingestellt bleiben. 76 Auffällig genug jedenfalls ist die Gewichtung, die das Motu Proprio vornimmt. Festgehalten werden mag, daß der römische Bischof ganz offensichtlich die geistliche Dimension der Institution Kirche in ihrer Einheit begründet und verwirklicht sieht: den "Schatz der Wahrheit, der Gnade und der Einheit" 77 soll die Kommunikation von Zentrum und Peripherie hüten, die die Legaten des Papstes gewährleisten. Wenn der Bischof von Rom die geistliche Dimension der Institution Kirche beschwört, dann wird er nicht zuletzt von dem diskursiven Erbe, das das Amt des Papstes tradiert, dazu gezwungen, die Einheit im Namen des Herrn 78 als institutionell gesicherte zu inszenieren, nämlich als im und durch das petrinische A m t garantierte. Die stets diffizile Beziehung von Bischofs- und Legatenamt wird jetzt durch die Begriffe praesidium et tutela, Stütze und Schutz definiert. 79 Stütze und Schutz gewähren die Legaten, indem sie die höhere Autorität des Apostolischen Stuhles repräsentieren. Es wird in unserem Motu Proprio deutlich, daß die ordentlichen Befugnisse der Legaten nur noch in Bericht und Aufsicht bestehen. In diesen beiden Tätigkeiten erschöpft sich jetzt die potestas ordinaria der Legaten. 80 Das A m t des Legaten geht ganz in einer Informationsaufgabe auf: um seine "ordentliche Aufgabe" zu erfüllen, berichtet er nach Rom "in Wahrheit und Billigkeit... über die Verhältnisse der Kirchen, zu denen er entsandt wurde, wie auch über alles, was sich auf das kirchliche Leben und das Wohl der Seelen bezieht." 81 V o n Rom empfängt er die kurialen Entscheidungen, "um dieselben ihren Bestimmungen zuzuführen." 82 Im Rahmen dieser
76 "La théologie du Vatican II invite à reprendre les choses par la racine en fonction de la finalité de ces deux fonctions [gemeint ist die fonction diplomatique und die fonction religieuse, A . A . ] . Et cela commande une profonde restructuration", erklärt der Kardinal Suenens in einem Interview über "Le Statut et la Mission du Nonce" in den Informations Catholiques Internationales vom 15. Mai 1968. 77 Sollicitudo, Einl., 8. 78 Vgl. Sollicitudo,
Einl., 2.
79 In Lumen Gentium war - unter Bezug auf Pastor aeternus des 1. Vatikanischen Konzils - davon die Rede, daß die bischöfliche Gewalt durch die päpstliche nicht ausgeschaltet, sondern im Gegenteil bestätigt, gestärkt und in Schutz genommen werde - "non eliditur, sed e contra asseritur, roboratur et vindicatur" (III, 27). Eine umfangreiche Kritik sieht in diesen Formulierungen nur Zähmungen, die den anti-kollegialistischen Tenor des Motu Proprio verdecken sollen. Vgl. J. Neumann, "Neuordnung des Päpstlichen Gesandtschaftswesens", in: Orientierung 33 (1969), sowie J. Hennessey, "Papal Diplomacy and the Contemporary Church", in: Thought 46 (1971). 80 Die Legaten, die mit dem Titel der Nuntien entsendet werden, haben "duas ordinarias potestates", nämlich "advigilare et reddere", also Aufsicht und Bericht (CIC, Can. 267, abgedruckt bei Mirbt, Quellen des Papsttums, S. 540). Alle anderen Fakultäten sind nur delegierte. 81 Sollicitudo,
V,l.
82 Sollicitudo,
V,3.
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Tätigkeiten ist er der Interpret des Papstes: die Auslegung der verschiedensten Apostolischen Äußerungen erscheint als das Pendant zu der Aufgabe, Rom über die "consilia et vota" der Christen des ihm anvertrauten Gebietes zu unterrichten. Im Laufe der hier überblickten Jahrhunderte hat sich das Betätigungsfeld der Legaten gewandelt: Information hat Jurisdiktion ersetzt. Dieser Wandel ist nicht nur den Veränderungen im hierarchischen System der (katholischen) Kirche zuzuschreiben. Es ist nicht nur die konziliar beschworene Kollegialität der Bischöfe, die den Legaten die iurisdictio entzieht: es ist vielmehr offensichtlich, daß auch die katholische Kirche eine Entwicklung spiegelt, in der die Prozesse der Information die Probleme verschwinden lassen, auf die das Konzept der iurisdictio geantwortet hatte. Das Legatenamt ermöglicht nach der Diktion des Motu Proprio - das hier ganz in der Tradition steht - eine Richtung des 'intensiven Beziehungsaustausches': die Bewegung, "die vom Mittelpunkt der Kirche zur Peripherie führt und auf gewisse Weise alle Kirchen und jede einzelne, alle und jeden einzelnen Oberhirten und Gläubigen erreicht." 83 Nun wäre diese Bewegung ja auch innerhalb der traditionalen kirchlichen Hierarchie sicherzustellen: davon aber ist hier nicht die Rede. In Frage steht vielmehr die Möglichkeit einer unmittelbaren Beziehung zwischen dem Papst und den Ortskirchen, zwischen dem Papst und den Diözesanbischöfen, ja zwischen dem Papst und den einzelnen Gläubigen. Das Amt des Legaten verbürgt diese Unmittelbarkeit, indem es dem abwesenden Papst erlaubt, am Leben Seiner Kinder teilzunehmen, sich gleichsam in ihre Gemeinschaft einzugliedern. Und so wird er sicher und einfach mit ihren Anliegen und intimsten Wünschen bekannt. 84 Diese letzte Begründung des Legatenamtes macht deutlich, daß dieses Amt nicht einfach dem Beziehungsaustausch ZentrumPeripherie dient, sondern dabei notwendigerweise auch eine Ergänzung der Bewegung Peripherie-Zentrum darstellt. Sie ergänzt also nicht zuletzt den Informationsfluß der Bischöfe. Der Papst erreicht (attingit) nicht bloß jeden Einzelnen: es wird vielmehr sichergestellt, daß der Papst von jedem Einzelnen erreicht werden kann. Allerdings verdankt sich diese Bestimmung jetzt nicht mehr einem juridischen Paradigma, 85 sondern einem neuen Informationsparadigma. Der Legat erfüllt eine Kommunikationsaufgabe, indem er den abwesenden Papst repräsentiert: und zwar nicht bloß dessen Autorität, wie immer wieder betont wird - das würde sich auf die Kommunikation vom Zentrum zur Peripherie beziehen - , sondern auch dessen Ohr und Auge. Wenn der Papst das Prinzip der Einheit der katholischen Kirche darstellen soll, dann kann diese Einheit - das stellt das Vatikanum klar - doch nicht mehr einfach als von oben hergestellt gedacht werden. 86 Der Primatialanspruch wird ja nicht bloß durch das
83 Motum "qui a medio ad extrema feratur atque quadam ratione omnes et singulas Ecclesias, cunctos et singulos Pastores ac fideles attingat." (Sollicitudo, Einl., 8) 84 "Per legatos Nostros ... vitam ipsam filiorum Nostrorum participamus eique veluti inserimur, atque facilius securius Nobis innotescunt illorum necessitates et intima desideria." (Sollicitudo, Einl., 9) 85 Siehe oben, S. 107. 86 Darüber können auch scheinbar restaurative Tendenzen des Vatikans nicht hinwegtäuschen. Vgl. zum Konzept der Einheit von oben Armin Adam, Rekonstruktion des Politischen. Carl Schmitt und die Krise der Staatlichkeit 1912-1933, Weinheim 1992, S. 96 ff.
Die Legaten der römisch-katholischen Kirche
111
Prinzip der bischöflichen Kollegialität gebrochen;87 wichtig ist vielmehr die Betonung des Prinzips der communio durch das Vaticanum II. Deshalb ist das zentrale Problem der Verfassung der katholischen Kirche nicht mehr das Verhältnis von Papst und Bischöfen, sondern das der Beteiligung der Laien auch an der 'politischen' Seite des kirchlichen Lebens. Die Konsequenz dieser Verschiebung ist auch für das hier in Frage stehende Legatenamt deutlich zu sehen und im Rückblick gut zu verstehen: das Amt des Legaten ist als "Kampfinstrument"88 in einem Moment entstanden, da das Ganze der Kirche als auf dem Spiel stehend empfunden wurde. Die Reform der Kirche war nicht weniger als der vielbeschworene Ausnahmezustand einer Institution. Diese Ausnahme hat eigene Institutionen geprägt oder schon bestehende auf eine Weise ausgebaut, daß sie kaum noch wieder zu erkennen waren. Einer allgemeinen Tendenz folgend sind diese Institutionen allererst durch eine Kompetenzerweiterung bestimmt: das gilt für das Amt des römischen Pontifex ebenso wie für seine Gesandten. Der Versuch des Papsttums, zwischen dem späten 12. Jahrhundert und dem Zeitalter der Gegenreformation die Ausnahme zu institutionalisieren, hat zu den genannten Klagen und Konflikten verfassungstheoretischer Art geführt. Vielleicht ist die Antwort des Tridentinums (s.o.) so schnell wieder unterlaufen worden, weil die Ausbreitung des protestantischen Bekenntnisses wieder zur Wahrnehmung eines Ausnahmezustandes getaugt hat. Heute aber ist nicht bloß ein Ausnahmezustand für die katholische Kirche nicht zu sehen: tatsächlich hat ein Konzept der Normalität die Herrschaft der modernen Welt übernommen, das ganz wesentlich auf dem Prinzip der Information und Kommunikation beruht. Die politische Theorie stellt fest, daß das Konzept der Souveränität zurückgedrängt wird89 - und mit ihm der diskursiv-symbolische Aufwand, der diesen Ordnungsversuch legitimiert. Dieser Aufwand wird zurückgedrängt zugunsten namen- und bilderloser Techniken der Verwaltung, unter denen das Prinzip der Information hervorragt. Die sowohl theoretische als auch technische Schwächung des Legatenamtes, von der der CIC und unser Motu Proprio Zeugnis ablegen, fügt sich in diese Entwicklung. Nicht ganz nahtlos, wohlgemerkt: weil die katholische Kirche im eminenten Sinne Institution ist und von diesem institutionellen Charakter nicht abrücken kann, ohne aufzuhören, die katholische Kirche zu sein. Aus der Heilswahrheit von der Menschwerdung Christi speist sich das besondere Verhältnis der katholischen Kirche zur Sichtbarkeit und damit die Betonung der Bildwerdung politischer Verhältnisse. Nicht zuletzt deshalb können die namen- und bilderlosen Praktiken der Verwaltung den symbolischen Aufwand nicht kassieren, als deren Ergebnis die katholische Kirche erscheint. Die katholische Kirche rettet das Modell der Institution selbst, indem sie Heilswahrheit und Sichtbarkeit nicht nur auf den Glauben an die Menschwerdung Christi bezieht, sondern daraus Folgerungen für ihre politische Einrichtung in dieser Welt ableitet.
87 Lumen Gentium, III, 22, S. 221 ff. 88 Schieffer, Die päpstlichen
Legaten,
S. 237.
89 Vgl. Armin Adam, "Souveränität und Sittlichkeit. Eine Anmerkung zum Mythos des Staates", in: Der Staat Bd. 33 (1994).
Georg Pfleiderer
"Wer Christo wil anhangen, dem ist die gantze weit feind" Feindschaft im Denken Martin Luthers1
1. "Steche, Schlahe, würge hie wer da kan": Züge einer Paranoia? Luthers Neigung zu sprachlichen Grobheiten ist bekannt. Kübelweise pflegte er Verbalfäkalien über seine Gegner auszukippen - im Alter mit zunehmender Tendenz. 2 Und nicht nur in Worten, sondern auch in von ihm autorisierten Stichen, tausendfach verbreiteten Drucken richtete Luther seine Gegner publizistisch hin. 3 Seine oft geradezu unflätige Polemik ist aus den Usancen spätmittelalterlicher Streitkultur keineswegs zureichend zu erklären. Schon auf Zeitgenossen wirkte sie maßlos. Und die Verbalinjurien Luthers waren auch nicht nur Ornamente wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Luther muß als ein Schreibtischtäter bezeichnet werden; er wirkte phasenweise als publizistischer Scharfmacher. Seine Entgleisungen im Bauernkrieg, seine berüchtigte Aufforderung, "Steche, Schlahe, würge hie wer da kan", 4 dürfte vielen Menschen das Leben gekostet haben. Luthers Polemik ist mehr als ein rhetorisches Stilmittel; sie entspricht einer Denkstruktur ihres Autors. Luther hat, so weit man sehen kann, alle seine zahlreichen Gegner als seine "Feinde" bezeichnet und betrachtet, unter ihnen einzelne Menschen wie Johannes Eck, 5 Kardinal Cajetan, 6 spätestens nach 1520 den Papst, 7 auch weltliche
1
Ich danke Herrn Prof. Dr. Ulrich Köpf, dem Direktor des Instituts für Spätmittelalter und Reformation in Tübingen, für die Möglichkeit, das Luther-Archiv zu benutzen; den Mitarbeitern des Instituts danke ich für ihre freundliche Unterstützung.
2
Vgl. die detaillierte Statistik bei Mark U. Edwards, Luther's Last Batties. 1531-46, Leiden 1983, S. 6 ff.
3
Eine Zusammenstellung und Kommentierung von Luthers "Kampfbildern" findet sich bei Hartmann Grisar u. Franz Heege, Luthers Kampßilder, Freiburg 1921-1923. Einige der schlimmsten papstkritischen Poster sind auch abgedruckt bei Edwards, Luther's Last Batties, S. 190 ff.
4
WA 18, 361, 24-28.
5
Vgl. WA 1, 305, 13 f.; vgl. WA 1, 312, 20 ff.
6
Vgl. WA 15, 214, 20.
7
Für eine frühere Datierung (auf 1518) plädiert Hans-Ulrich Hofmann, Luther und die JohannesApokalypse. Dargestellt im Rahmen der Auslegungsgeschichte des letzten Buches der Bibel und im Zusammenhang der theologischen Entwicklung des Reformators, Tübingen 1982, S. 625.
Politics
and
Polemics,
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Georg Pfleiderer
Herrscher wie Herzog Georg von Braunschweig oder Heinrich VIII. von England8 und viele Fürsten, außerdem manche Humanisten, Thomas Müntzer, diverse kirchliche Ketzer usw. Als "Feinde" bezeichnet Luther aber auch Gruppen wie die Täufer, die Juden und die Türken oder Institutionen wie den ganzen Apparat der römischen Kirche.9 Bemerkenswert ist, wie undifferenziert Luther das Etikett Feind verteilt; er streut es sozusagen über Gerechte und Ungerechte aus. So werden von ihm auch die ihm doch relativ nahestehenden Schweizer Reformatoren, U. Zwingli und H. Oekolampad u.a. als "Schwärmer" und damit als Feinde gebrandmarkt.10 Feindschaftsverhältnisse werden von Luther auch in Zusammenhängen aus- und aufgemacht, wo das nachgerade komisch wirkt. So kann Luther etwa den irenischen Sebastian Franck als seinen Feind bezeichnen und zwar nur deshalb, weil dieser eine etwas schlüpfrige Bemerkung kolportiert.11 Auffällig ist, daß Luther die personale Kategorie der Feindschaft auch auf nichtpersonale Verhältnisse übertragen kann, etwa auf den Bereich der Wissenschaft: "Mathematica est inimicissima omnino theologiae, quia nulla est pars philosophiae, quae tarn pugnat contra theologiam".12 Auch die Philosophie sei eine Feindin der Theologie, mehr noch eine "inimica Deo". 13 Ja sogar auf das Verhältnis von Schriftkanon und Schriftinhalt wendet Luther den Feindschaftsbegriff an: "(Ich) verwerffe ... unnd verdamme den Canon ... als eyn Feynd des Euangelion."14 Weiterhin ist auffällig, wie Luther anscheinend alle Verhältnisse, die durch sachliche Differenzen bestimmt sind, gleichgültig ob sich die Urheber dieser Differenzen bewußt sind oder sie als solche intendieren, als Feindschaftsverhältnisse wahrnimmt. Der Sinn bzw. der Effekt dieser Wahrnehmung besteht darin, daß Differenzen in der Sache zu einem totalen, absoluten Gegensatz der Kombattanten aufgebauscht werden: "Denn so gewis als Kain und Juda
8
Vgl.: WA 10 II, 204, 33 ff; WA 23, 34, 9. 12.
9
Häufig finden sich mehr oder weniger stereotype Feindeslisten - "Teuffein, Juden, Mahometisten, Papisten" (WA 54, 54, 34 ff.) - "Papistae, Judaei, Mahometistae, sectarii etc." (WA 40 I, 603, 21 f.) - mit variierten Gliedern im Stil mittelalterlicher Ketzerpolemik. Vgl. z.B. auch: "Gedencket aber nicht schlecht des Feindes, Sondern auch des Rachgirigen, ... fuernemlich die Synagoga und das Juedisch Volck, Darnach auch den Teuffei mit seinen Schupen, als gewesen ist das Roemisch Reich, Und heutigs tags noch ist der Endechrist und Bapst, Item Mahomet und Turcken." (WA 45, 226, 37-227,9)
10 Daß das Etikett "Feindschaft" signalisieren sollte, läßt sich aus der Häufigkeit ersehen, mit der Luther in der Auseinandersetzung mit den Schweizern hinter deren Schriften den Satan selbst am Werk sah. Die Schweizer zählten nach und kamen auf 77 Belege. Vgl. Hans-Martin Barth, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers, Göttingen 1966, S. 118. 11 "Ich wil nur eines anzeigen, damit ich zeuge, das ich seine [sc. Seb. Francks] Bucher gelesen und nicht on ursache jm Feind bin. Lieber, sage mir, wie stehet das einem Historienschreiber an, da er spricht: 'Lessche das liecht aus, so sind die Weiber alle gleich'? Und ob er solche Wort etwa gehört hette von einem leichtfertigen Menschen, solt ers darum ins Buch schreiben und mit solcher freud und lust bestetigen? ... Oder warum sind die menner nicht auch alle gleich, wenn man das liecht auslescht?" (WA 54, 174, 34 ff.) 12 WA 39 II, 22, 1 ff. 13 WA 39 I, 180, 29 f. 14 WA 8, 527, 11 f.
Feindschaft im Denken Martin Luthers
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ynn der helle sein muessen, so gewis ists auch als were es bereit da, das der Luther odder seine feinde muessen der hellen sein, welche unrecht haben." 15 Luthers Selbstgewißheit, die Überzeugung von der Richtigkeit seiner Lehre, kann sich steigern bis zur unmittelbaren Gleichsetzung seiner Lehre mit dem von ihr intendierten Gegenstand, so daß er schon im Einklagen der Differenz zwischen beidem den Teufel am Werk sehen kann: "Die feynd des Euangelj heyssen Gottis wort ytzt Lutherische Lere". 16 "Feindschaft" ist bei Luther, wie erkennbar wird, nicht nur eine (ihrem Anspruch nach) empirisch-deskriptive, sondern zugleich eine theologische Grundkategorie. Weil er das einfache und wahre Evangelium wiederentdeckt habe, darum tobe nun die ganze Welt, darum hätten sich alle Teufel verschworen, um die Ausbreitung dieser Wiederentdeckung zu verhindern. 17 Grundlinien von Luthers theologischem Denken lassen sich mithilfe des Feindschaftsbegriffs nachzeichnen: Der Mensch ist ein Feind des Guten und ein Freund der Sünde. Die "Welt" insgesamt ist - wie sie ist - die Feindin Gottes; 18 denn hinter der Welt steht der Satan als der "altböse Feind". Versöhnung wird darum vorgestellt als ein Kampf unter Feinden - nämlich zwischen Christus und dem Satan. Die wahren Christen werden von der bösen Welt bis zum Jüngsten Tag angefeindet. 19 Überblickt man diesen Befund, dann legt sich eine psychoanalytische, 20 näherhin eine psychopathologische Deutung nahe. Die Theologie Luthers wirkt wie der ins Metaphysische gespiegelte Überbau eines von pathologischem Verfolgungswahn gezeichneten Gemüts, zu keinem anderen Zweck erfunden als zu dem, eine eindrucksvolle Paranoia ideologisch zu sanktionieren. Mit einer solchen individualpsychologischen Deutungslinie wäre eine traditionsgeschichtlich-sozialpsychologische zu verbinden und abzugleichen, die die religiösen
15 WA 23, 33, 17-19; vgl. auch: "(M)eine wütige Tyrannen und feinde, und wer sie sind, die groben Eselsköpffe und Lügenmeuler, die itzt gar nichts können, on allein widder den Luther schreyen und lestern. Das sie mich [am jüngsten Tag] werden gar herrlich preisen und heben müssen und über sich selbs Ach und weh schreyen." (WA 36, 474, 28 ff.) 16 WA 15, 70, 13. Vgl. auch folgendes Gebet gegen (!) Herzog Georg: "Wiewohl ich für dir ein armer sunder bin, der dein gericht nicht leyden kan, so weis ich doch, das ich widder meine feinde recht habe und frum bin. Denn meine lere ist recht und unstrefflich, So thu ich auch am leben yhn kein leid, sondern alles gut, Denn ich suche friede, ich bitte für sie, lehre sie. Aber sie wollen nicht und verdammen beide meine lere und leben. Darum bitte ich umbs recht, richte, urteil und beweise, das sie mir unrecht thun, beide am leben und an der lere. Amen." (WA 30 II, 46, 2 ff.) 17 Vgl. "Der Bapst und seine Schutzherrn sind keinem Mörder und Reubern so feind, als sie uns sind. ... Solchs ist nicht Menschliche Bosheit, Neid oder Haß, Sondern kompt vom Teuffei her, Welcher die Welt wider uns so verbittert und verhasst machet. Es geschieht auch solchs nicht on ursach. Denn weil Christus durch unsern Mund des Feindes Gewalt und Weißheit zuschanden machet, So beisset er die zeene über uns zusamen und wölt uns gern zureissen." (WA 45, 227, 28 ff.) 18 Vgl. "Welt (die des ewigen Feinds Christi, des Teuffels getrewe, gehorsame dienerin ist) ..." (WA 21, 298, 20 ff.) 19 Vgl. Ulrich Asendorf, Eschatologie
bei Luther, Göttingen 1967, S. 152.
20 Vgl. Erik H. Erikson, Young Man Luther. A Study in Psychoanalysis
and History,
New York 1958.
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Georg Pßeiderer
Vorstellungen und theologischen Denkmuster untersucht, welche in Luthers Feindschaftsdenken aus Tradition und Umwelt einfließen.
2. 'Kum lieber juengster Tag': Feindschaftsdenken als Funktionsmoment apokalyptischer Zeitdeutung? Im Zuge einer traditionsgeschichtlichen Analyse dürfte es naheliegen, Luthers Theologie im Rahmen eines - wie immer näher zu bestimmenden - apokalyptischen Vorstellungszusammenhangs zu verorten, also eines Denkens, dessen Grundzug die Übertragung biblischer Offenbarungsinhalte auf die Ereignisse der eigenen Zeit darstellt, mithin eine bestimmte Form theologischer Zeitdeutung. 21 Züge einer solchen apokalyptischen Zeitdeutung finden sich im Denken Luthers zuhauf. 22 Dazu gehört insbesondere, daß Luther seine Gegenwartszeit als Endzeit, nämlich als die unmittelbare Vorgeschichte der Endschlacht zwischen Gott und Satan deutet. Seine, Luthers eigene Wiederentdeckung des Evangeliums, die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade leitet diese endzeitliche Entscheidungsschlacht ein. 23 Besonders die sich um 1529 enorm verschärfende Bedrohung des Abendlandes durch die Türken unter Suleiman II. hat Luther in dieser apokalyptischen Einschätzung der Zeitlage sehr bestärkt. Die Jahre 1529/30 können geradezu als die Zeit der Ausreifung der apokalyptischen Zeitdeutung Luthers gelten. Ungefähr zeitgleich scheitern die Verhandlungen mit der Papstkirche in Augsburg und nimmt mit der Belagerung Wiens durch die Türken die Gefahr dramatisch zu, daß die Türken über Ungarn und Österreich in das abendländische Kernland vordringen könnten. 24 Die (Beinahe)Koinzidenz dieser
21 Eine entsprechende Untersuchung würde im einzelnen umfangreiche religions- und theologiegeschichtliche Studien erfordern. Zu untersuchen wäre Luthers Verhältnis zu bestimmten volkstümlichen Strömungen einer spätmittelalterlichen Volksfrömmigkeit, zu den Topoi der mittelalterlichen Ketzerpolemik, zur Geschichtsphilosophie Joachim v. Fiores, zum Chiliasmus in seinen diversen Ausformungen z.B. Thomas Müntzerscher Provenienz, zu den dualistischen Geschichtskonzeptionen hoch- und spätmittelalterlicher Sekten wie der Katharer, zur Eschatologie Augustins etc. 22 Einen Überblick über die Diskussion der Frage, inwieweit die Rede von apokalyptischen Denkformen bei Luther überhaupt berechtigt ist, verschafft Hofmann, Luther und die Johannes-Apokalypse, S. 2 ff. Zu Recht weist Hofmann darauf hin, daß Luthers Verhältnis zur Apokalyptik nicht ausschließlich an den frühen Vorreden zur Johannes-Apokalypse festgemacht werden dürfe (vgl. S. 5). Vgl. zur Thematik insbesondere die Arbeiten von Heiko A. Oberman, Luther - Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982; ders., "Luthers Beziehungen zu den Juden: Ahnen und Geahndete.", in: Helmar Junghans (Hrsg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, Göttingen 1983, Bd. I, S. 519-530; Bd. II, S. 894-904; vgl. ferner: Asendorf, Eschatologie bei Luther, Tarald Rasmussen, Inimici Ecclesiae. Das ekklesiologische Feindbild in Luthers 'Dictata super Psalterium' (1513-1515) im Horizont der theologischen Tradition, Leiden 1989. 23 Wenigstens in bestimmten Phasen seines Denkens hat Luther sein eigenes Denken und Auftreten in ein apokalyptisches Geschichtsschema eingezeichnet, näherhin in ein zweifaches Dreiphasenschema. Vgl. Oberman, "Luthers Beziehungen zu den Juden", S. 522-524. 24 Vgl. zu diesem Zusammenhang auch Hofmann, Lutherund S. 643 ff.
die Johannes-Apokalypse,
S. 635 ff., bes.
Feindschaft im Denken Martin Luthers
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beiden Ereigniszusammenhänge nimmt Luther den letzten Zweifel daran, daß es sich beim Papst und den Türken um die beiden endzeitlichen Reiche des Widersachers handelt, wie sie der Prophet Ezechiel weissagt.25 Unbestreitbar ist, um es zu wiederholen: Züge einer apokalyptischen Selbst- und Zeitdeutung lassen sich bei Luther namhaft machen. Sie sind mit bestimmten Vorstellungsformen, die in seinem Denken prominente Rollen spielen, insbesondere der Vorstellung des Teufels, verbunden.26 Historisch-genetische Analysen des Lutherschen Feindschaftsdenkens dürften, wie sich abzeichnet, zweifellos erfolgversprechend sein. Gleichwohl soll im folgenden ein anderes Verfahren in Anschlag gebracht werden. Ich möchte versuchen, die prominente Rolle des Feindschaftsbegriffs bei Luther aus Luthers immanenter theologischer Denkbewegung heraus verständlich zu machen. Ich verwende dabei ein bestimmtes begriffliches Instrumentarium, das ich mir aus modernen Subjektivitätstheorien entleihe, wie sie in der Theologie seit Schleiermacher ausgebildet worden sind.27 Inhaltlich möchte ich erstens zeigen, daß sich die systematische Funktion des Feindschaftsbegriffs bei Luther immanent-theologisch erklären läßt; die Einflüsse einer apokalyptischen Zeitdeutung werden durch Luthers theologische Grundentscheidungen transformiert. Zweitens möchte ich plausibel machen, daß diese Grundeinsichten dem Feindschaftsbegriff eine prominente Funktion zuweisen, jedoch mit der Pointe, Feindschaftsverhältnisse ethisch bearbeitbar zu machen. Die Weise, wie diese Verarbeitung geschieht, kann als eine Art Diskurstheorie gedeutet werden.
3. "Oh mensch, ... wye ein schedlicher feint du dir selber bist": 'Feindschaft' als ontologischhamartiologischer Grundbegriff Der formale Grundgedanke der Lutherschen Theo- und Anthropologie besteht darin, daß die Letztbestimmung des Menschen zugleich einerseits als Grundvollzug von Subjektivität verstanden, mithin dem Menschen als zu verantwortende Tätigkeit zugeschrieben werden muß, daß sie andererseits als Grundsollzug allen bestimmten Vollzügen des Subjekts strukturell vorausgeht, indem sie diese bestimmt. Der Grundvollzug von Subjektivität ist formal als Wille beschreibbar. Unfrei ist der Wille, denn ein neutraler (wahl)freier Wille wäre in seiner Sichgegebenheit nicht zu begreifen. Der "menschliche Wille (ist) in der Mitte hingestellt wie ein Lasttier; wenn Gott darauf sitzt, will er und geht, wohin Gott will ... Wenn der Satan darauf sitzt, will er
25 Vgl. Oberman, "Luthers Beziehungen zu den Juden", S. 526. 26 Vgl. auch die Deutung des Papstes als des Antichrists im Tempel; vgl. WA 7, 728, 4 ff. u.ö. 27 Die nachstehenden Überlegungen verstehen sich als ein systematisch-theologischer Versuch. Sie möchten eine bestimmte Deutung von Luthers Umgang mit der angezeigten Thematik vorschlagen; historische Zusammenhänge und Entwicklungen in Luthers Denken müssen weitgehend ausgeblendet werden.
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und geht, wohin der Satan will." 28 Der mythologisch instrumentierte Gegensatz zwischen Gott und dem Teufel erfahrt bei Luther eine präzise anthropologische Sinndeutung. Von Gott wie vom Teufel läßt sich nur im Hinblick auf das Verhältnis zum Menschen eine sinnvolle Aussage machen. 29 "Gott" und "Teufel" sind formal die beiden möglichen, alternativen Bestimmungsgründe einer Letzt- und Totalbestimmung menschlicher Existenz. 30 Die Voraussetzung, die hier gemacht wird, ist, daß menschliche Existenz in ihrem Ursprung durch ein Abhängigkeitsverhältnis bestimmt ist, aber durch ein solches, das der in ihm angelegten Möglichkeit nach mit der menschlichen Freiheit nicht nur nicht im Widerspruch steht, sondern diese sogar bedingt: "Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan." 31 Die Möglichkeit der Freiheit, d.h. der freie Selbstbezug auf bestimmtes anderes einzelnes und auf die endliche Andersheit insgesamt, auf die Welt, wird aus diesem Abhängigkeitsverhältnis dann freigesetzt, wenn der Mensch seine Selbstbegründung in dem Grund alles Seins nimmt und wahrnimmt, d.h. in Gott. Gott ist derjenige Grund, der alles Sein aus sich entläßt und freiläßt. Darum ist er genau derjenige Bestimmungsgrund des Selbst, der für dieses zugleich den Zusammenschluß seiner selbst mit allem endlichen Sein überhaupt, mit der Welt, erlaubt. 32 Durch dieses so bestimmte Grundsein ist Gott bestimmt. Mit Gott als absolutem Beziehungsgrund konkurriert der Teufel. Der Teufel wird zwar mythologisch als dem Menschen und der Welt überlegene, transzendente personale Gegenmacht dargestellt, als der "Erzfeind", 33 der "altböse Feind", aber der Gebrauch dieser vorstellungshaften Redeweise Luthers läßt eine klare begriffliche Struktur erkennen. Wenn der Teufel der Feind schlechthin ist, dann bedeutet das: er ist an sich
28 "Sic humana uoluntas in medio posita est, ceu iumentum, si insederit Deus, uult uadit, quo uult Deus ... Si insederit Satan, uult et uadit, quo uult Satan, nec est in eius arbitrio, ad utrum sessorem currere aut eum quaerere, sed ipsi sessores certant ob ipsum obtinendum et possidendum." (WA 18, 635, 22 ff.) Dt. Übersetzung nach: Martin Luther, Daß der freie Wille nichts sei. Antwort D. Martin Luthers an Erasmus von Rotterdam (1525), in: ders., Ausgewählte Werke, hrsg. v. H. H. Borcherdt u. Georg Merz, Ergänzungsreihe, 1. Bd., 3. Aufl., München 1983, S. 46. Zur Interpretation des gesamten Argumentationsganges dieser Schrift vgl. die luzide Auslegung bei Gunther Wenz, "Martin Luther: 'De servo arbitrio'/ 'Vom unfreien Willen'", in: Hans Vilmar Geppert (Hrsg.), Grosse Werke der Literatur. Eine Ringvorlesung ander Universität Augsburg, Bd. II, Augsburg 1992, S. 63-102. 29 Vgl. als Standardbeleg für die anthropologische Bestimmung des Gottesbegriffs Luthers Auslegung des Ersten Gebots im Großen Katechismus. BKSELK, S. 560. 30 Wobei allerdings zu zeigen sein wird, daß die Möglichkeit der Selbstbeziehung auf den Teufel eine "unmögliche Möglichkeit" (Karl Barth) darstellt. 31 WA 7, 21, 1 f. 32 Vgl. Luthers Auslegung des Ersten Artikels des Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus: "Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat sampt allen Kreaturn." (BKSELK, S. 510) Die Gleichursprünglichkeit des Selbst- und Weltbewußtseins im Gottesbewußtsein ist geradezu das Kriterium für die theonome Bestimmtheit des Selbstbewußtseins. 33 WA 22, 325, 13.
Feindschaft im Denken Martin Luthers
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selbst durch Destruktionsverhältnisse bestimmt. Er ist der stabilisierte Selbstwiderspruch. Daß Luther die mythologische Figur des Teufels strukturell auf das menschliche Selbstverständnis hin auslegt, läßt sich auch daran ablesen, daß die jeweils vorgenommenen Zuordnungen von Teufel und Welt einerseits, von Teufel und Gott andererseits, scheinbar widersprüchlich sind. Der Weltbegriff changiert zwischen einer gegenüber dem Teufel unabhängigen Größe und einem Synonym. 34 Solche Gleichsetzung von "Welt" und "Teufel" darf nicht im Sinne eines pessimistischen metaphysischen Dualismus, sondern muß aus dem anthropologischen Ansatz heraus verstanden werden. "Welt" als Bezugspunkt der Letztbestimmung des Subjekts ist verabsolutierte Endlichkeit. Als Beziehungsgrund für die Selbstauslegung des Subjekts ist Welt = Teufel. Das Verhältnis von Gott und Teufel ist einerseits durch einen strikten Gegensatz bestimmt, der Teufel ist der Todfeind Gottes. 35 Andererseits kann Luther hinter dem Wirken des Teufels auch ein Handeln Gottes selbst ausmachen. Die Türken beispielsweise nennt er in einem Atemzug "unsers herr Gottes zornige rute und des wütenden Teuffels knecht". 36 Unter der Bedingung eines sündhaft verkehrten Selbst- und Weltverhältnisses wird Gott zum strafenden Gott, er erscheint als "deus absconditus", bzw. als "Gesetz". 37 "Gott", "Welt", "Teufel" - diese Begriffe haben, so viel läßt sich erkennen, keinen von der jeweiligen Bestimmtheit der Selbstauslegung des Subjekts unabhängigen Inhalt; sie dürfen nicht mythologisch interpretiert werden. Die Vorstellung des Teufels ist zu dechiffrieren als eine Form versuchter Selbstauslegung des Subjekts, die tatsächlich selbstdestruktiv ist. Wo der Teufel herrscht, da ist der Mensch sich selbst feind. 38 Feind ist der Mensch sich selbst dann, wenn seine Selbstauslegung in Widerspruch zu seiner Existenz als Geschöpf, als endliches Wesen tritt. Das ist der Fall, wenn das endliche Selbst selbst zum Beziehungsgrund seiner Selbstauslegung wird. Ist "der Teufel" der Beziehungsgrund der Selbstauslegung des Subjekts, dann sind alle Verhältnisse, in denen sich das Selbst auslegt, durch das Strukturmoment "Feindschaft" bestimmt. Zwar kann Luther "Feindschaft" auch als Beschreibung eines bestimmten, partikularen Affekts neben anderen negativen Affekten verwenden, 39
34 Vgl. z.B. die Rede von der Welt, die "des ewigen Feinds Christi, des Teuffels getrewe, gehorsame dienerin ist" (WA 21, 298, 20 ff.). 35 Vgl. WA 36, 586, 26 (hier von Christus). 36 WA 30 II, 116, 26 f. 37 Vgl.: "(I)nwendig ist das hertz dem gesetz feind." (WA 11, 74, 21) 38 Vgl.: "0 mensch, ... wye ein schedlicher feint du dir selber bist." (WA 9, 153, 26; vgl. WA 10 III, 33, 15-18) 39 Vgl.: Wo der Glaube ist, "so wirstu nit geitz, haß, feindschafft, hurerey tragen" (WA 49; 476, 30 f.); "etliche ..., weyl sie in haß und feindschafft oder in ander Sünden liegen" (WA 52, 214, 5 f.); "Uneinigkeit, feindschaft, has, neid, rauben Stelen, kratzen, reissen, schaden und unsegliche() bosheit" (WA 51, 412, 18 ff.).
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Georg
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gleichwohl liegt des sündigen Menschen "feindschafft wider Gott"40 als Affekt allen anderen negativen Affekten zugrunde. Die negativen Affekte - "allerley böse() lust und begirden etc."41 - sind als Äußerungsformen des ihnen zugrundeliegenden umfassenden Feindschaftsverhältnisses des Menschen gegenüber Gott, sich selbst und der Welt zu verstehen. "Feindschaft" ist bei Luther weit mehr als ein partielles Phänomen, das nur in den Bereich der Affektenlehre gehört. "Feindschaft" ist ein theo-, anthropo-, ontologischer Grundbegriff. Er beschreibt die Struktur verkehrter Selbstauslegung des Menschen und zugleich ihre Folgen. Feindschaft ist die hamartiologische Kategorie par excellence. Von Gott läßt sie sich darum nur uneigentlich aussagen.42 Gott erscheint der Welt als Feind,43 aber daß er ihr so erscheint, ist Ausdruck ihrer eigenen Feindschaft gegen Gott und der Erfolg teuflischer Verblendung.44 In Wahrheit gilt es zu erkennen, daß Gott "ein solcher Gott sey, der der weit nit feind sei, sonder er hab sie lieb, und also lieb, das er seinen eynigen Son jr geschencket und zur / versönung hin hat geben".45
4. "Wer Christo wil anhangen, dem ist die gantze weit feind": Grundzüge einer Ethik der Versöhnung Das kontingente Ereignis der Versöhnung Gottes mit der Welt in Jesus Christus deckt die Universalität der Feindschafts Verhältnisse, d.h. die durch keine bessere Einsicht und moralische Besserung zu überwindende Herrschaft des 'altbösen Feindes', auf; und in dieser Aufdeckung enthält die Versöhnung zugleich die Bedingung der Möglichkeit der Überwindung jener Feindschafts Verhältnisse46: "Christus pro nobis inimicis Mortuus est" - "Gott lost seinen Son Sterben Nicht für seine Frewnd, Sondern für seine Ergste feinde".47 Die Versöhnung begründet und vollzieht diejene Form der Selbstauslegung,
40 WA 21, 253, 3 ff. 41 WA 21, 253, 4. 42 Vgl. WA 36, 586, 26 u.ö. 43 "Es scheinet, quod deus mundo sey feynd." (WA 36, 144, 15) 44 "Denn das ist das haubstück, da der böse feind am meisten sich umb annimbt, ob er uns dise liebe benemen und uns dahin koendte bringen, das wir uns nichts gutts zu Got versähen, sonden jn für unsern feinde hielten. Wo er nu solches auß richtet, da hett er gewonnen. Denn was will uns schützen oder retten, wenn wir Gott verloren haben? ... Da sollen wir schliessen unnd wissen, das Gott uns nicht feind sey, unnd wir derhalb uns für ihm nicht dorffen förchten. Sonder er hat uns lieb, Denn er hat für uns seinen Son geben inn tod, darumb können wir uns seiner gnaden und hilff gewiß trösten." (WA 52, 234, 18 ff.) 45 WA 52, 378, 38-379, 1. 46 Vgl.: "(Z)wischen Gott unnd dem menschen ist nichts anders dann eytel zorn und feyndtsschafft, derhalben müst du ainen mitlern haben, auff welchen der vatter sein gerechtigkait gelegt hat." (WA 10 III, 127, 5 f.) 47 WA 45, 400, 11 ff.
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die den anderen in diesem Vollzug nicht destruiert, sondern anerkennt und die darum den gelingenden Vollzug von Subjektivität ermöglicht. Da Feindschaftsverhältnisse ihren Ursprung in der verkehrten Form menschlicher Selbstauslegung haben, kann sich ihre Aufhebung auch nur als Umkehrung solcher Selbstauslegung vollziehen. So sehr für Luther die eschatologische Durchsetzung Gottes gegenüber dem Satan feststeht, so wenig kann diese Durchsetzung sozusagen über die Köpfe hinweg geschehen.48 Die Form der Durchsetzung ist vielmehr die Umkehrung der verkehrten Selbstauslegung. Aus der Sicht des heteronom verfaßten Subjekts erscheint eine theonome Selbstauslegung als Anspruch, als Gesetz, mithin selbst als heteronom. Darum und angesichts der voluntativen Energie, mit der die heteronome (vermeintlich autonome) Selbstauslegung besetzt ist, kann sich die Umkehrung des Selbstverständnisses nur als Kampf unter Feinden vollziehen, unter Anwendung von Gewalt. Sichtbar wird dies zunächst an der Gewalt, die zum gewaltsamen Tod Christi führt. Soteriologisch ereignet sich die Rechtfertigung des Menschen sodann im Medium eines Streits, einer Auseinandersetzung, wenn auch eines "frölich wechßel(s) und streytt(s)".49 Im Vollzug seiner neuen Selbstauslegung unterscheidet sich der Mensch als Gerechtfertigter von sich selbst als Sünder. Er unterscheidet im Hinblick auf sich selbst zwischen seinem Selbst ("Person") und seinem Verhalten ("Werke"). Das Selbst ist psychologisch ein punctum mathematicum, es existiert allein im Urteil Gottes. Identität kann nicht intentionaler Gegenstand von Handlungen sein, sie stellt sich gleichsam hinter dem Rücken des Subjekts als geschenkte Identität ein, wenn und indem das Subjekt eben darauf vertraut. Diese Selbstunterscheidung des Subjekts von sich selbst ist also konstitutives Prozeßmoment der Rechtfertigung und nicht nur Verlaufsform. Der Gerechte ist sich selbst "feind"; er ist "simul iustus ac peccator". Er erkennt sein eigenes Ich als den Ursprung der Feindschaftsverhältnisse und hebt sie darin auf.50 Der durch Gott selbst bewirkte Gesinnungswandel des einzelnen führt also nicht unmittelbar zur Vernichtung der Feinde Christi, als da sind Fleisch, Welt, Teufel, Sünde, Gesetz und Tod,51 sondern dazu, daß der Glaubende zu ihnen ins rechte Verhältnis treten kann, in das der Negation. Dabei wird die Selbstwahrnehmung des gerechtfertigten Sünders als eines solchen - die Unterscheidung zwischen iustus und peccator - zugleich auch zum Muster der Wahrnehmung von anderen. Der gerechtfertigte Sünder erkennt den anderen als gerechtfertigten Sünder, d.h. an ihm selbst, als
48 Daß Luther den Sinn der zweiten Bitte des Vaterunsers ("Dein Reich komme") darin sieht, daß um ein Ende der Feindschaftsverhältnisse gebetet wird, steht damit nicht im Widerspruch, sondern entspricht ihm. Vgl. WA 9, 135, 14 ff. 49 Vgl. WA 7, 25, 34. 50 Die Kraft zu solcher Einsicht muß ihm, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, allerdings von Gott gegeben werden. 51 Vgl. WA 36, 586, 20 ff.
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Feind. Ist der Sünder als Sünder ein Freund der Welt und der Sünde, so wird der gerechtfertigte Sünder ein Feind der Sünde bei sich und anderen.52 Versöhnung produziert Feindschaftsverhältnisse, indem sie sie aufdeckt.53 Luther ist der Meinung, daß schon die bloße Existenz des gerechtfertigten Sünders Feindschaftsverhältnisse produziert: "Wer Christo wil anhangen, dem ist die gantze weit feind".54 Die Auseinandersetzung mit Feindschaftsverhältnissen vollzieht sich als deren Negation. Diese ist bestimmt als Unterscheidung zwischen dem feindlichen Verhalten des Feindes und seinem gerechtfertigten Selbst. Positiv gewendet bekundet sich die Negation der Feindschaft des Feindes im Imperativ, "den feyndt tzu lieben",55 im Ethos der Feindesliebe. In ihr konkretisiert sich die Nächstenliebe, die der erfahrenen Liebe Gottes strukturanalog ist.56 Feindesliebe hat zwei Ausführungen, eine passive und eine aktive. Die passive ist die dominante: Anfechtung und Leiden im Vertrauen auf Gott57 sind die primären Existenzweisen des gerechtfertigten Sünders.58 Die wichtigste aktive Ausführung der Feindesliebe ist es, "auch den feynden [zu] radten",59 mithin die Kritik und Ermahnung60 der Feinde in der Hoffnung, "das auch der feynde ettlich bekeret werden".61 Weil alle Feindschaftsverhältnisse jedoch nach Luthers Überzeugung ihre Wurzel in der Gottes- und Selbstfeindschaft des Menschen haben, werden alle Ermahnungen letztlich nur dann fruchten, wenn es gelingt, jene Wurzel der Feindschaft aufzudecken und sozusagen positiv bearbeitbar zu machen. Das kann jedoch angesichts der Satansverfallenheit des menschlichen Willens nur durch Gott selbst erfolgen. Darum besteht die Menschen obliegende Aufgabe im Kampf gegen die Feindschaft darin, Situationen zu 52 Vgl. als gleichsam generelle Regel: "je edler der schätz ist, quod deus dat, yhe feinder mundus et Satan ei ist." {WA 28, 325, 6) 53 Vgl.: "... das wir umb des Euangelii willen müssen gewarten feindschafft, nicht allein frembder leute, sondern unser nehisten freund und brüder." {WA 24, 135, 29-31) 54 WA 28, 600, 21; vgl.: "Denn weyl zu gleich der Teuffei und die Welt den Christen am hefftigsten feind sind, ist es nicht möglich, das solche feindschafft on allen schaden köndte abgehen." {WA 52, 555, 14 ff.) 55 WA 8, 543, 28; vgl. 53, 514, 25 ff. 56 Vgl. die Schlußpassage der Freiheitsschrift: "Aus dem allenn folget der beschluß, das eyn Christen mensch lebt nit ynn yhm selb, sondern ynn Christo und seynem nehstenn, ynn Christo durch den glauben, ym nehsten durch die liebe: durch den glauben feret er über sich yn gott, auß gott feret er widder unter sich durch die liebe, und bleybt doch ymmer ynn gott und gottlicher liebe." {WA 7, 38, 6-10) 57 "(W)enn einer unserem Herrgott vertrawet, so müssen seine feinde sein als Stro und Stoppeln gegen einem fewer." (WA 16, 199, 19; vgl. WA 45, 292, 17 ff.) 58 Vgl.: "(W)ir müssen für liebe und freundschafft nichts denn feindtschafft und für frieden Unfrieden und Verfolgung nemen." {WA 41, 143, 30 ff.; vgl. WA 52, 285, 18 ff.) Wir wollen, schreibt Luther beispielsweise in bezug auf die 'Schwärmer', "von yhn leiden, als von feinden, yre Verfolgung und zurtrennung, so fern und lange Gott leydet" {WA 23, 85, 23 ff.). 59 WA 8, 541, 38. 60 WA 23, 85, 32 ff. 61 WA 15, 73, 15.
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schaffen, in denen Gott wirken, in denen die Grundsituation des Menschen aufgedeckt und geklärt werden kann. Solche Situationen sind Situationen, in denen das Wort Gottes, von äußeren Antagonismen und Verstellungen unbehelligt, frei zu Herzen gehen kann. Diese Situation ist für Luther die Situation der Predigt, modern kann man sagen: des Diskurses. Diskurs als Ziel Lutherscher Individualethik - das dürfte angesichts der eingangs erinnerten Neigung Luthers zu ausfallender Polemik etwas überraschen. "Diskurs" meint nicht, daß für Luther persönlich die Wahrheit über Gott und die Welt noch offen sei und sich allererst im Laufe eines noch zu führenden herrschaftsfreien Diskurses herausstellen würde. "Diskurs" heißt jedoch, daß die Durchsetzung der Wahrheit eines solchen herrschaftsfreien Diskurses bedarf.
5. "Darumb ligts gar an dem punct, das man beweise, welchs die rechte Kirche sey": Grundzüge einer Diskurstheorie Eine explizite Diskurstheorie hat Luther nicht entworfen. Gleichwohl lassen sich Elemente einer impliziten Diskurstheorie bei Luther benennen. Sie ist bereits für die äußere Gestalt seines (Euvres kennzeichnend. Die Schriften, die - heute würde man sagen - unmittelbar systematisch-theologischen Inhalt haben, sind überwiegend Gelegenheitsschriften, die sich konkreten Auseinandersetzungen verdanken. Als Beispiel sei nur noch einmal an die tiefgründige Lehre vom unfreien Willen erinnert, die Luther in Auseinandersetzung mit Erasmus entwickelt oder an die spekulative Vertiefung seiner Abendmahlslehre, die in der Auseinandersetzung mit Zwingli erfolgt. 62 Der Diskurs ist diesen Schriften bis in den systematischen Duktus hinein eigentümlich. Die Erasmusschrift ist der vielleicht beste Beleg einer impliziten Diskurstheorie, weil sich ihre Thematik insgesamt diskurstheoretisch deuten läßt. Denn ihre systematische Grundthese ist die These von der Selbstdurchsetzung der (göttlichen) Wahrheit. Inhaltlich geht es, wie schon angesprochen, um das Problem der Willensfreiheit. Formal handelt es sich um die Frage nach der Autonomie des Erkenntnissubjekts. Die Abgründigkeit der Lutherschen Position besteht darin, daß sie behauptet, die Unfreiheit des Willens sei die notwendige Voraussetzung für die Freiheit des Erkennens. Das verbindende Element beider Gedanken ist die Frage nach der Struktur von Gewißheit (certitudo). 63 Gewißheit muß sich in verbindlichen, weil einleuchtenden Aussagen (assertiones)64 formulieren lassen. Evidenz in Fragen transempirischer Zusammenhänge stellt sich nur ein, wenn der Erkenntniszusammenhang sich als ein notwendiger
62 Martin Luther, Vom Abendmahl 63 Vgl. WA 18, 604, 33. 64 Vel. WA 18. 603 ff.
Christi, Bekenntnis (1528), WA 26, 261 ff.
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behaupten läßt, mithin als ein solcher, der als von allen kontingenten Erkenntniseinflüssen unabhängig gedacht werden kann.65 Unter der Voraussetzung, daß die Heilige Schrift der Erkenntnisgrund der Wahrheit ist, lautet diese These: "Christus enim aperuit nobis sensum, ut intelligamus scripturas" ,66 Für die Schrift muß innere und äußere Klarheit postuliert werden.67 Darum hat Luther gegen die mittelalterliche Hermeneutik, insbesondere die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, vehement polemisiert.68 Gewißheit kann sich für den einzelnen nur einstellen, wenn er den Inhalt seiner Gewißheit von seiner subjektiven Meinung frei weiß. Vergewisserung beinhaltet darum den intersubjektiven Dialog über die Schrift, was nach Luthers Meinung voraussetzt, daß solcher Dialog der Möglichkeit nach zu einem Konsens fuhren kann: "Es müssen nämlich alle Artikel der Christen so beschaffen sein, daß sie nicht nur ihnen selbst höchst gewiß (sind), sondern auch andern gegenüber durch solche deutliche und klare Schrift beglaubigt sind".69 Wahrheitstheoretisch betrachtet liegen bei Luther ein substantialistischer (korrespondenztheoretischer) Begriff von Wahrheit und ein kommunikativer (konsenstheoretischer) unauflöslich ineinander. Luthers Schriftlehre begründet mithin das Diskursverständnis, das allen seinen öffentlichen Auseinandersetzungen zugrundeliegt und sich in der wiederholten Auskunft äußert, daß er sich nur "einer unverdächtigen, wohl begründeten Widerlegung aus der Hl. Schrift beugen wolle".70 Dieser Diskurs ist durchaus ein herrschaftsfreier Diskurs zu nennen. Denn für ihn gilt, daß sich die "Autorität und Authentizität kirchlicher, einschließlich amtskirchlicher Auslegung der Schrift an deren Literalsinn und buchstäblichem Bedeutungsgehalt zu messen (hat), wobei es Recht und Pflicht eines jeden Gläubigen ist, sich durch Lektüre und Studium der Schrift selbst ein sachliches Urteil zu bilden."71 Eben einem solchen Diskurs, einer solchen Vergewisserungsbewegung, verdankt Luther nach seiner eigenen Auffassung die Einsicht in die Grundstruktur der Versöhnung, einem Diskurs, den er gewissermaßen im Rollenspiel mit sich selbst und anderen Auslegern der Schrift über und mit Paulus und den anderen Verfassern des Neuen Testaments geführt hatte und stets erneut zu führen bereit war.
65 Vgl. "Est itaque et hoc imprimís necessarium et salutare Christiano, nosse, quod Deus nihil praescit contingenter, sed quod omnia incommutabili et aeterna infallibilique volúntate et praevidet et proponit et facit. Hoc fulmine sternitur et conteritur penitus liberum arbitrium." (WA 18, 615, 12-15) 66 WA 18, 607, 4. 67 Wgl. WA 18, 609, 4 ff. Vgl. zu den die Hl. Schrift betreffenden Passagen von "De servo arbitrio": Wenz, "Martin Luther: 'De servo arbitrio' - 'Vom unfreien Willen'", S. 75 ff. 68 Vgl. Asendorf, Eschatologie
bei Luther, S. 190.
69 "Debent enim omnes Christianorum articuli tales esse, ut non modo ipsis certissimi sint, sed etiam adversus alios tarn manifestis et claris scripturis firmati." (WA 18, 656, 25-27) Übersetzung nach Martin Luther, Daß der freie Wille nichts sei, S. 69. 70 Reinhard Schwarz, Luther, Göttingen 1986, S. 97. 71 Wenz, "Martin Luther: 'De servo arbitrio' - 'Vom unfreien Willen'", S. 78.
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Aus Luthers Diskursverständnis erklärt sich das Nebeneinander von polemisch vorgetragener Rechthaberei und nimmermüder Bereitschaft zu argumentativem Gespräch. Dabei muß die von Luther zur Schau getragene massive Form der Selbstgewißheit keineswegs einen antidiskursiven Impetus haben; sie kann sich auch diskursfreundlich auswirken, indem sie nämlich ein Interesse am anderen beinhaltet: Das Evangelium "weiset auch nicht die Leute von sich, so nicht bald gleuben, spricht nicht zu jnen, wie Mahmet: 'Mir sey mein Glaube, Euch sey ewer Glaube, als fragt er allein, wo er selig sein möchte, nichts, wo die andern bleiben." 72 Gerade weil die Wahrheit nur eine sein kann, ist der unermüdliche Diskurs zu fordern: "Ja, weil da kein mittel [Mittelding] ist, so müssen wir die Kirche Christi, und sie [sc. die Papstkirche] des Teufels Kirche sein, oder widerumb. Darumb ligts gar an dem punct, das man beweise, welchs die rechte Kirche sey." 73 Schlichten kann den Streit der Meinungen am Ende nur Gott allein: "(D)enn da ist ein hadder, feindschafft und Uneinigkeit in der weit, zwischen der weit, zwischen den wahrhafftigen und falschen Predigern, und da ist niemands, der diesen hader stillen noch auffheben wird oder kan denn allein das Göttliche wort, das mus allein hierinnen richten und scheideman oder Richter sein." 74 Damit sind die Motive und Strukturen dessen, was ich als implizite Diskurstheorie bei Luther bezeichnen möchte, einigermaßen skizziert. Nun möchte ich zeigen, daß sich Luthers Sozialethik als diejenige Theorie deuten läßt, die darauf zielt, die äußeren Bedingungen eines herrschaftsfreien Diskurses herzustellen.
6. Die "macht, die jnn solcher ... feindschafft ... alles erhalten kan": Zur diskurstheoretischen Funktion der Sozialethik Die Qualität der ethischen Reflexionen Luthers zeigt sich daran, daß sie ihr Ziel, die Herstellung eines herrschaftsfreien Diskurses, in dem sich die Wahrheit frei durchsetzen kann, nicht lediglich abstrakt einklagen. Luthers Ethik ist keine reine Individual- und keine reine Sollensethik. Sie schließt eine Theorie über die Realisierungsbedingungen ihres Kardinalzieles ein. Diese Theorie ist die (erst in unserem Jahrhundert) so genannte Lehre von den zwei Reichen bzw. zwei Regimentern Gottes. 75 Thema der Zweireichelehre sind die Bedingungen, unter denen die Versöhnung sich in der unversöhnlichen, von Feindschaftsverhältnissen bestimmten Welt realisiert. Es
72 WA 53, 384, 3 ff. 73 WA 51, 477, 24-27. 74 WA 17 I, 230, 11 ff. 75 Auf die interpretatorischen Hinter- und Abgründe dieser Lehre, die als solche (nämlich als zusammenhängende Theorie) eine Entdeckung der Lutherforschung des 20. Jahrhunderts ist, kann hier nicht eingegangen werden. Hier geht es nur darum, ihre Funktion im Rahmen von Luthers Feindschaftsdenken zu bestimmen.
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geht mithin um die Art und Weise der Selbstdurchsetzung Gottes in der Welt und um die daraus resultierenden Folgen für die Art und Weise der Partizipation des Glaubenden an dieser göttlichen Aktion. Gerade weil die primäre Zielrichtung des Versöhnungshandelns Gottes auf die Umschaffung des homo inferior ausgerichtet ist, kann sich Gottes Versöhnungshandeln auf diesen Bereich der Innerlichkeit nicht beschränken. Es richtet sich vielmehr zugleich auf den Bereich des homo exterior, d.h. der konkreten Gestaltung der Welt und ihrer Verhältnisse, weil nur so die Bedingungen geschaffen werden können, die die Aufnahme des Evangeliums praktisch ermöglichen. Die grundlegende Tat Gottes im Bereich des äußeren Menschen ist seine Erhaltung: "Wo ist doch die macht, die jnn solcher Uneinigkeit, feindschafft, has, neid, rauben stelen, kratzen, reissen, schaden und unseglicher bosheit alles erhalten kan, das nicht teglich jnn einen hauffen feit? Gottes wunderliche und almechtige gewalt und Weisheit ists, die man hierin spuren und greiffen mus. Sonst kündts ja nicht so lang stehen."76 Angesichts der Einsicht in die radikale Selbstzerfallenheit der Welt, in die Universalität von Feindschaftsverhältnissen, mithin von Verhältnissen von Selbst-Negation, stellt Luther die metaphysische Kardinalfrage: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Die Antwort lautet: ... weil Gott die Welt erhält. Die Zweireichelehre ist gewissermaßen Luthers Lehre von der conservatio mundi hominum. Die konkrete Gestalt der Erhaltung des homo exterior durch Gott ist das 'weltliche Reich' Gottes, sein 'Reich zur Linken'. So sehr dieses weltliche Reich von dem ewigen Reich Gottes bzw. Christi - der Herrschaft Gottes über den homo interior - zu unterscheiden ist, so sehr ist auch dieses weltliche Reich als Herrschaftsbereich Gottes zu verstehen. Es ist Gottes gute Ordnung, die sich hier mitten in der dem Teufel verfallenen Welt und gegen diese realisiert. Die konkrete Gestalt dieses Weltreichs hat Luther nicht theologisch deduziert, sondern sozusagen aufgelesen. Es ist die klassische, aristotelisch-mittelalterliche Lehre von den drei Hierarchien, die Luther hier beerbt.77 Allerdings wird sie bei ihm theologisch transformiert; die Art der - weltlich vermittelten - Herrschaft Gottes innerhalb dieser Hierarchien wird nach dem Vorbild des vierten Gebotes gefaßt: In Gestalt des konkreten weltlichen Herrn regiert Gott wie ein Familienvater, mit dem die Familienmitglieder in einem Gefüge von Pflichten und Rechten verbunden sind. Und die Drei-Stände-Lehre wird systematisch strukturiert. Die Ordnungen in der Welt sind Zwangs-Ordnungen. Im Reich der Welt regiert das Gesetz, nicht das Evangelium. Für den ordo politicus, an dem diese Formulierung abgelesen wird, ist das evident: die politische Ordnung ist eine Schutz- und Strafordnung. Sie ist orientiert an der Steuerung äußerer Feindschaftsverhältnisse. Aber auch im ordo oeconomicus, dessen sozialer Ursprung die Institution der Ehe ist, gilt ähnliches. Der Feind, um dessen Ein-
76 WA 51, 412, 18 ff.; vgl. Wilfried Härle, "Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Handeln Gottes", in: ders. u. Rainer Preul (Hrsg.), Marburger Jahrbuch Theologie/, S. 12-32, hier: S. 21; vgl. Eike Wolgast, Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen, Gütersloh 1977, S. 40 f. 77 Vgl. Reinhold Schwarz, "Luthers Lehre von den drei Ständen und die drei Dimensionen der Ethik", in: UB 45 (1978), S. 15-34, hier: S. 20 ff.
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flußbegrenzung es geht, ist der sexuelle Trieb, also die fleischliche Selbstzerfallenheit. Wie die Institution der Obrigkeit den äußeren leiblichen Feinden des Subjekts wehrt, so wehrt die Institution der Ehe seinen inneren (gleichwohl) leiblichen Feinden. Analoges gilt für den ordo ecclesiasticus: Hier geht es um die Abwehr der äußeren Feinde des inneren Menschen, mithin der Häretiker. Die drei Ordnungen - status politicus, oeconomicus und ecclesiasticus - lassen sich somit gewissermaßen, um ein eigenes Wort Luthers zu variieren, als die drei Mauern des Wittenbergers gegen die Feindschaftsverhältnisse in der Welt verstehen. Ihr positiver Sinn besteht in der Umfriedung eines von äußeren Gewalteinflüssen frei gehaltenen Raumes, in dem das Wort Gottes die Möglichkeit hat, zu Herzen zu gehen. Die drei Ordnungen sind Zäune um den inneren Menschen als dem Ort des Diskurses. Das soll nun kurz am Beispiel des ordo politicus deutlich gemacht werden.
7.
"Ist genug, daß Oberkeit Aufruhr und Unfriede zu lehren wehret": Zur diskurstheoretischen Funktion der Staatslehre
Die historische Leistung seiner Staatslehre hat Luther selbst sehr hoch veranschlagt. Seit dem Neuen Testament habe noch nie ein Theologe so positiv über den Staat gesprochen wie er. 78 Daß das weltliche Reich nicht das Reich des Satans, sondern Gottes Reich zur Linken ist79 - das ist in der Tat die wichtige, über Augustin und die mittelalterliche Gewaltentheorie hinausführende Einsicht Luthers. 80 Die zentrale ethische Intention und Leistung der Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Regiment ist, daß sie einen Spielraum für die argumentative Auseinandersetzung mit dem Gegner theoretisch institutionalisiert. Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung mit dem Andersdenkenden, mit dem Häretiker, scheidet bei Luther aus: "Ist ketzerey da, die uberwinde man, wie sichs gepürtt, mitt Gottis wortt." 81 Was die Ablehnung von Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden angeht, war Luther allen anderen Reformatoren an Eindeutigkeit überlegen. 82 In seinem Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist (1524) schreibt Luther: "Man lasse sie [Müntzer etc.] nur getrost und frisch predigen,
78 Vgl. WA 19, 625, 15-17. 79 Vgl. summarisch: "Also ist Gott selber aller beyder gerechtickeit, beyde geistlicher vnd leiblicher, stiffter, herr, meister, födderer und / belohner. Und ist keine menschliche Ordnung odder gewalt drynnen, sondern eytel Göttlich ding." (WA 19, 629, 30-630, 2) 80 Vgl. Martin Honecker, "Martin Luther und die Politik", in: Knut Schäferdiek (Hrsg.), Martin im Spiegel heutiger Wissenschaft, Bonn 1985, S. 99-115, hier: S. 109.
Luther
81 WA, 11, 270, 27. 82 Vgl. zum Folgenden Heinrich Bornkamm, "Das Problem der Toleranz im 16. Jahrhundert", in: ders., Das Jahrhundert der Reformation. Gestalten und Kräfte, Göttingen 1961, S. 262-291 u. S. 340-343 (Anmerkungen).
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was sie können und wider wen sie wollen. ... Man lasse die Geister aufeinander platzen und treffen." 83 Die Rolle der Obrigkeit, der Schwertgewalt, wird streng beschränkt auf die Aufgabe der Aufrechterhaltung der weltlichen Ordnung: "Oberkeit soll nicht wehren, was jedermann lehren und gläuben will, es sei Evangelium oder Lügen. Ist genug, daß sie Aufruhr und Unfriede zu lehren wehret." 84 Aufforderungen zur Gewalt, wie im Falle des Bauernkriegs oder in späteren Jahren gegenüber den Täufern, sind bei Luther stets durch die Bedrohung bedingt, die aus seiner Sicht von jenen Gruppierungen für die öffentliche Ordnung ausgeht. 85 Gewalt ist bei Luther nur politisch, nicht ideologisch legitimiert. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung hat Vorrang gegenüber der Verbreitung des Evangeliums um jeden Preis. So ist die Zurückhaltung zu verstehen, die Luther seinen Predigern bei der Mission in katholischen Gegenden auferlegt: "Kein Prediger ... soll in eines Papisten oder ketzerischen Pfarrers Volk zu predigen oder heimlich zu lehren sich unterstehen ohn desselbigen Pfarrers Wissen und Willen. Denn es ist ihm nicht befohlen. Was aber nicht befohlen ist, das soll man lassen anstehen." 86 Abschließend soll die somit umrissene Diskurstheorie Luthers an exemplarischen Beispielen seiner konkreten Diskurspraxis überprüft werden. Das geschieht zum Zwecke des Nachweises, daß erstens die Praxis der Theorie folgt, daß zweitens die Theorie in bestimmter Weise selbstreflexiv ist: als entscheidendendes Kriterium in der Auseinandersetzung mit den "Feinden" fungiert bei Luther die Frage nach der Einhaltung der äußeren Bedingungen des Diskurses. Luthers Diskurstheorie hat eine ideologiekritische Pointe.
8. Wider den "schein der Heiligkeit": Ideologiekritik als Diskursstrategie - zur Auseinandersetzung mit Papisten und Türken Luthers Polemiken gegen Papisten und Türken stehen einander an Schärfe nicht nach. Sowohl die Römer als auch die Türken hat Luther, wie bereits erwähnt, als Larven des endzeitlichen "feind(es) Gottes" 87 betrachtet, in deren Aktionen er die apokalyptische Entscheidungsschlacht angekündigt, ja angebrochen sah. Unterschieden werden beide
83 Bornkamm, "Das Problem der Toleranz", S. 269. 84 Ebd; vgl. Luthers "1518 ausgesprochene These, daß Ketzer Verbrennen gegen den Willen des heiligen Geistes sei, daß man sie mit Schriften und nicht mit Feuer überwinden solle - sonst 'wären die Henker die gelehrtesten Doktores auf Erden' (WA 1, 624, 36 ff.) - bleibt seine Meinung das ganze Leben hindurch" (Bornkamm, "Das Problem der Toleranz", S. 272). 85 Der Hintergrund für Luthers Intoleranz gegenüber Andersdenkenden ist somit, worauf H. Bornkamm zurecht hinweist (vgl. ebd.), nicht in einem holistischen corpus christianum-Denken zu suchen, sondern in seinem Interesse an einer funktionsfähigen öffentlichen Ordnung. 86 Zit. nach Bornkamm, "Das Problem der Toleranz", S. 270. 87 WA 30 II, 172, 18.
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lediglich insofern, als Luther die Türken als "den eusserlichen Feind der Christenheit" betrachtet, wohingegen der Papst der "inwendige() Feind" sei. 88 Die Deutung des endzeitlichen Gog und Magog auf die Türken meint Luther empirisch belegen zu können: "man sihets auch zwar wol an der that, wie grewlich er [sc. 'der Türke'] die leut, kind, weiber, jung und allt erwürget, spiesset, zu hacket, die yhm doch nichts gethan." 89 Die pseudoempirische Kurzschlüssigkeit der apokalyptischen Deutungsperspektive hat Luthers diskurstheoretische Grundeinsichten praktisch nicht behindert, sondern lediglich pointiert. Zunächst ist daran zu erinnern, daß die apokalyptische Deutung der "Feinde" bei Luther in sich selbst ambivalent ist. Luther hat insbesondere die Türken nicht nur als Satansdiener sondern zugleich als "Rute Gottes" betrachtet. 90 Die apokalyptische Deutungsperspektive erlaubt somit nicht unmittelbar positive, pragmatische Handlungsanweisungen: "Sollen wir nu glueck haben wider den Mahmet, den eusserlichen Feind der Christenheit, So werden wir zuvor muessen dem inwendigen Feinde, dem Endechrist mit seinem Teuffei absagen und durch rechtschaffene Busse". 91 Die apokalyptische Deutung behindert die Wahrnehmung des Gegners nicht, sondern sie fördert sie eher. Auf dem Höhepunkt der allgemeinen Angst vor den Türken, im Jahr 1542, äußert Luther das Bedürfnis, sich von der Theologie des Islam ein genaueres Bild zu machen: "In des hette ich gerne de Alcoran selbs gesehen, Und wunderte mich, wie es zu gienge, das man den Alcoran nicht lengst hette in die Latinische Sprache bracht. ..., zu erfaren, was Mahmets Glaube were, Sind allein damit zufrieden gewest, das Mahmet ein Feind Christliche Glaubens were". 92 Luther befürwortete und beförderte die Herausgabe einer brauchbaren lateinischen Übersetzung des Korans. 93 Natürlich ist dies nicht als Indiz einer vorurteilsfreien Bemühung um die Grundlagen des islamischen Glaubens zu werten. Genausowenig ist die Tatsache so zu verstehen, daß Luther die Jahrzehnte alte Schrift eines Dominikanermönchs herausgab, der in türkische Gefangenschaft geraten die Lebensformen der Muslime einigermaßen differenziert beschrieb. 94 Gleichwohl ist die Bemühung um genauere Kenntnis von den Lebensformen der "Feinde" auffällig.
88 WA 53, 396, 17 ff. 89 WA 30 II, 162, 26-28. 90 Vgl.: 'Der Türke' "gewislich sey der letzte und ergeste zorn des teuffels widder Christum, damit er dem fass den Boden ausstösset, und seinen grym gantz ausschüttet widder Christus reich, Dazu auch die grosseste straffe Gottes auff erden über die undanckbarn und gotlosen verechter und Verfolger Christi und seines worts" (WA 30 II, 162, 20-251). 91 WA 53, 396, 17 ff. 92 WA 53, 272, 8 ff. 93 Das war mit einigen Schwierigkeiten verbunden, weil Druck und Herausgabe des Korans selbst in den meisten evangelischen Ländern und Reichsstädten verboten war. Vgl. dazu R. Mau, "Luthers Stellung zu den Türken", in: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, hrsg. v. Helmar Junghans, 2 Bde., Göttingen 1983, S. 647-662 u. S. 956-966, hier: S. 660. 94 Das Büchlein trägt den Titel: Libellus de ritu et moribus Turcorum, vgl. a.a.O., S. 656; vgl. dazu auch Edwards, Luther's Last Batties, S. 106 ff.
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Konkrete Handlungsanweisungen insbesondere in der Frage nach einer militärischen Auseinandersetzung mit den Türken werden nicht aus apokalyptischen Geschichtsschauen abgeleitet, sondern aus sozialethischen Überlegungen heraus getroffen; ihr argumentativer Begründungszusammenhang ist die Zweireichel ehre. "In marked contrast to Catholic authors, who generally cast the fight against the Türks in the traditional terms of the Crusade, Luther insisted that it was just such mingling of the spiritual and secular realms that accounted for the Türk's repeated successes." 95 Entscheidend ist für Luther die Frage, inwieweit die Gegner den herrschaftsfreien Diskurs um die Wahrheit des Christentums zulassen. Prüfstein für diese Frage ist, inwiefern die Gegner die Trennung von weltlichem und geistlichem Regiment durchführen. Das entscheidende Kriterium für Luthers Umgang mit seinen Gegnern ist somit ein diskurstheoretisches. Dieses Kriterium bestimmt bereits die erste große Schrift gegen die Papstkirche, An den christlichen Adel deutscher Nation ... von 1520. Mittels seiner Lehre von den "drei Mauern der Romanisten" sucht Luther zu zeigen, daß der kuriale Machtanspruch auf einer differenzierten Strategie von Diskurs Verweigerung basiert. "Die Romanisten haben drey mauren mit grosser behendickeit vmb sich zogen, damit sie sich biszher beschützt, das sie niemant hat mugen reformierenn, dadurch die gantz Christheit grewlich gefallen ist. ... Zum ersten, wen man hat auff sie drungen mit weltlicher gewalt, haben sie gesetzt vnd gesagt, weltlich gewalt habe nit recht vbir sie, sondern widderumb geystlich sey vbir die weltliche. Zum andern, hat man sie widderumb mit der heyligen schriftt wolt straffen, setzen sie da kegen, Es gepur die schrifft niemant ausztzulegenn, den dem Babst. Zum dritten drewet man yhn mit einem Concilio, szo ertichten sie, es muge niemant ein Concilium beruffen, den der Bapst. Also haben sie die drey rutten vns heymlich gestolen, das sie mugen vngestrafft sein, vnd sich in sicher befestung diszer dreyer maur gesetzt". 96 Luther kritisiert an der Papstkirche nicht, daß sie einen funktionalen Machtanspruch zur Aufrechterhaltung der Rechtgläubigkeit in der Kirche erhebt. Er kritisiert vielmehr die Begründung dieses Anspruchs, weil diese auf die Inhalte durchschlagen muß. Luther kritisiert, daß die Papstkirche den freien Diskurs um die in der Schrift aufbewahrte Wahrheit institutionell so normiert, daß er praktisch verhindert wird. Luthers Kritik an der Papstkirche ist Ideologiekritik. Das zeigt sich besonders deutlich in seiner hochgradig polemischen Spätschrift "Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet" (1545). 97 Hier führt Luther den päpstlichen Primatsanspruch im Medium einer historischen Kritik ad absurdum, indem er zeigt, daß der Primatsanspruch selbst erst im Lauf der Geschichte der alten Kirche entstanden ist.98 Die historische Kritik erweist die Weltlichkeit des papalen Macht-
95 Edwards, Luther's Last Battles, S. 112. 96 WA 6, 406, 21-31. 97 WA 54, 227 ff. 98 Vgl. WA 54, 230.
Feindschaft im Denken Martin Luthers
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anspruchs. Aber das systematisch prinzipiellste Argument ist damit noch nicht erreicht; es lautet: "Das ist nu gewis, das der Bapst und sein Stand ein lauter Menschen geticht und fündlein ist. Denn ... er ist nicht und wil nicht sein aus Weltlicher öberkeit Ordnung. Er ist nicht, wil auch nicht sein aus der Concilien oder Kirchen Ordnung, So weis man auch gewis, das kein Buchstabe Göttlichs Worts in der Schrifft von jm fanden wird, Sondern hat sich aus eigener hoffart, thurst und frevel in solche höhe gesetzt". 99 Die illegitime Selbstproduziertheit des päpstlichen Absolutheitsanspruchs zeigt sich gerade daran, daß der Papst auf alle weltlichen Mittel zur Begründung seines Machtanspruchs verzichtet. Eben damit stellt er sich außerhalb der göttlichen Ordnung. Die für die päpstliche Selbstlegitimierungsstrategie konstitutive Vermischung von geistlichem und weltlichem Regiment muß sich zwangsläufig auch auf die übrigen Bereiche der Sozialordnung auswirken. Indem die Papstkirche der Kirche eine weltliche Gewalt andichte, untergrabe sie die Gewalt der Obrigkeit und achte in der Folge auch die Institution der Ehe nicht. 100 Ähnliches gilt auch für die Auseinandersetzung Luthers mit den Türken. 101 Der Grundgedanke seiner Kritik ist, daß die Türken den zweiten Glaubensartikel ignorierten. Dabei besteht die Kritik nicht darin, daß bei den Türken keine Kenntnisse von Christus vorhanden wären. Nicht einmal allein das ist die Kritik, daß die Türken den Glaubenssatz von der Gottheit Christi nicht teilten. Vielmehr gilt: "(E)s ist nit gnug, also oben hin glauben, der Türck, Jud ... seind auch des glaubens, was man von Christo sagt, er hilfft sy aber nichts, sonder du müßt glauben, das Christus dein sey mit allen seinen güttern, gerechtigkeit, frummkait, hayligkait ,.." 102 Aus der Leugnung der Heilsbedeutung Christi folge, daß die Türken die Unterscheidung der beiden Reiche aufheben und die drei grundlegenden Ordnungen Gottes "veram Religionem, veram Politiam, veram oeconomiam" 103 zerstören. Dieser Vorwurf hindert Luther jedoch nicht daran, die Türken gerade wegen ihres politischen und gesellschaftlichen Systems zu loben. Und das Lob gilt keineswegs nur der Form der politischen Ordnung, sondern dem türkischen Ethos in religiösen und praktischen Dingen. 104 Hier wird eine äußerste Form der Pervertierbarkeit göttlicher Ordnungen sichtbar. Der hinter den Türken stehende Teufel erzeugt einen "grossen schein der heiligkeit". 105 Luther attestiert den Türken eine funktionierende politische Ordnung, wiewohl diese aus seiner Sicht im Widerspruch steht zu deren theokratischem
9 9 WA 54, 2 3 9 , 13 ff. 100 Vgl.: "Bapst ... quod sit ein feind der ehe." {WA 36, 87, 15) 101 Luther hat seine Meinung zur Frage einer militärischen Auseinandersetzung mit den Türken mehrfach geändert. Zur diachronen Nachzeichnung von Luthers "Stellung zu den Türken" vgl. den gleichnamigen Aufsatz von R. Mau; vgl. auch Edwards, Luther's Last Battles, S. 98 ff. 102 WA 10 III, 126, 3 ff. 103 WA 3 0 II, 127, 15. 104 Vgl. WA 3 0 II, 187 ff. 105 WA 3 0 II, 186, 31.
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Begründungsmodell. Man kann diese Deutung als den krampfhaften Versuch Luthers lesen, das eigene theologische Begründungsmodell gegen empirische Evidenzen zu retten; man kann darin aber auch die Leistungskraft einer Theorie sehen, die materialethische Übereinstimmungen mit ihren "Feinden" nüchtern anzuerkennen vermag, ohne die für die eigenen Begründungsfiguren erhobenen Geltungsansprüche zurückzunehmen.
Clemens Pornschlegel
Gespensterfeindschaft Frankreichs "question allemande"
Vorbemerkung Mit den deutschen Ereignissen von 1989/90 kehrte in Frankreich eine alte und gefürchete "question allemande" wieder, die einmal mehr heftig und zum Teil äußerst polemisch diskutiert wurde. Die "question allemande" bestimmte dann intensiv die Debatten um die Politik in Ex-Jugoslawien, noch mehr aber bestimmte sie die Diskussion um den Vertrag von Maastricht, dem Frankreich am 20. September 1992 bekanntlich mit der äußerst knappen Mehrheit von 51,05 % Ja-Stimmen zustimmte. Will man es nicht beim Kopfschütteln über einen irgendwie unverbesserlichen rhetorischen, "französischen" Bellizismus, d.h. bei der fortgesetzten Unterstellung von pseudonatürlichen, nationalen Eigenschaften oder bei der abwiegelnden Feststellung eines "kleinen Mißverständnisses" belassen, dann muß es darum gehen, die Polemik oder Feindschaftlichkeit der "question allemande", vor allem aber die sehr präzisen Vorstellungen oder Repräsentationen, sowohl historisch-politischer als auch geopolitischer Art, die in ihr am kohärenten Werk sind, in ihrer institutionellen und politischen Logik zu explizieren. Es handelt sich dabei um die Logik des territorialen Nationalstaats mitsamt der für ihn konstitutiven nationalen Öffentlichkeit, zu der die Rhetorik, gerade auch die der Feindschaft, gehört. Die Rhetorik ist Funktion dieser politischen, an Institutionen geknüpften Öffentlichkeit, und einfache Übersetzungen ins Deutsche sind deswegen unmöglich: Bekanntlich gibt es in Deutschland keine zentralisierte nationale Öffentlichkeit und folglich auch keine entsprechende Rhetorik. Hugo von Hofmannsthal umschrieb die deutsch-französische Differenz hinsichtlich der Funktion des öffentlichen Wortes 1928 folgendermaßen: "Die Deutschen und die Form. ... Mißtrauen gegen die Überredung - die Magie des Wortes. ... Wie wenn Gefahr bestünde, daß ein Tieferes, der eigentliche Fonds des deutschen Menschen, ein ewig Virtuelles dadurch verringert, ja etwa annuliert würde. Die französische Revolution eine Folge von wechselnden rhetorischen Stilen und ihrer Wirkung. Dagegen die Macht des gedruckten Wortes über die Deutschen. Eine Pressevorbereitung von vier Wochen würde sie in einen neuen Krieg führen. Haß gegen alles Römische." 1
1
Hugo von Hofmannsthal, "Aufzeichnungen aus dem Nachlaß 1928", in: ders., Reden und Aufsätze III 1925-1929, hrsg. v. Bernd Schoeller u. Ingeborg Beyer-Ahlert in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt/Main 1980, S. 593.
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Die Polemik der "question allemande" zeugt also, ist man sich dieser von Hofmannsthal so dicht wie genau beschriebenen Differenz bewußt, weder von "falschen" Aufgeregtheiten noch ist sie, wie ein deutscher Postnationalismus vorschnell nahelegen könnte, 2 Ausfluß einer heillosen französischen Zurückgebliebenheit, die bloß noch nicht bemerkt hätte, daß die Nation und ihre Politik, wie es bei Thomas Pynchon einmal heißt, nur obsoletes Blendwerk, "nichts als Theater" wäre, "um die Leute abzulenken" - etwa "von den Bedürfnissen der Technologie" und ihren multi- und postnationalen Vernetzungen oder gar Verschwörungen. 3 Pynchons Roman formuliert freilich umgehend auch die treffende Antwort auf diese von Nation und Politik entlastende Verblendungshypothese: "Wenn du dich dadurch weniger verantwortlich fühlen willst." 4 In genau diesem Sinn erinnert die französische "question allemande" - gerade in ihren rhetorischen und bellizistischen Überzeichnungen - an weitgehend ungestellte und dringliche Fragen der Konstitution Deutschlands, eines Landes, das es - all seinen multi- und postnationalen Vernetzungen, Verschwörungen und Verkleidungen entgegen - bis auf weiteres noch immer gibt. Frankreichs "question allemande" ist keineswegs Einklammerung der "amitié franco-allemande", aber Erinnerung daran, wie problematisch und nicht-selbstverständlich diese "amitié" ist. Anders: Sie gibt der Freundschaft allererst politische Kontur. Vorstellungen von der anderen Nation, geographisch-politische und historisch-politische Repräsentationen, die öffentlich zirkulieren und politische Entscheidungen oder Entscheidungs- und Verhaltensspielräume bestimmen, sind nicht nichts. Begriffe wie "nationale Clichés" oder "Stereotypen", die meist kaum mehr als deren schlichte Verneinung bzw. "ideologiekritische" Denunziation sind, reichen nicht hin, ihre Wirklichkeit und Effizienz zu fassen. Weder reichen sie hin, jene Vorstellungen samt der von ihnen transportierten Feindseligkeit aus der Welt zu schaffen, noch geben sie Antwort auf die Frage nach der politischen und institutionellen Logik der Feindschaft, die in jenen Gestalt annimmt, gezeigt und befördert wird. Repräsentationen wie die einer territorial begrenzten und arrondierten Nation sind der institutionellen Verfassung des politischen Raums, in dem sie umlaufen, also weder vor- noch nachgeordnet, sie sind ihm vielmehr ko-extensiv. Sie sind der imaginäre Teil einer spezifischen politischen Ordnung, zu der, wie im Fall des demokratischen Nationalstaats, wesentlich auch eine Öffentlichkeit und ihre "Clichés" gehören. Die jeweiligen Verzerrungen und Asymmetrien verdanken sich mithin nicht den Vorstellungen, sondern den politischen Ordnungen, in denen sie zirkulieren, Sinn haben und Sinn herstellen. Es geht nicht darum, ihn zu leugnen, sondern ihn jeweils zu analysieren, d.h. aufzulösen: um anders sehen zu können. Man kommt dabei nicht vom Fremden zum Eigenen, sondern vom Fremden zum Fremden.
2
Für eine Kritik dieses Postnationalismus, der allzuoft den Denkschemata einer alten Geschichtsphilosophie aufsitzt vgl. Thomas Nipperdey, "Réflexions de l'année 1990" (Nachgedanken 1990), in: ders., Réflexions sur l'histoire allemande, Paris 1992, S. 342 f.
3
Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel.
4
"Mach nur weiter so, schreib Technik mit einem großen T, vergöttere sie, wenn du dich dadurch weniger verantwortlich fühlen willst", so die Replik auf jene politikflüchtige Technologie-These; Pynchon, Die Enden der Parabel, S. 813.
Gravity's Rainbow,
Reinbek 1982, S. 812.
Frankreichs "question allemande "
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1.
Gleich einem gehörnten Tiefseefisch tauchte in Frankreich im Winter 1989/1990 die "question allemande" groß und bedrohlich aus den anscheinend ruhigen, konsensuellen Gewässern der sogenannten deutsch-französischen Freundschaft wieder auf. Der Pariser Nachkriegstraum vom auf ewig geteilten, nicht-souveränen und politisch berechenbaren Klein-Deutschland ging unvorhergesehen zu Ende5 und mit ihm bröckelte das französische oder - historisch genauer - das gaullistische Selbstgefühl, immer weiter Weltkriegssieger und europäische Kontinentalmacht Nr. 1 zu sein, bekanntlich mit den beiden Weltmachtsattributen Bombe und ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat.6 In seiner ganzen umfassenden Häßlichkeit zeigte sich das alte Ungetüm der "incertitudes quant au devenir de l'Allemagne"7 dann im Sommer 1992 während der französischen Debatte um den europäischen Einigungsvertrag von Maastricht. Es war eine einzige Beschwörung der "fantômes" und "vieux démons". Der natürliche germanische Drang nach Osten, die unvermeidliche deutsche Unterjochung Mittel- und Osteuropas, Österreichs umittelbar bevorstehender Anschluß, der alte Pangermanismus, das OKW in Gestalt einer allmächtigen Frankfurter Bundesbank, die genuin rassistischethnische Fassung der deutschen Nation, der ungebrochene deutsche Wille zur Herrschaft und zur provinzialisierenden Unterwerfung Europas - so und nicht anders starrte das wiedergekehrte Ungeheuer d'outre-Rhin in die schreckgeweiteten Augen der Nation.8 Ein nationaler Alptraum: "Allemagne". Unterschiedslos wurden Anhänger und 5
Im November 1988 schloß Roland Dumas, der damalige französische Außenminister, eine deutsche Wiedervereinigung aus dem Reich des politisch Möglichen überhaupt noch aus, im November 1989 schien sie frühestens im nächsten Jahrtausend und als "politique-fiction" denkbar. François Mitterand faßte dieselbe deutsche Einigung am 10. November 1989 zwar ins Auge, allerdings würde es sich dabei um einen komplexen, langsamen und weitgehend internationalisierten Prozeß handeln, Fiktion aus dem nächsten Jahrtausend eben. Es sollte dann bekanntlich anders kommen: nämlich einfach, schnell und deutsch-deutsch. - Zum Dunkel, in dem die französische Politik während des deutsch-deutschen Einigungsprozesses tappte, vgl. die chronologisch genaue Studie von Thierry Garcin, "L'unification allemande et la classe politique française", in: Hérodote. Revue de géographie et de géopolitique, Nr. 68: La question allemande, janvier-mars 1993, S. 112-124.
6
François Mitterand erinnerte im Zusammenhang mit der in Frankreich bei den ersten Anzeichen einer deutschen Einigung erwachten Diskussion über einen möglichen Sitz der Bundesrepublik im Sicherheitsrat und über eine mögliche deutsche Nuklearbewaffnung mehrmals daran, daß Deutschland den Krieg nun einmal verloren habe. Zweimal Nein also. Anläßlich seiner Reise in die DDR, Ende Dezember 1989, erinnerte er überdies daran, daß auch Frankreich einmal zweigeteilt gewesen sei und daß es äußerst gefährlich wäre, Grenzveränderungen vorzunehmen - auch wenn die innerdeutsche Grenze selbstredend anderer Natur sei. Gorbatschow stimmte allerdings auch erst Ende Januar 1990 der deutschen Einigung definitiv zu.
7
Yves Lacoste, "La question allemande", in: Hérodote Nr. 68, S. 3.
8
Vgl. dazu die Darstellung von Etienne Sur, "Maastricht, la France et l'Allemagne", in: Hérodote Nr. 68, S. 125-137. - Selbstverständlich gab es auch in Frankreich Stimmen, die den, sehr zurecht so genannten, "antigermanisme à demi inconscient" und eine "germanophobie symétrique à celle du nationalisme rance et cocardier" denunzierten. Allerdings waren die Gegner dieses "ranzigen und uniformbesessenen Nationalismus" in der Minderheit. Sie versuchten, dem "antigermanischen Unbewußten" Rationalisierungen entgegenzusetzen, die dem institutionellen Kern und Komplex, der
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Gegner des Einigungsvertrags von der aus Wahlkampfgründen zuletzt immer hysterischer heraufbeschworenen Angstvision vom alles beherrschenden Deutschland heimgesucht, in der eine parlamentarisch-demokratische Bundesrepublik samt ihrer Westorientierung als politische Realität oder als Deutschland-Referenz kurzerhand verschwand, um einem martialisch anmarschierenden Deutschen Reich Platz zu machen. 9 Die Schreckbilder der Stimmenfangrhetorik übermannten ihre Zeichner: "Allemagne" war kein mobilgemachtes Argument für oder gegen die zukünftige europäische Einigung mehr, die europäische Einigung oder Nicht-Einigung von Maastricht war ein einziges Argument gegen das drohende und alles überschattende Gespenst "Allemagne". Für die einen war der Vertrag das letzte politische Mittel, bevor es dann endgültig zu spät wäre, all die barbarischen Gemeinheiten des wiedergekehrten souveränen deutschen Unwesens gleichsam in letzter Sekunde doch noch zu verhindern: Deutschland und seine "vieux démons" wären, wie bislang nur von Besatzungsstatuten, allein im west-europäischen Europa von Maastricht zu zügeln und zu "fesseln". 10 Für die anderen - und symmetrisch zu dieser dämonischen (Un)Wesens-Unterstellung - war "Maastricht" nichts anderes als eine Neuauflage des Münchner Abkommens, das heißt: eine ziemlich heimtückische, in Bonn, wenn nicht gar noch in Berliner Führerbunkern ausgeheckte Machenschaft, mit der die als neudeutsche Demokratie getarnte alte Blitzkriegswehrmacht auf friedlichem Weg jetzt das zu verwirklichen sich anschickte, was ihr seinerzeit, nicht zuletzt wegen einer heroisch standhaltenden Résistance, nicht geglückt war: die Auslöschung der Nation bzw. der nationalstaatlich demokratischen Ordnung Europas überhaupt. 11 "Car l'Allemagne, et c'est bien naturel, dans sa position et avec les moyens dont elle dispose, ne renoncera à sa souveraineté", so der Abgeordnete Séguin in seiner Anti-Maastricht-Rede, "que si elle domine l'ensemble, certainement pas si elle lui est subordonnée." 12 In beiden Fällen, ob Ja oder Nein, fürchtete man eine neue, alte deutsche Übermacht, die Frankreich - als Nation der
dieses "Unbewußte" trägt, letztlich aber nur wenig anhaben konnten. In diesem Sinn, das heißt: sofern das "Unbewußte" institutionell verankert ist, ist es gerechtfertigt, von "der Nation" zu sprechen. 9
Serge July kommentierte den Vorgang wie folgt: "L'argument de la peur, l'envers pour le non et l'endroit pour le oui, est un classique en campagne électorale. Mais il est spécialement mal venu cette fois-ci. ... C'est manifester beaucoup de mépris pour la démocratie et pour la société contractuelle allemande, pour l'engagement européen de ses dirigeants." (Serge July, "Le compromis historique", in: Libération vom 31. August 1992, S. 3) - July war einer der wenigen, die die auf die Horrorvision "Deutschland" zentrierte Diskussion zu entdramatisieren suchten.
10 "Il faut ligoter l'Allemagne" war das von den Anhängern des Vertrags am häufigsten vorgebrachte Argument, von Edouard Balladur über Raymond Barre bis zu Michel Rocard und Bernard Kouchner. 11 Darin waren sich vom PCF bis zur FN alle Vertragsgegner einig. - Der Wehrmacht-Vergleich wurde am 3. September von Maurice Duverger in Le Monde angestellt: "Aux alentours de l'an 2000, le mark aurait alors réussi ce que la Wehrmacht n'a pas su faire: une Europe pangermanique dominée par une Bundesbank dont on a vu la soumission aux autorités de Bonn lors de l'échange de monnaie de la RDA." Duverger war nicht der einzige; vgl. den weiter unten zitierten Artikel von Pierre M. Gallois "Vers une prédominance allemande" (Anm. 46). 12 Philippe Séguin, Discours pour la France, Paris 1992, S. 103.
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"question
allemande"
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"Droits de l ' h o m m e " und Garant der Freiheit in d i e s e r W e l t 1 3 - v o n s e i n e m ihm zustehenden w e l t g e s c h i c h t l i c h - i d e e l l e n "Rang" mit s o imperialer w i e nihilistischer Macht- und Realpolitik verdrängen könnte. 1 4 D e u t s c h l a n d , d i e s e r "revenant" aus u n s e l i g e n Z e i t e n , e r s c h i e n p l ö t z l i c h w i e d e r als der b e d r o h l i c h e , s e e l e n - und botschaftslose "Machtstaat", der die M a c h t u m ihrer selbst w i l l e n anbetet, statt s i e in den D i e n s t einer u n i v e r s e l l e n Idee zu stellen. 1 5 U n d m a n formulierte d i e s e w i e d e r g e k e h r t e A n g s t u m d i e f r a n z ö s i s c h e G r ö ß e und u m d i e "französische Idee" - z w e i W e l t k r i e g e w a r e n nicht für nichts - auch g l e i c h in einer sehr b e l l i z i s t i s c h e n Sprache. E t i e n n e Sur schrieb dazu in seiner A n a l y s e und D o k u m e n t a t i o n der Debatte: "Le thème le plus présent dans ces dicours est celui de la puissance allemande. On craint la 'puissance militaire, économique', la 'grande puissance' ou la 'toute-puissance' des Allemands. Le vocabulaire employé est d'ailleurs souvent celui de la guerre. On parle de 'capituler', de 'soumission', on évoque une Allemagne 'redoutable' dont il faut craindre T'hégemonie'. Il n'est pas bien difficile de voir, à travers l'allusion à la 'capitulation' des Belges,16 le souvenir de la défaite française de 1940 qu'on n'ose pas évoquer. L'occupation par l'armée allemande de 1940 à 1944 est ainsi, comme la France de Vichy, présente mais non dite. Si la puissance militaire est crainte, la puissance économique l'est aussi, à travers les nombreuses références aux capacités monétaires de l'Allemagne, à ce que Jürgen Habermas a nommé le 'nationalisme du DM'. Ces propositions renvoient à nombre d'idées plus ou moins latentes, à propos de l'Allemagne, qui sont réapparues depuis la réunification." 17
2. "Deutschland" a l s o kehrte wieder, es erschien, s e i n e "vieux d é m o n s " , s e i n e "fantômes" 1 8 und damit auch das schier u n e r s c h ö p f l i c h e Arsenal v o n W K - I - und W K - I I -
13 Unvergessen ist in Frankreich das geflügelte Wort De Gaulles: "Il y a un pacte vingt fois séculaire entre la grandeur de la France et la liberté du monde." 1989 ließ der neogaullistische RPR den Satz auf alle zur Verfügung stehenden Werbeflächen Frankreichs kleben. 14 "Vue de Paris, la puissance allemande est crainte pour elle-même, parce qu'elle est beaucoup plus grande que celle des autres Etats voisins, mais aussi parce qu'elle correspond, en même temps, à une diminution de la puissance française". So brachte Etienne Sur die französische Angst auf den Begriff; Etienne Sur, "Maastricht, la France et l'Allemagne", S. 129. 15 Zur deutschen Theorie des "Machtstaates", von Hegel bis zu Treitschke und Weber, vgl. Catherine Colliot-Thélène, "Les origines de la théorie du Machtstaat", in: Philosophie Nr. 20, automne 1988, S. 24-47. 16 Sur nimmt hier Bezug auf einen Artikel von Alain Mine, der geschrieben hatte (Le Monde vom 1. September 1992): "Quel avenir restera-t-il aux Belges, aux Luxembourgeois, qui jouent de l'influence française pour limiter la toute-puissance allemande? Livrés à eux-mêmes, ils pourront, au mieux, capituler avec élégance et devenir des duchés d'un nouveau Saint-Empire romain germanique." 17 Etienne Sur, "Maastricht, la France et l'Allemagne", S. 127. 18 "L'Allemagne et ses fantômes", war im März 1990 die Kolumne von Françoise Giroud im Nouvel Observateur überschrieben. Darin fand sich der Satz: "Il y a des salopards partout. Nous avons les nôtres. Mais pour des raisons inutiles à rappeler, les salopards allemands sont toujours plus préoccupants que les autres." (Françoise Giroud, "L'Allemagne et ses fantômes", in: Le Nouvel Observateur Nr. 1321, 1.-7. März 1990, S. 59)
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Karikaturen: Pickelhauben, Soldatenstiefel, Blitzkriegspanzer, feiste Biertrinker, der pöbelnde Hans, das arrogante Gretchen usw. usf.19 Sie kehrten wieder zunächst im Zusammenhang der wiedererlangten deutschen Souveränität, die umgekehrt die souveräne Siegerrolle Frankreichs schockartig, um nicht zu sagen: blitzkriegsartig beendete,20 noch mehr aber kehrten sie wieder im Zusammenhang des europäischen Einigungsvertrags, der - zu allem Überfluß - dann auch noch die französische Souveränität selbst in Frage stellte. Jetzt sollte sie auf dem Altar eines zukünftigen föderalen oder konföderalen Europa geopfert werden. Ein deutscher Doppelschlag gewissermaßen gegen die "droits naturels, inaliénables et sacrés" der französischen Nationalsouveränität. Nun sind die "latenten Vorstellungen", die ein Großteil der französischen Öffentlichkeit mit "Allemagne" ganz offensichtlich assoziierte und vermutlich immer weiter assoziiert - "Allemagne", die wenig mit R.F.A. und R.D.A., wenig auch mit der Weimarer Republik, dem gezähmten Verlierer-Deutschland also, um so mehr freilich mit einem Kriegs-und-Sieger-Deutschland namens "Deutsches Reich" zu tun hat - aber nicht bloß halt- und grundlose Delirien, die jeder politischen und instititutionellen Realität entbehrten. Auch dann nicht, wenn die Ortung des OKW in der Frankfurter Bundesbank etwas übertrieben scheint und die Konstruktion einer "langen geopol¡tischen deutschen Dauer", das heißt: einer kontinuierlich verfolgten, expansiven, das Alte Reich zu retablieren suchenden deutschen Geo-Politik von Otto von Bismarck über Wilhelm II. und Adolf Hitler und Willy Brandt bis hin zu Helmut Kohl auf den ersten Blick etwas überraschen mag.21 Die Schreckbilder sind und waren auch nicht einfach verrückte Verwechslungen von Gegenwart und Vergangenheit oder schiere Anachronismen. Denn die französischen (Angst)Vorstellungen von einem Deutschland mit strategisch
19 Für das historische Arsenal vgl. die Dokumentation bei Wolfgang Leiner, Das Deutschlandbild französischen Literatur, Darmstadt 1991 (insbesondere S. 181-235).
in der
20 Wie traumatisch die deutsch-deutsche Einigung wahrgenommen wurde, verdeutlicht ein kleiner Text von Guy Sitbon, der im März 1990 im Nouvel Observateur schrieb, den von Sur konstatierten rhetorischen Bellizismus bestätigend: "Si les Allemands, entraînés dans une spirale nationaliste, ne veulent pas ou (pis) ne peuvent pas communier en Communauté dans cette circonstance [der anstehenden Einigung], alors là oui, c'est le moment où jamais de ne pas avoir peur. Et de vérifier l'état de nos forces." (Guy Sitbon, "Ils me font peur!", in: Le Nouvel Observateur Nr. 1321, S. 18) 21 Gilles Martinet, ehemaliger Botschafter Frankreichs in Rom, schrieb am 15. Januar 1992, das heißt: am Tag der Anerkennung der jugoslawischen Sezessionsrepubliken Slowenien und Kroatien durch die Europäische Gemeinschaft in Le Monde, eben diese "lange Dauer" einer deutschen Außenpolitik noch einmal konstruierend: "Une Allemagne de plus en plus forte et pesant d'un poids de plus en plus lourd au sein de la Communauté. C'est cette perspective qui entretient les peurs de ceux qui n'oublient pas que le XXe siècle a bien failli être un siècle allemand comme le XVIIIe siècle avait été français et le XIXe britannique. La force de l'industrie et le rayonnement de la culture le laissaient prévoir. Il a fallu l'opposition de la France, de l'Angleterre et de la Russie, l'avènement de la puissance américaine et cet acharnement de Guillaume II et de Hitler à vouloir régler le problème par les armes pour que l'Allemagne soit détournée de ce destin. Celui-ci va-t-il s'accomplir dans les toutes dernières années de ce siècle et, cette fois, d'une manière pacifique et indolore? ... Si [la France] réussit à adapter aux réalités nouvelles sa politique économique et sa politique militaire (devenue, en grande partie, obsolète), elle n'aura nulle raison d'avoir peur de l'avenir ... et de l'Allemagne." (Gilles Martinet, "Faut-il avoir peur de l'Allemagne", in: Le Monde vom 15. Januar 1992, S. 2)
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langfristigen Mittel- und Osteuropa-Ambitionen, mit nie aufgegebenem gesamteuropäischem Hegemonie-Anspruch und mit wenig demokratischer Identität, wie sie Frankreichs "question allemande" durchgängig strukturieren, 22 umkreisen, trotz ihrer karikaturalen Überzeichnungen, zwei sehr präzise und denkwürdige historische, politisch-institutionelle Problemfelder, wie sie sich aus der politischen Logik des souveränen National- und Territorialstaats ergeben - der bis auf weiteres noch nicht abgeschafft ist. Erstens stellt die französische "question allemande" ersichtlich noch einmal die beunruhigte Frage nach der Territorialität Deutschlands. Aufgrund der historischen territorialen Instabilität und Undefiniertheit Deutschlands wird demselben souveränen und nationalstaatlichen Deutschland, und zwar spätestens seit 1871,23 immer weiter ein monströser, imperialer Expansionsdrang unterstellt, mit wieviel in der Zwischenzeit angelernter Demokratie und sozialer Marktwirtschaft auch immer, und zwar nach Mittel-, Ost- und Südosteuropa: Slowenien, Kroatien, Böhmen, Pommern, Ostpreußen usw. Unvergessen sind in Frankreich also die alten deutsch-nationalen geopol¡tischen Probleme und die geopol ¡tischen Diskussionen, die in Deutschland, zumal im Anschluß an den Versailler Vertrag, so intensiv wie aggressiv geführt worden waren. 24 Die Nachkriegsordnung löste dann bekanntlich die neuen, alten Grenzfragen ebenfalls und einmal mehr nicht und Deutschland blieb der Aufschub und damit auch das territoriale Provisorium, das es immer schon gewesen war. Das in Frankreich, aber nicht nur dort, so unerwartete wie als skandalös empfundene deutsche Zögern, 25 die Oder-Neiße-Linie als tatsächliche deutsche Ostgrenze anzuerkennen bzw. sie im November 1990 nach zähen innenpolitischen Verhandlungen mit den Vertriebenenverbänden anzuerkennen 26 - bekanntlich mit in Aussicht gestellten euro-regionalen Kompensationen für die Vertriebenen, die in Frankreich, stellt man die "nationale" Argumentation der Verbände in Rechnung, wohl kaum zu Unrecht als europäisch getarnter Pangermanismus interpretiert werden 27 - , führte diese gefürchtete Instabilität dann noch einmal schlagend
22 Vgl. dazu und zum Folgenden Etienne Sur, "Maastricht, la France et l'Allemagne", S. 129-136. 23 Nach dem Krieg von 1871 taucht sofort das revanchistische Deutschland-Bild von den barbarischen, unzivilisierten Horden auf, das seither auch nie mehr verschwinden sollte. Vgl. Raoul Girardet, Le nationalisme français. Anthologie 1871-1914, Paris 1983, S. 49. 24 Vgl. hierzu das Standardwerk von Michel Korinman, Quand l'Allemagne pensait le monde. et décadence d'une géopolitique, Paris 1990.
Grandeur
25 Vgl. Michel Korinman, "La longue marche des organisations de réfugiés allemands de 1945", in: Hérodote Nr. 68, S. 41: "Durant le processus de réunification allemande, les commentateurs, en particulier français, qui s'étaient attendus à une reconnaisance facile, évidente, rapide de la ligne Oder-Neisse comme frontière orientale de la future Alemagne en furent pour leurs frais. C'est qu'ils négligeaient la puissance persistante du lobby des réfugiés de l'après-guerre; ils ont ignoré le caractère dramatique du débat que dut mener avec eux le chancelier; ils ne purent mesurer à quel point la partie, pour Kohi, allait être rude." 26 Vgl. Michel Korinman, "La longue marche des organisations de réfugiés allemands de 1945", S. 49-52. 27 So Korinman, ebd., S. 52-59. - Korinman gibt seiner Darstellung der jüngsten "Ostpolitik" der Vertriebenen den Titel "Un pangermanisme pacifique". Er schreibt zusammenfassend: "On voit que
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vor. U n d in der Tat: M a n kann nicht s a g e n , daß K ö n i g s b e r g und D a n z i g und Breslau u s w . gar nicht m e h r mit d e m Epitheton "deutsch" v e r b u n d e n w ä r e n , und m a n kann g e n a u s o w e n i g s a g e n , daß d i e i m N a m e n e i n e s n e u e n Europa v e r f o c h t e n e "Ostpolitik" der deutschen V e r t r i e b e n e n v e r b ä n d e auf d i e d i v e r s e n G e b i e t e als d e u t s c h e tatsächlich verzichtet hätte. 2 8 N a t i o n und Territorium o d e r Staatsgebiet und V o l k w o l l e n e i n f a c h nicht eins w e r d e n . Im V e r b u n d mit d e m S e l b s t b e s t i m m u n g s r e c h t für's V o l k , 2 9 d i e s e r d i f f u s e n Größe, e r g e b e n sich daraus aber u n w e i g e r l i c h P r o b l e m e . Frankreichs "question allemande", w i e u m Carl Schmitts D i k t u m v o m F e i n d als der Gestalt der e i g e n e n F r a g e zu bewahrheiten, starrt w i e gebannt, und durch die Brille dreier m ö r d e r i s c h e r K r i e g e , auf das furchterregende Rätsel dieser f o r t g e s e t z t e n und u n b e g r e i f l i c h e n U n e i n i g k e i t . H e l m u t h Plessner hatte d a s s e l b e Rätsel, das nicht in e i n e m d e u t s c h e n W e s e n liegt, sondern das sich der Inkompatibilität historischer G e g e b e n h e i t e n mit d e m Prinzip einer territorialstaatlichen V o l k s d e f i n i t i o n b z w . historischen V o l k s h e r s t e l l u n g verdankt, 3 0 freilich s c h o n 1 9 3 5 i m niederländischen Exil auf den B e g r i f f gebracht, als er sagte: "Die Verteilung deutschen Volkstums quer durch die europäischen Staatsgrenzen stellt eine Tatsache dar, die eine Lösung entweder im Sinne der vornationalen ökumenischen Reichsidee oder im Sinne der nachnationalen Organisation der Vereinigten Staaten von Europa verlangt, in jedem Fall eine Unzeitgemäßheit, weil von Vorgestern oder von Übermorgen. Weil aber das heutige Europa durch seinen politischen Humanismus an der Nationalstaatlichkeit festhält, stellt es die Verteilung des deutschen Volkstums vor die Entscheidung, zwischen seinen Prinzipien zur Wahrung nationaler Autonomie oder dem alten Staatensystem zu wählen. Entscheidet es sich für seine Prinzipien, so muß
les réfugiés ne sont nullement disposés à oublier les territoires allemands perdus après 1945: ils ont évolué et veulent les récupérer par d'autres moyens." (Ebd., S. 59) 28 Ende 1990 wurde bspw. ein "Zentralrat der Deutschen Gesellschaften in Polen" gegründet, der u.a. das Recht auf Gründung einer deutschen Partei in Polen forderte, das Recht auf Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit (gemäß Art. 116 GG) für die in Polen lebenden Deutschen, deren Schutz durch die Bundesrepublik, das Recht auf Aufenthalt in der Bundesrepublik. - Dazu, zur Nachkriegspolitik der deutschen Vertriebenenverbände insgesamt und zu ihren mittlerweile europapolitisch gewendeten Absichten vgl. Michel Korinman, "La longue marche des organisations de réfugiés allemands de 1945", S. 41-66. 29 Auf dem insbesondere Deutschland "für sich und die anderen" insistiert, während Frankreich umgekehrt die Territorialität des Staates in den Vordergrund rückt. Der Widerstreit Staatlichkeit vs. Nationalitätenprinzip tauchte zuletzt noch einmal in der deutsch-französischen Bewertung des Jugoslawienkonflikts konfliktuell auf. Es war in der Tat die deutsche Bundesregierung, die als erste den Terminus "Selbstbestimmungsrecht", der weder in den Verlautbarungen der EG zum Konflikt noch in den innerhalb Deutschlands gemachten Äußerungen bis dato benutzt worden war, Ende August 1991 einführte. Vgl. Hans-Dietrich Genscher, "Friedenskonferenz für Jugoslawien", in: Mitteldeutsche Zeitung Halle vom 30. August 1991; vgl. die Regierungserklärung von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl "Zur Lage und Entwicklung in der Sowjetunion und in Jugoslawien", abgegeben am 4. September 1991 vor dem deutschen Bundestag, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Dok.-Nr. 31658. 30 Das Rätsel der deutschen Anomalie, d.h. der Nicht-Koinzidenz von Staat und Nation ist nichts als die Wiederkehr eines aus dem Volksbegriff der demokratischen Nation Verdrängten: verdrängt nämlich ist darin die ganze prä-nationale Arbeit der Volksherstellung durch die absolute Monarchie des "roy très-chrétien". Sie modelt mit ihrer Sprachpolitik, ihrem monetären, juridischen, territorial arrondierenden Zentralismus erst das einheitliche und einige Volk, das sich der Souveränität dann bemächtigen wird. Vgl. Etienne Balibar u. Immanuel Wallerstein, Race Nation Classe - les identités ambiguës, Paris 1988, S. 117-143.
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es sie dem deutschen Volkstum auch zugestehen und es wählt die territoriale Revolution. Entscheidet es sich für die alten Staatengrenzen, so verleugnet es seine eigenen Rechtsgrundlagen. "31
Zweitens wirft die "question allemande" - und zwar in der permanent wiederkehrenden Rede von den "vieux démons" Deutschlands 32 - das Problem der deutschen Demokratie auf, das heißt aber: die Frage nach der politischen Form oder nach der genuinen staatlichen Verfaßtheit Deutschlands. Sie wird in Frankreich, zumindest unterschwellig, als ebenso instabil, bedrohlich und im Kern monströs angenommen wie die Undefinierte deutsche Territorialität. Was nur logisch ist. In einem Land, in dem Nation oder Volk, Staat und Territorium Synonyme und als Synonyme der historische Normalfall sind, kann ein Gebilde, dem diese Synonymie beharrlich abgeht, nur als pathologisches Phänomen wahrgenommen werden. Daß diese Pathologie sich der Logik des demokratischen Nationalstaats freilich selbst verdankt, der seine Geburt aus den staatlichen Verwaltungsmaßnahmen des Ancien Régime nur verdrängt, wird entsprechend vergessen, um als faszinierendes Rätsel des Anderen wiederzukehren. 33 Aus dieser Perspektive werden die nationalistisch motivierten Morde an Ausländern, die eben nicht im Namen fehlender sozialer Betreuung, sondern sehr wohl im Namen eines (neo)nazistischen, das heißt freilich auch: expansiven Nationalismus' und eines projektierten, nicht mehr "durchrassten", also national homogenen Deutschlands verübt werden, umgekehrt aber auch die gutgemeinten Überlegungen von deutschen Intellektuellen zu einem dritten, west-östlichen und bislang noch nicht gefundenen Weg als beunruhigende Symptome der fortgesetzten staatlichen Nicht-Identität oder imperialen Instabilität Deutschlands interpretiert. Diese profunde Instabilitätsvermutung erklärt auch, weswegen der rassistische Front National Le Pens, der die territorialstaatliche Integrität Frankreichs in der Tat nicht zur Diskusion stellt, als weitaus weniger gefährlich eingestuft wird als der deutsche Rechtsextremismus. Die Frage nach der politischen Stabilität Deutschlands wiederholt und variiert also noch einmal die nach seiner territorialen Stabilität. Historisch auch völlig zurecht: Jedes demokratische Deutschland, sowohl die Weimarer als auch die Bonner und Ost-Berliner Republik, die Paris 1972 bekanntlich anerkannte, war bislang noch ein besiegtes, nicht-souveränes, und jedes souveräne Deutschland, sowohl das Zweite als auch das Dritte Reich, war zuletzt pangermanisch, ein dräuendes Volk ohne Raum, das heißt: mit einem Raum, in dem auch andere Völker wohnten - als "races inférieures".
31 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Frankfurt/Main 1988, S. 44-45.
Verführbarkeit des bürgerlichen
Geistes,
32 Vgl. dazu den kritischen Artikel von Alain Finkielkraut, "'Oui' à Maastricht, contre la nuisance française", in: Libération vom 1. September 1992, S. 9. 33 Vgl. Jürgen Habermas, "Geschichtsbewußtsein und posttraditionale Identität. Die Westorientierung der Bundesrepublik", in: ders., Die Moderne - ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1992, Leipzig 1992, S. 165: "Die Form nationaler Identität macht es nötig, daß sich jede Nation in einem Staat organisiert, um unabhängig zu sein. In der historischen Wirklichkeit ist jedoch der Staat mit national homogener Bevölkerung immer Fiktion geblieben. Der Nationalstaat selber erzeugt erst jene autonomistischen Bewegungen, in denen unterdrückte nationale Minderheiten um ihre Rechte kämpfen. Und indem der Nationalstaat Minderheiten seiner zentralen Verwaltung unterwirft, setzt er sich in Widerspruch zu Prämissen der Selbstbestimmung, auf die er sich selbst beruft. "
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Beide Problemfelder aber, die von der französischen "question allemande" derart immer wieder befragt werden: Territorialität und politische Form, werden letztlich von dem getragen, was man den französischen "Reichskomplex" nennen könnte, der sich in der immer wieder heraufbeschworenen und besprochenen Angst vor einer Wiederkehr des Deutschen Reichs bzw. in der ganz offensichtlichen Identifikation Deutschlands mit dem Reich manifestiert. Am brutalsten hat diesen nationalen Reichskomplex Alain Joxe - laut Le Monde "einer der hervorragendsten französischen Experten für militärische und strategische Fragen" - noch einmal am 22. Dezember 1992 in einem Interview mit Le Monde formuliert. Joxe, Bruder übrigens des damaligen sozialistischen Verteidigungsministers Pierre Joxe, kam ohne jeden Umschweif zur imperialen Sache und erklärte: "Les Français acceptent l'alliance mais sont allergiques au moins depuis François 1er, à l'empire universel. La tradition républicaine de la Révolution française, et la préférence affichée pour l'échelle d'organisation de l'Etat-Nation, confirmée par l'abdication raisonnée de Napoléon en 1815, tout cela forme un tout, désormais, avec la liquidation des empires coloniaux scellé par de Gaulle. Il existe ainsi une école française peu favorable à la prééminence des empires pour soi-même et pour les autres. En même temps, la nation française est depuis le début un melting-pot bien plus réussi que l'Amérique, car fondé sur l'hospitalité : on y a jamais liquidé les Indiens. Pour l'école française, un Etat-nation est avant tout un territoire associé à une citoyenneté; une volonté civique de cohabitation, pas du tout une ethnie tribale paysanne. Les empires jouent toujours sur les divisions entre les ethnies, les Républiques sur l'unité des peuples. La France s'accomode plutôt bien de cette forme d'union confédérale égalitaire qui émerge péniblement en Europe, et qui n'est pas un empire, et qui, dans les faits, va peser autant que les Etats-Unis. Le monde de l'empire unique n'est pas acceptable, s'il ressemble à un melting-pot américain, c'est-à-dire accompagné de génocide et d'esclavage. Ce n'est pas le moment de faire les modestes."34
Nun ist aber auch dieser Reichskomplex, wie Joxe ihn so exemplarisch und von allen Selbstzweifeln unbehelligt preisgibt, 35 keine freischwebende französische Halluzination, sondern er ist seinerseits das alte Erbe der Institutionen des französischen Staates und seiner genuin anti-imperialen Konstitution selber. Sie erst erklärt den agonalen und a fortiori auch feindschaftlichen Charakter der französischen "question allemande". Das alte europäische Reich, seit 1486 "deutscher Nation", läßt sich in der Tat historisch durch genau die beiden Merkmale definieren: Nicht-Territorialität zum einen, nicht-(territorial)staatlich beschränkte, sondern eschatologisch-universale Souveränität
34 Alain Joxe, "Interview", in: Le Monde vom 22. Dezember 1992, S. 2. 35 Solche Selbstzweifel könnten einem kommen, wenn man sich daran erinnert, daß die Nation von der Großen Revolution bis zur Konferenz von Brazzaville, 1944, durchgängig an einem "Empire français", und zwar dem Wort und der Sache nach, festgehalten hat. Seit 1946 ließ man das Wort fallen, um in der "Union française" dieselbe Sache unter anderem Namen fortzuführen. Der de Gaullesche und französische Antikolonialismus ist eine posthume Erfindung: "N'ayant plus d'empire, ce fut contre les empires que le nationalisme français, par la voix du Général revenu, exalta les Etats-Nations, de Mexico à Pnom Penh." (Michel Winock, Nationalisme, antisémitisme et fascisme en France, Paris 1982, S. 60)
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zum anderen,36 keine Souveränität jedenfalls im Sinne des, wie Helmuth Plessner formulierte, westeuropäischen "politischen Humanismus'". Umgekehrt existiert derselbe Humanismus seinerseits aber und seit seinen institutionellen Anfängen, von der proklamierten Souveränität des Königs in seinem "regnum" über eine autonome oder territorial immanente Legislation und Administration bis hin zur nicht- oder antilateinischen Sprachpolitik und nicht zuletzt auch in seiner ihm eigentümlichen Sakralisierung des Staats,37 genuin gegen das Reich, gegen Papst, Kaiser und Feudalsystem, das heißt: er konstituiert und instituiert sich von vornherein aus einer Reichsfeindschaft, oder besser: er konstituiert sich als Reichsfeindschaft.38 Dabei ist der Reichskomplex Frankreichs, wie er in der "question allemande" noch immer zum Ausdruck kommt, aber nicht einfach bloß die addierende Zusammenfassung oder nur ein anderer Name für die beiden erstgenannten Problemfelder - Angst vor der unbestimmten Territorialität und damit auch undefinierbaren politischen Form Deutschlands - , sondern er birgt darüber hinaus das brisantere Problem der religiös aufgeladenen Universalität und/oder Imperialität der Nation in sich. Die universale Bestimmung wird von der französischen Nation nicht weniger beansprucht als von der alten deutschen, was dann erstens in Europa zu den historisch sattsam bekannten, wechselseitigen deutsch-französischen Hegemonie-Vorwürfen führte und zweitens zu einem französischen Reich, an dem, so zum Beispiel Jules Ferry, "les races inférieures" zivilisatorisch genesen oder überhaupt erst Mensch werden sollten.39 Der agonale Reichskomplex bindet auch die französische Nation konstitutiv an eine missionarische Universalität und an eine messianische Berufung - als die eines auserwählten Volkes40 - , und er vermag auch erst die offensichtlich noch immer präsente deutsch-fran36 Zur Unvereinbarkeit von Souveränität/Staat und Reich vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, "Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation", in: Heinz-Horst Schrey (Hrsg.), Säkularisierung, Darmstadt 1981 ( = Wege der Forschung Bd. 424), S. 67-89; vgl. auch Michel Foucault, De la gouvemementalité, 2 Tonbandkassetten, Paris 1989. 37 Vgl. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, S. 32-42; zur Vergeistlichung des Weltlichen, wie sie in Deutschland wegen des Lutherschen Protestantismus' nicht stattfand, vgl. auch Friedrich Karl Schuhmann, "Zur Überwindung des Säkularismus in der Wissenschaft", in: Heinz-Horst Schrey (Hrsg.), Säkularisierung, S. 150-153. 38 Vgl. dazu Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Kronberg/Ts. 1976 (Nachdruck der dritten Auflage von 1921), S. 435-474. - Vgl. dazu aber auch Philippe Séguin, Discours pour la France, Paris 1992, S. 46: "Ce fédéralisme régionaliste [des neuen, imperialen, also auch: "deutschen" Europa] signifierait à coup sûr la fin de notre République et la mort de notre idéal républicain. Ce serait annéantir dix siècles de volonté d'unification de la France, dix siècles de rassemblement des provinces françaises, dix siècles de lutte contre les féodalités locales, dix siècles d'efforts pour affermir la solidarité entre les régions, dix siècles d'obstination féconde pour forger, de génération en génération, une authentique communauté nationale. " 39 Ferry verteidigte Frankreichs Kolonialpolitik 1885 mit den Worten: "Messieurs, il faut parler plus haut et plus vrai! Il faut dire ouvertement que les races supérieures ont un droit vis-à-vis des races inférieures. ... Elles [les races supérieures] ont le devoir de civiliser les races inférieures." (Zit. nach Raoul Girardet, Le nationalisme français, S. 103) 40 Zum historischen Komplex der französischen Nation als auserwähltes Volk vgl. die brillante Studie von Colette Beaune, Naissance de la nation France, Paris 1985, S. 214-216. - Daß der Komplex noch immer aktuell ist, beweist der Anti-Maastricht-Dwcott/ï pour la France des Neogaullisten Philippe
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zösische Feindschaft in ihrer ganzen religiösen Intensität und langen historischen Dauer zu erklären. Die französische Nation als Staatsnation, das heißt: in ihrem administrativen Zentralismus und in ihrer territorial definierten, "natürlichen, unantastbaren und heiligen" Souveränität 41 existiert also nur aus ihrer ihr historisch eingeschriebenen Reichsfeindschaft; sie existiert gleichzeitig aber auch als Rivale um das universale und ordnungspolitische europäische Erbe des alten Reichs, das sie sich vindiziert. Joxe' Satz zur französischen Präferenz nationalstaatlicher Organisation "pour soi-même et pour les autres", das heißt: "fur alle" oder "an alle" verdeutlicht die universale Sendung der Nation nur allzu schön: imperial anti-imperial oder universal national. Umgekehrt existiert die sogenannte "deutsche Nation" im neuzeitlichen, staatlichen Gefuge Europas genuin als prinzipiell untergegangenes Reich, aus einer strukturellen Absenz ihrer selbst als Reich, als eine Vergangenheit, die (als nationale und staatliche) nie gewesen und die dennoch präsent ist als das, was immer zukünftig, als Aufgabe, als Projekt, als Ausstehendes von ihr noch einmal angeeignet werden soll. Entsprechend waren die bislang historisch real existierenden deutschen Staaten stets nur Provisorien auf der Suche nach dem wahren Deutschland, diesem verschwundenen Reich. Genau diese historisch-institutionelle Nicht-Präsenz, dieses staatliche Nicht-bei-sich-Sein oder Noch-nie-dagewesen-Sein Deutschlands erklärt die noch immer aktuelle nichtstaatliche oder überstaatliche Definition Deutschlands - sei's als Kulturnation, als Land Goethes und Marx' und Engels', sei's als bloßer Sprachraum. Deswegen sind die an- und fortdauernden Diskussionen um die deutsche Identität, etwa darüber ob das neue, vereinigte Deutschland einfach die Fortführung der alten Bundesrepublik sei oder nicht,42 kurz: ob Deutschland schon "angekommen" sei oder nicht, viel mehr aber noch der Fortbestand des Artikels 116 des Grundgesetzes, der bekanntlich die deutsche Staatsbürgerschaft all denen verleiht, die "als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat", nicht bloß Anzeichen, sondern konstitutive Elemente dieser fortgesetzten, altehrwürdigen Nicht- und Überterritorialstaatlichkeit. Die deutsche Nation wird also noch immer, heißt das, vom je existierenden Staat getrennt, und zwar im Namen eines phantomatischen, juridisch - nämlich im Artikel 116 GG - gleichwohl noch relevanten Reichs. Walter Grab schrieb dazu, unter Hinweis auf die realpolitische Fiktionalität des Reichs, worin es freilich lange und geduldige historische Übung hat:
Séguin, der die messianische Sendung Frankreichs beschwor, am 6. Mai 1992 vor der versammelten Assemblée Nationale. Er rief dort pathetisch: "Il suffit de regarder la carte de la francophonie pour comprendre combien la vocation de la France va bien au-delà des frontières de l'Europe. Tant pis pour les intellectuels de salon qui montrent dédaigneusement du doigt ceux qui ont, je les cite, 'cette conviction obsessioneile que la nation française est porteuse d'un message universel, de valeurs supérieures et d'une mission civilisatrice.' - Oui, la France a une vocation messianique. Elle doit l'assumer!" (Philippe Séguin, Discours pour la France, S. 105) 41 So bekanntlich die Formulierung der "Déclaration des Droits de l'homme et du citoyen" von 1789. 42 Vgl. Karl-Heinz Bohrer, "Warum wir keine Nation sind", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Januar 1990; Ernst Nolte, "Untergang der Bundesrepublik? Zur Frage der Kontinuität in der Nachkriegsgeschichte", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. September 1990.
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"Es ist zu betonen, daß die Bundesrepublik in den Verträgen von Warschau und Moskau nur für sich die Oder-Neiße-Grenze als unwiderruflich anerkannt hat. Sie hat dies jedoch nicht für das (nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts handlungsunfähige) Deutsche Reich getan und daher auch keine Verfügung über den territorialen Status Deutschlands getroffen. ... Auch nach dem Beitritt der DDR an die Bundesrepublik ist (laut der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) der erweiterte Staat nicht identisch mit dem Deutschen Reich, weil die Grenzen vom 31. Dezember 1937 nicht erreicht sind. "43
Unter der Hand, vor allem auch unter einer juridischen Hand - einmal abgesehen von der Frage nach der stummen Virulenz der Vorstellungen in den Köpfen der Leute44 bleibt Deutschland damit auf ein überschüssiges Reich bezogen, dessen nationales bzw. nationalstaaliches Kommen man sich lieber nicht vorstellen mag. Das Nicht-Abtragen dieser alten Reichsruinen in der politischen Konstitution Deutschlands, sowohl was die Staatsangehörigkeits- oder Nationalitätenregelung als auch was die damit korrelierten Territorialfragen angeht, zählt wohl zu den größten und gefährlichsten Versäumnissen der innenpolitischen deutschen Nachkriegsdebatten. Die deutsche Frage des Reichs wurde nicht gelöst, sondern, gerade als deutsche, stets eifrig offengehalten - um wiederkehren zu können.
3. Die offenkundige Reichs- und deswegen auch Deutschland-Feindschaft und -Angst Frankreichs als Nation mit universaler missionarischer Sendung - Angst, die sich bis hin zu Verfolgungsphantasien von der genozidären Auslöschung der Nation durch allseits drohende Reiche 45 (japanische, amerikanische, deutsche, "europäische", osmanische) steigern kann46 - ist nicht in irgendwelchen obskuren, freischwebenden 43 Walter Grab, "Gefahren des nationalen Selbstbestimmungsrechts Deutschlands", in: Günter Trautmann (Hrsg.), Die häßlichen Deutschen, Darmstadt 1991, S. 71. 44 Daran hat, gerade in bezug aufs Reich, auch Louis Dumont noch einmal erinnert: "Quelle sorte d'idées politiques les gens ont-ils dans la tête?" (Louis Dumont, Homo /Equalis II, L'idéologie allemande. France-Allemagne et retour, Paris 1991, S. 38) - Daß Dumonts gesamte Fragestellung sich der hier gezeichneten Struktur der "question allemande" einzeichnet, liegt auf der Hand. 45 In seinem Discours pour la France française que ce qui reste de l'âme demain du génie français qu'un nouvelle." (Séguin, Discours pour
rief Philippe Séguin: "Prenons garde qu'il ne reste demain de l'âme indienne dans les réserves d'Amérique. Prenons garde qu'il ne reste simple objet de curiosité pour les anthropologues de l'Europe la France, S. 44)
46 Am 16. Juli 1993 publizierte Pierre M. Gallois in Le Monde (S. 2) folgenden Artikel, der die Virulenz des Reichskomplexes verdeutlichen mag: "Quasi simultanément [zum Zusammenbruch der UdSSR], réunifiée, l'Allemagne est entrée discrètement, mais efficacement, sinon encore sur la scène mondiale, du moins sur le théâtre de l'Europe centrale dont elle entend modifier la récomposition. La République populaire fédérative de Yougoslavie offrait à Bonn un champ d'action immédiat. Disloquer ce pays, rattacher plus étroitement Croates et Slovènes à l'économie allemande, c'était à la fois émanciper des populations alliées aux empires centraux et au Ille Reich, punir les Serbes obstinément attachés aux vainqueurs des deux guerres mondiales, et aussi, avec l'éclatement de la Tchécoslovaquie, effacer les derniers vestiges des traités sanctionnant les deux défaites allemandes. C'était, en somme, par la toute-puissance de l'économie, reprendre ce qui avait été perdu par les armes.
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nationalen Wesen und Mentalitäten und anthropologisch-völkerpsychologischen Eigenschaften der Leute zu suchen. Sie wird vielmehr bestimmt von den Texten fortlaufend reproduzierter Verfassungen, von Institutionen und Administrationen und den ihnen korrelierten historischen Praktiken, die aus Leuten Subjekte machen. Sie erst setzen solche Wesen und anti-imperialen Mentalitäten mitsamt den wissenschaftlichen Instituten, die zur feiernden Erforschung und Propagierung dieser Wesen dann dienen,47 kontinuierlich ins Werk und vor allem ins Gedächtnis und in die Subjektivität ihrer Subjekte. Es handelt sich dabei wesentlich um ein von den Institutionen selbst, und zwar in ihrer unhintergehbaren Faktizität "Mitgedachtes" und immer weiter Übertragenes. Anders: Man muß sich der alten historischen Logik der Reichsfeindschaft keinesfalls bewußt sein, um sie - bei Gelegenheit - zu reproduzieren. Es gibt polemische Ablagerungen im Dasein selbst von Institutionen, die einen bestimmen und überborden. Man ist heimgesucht von vergessenen Geschichten, allein indem man ist, das heißt: indem Géants économiques, l'Allemagne et le Japon ont été longtemps tenus pour des pygmées politiques. Cette phase de leur évolution touche à sa fin. ... Aussi nos voisins d'outre-Rhin se trouvent-ils, aujourd'hui, dans une situation qui rappelle celle qui fut la leur il y a un peu plus d'un siècle. De même qu'il y a un siècle Bismarck modérait les ardeurs de ses pangermanistes, de même M. Kohi tempère les quelques tenants d'une expansion prématurée. Mais il se trouve qu'à la fois la géographie politique de l'Europe centrale et la construction européenne réunissent les conditions d'une future prédominance allemande. Au nord, il reste aux Allemands qui démeurent encore à Königsberg et à ceux de Pologne occidentale de rejoindre la mère-patrie, au sud, l'Autriche s'en rapproche. Au sud encore, à Belgrade, on n'oublie pas les vieux projets de grande Hongrie absorbant la Voïvodine serbe. ... Athènes s'inquiète également: bientôt, au nord, 80 millions d'Allemands exerçant leur influence économique et politique jusqu'au fin fond des Balkans et, au sud, 80 millions de Turcs à l'étroit sur leur Anatolie. Aujourd'hui assagis, démocrates, soucieux de coopération et de progrès, ces deux Etats mastodontes n'en encadrent pas moins les Slaves du Sud - et les populations orthodoxes, - leur faisant craindre qu'un jour, réminiscences historiques aidant, ils ne soient repris par leurs vieux démons. La construction européenne et la marche vers l'Etat fédéral européen impliquent l'affaiblissement des Etats-nations constituants, le pouvoir politique relevant du gouvernement fédéral et l'administration locale des régions, provinces, Länder. 'Notre but est l'unité de l'Europe', écrivait le chancelier Kohi dans 'Politique Internationale'. 'Le fédéralisme, la subsidiarité, l'intégration des intérêts des régions constituent pour nous des principes structurels essentiels à l'édification de l'Europe de demain.' Un Etat fédéral et des régions, pas de nations. II n'y a plus d'Etat yougoslave, pas davantage d'Etat tchécoslovaque, ces constructions quelque peu artificielles édifiées et confirmées à l'issue des deux guerres mondiales sont désormais fragmentées en 'nationalités'. Flamands et wallons voudraient coexister sous une forme fédérale et l'Italie du Nord réclame également la provincialisation. Déjà, il est des régions qui délèguent des 'ambassades' à Bruxelles, agissant pardessus le gouvernement de leur nation. Comme toute fédération est dirigée par la plus puissante de ses composantes, on conçoit qu'à Bonn l'on se fixe comme objectif l'unité de l'Europe fédérale, la dislocation de la Yougoslavie en étant la première manifestation ... Une Yougoslavie forte était nécessaire à l'équilibre dans les Balkans. Ses faiblesses internes, exploitées par la diplomatie aggressive de ses adversaires, ont décidé la dissociation de ses nationalités et amorcé la 'récomposition' de l'Europe centrale telle que la souhaitent l'Allemagne et la Turquie, c'est à dire les deux puissances sur lesquelles les Etats-Unis fondent leur stratégie sur le continent et au Moyen-Orient. Bien que la Wehrmacht y ait laissé de mauvais souvenirs, et que Bonn ne se soit pas engagé en terre yougoslave, ses partenaires ont à la fois fourni des hommes et des crédits pour atténuer autant que possible les rigueurs de la guerre et suivi l'Allemagne dans sa politique. Elle a fait ainsi une entrée fracassante, si l'on peut dire, sur le théâtre centre-européen; et chacun l'a applaudie. " 47 Hier sind in erster Linie wohl Historiographie und Literaturwissenschaft zu nennen.
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man als dieses oder jenes ist, indem man z.B. Subjekt eines einigen und unteilbaren Nationalstaats ist - oder eines alten Reichs, das nicht vergehen will. Der konstitutionelle Satz der alten, französischen Reichsfeindschaft, die sich in der nationalen Souveränität nur fortschreibt, lautet ganz einfach, in der Fassung von 1791: "Le Royaume est un et indivisible", in den Fassungen von 1793, 1795, 1799, 1848, 1946 und 1958: "La République française est une et indivisible." 48 Daß "Frankreich" einig und unteilbar, eine einige Nation und eben kein föderales oder gar imperiales Aggregat von Nationalitäten ist, ist beileibe keine neutrale Feststellung, es ist vielmehr ein Befehl und lange schon - Korsen, Basken und Bretonen wissen es - Polemik oder Feindschaft gegen das, was teilen und uneinig machen könnte: Regionen, Partikularismen, Sonderregelungen, Ausnahmen, Minderheitenrechte, kurz: das, was es im alten Reich, im Verbund mit einem überkommenen Privilegienrecht, einmal gab und was nun innerhalb einer europäischen Föderation oder Konföderation als die schiere Auslöschung der Nation und ihrer majoritären Homogenität wiederzukehren droht. Die homogene, absolutistisch-zentralistische und souverän, das heißt vor allem auch: gegen Minderheiten durchgesetzte Einheit und Unteilbarkeit der Nation nach innen 49 speist sich aus einer abschottenden Feindschaft nach außen, die das Volk oder die Nation als Einheit permanent, gegen eine äußere Bedrohung, mobilisiert und konstituiert: juristisch, linguistisch, administrativ, schulisch, territorial, militärisch. Einheit und Unteilbarkeit sind dabei die Prädikate jener absoluten, territorialstaatlichen Souveränität, die dem alten Reich mit der Übertragung der imperialen Gewalten ins und aufs "royaume" selbst abgetrotzt worden waren. Frankreichs Einheit und Unteilbarkeit trägt diesen heiligen Krieg gegen das Reich in seinen und durch seine Institutionen immer weiter. 50 Und in der "question allemande" kehrt er exemplarisch immer wieder. Sie ist sicherlich auch Antwort auf all jene Unsicherheiten, Ungeklärtheiten und Ambivalenzen, die die deutsche Nation in der Tat historisch auszeichnen. Zugleich ist sie aber auch das Verkennen jener Feindschaft, aus der die Nation in ihrer Souveränität sich konstituiert - das Gespenst ihrer selbst.
48 Daß es die demokratischen und nicht die royalistischen und imperialen Verfassungen sind, die diese Einigkeit und Unteilbarkeit explizit machen (müssen), ergibt sich aus dem Umstand, daß es das territorial-staatlich individualisierte (unsichtbare) Volk ist, dem die Eine Souveränität zukommt und nicht eine Person. Das Volk aber muß zusammengehalten werden, weil es nicht schon von selbst zusammenhält. 49 "Die westlichen Nationen haben alle ihre eigenen 'Minderheitenleichen' im Keller", konstatierte dazu Reinhart Koselleck so korrekt wie lapidar und erinnerte gleichzeitig daran, daß der rechtsstaatliche, am Individuum ausgerichtete Gleichheitsgrundsatz und ein an Gruppenrechten orientiertes Minderheitenrecht sich problematisch zueinander verhalten. Vgl. Reinhart Koselleck, "Die beiden Europa und die Unvermeidlichkeit von Politik - Gespräch mit Georg Kohler", in: Neue Zürcher Zeitung vom 6./7. November 1993, S. 66. 50 Die populärste Fassung dieses Anti-Reichs-Komplexes ist zweifelsohne das wohlbekannte kleine gallische Dorf, das eisern und zäh Widerstand gegen das römische Imperium leistet.
Walter Seitter
Vom heimlichen Pazifismus im Nibelungenlied
"Früher oder später, ich weiß nicht wo, wird es eine 'Renaissance' geben ..." (Georges
Dumézil)
1. Germanische Souveränitätsschwäche Ich knüpfe zunächst an das an, was ich im Anschluß an Georges Dumézil zur näheren Bestimmung des germanischen Denkens - im Vergleich zu anderen indogermanischen Denkfeldern - gesagt habe.1 Dumézil selber hebt dabei folgende Merkmale hervor: die skandinavische Religion hat einen wesentlich "unruhigen, tragischen, pessimistischen Charakter"; zweitens zeichnet sich das germanische Denkfeld durch das Überhandnehmen der zweiten, also der kriegerischen Funktion aus.2 Diese beiden Eigentümlichkeiten entsprechen einigermaßen dem seit dem 19. Jahrhundert geläufigen Germanenbild. François-Xavier Dillmann hat in seiner Zusammenfassung der Forschungen Dumézils die "kriegerische Verzerrung" der indogermanischen Trifunktionalitätbei den Germanen herausgestellt und, wie ich meine, zu sehr isoliert.3 Das Hauptmerkmal der germanischen Besonderheit ist nämlich die Beeinträchtigung und Schwächung der Souveränitätsfunktion. Und diese ist nicht einfach eine Folge der Ausweitung der Kriegsfunktion. Eher ist sie es, die zu einer solchen führen kann. Sie kann aber auch zu einer gerade entgegengesetzten "Störung" fuhren. Mit der Souveränitätsschwäche ist - aufgrund der hierarchischen Position der Souveränität - das Gesamtgefüge der drei Funktionen in Frage gestellt. Wenn daher skandinavische Bauern ihren König beseitigen und den Gott der dritten Funktion (Fruchtbarkeit) zu ihrem Herrn ausrufen, dann paßt auch so ein historischer Fall genau ins Schema des germanischen Sonderwegs.4 Die beiden Souveränitätsgötter, der Magier Odin und der Jurist Tyr, sind dermaßen von kriegerischen Angelegenheiten okkupiert, 1
Walter Seitter, "Historiker, Seher", in: Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 101-126.
18 (1993), S.
2
Georges Dumézil, Les dieux souverains des Indo-Européens, Paris 1977, S. 184. Als erste Funktion nennt Dumézil die Souveränität, die dritte ist die der Fruchtbarkeit.
3
François-Xavier Dillmann, "Die germanische Erblast", in: Tumult 18, S. 32-36.
4
Mitteilung von Otto Gschwantler.
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Walter Seitter
daß sie ihre Hauptaufgaben nicht mehr voll wahrnehmen können. Dabei kommt es noch zu einer groben Asymmetrie zwischen den beiden Souveränen: die Rechtsfunktion kommt noch mehr unter die Räder. "Die Götter der Polytheismen können zwar nicht fehlerlos sein; aber sie müssen doch, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen sollen, zumindest einer von ihnen muß das Gewissen des Menschen ansprechen - das jedenfalls bei den Indogermanen schon erwacht und reif war. Tyr aber kann das nicht. Die Germanen und ihre Vorfahren waren nicht schlimmer als die übrigen Indogermanen, die das Mittelmeer, den Iran oder den Indus bevölkerten. Aber mit ihrer Anpassung ans menschliche Maß haben sich ihre Theologie der Souveränität und vor allem ihr Rechtsgott der Aufgabe beraubt, gegen das, was üblich ist, zu protestieren - welche Aufgabe einer der großen Dienste der Religionen ist. Diese Senkung des souveränen 'Plafonds' hat die Welt, und zwar die gesamte Welt, dazu verdammt, nur das zu sein, was sie ist ..." 5 Indem sich die skandinavische Theologie dann auch noch zu ihrer Eschatologie genötigt sah, hat sie anscheinend doch davon "gewußt", was von einer derart beeinträchtigten Souveränität zu erwarten ist. Und was speziell die Souveränitätskonstruktion mit minimierter Rechtsfunktion betrifft, so scheint sie in dem Juristen Carl Schmitt ein spätes aber ziemlich präzises Echo gefunden zu haben: Unterschätzung der Rechtsfunktion, aber ausgeprägtes Wissen von einer anderen, von einer "dunkleren" Seite der Souveränität. Aufgrund dieser Lage habe ich Dumézils Forschungsergebnis in bezug auf das germanische Denkfeld nicht wie François-Xavier Dillmann als Übertreibung des Kriegerischen, sondern als Germanische Souveränitätsschwäche (GSS) bezeichnet. In diesem Zusammenhang habe ich auch einige literarische und politische Performanzen der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert erwähnt - womit ich natürlich über den Bereich der Forschungen Dumézils hinausgegangen bin. Aber eine ähnliche Assoziierung hat Dumézil selber 1939 vorgenommen (was ihm dann unhaltbare Vorwürfe von Seiten einiger Politisch-Korrekter eingetragen hat). 6 Meine Extrapolierung von Dumézils Forschungen zum neueren Deutschland hat allerdings stillschweigend - auch auf Untersuchungen beruht: nämlich auf meinen philosophisch-politikwissenschaftlichen Lektüren mittelalterlicher Heldendichtungen. 7
2. Zur Position des Nibelungenliedes Wie verhalten sich nun Dumézils Forschungsbereich und die mittelhochdeutsche sogenannte Heldendichtung zueinander? Es gibt bei Dumézil nur ganz wenige Bezugnahmen auf die Nibelungen-Dichtungen. In seiner Abhandlung über die
5
Georges Dumézil, Les dieux des Germains,
Paris 1959, S. 75.
6
Georges Dumézil, Mythes et dieux des Germains,
7
Walter Seitter, Das politische Wissen im Nibelungenlied. Vorlesungen, Berlin 1987; ders., Versprechen, versagen. Frauenmacht und Frauenästhetik in der Kriemhild-Diskussion des 13. Jahrhunderts, Berlin 1990; ders., Distante Siegfried-Paraphrasen: Jesus, Helmbrecht, Dietrich, Berlin 1993.
Paris 1993.
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trifunktionale Klassifizierung der Ehen geht er auf die verschiedenen Frauenverhältnisse von Sigurd (Siegfried) ein, wobei neben den isländischen Versionen die kontinentalen nur ganz kursorisch berührt werden. 8 Auf einer anderen Ebene liegt Dumézils politisch-journalistische Äußerung zum sogenannten Röhm-Putsch (1934), den er mit dem "düsteren, rachsüchtigen, plumpen Geist der Nibelungen" vergleicht. 9 Hingegen bescheinigt er den germanischen Heldendichtungen wie den Nibelungen ein anderes Mal, sie hätten sich - fast wie die Dichtungen Homers - aus dem starren Schema der indogermanischen Trifunktionalität gelöst und würden reiche und bewegliche Charaktere auf die Bühne stellen. 10 Mit seiner Parallelisierung zu Homer schließt Dumézil aber gerade nicht aus, daß es auch in jenen Dichtungen noch erkennbare Relikte und Fossilien des indogermanischen Denksystems gebe. In den skandinavischen Texten handelt es sich bei diesen Relikten um massive Einschlüsse, die zu den wichtigsten Zeugnissen des (indo)germanischen Denkens gehören. Hingegen ist das Nibelungenlied im frühen 13. Jahrhundert durchgängig im modernen christlich-höfisch-ritterlichen Geist der Zeit geschrieben worden - und transportiert doch in jeder Zeile und in jedem Wort alte Geschichten aus der Zeit der ersten Berührung der Germanen mit dem Christentum mit - zum Teil "dieselben" Geschichten wie die der skandinavischen Texte. Im übrigen sind die beiden geographisch weit auseinander liegenden Textzyklen ungefähr Zeitgenossen. Schon diese Verhältnisse erlauben die Frage, ob nicht doch die von Dumézil entwickelten Kategorien zur Rekonstruktion der indogermanischen Denksysteme auch geeignet sind, auf die hier genannten Dichtungen Lichter zu werfen. Diese Frage ist von dem Germanisten Ulrich Wyss bereits gestellt worden - und zwar auf eine Weise, die immerhin die Schwierigkeit und die Vertracktheit der Fragestellung offenlegt. 11 Von Jacob Grimm übernimmt Ulrich Wyss die Behauptung, das Nibelungenlied mit seiner Götterlosigkeit beruhe auf einer "Verdünnung des Mythos". 12 Deshalb gebe es für die "auch heute noch, etwa in den großartigen Analysen Georges Dumézils, aktuelle Frage nach der Gegenwart des Mythos im epischen Geschehen ... nichts her". 13 Merkwürdigerweise zieht Wyss aber dann doch die "Mythenanalyse von Georges Dumézil" heran, um festzustellen: "im Nibelungenlied hat sich die zweite Funktion selbständig gemacht. Die Potenzen des Krieges drängen sowohl die Souveränität (I. Funktion) als auch die Kräfte der Fruchtbarkeit, des Reichtums und der Lust (III. Funktion) zur Seite." 14 "Was die Personen antreibt, ist bald nur noch die Gier nach militärischer Stärke, die allen zivilen Umgang miteinander ruiniert. Man geht in voller Rüstung zu Tisch, weil man dem Rüstungswahn verfallen ist. Heute kennen wir dieses
8
Georges Dumézil, Mariages
indo-européens,
Paris 1979, S. 69-86.
9
Zit. nach Didier Eribon, "Dumézil et les mythes nazis", in: Le Monde des débats vom 12.10.1993.
10 Georges Dumézil, Mythe et Epopée I, Paris 1986, S. 634. 11 Ulrich Wyss, "Zum letzten Mal: Die Teutsche Illias", in: Klaus Zatloukal (Hrsg.), Pöchlarner Heldenliedgespräch. Das Nibelungenlied und der mittlere Donauraum, Wien 1990, S. 156-179. 12 Ebd., S. 164. 13 Ebd., S. 164 f. 14 Ebd., S. 173.
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Walter Seitter
Syndrom und nennen es 'Rüstungswahnsinn'." 15 Auch der deutsche Pazifist des späten 20. Jahrhunderts betätigt sich also assoziierend-extrapolierend. Da er sich aber tatsächlich von Dumezils Mythenanalyse inspirieren läßt, entgeht ihm nicht, daß das Schwinden der Souveränität bei den sogenannten Nibelungen ebenso entscheidend ist wie das Überhandnehmen des Kriegerischen. So vor allem bei den versagenden Königen Gunther und Siegfried. 16 Und ebenso die funktionale Schwäche der Religion bei ihnen. Wiederum auf den Militarismus fixiert, behauptet Wyss zu Unrecht, daß auch die dritte Funktion unter die Räder komme. Tatsächlich spielen bestimmte Erscheinungsformen der Fruchtbarkeit - eine gewisse Art von Liebe, eine gewisse Art von unerschöpflichem Reichtum - dominierende und verheerende Rollen. Ulrich Wyss setzt dem Nibelungenlied die Artus-Dichtung entgegen, die dem Rittertum christliche Sakralität verordnet, um es zu einer ordentlichen Lebensform zu führen. Von einer derartigen positiv-pädagogischen Souveränitätsstrategie ist das Nibelungenlied tatsächlich weit entfernt. Es insistiert eher auf der Ebene der Faktizität - zeigt aber auch rücksichtslos, wohin gewisse Fakten-Konstellationen führen. Als Text steht es natürlich selber der Souveränitätsfunktion nahe und auch im Text gibt es einige - wenn auch beschränkte und unzureichende - Souveränitätsansätze (so Hagens Wissenskompetenz). Die eigene Text-Souveränität des Nibelungenliedes besteht darin, daß es berichtet, was der Fall ist - ohne allzuviel zu klagen, ohne sehr zu moralisieren. Es mag sein, daß es damit doch zu wenig Souveränität - zu wenig Orientierung, Sinn, Verständlichkeit - erbringt. Aber damit erspart es sich und uns auch "zu viel" Souveränität: die bekannten Orientierungs-, Sinn- und Verständlichkeits-Illusionen: als müsse man nur möglichst viel Religion implantieren oder als müsse man einfach den Krieg vermeiden und abschaffen. Gegen derartige Souveränitäts-Illusionen, die immer mit einem unum necessarium oder mit einem summum malum operieren, setzt das Nibelungenlied eine struktural-plurale Präsentierung, die zumindest fundamental-numerisch der indogermanischen Multifiinktionalität entspricht.
3. Der einzige Krieg Die vierte Aventiure ist eine der längsten des Liedes und gleichzeitig eine der unverständlichsten, insofern sie zum Verlauf der Handlung nur wenig beizutragen scheint. An sich trägt sie gar nichts bei. Immerhin macht es Siegfrieds glänzender Sieg über die Dänen und Sachsen möglich, daß er - dann in der nächsten Aventiure Kriemhild zum ersten Mal erblicken darf. Das ist natürlich ein wichtiger Punkt. Aber wieso es dazu eines ausführlich erzählten Krieges bedarf, erscheint nicht sehr plausibel. Immerhin lebt Siegfried schon seit einiger Zeit als angesehener Gast am Wormser
15 Wyss, "Zum letzten Mal", S. 173. 16 Innerhalb der Germanistik werden diese Sachfragen des Politischen erst seit kurzem gebührend wahrgenommen; vgl. Roswitha Wisnieswski, "Das Versagen des Königs. Zur Interpretation des Nibelungenliedes", in: Festschrift für Ingeborg Schröder, Tübingen 1973; Carola Gottzmann, Heldendichtungen des 13. Jahrhunderts. Siegfried, Dietrich, Ortnit, Frankfurt/Main u.a. 1987.
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Königshof. Und daß er in dieser Zeit das Mädchen Kriemhild weder sehen noch sprechen konnte, entspricht kaum den höfischen Gewohnheiten. Aber so ist es und da gibt es auch einige Vorgeschichten: Kriemhilds seinerzeitige frühkindliche Rückzugsentscheidung und Siegfrieds ziemlich verunglückten Werbeauftritt in Worms. Warum aber muß ein ganzer Krieg erzählt werden, damit der Sieger-Gast die Tochter des Hauses sehen und sprechen darf? Erstens gibt die ungewohnte Kriegs-Situation ziemlich wichtige und wenig schmeichelhafte Einblicke in die Regierungswirklichkeit von Worms. Nachdem Gunther schon bei Siegfrieds frechem Erstauftritt in Worms keine gute Figur gemacht hatte, zeigt er sich nun sozusagen ganz unverblümt als schwacher König. Die von den fremden Boten ordnungsgemäß vorgetragene Kriegserklärung versetzt ihn in einen Zustand völliger Niedergeschlagenheit: er hat bereits kapituliert und zwar nicht nur militärisch, sondern auch politisch. Zum Verhältnis zwischen erster und zweiter Funktion ist hier zu bemerken, daß im Nibelungenlied alle Könige im Basisberuf Krieger sind. Es gibt also partielle Personalunion zwischen erster und zweiter Funktion. Im Moment der eben einlangenden Kriegserklärung sind natürlich beide Funktionen gefragt. Es müssen die militärischen Chancen realistisch eingeschätzt werden und es müssen auch die anderen - diplomatischen oder kultischen Möglichkeiten überlegt werden. Gernot plädiert für militärische Gegenwehr. Hagen - der angeblich Kriegswütige - sieht das anders. Gunther hingegen ist schlicht und einfach niedergeschlagen. In dieser blockierten Beratungslage ist es Hagen, der einen Ausweg weist. Er rät Gunther, Siegfried miteinzubeziehen. Der überschäumende Siegfried kann alle davon überzeugen, daß er das Problem militärisch lösen kann. So hat Hagen - entgegen seiner ursprünglichen Einschätzung - eine Möglichkeit angebahnt. Siegfried leitet die Vorbereitungen zum Feldzug und besiegelt Gunthers Kapitulation, indem er ihn ausdrücklich "bei den Damen" daheim läßt. Während Siegfried eine ausgesprochen kleine Streitmacht zusammenstellt, führt die Nachricht von der Anwesenheit Siegfrieds in Worms bei den Dänen und Sachsen zur Aufstellung einer vierzigfachen Übermacht. Siegfried trägt den Krieg ins Land der Sachsen. Dort zuerst ein Zweikampf mit dem König der Dänen, der an seinem goldenen Schild zu erkennen ist. Verwundung und Gefangennahme des Dänenkönigs. Dann die Schlacht zwischen den beiden Heeren. Auf Seiten der Burgunden werden sechzig erschlagen, auf Seiten der anderen unzählige. Als der Sachsenkönig auf Siegfried trifft und ihn an seinem Schild erkennt, gibt er auf, bittet um Waffenstillstand, der ihm gewährt wird. Diese Schlacht, die laut Erzählung höchstens ein paar Stunden gedauert hat, ist die einzige Szene, in der die Schilde in ihrer Funktion ihren Auftritt haben: als kriegerische Zeigzeuge. Und das im Nibelungenlied, in dem anscheinend alle Hauptpersonen Könige und Krieger oder nur Krieger sind. Die extreme Rarefaktion der Heraldik verweist auf noch Erstaunlicheres: dieser kurze Krieg ist der einzige in der ca. fünfzigjährigen Story des Nibelungenliedes, die bekanntlich ausschließlich an und zwischen Krieger-Königs-Höfen spielt. All das setzt das Nibelungenlied weit ab von den anderen sogenannten Heldendichtungen. Und vor allem: dieser Krieg ist bei weitem nicht das Schlimmste, auch nicht das Mörderischste, was im Lied passiert. Die vierte Aventiure zeigt nicht nur, daß Gunther sowohl als König wie als Krieger recht schwach ist. Sie führt vor allem in die zutiefst unkriegerische und womöglich absolut häusliche
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(ökische) Welt des Nibelungenliedes den Krieg ein: einfach nur als Exempel, als Kontrastmittel. Die Welt des Nibelungenliedes aber ist im Vergleich zur übrigen Heldendichtung, wohl auch zur übrigen Welt des 5. oder 13. Jahrhunderts eine Sonderwelt, fast eine pazifische Enklave. Pazifistische Utopie, Heterotopie?
4. Siegfrieds Neigung zum Krieg Am Wormser Hof hat Siegfried, der Gast den Ausschlag dafür gegeben, daß man die Herausforderung zum Krieg angenommen und ziemlich erfolgreich bewältigt hat. In der Welt der Krieger-Könige, in der das Nibelungenlied angesiedelt ist, kann die absolute Kriegsvermeidung und Kriegsverweigerung nicht von vornherein gang und gäbe sein. Also gibt es auch einige Personen, die aufs Kriegführen eingestellt sind. Zu ihnen gehört in Worms wohl der schon ältere Hagen, der aber gerade in seiner Rolle als Ersatzkönig und Wahrer der Staatsräson nicht zu Leichtfertigkeit neigt. Etwas anders der junge Siegfried, der anscheinend schon als Knabe zu erfolgreichen militärischen Abenteuern ausgezogen ist, wie öfter erwähnt wird (Strophen 21, 229). Näher geschildert aber werden uns (und zwar von Hagen) zwei Jugendabenteuer Siegfrieds, von denen eines - der Drachenkampf - von vornherein keinen politischen Charakter hat, wohl aber einen wundersamen körpertechnischen Effekt. Das andere ist die Gewinnung des nibelungischen Königreiches - mit bemerkenswerten familiärökonomischen Vorzeichen. Nach seinem Ritterschlag weigert sich Siegfried in Xanten, dem allgemeinen Wunsch nachzugeben und von seinem Vater die Königswürde zu übernehmen. Wohl aber ist er bereit, sozusagen Armeekommandant zu werden. Vielleicht einer der hellsten Augenblicke in seinem Leben, da er erkennt, wo seine Begabung liegt und wo seine Schwäche. Den Entschluß, um die Wormser Königstochter Kriemhild freien zu wollen, setzt er gegen seine Eltern durch - die darin merkwürdigerweise ein militärisches Problem sehen. Wohl deshalb, weil der übliche diplomatische Weg gar nicht in Betracht gezogen wird. Tatsächlich tritt Siegfried in Worms so auf, daß er seinen Kriemhild-Wunsch überhaupt nicht äußert und stattdessen den Wormser Königen mit Berufung auf seine kriegerische Körperkraft ihr Königtum streitig macht. Hier werden in der Tat - oder vielmehr im Wort - die erste und die dritte Funktion von der zweiten über den Haufen geworfen. Zunächst gelingt es den Wormsern, die Unordnungsenergie namens Siegfried stillzustellen. Bald darauf können sie sie in eine halbwegs sinnvolle militärische Aktion kanalisieren. Dann aber wird die Souveränitätsschwäche auch die Ordnung und die Kunst des Krieges zerstören.
5. Die gefälschten Brautkämpfe Die regierende Königin Brunhild hat vor bzw. gegen ihre Verehelichung ein normalerweise unüberwindliches Abwehrsystem von sportlich-körperlichen Heraus-
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forderungen gestellt. Ausgerechnet diese Frau hat sich Gunther in den Kopf gesetzt. Siegfried rät davon ab, weil er Näheres weiß. Eben deswegen rät Hagen, Siegfried miteinzubeziehen. Die Sache geht nur mit Siegfried, d.h. mit Hinterlist. Gunther muß sich jetzt noch direkter von Siegfried vertreten lassen - aber geheim. Siegfried muß seinen Namen, sein Königtum, seine Sichtbarkeit suspendieren. Er übernimmt die Tarnkappe, die den Oberzwergen, den Bergarbeitergewerkschaftler (3. Funktion) richtig kleiden mag. Damit baut er nicht nur irgendwelche Überbauten erhabener oder idealer Art ab. Er legt die Axt an die Wurzel der Souveränität. Die Souveränität besteht ja nicht nur aus Göttern oder aus dem, was das 19. Jahrhundert "Mythos" nannte. Die Souveränität hat ihre eigene Infrastruktur: Erscheinung, Gestalt, Gesicht, Stimme, Sinnestätigkeit. Auch das suspendiert Siegfried: mit der Spezialtechnik der Immaterialisierung und mit Lüge. So sich selber zunichte machend, besorgt Siegfried für den ohnehin nichtigen Gunther dessen Brautkämpfe. Eines der Ergebnisse ist, daß Brunhild ihr Königtum verliert und die Welt ein Königreich. Diese Vorgänge zeigen ebenso wie die folgenden, daß es Aggression, Überwältigung, Vernichtung auch ohne Krieg gibt.
6. Der vorgetäuschte Krieg Die Betrachtung des Schlußaktes des ersten Teils des Nibelungenliedes zeigt, wie sorgfältig konstruiert der Text ist. Wie wenig die ausführliche Kriegsschilderung des Anfangs eine bloße Zutat, etwa ein Zugeständnis ans schlachtenhungrige Publikum war. Hagen steckt einige Leute in sächsische Botenkleider und läßt sie eine neuerliche Kriegserklärung vortragen. Wieder ist Gunther total niedergeschlagen und wieder ist Siegfried zu vollem Einsatz bereit. Und Kriemhild vertraut Siegfrieds Körpergeheimnis Hagen an: dem einzigen, dem sie vertraut. Da verkünden plötzlich zwei neue falsche fremde Boten, daß der sächsische König den Krieg doch nicht wolle. Der Wormser Pazifismus setzt sich also durch - behält aber fallweise die "Anlehnung" an den Krieg bei. Die in den simulierten Kriegszug investierte Energie wird in einen großen Jagdausflug umgeleitet, dessen Zweck allein die hinterhältige Ermordung Siegfrieds ist. Siegfried war inzwischen tatsächlich, wie Hagen meint, zu einer Bedrohung des Wormser Königtums geworden: mit seinem bisherigen Verhalten und natürlich mit kräftiger Anstiftung und Mitwirkung der Wormser selber. Sein erster übermütigtölpischer Auftritt in Worms - auch eine Art Kriegserklärung - hatte das alles eingeleitet.
7. Die große Hausschlachtung Der zweite Teil des Nibelungenliedes erzählt strikt genommen nur von zwei Ereignissen: von der Eheschließung zwischen Kriemhild und Etzel und vom Besuch der Wormser Verwandten bei Kriemhild. Dieser Besuch hat ausstattungsmäßig den Charakter eines Kriegszuges. Allerdings aus gutem Grund. In Gran gehen die Burgunden nicht aus
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"Rüstungswahn" gerüstet zu Tisch, sondern weil Hagen weiß, was Kriemhild will. Von Anfang an steht auf dem inoffiziellen Programm: Mord in der Eingeschlossenheit und im Hinterhalt des Hauses. Das Gegenteil von: Schlacht auf dem Felde. Bemerkenswert die Versuche etwa von Iring dem Dänen, durch Veränderung des Kampfplatzes aus der Schlachtung doch noch eine Schlacht zu machen. Aber vergebens. Die vorprogrammierte Kriegsvermeidung wird bis zum Ende durchgehalten - auch wenn das Ende dann die Form von Hinrichtungen annimmt. Auch die Hinrichtung ist eine innerhäusliche Tötungsform. Im Falle des Nibelungenliedes ist dem unkriegerischen aber doch auch wieder kriegsähnlichen Geschehen nicht mit irgendwelchen Reformmaßnahmen aus dem Bereich des Krieges - Kriegsrecht, Kriegskunst, Kriegskultur - aufzuhelfen. Selbst die Kriegstaktik der Flucht ist unmöglich. Die Einsperrung ins Haus macht das Geschehen letzten Endes unkriegerisch und konzentrationslagerähnlich.
8. Von einem Pazifismus zum anderen Der Pazifismus der sogenannten Nibelungen ist ein sonderbares Phänomen, das man ihnen kaum zutraut, weil sie doch von Berufs wegen alle Krieger sind. Und im Nibelungenlied ist das Geschehen auch nicht besonders unblutig. Deswegen sieht ja Ulrich Wyss gerade in diesem Lied ein Übermaß an militärischem Aufwand und Aktionismus. Ich spreche darum von einem heimlichen oder paradoxen Pazifismus denn er spielt sich in einer Welt ab, die durchaus von Kriegern dominiert wird. Es ist die Welt, in die uns das Nibelungenlied mit seinen ersten Zeilen führt, nämlich die Umwelt um das zarte Mädchen Kriemhild. Oder auch die uns von den Historikern her bekannte Welt des 5. bis 13. Jahrhunderts. In den anderen mittelhochdeutschen Heldendichtungen tritt der Krieg - zum Teil auf denselben Schauplätzen und mit denselben Akteuren - wirklicher, stärker, prunkvoller hervor. Obwohl es auch da viel Schillern und manche Unklarheit gibt: Schillern zwischen Krieg und Kriegsspiel; Unklarheit zwischen Familienfehde und Außenkrieg; Unsicherheit über den politischen "Sinn" von Kriegen. Das Nibelungenlied, in dem sich die Kriegs-Angst der kleinen Kriemhild mehr und mehr gegen den üblichen Rahmen des Kriegerischen durchsetzt, präsentiert eine Extrem-Position in dem großen Epen-Zyklus der Kriegsformen und -positionen. Innerhalb dieses großen diskursiven Kontextes kann die sonderbare Position des Nibelungenliedes wohl leichter erblickt werden, als wenn man von unserem 20. Jahrhundert aus sein Fernrohr nur auf das ferne Kunstwerk richtet. In unserer Zeit ist nämlich die paradoxe Konstruktion des Nibelungenliedes längst realisiert, überboten und universalisiert. Unter dem Schutz des Zweiten Weltkriegs aber in zivil-industriellen Verfahren - haben die Nationalsozialisten ihre Menschenvernichtung durchgeführt. Auch ohne Weltkriegsschutz haben andere Regime ihre Regime-Parteien massenhaft gesäubert oder ihre Bauern massenhaft sterben lassen. Eben diese zivilen Vorgänge haben dann die Ächtung des Krieges befördert, die in der Nachkriegszeit zwei ganz unterschiedliche - sowohl verfeindete als auch kollaborierende
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- Pazifismen ausgebildet hat: den strukturellen Pazifismus der Abschreckung (durch militärische Hochrüstung) und den bekannten Meinungs-Pazifismus. 17 So wurde ein großer kriegsfreier Raum geschaffen, der einerseits real existiert hat, als Glaube an die Abschaffung des Krieges aber doch eine Illusion ist. Das Illusionäre dieses Glaubens erweist sich darin, daß keineswegs alles, was sich in kriegsfreien Verfahren abspielt, den Namen "Frieden" verdient. Und zweitens darin, daß der kriegsfreie Raum räumlich und zeitlich begrenzt ist und daß diese Grenzen spürbar werden. Ganz aktuelle Erfahrungen sprechen dafür, daß die Politische Anthropologie gut daran täte, die von Dumézil rekonstruierte Trifunktionalität philosophisch ernst zu nehmen und dem Krieg theoretisch-analytisch seinen Platz zuzuweisen. Nicht unbedingt aus Liebe zum Krieg, sondern eher im Gegenteil. Die Politische Anthropologie muß es oder kann es sich dabei nicht so einfach machen, daß sie bloß das Schema von Dumézil übernimmt. So wie in der mittelhochdeutschen Heldendichtung stellt sich bei Dumézil das Problem in Dutzenden oder Hunderten von Erzählungen, Erzählungs-Variationen und Transformationen dar. Diese narrative Wissensmasse ist vielleicht von Piaton bereits in philosophische Systematik übersetzt worden. 18 Es gibt gewiß auch andere Übersetzungsmöglichkeiten. Ich weise noch darauf hin, daß Michel Foucault im Laufe seines Forschens und Denkens auch zu Fragestellungen und Formulierungen gekommen ist, die sich auf die hier angeschnittene Problematik direkt beziehen lassen. 19 Und zuletzt verweise ich auf die frühen Schriften von Helmuth Plessner, die - mit und trotz ihrer Zusammenarbeit mit Carl Schmitt - einen Ausweg aus einer monolithischen Anthropologie weisen. 20 Einen Weg zu einer polylithischen, zu einer architekturalen Anthropologie. 21
17 Siehe Walter Seitter, "Von einem Pazifismus zum anderen. Soldat, Partisan, Angestellter, Geisel", in: Zweite Etappe (1988), S. 71-78. 18 Siehe Bernard Sergent, "Das griechische Paradox", in: Tumult 18, S. 31. 19 Siehe Walter Seitter, "Ist das Politische am Ende? Zum gegenwärtigen Schicksal der indoeuropäischen Trifunktionalität (Dumézil - Foucault)", in: Bilder-Fotonachrichten 48 (1989). 20 Siehe Walter Seitter, Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft, München 1985 S. 232 ff.; ders., Rezension Rüdiger Kramme: Helmuth Plessner und Carl Schmitt (Berlin 1989), in: Fünfte Etappe (1990), S. 129-131. 21 Siehe Walter Seitter, "Zur Architektur (Monoarchitektur, Anarchitektur, Pararchitektur)", in: Marc Mer (Hrsg.), Translokation. Der ver-rückte Ort. Kunst zwischen Architektur, Wien 1994, S. 301-315.
Cornelia Vismann
Terra nullius Zum Feindbegriff im Völkerrecht
Terra nullius, das Land, das nach der Bestimmung des römischen Bodenrechts niemandem gehört, das herrenlos und noch unbearbeitet ist, läßt sich als Leere, Abwesenheit, Wüste oder weißer Fleck verstehen und in eine Aufforderung übersetzen: expandieren, entdecken, erobern, das Abwesende anwesend zu machen, von diesem Land Besitz zu ergreifen, es zu beherrschen und zu bearbeiten. Sojedenfalls hört es das Völkerrecht, das all die Gebiete, auf die sich der Wille zur Okkupation richtet, zur terra nullius erklärt, zu einem Gebiet, das rechtlich wirksam vereinnahmt werden kann, da es niemandem gehört. Terra nullius ist demnach allein durch das gekennzeichnet, was es nicht ist. In dem leeren Land liegt ein Versprechen wie ein unausgeschöpftes Reservoir - Rohstoffe, wirtschaftliche und räumliche Potentiale locken. Und nullus - dieser Shifter durch die Epochen der Entdeckungen, Eroberungen und Kriege - hat noch jedes "-los" angenommen, das man ihm aufgebürdet hat: herrenlos, glaubenslos, rechtlos, staatenlos. Der fehlende christliche Glaube zunächst, dann die fehlende Zivilisierung der Eingeborenen, ihre mangelnde Rechtsfähigkeit und später die nicht vorhandene Staatlichkeit dieser Gebiete, ihr Nichtbewohntsein, ihre Menschenleere, schließlich die vollkommene Entterritorialisierung, die Verwüstung aufgrund von Kriegen. Okkupation, so ließe sich nach dieser ersten Ubersicht sagen, beginnt mit der Durchstreichung, dem Ignorieren dessen, was ist. Hingegen haben die Positivierungen, die Personalisierungen des Niemand - Heiden, Barbaren, Muslime, Wilde, Fremde, Nomaden et cetera - völkerrechtlich zu keiner Zeit eine Rolle gespielt. Denn in den Erörterungen um die rechtliche Wirksamkeit von Okkupationen geht es nicht um das Andere, welches aus solchen Substantialisierungen gewonnen wird. Für das Völkerrecht, das sich ungefähr seit dem 16./17. Jahrhundert mit Fragen des Gebietserwerbs beschäftigt, kommt es auf die Einwohner nicht an. Als Nichts und Niemand, null und nichtig, werden sie vom Völkerrecht behandelt. Sie kommen darin nicht vor. Nicht einmal als "Feinde". Wenn es um die Unterscheidung von Freund und Feind, genauer um die Frage nach dem historischen Ort dieser Unterscheidung geht, dann nimmt das Völkerrecht eine zentrale Stellung ein. Das Völkerrecht ist gekennzeichnet von Teilungen, Trennungen und Grenzziehungen, die auf einer als freie Fläche, einer als terra nullius gedachten Welt vorgenommen werden. Von der päpstlichen Demarkation bis hin zu territorialen Staatsgrenzen sind es "Linien", die politische Verhältnisse strukturieren und die so eine völkerrechtliche, das heißt nicht personale Vorstellung von Freund und Feind
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Cornelia Vismann
hervorbringen. Es sind genauer noch die diskursiven Wirkungen einer Darstellung der Geschichte des Völkerrechts als einer Geschichte aus Linien, die Freund und Feind feststellen. Grenzarten sind Feindbestimmungen. Dabei gehen dem imperialen Gestus des Linien-ziehens, dem Souveränitätsakt schlechthin, stets Annullierungen voraus. Denn um welthistorische Linien zu ziehen, muß die Welt als blank space daliegen, als aufzuteilendes Land und beschriftbares Terrain. In der nachfolgenden Skizze soll das Ideologem der Grenzziehung, das in den Völkerrechtstheorien der 20er und 30er Jahre dieses Jahrhunderts als Denken des Feindes wirksam geworden ist, untersucht werden, indem anhand von drei zum Modellfall vereinfachten völkerrechtlichen Linien der Mechanismus von Annullierung, Grenzziehung und Feindbestimmung freigelegt werden soll.
1. Monopol und Expansion: Demarkationslinien Vom Rom des 15. Jahrhunderts aus betrachtet, sind Geltungsbereich der Gesetze und Herrschaftsbereich koextensiv. Als Seefahrer davon künden, daß die Gesetze nicht überall eingehalten und der christliche Glaube nicht überall praktiziert werde, ändert sich an dieser juridischen Ubiquitätsvorstellung zunächst nichts. Terra nullius, das herrenlose Land, kommt im dominium der päpstlichen Welt nicht vor. Sie kennt allenfalls terrae incognitae. Die Welt der oikumene hat die Struktur eines Monopols - eines Rechts- wie Glaubensmonopoles, welches in bestimmten, noch nicht erschlossenen Erdteilen virtuell bereits gilt und nur noch aktualisiert zu werden braucht. Kolonialisierung und Missionierung lauten die Aufträge in den Gebieten der unbekannten Welt. Weil seit Papst Gregor VII. die Gebiete ex ante bereits der Hoheit der römischen Kirche unterliegen, kann er sie als weltliches Lehen austeilen, noch bevor sie entdeckt oder tatsächlich beherrscht werden. In einem Edikt Nicolaus V. von 1454 werden dementsprechend auch künftige Gebietserwerbungen unter den Lehensschutz der Kirche gestellt.1 Die päpstliche Investitur hat darum potentiell alle Erdteile zum Gegenstand. Diese Monopolstellung wird auch durch die beiden iberischen Expansionsmächte Spanien und Portugal nicht angefochten. Sie erhalten aufgrund der ersten großen Linie, die nach der Geschichtsschreibung des Völkerrechts eine Rolle spielt, das Entdeckermonopol auf je eine Hemisphäre.2 "Die Welt wurde in zwei Hälften, in zwei Monopolsphären geteilt. Östlich der Linie sollte Portugal, westlich Spanien exklusive Rechte auf Handel, Schiffahrt und Gebietserwerb haben." 3 Vertragliche Bestätigung findet diese 1
Vgl. Ernst Staedler, "Zur Vorgeschichte der Raya von 1493", in: Zeitschrift für Völkerrecht 25. Jg. (1941), S. 57-72, S. 64 f.
2
Sie weist ohne ausdrückliche Bezugnahme eine Parallele zu der Teilung des römischen Reiches in westliche und östliche Verwaltungssphären auf. Nach der Vereinbarung von Brundisium 40 a.C. verlief der teilende Meridian von Skodra nach Illyrien (Nähe heutiges Konstantinopel); s. Staedler, "Zur Vorgeschichte der Raya", S. 69.
3
Jörg Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht. Die Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984, S. 53.
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päpstliche Demarkationslinie, wenngleich in westlicher Richtung ein wenig verschoben, in der spanisch-portugiesischen Vereinbarung von Tordesillas (1494). Das "System der Monopole" wird durch die Aufteilung der Expansionsräume in zwei Sphären beibehalten. Beide Monopole interferieren nicht, denn die Demarkationslinie schafft "exklusive Aktionsräume". 4 Sie sind zwar in ihrem Ausgangspunkt, besser gesagt ihrer Ausgangslinie, nicht aber in ihrer Ausdehnung definiert. Expansion bestimmt sich allein von der Demarkation her. Dies wird noch deutlicher in den Vorläufervereinbarungen von Tordesillas, in denen die Monopole in ihrer expandierenden Richtung noch vager durch "diesseits und jenseits" 5 eines Gebiets definiert werden. Mehr als Geste der Macht denn als geographisch exakte Grenze werden diese monopolisierenden, auf reale Verhältnisse vorgreifenden Linien gezogen. Die Definitionsgewalt von Rom geht von Linien auf dem Papier aus. Auf diese Weise wird auch die ein Jahr vor Tordesillas geltende Demarkation für das "Inter caetera Edikt" von 1493 festgelegt: "Pope Alexander VI. then sat down before his mappamundi and arbitrarily, in the blank space to the left of the oikumene drew a new meridian that he proclaimed to be a 'one hundred leguas west of the Azores'. All the vast terra incognita to the west of this purely abstract demarcation line he awarded to the Spanish. Everything East must go to Portugal." 6 Diese Szene mag als eine Art Gründungsszene des Denkens in binären Polen gelten. Noch ist die Aufteilung allerdings höchst abstrakt. Da Längengrade geographisch exakt erst mit der Möglichkeit meridionaler Vermessung bestimmt werden können, bleibt die Beschreibung der Demarkationslinie noch vage, wonach der Grenzmeridian von Cap Verde oder Azoren aus nicht weiterer Entfernung als 100 leguas (in der Tordesillas-Vereinbarung werden daraus 370 leguas) gemessen werden soll.7 Daß diese wenig genaue und kaum lokalisierbare Linie dennoch als Grundlage für ein päpstliches Edikt ausreicht, bestätigt ihren vornehmlich rechtlichen Charakter. Die näheren, auch geographischen Bestimmungen überläßt der Papst den Entdeckermächten selbst. In Verträgen zu den Bullen werden zwischen Spanien und Portugal die Grundlagen der Entdeckungsfahrten ausgehandelt, nachdem ihre konkurrierenden Ausgangspositionen
4
Fisch, Die europäische
Expansion,
S. 49.
5
Wie beispielsweise im Gebiet von Guinea, geregelt im Friedensvertrag von Alcäcovas (1479) und den Bullen von 1455 und 1456, dazu genauer Fisch, Die europäische Expansion, S. 51 f.
6
Samuel Y. Edgerton jr., "From Mental Matrix to Mappamundi to Christian Empire: The Heritage of Ptolemaic Cartography in the Renaissance", in: David Woodward (Hrsg.), Art and Cartography, Chicago - London 1987, S. 10-50, S. 46. Ganz so zufällig, wie es nach dieser Beschreibung den Anschein hat, ist die Linie allerdings nicht. Die bis dato geübte Praxis der Aufteilung nach Breitengraden wird hier erstmals durch die für Spanien wesentlich günstigere nach Längengraden ersetzt. Also von Pol zu Pol (meridional) statt in Parallele zum Äquator. Columbus könnte die Idee zu dieser longitudinalen Aufteilung der Entdeckerhemisphären, die er Papst Alexander vorschlug, beim Anblick der ersten Seekarte mit einem Gradnetz (von Toscanelli) gekommen sein; vgl. Adolf Rein, Die europäische Ausbreitung über die Erde, Potsdam 1931, S. 89.
7
Vgl. Staedler, "Zur Vorgeschichte der Raya", S. 69.
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für die Vertragsverhandlungen in diesen Edikten rechtlich fixiert worden sind.8 So könnte es ein geschickter Zug von Columbus gewesen sein, die "Routinegeschäfte der Kurie" auszunutzen9 - die nicht zuletzt im Ziehen solcher Linien bestand, in der Aufteilung der Welt auf dem Papier - , um sich auf diese Weise einen Vorsprung in den Verhandlungen mit Portugal zu verschaffen, zumal seine erste Fahrt bekanntlich zu einiger Verstimmung zwischen den beiden Mächten geführt hatte. Die päpstlichen Bullen haben demnach vor allem die Funktion, solche Vertragsverhandlungen zu autorisieren, eher noch zu Konkurrenzverhältnissen zu ermächtigen. Die Demarkation definiert Spanien und Portugal zu Konkurrenten (nicht Feinden) in dem päpstlich-iberischen Gemeinschaftsunternehmen "Expansion".
2. Polarisierung und Exklusion: Lignes des Amitiés et des Alliances Geographische Ungenauigkeiten werden erst von den Mächten moniert, die nicht von päpstlicher Seite zu Unterwerfungen, zu Konvertierungen Rom-ferner Länder autorisiert sind. England und Frankreich stellen als die jüngeren Expansionsmächte die Herrschaft und umfassende Verfügungsgewalt Roms über die terrae incognitae in Frage, um ihre Handelsinteressen in diesen Gebieten durchzusetzen. Sie gehen von einer anderen Weltaufteilung aus, die keine oikomene, sondern ein dichotomisches Gebilde aus Europa und Übersee ist. Das Verhältnis von de jure und de facto Herrschaft kehrt sich damit um. Statt des rein juridischen Herrschaftsprinzips der Kurie, der rechtlichen Fiktion universaler Herrschaft, führen England und Frankreich das Faktum der Beherrschung ins Feld, um ihre Ansprüche auf neu erschlossene Gebiete zu begründen. Die technischen Möglichkeiten, weite Entfernungen auf dem Seeweg zu überbrücken, überholen die Kompetenz des Rechts, diese Entfernungen virtuell, im Vorgriff, und das heißt auf einer Landkarte zu vereinnahmen. Auf die päpstliche Autorisierung zur Eroberung folgt nicht mehr die tatsächliche, sondern umgekehrt: die Eroberung steht am Anfang und erst nachfolgend werden die dadurch geschaffenen Verhältnisse rechtlich bestätigt. Dort also, wo die plenitudo potestatis des Papstes Risse bekommt, entstehen terrae nullius, die entdeckt, erobert, von denen schließlich Besitz ergriffen werden kann. Mit der Vorstellung der Existenz von Gebieten, in welche die päpstliche Herrschaft nicht hineinreicht, hängt eine andere Art der Linie zusammen: die "Lignes des Amitiés et des Alliances", Freundschafts- und Bündnislinien, wie sie in einem Edikt Richelieus von 1634 erstmals10 namentlich erwähnt sind.11 Sie sind, so ließe sich sagen, die 8
So vor allem die These Ernst Staedlers, "Die westindische Raya von 1493 und ihr völkerrechtliches Schicksal", in: Zeitschrift für Völkerrecht 22. Jg. (1938), S. 165-193, S. 168.
9
Fisch, Die europäische
Expansion,
S. 53.
10 Im oftmals als Modellfall der lignes des amitiés angesehenen Friedensvertrag von Cateau-Cambrésis von 1559 wird angeblich mündlich eine Freundschaftslinie vereinbart, die westlich des ersten Meridians und südlich des Wendekreis des Krebses liegen sollte; vgl. Wilhelm G. Grewe, Epochen der
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diplomatische Antwort der neuen europäischen Expansionsmächte Frankreich und England auf das Prinzip der Demarkation nach Schwächung der päpstlichen Autorität. 12 Ihr Zweck kann darin gesehen werden, Gebiete jenseits der Lignes des Amitiés et des Alliances den jeweils vertragsschließenden Mächten zumindest für die friedliche Handelsschiffahrt zugänglich zu machen. Wenn es in diesen Gebieten trotz des vertraglich vereinbarten Friedens zu bewaffneten Zusammenstößen kommt, dann soll, das besagt das Rechtsinstitut der Freundschafts- und Bündnislinien, dies auf den Frieden der Vertragsparteien innerhalb Europas keinen Einfluß haben. "No peace beyond the line", so brachte Sir Francis Drake diesen Grundsatz im Zusammenhang mit einem 1604 zwischen England und Spanien-Portugal geschlossenen Friedensvertrag auf eine einprägsame Formel. Weil in diesem Vertrag die Divergenz zwischen dem Interesse Englands am Indienhandel und den spanischen Monopolansprüchen nicht geklärt wurde, trat die Formel "no peace beyond the line" an die Stelle einer Einigung dieses Interessenkonflikts. Sie markiert eine Leerstelle, die durch Aussparung eines an sich regelungsbedürftigen Konfliktfalles entstanden ist. Die mangelnde Einigung über die rechtlichen Konsequenzen des Handeltreibens Englands in spanisch-portugiesischen Gebieten ist in der Formel "No peace beyond the line" supplementiert. Die für die überseeischen Gebiete geltende iberische Polizeigewalt kann in diesem Fall gegen den Vertragsbrüchigen Bündnispartner eingesetzt werden und zwar nur in Übersee, nicht in Europa. Damit wird vereinbart, daß ein Friedensbruch in Übersee den europäischen Friedensschluß der Vertragsparteien nicht unwirksam machen solle. 13 Die in der Formel angesprochene Linie ist in ihrer Funktion einer Teilnichtigkeitserklärung vergleichbar, deren unwirksamer Teil nicht die Nichtigkeit des gesamten Vertrags zur Folge haben soll. Man könnte in der Formel also die vertragliche Einigung auf die faktische Nichteinigung sehen, die rechtliche Vereinbarung auf die Nichtrechtlichkeit der Folgen eines Vertrags Verstoßes: keine umfassende Unwirksamkeit des Vertrags, sondern räumlich begrenzte Aussetzung, kein Recht, "no peace" jenseits der Linie. Daß hier nur von einer Linie, von der "Linie im Singular" 14 die Rede ist, generiert ihre phantasmatische Wirkung. Durch die Idee, das Phantasma einer Achse wie des ptolemäischen Nullmeridians, der Linie des Wendekreises des Krebses und des Azorenmeridians, oder der äquatorialen Linie, polarisiert sich die bis dahin geltende monopolare Welt. Eine binäre Ordnung entsteht, in der Europa sich von da ab
Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 185. Allerdings ist selbst unter der nicht beweisbaren Annahme, daß ein solches mündliches Zusatzabkommen tatsächlich geschlossen wurde, zweifelhaft, daß es mit dem Ziel einer Friedlosigkeitserklärung in den überseeischen Gebieten zustandekam, zumal die dort bestehende einseitige Polizeigewalt Spaniens auch von Frankreich respektiert worden ist; vgl. Fisch, Die europäische Expansion, S. 59 f. 11 In dem Edikt wird Frankreich verboten, Spanien und Portugal auch diesseits der Linien wegen unerlaubten Handeltreibens anzugreifen; vgl. Fisch, Die europäische Expansion, S. 117. 12 Vgl. ebd., S. 146. 13 Vgl. ebd., S. 69 f. 14 Ebd., S. 81.
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dekliniert: hier Europa, dort terra nullius; hier Rechtszustand, dort Naturzustand; hier Vernunft, dort Gewalt. So, wie im Testament des Kardinals Richelieu verfügt wird, daß Freundschafts- und Bündnislinien die Sphäre der "raison" von der Sphäre der "force" trennen. 15 Was durch diese Linie getrennt wird, sind jedoch weniger komplementäre Zustände. Vielmehr ist der Akt, eine Linie zu ziehen, - wie symbolisch auch immer - ein Akt der Negation. Dadurch entsteht der andere Pol, der Pol des Abwesenden: a-nomisch und an-archisch. Die Vorstellung von etwas Fehlendem wirkt schließlich auf die europäische Ordnung in konstitutiver Weise zurück. 16 Daß es sich beim Ziehen der Linie um einen Akt der Negation handelt, kann völkerrechtlich präziser gefaßt werden, wenn man bedenkt, daß der Äquator, auf den in völkerrechtlichen Verträgen des 17. Jahrhunderts zuweilen Bezug genommen wird, zunächst die Funktion einer aufschiebenden Wirkung der Vertragsgeltung zukam. Denn um der längeren Benachrichtigungsdauer nach Übersee Rechnung zu tragen, sollte die Rechtskraft der in Europa abgeschlossenen Verträge in Übersee solange suspendiert bleiben, bis sie auch dorthin übermittelt worden sind. So sieht beispielsweise der spanisch-englische Vertrag über die Unwirksamkeit von Kaperungen (1630) vor, daß dieser innerhalb der "narrow seas" 15 Tage nach Vertragsabschluß, in den übrigen Gegenden um Europa drei Monate danach und "ultra lineam" neun Monate danach in Kraft tritt. 17 Verallgemeinernd ließe sich also sagen, die Freundschafts- und Bündnislinie konstituiert und suspendiert uno actu eine europäische Rechts- und Friedensordnung. Nimmt man all diese Kennzeichnungen der Freundschaftslinie zusammen, so folgt daraus ein bestimmter Begriff von Feindschaft. An dieser Extrapolation des Feindes aus der Freundschaftslinie hatte, wie es scheint, vor allem die völkerrechtliche Geschichtsschreibung der 20er und 30er Jahre ein Interesse. Erwiesenermaßen ist von ihr die Bedeutung der Freundschaftslinien überschätzt worden, 18 die tatsächlich oftmals schon nach kurzer Zeit wieder aufgekündigt und die spätestens mit dem Westfälischen Frieden von 1648 zugunsten eines umfassenden Friedens "in et extra Europam, tarn eis quam trans lineam" 19 verabschiedet wurden. Gleichwohl prägen die Freundschaftslinien einen Begriff von Feindschaft, der unter dem historischen Deckdiskurs über das 17. Jahrhundert Anfang des 20. Jahrhunderts politisch wirksam geworden ist. Der Diskurs 15 Nach Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 187; ähnlich bei Jean-Jacques Rousseau: "Das Pathos der Grenzziehung: einerseits nämlich die ungebundenen, sprachlosen und nomadischen 'Wilden', 'ohne Kunstfleiß, ohne Sprache, ohne Wohnsitz, ohne Krieg und ohne Verbindung' (Rousseau), andererseits die Depravation des bürgerlichen Gemeinwesens, Seßhaftigkeit, Parzellierung des Landes, Aneignung des Bodens, begriffliche Sprache." (Joseph Vogl, Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München 1990, S. 203) 16 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum,
Köln 1950, S. 60 ff.
17 Adolf Rein, "Zur Geschichte der völkerrechtlichen Trennungslinie zwischen Amerika und Europa", in: lbero-Amerikanisches Archiv 4. Jg. (1931), S. 530-543, S. 537; s. auch Fisch, Die europäische Expansion, S. 70 f.; Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 188. 18 Dazu einleuchtend Fisch, Die europäische
Expansion,
vor allem Kapitel 3.
19 Dazu und zum Vorhergehenden Grewe, Völkerrechtsgeschichte, der Erde, S. 155.
S. 184 ff.; s. auch Schmitt, Nomos
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über die Linie, der vom Völkerrecht seinen Ausgang nimmt, findet im Dezisionismus seine Fortsetzung. Er strukturiert politische Verhältnisse in Freund und Feind entlang der Linie.20 Feindschaft ist nach diesem zum Philosophem erhobenen völkerrechtlichen Prinzip der Linie durch die Annullierung vertraglicher Beziehungen unter Staaten gekennzeichnet. Jenseits einer bestimmten Linie begegnen die europäischen Bündnispartner sich als feindliche Mächte. Was sie bindet, ist eine rechtliche Vereinbarung: ein Waffenstillstandsvertrag, ein völkerrechtlicher Bündnisvertrag oder Nicht-Angriffs-Pakt. Freundschaft ist demnach ein rechtliches Prinzip, dessen Nichtgeltung mit dem Raum des Rechtlosen zusammenfällt, welcher wiederum als Antithese zum Recht auf "alles Militärische" verweist. Feindschaft ist, wenn man Völkerrechtlern wie Adolf Rein und Carl Schmitt, aber auch Wilhelm Grewe folgt,21 die Verneinung des rechtlichen Prinzips von Freundschaft und damit seine Verräumlichung. Denn durch Verträge gesetztes Recht steht in diesem völkerrechtlichen Modell dem durch den Raum geschaffenen gegenüber. Die verräumlichte Feindschaft ist demnach durch nichts anderes als durch ihre Position extra lineam gekennzeichnet. Im Setzen dieser ausgrenzenden Linie liegt eine Feindschaftserklärung. Dabei ist es schon bemerkenswert, daß die imaginärste Linie des Völkerrechts, die Lignes des Amitiés et des Alliances, die plastischste Feindbestimmung hervorbringt. Die Bündnispartner begegnen sich außerhalb der Linie, außerhalb des Völkerrechts als Feinde. So wie im römischen Bodenrecht das Ziehen einer Linie ein jus alios excludendi vermittelt, geht die Souveränität über ein Gebiet mit der Macht einher, eine Bündnislinie festzulegen. Das Recht dazu steht der souveränen Macht zu, die (mittels Polizeigewalt) bereits über ein bestimmtes Gebiet verfügt. Daß man sich zumindest formal auf eine Linie einigt, selbst wenn sie tatsächlich von dem stärkeren Verhandlungspartner gesetzt wird, soll nach völkerrechtlicher Sicht Reziprozität, wechselseitiges und gleichrangiges Anerkennen als Feind, wahren und damit überhaupt erst äußere Feindschaft begründen. Jenseits der Linie wird der Bündnispartner, der widerrechtlich die Linie übertritt, rechtlos. Als rechtlos werden im römischen Recht res hostium und gleichermaßen res nullius angesehen.22 Feinde wie Niemande sind ohne Recht. Feinde sind Niemande. Der Feind ist nicht der Andere, sondern derselbe als Exterritorialisierter. Daß der Feind
20 Dazu Norbert Bolz, "Peri Trans Beyond", in: Friedrich A. Kittler u. Georg Christoph Tholen (Hrsg.), Arsenale der Seele. Literatur- und Medienanalyse seit 1870, München 1989, S. 171-185. 21 Ihnen ist gemeinsam, daß sie mit der Betonung völkerrechtlicher Linien die Raumgebundenheit des Völkerrechts nachweisen wollen. Sie strukturieren die Geschichte des Völkerrechts nach Linien und entdecken das Prinzip der Freundschaftslinien auch in der Kolonialzeit, wo sie ähnlich räumlich und ähnlich ausschließend wirken sollen. So etwa in der Monroe-Doktrin (1823), in der für europäische Mächte ein Interventionsverbot ausgesprochen wird; dazu Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, Berlin - Wien 1939, bes. S. 23; ähnlich Rein, "Zur Geschichte der völkerrechtlichen Trennungslinie", S. 538; auch Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 538 f. 22 Vgl. Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 154 f.; s. auch F. S. Ruddy, "Res nullius and Occupation in Roman and International Law", in: University of Missouri at Kansas City Law Review!. Jg. (1967/68), S. 274-287, S. 277.
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derselbe in einem anderen Raum ist, der durch die Übertretung einer Linie Verwandelte, diese Vorstellung bestätigt sich in der Definition der Wilden, wie sie im 18. Jahrhundert gegeben wird. Uber sie heißt es nicht etwa, daß sie Eingeborene, sondern daß sie Europäer jenseits der Linie seien. "Hat er den Äquator überschritten, ist der Mensch weder Engländer mehr, noch Holländer, noch Franzose, noch Spanier, noch Portugiese. Er ist ein gezähmter Tiger, der in den Wald zurückkehrt." Was ihn wieder wild macht, ist der sogenannte Tropenkoller bei Übertretung der Linie;23 gezähmt aber hat ihn die Sphäre des Rechts, die synonym ist mit "Europa".
3. Souveränität in Übersee Im Ausgrenzen schaffen die Freundschafts- und Bündnislinien ein außereuropäisches Gebiet, das okkupierbar ist. Diese umstrittene These wird von dem Völkerrechtler Adolf Rein vertreten und im Anschluß an ihn von Carl Schmitt.24 Selbst wenn man nicht davon ausgehen kann, daß Freundschaftslinien mit dem Ziel entstanden sind, ein okkupierbares Gebiet zu definieren - primär ging es dabei um den freien Handel - , so haben die "raumausgrenzenden Linien" (Schmitt) jedenfalls den Effekt, die Gebiete in Übersee zur Okkupation freizugeben. In Anspielung auf das römische Privatrecht wird also ein okkupierbares Gebiet als terra nullius bezeichnet, so, als ginge es bei Okkupationen um eigentumsrechtliche Fragen an Grund und Boden.25 Wie oft im internationalen Recht, wird auch hier ein politischer Vorgang durch Rückführung auf zivilrechtliche (oder auch strafrechtliche) Kategorien entpolitisiert.26 Souveränitätsfragen kommen als Eigentumsfragen daher. Tatsächlich aber wird unterhalb von eigentumsrechtlichen Erörterungen in aller Deutlichkeit die Frage nach der Souveränitätsbasis eines Staates gestellt. In aller Deutlichkeit, insofern die Souveränität, die man in Europa voraussetzt, für Übersee erst noch definiert werden muß. Denn die Wirksamkeit einer Okkupation soll in der Ausübung souveräner Macht bestehen. Deutlicher als jede staatstheoretische Abhandlung drücken darum die verschiedenen völkerrechtlichen Argumentationen aus, wodurch Staatlichkeit definiert sein soll und worauf Souveränität basiert.
23 "Dans l'éloignement de sa patrie l'on n'est pas retenu par la crainte de rougir aux yeux de ses concitoyens. Dans un climat chaud, où le corps perd sa vigeur, l'ame doit perdre de sa force. ... Dans les contrées où l'on est venu pour s'enrichir, on oublie aisément d'etre juste. " (Raynal [1784], von dem auch das vorangegangene Zitat stammt, zit. nach Rein, "Zur Geschichte der völkerrechtlichen Trennungslinie", S. 534 f.) 24 Carl Schmitt, "Raum und Großraum im Völkerrecht", in: Zeitschrift für Völkerrecht 24. Jg. (1940), S. 145-179, S. 154; ders., Der Nomos der Erde, S. 58 ff; ausführlich Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 191-193. 25 Letztmals wird "terra nullius" als Argument für eine rechtmäßige Okkupation 1975 von den Spaniern im Streit um die Westsahara angeführt; s. Abdelfadil Gnidil, Die völkerrechtliche Lage der ehemaligen Spanischen Sahara, Tübingen 1987; s. auch Fisch, Die europäische Expansion, S. 461-473. 26 Vgl. Fisch, Die europäische
Expansion,
S. 89; s. auch S. 300.
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Die völkerrechtliche Figur der terra nullius ist durch Abwesenheit von Souveränität definiert. Daß dieses Gebiet deswegen nicht bar jeden Rechts ist, ist eine Überzeugung, die sich im Zuge der Aufklärung durchgesetzt hat, als man auch Eingeborene zu Trägern von Rechten macht. Um dennoch die Rechtsvorstellung von der terra nullius als okkupierbaren Gebiets aufrechtzuerhalten, um also kein Okkupationshindernis in Form von Rechten der Einwohner in Übersee entstehen zu lassen, wird zwischen Rechts- und Staatsfähigkeit unterschieden. Nomaden - die von den Völkerrechtlern des 18. und 19. Jahrhunderts favorisierten "Bewohner" der terra nullius - können Inhaber von Rechten sein, sie sollen jedoch mangels Seßhaftigkeit unfähig sein, einen Staat zu bilden. 27 Souveräne Mächte können aufgrund dieses Mangels an "Staat", an Staatsfahigkeit und Staatsbildung, einen Anspruch auf sogenanntes staatenloses Gebiet erheben. Oftmals bestehen Ansprüche mehrerer Nationen auf ein und dasselbe Gebiet. Interessant sind nun die verschiedenen völkerrechtlichen Begründungs versuche. In der Frage der Gebietserwerbungen verhält es sich selbstverständlich keineswegs so, daß erst rechtlich verbindliche Maßstäbe aufgestellt und dann danach gehandelt wird. Hier - und das macht die Anziehungskraft des Völkerrechts für einen Rechtstheoretiker wie Schmitt aus - entscheidet Faktizität über Geltung. Erst wird entdeckt, erobert, kolonialisiert und dann wird über die rechtliche Wertung dieser Akte gestritten. So stehen sich beispielsweise alte Rechtstitel aus Entdeckung und neue aus Okkupation oder Kolonialisierung gegenüber (Carolinen-Fall, Falkland Inseln, Las Palmas, Polargebiete). Historische Fakten kommen dabei nachträglich, manchmal erst Jahrhunderte später, als rechtliche Argumente zum Einsatz. Ältere Entdeckernationen fuhren gegenüber den jüngeren Eroberungsmächten zu ihren Gunsten das Argument an, daß sie durch das Entlangsegeln an einer bestimmten Küste und durch sporadisches An-Land-Gehen bereits ein Recht auf dieses völkerrechtlich als "Hinterland" bezeichnete Gebiete erworben hätten. England beruft sich zur Begründung des Besitzanspruchs auf das riesige Gebiet vom Golf von Mexiko bis nach New York auf die Küstenbesegelungen, die Giovanni Caboto (zur Stützung des Arguments in John Cabot anglisiert) 1497/98 unternahm. 28 Auch die Besegelung der Küste durch Sir Francis Drake sollte England bekanntlich ein Recht auf das Hinterland Amerikas verschaffen. Mit der Möglichkeit des Überfliegens von unerschlossenen Gebieten wiederholt sich die Argumentation, daß durch Sichtung, In-Augenschein-Nehmen, ein Rechtstitel erworben werde. 29
27 Nach Georg Dahm, Völkerrecht / , Stuttgart 1958, S. 76. 28 Tatsächlich stützt sich die englische Streitmacht noch rund 150 Jahre später auf diesen vermeintlichen Rechtsanspruch, als es Holland zur Übergabe von Siedlungen in New York zwingt; Walther Schoenborn, "Über Entdeckung als Rechtstitel völkerrechtlichen Gebietserwerbs", in: Gegenwartsprobleme des internationalen Rechts und der Rechtsphilosophie. Festschrift für Rudolf Laun zu seinem 70. Geburtstag, Hamburg 1953, S. 239-257, S. 242 u. S. 244 (Anm.17). 29 Vgl. Walther Schoenborn, "Der Einfluß der neueren technischen Entwicklung auf das Völkerrecht", in: Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht. Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, München 1962, S. 77-86, S. 83; zur Möglichkeit der effektiven Beherrschung des Luftraums s. auch
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Doch hat das Völkerrecht derart weitreichende Ansprüche aus derart partikularen Akten nicht gelten lassen. Einig ist man sich in der Theorie vielmehr darüber, daß die Tatsache der Entdeckung,30 des Entlangsegelns oder Überfliegens, keinen Rechtstitel auf dieses Gebiet, sondern allenfalls ein Prioritätsrecht zur Besetzung, ein sogenanntes jus ad occupationem vermittle.31 Was einer Entdeckung fehle, sei eine symbolische Kraft, die den Besitzwillen in juridischen Formen dokumentiere. Vasco Nunez Baiboa scheint dieses Erfordernis erkannt zu haben, als er 1513 im Stillen Ozean mit einem Schwert und einer Fahne in den Händen "bis an die Knie in die Fluten des Meeres hineinschritt und damit symbolisch in Gegenwart eines Notars von dem unermeßlichen Wasser von Pol zu Pol Besitz ergriff". 32 Den Besitzanspruch Spaniens vermochte er mit dieser notariell abgesicherten, symbolischen Besitzergreifung gleichwohl nicht zu begründen. Nicht nur die potentielle Ubiquität symbolischer Akte stellte ein Problem dar. Die Rechtswirksamkeit solcher Akte wie das Hissen einer Flagge oder das feierliche Verlesen einer Deklaration wird auch mit dem Argument in Zweifel gezogen, daß Privatpersonen oder -gesellschaften, von denen sie vorgenommen werden, diese überhaupt nicht vollziehen könnten. Columbus zum Beispiel reist in privatem Auftrag der Königin Isabella, nachdem er sich zuvor ausdrücklich von der päpstlichen Autorisierung durch Nichtigkeitserklärung hat entbinden lassen. Die völkerrechtliche Problematik einer rechtlich wirksamen Entdeckung spitzte sich im Fall Columbus nur deswegen nicht zu, weil die spanische Krone sich später dem Privatauftrag der Königin anschloß.33 Oft werden auf diese Weise nachträglich Entdeckungen "verstaatlicht". Entdecker werden als Gouverneure in dem von ihnen entdeckten Land eingesetzt, wie im Fall LaSalles, mit dessen Ernennung zum Gouverneur von Louisiana Frankreich seinen Gebietsanspruch dokumentiert.34 Die Vereinigten Staaten sind ebenso verfahren, als sie ein von dem Flieger William Byrd 1929 im Südpol entdecktes Land "Mary-ByrdLand" nennen, um mit dem Namen der amerikanischen Ehefrau des Entdeckers die
K. Lampe, "Die Polargebiete in der internationalen Politik", in: Arktis. Vierteljahresschrift der internationalen Gesellschaft zur Erforschung der Arktis mit Luftfahrzeugen 3. Jg. (1930), S. 74-90. 30 Die Bedeutung eines Rechtstitels aus Entdeckung wird aus völkerrechtlicher Sicht unterschiedlich beurteilt. Vor allem Fritz Bleiber geht davon aus, daß sie isoliert, d.h. auch ohne nachfolgende symbolische oder effektive Inbesitznahme einen Erwerbsanspruch vermittelt; Die Entdeckung im Völkerrecht. Eine Studie zum Problem der Okkupation, Greifswald 1933, S. 49 ff. 31 Vgl. Grewe, Völkerrechts geschickte,
S. 299.
32 A. Rüge, Geschichte im Zeitalter der Entdeckungen, Berlin 1885, S. 347; zit. nach Adolf Rein, "Über die Bedeutung der überseeischen Ausdehnung für das europäische Staatensystem", in: Historische Zeitung 137. Jg. (1927), S. 28-90, S. 36. 33 Neben Isabella wird die Reise 1492 auch von dem König von Aragon - gewissermaßen als Privatunternehmer - getragen; s. Staedler, "Zur Vorgeschichte der Raya", S. 55 u. S. 68; s. auch Rein, Die europäische Ausbreitung, S. 88. 34 Friedrich August Freiherr von der Heydte, "Discovery, Symbolic Annexation and Virtual Effectiveness in International Law", in: Zeitschrift für Völkerrecht 25. Jg. (1941), S. 448-471, S. 467.
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staatliche Autorisierung zu dieser Entdeckung zum Ausdruck zu bringen und in der Folge englische Gebietsansprüche auszuschließen. 35 Die völkerrechtliche Auseinandersetzung im 16. und 17. Jahrhundert kreist jedoch vor allem um die Frage, ob symbolische Akte unabhängig davon, wer sie vornimmt, überhaupt zur Begründung eines Gebietsanspruchs ausreichen können. Elisabeth I. stellt 1580 in einem oft zitierten, an die Adresse der Spanier gerichteten Ausspruch klar, daß dies nicht der Fall sein soll: "She would not persuade herseif that the Indies are the rightful property of Spain ... only on the ground that the Spainiards have erected shelters, have given names to a river ..., acts which cannot confer property." 36 Sie degradiert alle rein symbolischen Formen der Aneignung wie das Flaggenhissen oder das Ziehen von Linien auf Landkarten, Benennungen und Deklarationen als "imaginary proprietorship" und dringt stattdessen auf etwas, das später vom Völkerrecht "effektive Okkupation" genannt wird. Hierin deutet sich an, daß symbolische und effektive Rechtsformen offenbar zu Gegensätzen werden. Wann eine Okkupation effektiv und damit rechtswirksam ist, wird allerdings nicht weiter definiert. Auch dann nicht, als die "effektive Okkupation" - wohl einmalig - in einem Abkommen (in Art. 34 und 35 der Kongo-Akte) Erwähnung findet.37 Eindeutig ist insoweit nur, daß die Völkerrechtstheorie für die Bejahung effektiver Okkupation eine Umwandlung von staatenlosem in Hoheitsgebiet verlangt. Entsprechend des dem römischen Bodenrecht entnommenen Terminus der terra nullius wird das Vorliegen einer solchen Umwandlung oft mit der Handlung des Pflügens, der Urbarmachung des Landes begründet. 38 Angefangen von den Niederländern, die Tasman, dem Entdecker Australiens, 1642 auftragen, dort Obstbäume zu pflanzen, 39 bis hin zum Staat Israel, der gepanzerte Traktoren einsetzt, um demonstrativ die Felder der von Arabern beanspruchten Gebiete zu pflügen, 40 scheinen Okkupationen sich nach diesem Muster agrikultureller Inbesitznahme zu vollziehen. Säen und Pflügen, diese Handlungen mit hohem Symbolgehalt, machen deutlich, daß Effektivität keineswegs auf Symbolik verzichtet, sondern daß sie diese vielmehr flächendeckend statt punktuell einsetzt. Effektivität wäre demnach gekennzeichnet durch flächendeckende und raumgreifende symbolische Akte, die zugleich Akte des Fläche-Bedeckens und Raum-Ergreifens sind. Und wenn Schmitt, bei dem der Begriff von der terra nullius durch den allgemeineren des "Raumes" ersetzt ist, der "alles [ist], was der ausschließlichen Herrschaft, der
35 Vgl. Lampe, "Die Polargebiete in der internationalen Politik", S. 85. 36 Nach Heydte, "Discovery, Symbolic Annexation and Virtual Effectiveness", S. 459. 37 Das Erfordernis der Effektivität wurde hier begrenzt auf die Gebiete der afrikanischen Küste und galt nur für den Zeitraum von 1885 bis 1919. In dem Nachfolge-Abkommen von St. Germain-en-Laye wurde es nicht mehr aufgenommen; dazu genauer Schoenborn, "Über Entdeckung als Rechtstitel", S. 249. 38 Dazu Dan Diner, Israel in Paldistina. Über Tausch und Gewalt im Vorderen Orient, 1980, Kapitel II. 39 Grewe, Völkerrechtsgeschichte,
Königstein/Ts.
S. 466 f; dort als Beispiel rein symbolischer Handlungen.
40 Dies weist zugleich auf die enge Beziehung zwischen agrikultureller, technischer und militärischer Inbesitznahme hin; vgl. Diner, Israel in Palästina, S. 140.
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Machtentfaltung und der Machtverteilung zugänglich ist", dann ließe sich von hier aus die Rede von der "Effektivität der Raumbeherrschung" 41 als Okkupationsvorgang entschlüsseln, für den offenbar vom Pflügen bis zum Kriegführen alles stehen kann, wenn es nur raumgreifend ist. Wenn aber mit der Okkupation Tatsachen geschaffen werden, die zugleich ein Recht vermitteln können, so ist spätestens hier aus der fiktionalen Investitur des Papstes die Invention des Faktischen geworden. Im extra-juridischen Raum der terra nullius wird - und das ist das Bemerkenswerte daran - aus der Faktizität effektiver Machtausübung ein Rechtsprinzip. Jenseits der Linie manifestiert Souveränität sich demnach nicht in rein symbolischer Repräsentation, sondern in den zur "Effektivität" verrechtlichten, tatsächlichen und vom Ziel der Okkupation aus beurteilten notwendigen Handlungen. Effektivität ließe sich also durch die Handlungen bestimmen, die diesseits der Linie als Effekt von Souveränität vorkommen - Gesetze machen, strafen, Steuern erheben, Polizeigewalt errichten beispielsweise. Sie dienen in Übersee zum Nachweis des Vorliegens von Souveränität. Entsprechend gilt die Errichtung von Gerichten, Zollämtern, Verwaltungsbehörden nach heutiger völkerrechtlicher Auffassung als Indiz effektiver Ausübung der Gebietshoheit, in Übersee übersetzte Souveränität. 42
4. Territorialisierung und Inklusion: Staatsgrenze Souveränität und Territorium sind aneinander gekoppelt, wie sich an diesem völkerrechtlichen Verständnis von "Effektivität" zeigt. Damit werden auch die auf dem Papier gezogenen Linien - jene Souveränitätsakte par excellence - auf ihre Korrespondenz mit dem Territorium verpflichtet. Durch "diese systematische Verknüpfung zwischen Territorialität und Code" 43 definieren Grenze und Territorium sich wechselseitig. "Die technische Durchbildung des modernen linearen Grenzbegriffs ... beruht auf einem gewissen fortgeschrittenen Stand der geodätischen, topographischen und kartographischen Wissenschaft". 44 Funktional nimmt die lineare Grenze im 18. Jahrhundert die Stelle ein, welche Äquator und Meridian für das Völkerrecht des 16. und 17. Jahrhundert besaßen, nämlich Eroberungen auf dem Papier zu antizipieren. Als der Meridian in Paris aufgrund der Initiative Colberts vermessen wird, kann er 1724 zur Grundlage für die erste allgemeine meridional angelegte Karte Frankreichs werden. Auch unbekannte Gebiete können auf diese Weise erschlossen, vermessen werden.
41 Schmitt, "Raum und Großraum im Völkerrecht", S. 169 u. S. 171; s. auch ders., Der Nomos Erde, S. 101.
der
42 Vgl. "Gebietserwerb", bearb. v. Eberhard Menzel, in: Hans-Jürgen Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. I, Berlin 1960; zum wenig scharf umrissenen Souveränitätsbegriff des Völkerrechts, s. Fisch, Die europäische Expansion, S. 301-303. 43 Vogl, Ort ohne Gewalt,
S. 203.
44 Grewe, Völkerrechtsgeschichte, London 1978, S. 54 ff.
S. 378; ausführlich J. R. V. Prescott, Boundaries
and
Frontiers,
171
Terra nullius
Das Phantasma einer detailgetreuen Abbildung vom Land in Karten, die Antizipation und Übersetzung von einem in das andere, führt schließlich dazu, daß eine Okkupation erst wirksam wird, wenn sie kartographisch besiegelt ist. Karten werden zur Anlage völkerrechtlicher Verträge, erstmals wohl 1718 zwischen Frankreich und den niederländischen Generalstaaten. 45 Man denke auch an den Versailler Friedensvertrag mit seinen ausfuhrlichen Grenzbeschreibungen im zweiten Teil. In der Folge dieser kartographischen Grenzbestimmung beruhen völkerrechtliche Streitigkeiten seit dem 18. bis zum Anfang dieses Jahrhunderts auf deren fraglicher Übereinstimmung mit dem realen Territorium: "weil die in den Atlanten scheinbar so klar und scharf eingetragenen Grenzen nicht selten bis auf Tausende von Kilometern unsicher waren, und zwar zum Teil einfach deshalb, weil man eben gar nicht wußte, wieweit das Kartenbild der Natur entsprach". So beispielsweise in einem Grenzstreit zwischen Venezuela und Kolumbien von 1922, in dem es um eine über 3600 km unsichere Staatsgrenze ging. 46 Wie unsicher - vermessungstechnisch wie politisch - Grenzen sein mögen, sie definieren alle Länder als territoriale Einheiten. 47 Aus den großzügig durch die Welt gelegten Linien werden detaillierte lineare Grenzen. Sie teilen, trennen Gleiches, separieren Staaten. Eine Freund-Feind-Unterscheidung kann folglich nicht auf der räumlichen Lage von diesseits und jenseits der Linie beruhen, da "hier" zugleich "dort", "Freund" zugleich - und das heißt am gleichen Ort - "Feind" ist. Die wechselseitige Feindschaft ohne Verlagerung auf ein äußeres Gebiet, ohne Exterritorialisierung, erzeugt, sobald Staaten sich als Rechtssubjekte begegnen, Feindschaft in einer "rechtlich-politischen Bewertung" 48 - und dies oftmals im Vokabular des Strafrechts. Nach Schmitt ist Feindschaft dort der Verabsolutierung ausgesetzt, wo sie den räumlichen Bezug auf eine den Feinden gemeinsame Linie verliert. Dies macht deutlich, wie entlastend auf diskursiver Ebene die Denkmöglichkeit eines äußeren, herausgehobenen Raumes nach Art einer terra nullius nicht nur für das Völkerrecht wirkt, um alles Bedrohliche zu veräußern und zu begrenzen. Umgekehrt läßt sich erahnen, welches Begehren nach einem exterritorialen Ort die kartographisch umfassende Territorialisierung und juridisch lückenlose Inklusion aller Räume freisetzt. Wenn alle Gebiete zu Territorialstaaten umgewandelt sind, gibt es kein unerschlossenes, unvermessenes, unbegrenztes Land mehr. Nicht nur die Verlagerung des Feindes auf ein äußeres Terrain ist damit undenkbar geworden, auch der Imperativ zur Eroberung, genauer Erschließung, der in der leeren Fläche eines weiten Landes liegt, ist erloschen. "Lange Jahre", schreibt Norbert Wiener, "vollzog sich die Entwicklung der Vereinigten Staaten vor dem Hintergrund eines leeren Landes, das immer weiter nach Westen rückte. ... Bereits 1890 stellt die Volkszählung das Ende wirklicher Grenzlandbedingungen fest; damit waren die geographischen Grenzen der 45 Vgl. dazu und zum vorhergehenden Grewe, Völkerrechtsgeschichte,
S. 378-381.
46 Vgl. Schoenborn, "Über Entdeckung als Rechtstitel", S. 244. 47 Als exakte Grenzen zwischen den Staaten befördern sie das jus soli der eindeutigen Staatszugehörigkeit, im Strafrecht die Ausformulierung des "Territorialitätsprinzips". 48 Siehe Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 62.
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großen Reserven voll unausgeschöpfter und unerwarteter Hilfsquellen für das Land eindeutig festgelegt." 49 Mit den großen Inventarisierungen des 19. Jahrhunderts, den kartographischen Vermessungen und demographischen Zählungen, setzt der Schock über die Begrenztheit des Raumes, über "das Ende wirklicher Grenzlandbedingungen" ein. Malthus reagiert darauf, wenn er Bevölkerung und Raum miteinander verbindet, um die räumliche Begrenztheit berechenbar zu machen. Carl Schmitt konstatiert 1940 nicht ohne Bedauern das Ende aller Möglichkeiten zur Okkupationen und macht dafür die rechtlich unterschiedslose Behandlung aller Gebiete, auch der Kolonien, als Staatsgebiet verantwortlich. 50 Auf die Vision einer zu kleinen Welt ohne okkupierbares Land wird die Forderung nach Nicht-Staatsgebieten oder terrae nullius laut. Der Ruf danach geht von den "Völkern ohne Land" (Valli) aus, zu denen sich Deutschland, Italien und Japan zählen. Er zielt auf Expansion in unbesiedeltes, staatenloses Land, 51 wenn man dem 1934 gehaltenen Plädoyer des faschistischen Danteforschers Luigi Valli folgt. Valli, der angeblich inmitten eines Vortrags über die Symbolik von Kreuz und Adler bei Dante "vom Schlag gerührt" zusammenbricht, 52 also ausgerechnet inmitten eines Vortrags über die Insignien eines Staates, ist zwar kein Völkerrechtler, doch bestätigen die Völkerrechtler der 30er Jahre die Gleichsetzung von staatenlosem mit unbesiedeltem Gebiet. Denn im Effekt ist im 20. Jahrhundert okkupierbares Land auf unbewohntes beschränkt, 53 selbst wenn letzteres kein Kriterium des Völkerrechts ist. So weist 1937, einige Jahre nach von Valli und anderen erhobenen Expansionsforderungen, der Völkerrechtler Friedrich Giese darauf hin, daß es noch genügend unbesiedeltes Gebiet zu Expansionszwecken gäbe. 54 Wo aber dem "Volk ohne Raum" unbesiedeltes Land nicht ausreicht, weil die unbewohnten Gebiete meist auch die unbewohnbaren sind (Antarktis), da tragen die Verwüstungen zweier Weltkriege auf ihre Weise dazu bei, neue terrae nullius zu produzieren, die - wenn auch nicht im völkerrechtlich anerkannten Sinne - zur Okkupation freigegeben sind. 55
49 Norbert Wiener, Mensch und Menschmaschine (1942), aus dem Amerikanischen übersetzt von Gertrud Walter, Frankfurt/Main - Berlin 1952, S. 40 f. 50 Schmitt, "Raum und Großraum im Völkerrecht", S. 157. 51 Luigi Valli, Das Recht der Völker auf Land, Hamburg 1957, S. 34. 52 Ebd., Vorbemerkung. 53 Daß bewohntes Gebiet nicht okkupierbar ist, ist eine sich im 19. Jahrhundert durchsetzende Ansicht; vgl. Fisch, Die europäische Expansion, S. 300 (Anm. 379). 54 Friedrich Giese "Zur Rechtslage in staatenlosem Gebiet. Ein Beitrag zur völkerrechtlichen Gebietslehre", in: Archiv für öffentliches Recht 68. Jg. (1937/38), S. 310-360. 55 In der territorialisierten und das heißt vollständig aufgeteilten Welt, gibt es keine Okkupationen mehr. Denkbar sollen nach völkerrechtlicher Auffassung lediglich Annexionen oder Protektorate (verkappte Annexionen) sein. Annexierbar sind entterritorialisierte Gebiete, Staatengebilde im Zerfall, nach Kapitulationen beispielsweise (vgl. Gnidil, Die völkerrechtliche Lage der ehemaligen Spanischen Sahara, S. 63). Das Potsdamer Abkommen fühlte sich aufgrund der Ähnlichkeit ihrer Akte mit denen einer Annexion gedrängt, durch Verneinung klarzustellen, daß die Okkupation (!) der Alliierten keiner Annexion gleichkommen solle, sondern lediglich vorübergehenden Charakter habe: "It is not the intention of the Allies to destroy or to enslave the German people. It is the intention of the Allies that the German people be given the opportunity for the eventual reconstruction of their life on a
Terra nullius
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5. Grenzraum Niemandsland Wenn der Terminus "terra nullius" aufhört, im Völkerrecht eine Rolle zu spielen, ist der Raum frei für einen metaphorisch hoch aufgeladenen Diskurs vom "Niemandsland". Was vor dem ersten Weltkrieg aufgrund der erhöhten Feuerwirkung moderner Geschütze als "öde Weite" (von Schlieffen 1909) des Schlachtfelds vorgedacht wird, erhält im Nachkrieg seinen Ausdruck in der "Menschenleere des Schlachtfeldes" (Ernst Jünger). Gemeint ist ein Land aus Niemanden, eine Landschaft ohne Menschen, genauer ohne Infanteristen, die verschwunden sind, weil sie sich vor den weitreichenden und flächendeckenden neuen Waffen so an das Gelände anpassen, daß sie unsichtbar, daß sie zu "Gefechtsdingen" (Kurt Lewin) werden. Das Weltkriegs-Niemandsland trägt das Signum der Unentschiedenheit zwischen den Fronten - auch im militärischen Sinn - allerdings ohne militäramtlichen Status. Ein "schmale[r] Streifen Erdstrich, der aber dennoch immer unüberschreitbarer wird", 56 heißt es darüber beim Apologeten des Niemandslandes, Ernst Jünger. Es wird schließlich zur Chiffre für alle unentschiedenen Zustände - unpassierbar, unmarkiert, unbekannt, aus allen gewohnten Erfahrungsbildern, eingeübten Wahrnehmungen und gültigen Bestimmungen herausgehoben. Eric Leed verortet die Erfahrungen des Zwischenzustandes im ersten Weltkrieg in dieser Zone: "The most lasting memory of war ... is the very image of the marginal, the liminal, the 'betwixt-and-between' - No Man's Land". 57 Marginal und liminal, Grenzerfahrung und Grenzbestimmung. Davon zehrt die Rede vom Niemandsland auch noch, wenn die Metaphorik sich vom Militärischen löst: als Denken des Zwischen, als eine das Selbst übersteigende, nicht-anthropomorphe Philosophie, (Niemands)Ethik und atopischer Ort historischer wie politischer Auflösungen und Grenzverwischungen, als Raum eines Anderen, in dem Verneinung weder Ausschluß noch Auslöschung oder absolute Negation meint, sondern Verlagerung in einen anderen Raum, Spatialisierung des Anderen, Markierung eines Grenzraums, "an imperceptible, incomprehensible and unbridgeable distance which expresses the paradox of disengagement within engagement. This no man's land is a ... suspended moment of equivocation, the 'between' of an encounter which has no between", wie die Philosophie des Zwischen von Emmanuel Levinas charakterisiert wird. 58 Das Niemandsland übernimmt dann selbst die Funktion einer Grenze, genauer einer Zone ohne fixierte Umrisse, ohne kartographische Koordinaten und ohne entschiedene Unterscheidungen. Seine Anziehungskraft scheint in dieser Schwebe, dieser Enthebung oder Entlastung von einer definitiven Ordnung, einer Suspension in Form eines temporären Aufschubs wie
democratic and peaceful basis." ("Kommunique über die Konferenz von Potsdam III", in: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Giesela Biewer [Bearb.], II. Reihe, Bd.l: Die Konferenz von Potsdam, Neuwied - Frankfurt/Main 1992, S. 2106; s. auch Dahm, Völkerrecht 1, S. 591) 56 Ernst Jünger, "Kriegerische Mathematik", in: Der Widerstand 5. Jg. (1930), S. 267 ff., S. 270. 57 Eric J. Leed, No Man's Land. Combat and Identity in World War I, Cambridge u.a. 1979, S. 14. 58 S. dazu Alain Pottage, "A Unique and Different Subject of Law", in: Cardozo Law Review Vol. 6 (1995).
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auch einer räumlich begrenzten Nichtgeltung zu bestehen. Die Attraktion mag schließlich in der Möglichkeit liegen, einen vorgeometrischen, einen juridisch noch nicht erschlossenen Raum zu denken. Damit wäre wiederum eine terra nullius ausgebreitet, die - was hier zum Schluß Andeutung bleiben muß - ebenso okkupierbar wäre. Denn so wenig zwar einfache Oppositionen wie Freund und Feind dieses disjunktive Niemandsland strukturieren, so wenig damit schlicht Ort der Indifferenz gemeint ist, so sehr untersteht der unmarkierte Zwischenraum doch dem in der Figur der terra nullius enthaltenen Imperativ zur Besetzung, in dessen Befolgung er unversehens und unwillentlich auch zum Ort der Verbannung gerät, zur Projektionsfläche für alles, was verbannenswert erscheint, schließlich zum phantasmatischen Raum des Feindlichen, wenn nicht des Feindes.
III. Der Grund der Institutionen
Wolfgang Ernst
Karthago (Against Romacentrism)
Die Relation von Übertragung und Gesetz betrifft auch jenen Diskurs, der sie verhandelt: den historischen. Von Reichen übermittelt sich nur das, was in Geschichtswissen übergegangen ist; dessen Institutionen und Speicher überdauern sie. Geschichte ist nämlich nicht nur eine jener Basismetaphern (Legendre), die der Legitimation dienen,1 sondern ihrerseits metaphorisch, d.h. übertragend. Ihr Gesetz ist jene Wissenschaft, die den Ort unserer Rede stillschweigend definiert und damit alle unsere Einsichten mit der Blindheit des Vergessenmachens ihrer Voraussetzungen schlägt. Dieses Vergessen gehört zum Funktionieren von Institutionen selbst. Hayden White beruft sich auf Hegels Einsicht in das Interesse von Staaten an Ordnung, also Geschichte, wenn er den Zusammenhang von Erzählung und "Gesetz, Legalität, Legitimität oder, allgemeiner ausgedrückt, mit dem Problem der Autorität" analysiert.2 Die Institution, der Name: starre Designatoren (S. Kripke).3 Sprechen wir Geschichte, so sprechen wir immer schon im Namen Roms, von Rom aus, dem Ort des besseren Wissens um unser Thema. Petrarca, der Rom zunächst nur aus Buch- und Bildmedien kannte, sagt es: "Was gibt es denn in der Geschichte, was nicht zum Ruhme Roms ist?"4 Anders gefragt: Welche Macht verleiht dem Referenten Geschichte Autorität. Auch für Theodor Mommsen am 1. April 1876 in Berlin "... steht nun einmal fest: keine politische und keine historische Forschung im großen Stil kann absehen von Rom" ,5 Gemeint ist nicht Rom als Ort der Liebe zur Geschichte, sondern Rom als Hor(s)t der Macht. Le Curbusier sah es seiner Architektur an: "Rom ließ es sich angelegen sein, die Welt zu erobern und zu verwalten. Strategie, Bewirtschaftung, Gesetzgebung: Geist der Ordnung. ... Sie hatten ungeheure Wünsche 1
Siehe Jean-François Lyotard, "Randbemerkungen zu den Erzählungen", in: Peter Engelmann (Hrsg.), Postmoderne und Dekonstruktion, Stuttgart 1990, S. 49-53.
2
Hayden White, "Die Bedeutung von Närrativität in der Darstellung der Wirklichkeit", in: ders., Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt/Main 1990, S. 11-39, hier: S. 25.
3
Jean-François Lyotard, "Memorandum über die Legitimität", in: Engelmann (Hrsg.), Postmoderne Dekonstruktion, S. 54-74, hier: S. 60.
4
Siehe Marianne Karbe (Rez.), "Krieg", in: die tageszeitung vom 21.8.1987; zu Michel Foucault, Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, hrsg. v. Walter Seitter, Berlin 1986.
5
Theodor Mommsen, "Vorwort zur zweiten Auflage", in: Römisches Leipzig 1887, S. xiv.
Staatsrecht,
und
1. Bd., 3. Aufl.,
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in bezug auf Herrschaft und Organisation. ... Das Problem riesiger verwüsteter Gebiete existierte nicht, dafür jedoch das Problem, eroberte Gebiete einzurichten." 6 Über Recht und Unrecht entscheidet der Breitengrad, schrieb Pascal. Das also ist die Architektur von Imperien. Von Rom aus kommend, gilt es, vom römischen imperium abzusehen (against Romacentrism), und das heißt auch: sich vom historischen Diskurs zu befreien, um den archäologischen Blick auf Karthago freizumachen, also die Einsicht in eine differente Form von Übertragung, die dem Gesetzt des Tausches folgt. Sofern diese Rede möglich ist: einerseits auf einer Basis, die ein zum Schweigen gebrachtes Schweigen ist (denn auch ein Verschweigen Karthagos folgt dem Gesetz Roms, dem Jahr 146 v. Chr.). Zum anderen ist gerade das merkantile Wesen Karthagos (im Sinne der institutionalisierten Disziplin) archäologisch unfaßbar: "... diese Handelstätigkeit hat für die Archäologen sehr geringe Spuren hinterlassen. Wir wissen beispielsweise, daß Karthago erst zu Beginn des dritten Jahrhunderts Münzen zu prägen begann. Wenn wir uns ausschließlich auf die archäologischen Funde verlassen wollten, müßten wir deshalb annehmen, in Karthago habe die kommerzielle Tätigkeit eine geringere Rolle gespielt. Das ist ein Beispiel dafür, wie vorsichtig man sein muß, wenn man aus archäologischem Material auf Handel und Gewerbe schließen soll. ... die leicht verderblichen oder jedenfalls nicht dauerhaften Waren, die einen so großen Teil des antiken Handels ausmachten, haben keine Spuren hinterlassen: Nahrungsmittel aller Art, unbearbeitete Metalle, Textilien, Felle - und Sklaven." 7 Karthago bedarf einer differenten Archäologie. Der Kampf Roms ist ein Kampf um Erinnerung mit verschiedenen Memorialwaffen, von denen das "Tut dies zu meinem Gedächtnis" der katholischen Kirche (ROM) nur eine Form ist. Dingschändung (Eckhard Hammel): Karthago im Rahmen des historischen Diskurses zu besprechen, verkörpert den Endsieg Roms, der hellenistisch-römischen Kultur. Und das nicht nur als Objekt, sondern als subiectum der Geschichtsschreibung: "... einen semitischen Historiker hat es nicht gegeben; nicht einmal in Karthago, das so stark unter griechischem Kultureinfluß stand". 8 Die Zerstörung der Stadt durch Scipio Africanus d. J. bedeutete nicht schlicht die Vernichtung einer feindlichen Macht, mit der in der Regel doch innerhalb derselben Sprache verhandelt wird, sondern die Ausschaltung einer diskursiven Alternative, wie sie Lyotard in und als Der Widerstreit definiert. Die Ausschaltung einer alternativen Form von imperium: "... the commercial empire based on trade as exemplified in Carthage ... Today, the multi national enterprise (MNE) wields enormous power, but its motivation is neither
6
Le Curbusier, Aussicht auf eine Architektur (1922), Frankfurt/Main - Berlin 1963, S. 120 u. S. 123.
7
B. H. Warmington, Karthago. 150.
8
Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorf, "Geschichtsschreibung", in: ders., Kleine Schriften, V . l , Göttingen - Berlin 1971, S. 132.
Aufstieg und Untergang einer antiken Weltstadt,
Wiesbaden 1964, S.
Karthago
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the conquest of space nor the conquest of time. ... The MNE continually seeks improved communications, ignores national boundaries". 9 Nicht nur Japan, sondern auch Kanada, der Ort also, von dem aus sich Harold Innis' Empire and communications ganz zweckmäßig schrieb, stehen dafür: "In fact, like the Phoenicians, we live in another empire's military domain." An die Stelle der drei Buchstaben Rom sind die USA getreten. Auch die Vereinigten Staaten haben einmal vom "Karthago-Frieden" gesprochen (1944). Bevor Rom Karthago sein Gesetz aufzwang (Krieg), zwang Karthago Rom das seine auf (Handelsverträge). Nicht als imperium, sondern als network war Karthago in Italien präsent: im etruskischen Hafen Pyrgi, und in Punicum, selbstredend. Denn pures Kapital-Medium war die Kapitale Karthago, zentraler Umschlagplatz für die Waren des westlichen Mittelmeers. Alternativ zu Rom, Karthago als L'autre cap (Jacques Derrida): "A large proportion of Carthaginian commerce comprised a carrier trade: Carthage acted as middleman and helped to distribute the products of more industrial peoples ... She was a great Mediterranean clearing-house." 10 Karthago, ein Medium des Transit-Handels, eine Verkettung von Relaisstationen, Depots und Magazinen. 11 Zeus verführte Europa aus Phönizien. Das ist historischer Klartext, der Klartext aller Historie selbst: Am Anfang (Europas) standen Handel und Alphabetisierung von jenseits. Folgen wir also dem Rückruf Europas: Recall Karthago, mediterrane Vermittlerin. Paul Valéry hat die europäische Kultur durch das Mittelmeer de/finiert, durch seine Navigation, seinen Tauschverkehr: "Ainsi s'est constitué le trésor auquel notre culture doit presque tout, au moins dans ces origines; je puis dire que la Méditerranée a été une véritable machine à fabriquer de la civilisation". 12 "Nous savons bien que toute la terre apparente est faite de cendres, que la cendre signifie quelque chose. Nous apercevions, à travers l'épaisseur de l'histoire, les fantômes d'immenses navires qui furent chargés de richesses et d'esprit." 13 Rom ist auf Karthagos Asche gebaut: Ein anderer Geist als der, den Hegel meinte. Folgen wir Hegel, so war das Medium der Antike ihr Mittelmeer. Für Hegel machte das Mittelmeer als Medium der Kommunikation erst die "Totalität" der Alten Welt aus und bedingte ihren Zusammenhang:
9
"Afterword" zu Harold Innis, Empire and communications 172. Zu Karthago ausdrücklich: S. 177 f.
(1950), Victoria 1986, S. 171-178, hier S.
10 H. H. Scullard, "Carthage and Rome", in: F. W. Walbank (Hrsg.), The Cambridge Ancient (second édition), Bd. 7, Teil 2, Cambridge 1989, S. 511.
History
11 Die karthagische Niederlassung Toscanos in Spanien entdeckte die archäologische Ausgrabung vor allem als Magazin. Vgl. Hans Georg Niemeyer, Das frühe Karthago und die phönizische Expansion im Mittelmeerraum, Göttingen - Zürich 1989, S. 28 f. Im 5. Jh. v. Chr. vollzog zwar die karthagische Wirtschaft einen "qualitativen Sprung" von der rein seehandelsbezogenen Ausrichtung zum Territorialstaat in Nordafrika, doch handelte es sich dabei vielmehr um Latifundien der Aristokratie. 12 Paul Valéry, La liberté de l'esprit,
zit. nach Jacques Derrida, L'autre Cap, Paris 1991, S. 63 f.
13 Paul Valéry, Variété. La crise de l'esprit,
in: ders., Œuvres,
Bd. 1, Paris 1957, S. 988.
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"Das Mittelmeer ist so das Herz der alten Welt, denn es ist das bedingende und belebende derselben. Ohne dasselbe ließe sich die Weltgeschichte nicht vorstellen, sie wäre wie das alte Rom oder Athen ohne das Forum, wo alles zusammenkam."14 Das Mittelmeer als Dispositiv der Antike. 1849 publizierte J. S. Howson sein Traktat The History of the Mediterranem: "We look on the Mediterranean as on a picture within a frame"; historische Geopolitik wird hier als Historiengemälde allegorisiert. "The name of the Roman Empire still lingers as the spirit of a mighty power on the shores which once it possessed" - geisterhaft anwesend bleibt das Vokabular eines längstvergangenen Imperiums. Und was sonst ist imperium als ein Befehlsbereich, eine mediale Reichweite, Regierung. Damit wird jener Raum systemtheoretisch zum autoreferentiellen Subuniversum der Weltgeschichte. "... look at this Map, or rather at this chart: ... the representation ... not of a tract of land with its bordering waters, but of a sea with the coast that are its boundary." Eine veritable historische Morphologie, Historio/graphie als mapping. Agens der Geschichte ist hier das Meer selbst, seine Frequenz; die Marginalität seiner Küsten wird zum Zentrum des Geschehens. Dem entsprechen die Phönizier "establishing new lines of communication"15 - eine den Diskursbegriff im Sinne aller Verkehrstechniken beim Wort nehmende Vernetzung des Raums. "They first communicated to the Greeks the use of alphabetic writing", ansonsten "History had been impossible". Geschichte (hier mit kapitaler Letter angeschrieben) wird so in ihrer Historiographizität ernstgenommen. Seit der Erfindung des Buchdrucks "we contrast ... the age of manuscripts and the age of printed books"; die historische Koinzidenz der geohistorischen Entäußerung Europas 1492 und des Paradigmenwechsels der Aufschreibesysteme (damit auch der Historie selbst) schließt sich kurz zu einer epochalen Zäsur. Die Verlagerung der Seehandelsrouten nach Amerika16 aber bestätigte es nur: Karthago war schon da.17 Das Mittelmeer gibt Howson den musealen Rahmen für ein geographisches Koordinatennetz zur Erfassung sukzessiver Historie: "The Phoenicians ... Greeks ... Romans ... Saracens ... are the parallels of our latitude ... Egyptians ... Etruria ... Carthaginians ... Vandals ... Venetians ... the meridians of our longitude. Within the spaces formed by the intersection of these historic lines ... we may ... make some voyages together." Historiographie als Navigationstechnik. Keine Erzählung, hier nicht. Kulturgeschichte als Textur von Verkehrswesen zu entziffern, heißt Vergangenheit kartographisch zu
14 G. W. F. Hegel, Vorlesungen zur Philosophie (Reclam), S. 135. 15 J. S. Howson, The History of the Mediterranem,
der Geschichte,
hrsg. von F. Brunsäd, Leipzig o. J.
London 1849, S. 26.
16 Diese Verlagerung bedeutete auch den Niedergang Dubrovniks: Siehe Elisabeth Endres, "Kein Ort mehr der Muße und der Erinnerung", in: Süddeutsche Zeitung vom 5./6. Juni 1993. Ferner F. Braudel, M. Aymard u. G. Duby, Die Welt des Mittelmeers, hrsg. v. F. Braudel, Frankfurt/Main 1987. 17 Zum archäologischen Streit um die Echtheit der phönikischen Inschrift von Parahyba in Brasilien und zu Bartolomé de Las Casas' Behauptung, die Indios stammten von den Karthagern ab, siehe Enrico Acquaro, "Karthager in Amerika. Ein Disput des 16. Jahrhunderts", in: Werner Huß (Hrsg.), Karthago, Darmstadt 1992, S. 394-400.
Karthago
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lesen; Reise- und Pilgerwege sind das Gedächtnis der Trassen (Strabd trace). Anstelle von Geschichtsschreibung sorgte sich Karthago um Karten, Reiserouten, Wegsysteme - Karten, deren Wissen das arcanum des Staates blieb.18 Kommen wir diesen Resonanzgeflechten auf die Spur. Ein deutscher Schul-Geschichtsatlas der Nachkriegszeit beschreibt diese Graphien als Allegorien der Historie buchstäblich: "Der vorliegende Atlas will einen Blick in die Geschichte öffnen. Er enthält eine Reihe von Karten. Sie stellen den Raum dar, in dem sich das Leben der Völker abspielte. Es ist nicht ganz leicht die Karten zu verstehen; denn jedes Zeichen ist nur ein Sinnbild einer Wirklichkeit. Ein Strich, ein Punkt, eine Linienführung, ein Bogen, die Farben haben eine besondere Bedeutung".19 Die nicht-narrative Form der Darstellung von Vergangenheit in Form kartographischer networks aber wird dem Diskurs der Historie unterworfen, dem Logozentrismus der abendländischen Geschichtsphilosophie: "Das Ganze wird aneinandergeschlossen durch das Wort. Die Texte weisen in knapper Form auf den geschichtlichen Sachverhalt hin, den die Karten wiedergeben. Sie schlagen die Brücke von einem Zeitraum zum anderen und zeigen leitende Gedanken auf." Das ist Roms Log(ist)ik - mit anderen Worten. Der Logos (Rom, Geschichte) ist Karthago fremd. Das Kapital der europäischen Kultur, sagt Valéry in La Crise de l'esprit, das ist die Sprache des Gedächtnisses (Speicherung, Archiv, Dokumentation, Akkumulation), welche die Sprache der Ökonomie mit der techno-wissenschaftlichen Sprache des Kriegswesens kreuzt. Hier hört Karthago nicht auf sich fortzuschreiben; Herman Melville beschreibt den New Yorker Anwaltsschreiber und Kanzleikopisten Bartleby angesichts der sonntäglichen Verlassenheit von Wall Street nicht in beliebigen Metaphern, sondern als "a sort of innocent and transformed Marius brooding among the ruins of Carthage!"20 Und ähnlich präzise: "On a Sunday, Wall Street is deserted as Petra".21 Nicht für Karthago gilt die Mobilisierung des Gedächtnis/Kapitals im Namen von Geschichte, Geschick, Destination. Destination für Karthago war das Ziel einer Reise
18 Geschichte als mapping: Hier weniger im Sinne von Svetlana Alpers, The art of describing. Dutch Art in the Seventeenth Century, Chicago 1983; vielmehr nach Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Rhizom, Berlin 1977. 19 Einleitung zur "kleinen Ausgabe" von Die Welt im Spiegel der Geschichte
(Böhme/Deuerlein).
20 Herman Melville, "Bartleby the Scrivener. A Story of Wall-Street" (1853), hier nach der Reclam-Ausgabe Stuttgart 1985, S. 33. Dank an Bernhard Siegert für diesen Hinweis. Bartlebys Formel "I would prefer not to" gilt auch für Karthagos Weigerung 149 v. Chr., Roms Forderung nach unconditional surrender Folge zu leisten. Die Folgen sind analog. 21 Ebd., Anm. 10: "Ruinenstätte und Felsenburg im südlichen Jordanien. Alte Hauptstadt des Nabatäerreiches; im Altertum wichtiger Handelsknotenpunkt; in spätantiker Zeit wegen Umlenkung der Haupthandelswege völlig verlassen; 1812 freigelegt." "Pétrifié" verbleibt auch Bartleby: Siehe Gilles Deleuze, "Bartleby, ou la formule", Nachwort zur frz. Ausgabe von Melvilles Erzählung, Paris 1989, S. 171-203, hier: S. 183.
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zum Zweck des Warentauschs. Ethik der Gabe.22 Für Karthago war das "es gibt" Martin Heideggers keine philosophische Frage, sondern ökonomische Praxis. Derrida hat die Unmöglichkeit der Gabe, d.h. die Gabe als Aufschub, als unmögliche Gegenwart, als différence gedacht.23 Dieses Problem hatte Karthago nicht. Der Gesetzeskraft des römischen Handelns, des "es gibt", setzt Karthago den von Marcel Mauss und George Bataille beschriebenen Handel, den potlatch entgegen, den verausgabenden Gabentausch, die Doppeldeutigkeit von Schenken und Schädigen. Die Gabe hat eine ökonomische Struktur; Herodot hat sie für den Bereich Marokkos beschrieben: "Die Karthager ... laden ... ihre Güter aus und ordnen sie auf dem Strande. Dann kehren sie an Bord ihrer Schiffe zurück und geben ein Rauchzeichen. Wenn die Eingeborenen den Rauch erblicken, kommen sie ans Meer herunter, legen für die Waren eine bestimmte Menge Gold auf den Strand und ziehen sich sodann zurück. Die Karthager gehen wieder an Land und besichtigen das Gold, das man zurückgelassen hat. Wenn sie meinen, daß es dem Wert der Güter entspricht, nehmen sie es mit und segeln davon, wenn nicht, gehen sie abermals an Bord und warten, bis die Eingeborenen genug Gold hinzugetan haben ... Keine Seite sucht die andere zu übervorteilen."24 Der andere Aspekt von karthagischer Gaben-Ethik ist jener "Moloch", der nicht der Name für den kinderverschlingenden Gott, sondern das Wort für "Darbietung, Opfer" ist (vielleicht das Partizip einer Stammform vom Verb hlk, also "gehen lassen"). Wie etwa nach der Niederlage gegen Agathokles von Syrakus 310 v. Chr. das Massenopfer von Kindern aus vornehmen Familien: Gaben- und Tauschökonomie auch in der Religion.25 Nicht, daß Karthago definitiv nicht über Institutionen verfügt hätte. Nicht die Alterität der karthagischen Staatsverfassung überrascht, sondern ihre Analogie zu derjenigen Roms: Viele von Rom vertraute Bausteine finden sich in Karthago. Anders aber ist ihre Konfiguration. An der Spitze der Exekutive zwei oberste Vollzugsbeamte, die Sufeten, rechtsprechend und in jährlichem Wechsel, gleich Konsuln; eine beratende Körperschaft aus Ältesten und Aristokraten, ähnlich dem römischen Senat; eine Bürgerversammlung. Diese Analogiebildung aber ist weniger eine der Historie denn der Historiographie. Was uns Karthagos Institutionen überliefert, sind die Schriften Griechenlands und Roms: Bemerkungen in Aristoteles' Politik und bei Polybios. Die Homologie ist eine semantische; erkennbar war für die Perspektive abendländischer Autoren nur das, was aus dem eigenen Staatswesen bereits bekannt war. Übertragungsprobleme: "Étrangers eux-mêmes auc traditions phéniciennes et puniques ainsi qu'à l'histoire de la cité, ils ont eu recours aux termes de leur propre langue pour désigner des institutions pourtant spécifiques et qui ne pouvaient s'identifier à celles des mondes grec
22 Michael Wetzel u. Jean-Michel Rabate (Hrsg.), Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida, 1993. Siehe hier vor allem den Beitrag Ulla Haselsteins, "Die Gabe der Wilden". 23 Michael Wetzel, "Vorwort", ebd., S. vi. 24 Herodot, Historien,
Buch 4, Paragraph 196.
25 Dazu Hans P. Roschinski, "Die punischen Inschriften", in: Huß (Hrsg.), Karthago, 26 Aristoteles, Politik, Buch II, Kapitel 11, 1272b-1273b.
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ou romain. Ce problème d'inadéquation dans les transpositions - qui se présentent comme des 'traductions' - ne contribue évidemment pas à éclaircir les divers aspects de l'organisation politique punique". 27 Nicht nur, daß diese Form der Ubersetzung Differenzen eliminierte. Karthago läßt sich möglicherweise nicht einmal in der Sprache von Verfassungsbegriffen greifen. Karthago war nicht Staat, sondern Firma, und seine Identität keine nationale, sondern eine corporate identity. Vielleicht ist das Staatswesen Karthagos daher das gewesen, was sich dem institutionsfixierten und -fixierenden Willen der Historiographie entzieht: "... il paraîtrait parfaitement arbitraire de prétendre donner une synthèse de cette organisation, comme s'il y avait eu une 'Constitution' carthaginoise qui ... serait demeurée inchangée." 28 Das imperium M/macht die Differenz in jener Zeit, als auch das römische imperium noch kein Territorium, sondern Reichweiten von Befehlsgewalt bezeichnete: Im Unterschied zu Rom verfügten die karthagischen Sufeten über keinerlei militärische Vollmachten. Das römische Staatswe(i)sen bestand aus Krieg und Recht; "in empires such as that of Rome, economic interests though always significant, were secondary to political and military interests." 29 N. Purcell wies daraufhin, daß Roms politische Geographie zunächst linear und nicht räumlich verfaßt war, "... with the ... imperium being essentially seen as the power held by particular magistrates and pro-magistrates, since in geographical terms this would appear as a network of lines of movement of imperium-holders, spreading out of Rome." 30 Das networking verband die Struktur des römischen und karthagischen Reiches; die Differenz liegt in der militärisch stabilisierten Staatsautorität im Unterschied zur Macht, die auf Kommerz beruht. 31 Militärisch bedeutet dies: prinzipiell keine Bürger-, sondern
27 François Décret, Carthage ou l'empire de la mer, Paris 1977, S. 71. 28 Ebd. Karthago als Institution läßt sich schon deshalb nicht synthetisieren, weil die Fragmentarität bereits auf der Ebene von Nachrichten liegt: "Aristoteles' Studie ist verlorengegangen, genauso wie die eines anderen griechischen Schriftstellers namens Hippagoras, von der wir nicht einmal wissen, wann sie entstanden ist." (Warmington, Karthago, S. 143) Informationspartikel finden sich bei Herodot, Justin und Polybios. Also auf Seiten Roms: Historie (das Ereignis, der Wandel); auf Seiten Karthagos verbleibt allein der archäologische Zugang, mit dem Aristoteles' strukturale Projektion einer über die Zeiten hinweg statischen Verfassung Karthagos korrespondiert (die in der Tat erst im Anschluß an die Kriege mit Rom signifikant mutierte). 29 J. S. Richardson, "Imperium Romanum. Empire and the Language of Power", in: Journal of Roman Studies Jg. 81 (1991), S. 1-9, hier: S. 4. Erst nach dem Fall Karthagos, mit der späten römischen Republik, nimmt imperium seine territoriale Bedeutung an. Nicht der Historiker-Philologe, sondern der Datenverarbeiter als Wissensarchäologe weiß dies festzustellen: "For this purpose, a data-base was constructed containing the passages listed in the Thesaurus Linguae Latinae, VII.I, 578-81 s.v. 'imperium' IIIA ('metonymice, ad quod potestas pertinet') ..." (Ebd., Anm. 41) 30 Ebd., Anm. 69, unter Bezug auf Purcell, in: Journal of Roman Studies Jg. 80 (1990), S. 178-182. 31 Die punische Präsenz auf Sardinien bestand allerdings auch in militärischen Vorposten zur Verteidigung der wichtigsten Handelslinien; das karthagische Reich basierte nicht nur auf kommerzieller, "sondern auch auf einer sehr stabilen territorialen und militärischen Grundlage" (Sabatino Moscati, "Die phoinikische Expansion im westlichen Mittelmeerraum", in: Huß [Hrsg.], Karthago, S. 11-25, hier:
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Söldnerheere unter dem Kommando gesondert ernannter Feldherrn, die nach einem militärischen Mißerfolg häufig gekreuzigt wurden, als hätten sie einen Vertragsbruch begangen. Sandro Filippo Bondi hat den Versuch unternommen, die phönikische Handelstätigkeit in einem funktionalen Verhältnis zur phönikischen Gesellschaft, ihrer inneren Struktur und den Formen ihrer politischen Organisation zu sehen.32 Also den Konnex von Übertragung und Gesetz. Anstelle staatlicher Unternehmungen mehr und mehr die Aktionen der kaufmännischen Oligarchie; von daher die Verwaltungsstruktur in den westlichen Kolonien, die tatäschlich keinerlei Anzeichen für ein monarchisches Element erkennen läßt. Karthago, against Romacentrism: Das heißt auch networking gegen Zentraladresse. Die punischen Zentren im westlichen Mittelmeerraum waren nicht unbedingt von strategischen Überlegungen Karthagos abhängig und waren nicht unbedingt ihrer direkten Aufsicht unterworfen: "Der Hauptstadt war zweifellos eine koordinierende Funktion und das Recht auf Steuererhebung vorbehalten, die Richtlinien der Wirtschaftspolitik dürften indessen ... im wesentlichen durch die Behörden in den einzelnen Zentren festgelegt worden sein."33 Karthagos staatliche Vorrechte lagen vielmehr in der Durchführung von Expeditionen zur Öffnung neuer Rohstoffmärkte für den punischen Handel;34 in der Verwaltung und Ausbeutung der Minen; in der Planung wirtschaftlicher Aktivitäten in den neuerworbenen Gebieten und schließlich in einer begrenzten Einflußnahme auf den Ackerbau in den Gebieten der Hauptstadt und den Kolonien. Das Geheimnis des karthagischen Erfolges, so Aristoteles, lag in der Verflechtung von Staat und merkantiler Führungsschicht. Keine politische Opposition, daher ökonomische Stabilität; bei relativer Autonomie in der Heterotopic wirtschaftlicher Zentren in Konformität mit Karthagos Wirtschaftspolitik bestand wenig Anlaß zu staatlichen Aktivitäten (Bondi). Erschüttert haben dieses Equilibrium erst die Barkiden unter hellenistischem Einfluß. Karthago, against Romacentrism: Das heißt auch Archäologie anstelle von Historie: "Dido' was a theme allotted to me when a schoolboy; the result was that I felt a deep interest in the fate of that unfortunate lady. Years rolled on, and youthful dreams had to give way to the stern reality of life. Dido and Aeneas, Juno and Venus, and the whole host concerned in the tragedy, described in the majestic verse of Virgil, had almost vanished from my memory, when events it is needless here to particularise brought me to the very stage where that tragedy was encacted. Never shall I forget the enthusiasm with which I, for the first time, visited the site where once stood the famous S. 24). 32 Sandro Filippo Bondi, "Anmerkungen zur phoinikischen Wirtschaft. Private Unternehmertätigkeit und die Rolle des Staates", in: Huß (Hrsg.), Karthago, S. 304-320. 33 Ebd., S. 314. 34 Etwa die Fahrt Hannos um 425 an die afrikanische Atlantikküste; Himilco trassierte Mitte des 5. Jh. v. Chr. die Zinn-Route an die Küsten der britannischen Inseln.
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city of Carthage", schrieb der Archäologe Nathan Davis 1861.35 Doch die Resurrektionsmetapher Karthago "ist als Gegenstand des historischen Romans unmöglich, weil unser Wissen auf eine überaus karge Überlieferung und archäologische Reste beschränkt ist."36 Schauplatz der Antike war folglich das Theater der historischen Imagination; im zitierten Beispiel war ganz konkret der Ort archäologischer Authentizität nichts als die Verwirklichung jener Schau-Plätze, welche sich zwischen den Zeilen gelesener Klassikertexte längst halluzinatorisch eingestellt hatten. Ein solches Geschichtsverständnis vergegenwärtigt Vergangenheiten, die so nie Gegenwart waren: Geistertanz des Historismus. Foucault würde von einem "Bibliotheksphänomen" sprechen, von Fantomen: Recall Byblos.37 Der phönizischen Kultur verdankt sich das Alphabet nicht aus Liebe zur Literatur, sondern aus Kalkül (an die Stelle des Alphabets tritt heute der Algorithmus). Genau das ist es, womit die Geisteswissenschaften nicht rechnen. Auf Seiten Karthagos steht die Archäologie, steht die Registratur, der Handel. Das, was sich nicht als Rom(an), nicht als Historie schreiben will: "We take notes, we make journeys: emptiness! emptiness!", protestiert Flaubert; "Without what he called spirit and style, the mind could 'get lost in archaeology' ... by which the exotic and the stränge would get formulated into lexicons, codes". 38 "Die Punische Literatur" ist überhaupt nur in Form von Expeditionsberichten und Landwirtschaftsbüchern erhalten; also funktionale Artefakte, an denen "die Modernität des Stiles" auffällt. Sachlichkeit und Beschreibung. 39 Anthropologisch steht ihre Rede jenseits des Humanismus: Am Ende der afrikanischen Expedition trifft die Flotille des Sufeten Hanno auf eine Bucht, die man Südhorn nannte (Kamerun?): "... mit lauter wilden Menschen. ... Ihr Körper war mit Haaren bewachsen, und die lixitischen Dolmetscher nannten sie Gorillas. ... Doch gelang es uns, drei Weibchen gefangenzunehmen. Sie bissen und zerkratzten diejenigen, die sie fortführen wollten, und mochten ihnen nicht folgen. Wir töteten sie und zogen ihnen die Felle ab, die wir nach Karthago mitnahmen. Denn wir segelten nicht mehr weiter, die Vorräte waren ausgegangen. "40 Der punische Text dieses von Strabon ins Griechische übertragenen Reiseberichts wurde im Baal-Tempel von Karthago eingraviert. Nicht Literatur: sondern eine Beschreibung, die das Reale nicht verrät, auf dem sie beruht. Denn das Reale ist das
35 Nathan Davis, Carthage and its remains, Einleitung von Kapitel 2 "The Moslem Antiquarian". 36 Helmut Pfeiffer, "Die andere Antike. Esoterik und Illusion in Flauberts 'Salammbo'", in: W. Schuller (Hrsg.), Antike in der Moderne, Konstanz 1985, S. 228. 37 Recall Byblos. Die Kunst der Mitteilung, März - 6. Juni 1993. 38 Edward Said, Orientalism,
Ausstellung im Ludwig-Forum für Internationale Kunst, 25.
London 1978, S. 188 f.
39 Maurice Snycer, "Die Punische Literatur", in: Huß (Hrsg.), Karthago, 40 Zit. nach Snycer, ebd., S. 337.
S. 321-340, hier: S. 337.
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Unsagbare, "... car les Carthaginois, comme les Phéniciens, étaient un peuple secret qui n'aimait pas qu'on puisse emprunter ses sillages." 41 Kielwasser und Spurentsicherung gehen hier unmetaphorisch Hand in Hand. Karthago, die verwischte Spur, verwischte Spuren. Schrift des merkantilen Diskurses: "Eliminons les critiques les plus récentes de ceux qui prétendent que le voyage de Hannon est purement imaginaire, pour ne retenir que les 'remises en ordre' des escales selon la logique géographique ou les nécessités maritimes car les tables les ont données 'dans le désordre' pour brouiller les cartes et empêcher les concurrents d'aller reconnaître la route découverte. ... l'absence de vestiges archéologiques gene ou empeche des localisations précises." 42 Mit Karthago ging auch das Wissen um Afrika verloren, jenes Afrika, das Hegel nicht von ungefähr geschichtslos nannte: "Rome ne sut pas remplacer Carthage qu'elle détruisit par le feu et par le fer en 146 avant notre ère. Elle n'eut de l'Afrique qu'une connaissance limitée au 'limes', cette bande de terre parallèle au rivage méditerranéen dont la profondeur ira en s'étrécissant." 43 Die Fiktion des Reiseberichts als Medium der Spurenverwischung hat Teil am Gesetz Karthagos, dem des Tausches. Jacques Derrida hat es in seiner Dekonstruktion von Charles Baudelaires "La fausse monnaie" 44 gesagt: Eine Geschichte vom Falschgeld hat als Fiktion bereits Anteil am Inhalt ihrer Erzählung. 45 Masken, wie sie uns aus den Gräbern Karthagos entgegenstarren. Der Zweck dieser Masken ist unbekannt, vielleicht apotropäisch. Nicht nur Handelsrouten, auch das religiöse Leben hat Karthago hermetisiert: "... kaum etwas erfahren wir von dem geistigen und seelischen Leben, das in solchem Glauben gipfelt. Keine Literatur, keine Kunst von Bedeutung redet noch zu uns. Es ist, als läge vor dem karthagischen Gesicht gleichsam eine Maske, wie es denn der Zufall will, daß die einzigen künstlerischen Zeugnisse eigentlich punischer Art einige seltsam bizarre Masken darstellen, deren verblüffende Lebendigkeit und groteske Verzerrtheit kaum irgendwie deutbar erscheint." 46 Jenseits der Hermeneutik 47 : Hermetik. Was sonst sagt das den Karthagern nahe, etruskischepersona als Vortäuschung, Projektion, Verkleidung im antiken Theaterspiel. Die metonymische Bedeutungsverschiebung Roms zur Bezeichnung des Maskierten 41 Ferdinand Lallemand, Journal de Bord de Hannon le Carthaginois, Decret, Carthage, S. 121.
Paris 1973, S. 12; vgl. auch
42 Lallemand, Journal de Bord, S. 12 f. 43 Ebd., "Préface", S. 8. 44 Charles Baudelaire, Le spleen de Paris - Petits poèmes en prose, v. C. Pichois, Bd. 1, Paris 1975.
in: ders., Œuvres complètes,
hrsg.
45 Jacques Derrida, "Wenn es Gabe gibt - oder: 'Das falsche Geldstück'", in: Wetzel u. Rabaté (Hrsg.), Ethik der Gabe, S. 93-136, hier: S. 105. 46 Victor Ehrenberg, Karthago.
Ein Versuch weltgeschichtlicher
Einordnung,
Leipzig 1928, S. 20.
47 Karthago als Ort der hermeneutischen Heterogenität stellt Flaubert anhand der (vergeblichen) Verständigung seiner Heerführer mit den Söldnern dar: dazu Pfeiffer, "Die andere Antike", S. 238 ff.
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selbst macht sinnfällig, daß hinter den punischen Masken nicht die karthagische Persönlichkeit zu suchen ist. Sie selbst ist die Maske, das Interface. Keine karthagische Literatur, sondern Schrift als das effektivste Instrument zu Empfang, Übermittlung und Speicherung von Nachrichten und Daten, den Handel betreffend. Commerce. Merkur. Die Hermeneutik Karthagos zielt nicht auf Sinn, sondern auf Gewinn. Hermetisch sperrte es seinen Einflußbereich: Von Nordafrika, Malta, Sizilien und Sardinien "senkt Karthago sozusagen einen eisernen Vorhang über das zentrale Mittelmeer" (Sabatino Moscati) und verschafft sich durch diese Handelssperre die lückenlose Kontrolle jenseits dieser Zone bis hin zu den florierenden iberischen Kolonien. "Aus dem phoinikischen und punischen Bereich besitzen wir zwar Tausende von Inschriften, doch handelt es sich dabei größtenteils um kurze Votiv- und Grabwidmungen, welche bis zum Überdruß die Namen der Götter und der Weihenden wiederholen, während sie ... im wesentlichen nichts über die Geschichte aussagen. ... Angesichts dieses lückenhaften und indirekten Quellenmaterials bleibt als einziger Ausweg die Archäologie." 48 "Abgesehen vom Namen des Weihenden stets gleich: 'Der Herrin Tanit, Baals Antlitzt, und dem Herrn Baal Hammon weiht dieses Baalhanno, der Sohn Hamilkars'. Vielfach wird - mit geringen Variationen - hinzugefügt: 'weil sie seinen Ruf gehört und ihn gesegnet haben' oder 'weil sie ihn hören mögen', also Dank oder Bitte." 49 Widmungsinschriften, Gedenkinschriften, Opfervorschriften, Opfertarife (keine Erzählung: Zahlen. Das calcul Karthagos): Dies ist ihr Gedächtnis. Nicht in Form von Geschichte ist Karthago zu fassen, sondern in Form des Corpus Inscriptionum Semiticarum (seit 1887). Den Löwenanteil bilden die Weihinschriften: "Es handelt sich um kurze, ein für allemal festgelegte heilige Formeln ... Diese Texte mögen dem Historiker oder dem Laien eintönig vorkommen, nicht aber dem Epigraphiker. ... Eigentlich liegt der ganze Wert dieser kurzen Inschriften in eben dieser Vielfalt, die viel größer ist, als man gewöhnlich meint. ... Wenn man sie übrigens systematisch auswertete (was bisher noch nicht der Fall war), kämen gewiß eine Menge wichtiger Auskünfte über das religiöse, wirtschaftliche, soziale und selbst politische Leben Karthagos zutage." 50 Serien bilden, also Tableaus von Tableaus (Michel Foucault): Serial history. Am Ende hängt alles davon ab, was "Literatur" definiert. Ezra Pound: "Literatur ist Nachricht, die Nachricht bleibt." Als Information / Daten gelesen, hat das scheinbar literaturlose (verlorene) Karthago uns Literatur hinterlassen: "In der Tat bilden die tausenderlei aufgefundenen Inschriften, trotz einer gewissen Einförmigkeit und Nüchternheit, eine kostbare Auskunftsquelle, deren Wert als unmittelbare Zeugnisse nicht zu ersetzen ist." 51
48 Moscati, "Die phoinikische Expansion", S. 11. 49 Ehrenberg, Karthago, S. 48. 50 Snycer, "Die puniscile Literatur", S. 330 f. 51 Ebd., S. 322.
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Information also, keine Geschichten. Dem entspricht die Organisation des philologischen Wissens um Karthago, also der narrativen Bruchstücke antiker Autoren, als Korpus: "... il numero, la frammentarietà e l'estrema dispersione dei dati hanno spesso sensibilmente condizionato una loro organica utilizzazione. L'assenza di un corpus di fonti cui fare riferimento ha indotto cisì a privilegiare in molti casi le informatzioni più ampie e conosciute ... e quindi ... a trascurare una miriade di dati, non meno importanti ai fini di una pi'?u completa calutazione storico-culturale, contenuti sopratutto in frammenti, scolii e glosse."52 Nicht nur als Staat, auch als Überlieferung ist Karthago deterritorialisiert, Verschiffung, "c'est l'OUTLANDISH". 53 Dieses unmonumentale Imperium zu fassen, bedarf es einer anderen Sprache. Keine narrative Geschichtsschreibung, sondern Stadt-Chroniken verzeichneten die Historie Karthagos. Der Vergil-Kommentator Servius Honoratus spricht im 4. Jh. von einer Punica historia; gehandelt hat es sich wohl um eine ganze Reihe von als Jahrbücher gestalteter Schriften. "Außerdem wissen wir, daß die Karthager besondere Ereignisse gewöhnlich auf große, meist innerhalb der Tempel befindlichen Denksteine eintrugen.1,54 Plutarch weiß von heiligen Schriften, die in Tempeln nur Eingeweihten zugänglich waren (Institution, Wissen, arcanum); beim Untergang Karthagos wurden sie wahrscheinlich anarchäologisch vergraben. Karthago hat nicht nur umfangreiche Bibliotheken zusammengetragen, sondern wahrscheinlich auch zum Zeitpunkt seiner Gründung aus Phönizien mitgebracht: heilige Schriften, mythologische Erzählungen, Rituale und Gesetze. Hier wird das Gesetz eine unmittelbare Funktion der Übertragung. Archäologie ist nicht die Lehre von den Anfangen; deshalb die Differenz des materiellen Befunds zur antiken Überlieferung der Gründungsdaten phönikischer Kolonien: "... von dem Augenblick an, in dem sich die ersten Siedler an einem Ort niederlassen, können Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte, vergehen, bis dauherhafte, archäologisch faßbare Zeugnisse entstehen".55 Sei die Rede Karthagos also archäologisch, nicht historisch. Eine andere Form der Übertragung, ein anderes Gesetz, das sich der Institution der Geschichtswissenschaft (also "Rom") entzieht. Die Kontinuität karthagischer Siedlungsplätze ist keine historische, sondern eine strategische. In ihren Spuren die Römer, die Vandalen, Byzanz, die Normannen, die Sarazenen und Briten. Der archäologische Befund der punischen Niederlassung auf der Insel San Pantaleo, (das antike Motye) gegenüber von Marsala, sagt, worum es nicht ging: 52 Federico Mazza, Sergio Ribichini u. Paolo Xella (Hrsg.), Fonti classiche per la civiltà fenica e punica, Bd. 1, Rom 1988, "Introduzione", S. 7. 53 Deleuze, "Bartleby", S. 177. 54 Snycer, "Die punische Literatur", S. 324. 55 Moscati, "Die phoinikische Expansion", S. 17.
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"Die Homogenität und innere Geschlossenheit, mit der diese Kultur sich präsentiert, läßt nichts von der doch unmittelbar benachbarten und blühenden griechischen Welt auf Sizilien verspüren. Die beiden Kulturen stehen nebeneinander, ohne miteinander zu verschmelzen, ja sogar ohne sich - wenigstens hier, am direkten Berührungspunkt - zu beeinflussen." 56 Rom ist Eigenname, Karthago nicht. 57 Quart Hadascht, das heißt schlicht Neue Stadt, Neustadt: Tochter von Tyros, selbst aber Mutter einer anderen Neuen Stadt, Carthagena in Spanien. Karthago, Teil einer Verkettung, nicht Zentrum, against Romacentrism. Dementsprechend wäre Karthago nicht als Geschichte metonymisierbar wie Rom, sondern vielmehr als Kette, als Serie, als informatisierte Archäologie. Dennoch blieb der Name Karthagos unauslöschlich gegenüber allen römischen Versuchen, die Siedlung umzubenennen. 58 Es gibt etwas, das bleibt, wenn es nur noch Speicher, keine Geschichte mehr gibt: "Magni stat nominis umbra", Vergessen findet nicht statt, solange Namen sagbar bleiben. Das hat in Rom jemand gesagt, der vom Imperator Nero in den Selbstmord getrieben wurde, M. A. Lukian, der Gegenspieler Vergils. 59 Tatsächlich hat sich Karthago auf Geheiß Cäsars wieder aufgebaut, als größte Stadt des westlichen Mittelmeers neben Rom selbst. Es ist die Logistik der Getreideversorgung, die das bestimmt hat. Solche networks sind Karthago, unauslöschlich. Tritt nicht an die Stelle der Institution die Infrastruktur, das, was sich der Erkenntnis entzieht, weil es nicht mehr benennbar ist? Stattdessen nehmen Gesellschaften heute die Form kybernetischer Maschinen an, d.h. sie funktionieren netzartig, mittels unaufhörlicher Kommunikation. Ultrarapide Formen der Kontrolle ersetzen die Institutionen geschlossener Systeme. Von nun an kann auch nicht mehr im Namen einer Autorität gesprochen werden, denn an die Stelle der Namen tritt die Zahl, die numerische Kontrollsprache. Aus jener Erzählung Geschichte, die Nietzsche als Summe aller Namen (Roms) identifizierte, wird Computation. 60 Karthagos Kalkül.
56 Moscati, "Die phoinikische Expansion", S. 22. 57 Siehe Saul Kripke, Naming and Necessity, S. 304 f.
Oxford 1980, zit. nach Wetzel u. Rabate (Hrsg.), Ethik,
58 Ehrenberg, "Karthago", S. 41. 59 Siehe Walter Rehm, Der Untergang Roms. Ein Beitrag zur Geschichtsschreibung und zum Dekadenzproblem, Leipzig 1930. Derselbe Lukian hat in seinem Bellum Civile (Phars. 9, Verse 964-969) Rom im Namen Trojas gespiegelt, von dem es die Aeneis herschreibt, und dabei am Rande von Cäsars Visitation der Ruinen Trojas die Möglichkeit des völligen Verschwindens Roms angedacht: "Circumit exustae nomen memorabile Troiae ... etiam perire ruinae" - wenn nicht einmal die Spur mehr bleibt (zit. nach Liana Cellerino, "Or tutto intorna una ruina involve. Rovina e sublime morale nel settecento", in: Vincenzo de Caprio [Hrsg.], Poesia e Poetica delle Rovine. Momenti e Problemi, Rom 1987, S. 95-111, hier: S. 111.). Auch Rom war Neue Stadt, die Neustadt Trojas. Scipio hat sich daran erinnert, als er angesichts des brennenden Karthagos um Rom weinte. 60 Siehe Effi Böhle (Rez.), zu: Gilles Deleuze, Foucault, Paris 1986, und ders., "Pourparlers", Paris 1990, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 39. Jg. Heft 4 (1991), S. 456-459. Der Aufruf dieser Datei sagt es: "Übertragen - Laden - Gesetz".
Ulrike Dünkelsbühler
Institution und Differenz. Die Politik mit dem "Jüdischen"*
1. "Übertragung und Gesetz", "Wahrheit und Institution" Die syntaxtechnische Parallelverschaltung des Titelthemas "Übertragung und Gesetz" mit der Unter-Überschrift "Wahrheit und Institution" - Arbeitstitel des ersten Workshops - löst ihre Symmetrie nicht ein, sondern macht sie zu einer gelungenen Provokation. Mag die Korrespondenz zwischen "Gesetz" und "Institution" noch eingängig erscheinen, und sei es nur insofern, als jede Institution de jure, also im Rahmen einer sie gründenden, autorisierenden und legitimierenden Gesetzmäßigkeit besteht. Weniger eingängig ist die Korrespondenz zwischen "Übertragung" und "Wahrheit". Hier ist ein Bogen gespannt, der selbst schon eine diffizile Übertragung zwischen "Übertragung" und "Wahrheit" ins Spiel bringt. Diffizil deshalb, weil noch die engste Korrespondenz zwischen diesen beiden Begriffen ein strukturelles Problem aufgibt. Und zwar insofern, als Wahrheit sich getreu metaphysischer Sinngebung als Status im strengsten Sinn versteht, als letztlich statischer Fixpunkt, wohingegen Übertragung nur in Begriffen von Bewegung gedacht werden kann. Das Problem ist weniger eines der Opposition zwischen Stillstand und Bewegung, als vielmehr das einer Rhythmik, gemäß der Übertragung und Wahrheit in Beziehung stehen. Um die produktiven Brüche einer solchen Rhythmik wird es im Zusammenhang mit einem Lektürebeispiel zu Pierre Legendres "Die Juden interpretieren verrückt" 1 gehen. So kann Übertragung als Weg, als Methode, als Prozeß - mithin als Prozeß der Übersetzung - verstanden werden, mithilfe dessen sich einer Wahrheit zu nähern wäre, was Übertragung bereits partizipieren läßt an der Wahrheit (der Übertragung). Die begriffliche Verschaltung, die Juxtaposition der beiden Begriffe "Wahrheit" und "Institution" ist nicht minder provokant zu hören. Diese Provokation lädt dazu ein, dem "und" zwischen Wahrheit und Institution die Stirn zu bieten, indem das implizit
*
Mein besonderer Dank gilt Katharina Stricker, deren genaue Lektüren (nicht nur) diesen Text ermöglicht haben.
1
Pierre Legendre, "'Die Juden interpretieren verrückt'. Gutachten zu einem klassischen Text", aus dem Französischen übersetzt v. Anton Schütz, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalayse und ihre Anwendungen Nr. 43 (1989), S. 20-39; Orig.: "Les juifs se livrent à des interprétations insensées. Expertise d'un texte", conférence au Colloque de Montpellier à propos de la question "La psychanalyse est-elle une histoire juive?", in: Adélie Rassial u. Jean-Jacques Rassial (Hrsg.), La psychanalyse est-elle une histoire juive?, Paris 1981, S. 93-113.
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Ulrike Dünkelsbühier
apodiktische Ausrufezeichen nach "Wahrheit und Institution" in ein Fragezeichen umgemünzt wird. Zum einen stellt die provokante Koppelung "Wahrheit und Institution" zur Debatte, was immer schon als vor- und angeblich Gewußtes auftritt, daß nämlich der Wahrheit als priviligierter Ort die Institution zugeschrieben ist. So gilt die Institution als Wahrheitsträger und erhält über diese Übertragung/Zuschreibung allererst den Status, den inhärenten Stellenwert, der die Institution zur Institution macht. Wahrheit, per se nie manifest, konstituiert sich immer nur im Zuge einer Übertragung: vermittelt, dargestellt und übersetzt als Gesetz, das sich als ihr Medium setzt. Das Gesetz, in dessen Namen sich die Institution in den Namen der Wahrheit einschreibt, ist das Gesetz der Vernunft. Das Gesetz der Vernunft überträgt jeder Institution die Macht und die Kraft, im Namen der Wahrheit der Vernunft zu sprechen - und zu urteilen. Übersetzt als Vernunft, instituiert die Wahrheit die Institution. Aber zur Debatte steht auch, was qua Umkehrlogik unter den Verdacht eines tautologischen Kurzschlusses gerät: daß nämlich - auch umgekehrt - die Institution der Wahrheit einen Platz, einen Ort und einen Status verleiht, der sie autorisiert und legitimiert, kurz: der sie konstituiert. Und damit die Fragen nach ihren Übertragungsmechanismen 2 erledigt. Und damit ineins die Frage der Institution. Die Institution als der Ort, der der Wahrheit das Recht gibt, Wahrheit zu sein, der ihr ein Daseinsrecht, einen Grund, und das heißt einen vernunftmäßigen (begründeten) Grund zum Sein gibt: eine raison d'être. So räumt die Institution ineins dem Recht die Wahrheit ein, sie (recht-)fertigt. Das Recht der Institution, Wahrheit und Recht zu fertigen, schließt sich kurz mit der Institution des Rechts, was Thema endloser juristischer Legitimationsdebatten um die Gründung der ersten Universitäten im 12. und 13. Jahrhundert war. 3 Der Institution den Platz, den Ort und Status einer gewissen Verwahrung von Wahrheit zuzuweisen, wiederholt jedoch bereits den blinden Fleck des Legitimationsdrucks, dessen Blick sie zum hermetisch zirkulären Container erstarren läßt und den Winkel für eben die Übertragungen, Kanäle und Schaltungen verschließt, topologisch wie temporal. Oder anders gesagt: sie fällt der Dyade eines institutionellen Rahmens Innen versus Außen - anheim und vergißt so die Mechanismen ihrer eigenen Operation.
2
Die Techniken solcher Übertragungsmechanismen historisch und diskurstheoretisch zu beleuchten hat sich der Arbeitskreis "Übertragung und Gesetz" für den ersten Workshop unter dem Arbeitstitel "Wahrheit und Institution" zur Aufgabe gestellt. In diesen Kontext schreibt sich ein, worum es mir hier und im folgenden geht: wenn Wahrheit und Institution in einem konstitutiven Übertragungsverhältnis stehen und das Gesetz der Vernunft als eine, wenn nicht die wesentliche Schaltstelle operiert, dann ist nach den textuell verfahrenden und politisch eminent wirksamen Voraussetzungen und Effekten zu fragen, die sich auftun, wenn sich bestimmte Abweichungen von bzw. Differenzen zu diesem Status der Vernunft als institutionellem Operator notwendig einstellen.
3
"Hauriou kritisiert den Objektivismus der herrschenden Rechtstheorien, weil sie die 'schöpferische Leistung', die im Recht steckt, nicht erklären können: 'ob nämlich die Rechtsnormen die Institutionen geschaffen haben oder ob es nicht vielmehr gerade die Institutionen sind, die dank der ihnen eigenen Führungsmacht die Rechtsnormen schaffen'." (Maurice Hauriou, Theorie der Institution und der Gründung, Berlin 1925/1965, S. 32; zit. nach: Johann August Schülein, Theorie der Institution. Eine dogmengeschichtliche und konzeptionelle Analyse, Opladen 1987, S. 82)
Institution und Differenz
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So bliebe es dann bei einer Tautologie, die Institution und Wahrheit insofern konstituiert, als sie besagt, daß Wahrheit ist, weil Wahrheit institutiert ist. Wahrheit und Institution autorisieren und legitimieren sich demnach gegenseitig und in konstitutiver Abhängigkeit und zwar im Namen der Vernunft.
2. Die Vernunft der Institution Nie ist eine Institution, das gibt Derrida verschiedentlich zu lesen, nicht im Namen der Vernunft institutiert worden. Das entspricht solcher Logik der raison d'être und heißt aber nicht, daß dieser gründende Institutionalisierungsakt selbst ausschließlich von Vernunft geprägt ist. Und, wie immer, wenn im Namen von X gesprochen wird - d.h. im Namen eines Signifikats, hier der Vernunft - , löst sich die Funktionskette Vernunft zu Wahrheit zu Autorität zu Legitimierung zu Repräsentation eben nicht in eine Null-Gleichung auf, nicht ohne Rest. Das heißt, wie immer, sie zeitigt Effekte. Wenn das Prinzip der Institution das "Prinzip der Vernunft" 4 ist, dann stellt sich logisch die Frage nach der Institution und dem, was leichtfertig weil kurzschließend allzu oft das Andere der Vernunft genannt wird, sagen wir hier: es stellt sich die Frage nach Institution und Differenz. Zumal, wenn das Paradigma der Vernunft zwar mitnichten ad acta gelegt, aber längst überholt, abgelöst, genauer: supplementiert worden ist von dem, was man als Prinzip der Information bezeichnen könnte. Denn wie das Prinzip der Information längst zeigt, zählt das, was zählt, und weniger, was zählt, sondern mehr, daß zählt. Daß, mit anderen Worten, Information unter maximal kontrolliertem Zugriff zirkuliert - und zwar mit einer bestimmten Geschwindigkeit, mit einem bestimmten, genauer: zu bestimmendem Rhythmus und zu einem bestimmten Preis. Eine Kritik der Inhalte von Vernunft einzuklagen, wäre unter diesem Blickwinkel müdes Spiel mit aufgeklärten Karten, deren Wert nurmehr im Entsorgen liegt. Die Herausforderung des Prinzips der Information - ein Kind des technoglobalen Marktimperativs - könnte darin bestehen, es als Prinzip einer "beschleunigten oder intensivierten Vernunft" zu lesen: und zwar insofern, als hier das Nichtkalkulierbare als Differenz zum Bestandteil der Kalkulation selbst wird und so asymptotisch gegen Null strebt. Was zugleich im Sinn einer Minimierung von Zeit als Differenz und auch von Differenz als Zeit zu Buche schlägt. Genauer: Es würde darum gehen, die Maximierung des kontrollierten Zugriffs auf Zeit/Differenz - d.h. auf Rhythmus - zu lesen. Als Signifikant, d.h. als diskursiver Platzhalter, als Information und Methode, ist Vernunft folglich nach wie vor im Einsatz. Eingesetzt als Signifikant im circulus virtuosus der Diskurse, die vormals um die Wahrheit kreisten, kreist Vernunft nurmehr als Status, Zeit und Zahl, in diskursiven Spiralen, wenn und weil noch immer Recht und Gesetz, Autorität - und damit (mediale) Repräsentation, Macht und Legitimierung - auf dem Spiel stehen. Das Spiel heißt - ironisch genug - nach wie vor Identität und
4
Vgl. Jacques Derrida, "The Principle of Reason: The University in the Eyes o f its Pupils", in: Diacritics Vol. XIII (1983), Nr. 3, S. 3-20.
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Differenz. Und ist - oder zeitigt - schließlich doch und genau deshalb die Politik der zu reinigenden und zu vereinigenden Identität. Es geht also um eine Dynamik, hier die eines Status, der Status eines Signifikanten X - hier der Vernunft - , und wenn es um Status geht, von lt. stare und (in-)stituere, dann auch um sein Instituiertsein. Die Fragen nach der Institution als Ort und als Zeit der Vernunft - übersetzt als Zirkulation von Information - haben also an Zeitgemäßheit nichts eingebüßt. Voraussetzung dafür ist, den - nota bene immer differenten Prozessen der Dynamik zu folgen, die allein, so scheint es, die sogenannte institutionelle Stabilität garantiert. Was keine Paradoxie ist. Durch die Instituierung der Institution wird der Vernunft aber nicht nur ein Recht ein priviligierter Rechtsstatus und ein Status, eine Topologie vorgeblicher Stabilität oder Fixierung - ein Ort - garantiert. Vielmehr impliziert das sogenannte Wesen der Institution auch eine temporale Stabilität, was man ihr Merkmal der Dauerhaftigkeit nennt. Ohne welche die Vernunft keinen Namen, keine Autorität hätte und damit keine Vernunft wäre. Diese institutionell verankerte Garantie der Dauer ist ein regelrechter Motor, setzt eine Maschine in Gang, kurz: ein Operationssystem. Institution ermöglicht qua Dauer etwa die Konstituierung einer Tradition, tradiert durch Techniken der Vermittlung, d.h. der Übertragung und der Wiederholung. Mein Interesse ist dahingehend gerichtet, diese Zeitdimension an der Matrix einer politischen Dynamik zu lesen: Es geht um eine Dynamik, die die Mechanismen institutioneller Informationszirkulation nicht auf die Vor- und Nachbild-Routine der Wiederholung im Sinn einer identischen Reproduktion reduziert, sondern um eine Dynamik, die dem Einsatz von Differenz in den Prozeß der Wiederholung Rechnung trägt. Was man die Frage nach der zeitlichen Dimension oder nach dem Rhythmus einer gewissen Reiteration und deren Effekten nennen kann. Welches wären dann etwa die Differenzen, mittels derer der Signifikant "Vernunft" in einer jeweiligen Währung instituiert wird und damit seinem Status die dauerhafte Gültigkeit - und das heißt ä la limite die Zeitlosigkeit, die Tilgung von Zeit - anhaften läßt, die die Institution qua Institution für ihn behauptet, bis heute? Aber auch: Welches wären etwa die Differenzen, wann kommen sie zur Sprache und wann nicht, mit denen der Signifikant "Vernunft" qua Institution eine gewisse Politik instituiert und aber gleichzeitig auch 'destituiert'? Mit anderen Worten: wann und mit welchen Lektüremodi - es geht um Textgesetze und Gesetzestexte - läßt welche Art von Informationsdifferenz die Gleichung der Institution - sprich ihre Identität - nicht oder anders aufgehen? Womit diese Differenz notwendig etwas Politisches würde. Mit Derrida gesprochen: wie ließe sich die Struktur des institutionellen "Rahmens" unter Berücksichtigung der parergonalen Topo-Logik5 auf eine Zeitachse, genauer: auf eine Matrix von Tempi übertragen? Wie,
5
Der griechische Terminus parergon - Nebenwerk, Beiwerk, Zusatz, Anhang, Zierat etc. (aus parfaj: am Rand, neben, aber auch dagegen - und ergon: Werk, Arbeit etc.) entpricht der Übersetzung mit "Rahmen" genau nicht exakt. Vielmehr geht es, in Anlehnung an die von Jacques Derrida in La vérité en peinture, Paris 1978 (dt. Die Wahrheit in der Malerei, aus dem Französischen von Michael Wetzel, Wien 1992), entwickelte Supplementstruktur, um eine konstitutive Abhängigkeit des ergon vom parergon, des Inneren, Eigentlichen vom äußeren "Anhängsel". Womit die oppositionelle Grenzlinie zwischen Innen und Außen nicht nur aufbricht, sondern die Einheit des Inneren als geschlossene,
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mit anderen Worten, dieses différentielle Supplement aufspüren, beschreiben und vorantreiben, das - in der Topologie des Parergons gesprochen - als ein heterogenes Äußeres an ein "Eigentliches" (Werk etc.) grenzt, es so "einrahmt", definierbar macht und damit konstituiert. Aber auch und gleichzeitig: weil die Identität des Inneren von diesem Differenten abhängt, wird sie als reine immer auch "destituiert". Auf der Zeitachse wäre dieser parergonale Irritationseffekt etwa als Rhythmussprung zu denken. Die Rede ist von der Institution als "verrahmtem" Körper/Apparat, der Wissen und Nichtwissen produziert und reproduziert, d.h. organisiert, selektiert, verwaltet, verwahrt, vermittelt, überträgt, verbreitet, und das heißt, in einem zu befragenden Rhythmus wiederholt. Genauer: reiteriert, um die mögliche Differenz der Wiederholung mithören zu lassen. Es ist - wir sprechen von Institution und Differenz - ein Apparat, der filtert, sprich: ein Apparat, der ausliest und liest, ein "La(e)ser". Folglich: Institution (und/als) Text. Welches sind die Kriterien, d.h. die Textgesetze und die Gesetzestexte, gemäß derer diese Operationen erfolgen, gemäß derer Urteile und Entscheidungen begründet und gefällt, Aus- und Einschlüsse vollzogen werden? Was hier interessiert, ist insbesondere die zeitliche Dimension dieser institutionellen Verfahren an der Schwelle - am Rand/Rahmen der Institution, d.h. an der Institution selbst - zwischen input und Output von Wissen. Kurz: wie und wann prozessiert (to process) die Institution welches Wissen, oder besser, welche Diskurse welcher Informationen? Und vor allem: mit welchen politischen Effekten? Von Rhythmus war die Rede, d.h. von Zäsuren, Beschleunigungen, (Aus-)Bremsungen, Lähmungen, Verschleppungen, Regelmäßigkeiten (dazu gehören etwa Zensur- und Kanonisierungsmechanismen), von arhythmischen Unterbrechungen, produktiven Störungen und deren Effekten.
3. Die Politik mit dem "Jüdischen", oder: wie man Lesezeit verrückt Wenn die Institution als Apparat der Wissensorganisation operiert, indem sie bestimmte Diskurse vereint, d.h. sie von dem trennt, was eine Differenz zu diesen Diskursen unterhält, und wenn eines der entscheidenden, weil (für die Instituierung der Institution) konstitutiven Kriterien für diese spezifische Umgehensweise mit Differenz das Prinzip der Vernunft ist, dann ist der Text "Die Juden interpretieren verrückt" von Pierre Legendre aus zwei prinzipiellen Gründen von Bedeutung: 1.) Dieser Text ist zunächst insofern von Interesse, als er eine exemplarische Antwort auf die Frage zu geben scheint: Was ist heterogen hinsichtlich des Vernunftprinzips? Hierfür liefert Legendre das Beispiel des Signifikanten "jüdisch" und analysiert den
definierbare Identität ineins strukturell in Frage gestellt ist durch das "Mitwirken" des Äußeren, Anderen, Fremden, Heterogenen. Kurz: durch die strukturell paradoxe Partizipierung einer Differenz. In meiner Kritik der Rahmen-Vernunft. Parergon-Versionen nach Kant und Derrida, München 1991, wird diese Logik aufgegriffen und über die Verschiebung in andere Kontexte, wie Fragen der Übersetzung und der Trauerarbeit, weitergeführt.
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Status, die textuelle Logik, nach der er in der Novelle 146 von Justinians Gesetzeswerk aus dem Jahr 553 auftritt, gelesen wird, funktioniert. Bezeichnend ist, daß diese Novelle erst ab der Mitte des 12. Jahrhunderts zu zirkulieren beginnt, d.h. zur Zeit der europäischen Scholastik, auf die kurz darauf die ersten universitären Institutionsgründungen folgen werden. Entsprechend beschränkt verläuft diese Zirkulierung, denn sie ist, so Legendre, auf und durch den institutionellen Rahmen begrenzt. 2.) Der Psychoanalytiker, Franzose, Jude, Pierre Legendre nimmt sich der Frage an, "La psychanalyse est-elle une histoire juive?". Und zwar indem er den Signifikanten "jüdisch" in einen Zusammenhang mit der Psychoanalyse stellt, dessen Motiv und Modus mir höchst fragwürdig erscheinen und vielleicht nicht wenig mit einer gewissen Legitimierung der Institution Psychoanalyse - und das im Namen des Signifikanten "jüdisch" - zu tun haben. Legendres Leitfrage ist entsprechend doppelt: a) "Est-ce qu'on peut encaisser les Juifs?" Wörtlich, kann man die Juden einkassieren, der Signifikant - "jüdisch" mit Häkchen - ist hier verschwunden, was mit Lyotard 6 zu kommentieren wäre. Und b) "Est-ce qu'on peut encaisser la psychanalyse?" Es geht in Legendres "expertise d'un texte" um die Frage von Institution und Differenz insofern, als auf dem Spiel steht, ob und wiefern sich der emblematisch zu verstehende Signifikant "'jüdisch' integrieren und damit aus dem Verkehr ziehen" (22) läßt, d.h. sich unschädlich machen, vereinnahmen, assimilieren, kurz: dem zuführen läßt, was man das abendländische Gesetz der Identität nennen kann. Womit das irritierende, genauer: das bedrohliche Moment, das diesem Signifikanten so vehement anhängt, als Differenz getilgt wäre, ausgelöscht. Zur Debatte steht der Signifikant "jüdisch" jedoch nicht nur als das Andere der Vernunft (was noch dasselbe wäre, d.h. die Einkassierung wäre geglückt), sondern er wird als Differenz zur nichtjüdischen Institutionslogik des christlich-römischen Abendlands in dem Moment brisant, wo diese Differenz als solche hergestellt werden muß, wo aus- und eingeschlossen werden muß, damit sich das eigentliche, sogenannte nichtjüdische Institutions- und Rechtssystem behaupten, legitimieren, "bewahrheiten", erstellen kann. Was diese Differenz so notwendig macht, daß sie, paradox genug, im Maß ihrer Tilgung zur "starken", d.h. nicht zu Identität oppositionalisierbaren und das heißt zur untilgbaren Differenz wird: "In diesem Kontext sind die Juden als solche abgemeldet, sie funktionieren gesetzmäßig als Abgemeldete; das heißt, daß das Vernunftprinzip herrscht, das mit dieser Verrücktheit verschmolzene christliche Vernunftprinzip." (33)
Legendres Argumentation beruht auf der Behauptung, daß wenn die Novelle nicht so lange ein bloßes "Schattendasein im Berufsgeheimnis einiger Gelehrter" geführt hätte, und wenn sie "ins breite Feld öffentlicher Kenntnis" geführt worden wäre, "so würden wir auch über die Judenfrage mehr wissen; über deren Beziehung zur Zumutung des Freudschen Werks; über die Logik der abendländischen Institutionen; über den Stoff, aus dem die Institutionen ihre Kraft beziehen." (22)
6
Vgl. Jean-François Lyotard, Heidegger
et "les juifs", Paris 1988.
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Mehr noch: diese Kausalkette steht unter der Rahmenfrage, Legendres Anlaß zu diesem - sprichwörtlichen - Gutachten: "Ist die Psychoanalyse eine jüdische Geschichte?" Wie sich herausstellt, besteht das Gutachten darin, aus dieser Frage eine quasi rhetorische zu machen. Eigentümliches Argument: wäre die Novelle 146 früher aus dem Rahmen der Institution getreten, würden wir die Macht, Kraft, also das ergon, kurz: was am institutionellen Werk ist, besser verstehen. Und auch, was er die jüdische Frage nennt. Und den historischen Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und Judentum. Worin könnte dieser - hier strukturell oder essentiell anmutende - Zusammenhang zwischen Institution und Judentum bestehen? Legendres Antwort lautet: der Zusammenhang liegt in der Frage des Texts: "Und da das okzidentale Institutionensystem das christliche Modell, die spezifische christliche Weise, den Text zur Modellierung des Menschenwesens einzusetzen, als Referenz hat, verweist in den politisch-historischen Breiten, deren Bewohner wir, ob wir wollen oder nicht, nun einmal sind, die Textfrage unmittelbar auf die Judenfrage. Deshalb verweist auch, wie wir gleich sehen werden, die Judenfrage als solche direkt auf die ... Teufelszeug-Referenz." (23)
Und was hat das mit dem jeder Institution inhärenten Spannungsverhältnis von hermetisch geschütztem Wissen und öffentlich-politischer Kunde zu tun? In diesem Spannungsverhältnis zwischen Metastatus - Öffentlichkeit - Politik und immanenten Textverfahren bewegt Legendre seinen Text. Der Satz "Die Juden interpretieren verrückt" ist die "politisch wie philosophisch" "entscheidende Textstelle" im Textkorpus des Justinian. Die Frage der Institution ist hier also die Frage des Textes, seiner ratio und seiner
auctoritas. "Die ratio ist offenkundig ein sehr ungefährer Begriff in dem Sinne, daß es sich offenkundig um alles handeln kann, was man will; sie ist das Motiv, die Rationalität, die Ursache, die bewirkt, daß der Text da ist, in seiner sehr präzisen Grammatik verfaßt und an den gerichtet, der zuständig ist. Sie ist die 'Billigkeit', der 'gute Grund' [la raison d'être, U . D . ] , der beste aller Gründe: etwas ist da, radikal da, in der Brutalität, die für einen Text eben darin besteht, daß er da ist. Aber wir verstehen dies besser, wenn wir uns in Erinnerung rufen, daß ein Text in der scholastischen Ordnung der Schrift vor allem auctoritas ist, ein Terminus, der platt mit Autorität übersetzt wird; sie bewirkt, daß ein Text einen bestimmten liturgischen Platz einnimmt und daß er als gesetzmäßige Referenz dient, in der Weise, daß eine auctoritas immer die Wahrheit spricht; was immer sie sagt, man muß sich darauf einstellen." (32; Hervorhebung v. Legendre)
Und was sagt der Text? "Iudaei dicuntur filii diaboli". Weil der Text sagt, daß die Juden Söhne des Teufels sind, sagt der Text die Wahrheit. Und weil die Juden Sklaven des Buchstabens sind, sprich, weil sie im unendlichen Prozeß der Lektüre von immer differenten Signifikantenverschiebungen begriffen sind, Sinn sich immer nur von Text zu Text, von Lektüre zu Lektüre vermittelt, kann eine solche Lektüre folglich mit keinem selbstidentischen - durch eine fleischgewordene auctoritas garantierten - Sinn zu Ende gehen, arretiert und damit wiederholbar gemacht werden. Kein singuläres, transparentes und endgültiges Signifikat läßt sich bilanzieren, folglich kann diese Lektüre
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nur Lüge sein; Betrug, illegitim wie sie, die falschen Söhne Abrahams, die ihre Genealogie falsch verstanden haben, etc. "Daher die Spannweite der Fabeln, der Geschichten im poetischen und metaphorischen Sinn in der Architektur der rabbinischen Interpretationen. ... Im Grunde spielt der Signifikant auf eine desto radikalere Weise, als diese Art der Austrocknung aller Sinne durch die einheitliche Interpretation eines kaiserlichen ... Rechts nicht existiert." (34)
Hier wird eine Information transportiert. Nicht irgendeine Information im Sinne eines positiven Wissens, sondern als Differenz, formuliert als Fehl: Eine Differenz, die sich im Wort "Text" buchstabiert. Es ist die Differenz zwischen christlichem Studium eines ("einheitlichen", auswendigen) Sinns und jüdischer Lektüre, deren Verfahren Differenz ist und macht, d.h. die selbst nur als différentielle, unendliche Übersetzungsarbeit besteht. Über diese Differenz kann die Logik des repetitiven weil immer schon als wahr gewußten Studiums des christlichen Texts überhaupt nur funktionieren. Die Logik, durch die der Justinianische Text seinen endgültigen Wahrheits- und Vernunftstatus erhält, besteht nämlich darin, daß die Instanz der Wahrheit des Texts, seine auctoritas und seine ratio, identisch ist mit dem, der spricht, der unterzeichnet. Jedoch kann der, der spricht, diese Wahrheit nur über ein radikal différentes Anderes behaupten und verankern, instituieren: hier durch den Signifikanten "jüdisch". Legendre führt aus, wie diese textuelle Differenz den Treibstoff für die Novelle liefert. Der Signifikant "jüdisch" muß zur Differenz gemünzt werden, um die Identität und den Status des Absoluten und der absoluten Wahrheit (des christlichen Texts) zu garantieren, und ineins das bis heute operative Fundament für Antisemitismus zu legen. Soweit Legendres Lektüre. Ich überspringe jetzt zahllose Scharniere, die Legendres Text in Bewegung setzt, um den Bogen - etwa - zur Psychoanalyse und der Symptomatik gegenwärtiger ("christlich-adaptiver") Managementdoktrinen zu schlagen. Es mag hier die Andeutung genügen, daß diese Kritik Legendre selbst zu implizit bestrittenen Legitimierungsstrategien der Institution Psychoanalyse (ver-)führt. Damit setzt der jüdische Psychoanalytiker seine Institution als "nicht-adaptive", resistent-subversive, und indem er sie dem Signifikanten "jüdisch" zuordnet, "kassiert" er seinerseits diesen Signifikanten für die, oder genauer für eine bestimmte Institution der (freudschen) Psychoanalyse "ein". Legendre führt an seiner Lektüre des Justinianischen Gesetzestextes aufschlußreich vor, wie der Signifikant "jüdisch" zurechtgestutzt, buchstäblich "beschnitten", "zirkumzisiert" wird, zugerichtet oder eben adaptiert zum Zwecke der textuellen Vereinnahmung. Dieser von Legendre strapazierte Übertragungsmodus läßt sich in Kurzfassung beschreiben als eine reduktive Überhöhung des Signifikanten "jüdisch" zum Zweck der Kurzschließung mit der Psychoanalyse - auf Kosten des "Jüdischen" als Differenzpotential. Was seine - wie ich meine plausibel begründete - Attacke gegen die christliche "Abrichtung" und institutionelle Vereinnahmung "der Juden", wie er sagt, in gespenstische Nähe zu genau derjenigen Lesart rückt, die er der "christlich-industriellen", "adaptiv-orthopädischen" und damit "schlechten" Psychoanalyse zuschreibt.
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Greifen wir hier nur einen Aspekt heraus, und zwar den der ewigen Gültigkeit dieser textuellen Wahrheit im Namen der Vernunft im Justinianischen Gesetzestext. Dessen Wahrheit ist so absolut und so schlechthin gültig, daß der Faktor Zeit ausgeschlossen werden muß. Wäre das hier Gesagte nicht zeitlos, wäre es wertlos. Die von Legendre zitierte Aussage lautet im Prolog der Justinianischen Novelle 146 (Corpus iuris): "... hebraei... insensatis semetipsos interpretationibus tradentes ..." (22; 25) Anton Schütz' Übersetzung, "Die Juden interpretieren verrückt" übersetzt Legendres "insensé" sinnlos, unvernünftig - mit "verrückt". Das sind die entscheidenden Übertragungen der hier einschneidenden Aussage von Justinian. Nämlich: Die Juden interpretieren verrückt, weil sie den Text und den Buchstaben, dessen Sklaven sie sind, bis zur Kastration interpretieren. So lautet die Anklage. "Allgemein gilt, daß die Abscheu vor der Beschneidung Triebfeder der gesamten christlichen Gesetzgebung ist." (36)
Dies gilt zumindest insofern, als die Beschneidung im textuellen Prozeß zur Kastration "hochgeschrieben" wird. Denn "[d]ie Gleichsetzung von Kastration und Beschneidung beruht darauf, daß die Beschneidung, insofern sie Inskriptionsmodus ist, als kriminelle Verstümmelung oder radikale Wahnsinnstat gesehen wird." (37)
Wenn die Juden bis zur Kastration interpretieren, dann steht hier der Körper und der Text, die Lust am Buchstaben, auf dem Spiel. Sprich, sie verstehen nichts vom Sinn im übertragenden Sinn und nichts vom Sinn der Übertragung, sie nehmen alles wörtlich, deshalb beschneiden sie sich wirklich. Sie sind, wie es heißt, Sklaven des Buchstabens. Es reicht der Verweis auf Kafkas Strafkolonie, um die Circum- und Description der Inscription und Incision von Schrift in den Körper hier zu kappen. Die Juden interpretieren verrückt, weil sie das Andere der Vernunft sind - sagt die Vernunft. Sie sind blind für die Vernunft, sie können sie nicht sehen. Und kehren ihr den Rücken. Die Juden kehren der Vernunft den Rücken. "(I)ls tournent le dos à la Raison ,.." 7 Wiederholen wir pronominal: Ils lui tournent le dos. Wörtlich und buchstäblich: sie wenden oder drehen ihr den Rücken. Wenn die Juden der Vernunft den Rücken drehen, dann drehen sie nicht nur ihren Rücken, sondern auch ihr, der Vernunft, den Rücken. Sie krümmen der Vernunft das Rückgrat, sozusagen. Die Juden interpretieren verrückt, denn die Juden verrücken die Interpretation. Genauer: Wenn die Juden der Vernunft den Rücken drehen, dann passiert der Interpretation des Signifikanten "Vernunft" etwas: nämlich, bleiben wir Sklaven des Buchstabens: die Vernunft wird verrückt. Die Juden verrücken den Signifikanten - daran scheint mir nichts außergewöhnliches - der hier "Vernunft" heißt. Nun heißt verrücken weder dasselbe wie übertragen, noch wie verschieben, und die Differenz liegt nicht nur im kurzfristig verlorenen Bodenkontakt. Es handelt sich bei dieser ruckhaften Bewegung auch um etwas, dessen Anfang und Ende nicht ganz kontrollierbar, kalkulierbar ist. Und damit
7
Legendre, "'Die Juden interpretieren verrückt'", S. 108.
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-àia limite - weder "einkassierbar", noch exakt wiederholbar, noch umkehrbar. Weder lokal noch temporal ganz zu annullieren. Wenn die Juden also verrückt interpretieren, so verrücken sie den Status des Signifikanten "Vernunft" nicht etwa in der Weise, daß sie seine absolute Gültigkeit und Wahrheit bestreiten, negieren oder etwas anderes an seine Stelle setzen würden, denn sie drehen ihr ja den Rücken. Effekt der Verrückung ist vielmehr der, den Signifikanten "Vernunft" aus demjenigen Rahmen herauszurücken, der allein es der Vernunft ermöglicht, die konstitutive Differenz zu sich selbst als "insensé " zu garantieren. Was hier eingerückt wird - und das scheint mir eine kleine, aber entscheidende Differenz zu sein - , ist ein temporales Moment. Die Vernunft als zeitlos gültiges Signifikat ist als Signifikant immer noch und immer schon verrückbar und damit in einen zeitlichen Kontext notwendig einschreibbar. Diese zeitliche Differenz wird hier als radikale Differenz eingerückt, was den Status der Vernunft als Signifikat prompt aus den Angeln hebt. Irritierend genug, denn die essentielle vérité primordiale wird damit stillschweigend zum baren non-sens. Durch eine winzige Differenz, eine Rhythmusverrückung, der ein Psychoanalytiker den Rücken kehrt, weil insensé instituiert ist, gefesselt in einer Institution, die sich pathologischen Parametern verdankt. Wo, mit anderen Worten, insensé schlicht übersetzt wird mit/ow. Wo, mit anderen Worten, eine Institution im Namen des Anderen der Vernunft spricht, wo eine Institution den Anspruch erhebt, im Namen einer radikalen Differenz zur Vernunft aufzutreten. "Ich meine, daß ... die Psychoanalyse in der Art einer Katastrophe auftritt, als Einbruch in ein solches Denksystem, in das römisch-christliche Denksystem. Auf diesem Boden der psychoanalytischen Verrücktheit in bezug auf die Gesetzmäßigkeit der Interpretationen will ich schließen." (37)
Wo also die Frage nach der Psychoanalyse als Institution von der Psychoanalyse als Institution nicht gestellt wird und werden kann, solange sich die Psychoanalyse als "jüdische Angelegenheit" (38) begreift, um ihrem blinden Fleck treu zu bleiben: diese Treue bricht sie so lange nicht, wie sie - nota bene als Institution - in Legendres Wortlaut folgendes behauptet: "Die Psychoanalyse ist in dem Maß eine jüdische Angelegenheit, wie die jüdische Weise des Zugangs zum Text in bezug auf das abendländische Denksystem mit seiner besonderen Rechtsprechung die Erinnerung an etwas Wesentliches war oder ist, daß nämlich die Macht und das Begehren zweierlei sind, zwei Fragen, nicht eine. " (38)
Will sich die Psychoanalyse für eine "jüdische Angelegenheit" halten, sprich als "Einbruch", als (uneinholbare, nicht "einkassierbare") Differenz auftreten, so muß sie trennen können zwischen Macht und Begehren. Sagt der Psychoanalytiker. Dieser von der Institutionslogik selbst nicht zu trennende Vernunftimperativ des Trennens stellt sich aber qua Institution immer schon ein Bein, denn "die Psychoanalyse" (die ergo als Institution spricht) muß immer auch und simultaniter - mit und ohne Rede vom Begehren - im Namen der Macht der Vernunft und im Namen der Vernunft der Macht sprechen.
Institution und Differenz
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Verrückt ist hier genau nichts. Keine nichteinholbare Differenz rückt sich ein, solange mit der Rede vom Signifikanten "jüdisch" auf ein Signifikat verwiesen wird - "[d]ie Psychoanalyse ist in dem Maß eine jüdische Angelegenheit" (die syntaktische Umstellung von Subjekt und Objekt verstellt hier den Blick, nicht die Zuordnungslogik). Wodurch ihm eine zeitlose Wahrheit - und sei es nur für den Gedankenstrich eines Moments - attribuiert ist. Wodurch dieser Signifikant festgeschrieben, institutionalisiert ist, geronnen zum singulären Sinn, zum Signifikat. Will heißen: Nichts wäre "unjüdischer" gelesen als zu lesen "jüdisch ist" - getreu dem Zu-Schnitt auf den Modus der Zirkulation von Information, der da heißen könnte Kast-ratio,8
8
"Kaste f . 'abgeschlossener Stand, Rasse'. Im 18. Jahrhundert entlehnt aus frz. caste. Das Wort ist eigentlich portugiesisch (casta 'Rasse, Abkunft', ursprünglich Substantivierung zu 1. castus 'rein' und bezeichnete zunächst die unvermischte Rasse der Iberer (gegenüber den Mauren). Im 16. Jahrhundert wenden es die Portugiesen auf die gegeneinander abgeschlossenen Stände Indiens an, und mit dieser Bedeutung hat es sich allgemein verbreitet." "kastrieren swV. 'die Keimdrüsen entfernen'. Im 16. Jahrhundert entlehnt aus gleichbedeutend 1. castrare eigentlich 'verschneiden'." (Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl., Berlin - New York 1989, S. 360)
Anton Schütz
Macht - Die Zukunft einer Illusion
i Monty Python's Film The Life of Brian: Brian läuft, eine Division römischer Söldner läuft hinterher. Brian muß versuchen, in der Menge unterzutauchen - bloß wie, ohne falschen Bart? Da bietet einer falsche Bärte feil. Brian, atemlos: "Was kostet der hier?" - "Hundert Schekel" - Brian zieht die Börse - "Neinneinneinnein", antwortet der Barthändler, "so geht das nicht! Sage ich\ hundert Schekel, so müssen Sie sagen: 'Wie bitte? Hundert Schekel?! Mann, meine Familie hungert! Zehn Schekel!" - Die Truppen rücken näher. Brian antwortet anweisungsgemäß. - "Wie bitte?!", heißt es jetzt, Zehn Schekel?! Mann, meine Familie hungert auch\ Neunzig Schekel!" - Der Handel geht fort; die Verfolger überschwemmen schon die Szene. Endlich die Einigung: fünfzig Schekel. Aufkleben, fertig - gerade noch rechtzeitig! Die Filmsequenz zeigt Dringlichkeit, Situationsabhängigkeit von Kommunikationen, Einigung unter Zeitdruck. Die Transaktion ist zustandegekommen. Sein, Zeit und Eile: Wenn verhindert werden soll, daß die Soldaten ihr Opfer hoppnehmen, daß seine Umwelt über dem System "Brian" zusammenschlägt, Brian invadiert, entgrenzt, überschwemmt wird, muß der Bart rechtzeitig in die richtigen Hände, ins bartbedürftige Gesicht gelangt sein. Nur vor Interferenzen sichere Kommunikationen brauchen sich um kein solches Rechtzeitig zu kümmern, können immer weitergehen, ein open end haben. Gespräche unsterblicher Götter sind naturgemäß selbst unsterbliche Gespräche. Streitende Olympier müssen sich nicht einigen, nicht einmal auf ihre Nichteinigung, und der Titel von Marguerite Duras' Erstlingswerk Ganze Tage in den Bäumen deutet an, daß auch das Geflüster Liebender eine autarke Kommunikation sein kann - jene "ganzen Tage" lang. Das sind Situationen, in denen man mit Sein und Zeit allein auskommt ohne Eile. Aber sonst? Vorher? Nachher? Diesseits und jenseits der ekstatischen Sonderwege und exklusiven Ausnahmezustände? Schon wer in der U-Bahn ein Gespräch beginnt, ist gezwungen, nicht zum Einverstandensein, aber doch: sich damit abzufinden, daß es nicht weitergeht, wenn der andere aussteigt. "Seit ein Gespräch wir sind". Seit! Sind! - So der Dichter. Die Frage der Fristen, die bestimmen, wie lange man Gelegenheit hat, ein Gespräch zu sein, führt indessen in andere Richtungen. Die Konversation in der U-Bahn kann um die Haltestelle gehen, bei der Sie aussteigen müssen, um an Ihr Fahrtziel zu gelangen, und die sie verpassen könnten, wenn das Gespräch zu kurz dauert - niemand antwortet - , oder zu lang dauert, und Ihre Aufmerksamkeit okkupiert. Und noch gravierender: Zeitregimes können
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Anton Schütz
überlappen, eine gegenwärtige Situation kann gegenwärtig mehr als eine Zukunft haben. Was z.B., wenn die hilfreichen Mitpassagiere sich nicht rechtzeitig einigen können über Ihre Haltestelle? Dann droht Ihnen, wenn Sie auf dem Weg zu Gericht waren, Fristversäumnis, während .Ihnen, wenn Sie auf dem Weg zu einem Vortrag waren, nur die Abwesenheit, höchstens die Ungeduld der Hörer droht. Die Gegenwart hängt vom Schatten ab, der aus der Zukunft auf sie fallt. Und die Zukunft wird nicht fallweise interpretiert: sie wird jederzeit erwartet. Die Interpretation der Zukunft liegt, in Form von Erwartungen, jederzeit bereits fertig vor und steht jederzeit bereits in Gebrauch zumindest in Gestalt höherer Nervosität auf dem Weg ins Gericht. Erwartungen sind etwas, das ständig und konsequenzenreich vollzogen wird. Jeder und jede erwartet Zukünftiges schon gegenwärtig - kann dies, ohne es gelernt zu haben, oder kann nicht anders. Am Ergebnis ändert das nichts. Von Bedeutung ist dagegen der Umstand, daß das Terrain der gesellschaftlich auftretenden Erwartungen von einer unmerklichen Wasserscheide in zwei große Einzugsgebiete gespalten wird. Diese beiden Erwartensstile - sie gelten, um es gleich nochmals zu unterstreichen, dem Erwarten, nicht der Verarbeitung von Erwartungsenttäuschungen - führen zu getrennten Wegen, weil sie auf die Frage "wann eilt es?" unterschiedliche und sogar entgegengesetzte Antworten geben. Man beeilt sich, wenn die Zeit knapp ist - soweit bedarf die Frage nicht des Aufwands einer besonderen stilistischen Modalisierung. Die Zeit benötigt aber, um knapp zu werden, Termine, also Teilungen des Zeitkontinuums in ein Vorher und ein Nachher. Die in allgemeinem Gebrauch stehende und in ihren feststellbaren sozialen Effekten über die Grenze ihres bewußten Einsatzes weit hinausreichende Unterscheidung ("Wasserscheide") trennt die Verhaltenswahl derer, die Termine, oder genauer: einen Termin als Grenze oder Ende der Zeit auffassen und ihre gesamte Aufmerksamkeit der Zeit davor zuwenden (wie z.B. Brian), und die Präferenz derer, für die (wie z.B. für Brians Geschäftspartner), die Unabänderlichkeit, Unterminierbarkeit, und damit: Unterminisierbarkeit dessen im Vordergrund steht, womit sie es nach wie vor dem Termin zu tun haben: Zeit. Zeit, oder richtiger: Zeit und Zeitknappheit. Diese zweite Gruppe wird gebildet von Leuten, die sich als Mallarméens sans le savoir, als unfreiwillige Schüler des Dichters Stéphane Mallarmés erweisen, insofern ihr Horizont über jedes "letzte", jedes ultimative Ereignis hinausweist, und damit auf eine Maxime verweist, die genau übereinstimmt mit dem Titel von Mallarmés großem Werk: Jamais un coup de dés n'abolira le hasard. Kein Termin wird der letzte sein. Während demnach die einen nur die Vorgeschichte des Termins beachten und Geschichte nicht über den Termin hinausdenken, beachten die anderen den Termin als Differenz. Während die einen zu Eile motiviert werden von dem wenigen an Zeit, das noch verfügbar ist vor dem Termin, werden die anderen zu Eile motiviert gerade von der Aussicht auf die vorhandene und knappe Zeit nach dem Termin. Man kann fragen: macht das einen Unterschied? Man kann einwenden, es handle sich bloß um unterschiedliche Aspekte und Gewichtungen derselben Eile, mit derselben Motivwirkung und mit denselben Ergebnissen. Das mag, was die Situation des Films und alle alltäglichen Situationen anlangt, auch zutreffen. Die Frage ist aber, ob es neben den alltäglichen auch nicht-alltägliche Situationen gibt, von deren Ausgang alles übrige
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abhängt. Die jeden Gedanken an ein Danach überflüssig machen. Apokalyptische Situationen, grundlegend anders organisiert als die trivialen, nichtapokalyptischen, obgleich mitunter individuell gefährlichen - vgl. Brian - des täglichen Lebens. Situationen, deren Subjekte oder Insassen, die Erfahrung einer anderen Eile machen die Erfahrung, daß das Ende herannaht und es nur noch um das geht, was jetzt, was da vor geschieht. Und mit einer gleichfalls grundlegend anders organisierten Konzeption auch der Nicht-Eile: Solange das Ende nicht herannaht - im Normalfall - , können wir uns Zeit lassen. Im Unterschied zur nicht- oder genauer: post-apokalyptischen Zeitökonomie, für die es gerade dann eilt, wenn es nach dem drängenden Termin (morgen) auch noch eine Zeit danach, ein übermorgen geben wird, in dem es einen Unterschied machen könnte, was bis dahin geschehen sein wird. Der Weg von der Moderne zur Postmoderne ist, so die These, ein Weg, der von der Apokalypse in die Post-Apokalypse führt. Dieser Weg ist zurückgelegt, wenn Zukunft als ein "mixte mal décomposé" (Bergson) erkannt und durch eine Unterscheidung ersetzt ist, etwa durch die Unterscheidung gegenwärtige Zukunft/zukünftige Gegenwart1 oder durch die Unterscheidung Zukunft/Futurexakt. Apokalypse ist die Lehre von einer bestimmten und definitiven, nämlich letzten Zeit, oder genauer: letzten Zukunft, eine Lehre von den letzten Dingen. 2 Mit Post-Apokalypse ist gemeint: die Zeit nach der apokalyptischen Zeit, deren Anbruch zugleich das emphatische Dementi für das apokalyptische non-datur jeder Zeit danach enthält. Damit ist aber zugleich gesagt, daß Post-Apokalypse nicht nur und nicht einmal vor allem eine künftige Zeit ist, sondern eine schon jetzt bestehende Lehre von einer künftigen Zeit, eine Lehre von den Dingen nach den letzten Dingen, von der Nachgeschichte des Jüngsten Tages, von der Menschheit nach den letzten Tagen der Menschheit. Post-Apokalypse ist nicht eine kommende Zeit, sondern eine bereits offenstehende Weise des Disponierens. Dieses Disponieren ist eines der großen Themen der Theorie der Autopoiese, genauer: es ist der Gegenstand der bisher noch nicht hinreichend thematisierten Ethik der Autopoiese. Die Sichtweise, die Selbstherstellung in den Vordergrund rückt, ist naturgemäß diejenige, die ihre Möglichkeitenkalküle unbeirrt von den Diktaten eines herbeigesehnten bedrohlichen Machthabers verfolgen kann.
II Die Drohung (und das Versprechen) des Letzten ist der Kandidat dieser Dekonstruktion. Das sollte nicht verwechselt werden mit der Problematik des Endes. Die Figur des Endes enthält, etwa in Becketts Ausarbeitung, alle Elemente eines offenen, laufenden, unabsehbaren, vermutlich endlosen - in jedem Fall aber: "letzt-losen" - Prozesses. Alle Elemente mit der Ausnahme nur eines einzigen Elementes: dem des Anhebens, Anfangens, Schöpfens. Ist jedoch die Figur des Endes bei Beckett ständig präsent, so gilt genau das Gegenteil von der Figur des letzten Mals. Die Opernpathetik des "letzten 1
Niklas Luhmann, Risiko, Berlin 1992.
2
Vgl. Otto Weininger, Über die letzten Dinge, 2. Aufl., Wien 1907.
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Mals" wird ironisch in ihre Schranken gewiesen mit dem ganzen Aufgebot der beckettschen Nichtemphase, und durch ein ausgearbeitetes Plädoyer zugunsten des ... vorletzten Mals ersetzt. "Diesmal, dann noch einmal, dann nicht mehr". 3 Beckett entgeht so der hoffnungslos illusionären Hoffnung/Befürchtung der Apokalypse wie der Götterdämmerung: dem Versprechen/der Drohung, daß jemandes "starke Hand", wenn er sich dazu entschließt, als stark genug sich erweisen wird, alles stillzustellen, die Zeit selbst inbegriffen. Daß ein erlebbares "Mal" das "letzte" Mal sein wird. Die Apokalypse zählt dem Feld der Drohungen zu, aber auch der Hoffnungen - mit der dramatischen Dialektik, die von dieser unzertrennlichen Simultanpräsenz auf den Plan gerufen wird. Apokalypse ist das Erwarten eines Schlusses, der selbst mit dem Erwarten Schluß machen wird, im Grunde aber soll, oder mit anderen Worten: eines Schlusses, der herbeigesehnt wird, sei es auch heimlich. Das vorletzte Mal ist angesichts dessen eine der möglichen Vermeidungsstrategien - eleganter (aber auch zurückhaltender in ihrem Anspruch) als die vom nachletzten Mal, die sich schon in einen Widerspruch verwickelt. Dieser Widerspruch steckte schon im Begriff der Postmoderne selbst. Einerseits war die Ablösung der Vorstellung vom "grand récit" auch eine Ablösung der Vorstellung von einem allgemeinen letzten Termin. Andererseits postuliert die Post-Moderne, daß nach dem Letzten noch etwas anderes, ein Nach-Letztes komme. Dieses zuletztgenannt widersprüchliche und unwahrscheinliche Postulat bleibt jedoch implizit und latent, so daß man sich fragen kann, ob diese Unausdrücklichkeit, diese Aussparung, dieser diskrete Schleier, der in den Diskursen der Postmoderne den sonst allzu-schreienden Widerspruch verdeckt zwischen dem, was historisch als "last-comer" identifiziert wird (die Moderne), und dem, was dennoch danach kommt, nicht gerade das ist, was das unbewußte Genießen des Begriffs möglich, seine Verwendung subjektiv "gewinnbringend" und ihn selbst damit ideologisch brauchbar macht. Das Motiv der Post-Apokalypse ist andererseits untrennbar verbunden mit einem Qualitätsurteil: verglichen wird der Übergang von der Apokalypse mit dem, was auf sie folgt. Jacques Lacan hat einem der noch ausständigen Bände des Séminaire den Titel "... oder noch ärger" ("... ou pire") gegeben.4 Als der eigentliche Entdecker des Kontinents: "... oder noch schlimmer", muß dennoch wieder Samuel Beckett angesprochen werden. Das ist natürlich keine Frage zeitlicher Priorität.5 Die Umwertung der Werte, die bei den Denkern der Psychoanalyse, Lacan und Zizek, vollzogen wird, und die, gerade in den Schlüsselformulierungen, nie ganz den lehrhaften Sprachduktus verleugnen kann, der sich an ihre sozialen und historischen Koordinaten knüpft - es ist die soziale und historische Identität einer allerdings über alle bekannten Standards hinaus radikalisierten Seelsorge - , findet bei Beckett den Weg zu poetisch-deskriptiver Genauigkeit. Anstelle des Satzes: "Wo wir nicht wissen, genießen wir" ("Là où on ne
3
Vgl. Samuel Beckett, Der Namenlose, zit. nach der Ausgabe: Samuel Beckett, Molloy, Malone Der Namenlose, Darmstadt 1962, S. 362.
stirbt,
4
Vgl. Jacques Lacan, ... ou pire: Le Séminaire Vol. 19 (nicht erschienen).
5
Vgl. aber, in Becketts bekanntem Festschriftbeitrag "Dante ... Bruno. Vico ... Joyce", die Ausführungen über das Fegefeuer ("In what sense, then, is Mr. Joyce's work purgatorial?"), in: Our Exagmination Round his Factiflcation for Incamination of Work in Progress, Paris 1929, S. 242-253.
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sait pas, on jouit"), 6 eines Satzes, der gewiß alle Vorzüge der Klarheit auf sich vereinigt, daneben aber doch die Spuren der Sorge um seine Verwendbarkeit als Regel, Prinzip, oder "Dogma", nicht verleugnen kann, heißt es bei Beckett: "Nichts wissen? Nein. Zuviel erhofft." ("Know nothing no. Too much to hope"). 7 Vielleicht sind das "nur Stilfragen". Der Gegenstand, das was "pire", also ärger, "schlimmer-als-dasSchlimme" ist (nicht: le pire, nicht das Ärgste, das Schlimmste), ist dem poetischen und dem psychoanalytischen Unternehmen gemeinsam. Beide handeln insofern vom Jenseits des Jenseits, vom "dicken Ende" dessen, was mit der Apokalypse so vielversprechend (nämlich: versprechend, daß dann nichts mehr kommt) begonnen hatte. Denn die Post-Apokalypse erlaubt es auch nicht mehr, eine Zeit zu erwarten, in der nichts mehr zu erwarten sein wird. Darin liegt der einschneidende Unterschied der nach-letzten und der vor-letzten Position, der Unterschied zwischen dem Machen der schlechten und zwecklosen Erfahrung und dem Unberührtbleiben, zwischen dem Durcharbeiten des apokalyptischen Versprechens (und der apokalyptischen Drohung) und dem Vorbeigehenlassen dieses Kelchs, zwischen dem Auskosten und Ausgekostethaben der apokalyptischen Sucht (und der apokalyptischen Angst) und der überlegenen Entscheidung, die Apokalypse "sein zu lassen". Wird der "vor-letzte" Standpunkt eingenommen, so ist die Vorstellung, daß es zum Tätigwerden nun überhaupt zu spät ist, oder doch bald zu spät sein wird, die in pragmatischer Hinsicht vielleicht den Kern der apokalyptischen Vorstellungswelt bildet, sehr wohl denkbar und möglich. Sie ist, vom "vor-letzten" Standpunkt, die Möglichkeit, die nicht gewählt wird. Wird der nach-letzte Standpunkt gewählt, ist sie bereits gar keine Möglichkeit mehr. Mit dieser Vorstellung ist es dann vorbei. Es war nun schon und lange genug zu spät. Jetzt ist das Zuspätsein dahin, das Nachher tatsächlich angebrochen, die apokalyptische Zeitrechnung, die mit Zuspät-sein rechnete, eine unwiederbringlich verlorene. Es ist nun zu spät für die apokalyptische Unterscheidung eines Zuspät-seins. Sie hat ausgedient. Forclusion (Fristversäumnis) oder glückliche Immunität wie nach einer überstandenen Kinderkrankheit? In jedem Fall ist die apokalyptische Krise vorbei, ist es neuerlich und neuerdings "pas trop tard pour commencer" - wenn auch vielleicht nur bis zur nächsten.8 Die apokalyptische Eile erweist sich damit als die zeitbezogene Art des Umgehens mit dem Unbedingten, Nichtbeliebigen. Die Antwort auf die Frage nach dem
6
Slavoj Zizek, Ils ne savent pas ce qu'ils font, Paris 1990.
7
Samuel Beckett, Worstwards Ho, zit. nach der Ausg.: Samuel Beckett, Worstward Hol Aufs Schlimmste zu [sic!], Frankfurt/Main 1989, S. 10. Korrigiert werden mußte in dem kurzen Beckett-Text die Übersetzung von "Know nothing no", einer Sequenz von nur drei Worten, die mit "Nein nichts wissen", also falsch wiederzugeben, der Beckettübersetzerin Erika Tophoven-Schöningh dennoch gelungen ist.
8
Mit der These von einem kommenden "zu-spät-dafür-zu-spät-zu-sein" vollauf verträglich ist die Frage nach dem, wofür es allenfalls dennoch zu spät bleiben könnte. Das beste Beispiel eines solchen unheilbaren Zu-spät ist zweifellos die Spirale des überschätzten großen Anderen nach S. Zizek (vgl. ders., Mehr-Genießen, Lacan in der Populärkultur, Wien 1992, S. 102 f.) und die Spirale von Opfer und Opfervermeidung nach René Girard, La violence et le sacré, Paris 1980; und Jean-Pierre Dupuy, "La 'théorie de la Justice': une machine anti-sacrificielle", in: Critique nos. 505-506 (1989).
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Unbedingten entscheidet zugleich über die Frage der Eile. Apokalyptische Eile entspringt dem drohenden Zusammenbruch eines Bestehenden, und verdankt sich somit - wie jede Wirkung einer Drohung - , einem Relevanz-zuerkennen, einer Thematisierung, einem Verstehen, einem Vernehmen. Relevant ist die Erpressung mit dem Ende. Das hat jedoch seinen Preis. Slavoj Zizek: "Die Unzulänglichkeit, mit der das Subjekt leben muß, ist nicht seine eigene, sondern die seines Anderen, was unvergleichlich unerträglicher ist."9 Es setzt beim Subjekt schuldhaftes Eingeweiht-sein voraus, ein Verstrickt-sein in die Banden einer communauté oder complicité inavouable, die "unaussprechlich süße Lust" des Mitwisser-seins, den Genuß des Partizipierens, am obgleich nur all-zerstörerischen Werk einer Allmacht. Was sich in der apokalyptischen Eile zeigt, ist eine "Vorauszahlung" auf ein unbewußtes Genießen. Genossen wird das Statut, das dem großen Anderen zuerkannt wird. Er ist Weltmeister in dem genauen Sinn, nicht seinesgleichen zu haben und daher dem Universum seinen Willen aufzwingen zu können - victor invictus, in der Sprache der antiken Kaiserepitheta, Pantokrator, in der Sprache byzantinischer Christologie. Der entscheidende Beitrag zu einem angemessenen Verständnis dieser Sachverhalte liegt darin, daß der Genießer nicht der kaiserliche oder auch göttliche, oder auch kollektive und/oder anonyme Machthaber ist, nicht die Autorität, sondern das Subjekt: der Untertan, der der Autorität frönende - im Doppelsinn dieses alten Wortes, also Zwangsdienste leistende und zugleich sich genußvoll hingebende - "Unterworfene". Das Enden aller Dinge ist das Ding, dem der höchste Genuß verdankt wird. Die apokalyptische Haltung ist der schon jetzt mögliche Ausdruck dieses noch unausdrückbaren Genießens. Die projektive Figur des Letzten vertritt dabei das noch ausständige Ende - eine einstweilige Vertretung, die erlischt, wenn das Ende da ist. Der Apokalyptiker, der Enthüller verteidigt einen Genuß, der als solcher bewußt werden weder kann noch darf,10 und der darum nur mit Mitteln verteidigt werden kann, die selbstzerstörerisch sind. Damit sind nicht solche Mittel gemeint, die den zerstören, der sie verwendet - was auf etliche andere Genußmittel neben dem apokalyptischen Projizieren zutrifft - , sondern nur solche, die, während sie verwendet werden, sich zerstören. Nur die apokalyptische Projektion ist, als die Erwartung eines künftigen Akts, eines künftigen Worts, einer künftigen Schrift, die keinen Nachakt, kein Nachwort., keine AfacAschrift zu befürchten haben werden, ein in diesem Sinn selbstzerstörerisches Genußmittel. Apokalyptische Eile ist die Flucht in eine Zukunft, die wesentlich Zukunftsunterbrechung ist. Post-apokalyptische Eile dagegen ist Nicht-Apokalypse, vermehrt um erworbene Resistenz - einen historischen Faktor, der, Apokalypse in seiner Vergangenheit habend, sie für alle Zukunft ausschließt - freilich nur so lange, als die Erinnerung nicht erloschen ist. Was nach der Apokalypse entsteht, entsteht, wenn nichts mehr zu verhüllen ist, wenn die "letzten Tage der Menschheit" bereits gekommen sind - und es trotzdem weitergeht, oder genauer, schon weitergegangen ist. Es mag sein, daß darin nur eine säkularisierte Version des Wandels liegt, den die Kirche in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens erlebt hat in der Gestalt der immer 9
Vgl. Slavoj Zizek, L'intraitable.
Psychanalyse,
politique
et culture de masse, Paris 1993, S. 50.
10 Vgl. Slavoj Zizek, Liebe dein Symptom wie dich selbst, Berlin 1992.
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wieder erwarteten, immer wieder ausbleibenden Wiederkehr des Christus - solange bis sie auch nicht mehr erwartet wurde, jedenfalls nicht mehr in einer Weise, daß Ausbleiben als Enttäuschung wahrgenommen würde. Die Konsequenz ist ein neues Gleichgewicht (oder Ungleichgewicht), ein neuer "eigenstate" der gläubigen Gemeinde und ihres Verhältnisses zu ihrem Glauben. Trotzdem ist die Frage, zu der das führt die Frage der Postmoderne als des Zeitalters einer neuen Allokation des Unbedingten - , nicht nur religionsgeschichtlich von Interesse. Abgelöst wird durch die Postmoderne das Junktim Macht/Letztheit und seine charakteristische Strategie: die zirkuläre Scheinopposition Apokalypse/Katechon bzw. Apokalypse/Notstand (Ausnahmezustand) der Apokalypseverhütung. Dieser Zirkel wirkte, die lange Geschichte des Kosmos und das kurze Finale dieser Geschichte: die Modernität, hindurch als ständig aufrechter dramatischer Auftrag, als Machtinbegriff (politischer Phallus). Seine Grundlage bestand nie in der Lehre von der Herrschaft des Menschen über die Natur; sondern in der Überschätzung der Möglichkeit, komplexe Sozialsysteme einer Gesamtsteuerung zu unterwerfen, oder mit anderen Worten in der Annahme, wenn und wo es Gesellschaft gibt, müsse es, irgendwo in oder doch außer ihr einen Punkt geben, von dem aus die betreffende Gesellschaft sich beherrschen läßt, in der Lehre von der Gesamtherrschaft jeder Gesellschaft über sich selbst, über die Bedingungen ihrer selbst. Die Frage, ob überhaupt irgendwer über eine solche Macht verfügt, ob nicht die Bedingungen, nach Dirk Baeckers Formulierung, ihre Kontrolleure kontrollieren11 und jedem Eingriff sich entziehen - diese Frage war und ist von der weitaus dramatischeren Frage verdeckt, wer es ist, der sich, und auf wessen Kosten, ungestraft (sei es auch erkennbar illusorisch) anmaßen kann, über sie zu verfügen. Die Postmoderne ist das Zeitalter der Verlegung dieser angemaßten Bedingungskontrolle aus dem Heiligtum dieser phallischen Anmaßung, ihrer Neubegründung im Zeichen der Prekärität, und der Dispersion der tatsächlich bestehenden Einfluß- oder Kontrollchancen auf eine Unzahl gleichzeitig stattfindender, aneinander rückgekoppelter Prozesse: aus Herrschaft auf Gesellschaft. Dieser Übergang setzt das Ende des kosmischen Vertrauens in universelle Herrschaft voraus, setzt damit das System-Umwelt-Modell an die Stelle des Kosmosmodells und führt zu einer Neugewichtung: Während bestehende Macht, zum Beispiel die Politik, hinter der 'Macht der Verhältnisse' zurückbleibt, gewinnen Möglichkeiten einen neuen Stellenwert. Die Ablösung des kosmisch-Selbstverständlichen ruft auch ein neues Paradigma für Erkenntnis auf den Plan, die sogenannte Beobachtung zweiter Ordnung. Wenn das mit den traditionellen Primat- oder besser Ultimatpositionen verbundene Privileg der Unbeobachtbarkeit verloren ist, stellt sich die Gesellschaft um: von einem Zustand, in dem es darauf ankam, wer das 'letzte Wort' hat, zu einem Zustand, in dem es das 'letzte Wort', die Objektivität nicht gibt, in dem das Kontinuieren von Moment zu Moment rekursiv, durch Prozesse gewährleistet wird. Damit ist aber schon zuviel gesagt. Kontinuieren zu gewährleisten, war das Versprechen der Zensur gewesen - die lange die einzige Form zweiter Beobachtung war. Sie diente der Abwehr von Beobachtung zweiter Ordnung. Wird Beobachtung
11 Dirk Baecker, "Ranulph Glanvil) und der Thermostat. Zum Verständnis von Kybernetik und Konfusion", in: Merkur 43 (1989).
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zweiter Ordnung legal, erwartbar und massenhaft praktiziert, so scheidet Bestehendes aus und wird durch Prozesse ersetzt. Der Kontrolleur ist mit der ständig rekursiven Berechnung seiner eigenen Berechnung beschäftigt - eine Vorstellung, die schwer zu vereinbaren ist mit älteren, souveränitätsbezogenen Kontroll- und Kontrolleursphantasmen12 und ebenso schwer mit der Idee einer modernen Idee von Souveränität. Objektiv sind meine Beobachtungen, wenn sie auch ohne mich so stattfinden würden: das mysticum einer Beobachtung, die vollzogen würde, ohne daß sie jemand vollzieht. Die Resultate meines Beobachtens dürfen wenigstens nicht unterschieden werden können von solchen, die ohne mich geschähen. Das Gelingen dieses Simulacrums ist für die souveräne Beobachtung Sache der Zensur. Sie erspart dem Beobachten des Souveräns das Beobachtetwerden. Aber neben der Zensur, diesem 'Königsweg' der Beobachtungsvermeidung, gibt es den allgemeinen Fluchtweg in die Innerlichkeit. Ich kann nicht entscheiden, ob meine Beobachtung mit oder ohne mich stattfindet, 'beim besten Willen nicht'. Nur mein Beobachter kann das. Die Differenz zwischen auseinanderliegenden Beobachtungsstandpunkten wird von der second-order-observation (schmerzhaft und) fruchtbar gemacht. Zensur - als Institution wie als psychischer Mechanismus - stellt Genießbarkeit her, ruhige, ungestörte jouissance, und vermeidet so genau diese Differenz. Für Objektivität gibt es also nur eine Rettung: daß es einen Beobachter zweiter Ordnung nicht gibt, daß es zur Beobachtung zweiter Ordnung nicht kommt. Das kann mittels Recht, wenn nicht erreicht, so doch begünstigt werden. Wenn der Beobachter zweiter Ordnung nicht vorkommen darf, kann seine Beobachtung zurückgewiesen werden, als Verleumdung zum Beispiel (diabolia). Das führt zum Wurf mit dem Tintenfaß nach dem beobachtenden Teufel. Später tritt der Beobachter zweiter Ordnung dagegen mit vollem Recht auf. Droht ein neues Babel? Wodurch wird die mit der Zensur verlorene Einheit ersetzt? Durch die Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation. Auch der second-order-Beobachter kann beobachtet werden; deshalb enthält sein Argument das Risiko, gegen ihn verwendet werden zu können. So wird man sich vielleicht hüten, so erhalten Worte ihr Gewicht, so hält die Zahl der Wortmeldungen sich von selbst unter Kontrolle, so kommt es zu einem ständigen Errechnen von Redeund Schweigemotiven.13
III Blickt man auf die Systemtheorie, so bietet die Allokation des Unbedingten ein klares, fast erfrischendes Bild - wie ein wohlgeordneter Zettelkasten oder ein überzeugendes Architekturmodell. Die Umwelt spielt die Rolle des Unbedingten, gegen das nichts zu
12 Niklas Lüh mann, "Wahrnehmung und Kommunikation sexueller Interessen", in: Rolf Gindorf u. Erwin J. Haeberle (Hrsg.), Sexualität in unserer Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte, Theorie und Empirie, Berlin 1989, S. 27-138. 13 Vgl. Anton Schütz, "Fancying Society. With Auto-poiesis beyond the Paradigm of Mastership", in: Law and Critique Vol. V,2 (1994).
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machen ist, das ist, was es ist. Der große Unterschied zu sonst weithin gepflogenen Modellen der impliziten Minimal- oder Gebrauchsmetaphysik liegt in der Distanz zu allem, was man im Lauf der Zeit mit dem Namen Jenseits bezeichnet hat. Ein Jenseits welchen Niveaus und welcher Spezifikation auch immer ist die Umwelt darum nicht, weil sie grundlegend systemrelativ veranlagt ist, es also so viele Umwelten gibt, wie es auch Systeme gibt. Das kommt der berühmten dichterischen Vision von einer Grenze, oder einem geschlossenen und bewachten Tor, nur dazu bestimmt, einem einzigen Mann den Einlaß zu verwehren, nahe. Die Umwelt stellt immer nur dem System, dessen Umwelt sie ist, sein Ohnmachtszeugnis aus. Oder mit anderen Worten - und entgegen einem verbreiteten Sprachgebrauch - : "die" Umwelt existiert nicht. Und das ist nicht alles. Auch korrekt, also systemspezifisch eingesetzt, weist der systemtheoretische Umweltbegriff noch eine bedeutende und a priori unwahrscheinliche Eigenheit auf. Mit Umwelt ist nämlich ein Platz bezeichnet, der nicht eingenommen werden kann. Niemand kann wessen immer Umwelt "sein". Der Türhüter, der im Gleichnis die Umwelt des wartenden Fabelhelden repräsentiert, wäre, wenn man ihm außerhalb des Gleichnisses begegnete, einfach ein Usurpator - ein Schwindler, der meine Umwelt zu vertreten vorgibt, während er doch nur, wie Leute füreinander stets, System in meiner Umwelt ist. Unrepräsentierbarkeit und Systemspezifizität: damit ist schon festgelegt, wo das System-Umwelt-Modell seine Grenzen hat. Es fuhrt zu einem polykontexturalen, unabbildbaren, bildlosen Weltbegriff. Gefährdet es die Welt, indem es ein etwa bestehendes Urvertrauen in die Gemeinsamkeit des Welterlebens untergräbt? Versperrt es gar den Zugang zu den Werten der Gemeinschaftlichkeit und zum Erleben des Konsenses? Jedenfalls ist das System-Umwelt-Modell unfähig, gemeinsame Unterwerfung zu begründen. Weil die Umwelt nicht vertreten werden kann, stellt das Modell keine Regierbarkeit her. Weil die Umwelten systemspezifisch sind, stellt es keine Verbindlichkeit her. Auch das Kosmosmodell bezieht sich auf eine Weise des Umgehens mit dem Unbedingten und, wie das System-Umwelt-Modell, so erzielt auch das Kosmosmodell, oder erzielte es jedenfalls, eine eindrucksvolle Ordnungsleistung - und zwar nicht im Modell, sondern in der Wirklichkeit. Zunächst bietet das kosmische Unbedingte jedermann die Gelegenheit zum Mitmachen. Noch dem letzten Kosmosteilnehmer gehört ein Anteil an der Macht, mit der der Kosmos sich selbst beherrscht. Noch der letzte Kosmosteilnehmer ist auch Kosmosträger, Sym-Pantokrator, mit-unbedingt, mit-allbeherrschend, partizipiert selbst an der "einen sich selbst voll zugänglichen Einheit" (Luhmann). Die Einheit Kosmos ist zugleich unbesieglich und nichts-außer-sich-lassend, mit anderen Worten, der Kosmos ist maître de céans, Herr im eigenen Haus, oder er beherbergt doch einen solchen Herrn oder Machthaber. Die kosmische Ordnungsmacht ist größer als alle selbst noch unbekannten Mächte zusammengenommen, nur dies Größersein, nur diese maiestas, ist schon gegenwärtig bekannt, was eine Majestätsrolle der Gegenwart selbst miteinschließt, also bedeutet, daß auch Zukunft und Zufall unter Kontrolle sind - zumindest "in letzter Instanz". Der dem Kosmosdenken wie der Moderne eignende Absolutismus schließt - weit über das bloße Recht des von-Gesetzen-Entbundenseins hinaus - das empirischer Überprüfung
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zugängliche, also riskante Engagement ein, "es aufzunehmen" mit dem Lauf der Welt: Herr zu sein, und damit Herr zu werden allem Geschehen, der ganzen offenen Klasse aller denkbarer und undenkbarer Kontingenzen. Eine kühne Proklamation der Übermacht der Wirklichkeit über die Möglichkeiten, des Seins über das Werden, der Macht über die Geschichte, der Kompetenz über die Performanz, des Texts über den Kontext, des Programms über die Umstände seiner Implementation. Die zu immer kleinerer Münze modernisierte Nachgeschichte dieses großen kosmischen Anspruchs umfaßt z.B. den Panoptismus der Gefängnisüberwachung, das Machtversprechen des souveränen Staates, wo immer innerhalb der Grenzen seines Territoriums auftauchende Resistenzen gegen seinen Willen sogleich aufzuspüren und zu vernichten, und die Strategie der unerfindlich irgendwo lauernden und auf Gelegenheit zum Einsatz wartenden U-Boote, die sogenannte "fleet-in-being". Organisiert ist das kosmische Universum aber nach einem sehr viel älteren Vorbild, dem der römischen domus unter Bedingungen der Institution des Pateifamilias. Die kosmische Dominatverfassung verspricht nicht weniger als die Beherrschbarkeit des Erdkreises nach Analogie des Hauses. Ob die Zuschreibung dieser Macht auf institutioneller Basis einem irdischen Machthaber, mittels Stellvertretungskonstruktionen einem inkarnierten Vertreter, oder auch: Gott "selbst" zugeschrieben wird, ist in Hinblick auf die Fragen, um die es hier geht, nicht von Belang. Kunstvolle Theologumena schotten Allmachtsansprüche sorgfältig gegen das Sichtbarwerden von Unstimmigkeiten ab, indem sie mit der Unergründlichkeit des göttlichen und, in der Staatsräsonlehre, fürstlichen Willens das erklären, was sonst Gefahr liefe, mit der Unzureichendheit der betreffenden souveränen Macht erklärt zu werden. Und doch, eines Tages endet diese Annahme. Eines Tages ist der Moment dagewesen, da die Subjekte ebenso wie die Sachwalter der kosmischen Ordnung die Prämisse abweisen, die Geschichte habe einen Herrn - oder könne doch einen haben. Die Abweisung dieser Prämisse leitet zugleich das Fieber der Apokalypse und die Ablösung des Kosmosmodells ein. Das System-Umwelt-Modell verzichtet gleich entschieden auf den philosophischen Gestus 'anfänglichen Anhebens' (Heidegger) und auf die Allmachtshypothese. Es hat nur die Systemrolle anzubieten, nicht die Umweltrolle - und lokalisiert zugleich das Unbedingte in der Umwelt, nicht im System. Wenn die Umweltrolle unbesetzbar ist, wenn niemand Umwelt 'sein' kann, und wenn es die allumfassend-ökumenische Vorstellung von der einen, gemeinsamen, systemreferenzfreien Umwelt nicht gibt, dann gibt es keine Erfolgsgarantie für einen Machthaber. 'In letzter Instanz' kennt das System-Umwelt-Modell nur Ohnmacht. So reihen sich das System-Umwelt-Modell und die Beobachtung zweiter Ordnung ein in die Reihe der großen Entwesentlichungen und Exzentralisierungen, die dem Selbstbild des Menschen zugemutet wurden in der bekannten Serie historischer Perspektivenwechsel. Jede solcher Neuerungen bestand im Angebot eines neuen Gesichtspunktes. Jedesmal nimmt eine Differenz den Platz einer Einheit ein - und jedesmal ist damit der Weg zurück zur Einheit, zur 'Selbstverständlichkeit' ausgeschlossen. Das führt zu Trotz, zu vergeblichen Gegenmaßnahmen, zur Suche nach der verlorenen Einheit. Der Weg dahin führt jedoch nur über neue Differenzen, die nur zu einer gesteigerten Unzugänglichkeit der verlorenen Einheit führen - also zu mehr Geschichte. Versprochen werden Einheit, Identitäten; erzeugt werden Kommunikationen. Das Versprechen jedoch, die
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Einheit könne 'doch noch' wiedergefunden werden, bleibt schwebend wirksam, solange nur das Weiterversprechen, die Verkündigung gelingt - die kerygmatische Betreuung, die Versorgung mit Botschaft, mit Identität, mit 'Substanz', 14 die über den Verlust der kosmischen Verfassung hinwegtröstet.
IV Die Monty-Python-Burleske vereinigt die Ausnahmen. Sie zeigt, wie eine erfolgreiche Erziehung aussieht: illiberal. Brian hat nicht die Wahl, er muß lernen vom Barthändler, in dessen Person sich inhaltliche Interessen - wie erhandle ich den besten Preis für meinen Bart? - und prozedurale Interessen - wie schaffe ich mir einen Gegner, mit dem ich überhaupt handeln kann? - aufs realistisch-widersprüchlichste vereinen. Unter den zeitgenössischen Beiträgen zur Deutung des unsterblichen Motivs "Väter und Söhne" ist diese Fabel von der Barttransaktion ausnahmsweise humorvoll und außerdem von exzeptioneller Treffsicherheit. Und dennoch: die weit schlagendere Ausnahme liegt woanders. Monty Pythons Life of Brian führt den Buffocharakter, die erfahrbare Inkonsistenz des gesellschaftlichen Seins vor. Komik ist nur einer der Aspekte. Es geht um das bare Faktum einer Dissymmetrie: um die Übermacht der Gesellschaft über die Versammlung der Anwesenden. Die abwesende oder (bis zu ihrem glücklicherweise verspäteten Eintreffen) «ocA-abwesende Gesellschaft - hier vertreten von der römischen Soldateska, die ständig "gleich da" sein wird - zwingt dem, was zwischen Anwesenden kommuniziert wird - hier: dem Barthandel - ihre Zeit auf, und zwar schon jetzt, schon vor der Drohungsverwirklichung, schon während des Drohungsadvents. Dieser triviale, aber folgenreiche Sachverhalt betrifft jedoch alle Kommunikation, erstreckt sich panoramisch über den ganzen Gesellschaftshorizont, ist für dessen Insassen unentrinnbar, und insofern von ihrem Standpunkt aus betrachtet nicht Scherz, sondern Ernst (und selbstverständlich verdankt sich auch die vis comica der Filmszene diesem Ernst). Die Gesellschaft selbst ist unerreichbar.15 Sie gewährt keine Audienzen - oder kann doch keine gewähren. Ihre Komplexität spottet erkennbar jeder verfügbaren Überwachung und Regulierung, damit aber aller Gesamtvertretung, und dieses Faktum verurteilt alle dennoch versuchten Zutritte zur Gesellschaft zum Schicksal von kontrafaktisch-selbstzufriedenen Repräsentativritualen - zu "Papiertigern", um mit Mao-Tse-Tung zu sprechen (der hier - une fois n'est pas coutume - nicht unluhmannianisch denkt)16. Jede Kommunikation ist eine perpetuelle Prüfungskandidatin, über deren Los und Erfolg immer "erst noch" zu entscheiden ist und niemals endgültig entschieden werden wird. Denn hinter dem Bartgeschäft lauern die Römer, aber hinter der
14 Vgl. Slavoj Zizek, Verweilen beim Negativen. Idealismus II, Wien 1994, S. 39 ff.
Psychoanalyse
15 Vgl. Peter Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt/Main 1992.
und die Philosophie Zur Konstruktion
16 Vgl. Niklas Luhmann, Die Macht der Verhältnisse und die Möglichkeiten Vortrags an der Juristischen Fakultät der Universität Wien, Februar 1989.
des
und
der Politik,
deutschen Imagination Ms. eines
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römischen Armee könnte bereits die siegreiche gotische daherkommen, und wer oft genug ins Kino gegangen ist oder sonst Lebenserfahrung besitzt, weiß: sie kommt bestimmt, nur: wann? (Und die weiteren Fragen sind natürlich: Was kommt dann? Und: Wann kommt esl) Et cetera. Ad infinitum - denn es gibt kein "letztes Wort". Das letzte Wort der Kommunizierenden ist nicht das letzte Wort; das letzte Wort hätte die kontinuierende Gesellschaft, die es nie aussprechen, ihre Reserve nie konsumieren kann. Denn wenn sie es täte, wäre das eine Kommunikation, und müßte mit dem Schicksal aller Kommunikation, zu enden, bezahlt werden. Genau das wird ihr in den Vorstellungen von einem Jüngsten Welt-, Geschichts- und Gerichtsgericht denn auch zugemutet, obwohl in untypischer, höchst voraussetzungsvoller Weise, denn das Machtwort wird zwar gesprochen, die Reserve zwar verbraucht, damit zugleich endet aber auch alles übrige, und es gibt keine Zeit mehr. Diese Vorstellungen bezeugen es schon: das Motiv des immerwährenden Ausstehens des letzten Worts hat eine lange und transzendenzreiche Vorgeschichte, bevor es durch Luhmann von der alten kosmologischen Unterscheidung Zeit/Ewigkeit abgelöst wird, in die eine - zugänglichere - Seite der Unterscheidung wiedereingeführt wird und nun als binnenzeitliche, oder Binnen-Gegenwart-Distinktion, zur Unterscheidung zwischen Kommunikation unter Anwesenden und (gleichzeitig vorhandener!) Gesellschaft eingesetzt wird. Damit erst wird klargestellt, daß Kommunikationen den Horizont, auf den sie sich beziehen und von dem abhängt, was in ihnen geschieht, nicht erreichen können. Damit erst wird die Kommunikation selbst - und nicht bloß "der Mensch" - zu einem Mängelwesen. Nur dank des luhmannschen Immanentisierungsradikalismus wird die Figur des befristete Endes - des Weitergehens bis zu einem Punkt certum quod incertum quando (bestimmt daß, unbestimmt wann) vom Menschenleben auf Kommunikationen übertragen. Gesellschaft besteht aus Kommunikationen - und nicht aus Menschen. Unter allen Theorievorschlägen und Denkangeboten Luhmanns hat diese Behauptung das meiste Stirnrunzeln und Kopfschütteln provoziert. Zugleich muß, ebenfalls mit Luhmann, aber daran festgehalten werden, daß die Geschichte der Gesellschaft nicht als die Geschichte einer fortlaufenden Kommunikation begriffen werden kann. Die Gesellschaft antwortet nicht. Sie verhält sich eher so, wie sich Aristoteles zufolge ein Streitgesprächs-Gegner verhalten würde, der nicht argumentieren will, nämlich: "fast wie eine Pflanze".17 Gesellschaft ist, in ihrem Zustandekommen wie in ihrem Kontinuieren, an die bestehende Bereitschaft zu Kommunikationen gebunden, z.B. auch an die Bereitschaft, Argumente zu benützen. Gesellschaft verhält sich unberührt, adiaphorisch. Sie macht sich nicht geltend. Sie läßt sich nicht auf Widersprüche ein. Die Gesellschaft "wird was sie wird" - ganz das Gegenteil, und ganz am anderen Ende der Machtskala angesiedelt, wie jenes gleichfalls tautologische biblische: "Ich bin der ich bin". Gesellschaft verhält sich nicht dialektisch, als Schauplatz einer historischen Aufeinanderfolge von Positionen in einer einzigen, zusammenhängenden, geschichtskoextensiven Gesprächssequenz, in einem einzigen historischen Argumentabtausch - sie verhält sich aber auch nicht diskursiv, als das immerwährende "Stimmengewirr" (Foucault) der hin-und-her-gehenden
17 Aristoteles, Metaphysik,
Buch G, Kap. 4, 1006a, 16-17.
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Reden. Das, wozu es in der Gesellschaft kommt, ist das Ergebnis von Steuerungen, die zumeist unterhalb der Ebene des Arguments liegen. Politische Willensbildung vermag daher Gesellschaft sehr wohl zu "repräsentieren", aber nur etwa in dem Sinn, in dem die Bretter der Bühne die Welt "bedeuten". Und tatsächlich ist das Mißverständnis von Gesellschaft als etwas, das notwendigerweise eine zur Regierung ihrer Belange ausreichende Kommandoposition einschließt, ein spezifisch theatralisches Mißverständnis. Verwechselt wird komplexe Gesellschaft, also etwas, das nicht in Erscheinung treten kann, mit Gedankenaustausch unter Anwesenden, Hof oder Versammlung, Liturgie, Zeremonie, Fest. Komplexe Gesellschaft wird nach dem Vorbild einfacher Gesellschaft fehlgedeutet als etwas, das ausnahmsweise, zu heiligen Zeiten oder in besonderen Personen, sich selbst erscheinen und sich selbst den Herrn zeigen kann. Dennoch läßt Gesellschaft auch solche verwechselnde und mißverständliche Beschreibungen ihrer selbst in ihr selbst zu - dennoch, aber auch: gerade deshalb, nämlich weil sie keine Versammlung ist. Denn Gesellschaft läßt alle möglichen Beobachtungen zu, auch und gerade solche, die zu unzutreffenden Ergebnissen führen, nur nicht: unbeobachtbare Beobachtungen, also solche, die irgendeinen Teilnehmer in die Position bringen, das letzte Wort zu haben. Genau diese Position gibt es dagegen in Gerichten, Parlamenten, Konferenzen, oder allgemein: unter Anwesenden. Hier erscheint der Souverän - die Gesellschaft erscheint dagegen unter keinen Bedingungen und zu keinem Zeitpunkt; so etwas wie eine "Phallophanie" (Zizek) oder Soziophanie des Gesellschaftssouveräns gibt es nicht. Eine Karte der Gesellschaft18 - oder sagen wir lieber: ein Bildschirm, weil man sonst mit dem Kartenzeichnen nicht nachkäme - würde, Luhmann zufolge, nur eine Sorte von Eintragungen, nur eine Population aufweisen, nämlich Kommunikationen. Diese Kommunikationen sind endlich - in einem einschneidenden Sinn, der sich daraus ergibt, daß simultan zur Einzelkommunikation, ganz gleich ob alltäglichster oder persönlichster, exoterischster oder bedeutungsvollster Art, immer und unentrinnbar auch Gesellschaft schon vorhanden ist und die Kommunikation durch andere Kommunikationen ablöst und, nicht selten, prompt Lügen straft. Der Slapstickfilm hat vermutlich mehr zur Bekanntheit dieser Trivial- oder Buffoverfassung von gesellschaftlichem Dasein beigetragen als die wissenschaftliche Soziologie. Nur auf der Karte der akademischen, philosophisch inspirierten Diskurse, mit ihren zahlreichen Kaiserreichen, König- und Herzogtümern, Gauen und Protektoraten, überseeischen Kolonien, freien Städten, reichsunmittelbaren Fürstentümern, Truppenübungsplätzen und Kirchenstaaten, nimmt diese Trivial- oder Buffothematik eine etwas abliegende Region ein, weit abseits vom großen thematischen Mittelmeer zwischen den Küsten des Subjekts, des Sinns, der Sinngebung, und den nach langen Jahrzehnten des Brachliegens heute wieder fruchtbaren Weiden der Moral. Nun ist opera buffa nicht jedermanns Sache. Auch auf der Opernbühne selbst zieht das Publikum den Tod der Heroine vor, die Prüfung des Helden, und die damit verbundenen schwindelerregenden Blicke in den "Abgrund" (Wozzeck) des menschlichen
18 Vgl. Bonaventura de Sousa Santos, "Law: A Map of Misreading. Toward a Postmodern Conception of Law", in: Journal of Law and Society 14 (1987), S. 279-293.
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Subjekts, "große" Oper also. Schopenhauer hat dafür einen Faktor verantwortlich gemacht, den er mit dem Wort Fallhöhe bezeichnet hat - vermutlich in aller Unschuld und ohne Hintergedanken, wie dies vor Freud, Joyce oder Schmidt noch möglich war.19 Nur wer von hohen Personen erzählt, mit hohen Einsätzen spielt, vermag seinen Lesern, Hörern und Sehern Zutritt zum Erleben spannend-tiefer Stürze (seltener auch: Aufstiege) zu verschaffen, während alles Alltägliche, dem bürgerlichen Publikum schon aus seiner eigenen Existenz und damit: ad nauseam Bekannte, von Schopenhauer mit Hohn gewissen Philosophenkollegen, sogenannten "Flachköpfen" überlassen wird, von späteren Fall-Süchtigen dagegen mit Gleichmut der Soziologie en bloc. Dramatik und Alltäglichkeit: Der Schopenhauerleser Otto Weininger, Autor des berühmten, thesenreichen Buches "Geschlecht und Charakter", 20 wird von der Wucht des Eindrucks, den seine Thesen auf ihn ausüben, in seinen Selbstmord im Beethovenhaus getrieben, während der Soziologe Emile Dürkheim in seiner gleichfalls berühmt gewordenen Studie den Selbstmord als regelmäßiges Vorkommnis des gesellschaftlichen Alltags erfaßt und mit anderen Vorkommnissen und Ereignissen des gesellschaftlichen Alltags in statistische Beziehungen setzt, die er dann analysiert.21 Ein Vergleich beider Werke nach Auflagen und Verbreitung würde überwältigend zugunsten Weiningers ausfallen und Schopenhauer eine absolut außergewöhnliche Intuition attestieren - als Soziologe.
V Soziologisch scheint erwiesen: Wer mit "Fallhöhe" arbeitet, kommt in den Genuß eines Sonderbonus an Aufmerksamkeit. Ist dagegen etwas einzuwenden? Zunächst muß klargestellt werden: Die Anwendung der Fallhöhen-Mechanik strictissimo sensu auf Film und Roman, Theater und Oper ist nicht der Gegenstand. Ebensowenig soll es um den erweiterten Gebrauch dieser Lehre gehen, um ihre Anwendung auf den Umgang mit Aufmerksamkeit überhaupt, weder in ihrer selbstbewußten, noch in ihrer verschämten, verdrängenden und exorzierenden Spielart, weder als Rhetorik noch als "Anti-Rhetorik". Was den ersten Punkt betrifft, kann es einen Einwand nicht geben, ja schon die Frage scheint ungereimt, weil es für jemanden, der Kunst und Künstler beobachtet, gar keinen Zweifel daran gibt, daß es dabei ums Aufspüren von emergenten Affizierungs- oder Beeindruckungsmöglichkeiten geht. Was die zweite Frage anlangt, so ist es nach rund zwei Jahrzehnten pro-
19 Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, II, § 37, zit. nach der Ausgabe: Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Wolfgang Frhr. v. Löhneysen, Bd. II, Frankfurt/Main 1986, S. 562. 20 Otto Weininger, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipizlle erscheinen 28 Auflagen nebst einer "Volksausgabe", 1926. 21 Vgl. Emile Dürkheim, Le suicide. Etüde sociologique,
Untersuchung,
Wien 1903. Bis 1947
Paris 1887 (Dritte Auflage: 1930).
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rhetorischer Rehabilitationen22 und auf dem Boden der letzten novissima rhetorica immerhin bemerkenswert, wenn heute Alain Badiou zu einem solchen "Einwand" ausholt - einem platonischen Gegenschlag hohen philosophischen und rhetorischen Anspruchs gegen Sophistik und Rhetorik modern und postmodern.23 Die Frage der spezifisch gesellschaftlichen Aspekte des Gebrauchs von Fall und Fallhöhe und der möglichen Einwände dagegen handelt nicht von Urteilen und Vorurteilen, von Engagements oder von Betroffenheit. Sie handelt von der Entscheidung zwischen einer Tautologie und einem Paradox. Kann man in der Tradition der Rhetorik des Erhabenen eine gegen die Lösungen, die im Alltag vorgelegt und erprobt werden, gerichtete Serie von Gegenlösungen oder Repliken sehen, eine Serie von "Marginalisierungen" des "Trivialen"? Ist Erhabenheit eine Technik der Aufmerksamkeitsbeschaffung? Vor allem: Ist es, mit der Erfindung dieser Technik, zu etwas gekommen, zu dem es auch nicht-kommen hätte können? Der "Dämon", mit dieser zuletztgenannten Möglichkeit operieren zu müssen, bleibt nur dem systemtheoretischen Beobachter nicht erspart, für den Systeme, und daher auch Kommunikationen, Umwelten haben. Ihm könnten die Unterscheidung des "Trivialen" und "Anti-Trivialen" und das Motiv der Fallhöhe als das Inventar einer politischen Entscheidung zwischen Tautologie und Paradoxie erscheinen. Er muß nur auf die Frage verfallen, ob die Grenze zwischen Trivialem und Nichttrivialem, so wie das Motiv der Fallhöhe sie zieht, nicht Beobachtung, genauer: die Möglichkeit (bzw. unter klassischen, vormodernen und z.T. auch modernen Bedingungen: die Schmach) des Beobachtetwerdens, selbst ist. Er muß bloß herausfinden, ob und wieweit Trivialität gleich Beobachtbarkeit, Nichttrivialität gleich Unbeobachtbarkeit ist. Beruht die Erhabenheit des Erhabenen darauf, daß hier Beobachtung ausgeschlossen ist? Dann wäre das Erhabene in dieser Hinsicht die rhetorische Spielart der alten Konstruktion einer Gesellschaft, die über sich Macht hat, dann gälten die Gleichungen: "Beobachtungverbot" gleich "erhaben" und "Erhabenheit" gleich "Beobachtung verbietend". Beobachtung wäre dann die Paradoxie, die an die Stelle der Erhabenheit treten könnte, zu treten droht - denn mit diesem Schritt wäre die Erhabenheit zerschlagen, ihrer Majestät, ihres "letzten Wortes" beraubt. Unter den Bedingungen einer nicht mehr nach "Kosmos", sondern nach "System/Umwelt" verfaßten Gesellschaft - unter Bedingung von Gesellschaft (und nicht: von Herrschaft) - kann es keinen Standpunkt der Beobachtung von Gesellschaft geben, der selbst nicht beobachtbar wäre. Kein letztes Wort, und daher vielleicht (außer auf Bühnen und entsprechenden instituierten Ausnahmen) kein erhabenes Wort. Sogar dasjenige, wogegen es keinen Einwand gibt, kann, soweit es um Gesellschaft geht, noch beobachtet werden, ohne daß es dagegen einen Einwand gibt.
22 Vgl., verhältnismäßig frisch auf einer langen Liste, etwa Stanley Fish, Doing what comes naturally: change, rhetoric, and the practice of theory in literary and legal studies, Oxford 1989; ders., There is no such thing as free speech and it's a good thing too, Oxford 1994. 23 Alain Badiou, L'être et l'événement, Paris 1988; ders., L'Éthique ou la conscience du mal, Paris 1994. Für eine Würdigung der Rhetorikrehabilitation im Recht vgl. auch Peter Goodrich, Languages of Law: From logics of memory to nomadic masks, London 1990 und, z.T. kritisch, ders. "The Continuance of the Antirhetoric", in: Cardozo Studies in Law and Literature Vol. 4/2, S. 207-222.
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Anton Schütz
Das größte (erhabenste) Rätsel aber ist der Mensch. Wird die Zensur durchbrochen, führt das zu Beobachtungen, die von: Reserven, Ausbeutung, Anzapfung, Parasiten handeln. Gunther Teubner und Michael Hutter beobachten zwei prominente Menschenfassungen der modernen Wissenschaft: den homo oeconomicus und den homo juridicus. Den über das ontologische oder im Gegenteil idealtypische Statut dieser Konstruktionen seit Jahrzehnten tobenden stillen Weltkrieg der Schulen lassen sie auf sich beruhen und beschreiben die betreffenden Konstruktionen stattdessen als Gebrauchsfiktionen, Realfiktionen. Die Frage des ontologischen Statuts, die mehrere Professorengenerationen gegeneinander aufgerieben hat, verblaßt vor der Frage nach der Leistung dieser Konstruktionen. Besteht sie etwa darin, "den Menschen" so zu formatieren, daß die Wirtschaft bzw. das Recht etwas mit ihm anfangen können? Ist das Axiom unumstößlich, "der Mensch" stehe im Mittelpunkt der Gesellschaft und im besonderen solcher Agenturen wie Recht oder Wirtschaft? Ist der "Ort des Menschen" in Wirklichkeit an der Peripherie gelegen? Während noch immer nicht entschieden ist, ob der Mensch die Wirtschaft oder das Recht brauche oder nicht, zeigen Teubner und Hutter, wie die Ökonomie und das Recht ihre Bedürfnisse am Menschen absättigen. Die Ökonomie kann den Menschen brauchen, soweit er ein Transaktionen tätigendes Wesen - ganz gleich, ob: ist, oder bloß: als solches sich benimmt. Der Mensch muß nochmals mit Aristoteles - ein mit Pleonexia (Gewinnsucht) geplagtes/begabtes Wesen sein, oder sich doch so benehmen, mehr verlangt die Ökonomie nicht von ihm. Das Recht wieder benötigt streitlustige Wesen. Auch vom Standpunkt des Rechts macht es kaum einen Unterschied, ob die Streitlust im Menschen liegt oder ob es zu seiner Emergenz nur in der Geschichte gewisser Menschheiten kommt. Es genügt dem Recht, wenn es Streitlust gibt. Leuten, die sich "wie Pflanzen" verhalten, hätte das Recht nichts zu bieten, zu seiner Evolution, zum Wachstum der Rechtspflanze, war die Ausbeutbarkeit von Streitlustreserven vonnöten. Was in historischer Perspektive als "Menschenfassung" erscheint,24 erscheint somit in soziologischer Perspektive als ein Nebenprodukt der Prozesse, mit denen die Gesellschaft auf menschliche "Beute" auszieht. Menschliches-nie-hinreichend-Menschliches, so stellt es sich vom Standpunkt dieses subsystemspezifischen Beutemachens aus dar. Diese Perspektiven machen Marx' Lehre von der Ausbeutung aktuell zutreffend. Sie verlangen nicht weniger als: eine neue Sozialanthropologie.25 Die Buffoszenerie präsentiert die "andere Szene" - die andere "andere Szene", wie nach Freud und Lacan hinzuzufügen ist. Eine Welt der Komplexität, die aus gesellschaftlichem Zeitgebrauch hervorgeht. Eine Welt, in der besteht und berücksichtigt wird: Gesellschaft - nicht als "compagnie", nicht als etwas, das Menschen anderen Menschen "leisten" können, nicht Anwesenheit der einen für die anderen und der 24 Vgl. Walter Seitter, Menschenfassungen.
Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft,
München 1985.
25 Michael Hutter u. Gunther Teubner, "Der Gesellschaft fette Beute. 'Homo juridicus' und 'homo oeconomicus' als kommunikationserhaltende Fiktionen", in: Sociologia Internationalis (1994). In Berg/Büchners Wozzeck heißt es: "Denn wovon hätte der Schneider ... leben sollen, wenn Gott dem Menschen nicht das Gefühl der Schamhaftigkeit eingepflanzt hätte? Wovon der Soldat und der Wirt, wenn er den Menschen nicht mit den Bedürfnissen des Totschießens und der Feuchtigkeit ausgerüstet hätte?"
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anderen für die einen, sondern Gesellschaft verstanden als société, als die übergreifende, anonyme Kollektivautorin variabler Menschenfassungen, als die veranstaltete Veranstalterin historischer Evolution. Gesellschaft, die, um zustandezukommen, nicht benötigt, daß Menschen einander gegenwärtig sind, sondern nur, daß Menschen vorhanden sind, - oder sonst etwas Entsprechendes, das genügt, um Kommunikation zustandezubringen. Kommunikationen, in der von Monty Python geschilderten Welt, haben somit ein Jenseits. Brians Kommunikation mit dem Bartverkäufer ist gefährdet durch die bedrohlich heranrückende römische Armee, der sie zugleich ihr Zustandekommen verdankt. Was unter Anwesenden vorgeht, steht unter dem Druck eines abwesenden und zwar nur vorübergehend abwesenden - Geschehens. Daß dieses Geschehen zur Gesellschaft - einer unerschöpflich aspektreichen und zugleich unfaßlich veränderlichen Entität - zusammenschießt, das ist die Wette der theoretischen Soziologie. Der Film hat den großen Vorteil, nicht auf dergleichen angewiesen zu sein. Die Frage, ob die Gesellschaft eine Entität oder eine Einbildung, oder auch eine Zwangsvorstellung ist (in der Art, wie man früher "Stimmen hörte"), kann der Filmregisseur offenlassen, nicht der Soziologieprofessor. Das sind aber Genreprobleme. Gesellschaft, gleich ob als Zwangsvorstellung oder als vorstellungsunbedürftiger Zwang, transzendiert die Ordnung der anwesenden Dinge, indem sie das, was unter Anwesenden geschieht, durch den Bezug auf Abwesendes systematisch relativiert und subvertiert, es generell unernst nimmt. Wie bereits angedeutet, nimmt die Zeit in diesen Prozessen die Hauptrolle ein: Gesellschaftliche Kommunikationen (und Kommunizieren ist alles was die Gesellschaft überhaupt "kann") stehen unter dem Zeichen der Urgenz, sind mit ihrer Sterblichkeit, mit dem Schlußpunkt konfrontiert, der unter ein sonst unendlich fortgehendes kommunikatives Undsoweiter gesetzt wird. Nun erscheint Gesellschaft aus der Buffoperspektive in so gut wie allen Slapstickfilmen; es ist typisch für das ganze Genre, daß es im Grunde keine anderen Stars kennt als die Komplexität, von der es immer zuviel, und die Zeit, von der es immer zuwenig gibt.
Peter Ben
Der deutsche Normenausschuß Zur Theorie und Geschichte einer technischen Institution
I. Als Carl Schmitt 1925 das Ende jeder repräsentativen, juridischen und damit, so Schmitt, politischen Form diagnostiziert, geht er von ihrem Gegensatz aus: der unbildlichen, dinghaften, absoluten und unbeirrten Sachlichkeit des "heute herrschenden ökonomisch-technischen Denkens". 1 Die Form des Repräsentativen als Form "institutioneller Rationalität" 2 begründet Geltung und Autorität personal: in der katholischen Kirche, jener endzeitlichen Institution, die "überhaupt nur noch die Repräsentation repräsentiert", 3 geht die Autorität eines "Amtes", vom Priester bis zum Papst, "in ununterbrochener Kette, auf den persönlichen Auftrag und die Person Christi" zurück. 4 Das sachliche Denken dagegen "kennt nur eine Art Form, nämlich technische Präzision". 5 Da institutionelle, repräsentative Ordnungen - Ordnungen "im eminenten Sinne" 6 - immer mehrere Mitspieler brauchen (Priester, Soldat und Staatsmann, Thron und Altar oder die Dreifaltigkeit von Ständen) ist die nicht-instituierbare reine Immanenz des Ökonomisch-Technischen "das wirklich revolutionäre Prinzip", nämlich die Abschaffung der Politik überhaupt. 7 "Vor Automaten und Maschinen kann man nicht repräsentieren, so wenig wie sie selber repräsentieren oder repräsentiert werden" . 8 Technik in der Immanenz einer absoluten Sachlichkeit, der jede institutionelle Form als "Eingriff von außen, eine Störung der von selbst laufenden Maschine" erscheint, 9
1
Carl Schmitt, Römischer Katholizismus
2
Ebd., S. 19.
3
Ebd., S. 26.
4
Ebd., S. 20.
5
Ebd., S. 28.
6
Ebd., S. 43.
7
Ebd., S. 38.
8
Ebd., S. 30.
9
Ebd., S. 37.
und politische
Form, München 1925, S. 12.
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Peter Berz
ist ein Mythos des 20. Jahrhunderts. Er entsteht auf einem bestimmten Stand von Technik 10 und Ökonomie in den westlichen Industrienationen nach dem ersten Weltkrieg und könnte nicht zuletzt einer der weit verzweigten diskursiven Effekte einer in den 20er Jahren noch sehr jungen Form der Institutionalisierung sein: der Institutionalisierung des Technisch-Ökonomischen selbst. Sie nämlich mache, so 1927 einer ihrer bekanntesten "Exponenten", 11 "zum erstenmal vielleicht ... die nationale Wirtschaft in ihrer industriellen Gestalt als Einheit äußerlich wahrnehmbar" 12 - ganz als wäre man ins Zeitalter jener "Technologien" und Gesamttableaus der technischen Welt aus dem Kameraiismus des 18. Jahrhunderts zurückversetzt. Mit dem ersten Weltkrieg konstituieren sich in allen westlichen Industrienationen und der Sowjetunion jene Komitees, Kommissionen, Assoziationen, Bureaus, Institute und Ausschüsse für allgemeine, nationale und bald internationale technische Normung, die im Prinzip noch heute bestehen. 13 Die neue Sichtbarkeit der Technik in der Institutionalisierung technischer Standards und Normen dürfte eine der weitreichendsten Entwicklungen des ersten Weltkriegs sein. Wo aber Technik von Standards und Normen 14 aus sichtbar wird, vergeht der Mythos vom Gegensatz ihrer Immanenz zur Eminenz der institutionellen, juristischen Form. Weil technische Normen sich weder aus der "Sachlichkeit" naturwissenschaftlicher Gesetze ableiten lassen noch Gegenstand von Gesetzestexten sind, 15 werden um sie und mit ihnen faktische Kriege geführt: Krieg um Märkte zwischen Konzernen, industrialisierte Kriege zwischen Nationen und der Krieg um Märkte zwischen Industrienationen. Weil sie aber zugleich einer rudimentären juristischen Form und einer Logik wissenschaftlicher Technik zu gehorchen scheinen, können sie auch jene dünne Schicht
10 Diese Technik bleibt bei Schmitt mit Ausnahme eines Elektrizitätswerks für elektrische Altäre und Tanzlokale (S. 22), "einer riesigen Dynamomaschine" (S. 18) und der Elektrizifizierung Rußlands (S. 19) ganz auf die Technik industrieller Produktion eingeschränkt. 11 Ebd., S. 28. 12 Waldemar Hellmich, "Zehn Jahre deutscher Normung", in: Deutscher Normenausschuß (Hrsg.), DIN 1917-1927, Berlin 1927; auch in: Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure 71. Bd. (1927), Nr. 44, S. 1525-1531. Hier wie im folgenden zitiert nach einer Typoskript-Abschrift, Berlin, Archiv des DIN, Ordner "Waldemar Hellmich, Vorträge und Aufsätze", S. 5. 13 1993 liefen unter dem Namen einer solchen Institution in Deutschland immerhin 22 002 Normen, in einem Institut, das für seine 4300 Arbeitsausschüsse 44 000 ehrenamtliche und 1061 hauptamtliche Mitarbeiter beschäftigt, bei einem Budget von 160 Millionen Mark. Vgl. DIN Geschäftsbericht 1993/94, S. 5. 14 Zum Streit um die Begriffe "Norm" oder "Standard", "Normalisation" oder "Standardisation" vgl. z.B. Jacques Maily, La Normalisation, Paris 1946, S. 20-23. Im Französischen wird in den 20er Jahren der Neologismus "normalisation" geprägt. Das Wort "standardisation" sei, nach der Argumentation eines Ingenieurs von 1918, schwer auszusprechen und zu sehr mit der Bedeutung des Unverrückbaren verbunden; es habe außerdem eine Konnotation aus der Arbeitswissenschaft. 15 "Des accords n'ayant fait l'objet d'aucun texte législatif ou ne résultant pas de données scientifiques précises", so schreibt der Direktor des französischen Normenauschusses AFNor 1935 (zit. nach: Maily, La Normalisation, S. 15).
Der deutsche Normenausschuß
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einer Institutionalisierung bilden, die "Die Norm als Waffe" 16 für einen Augenblick in der Ruhe eines Instanzenzugs zu entschärfen scheint.
II. Wo jene dünne Schicht der Institution über dem Krieg der Normen sich bildet, stehen im 20. Jahrhundert nicht Menschenfassungen und der Körper "als Gegenstand und Zielscheibe der Macht". 17 In Frankreich liegen die Anfänge nationaler Normungsinstitutionen in den Wüsten eines Weltkriegs: die Commission Permanente de Standardisation (C.P.S.) vom Juni 1918 hat das einzige Ziel, Gebäudeelemente für den schnellen Wiederaufbau zerstörter Dörfer und Städte in den "régions dévastées" der ehemaligen Westfront zu standardisieren. 18 In Deutschland setzen nationale und institutionalisierte Formen technischer Normung dort ein, wo dieser Krieg "nicht mehr im Kampf von Mann gegen Mann, sondern von Maschine zu Maschine ausgefochten werden mußte". 19 Sie beginnt also mit einer Kriegsmaschine, die allein darum so heißen kann, weil sie aus Maschinen im Plural besteht: aus Reihen, Serien, Ordnungen von Maschinen. Die technische Form, die sich hier institutionalisiert, liegt in ihrer immanenten Logik bereits vor dem Ersten Weltkrieg fest. Ihre institutionelle Formierung läßt sich auf das Jahr 1917 datieren. Die erste Form, unter der Massenfabrikation von Maschinen im 19. Jahrhundert stattfindet, ist Präzision. Und sie wird meist amtlich autorisiert. Das Urset des "Springfield Standard" von 1823, ein Set aus elf Meßwerkzeugen (sogenannten "Lehren") zur Herstellung und Abnahme eines einzigen Produkts: eines Gewehrschlosses, liegt im Ordnance Department der amerikanischen Armee. In den staatlichen Gewehrfabriken Preußens liegen die "allerhöchst" genehmigten Maßtafeln und ein vollständiger "Ursatz" aller Lehren "unter Verschluß des K.M. in der Gewehrfabrik Spandau". 20 Technische Normierung strahlt vom Ort behördlicher Autorität aus. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts armory practice in die maschinelle Herstellung verschiedenster Typen von Maschinen eingeführt wird - von der Nähmaschine übers Fahrrad bis zur Werkzeugmaschine - , wird aus Normalisierung als amtlich autorisierter Präzision eine Logik von Ordnungsoperationen.
16 Walter Porstmann, "Die Norm als Waffe", in: Die Umschau. Wochenschrift Wissenschaft und Technik XXII. Jg., Nr. 31 (27. Juli 1918), S. 369 f. 17 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses Seitter, Frankfurt/Main 1977, S. 174.
über die Fortschritte
in
(1975), übersetzt von Walter
18 Maily, La Normalisation, S. 160. Das Primat architektonischer Normen wird, so Maily, 1945 in Frankreich noch einmal wiederkehren (ebd., S. 40, 353). 19 Hellmich, Zehn Jahre, S. 2. 20 Dipl.-Ing. Franz Mauderer, "Die Fertigung von Infanteriegerät", in: Verein Deutscher Ingenieure (Hrsg.), Technische Kriegserfahrungen für die Friedenswirtschaft, Bd. I, Berlin - Leipzig 1923, S. 297-315, S. 298.
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Peter Beri
Pünktlich zum August 1914 stellt Herr Generaldirektor Fritz Neuhaus, Borsig/Berlin, diese Logik aus der Welt der Maschinen in ihrer ganzen Geschlossenheit einer größeren Öffentlichkeit vor: "Der Vereinheitlichungsgedanke in der deutschen Maschinenindustrie." 21 Mit der Einsicht des Betriebsingenieurs skizziert Neuhaus die normalisierte Fabrikation von Maschinen als Ordnungsproblem. Erstens "Normalisierung ganzer Maschinentypen", 22 also Reduktion vieler Klassen auf einige wenige. Diese "Typisierung" genannte Strategie hat ihre engen Grenzen an konstruktiven Erfordernissen, Moden oder Kundenwünschen. Darum nimmt Direktor Neuhaus seinen Gedanken zweitens dort auf, wo Konstrukteur und Betriebsmann ganz ungestört von Markt und Mode sind: beim Einzelteil. Dessen Logik ist ein kleines strukturalistisches Meisterstück. Normalisierung, vom Einzelteil aus gedacht, kann sich, so Neuhaus, "nach zwei Richtungen ausdehnen". Beginnend bei einfachen Teilen "gleicher Art" (Stifte, Schrauben, Ringe, usw.) heißt Normalisierung: Reduktion möglicher Dimensionen dieser gleichen Teile durch gestufte Reihen oder "Staffelkurven" 23 mit genau festgelegten Sprüngen. Gibt es für Kegelstifte zwischen 1,0 mm und 2,5 mm nicht mehr beliebig viele Zufallszwischenwerte, sondern nur noch 1,25 und 1,5 und 2,0, so wird sich bald herausstellen, daß sich Stifte "gleicher Abmessungen immer häufiger wiederholen" 24 - das ist: künstliche Induzierung von Massenbedarf. Am Ende dieser Normalisierungsrichtung steht die "Zahlentafel". Sie legt nach Senkrechte und Waagrechte alle zulässigen Kombinationen von Längen, Durchmessern, Kegelform, usw. fest. 25 Da aber Kegel und Löcher, Löcher und Bohrer, Bohrer und die Maschinen zur Herstellung von Bohrern sich gegenseitig determinieren, breitet sich eine Norm für Kegelstifte scheinbar wie von selbst aus: der "Normengedanke wuchs selbsttätig weiter" (Schlesinger). Die zweite Richtung des Vereinheitlichungsgedankens beginnt bei komplizierteren, "zur Massenproduktion ungeeigneten Teilen" verschiedener Art. Normalisierung heißt hier: Auflösung der komplizierten Teile einer bestimmten Maschine in mehrere einfache, die so universell sind, daß sie auch in anderen Maschinen vorkommen können. Also: Verwandlung von Ganzheiten in Aggregate oder Baukastenprinzip. "Jede Maschine und stelle sie eine noch so sehr von bisher Bekanntem abweichende Form dar, wird sich in ihren Elementen auf Teile zurückführen und aus solchen aufbauen lassen, die sich in anderen Gattungen wiederfinden." 26 Beispiel Säulen. 27 Eine "ursprünglich gebräuchli-
21 Fritz Neuhaus, "Der Vereinheitlichungsgedanke in der deutschen Maschinenindustrie. (Vorgetragen auf der 55. Hauptversammlung des Vereines deutscher Ingenieure in Bremen)", in: Technik und Wirtschaft. Monatschrift des Vereines deutscher Ingenieure 7. Jg., 8. Heft (August 1914), S. 603-638. 22 Neuhaus, Der Vereinheitlichungsgedanke,
S. 606.
23 Vgl. Georg Schlesinger, "Praktische Ergebnisse der Normalisierung", in: Zeitschrift deutscher Ingenieure 62. Bd., Nr. 50 (14. Dez. 1918), S. 889. 24 Neuhaus, Der Vereinheitlichungsgedanke,
des
S. 614.
25 Ebd., S. 612. Vgl. hier am Ende die Abbildung in diesem Band auf S. 235: "DI Norm 1". 26 Ebd., S. 608.
Vereins
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Der deutsche Normenausschuß
che blanke Säule (geschmiedete Geländersäule, P.B.) aus einem Stück", aufgelöst in einen glatten Schaft, ein Durchgangsstück in der Mitte und ein Kugelstück an der Spitze - alles "mit den uns schon bekannten" Kegelstiften zusammengesteckt - ist effektiver Agent von Massenproduktion. Aus "aufgebauten Säulen"28 fallen Massen gleicher Einzelteile an, einfach, normal, universal. Das Normale als Normalteil darf "Normalie" heißen.29 Werden "solche Normalien gleichsam in Betrieb gesetzt", breiten auch sie sich wundersam selbsttätig aus. Schaft, Kugel, Durchgangsstück lassen sich an Kesselleitern, Dampfmaschinen, Haltern aller Art wiederentdecken. Sie beginnen Aggregate verschiedenster Gattungen "miteinander zu ketten", wie Verwaltungsingenieur Waldemar Hellmich die Wirkung genormter Papierformate beschreibt (Rohbogen, Papiermaschine, Briefhülle, Briefordner, Aktenschrank, Karteikasten und Reißbrett als eine einzige Kette).30 Wo Foucault die Menschenfassungen einer normenden, normierenden, normalisierenden Macht der Disziplin in fünf Operationen auflöst: Vergleichen, Differenzieren, Hierarchisieren, Homogenisieren, Ausschließen31 - da beginnt eine der Maschinenfassungen32 des 20. Jahrhunderts mit: Identitäten herstellen und in Reihen anordnen, Ganzheiten in Einzelteile auflösen und sie zu Aggregaten ketten. Die Matrix dieser einfachen Operationen wird vor dem ersten Weltkrieg "für das Leben der industriellen Zelle maßgebend".33 Doch schon in der Zelle muß, was scheinbar wie von selbst läuft, bürokratisch und durch rudimentäre, institutionelle Formen gestützt sein. "Wenn ein Teil zu einer Normalie erhoben"34 oder "erklärt"35 wird und "von allen Beteiligten als solche anerkannt", muß es eine Instanz geben, die seine Geltung garantiert, in Tafeln oder Zeichnungen demonstriert und seine Verbreitung überwacht: "eine Zentralinstanz,
27 Fritz Neuhaus, "Technische Erfordernisse für die Massenfabrikation", in: Technik und Wirtschaft. Monatschrift des Vereines deutscher Ingenieure 3. Jg., 10. Heft (Oktober 1910), S. 595 f. Andere Teile, ohne architektonische Bezüge, die für Aggregatsbildung besonders beliebt sind: Pleuelstangen, Grundplatten von Motoren, Lager, Halter, Griffe aller Art usw. 28 Ebd., S. 596. 29 Im erweiterten Sinn wird der Ausdruck dann auch oft für andere Arten von Normen gebraucht. Zur Verwandlung von "Normalie" in "Norm" - "abgeleitet von norma wie Form von forma" - vgl. Hellmich, Zehn Jahre, S. 5. 30 Hellmich, Zehn Jahre, S. 28. 31 Foucault, Überwachen und Strafen, Produkte" vgl. ebd., S. 237 f.
S. 236. Zur "Reglementierung industrieller Verfahren und
32 "Fassungen" im engeren Sinne müßten zum Typ der "Anschlußnormen" zählen - nicht nur Glühbirnen, sondern auch an den "Ansatzstücken" für Ersatzglieder von Kriegsinvaliden Weltkriegs: "zweifellos eines der durchschlagendsten Normenbeispiele" (Schlesinger, Ergebnisse Normalisierung, S. 938). Im übrigen zu Anschlußnormen vgl. auch Wölker, Entstehung Entwicklung, S. 140. 33 Hellmich, Zehn Jahre, S. 5. 34 Neuhaus, Der Vereinheitlichungsgedanke, 35 Ebd., S. 619.
S. 618.
bei des der und
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nennen wir sie ein Normalienbureau".36 In sogenannten "Normalienbüchern" verschicken schließlich große Firmen wie die AEG oder die Loewe A.G. ihre technischen Normen an ihre Kunden. Kurz vor dem ersten Weltkrieg beginnen sie damit, diese Bücher öffentlich, d.h. beim Verein Deutscher Ingenieure, auszulegen. Wo technische Normung sich als normalisierte Fabrikation von Maschinen zu institutionalisieren beginnt, folgt sie zunächst der Logik des Einzelteils. Erstellung von Staffelkurven und Bildung von Aggregaten, Dimensionskurven von Stiften, Nieten, Schrauben, Keilen, ihre Verallgemeinerung zu Durchmesserstaffelungen oder Relationen von Durchmesserstaffelungen (Passungen)37 und Entwicklung universaler, aggregierbarer, in hoher Spezialisierung herstellbarer Einzelteile - das ist der Sockel technischer Immanenz, auf dem die ersten nationalen und überbetrieblichen Normungsinstitutionen in Deutschland aufbauen werden. Wenn in den 20er Jahren bei Beamten, Historikern, Soziologen und Staatswissenschaftlern die Reihe Spezialisierung, Normalisierung, Typisierung zum Synonym industrieller Massenproduktion überhaupt wird,38 folgt der Diskurs einer Ordnung, die sich schon vor dem Weltkrieg als Produktionslogik einzelner Maschinenfabriken durchsetzt: industrielle Zellen und ihr SPENOTYP.
III. Mit dem Ersten Weltkrieg zeitigt diese Logik institutionelle Effekte. 39 Sie finden in Deutschland unter der stillen Diktatur des Kriegsamts statt, jener im November 1916 gegründeten Superbehörde, deren erster Chef der Verkehrspezialist und SchlieffenJünger Generalleutnant Wilhelm Groener ist. Das Amt soll vor allem die ins Utopische greifenden technischen Wunschvorstellungen von der Westfront (bekannt als "Hindenburgprogramm") durchsetzen: "Maschinengewehre sind zu verdreifachen, betr.
36 Neuhaus, Der Vereinheitlichungsgedanke,
S. 619.
37 Bis zum Entwurf von "Normalzahlenreihen", die ein mathematisch darstellbares System für "technische Modellreihen" im allgemeinen liefern sollen. Vgl. Reinhold Rüdenberg, "Über den Entwurf technischer Modellreihen", in: Mitteilungen des Normenausschusses der Deutschen Industrie 4. Heft (April 1918), S. 67 ff. 38 Um nur einige Beispiele zu nennen: Karl Bücher, "Spezialisierung, Normalisierung, Typisierung", in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 76. Bd. (1921), S. 427-439; Karl Döhne, "Normalisierung, Typisierung, Spezialisierung. Lebensfragendes deutschen Werkzeugmaschinenbaus", in: Technik und Wirtschaft. Monatschrift des Vereines deutscher Ingenieure (1919), S. 517 ff.; Moritz Kronenberg, Spezialisierung, Normalisierung, Typisierung, Berlin 1921. - Prinzipielle Abhandlungen über die drei Begriffe z.B. in: Fritz Wegeleben, Die Rationalisierung im Deutschen Maschinenbau. Dargestellt an der Entwicklung derLudw. Loewe & Co. A.-G., Berlin, Berlin 1924, S. 16-25; Walther Rathenau, Die neue Wirtschaft, Berlin 1918, v.a. S. 38-53. - Als sich Anfang 1918 beim VDI ein "Ausschuß für wirtschaftliche Fertigung" gründet, wird dessen Aufgabe gleich auf der ersten Sitzung verhandelt: "Spezialisierung, Typisierung, Normalisierung (Begriffsbestimmung und Abgrenzung)". 39 Das Folgende verdankt sich in seiner Materialbasis auf weiten Strecken der Pionierarbeit von Thomas Wölker, Entstehung und Entwicklung des Deutschen Normenausschusses, Dissertation FU Berlin, 1991 (inzwischen erschienen als eigenständige Veröffentlichung des Beuth-Verlages, Berlin) und der großzügigen Bereitstellung von Dokumenten durch den Autor.
Der deutsche Normenausschuß
227
Flugzeuge folgen noch im näheren Wünsche." 40 Für Vervielfältigungen dieser Art sind die Ausgangsbedingungen in den staatlichen Waffenfabriken, genannt "Technische Institute", 1916 denkbar schlecht. Dort herrschen noch "im großen und ganzen ... die Methoden des Einzelmaschinenbaus". 41 Am 22.12.1916 verfügen darum Groener und der Chefingenieur des dem Kriegsamt unterstellten Waffen- und Munitionsbeschaffungsamts Wumba, der Charlottenburger Schiffsbauprofessor Friedrich Romberg, 42 die Schaffung einer technischen Institution, die den schlichten Titel eines Büros trägt. Das "Königliche Fabrikationsbüro Spandau" Fabo soll aus dem Bauen von Maschinen deren Fabrikation machen und aus der gesamten deutschen Maschinenindustrie eine einzige Fabrik zur Serienproduktion von Maschinen. Das heißt: es soll spenotypische Produktionslogik verstaatlichen. Was bisher nur für die industrielle Zelle maßgebend war, soll ab sofort die totale industrielle Mobilmachung ermöglichen: Heranziehung der "gesamten Industrie bis zur kleinsten Werkstatt hinab ..., in einem Umfang, an den vorher kein Mensch gedacht hatte. "43 Die industrielle Mobilmachung des Jahres 1917 steht - und fällt - mit Spezialisierung, Normalisierung, Typisierung. Für die Praktiker des Büros in Spandau heißt das zunächst: die wichtigsten der in der Industrie bereits eingeführten Normalien zu erfassen und zu sammeln, "alles zu sichten und Unterlagen zu schaffen, auf denen wir weiterbauen können" 44 - also "paperwork" (Latour). Seit Januar 1917 erstellt das Fabo unter seinem legendären, nicht dreißig Jahre alten Chefkonstrukteur Heinrich Schaechterle aus Firmennormalien staatliche Normensammlungen, "Allgemeine Maßtafeln", "Konstruktionselemente", "Werkzeugnormen" usw. 45 Aus den gesichteten Normalien werden dann die sogenannten Fabonormalien erstellt, die Kurven und Tafeln für Durchmesserprogressionen, Toleranzen, Passungen oder normalisierte Konstruktionselemente enthalten. Kernstück der Arbeit ist von Anfang an die Normierung der Unterlagen selbst. Denn seit - als ein Effekt des Buchdrucks und der Perspektive - optische Darstellung überhaupt normierbar ist, sind technische Zeichnungen eine kombinatorische Welt aus "Hybriden": verschiedene Teile in verschiedenen Perspektiven auf dem gleichen Blatt.46 Die kombinatorische Ordnung der Maschinenteile von 1917/18 beginnt mit einer
40 Erich Ludendorff (Hrsg.), Urkunden der Obersten Heeresleitung durchgesehene Auflage), Berlin 1922, S. 65.
über ihre Tätigkeit 1916/18,
(vierte,
41 Friedrich Haier, Das Fabo in Spandau. Seine Aufgaben und seine Stellung. Vortrag, gehalten im Kriegsamte am 4. Juni 1917 von F. Haier, Kgl. Baurat, Berlin, Archiv des DIN, Stehordner "1917", S. 2. 42 Seines Zeichens einziger Weltkriegs-Ingenieur, der es zu einem Amt unter seinem Namen gebracht hat: Wumba-R, R wie Romberg. 43 Ebd. 44 Bericht über eine Verhandlung am 24.4.1917 im Fabo betreffs Normalien des DIN, Stehordner "1917", S. 4 (Chefkonstrukteur Schaechterle). 45 Vgl. z.B. Wölker, Entstehung und Entwicklung,
(Typskr.), Berlin, Archiv
S. 84.
46 Vgl. z.B. Bruno Latour, "Drawing things together", in: M. Lynch u. S. Woolgar (Hrsg.), Representation in Scientific Practice, Cambridge/MA - London 1990, S. 28 f.
Peter Berz
228
Zeichnungsnorm, nach der ein Einzelteil nur als Einzelteil dargestellt werden darf "jedes einzelne Teil eines Geräts für sich auf einem besonderen Blatt." 47 Nur solche Unterlagen sind an verschiedene Privatfirmen im ganzen Reich zu verschicken, ohne daß Geheimnisse verraten werden (und sie werden nach dem Krieg dem Sieger die Identifizierung von Kriegsgerät erschweren). 48 Institutionell ist ein Fabrikationsbüro kein Novum: eine Behörde als Teil einer Behörde, ein Büro als Teil einer wie immer monströsen Bürokratie und Erbschaft einer Bürokratisierung, ohne die seit Ende des 19. Jahrhunderts keine Massenproduktion denkbar ist. Erst als diese Behörde einen völlig anderen Institutionstyp kreuzt, wird aus ihr institutionelles Neuland. Anfang 1917 also trifft Conrad Matschoß, Direktor des Vereins Deutscher Ingenieure - Direktor einer "freien Vereinigung" 49 - Chefkonstrukteur Schaechterle: "Ich erinnere mich, daß wir - es mag auf dem Untergrundbahnhof Bismarkstraße gewesen sein zusammen ausstiegen; wir gingen sehr lange auf dem Bahnsteig auf und ab und er hat immer wieder von der Bedeutung der Normung für das Hindenburg-Programm gesprochen. Aber auch darüber hinaus glaubte er, daß die weitere Entwicklung der Technik ohne die Normung im amerikanischen Sinne gar nicht denkbar sei." 50 Sehr schnell stößt man in Spandau auf die Grenzen industrieller Mobilmachung durch eine Behörde. Sichten, sammeln, aufstellen von Normalien nach militärischer Verwaltungslogik macht noch lange nicht aus Betriebsnormalien ein nationales Produktionssystem. Die Norm als Waffe im Krieg zwischen industriellen Zellen ist nicht durch einfache Behördenvorschriften zur nationalen Waffe umzupolen. Dazu dürfen technische Normen nicht nur verordnet werden: sie müssen mit einer "spezifischen Art Geltung und Autorität" 51 ausgestattet werden. Und die muß aus einer anderen Quelle kommen als der staatlichen Autorität einer Behörde. Wie macht man aus einem staatlichen Büro eine nicht-staatliche, allgemeine und nationale Normungsinstitution? Fürs erste einfach dadurch, daß auf der entscheidenden Sitzung von Firmenvertretern (Ludwig Loewe A.G. und A.E.G.), Vertretern des VDI und Ingenieuren des Fabo im April 1917 "Dir. Assessor Hellmich vom Verein Deutscher Ingenieure" den ohne Verzögerung einsetzenden Streit der Techniker um metrische Gewinde, Zollgewinde, S.I. oder Withworth, den Kampf um ihre jeweils eigene Firmennorm, mit einer schlichten Frage aus der Sphäre institutioneller Rationalität durchkreuzt: Gesetzt, eine Norm ist technisch ausgearbeitet; wie kann man dann aber eine Gesamtheit von Privatproduzenten dazu bringen, sich dieser Norm überhaupt "anzuschließen", sie "anzunehmen", ihr "beizutreten"? 52 Wie also können technische Normen mit Ansehen und schließlich allgemeiner Geltung ausgestattet
47 Haier, Das Fabo,
S. 4.
48 Vgl. Wölker, Entstehung 4 9 Verhandlung
und Entwicklung,
am 24.4.1917,
5 0 Zit. nach Wölker, Entstehung 51 Schmitt, Römischer 52 Verhandlung
und Entwicklung,
Katholizismus,
am 24.4.1917,
S. 127-129.
S. 13 (Dir. Huhn von der Fa. Ludwig Loewe). S. 88.
S. 24.
S. 7 (Hellmich) u. S. 10 (Huhn).
Der deutsche Normenausschuß
229
werden? - Grundsatz eins: unter allen Umständen muß der Eindruck vermieden werden, "als wenn es sich nur um Vorschriften von Behörden handelt".53 Denn wo die technischen Behörden selbst ganz von Privatproduzenten abhängig sind, zählt Behördenautorität auch unter Kriegsbedingungen wenig. (Und die ökonomischen Fakten verbieten allemal ein freiwilliges Abgehen von den eigenen Normalien: sie sind teuer und halten Kunden.) - Hellmich: "Dann müssen wir einen Ausschuß haben".54 Und schon beginnen sich Techniker in Formen institutioneller Logik zu üben. Nach Baurat Haier vom Fabo könnte die Zusammenarbeit zwischen Fabo und einem solchen Ausschuß so aussehen, daß das Fabo die Normalien erarbeitet, sie dann aber "unter dem Namen des Vereins deutscher Ingenieure herausgegeben werden". 55 Der Verein würde nur Ansehen, Öffentlichkeit und Veröffentlichungsorgan (die Zeitschrift des VDI) zur Verfügung stellen und "nach außen hin die Führung übernehmen". Im Fabo läge "das Material". 56 - Verwaltungsingenieur Hellmich stellt darauf sofort die Kardinalfrage: die nach der Dauer der neuen Institution. Ein technischer Ausschuß, der alle Technik an eine andere Institution delegiert, wäre in seiner Existenz ganz von der Dauer dieser Institution abhängig. Also "müßte man wissen, ob das Fabo auch nach dem Kriege bestehen wird". Baurat Haier bestätigt, daß das Fabo durchaus "eine dauernde Einrichtung"57 werden könnte, denn die "Umstellung von Friedens- auf Kriegserzeugung", also leichte "industrielle Mobilmachung",58 werde für alle künftigen Kriege der entscheidende Faktor sein. Der Ausschuß kann damit seinen institutionellen Lauf nehmen. Ing. Maier von der A.E.G.: vor allem müsse man "heute schon erklären, dass wir vorläufig hier bereits tagen".59 Am Ende der Sitzung werden die Mitglieder des Ausschusses vorgeschlagen und ein Vorsitzender ernannt, Gewerbeassessor Waldemar Hellmich. Normen, die im Namen von ... zu Normen erhoben werden, eine Institution und ihre institutionelle Zeit, eine Öffentlichkeit, vor der erklärt und veröffentlicht wird: die technische Logik technischer Normierung beginnt sich mit institutioneller Logik zu verschränken. Nicht einen Monat später wird der so entworfene Ausschuß selbst einen Namen haben: Normalienausschuß für den deutschen Maschinenbau.60 Bevor in ihm und vor ihm das erste Wort, die erste Zahl über konische Stifte, Bohrungen, Keile fällt, bittet Hellmich die Anwesenden, sich selbst als "Hauptausschuß" des Normalienausschusses
53 Verhandlung am 24.4.1917,
S. 9.
54 Ebd., S. 11. 55 Ebd., S. 14. 56 Ebd., S. 15. 57 Ebd., S. 13 (Hellmich und Haier). 58 Haier auf der Gründungsversammlung des Normenausschusses der Deutschen Industrie am 22.12.1917 (s.u.). 59 Ebd. 60 Vgl. Normalienausschuß für den Deutschen Maschinenbau, Berichte 1 bis 4 des Hauptausschusses (vom 18.5.1917, 16.6.1917,28.7.1917 und 20.10.1917), Berlin, Archiv des DIN, Stehordner "1917".
230
Peter
Berz
einzusetzen und dann "für die einzelnen Aufgaben Arbeitsausschüsse zu ernennen". 61 Der Normalienausschuß besteht bis Dezember 1917 und seine Unterausschüsse (in jedem mindestens ein Vertreter des Fabo) werden sieben Monate lang sämtliche im Bereich der Maschinenfabrikationstechnik kriegsentscheidenden Normierungsfragen verhandeln: Kegelstifte, Durchmesser, Gewinde, Toleranzen, Passungen, Normaltemperatur, Werkzeuge, Niete, Keile, Kugellager usw. bis zur Frage der Zeichungen und einheitlichen Benennungen. Der Ausschuß arbeitet gänzlich ohne Geschäftsordnung und ohne Satzung. Er bezieht seine Legitimation und Autorität allein durch seine Arbeitsweise und durch die steigende Zahl der in ihm mitarbeitenden Privatfirmen, Verbände und Behörden. Ende 1917 wird der vollständige Instanzenzug technischer Behörden des Kaiserreichs in ihm vertreten sein: alle militärtechnischen Institute, das Reichspostamt, das Telegraphen- und Apparateamt, die Technische Abteilung der Fernsprechtruppen bis zu den klassischen technischen Behörden des 19. Jahrhunderts, der Kaiserlichen Normal-Eichungs Kommission oder der noch von Moltke 1872 mitentworfenen, von Werner von Siemens eingerichteten, führenden Behörde für technische Standards: der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Charlottenburg. 62 Am 22.12.1917 gibt sich dieses ohne Satzung und Geschäftsordnung arbeitende Gebilde eine "Verfassung" - oder zumindest die Grundzüge einer solchen. 63 Der bisherige Ausschußvorsitzende Waldemar Hellmich eröffnet die Gründungsversammlung: "Jeder Kampf zwingt die beteiligten Parteien, die Kräfte zusammenzufassen und sie nach außen zur Wirkung zu bringen. Jede Energievergeudung im Innern schwächt die Kampffähigkeit und muß daher vermieden werden. Hieraus erklärt es sich, daß Bestrebungen, die auf Vereinheitlichung und damit auf Energieersparnis hinauslaufen, in solchen Zeiten (!) den günstigsten Boden finden." 64 Dann werden nacheinander die Französische Revolution, die Reichsgründung 1871 und "der gewaltige Weltkrieg" als historische Normalisierungsinstanzen angerufen. Und, so unausgesprochen wie präsent, fällt die Gründungsversammlung auf ein jüngeres historisches Datum: am 22.12.1916 wurde das Fabrikationsbüro Spandau gegründet. 65 Oberste Zielbestimmung dieser Verfassung ist die Instituierung einer Ökonomie, deren Regeln Generaldirektor Neuhaus im August 1914 präsentiert hatte. Nach Paragraph 1 des Verfassungsentwurfs: die "Durchführung des Vereinheitlichungsgedankens in der deutschen Industrie". 66 Ein technisch-ökonomischer Gedanke wäre als institutionelle Form zu sich gekommen. Die
61 Normalienausschuß, Bericht 1 (18.5.1917), S. 3 (Hellmich). 62 Vgl. David Cahan, Meister der Messung. Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt im Kaiserreich (1987), Weinheim - New York - Basel - Cambridge 1992, v.a. S. 74-78.
Deutschen
63 Normenausschuß der Deutschen Industrie, Bericht über die Gründungsversammlung am 22. Dezember 1917... (Beiliegend: "Grundzüge für eine Verfassung des Normenausschusses der Deutschen Industrie" und "Verzeichnis der angeschlossenen Behörden und Verbände, Stand Januar 1918"), Berlin, Archiv des DIN, Stehordner "1917". 64 Ebd., S. 3. 65 Vgl. Hinweis bei Wölker, Entstehung und Entwicklung, 66 Vgl. "Grundzüge für eine Verfassung".
S. 113.
Der deutsche Normenausschuß
231
Versammlung wählt Generaldirektor Neuhaus zum ersten Vorsitzenden des neuen Ausschusses für das Jahr 1918.67 Während Normung im Zeichen des "bürokratischen Mythos" eines Plans68 (z.B. der sozialistischen Kriegswirtschaften der Sowjetunion) rein staatlich bleibt und in Frankreich, vor allem seit 1928, nationale Normungsprojekte nur innerhalb einzelner industrieller Verbände stattfinden, 69 institutionalisiert sich in Deutschland nationale technische Normung nach einer völlig anderen Logik. 70 Der Normenausschuß der deutschen Industrie NADI (später DNA) ist kein staatliches Organ und kein Verband, sondern eine privatrechtliche Körperschaft ("organisme"). Von ihm hängen direkt sämtliche Ausschüsse und Arbeitsorgane ab, die in seinem Namen Normen erstellen, 71 und er ist durch Selbsternennung und -benennung die einzige solche Körperschaft in Deutschland. Hellmich: "es kann nur einen Deutschen Normenausschuß geben". 72 Gerade weil der Ausschuß seine raison d'etre darin hat, seine Autorität nicht von staatlicher Autorität herzuleiten, kann er Anleihen bei den Formen eines Staates machen. Hellmich wird seinen obersten Grundsatz denn schlicht "föderalistisch" nennen. 73 Der Ausschuß legitimiert sich allein durch "ständige Vertretung" 74 der in ihm arbeitenden Mitglieder und nach Verfassung vom 22.12. können, gleichberechtigt, nur Behörden oder Verbände an den Ausschuß angeschlossen sein. 75 Privatpersonen oder Privatfirmen, die bis dahin einen großen Teil der Mitglieder stellten (s.o.), werden ausgeschlossen. Verbände statt Privatfirmen sollen die "Stetigkeit" der Institution sichern und die Unwägbarkeiten des Normenkriegs bereits auf einer ersten Stufe filtern. Der große und immer wieder beschworene Feind des Ausschusses sind nämlich "Zufallsmehrheiten". 76 Sie drohen jede Fiktion von Legitimation zu zerstören und Normen aus ihrer institutionellen Ruhe dorthin zurückzustoßen, wo alle Normen herkommen: den faktischen Krieg der Normen. Weil es diesen Krieg gibt, darum gibt es überhaupt eine Verfassung. Die Norm ist "kein statischer und friedlicher Begriff, 67 Gründungsversammlung
22.12.1917,
S. 7.
68 Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische (1966), aus dem Französischen übersetzt von Monika Noll u. Rolf Schubert, München 1974, S. 170; dort: "planification". 69 Vgl. Maily, La Normalisation, S. 167 ff., 278. Die entsprechenden Einrichtungen heißen "les bureaux de normalisation des syndicats" und folgen der Gliederung der industriellen Verbände. Die Association française de normalisation AFNor hat nur die Funktion eines Sekretariats (vgl. ebd. 167). 70 Die sehr dem britischen Modell gleicht (vgl. Maily, La Normalisation,
S. 293-309).
71 "Les travaux matériels d'élaboration des projets de normes ... sont l'œuvre de commissions dépendant directement de l'organisme central (Deutscher Normenausschuß ou British Standards Institution)." (Maily, La Normalisation, S. 278) 72 Hellmich, Zehn Jahre, S. 10. 73 Ebd., S. 11. 74 Gründungsversammlung
22.12.1917,
75 Vgl. Verzeichnis der angeschlossenen 22.12.1917.
S. 3 (Hellmich). Behörden und Verbände,
Anlage zu:
Gründungsversammlung
76 Z.B. Normalienausschuß (seit Okt. Normenausschuß), Bericht 4 (20.10.1917), S. 24 (Hellmich) und Gründungsversammlung 22.12.1917, S. 4 (Hellmich), usw.
Peter Berz
232
sondern ein dynamischer und polemischer" (Canguilhelm) - und darum muß die im Dezember 1917 verfaßte Institution zwei widersprüchlichen Forderungen gehorchen: Erstens in der Kontinuität einer Institution "eine gewisse Gewähr für Stetigkeit" aufgestellter Normen zu bieten. 77 Was vom Ausschuß "zur Norm erhoben wird", soll "für möglichst lange Zeit Geltung haben". 78 Zweitens aber liegt die institutionelle Rationalität des Ausschusses gerade in der Dynamik der aufgestellten Normen. "Da nun auch Normen fließen, so hütet sich der Ausschuß grundsätzlich, Gesetze auf Normen herauszubringen, weil erfahrungsgemäß überall in der Welt Gesetze sich nicht so leicht wieder umstoßen lassen." 79 Und so schlägt der Normenpionier und Maschinenbauprofessor Georg Schlesinger eine prinzipielle Unterscheidung vor, die die technische Normierung und Normalisierung vergangener Jahrhunderte von der industriellen Normung des Weltkriegs durch eine institutionelle Grunddefinition trennt: den Unterschied von Normen und "Eichen" - das vom Pariser Urmeter über die Kaiserliche Normal-Eichungs Kommission bis zum Spandauer Ursatz reicht (s.o.). "Nur das soll gesetzlich festgelegt werden, was geeicht werden muß, weil eben eichen etwas mit einer Gesetzesvorschrift vergleichen und dann beglaubigen heißt." 80 Normieren aber hat seine eigenen, nicht-gesetzlichen und nicht-staatlichen Institutionalisierungsformen. Instituierung von Stetigkeit und Fließen ist raison d'être und strategischer impact einer Körperschaft, die genau aus dieser Position seit 1917 alle politischen Institutionen überleben wird. Sie kann sich 1940 anschicken, Europa ("le bloc continental") unter dem Zeichen deutscher Norm zu okkupieren. 81 Die Prinzipien von Flexibilität und Kontinuität strukturieren Aufbau und Arbeitsweise des Ausschusses. Seine Gliederung ist schnell beschrieben: Der Hauptausschuß. Der
Vorstand. Der Beirat. Die Arbeitsausschüsse. Die Rechnungsprüfer. Die Geschäftsstelle. Paragraph 13 bis 16 des Verfassungsentwurfs betreffen Die Aufstellung der Normen. Um nämlich innerhalb der neuen Körperschaft ein technisches Datum zur geltenden Norm zu machen, muß vor allem eins geregelt sein: das Verfahren, nach dem eine Norm zur Norm erhoben wird. 82 Nur eine in sich normierte Folge von Instanzen autorisiert eine Norm als Norm. Das Verfahren der Normenaufstellung ist eine Mischung aus technischen, verwaltungstechnischen und quasi legitimatorischen Instanzen. Geht beim Hauptausschuß der Antrag auf ein Normungsprojekt ein (gestellt von Mitgliedern oder
77 Gründungsversammlung
22.12.1917,
S. 3 (Hellmich).
78 Ebd. 79 Schlesinger, Ergebnisse
der Normalisierung,
S. 889.
80 Ebd. Und so dürften nach Schlesinger allenfalls einige der sogenannten "Grundnormen" (Durchmesser, Normaltemperatur usw.) den Status von Gesetzen erhalten (vgl. ebd.). 81 "L'Allemagne, désireuse de placer, dans les pays occupés, le maximum de commandes l'intéressant, a imposé à ses fournisseurs les normes qu'elle utilise. La situation depuis 1940 est donc marquée par un effort très net pour imposer à l'Europe les normes allemandes, ce qui n'est pas sans graves dangers, les normes allemandes étant en effet de valeur très variable." (Maily, La Normalisation, S. 347; vgl. v.a. S. 207-219) 82 Vgl. für das Folgende: Wölker, Entstehung und Entwicklung,
S. 146.
Der deutsche Normenausschuß
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Nichtmitgliedern), wird er zunächst in die beiden Rubriken "Grundnorm" oder "Fachnorm" sortiert und einem der Arbeitsausschüsse zugewiesen. Im Arbeitsausschuß findet die technische Ausarbeitung eines Entwurfs statt. Dieser Entwurf muß die sogenannte Normenprüfstelle passieren (s.u.) und wird anschließend "so weitgehend als möglich der öffentlichen Kritik unterbreitet". 83 Er geht samt Einwänden zurück an den Arbeitsausschuß und dann in endgültiger Fassung an den Vorstand und den sogenannten "Beirat". 84 Der dort mit einem Stempel versehene Entwurf durchläuft dann nochmals die Normenprüfstelle und wird erst dann zur "Veröffentlichung und Ausgabe" im DNA-eigenen Verlag (und bestimmten Auslegestellen) freigegeben. Der Vorstand, das Präsidium, der Hauptausschuß haben mit der tatsächlichen technischen Ausarbeitung einer Norm nichts zu tun. Das Präsidium gibt sich lediglich "die Vollmacht, einer Norm das Z)Z/V-Zeichen zu verleihen und sie damit in das Normensammelwerk aufzunehmen". 8 5 Letzte Instanz der Autorisierung ist das geschäftsführende Präsidialmitglied Waldemar Hellmich in Person. Er habe in seinem Leben kein einziges "Betriebsblatt" aufgestellt 86 - doch nur wenn seine Unterschrift auf einem solchen Blatt steht, ist es zur Veröffentlichung als DI-Norm zugelassen.
IV. Das, nach den Worten seines Mentors und Mystikers, "organisatorisch in herkömmlichen Formen nicht faßbare Gebilde" 87 des Deutschen Normenausschusses besteht aus einer Reihe von Techniken zur Institutionalisierung produktionstechnischer und maschinentechnischer Normalisierungsoperationen. Diese Operationen selbst folgen, bevor sie sich auf technische Normung im allgemeinen ausdehnen, strikt der Ordnungslogik von in Serien, Reihen, Massen fabrizierten Maschinen (s.o.). Einer Logik also, die Maschinen zunächst nicht in der Immanenz ihres Automatismus, ihrer Funktion begreift, sondern in der Äußerlichkeit ihres bloßen Zusammengesetztseins 88 : als Aggregat. Wo die Techniken technischer Normung beim Bau normaler Maschinen beginnen, folgen sie der Äußerlichkeit der Aggregate - auch als Institution. In seinen Überlegungen zu einer allgemeinen Theorie des Normalen 89 geht Georges Canguilhem an zentraler Stelle von eben dieser Logik des Zusammengesetzten aus: er 83 Gründungsversammlung
22.12.1917,
S. 3 (Hellmich).
84 Der Beirat, eine Gruppe von Sachverständigen, soll den Vorstand in der Verantwortung für die Festsetzung einer Norm "entlasten": "Man denke z.B. daran, welches Kapital in Frage stünde, wenn die Spurweite der Eisenbahn geändert werden möchte." (Ebd., S. 3 [Hellmich]) 85 Hellmich, Zehn Jahre, S. 17. 86 Wölker, Entstehung und Entwicklung,
S. 199.
87 Hellmich, Zehn Jahre, S. 9. 88 Vgl. Canguilhem, Das Normale,
S. 177.
89 Jene, nach Foucaults Worten (und für sie) "wesentlichen Ausführungen von G. Canguilhem" (Foucault, Überwachen und Strafen, 237, Anm. 18). Vgl. Canguilhem, Das Normale, S. 159-202: "Neue Überlegungen zum Normalen und zum Pathologischen (1963-1966)".
234
Peter Berz
setzt die "Äußerlichkeit" der Maschinen gegen eine Immanenz, für die der Begriff des Organismus steht (statt, wie Schmitt, die Immanenz der Maschine gegen die Eminenz juristischer Form). Eine Theorie der Institutionen zur Normalisierung von Maschinen könnte sich versuchsweise an dieser Differenz entwickeln. Gesellschaftliche Systeme, Kollektive, Organisationen überhaupt hätten, so Canguilhem, im Unterschied zum Organismus ihre "Hilfsmittel ... in der Äußerlichkeit des Raums, ihre Institutionen aber in der Äußerlichkeit des Verwaltens gleichsam ausgebreitet". 90 Ihre Organe sind der Eigenexistenz fähig, ihre Ganzheiten bestehen aus der "Integration der nach und nach angefügten Teile", 91 ihre Institutionen aus Instanzen und institutionellen Techniken, vom Einsetzen eines Ausschusses bis zur Unterschrift. "Die Äußerlichkeit der gesellschaftlichen Maschinen in der Organisation ist an sich nicht verschieden von der Äußerlichkeit der Teile in einer Maschine." 92 Und das gilt vielleicht am einleuchtendsten dort, wo die Teile einer Institution und die Teile von Maschinen 1:1 übereinanderfallen: Keile, Schrauben, Durchmesser und Ausschüsse für Keile, Ausschüsse für Schrauben, Ausschüsse für Durchmesser - bis zu deren institutioneller Vereinigung z.B. in einem Normalienausschuß für den deutschen Maschinenbau. Normalisierte Maschinen, in der Äußerlichkeit ihrer Zusammengesetztheit, wären hier nicht mehr "Hilfsmittel", nicht deren "Ergänzung" und nicht ein Inhalt unter anderen eines Normenausschusses, sondern dessen konstitutionelle Macht. Die Äußerlichkeit von zusammengesetzten und zusammensetzbaren Teilen aber läge, von der konstitutionellen Macht der normalisierten Maschine aus gedacht, nicht in "Der Maschine". Sie wäre vielmehr die Äußerlichkeit des Normalen selbst. Es besteht nach einer grundsätzlichen Definition Canguilhems darin, "sowohl Verbreitung wie Demonstration der Norm zu sein", Verbreitung der Regel und Hinweis auf sie. 93 Gerade in seiner "allerkünstlichsten" Form, 94 der institutionalisierten technischen Normung, würde das Normale diesem doppelten Gesetz folgen - statt in der repräsentationslosen Immanenz eines absolut Sachlichen zu verschwinden. 95 Denn der Angelpunkt aller institutionellen Techniken technischer Normung ist vor allem eins: die Normierung der Demonstration der Norm, das heißt ihrer symbolischen Darstellung. Erst durch ihre "einheitliche Ausdrucksform" 96 erlangen Normen als
90 Canguilhem, Das Normale, S. 176. Während der Organismus "eigentlich keine Distanz zwischen den Organen, keine Äußerlichkeit der Teile" kennt (ebd., S. 175) und nicht Ökonomie als Ziel von Normalisierung: sein "Funktionsoptimum" trete, so Canguilhem "als Konstante" auf (ebd., S. 174). 91 Ebd., S. 173. 92 Ebd., S. 177. 93 Ebd., S. 163. 94 Ebd., S. 171. 95 Oder im Diskurs der monistischen Normeningenieure selbst, die während der 20er Jahre die Äußerlichkeit ihrer Normungsinstitutionen in der Immanenz des Organismus verschwinden machen: in der Gestalt eines "lebenden Organismus", der den "gesunden Weg natürlicher Entwicklung geht" (Hellmich, Zehn Jahre, S. 9). Und sie treffen sich damit auf merkwürdige Art mit Carl Schmitts Immanenz des Technischen. 96 Normalienausschuß, Bericht 1 (18.5.1917), S. 10 (Dr.-Ing. Heilandt, AEG).
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